ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und IL Steinthal.
Im Auftrage des Vereins
herausgegeben
/ mnimrri.\
\ Frííli»r. (¡ ti il J
'v IS : - /
Karl Weinhold.
Vierter Jahrgang.
1894.
Mit zwei Tafeln und mehreren Abbildungen im Text.
BERLIN.
Verlag von A. Asher & Co.
/ &
Inhalt.
Abhandlungen.
Seite
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn. Von A. Hauffen....................1
Das Märchen vom Gevatter Tod. Von J. Bolte.........................34
Der Schuh im Volksglauben. Von P. Sartori...........41. 148. 282. 412
Wiegenlieder aus dem Spessart. Von A. Englert...............54. 88
Negermärchen von der Goldküste. Von J. G. Christaller..........................61
Buddhistische weibliche Heilige. Von S. Singer..................................71
Bastlösereime. Von K. E. Haase................................................74
Auf einem Bauernhofe im Gsiessthal. Von Th. Hell..............................77
Aberglaube, Sitten u. Gebräuche in Mittel-Schlesien. Von A. Baumgart............80
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch. Yon M. Rehsener.............107
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche. Von G. Sajaktzis.............134
Das Kinderlied vom Herrn von Ninive. Von J. Bolte..............180
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes. Von R. Wossidlo.......184
Beiträge zur Volkskunde aus älteren Quellen. Von Fr. Vogt...........195
Tirolische Volksdichtung. Von Ad. Pichler...................197
Die Sitten der Türken in Bulgarien. Von S. Ivanoff............ 202. 269
Das Ei als kosmogonische Vorstellung. Von Fr. Lukas..............227
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben. Von H, F. Feilberg . . 243. 374
Die Hölle auf Island. Von K. Maurer.....................256
/ Haus- und Hofmarken. Von Fr. Ilwof.....................279
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn. Von A. Herrmann...... 305. 392
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen. Von St. Prato..........347
Altes und Neues zur Melusinensage. Von L. Frankel..............387
Erinnerungen an den Handel der Hamburger mit Island. Von 0. Davidsson. . . . 408
Eine türkische Erzählung in einem italienischen Schwanke. Von G. Amalñ .... 428
Zwei Flugblätter von den sieben Schwaben. Von J. Bolte............430
Das Lied vom Pater Guardian. Von A. Englert.................437
Kleine Mitteilungen.
Das Spengeltuch. Totenbrauch aus der Eifel. Von Rademacher..................86
/Schwerttanz und Wettlauf. Von Frischauf ...................................87
Zum Liede: Die Sonne steht am Himmel. Von Englert..........................90
Bekehrungsgeschichten der Jesuiten. Von K. W..................................91
Ostfriesische Lautspiele und Sprechübungen. Von Dirksen........................91
Grabinschrift von Gossensass. Von M. v. W......................................92
Das Weihnachtsspiel im Musiksale in Wien......................................93
Jüdisch-deutsche Erzählungen aus Lemberg. Von Biegeleisen...........209
Aufführung des Passionsspiels in Höritz. Von Häuften ...............211
1*4
IV Inhalt.
Seite
Der Bergische Blocksberg. Yon Schell.....................213
Sich drehende und blutende Steine. Von Schell.................214
Der Schwur unter dem Rasen. Von Weinhold..................214
Ein alter niederösterreichischer Hochzeithrauch Von Frischauf..........215
' Die Fussspur. Von Krauss...........................216
Sammlungen der volkstümlichen Überlieferungen............ 217. 336. 459
Aus Meiderich. Von Dirksen..........................323
Nordthüringer Volkssagen. Von L. Frankel...................327
Brand der Stadt Weiden. Von Englert.....................329
Dialektpoesie in Tirol. Von A. Pichler.....................331
Das Lied vom Pater Guardian. Von H. Diels..................332
Steyermarkischer Raufjodl........................ 335. 459
Sage vom Nibelungenland. Von Wossidlo....................441
Zahlbezeichnungen und Rechtsleben. Von Maurer................442
Passionsspiele in Krain. Von Hauffen.....................443
Das Volksschauspiel zu Englmar. Von Frankel.................443
Teufelssagen aus Oberkärnten.........................445
Segen und Gebräuche aus der Schweiz. Von Singer...............447
Aus Sausal in Untersteiermark.........................451
Aus der windischen Steiermark.........................452
/ Schlesische Sagen. Von Weinhold.......................452
Lösung des Zungenbandes ......................................................488
Bücheranzeigen.
R. Schmidt, Çukasaptati. Von R. Pischel......................................94
Büttner, Lieder und Geschichten der Suaheli..................................96
Percys Reliques of ancient english poetry, herausg. von A. Schröer..............96
L. Frankel, Shakespeare und das Tagelied. Von Krauss........................97
Reinh. Köhler, Aufsätze über Märchen und Volkslieder..........................98
V. Tille, Literarni studie. I. Von Hauffen......................................98
A. Tille, Geschichte der deutschen Weihnacht. Von Weinhold..........100
A. John, Litterarisches Jahrbuch.......................101
M. Bartels, Die Medicin der Naturvölker. Von Weinhold............102
E. Grosse, Die Anfänge der Kunst. Von K. v. d. Steinen............103
K. v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Centraibrasiliens...........104
Fr. Tribukeits Chronik. Herausgegeben von A. P. Horn............105
G. Pitrè, Bibliografia delle Tradizioni popol. d'Italia..............218
S. T. Rand, Legends of the Micmacs. Von Weinhold..............219
K. W'olfskehl, Germanische Werbungssagen. Von Roediger...........220
R. S pill er, Zur Geschichte des Märchens vom Dornröschen. Von Fränkeil .... 221
Gomme, The traditional Games of England, Scotland and Ireland........223
G. Eckart, Allgem. Sammlung niederdeutscher Rätsel..............224
Ce sky Lid. Von A. Brückner.........................224
2ytje i stovo. Von Brückner..........................225
Annuaire des Traditions populaires. IX. année................337
Schweizerisches Idiotikon. XXIV—XXVI.................338
Erk-Boehme, Deutscher Liederhort I. II...................338
Joyce, Old Celtic Romances.........................339
H. Châtelain, Folktales of Angola. Von Weinhold...............340
P. Sébillot, Les travaux publics et les mines.................343
O. W. Beyer, Deutsche Ferienwanderungen...................344
F. Krüger, Hampelmanns Smiede. Von Dirksen................344
W. Schwartz, Nachklänge prähistorischen Volksglaubens im Homer.......460
Beiträge zur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte von Tirol.......461
Inhalt. Y
Seite
Georgeakis et Pineau, Le Folklore de Lesbos. Yon Weinhold.........461
M. Wardrop, Georgian Folk Tales......................463
W. Hein, Die geographische Verbreitung der Totenbretter........... . 463
Brenner und Hartmann, Bayerns Mundarten. II. 2..............464
Doehler, Unser Vogtland...........................464
Nabert, Die Bedrängnis der Deutschen in Österreich..............465
Merkbuch Altertümer aufzugraben......................465
Auszüge aus den Sitzungs-Protokolien des Vereins für Volkskmide. Yon Max
Eoediger............................ 105. 225. 345
Verzeichnis der Mitarbeiter
an der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde.
Band I, II, III, IY.
* _
Amalfi, Gaetano, Dr., Torre Annunziata bei Neapel.
Ammann, J. J., Gymnasial-Professor, Krummau in Böhmen.
Arendt, C., Professor am orientalischen Seminar, Berlin.
Back, Friedr., Dr., Bibliothekar, Berlin.
fBaumgart, Aug., Pastor, Fürstenau in Schlesien.
Biegeleisen, Dr., Lemberg.
Bolle, C., Dr. phil., Berlin.
Bolte, Joh., Dr., Oberlehrer, Berlin.
Bruchmann, K., Dr. phil., Berlin.
Brückner, AL, Dr., ordentlicher Professor, Berlin.
Carstens, Heinrich, Lehrer, Darenwurth in Holstein.
Christaller, J. G., Missionar, Schorndorf in Württemberg.
Cohn, Alex. Meyer, Bankier, Berlin.
DavicFsson, Olafur, Cand. phil., Kopenhagen.
Diels, Herrn., Dr., ordentlicher Professor, Berlin.
Dirksen, C., Lehrer, Meiderich, Rheinprovinz.
Englert, Anton, Reallehrer, München.
Feilberg, H. F., Pastor, Askov bei Vejen St., Jutland.
Flaischlen, Caesar, Dr. phil.
Frankel, Ludwig, Dr. phil., München.
Frankel, Siegmund, Dr., ordentlicher Professor, Breslau.
Fri edel, E., Geheimer Regierungs- und Stadtrat, Berlin.
Frischauf, Eugen, Dr., Notar, Wien.
Gittée, August, Lycealprofessor, Lüttich (Belgien).
Godden, Gertrud, Miss, Ridgefield bei Wimbledon, England.
Greussing, Paul, Gutsbesitzer, Telfs im Stubai, Tirol.
Haas e, K. Ed., Oberlehrer, Neuruppin.
Hammershaimb, V. U., Probst, Lyderslev, Dänemark.
Hartmann, Martin, Dr., Professor am orientalischen Seminar, Berlin.
Hauffen, Ad., Dr., Privatdozent, Prag.
fHell, Thomas, Dr. med., Welsberg in Tirol.
Herrmann, Anton, Dr., Professor, Budapest.
Höfler, M., Dr. med., Bezirksarzt, Tölz in Bayern.
Hönig, Bernhard, Dr. phil., Wien.
Verzeichnis der Mitarbeiter.
VII
Ilwof, Franz, Dr., k. k. Regierungsrat, Graz.
Ivanoff, S., Gutsbesitzer, Hasan-Tersie bei Razgrad, Bulgarien.
Jahn, Ulrich, Dr. phil., Charlottenburg.
Jensen, Christian, Lehrer, Oevenum auf Pöhr.
Jiriczek, 0. L., Dr., Privatdocent, Breslau.
John, Alois, Schriftsteller, Eger.
Jón porkelsson, Dr., Kopenhagen.
Kauffmann, Priedrich, Dr., ordentlicher Professor, Jena.
fKöhler, Reinhold, Dr., Oberbibliothekar, Weimar.
Kollmann, Dr., Regierungsrat, Oldenburg.
Kossinna, G., Dr., Bibliothekar, Berlin.
Krauss, Fr. S., Dr. med., Wien.
Krejci, Johann, Prag.
Kretschmer, Paul, Dr., Privatdocent, Berlin.
Kunze, F., Lehrer, Suhl.
Lange, Rudolf, Dr., Professor am orientalischen Seminar, Berlin.
Laue, M., Dr., Bibliothekar, Berlin.
Lewy, Heinrich, Dr., Gymnasiallehrer, Mülhausen i. E.
Lovarini, Em., Dr., Professor, Padua.
Löwe, R., Dr. phil., Magdeburg.
Lukas, Franz, Dr., Gymnasial-Professor, Wien.
Marelle, Ch., Professor, Berlin.
v. Maurer, Konrad, Dr., Geheimrat, München.
Meitzen, August, Dr., Professor, Geheimer Regierungsrat, Berlin.
Menghini, Mario, Universitäts-Professor, Rom.
Meyer, Rich. M., Dr., Privatdocent, Berlin.
Mi elk e, Robert, Zeichenlehrer, Berlin.
Minden, G., Dr., Syndikus, Berlin.
Müller, G. Ad., Dr. phil., München.
Mehring, Wladislaw, Dr., Professor, Geheimer Regierungsrat, Breslau.
Nyrop, Kristoffer, Dr., Universitäts-Professor, Kopenhagen.
Olrik, Axel, Dr., Privatdocent, Kopenhagen.
Olsen, Björn, Rektor, Reykjavik, Island.
Pappenheim, M., Dr., ordentlicher Professor, Kiel.
Piger, Fr. P., Gymnasial-Professor, Tglau in Mähren.
Pischel, R., Dr., ordentlicher Professor, Halle a. S.
Polek, J., Dr., Bibliothekar, Czernowitz.
Prahn, H., Lehrer, Berlin.
Prem, S. M., Dr., Gymnasial-Professor, Bielitz in Österreichisch-Schlesien.
Rademacher, C., Lehrer, Köln a. Rh.
Rehsener, Marie, Fräulein, Gossensass in Tirol.
Roediger, Max, Dr., ausserordentlicher Professor, Berlin.
Sartori, Paul, Oberlehrer, Dortmund in Westfalen.
Schatzmayr, E., Dr. phil., Gymnasial-Professor, Mantua.
Schell, 0., Bibliothekar, Elberfeld.
Schmidt, Erich, Dr., ordentlicher Professor, Berlin.
Schröer, K. Jul., Dr., ordentlicher Professor, Wien.
Schwartz, Wilhelm, Dr., Geheimer Regierungsrat, Berlin.
Siebs, Theodor, Dr., Professor, Greifswald.
Singer, S., Dr., Privatdocent, Bern.
Vili
Verzeichnis der Mitarbeiter.
von den Steinen, Karl, Dr., Professor, Neu-Babelsberg bei Potsdam.
Steinthal, H., Dr., ausserordentlicher Professor, Berlin.
Stolz, Friedrich, Dr., ordentlicher Professor, Innsbruck.
Thumb, Albert, Dr., Privat-Docent, Freiburg i. Breisgau.
Tille, Alexander, Dr. phil., Docent, Glasgow.
Tobler, Ludwig, Dr., ordentlicher Professor, Zürich.
Treichel, Alexander, Rittergutsbesitzer, Hoch-Paleschken in Westpreussen.
Ullrich, Hermann, Dr., Gymnasial-Oberlehrer, Chemnitz.
Yogt, Friedrich, Dr., ordentlicher Professor, Breslau.
Yoretzsch, C., Dr., ausserordentlicher Professor, Tübingen.
Weber, Albr., Dr., ordentlicher Professor, Berlin.
Weinhold, Karl, Dr., ordentlicher Professor, Geheimer Regierungsrat, Berlin.
fZingerle von Sommersberg, Ignaz, Dr., ordentlicher Professor, Innsbruck.
Zingerle von Sommersberg, Oswald, Dr., ausserordentl. Prof., Czernowitz.
äo&x m
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und 11. Steinthal.
Im Auftrage des Vereins
herausgegeben
von
Karl WeinholcL
Vierter Jahrgang.
1894. Heft 1.
BERLIN.
Verlag von A. As h er & Co.
S ¿e .
Inhalt.
Seite
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn. Yon Adolf Hauffen 1
Das Märchen vom Gevatter Tod. Yon Johannes Bolte.....34
Der Schuh im Volksglauben. I. Von Paul Sartori......41
Wiegenlieder aus dem Spessart. Von Anton Englert.....54
Negermärchen von der Goldküste. Von J. G. Christaller .... 61
Buddhistische weibliche Heilige. Von S. Singer........71
Bastlösereime. Gesammelt von K, Ed. Haase.........74
Auf einem Bauernhofe im Gsiessthal in Tirol. Von weil. Dr. med.
Thomas Hell..................77
Verschiedenes vom Aberglauben, von Sitten und Gebräuchen in Mittel-
schlesien. Von weil. August Baumgart.........80
Kleine Mitteilungen:
Das Spengeltuch. Ein Totenbrauch aus der Eifel. S 86. — Schwerttanz und Wett-
lauf. S. 88. — Zu Zeitschr. IV, 54 ff. „Wiegenlieder aus dem Spessart" von A. Englert.
S. 88. — Zu dem Liede „Die Sonne steht am Himmel". S. 90. — Aus Bekehrungs-
geschichten der Jesuiten. S. 91. — Ostfriesische Lautspiele und Sprechübungen. S. 91. —
Grabinschrift auf dem Freithof von Gossensass. S. 92. — Das Weihnachtspiel im grossen
Saale der Musik-Gesellschaft in Wien. S. 93. —
Bücheranzeigen :
Eichard Schmidt, Die Çukasaptati. Textus simplicior. S. 94. — C. G. Büttner,
Lieder und Geschichten der Suaheli. S. 96. — Arnold Schröer, Percy's Reliques of
ancient english poetry. S. 96. — Frankel. Dr. Ludwig, Shakespeare und das Tagelied.
S. 97. — Johannes Bolte und Erich Schmidt, Aufsätze über Märchen und Volkslieder
von Reinhold Köhler. S. 98. — Tille, V., Literarni studie I Skupina lidovych povidek
o nezmámém rekovi, jenz v závodech ziskal princeznu za chot. S. 98. — Alexander
Tille, Die Geschichte der deutschen Weihnacht. S. 100. — Alois John, Litterarisches
Jahrbuch. S. 101. — Max Bartels, Die Medicin der Naturvölker. S. 102. — Ernst
Grosse, Die Anfänge der Kunst. S. 103. — Karl von den Steinen, Unter deu Natur-
völkern Central-Brasiliens. S. 104. — A. und P. Horn, Friedr. Tribukeits Chronik. S. 105.
Aus den Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde .... 105
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift
auf Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im
Interesse des Vereins, Kreuzbandsendungen, beliebe man an
die Adresse des Herausgebers, Geh. Regierungsrat Prof. Dr.
K. Weinhold, Berlin W., Hohenzollernstr. 10, zu richten.
Bücher für Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
buchhandlung A. Asher & Co., W. Unter den Linden 13, senden.
Beitrittserklärungen zum Verein nimmt der Schriftführer Prof. Dr.
Rödiger, Berlin SW., Wilhelmstr. 140, und der Schatzmeister entgegen.
Schatzmeister des Vereins ist Banquier Alexander Meyer Cohn,
Berlin W.; Unter den Linden 11.
Der Jahresbeitrag ist 12 Mk., wofür die Zeitschrift an die Mitglieder
geliefert wird.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
Yon Adolf Hauffen.
Auf dem Gebiete der deutsch - österreichischen Volkspoesie giebt es
Ausgaben und Sammlungen in Hülle und Fülle, es fehlt jedoch eine
zusammenfassende Darstellung. Darum sei hier der erste Versuch einer
kurzen übersichtlichen Schilderung des reichen deutschen Volkslieder-
schatzes in Österreich-Ungarn unternommen. Allerdings ergiebt sich gleich
im Eingang die Frage: Darf man dieses Gebiet überhaupt so abgrenzen?
Giebt es ein österreichisches Volkslied, das an gemeinsamen hervor-
stechenden typischen Eigenschaften erkennbar, vom Volkslied in Deutsch-
land und der Schweiz sich als eine besondere Erscheinung abheben würde?
Diese Frage muss, wenn es sich um das ganze weite Bereich der Mon-
archie handelt, natürlich verneint werden. Die deutschen Stämme in
Osterreich sind untereinander in Sprache, Art und Lebensführung zu ver-
schieden, um ganz dieselben Volkslieder zu schaffen, ausserdem sind die
Hügelländer des Westens und die Umgebungen grosser Städte mit Deutsch-
land durch hundert Fäden verschiedenfältigsten Verkehrs so innig ver-
bunden, dass sie auch am Liedergute der Brüder im Reiche starken Anteil
haben.
Andererseits aber giebt es in Osterreich Landschaften, die, durch das
Hochgebirge oder durch dazwischen wohnende fremdsprachige Volksstämme
von jenem Verkehr abgeschnitten, eine Volkspoesie geschaffen haben, die
m der Melodie, wie in der äusseren Form, im Stoffe, wie in der Stimmung
als ihr besonderes Eigentum aufgefasst werden muss, ohne dass die Fäden,
die sie mit den übrigen Volksgenossen verbinden, vollständig abgerissen
wären. Eine Darstellung der deutschen Volkslieder in Österreich muss
'larum einzelne Landesteile ins Auge fassen, insbesondere die Alpenwelt
und die Sprachinseln, und sie wird hier mehrere Gruppen eigenartiger
Mannigfaltiger Volkspoesie unterscheiden. Schon durch den gewichtigen
Umstand allein, dass das mehr oder weniger weltabgeschiedene Dasein, die
eigenartige landschaftliche Umgebung, die besonderen Erwerbsverhältnisse
m einem grossen Teile Österreichs, endlich die fortgesetzte Berührung mit
fremden V olksstämmen auch eigenartige Zustände des Lebens geschaffen
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 1
2
Hauffen :
haben, schon dadurch erhält das dichterische Spiegelbild dieser Zustände,
das Yolkslied dieser Gegenden, einen besonderen Charakter. Es scheidet
sich so yon dem Yolksliede im Deutschen Reiche, das hier im wesent-
lichen überall gleich geworden ist, weil dem steten Wechselverkehr, dem
Austausch und der Ausgleichung in Form und Inhalt kein Hemmnis
entgegengetreten war.
Das österreichische Yolkslied hat in erster Linie ein ganz äusserliches
Erkennungszeichen: die Sprache, d. h. die Mundart; denn es wird im ganzen
Bereiche der Monarchie von allen Stämmen, mit geringen Ausnahmen, in
der reinen Mundart gesungen. Man kann oft die Äusserung lesen, das
deutsche Yolkslied werde nur in der Schriftsprache gesungen. Hoffmann
von Fallersleben hat auch hierfür einen an Jakob Grimmsche Äusserungen
anschliessenden Grund angeführt1). „Wie das Yolk," sagt er, „in seinen
Liedern überall durch eine edlere und höhere Gefühls- und Anschauungs-
weise sich aus der gemeinen Wirklichkeit zu erheben trachtet, lieber in
einer weitentrückten Vergangenheit, als in seinen dermaligen Zuständen
verweilt, lieber mit Königen, Markgrafen und Rittern, als mit seines-
gleichen verkehrt u. s. w., — — so sucht es auch in eben diesen Liedern
sich seiner gemeinen Sprache zu entäussern." Und er fügt hinzu: „Das
Yolk singt hier (in Schlesien) wie überall in Deutschland mit wenig Aus-
nahmen hochdeutsch." Der Satz in dieser Allgemeinheit ist falsch und
bedarf entschiedener Einschränkung und zwar nach Landschaften und nach
Stoffen. Wer die zahlreichen deutschen Yolksliedersammlungen durch-
sieht, kann leicht die Beobachtung machen, dass die Lieder in ganz Mittel-
deutschland und am Rhein, soweit er durch das Reich fliesst, Schriftdeutsch
gesungen und aufgezeichnet werden, dass hingegen im Norden, auf platt-
deutschem Gebiet und im Süden, in Schwaben und Bayern, in der Schweiz
und in Osterreich die Mundart in ihnen vorherrscht. Hoffmann, der in
Schlesien, Bockel, der in Oberhessen, Lewalter, der in Mederhessen,
Ditfurth, der in Franken, Mündel, der im Elsass Lieder nach dem Yolks-
munde aufzeichnete, sie alle kennen nur schriftdeutsche Lieder und haben
dies auch meist ausdrücklich betont2). Auch die Yolkslieder, die uns aus
der Oberlausitz und Obersachsen, aus Thüringen und den Maingegenden,
aus dem Odenwalde, dem Taunus etc. bekannt wurden, sind frei von der
Mundart. Diese Erscheinung ist ja ganz begreiflich. Hier in Mittel-
deutschland und am Rhein waren die alten Heeresstrassen, hier fand vom
15. Jahrhundert ab der stärkste Austausch des Yolksliederschatzes statt,
1) Hoffmann und Richter, Schlesische Yolksliccler S. IY; vgl. Grimm, Grammatik l2
S. 380 über die mhd. Literatursprache : „Jede freie, edle Poesie strebt aus dem Besonderen
und Gemeinen heraus und über den unendlichen, ja grellen Zwiespalt niederer Idiome
erhebt sich eine die gebildeten Teile des Yolkes verbindende Sprache, in welcher zwar
landschaftliche Grundlagen immer noch vorhanden sind, nur weit leiser hervortauchen."
2) Vgl. ausser Hoffmann besonders Bockel, Deutsche Yolkslieder aus Oberhessen
S. CXVIII: Ditfurth, Fränkische Yolkslieder 2 S. XXVI.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
3
hier entfernen sich auch die heimischen Mundarten nicht so stark von der
Schriftsprache, als dass das Volk nicht ohne zu grosse Schwierigkeit ein
schriftdeutsches Lied sich merken könnte. Dem Norden zu beginnt an den
Grenzen des Niederdeutschen auch das mundartliche Lied. Reifferscheids
Sammlung westfälischer und Zurmühlens Sammlung niederrheinischer Volks-
lieder enthalten neben zahlreichen hochdeutschen bereits mehrere nieder-
deutsche Lieder. In Ostpreussen halten sich beide Gruppen die Wage1).
In Schleswig-Holstein, im Münsterland, in Lippe, in Mecklenburg und
Pommern ist das Plattdeutsche fast alleinherrschend, mit Ausnahme
grösserer Städte und ihrer Umgebung.
Wie im Norden der grosse Abstand der Mundart von der Schrift-
sprache die Hauptursache für das mundartliche Lied bildet, so im Süden
die grössere Abgeschiedenheit vom Verkehr, denn hier ertönt der Volks-
gesang vor allem im Gebirge. Auch hier giebt es, wie auf nieder-
sächsischem Gebiet, allmähliche Übergänge. In Schwaben, in Osterreichisch-
Schlesien und in Böhmen sind die schriftdeutschen Volkslieder ebenso
häufig wie die mundartlichen. Die deutsch-böhmische Sammlung von
Hruschka und Toischer bietet neben vielen hochdeutschen Liedern, den
vier deutschen Stämmen des Landes entsprechend, sprachlich das bunteste
Bild dar. Das an Schlesien grenzende, von Slawen halb eingeschlossene
Kuliländchen in Mähren, die Alpenwelt und die deutschen Sprachinseln
südlich und östlich davon kennen fast nur Dialektlieder. Ist doch der
Mehrzahl der Bewohner dieser Gegenden das Schriftdeutsche so gut wie
eine fremde Sprache.
Diese nach der geographischen Verbreitung gewonnene Regel gilt
nicht ohne Ausnahme. Sie wird durchbrochen durch eine von den Stoffen
ausgehende zweite Regel. Die vornehmste und älteste Gruppe der Volks-
lieder bilden die Balladen und die erzählenden Liebeslieder höheren Stils.
Das sind die Lieder, auf die Hoffmann hinweist, mit Königen und Rittern,
Gold und Perlen, eine durchwegs feiertägliche Poesie. Sie sind an keinen
Ort gebunden, sie besingen ausserordentliche Ereignisse, die überall Auf-
merksamkeit, Mitleid, Bewunderung erweckten. Sie wurden früher von
Soldaten, Handwerksburschen, Studenten, Kaufleuten von Ort zu Ort ge-
tragen und mussten so ihre landschaftliche und sprachliche Besonderheit
abstreifen. Sie wurden schon im 15. und 16. Jahrhundert in Liederbüchern
niedergeschrieben, auf Flugblättern gedruckt, von gebildeten Tonsetzern
umgearbeitet und verloren auch auf diesem Wege die ursprünglichen Züge
der Mundart. Ähnlich verhält es sich mit den historischen Liedern, mit
den von Geistlichen beeinflussten Kirchenliedern und mit den bei feier-
lichen Gelegenheiten gesungenen Chorgesängen der Bergleute, Soldaten,
1) Vgl. Frischbier, Preussische Volkslieder in plattdeutscher Mundart, 1877; Der-
selbe, Hundert ostpreussische Volkslieder in hochdeutscher Sprache, 1893.
1*
4
Häuften :
einzelner Zünfte u. a. In älterer Zeit gab es genug plattdeutscher Balladen
höheren Stils. Wie reich ist daran das „Niederdeutsche Liederbuch" vom
Anfang des 17. Jahrhunderts, aus dem Uhland für seine Sammlung ge-
schöpft hat. Heute werden sie auch auf niedersächsischem Boden meist
hochdeutsch gesungen. Aus dem nördlichsten Teil, aus Schleswig-Holstein,
das reich an plattdeutschen Liedern ist, berichtet Miillenhoff, dass die
Volkssprache in Balladen sich nicht mehr behaupten kann; „der höhere
Stil ward ihr durchaus ungewohnt," und er teilt aus dieser Landschaft
mehrere rein hochdeutsche Balladen mit1). Alle die bekannteren Volks-
balladen drangen auch nach Osterreich vor und man kann einzelne von
ihnen (es wird noch später davon die Rede sein) in schriftdeutscher
Sprache bis nach Tirol, Osterreich, Kärnten und Steiermark verfolgen.
Nur in den Sprachinseln werden auch alle Balladen und historischen
Lieder (mit Ausnahme der allerjiingsten Zeit) in die Mundart übertragen.
Dieser Gruppe allgemein deutscher feierlicher Volkspoesie steht eine
an Zahl viel reichere Gruppe von einfacheren Volksliedern mit Stoffen
des gewöhnlichen Lebens gegenüber, die aus örtlichen Ereignissen und
Zuständen hervorgegangen, auch in ihrem "Wirkungskreis durch landschaft-
liche Grenzen beschränkt sind. Der alltägliche Kreis des Liebes- und
Familienlebens, Scherz und Satire bilden ihren Inhalt. Ihre Darstellung
ist packend, anschaulich, bilderreich, wo es der Stoff erheischt, auch derb
und niedrig. Alle diese Lieder haben entschieden lokale Färbung und
werden überall in der unverfälschten Mundart gesungen. Es ist heimische
Ware. Gelungene Erzeugnisse dieser Gruppe wandern wohl auch in die
Fremde. Viele Kinderlieder sind über das ganze Gebiet, einzelne Vier-
zeiler über einen grossen Teil deutscher Lande verbreitet. Meist jedoch
sind diese Lieder ihrem Wesen nach an die Heimat gebunden. Durch die
Bezeichnungen des besonderen örtlichen Gewerbes, durch Redewendungen
und den Reim sind sie so mit der Mundart verknüpft, dass sie in die Schrift-
sprache nicht ohne weiteres übersetzt werden könnten. Nirgends fehlen
Lieder dieser Art gänzlich. So werden Rundas in Thüringen, Scherzlieder in
Schlesien im Dialekt gesungen2). Doch ist ihre Zahl im mittleren Deutsch-
land gering. Sie wird um so grösser, je weiter wir uns vom lauten Markt
des Lebens entfernen, je mehr die Gegenden ihre angestammte Eigenart
sich bewahrt haben. Kein Gebiet ist in dieser aus dem täglichen Leben
schöpfenden, doch darum poetisch nicht tiefer stehenden Volksdichtung so
reich, wie die österreichische Alpenwelt.
Zwischen beiden Gruppen stehen die sprachlich gemischten Lieder,
die entweder auf sichtbar schriftdeutscher Grundlage einzelne eingestreute
1) Miillenhoff, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Holstein und
Lauenburg, 1845, S. XLIII und 491 ff.
2) Vgl. Dunger, Rundas und Reimspräche aus dem Vogtlande, 1876; Mittler,
Deutsche Volkslieder Nr. 1062 f., 1324 u. a.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
5
mundartliche Wendungen und Ausdrücke zeigen, oder umgekehrt ihre
ursprüngliche mundartliche Färbung noch nicht völlig verloren haben, oder
endlich Spuren verschiedener Mundarten an sich tragen. Stände, die mit
Städten in Berührung kommen, bringen Lieder aus der Stadt aufs Land
und setzen sie nur teilweise in die Mundart der Heimat um. Gemischt
hoch- und niederdeutsche Lieder werden in Schleswig-Holstein gesungen1).
In Siebenbürgen dringt in neuester Zeit das Schriftdeutsche in mundart-
liche Lieder ein2). In Kärnten kann man in den feierlichsten Schrift-
deutsch gesungenen Liedern die echt kärntnische Wendung „lei nit" an-
treffen3). In einem Aufruf der Tiroler vom Jahre 1797 lösen mundart-
liche und schriftdeutsche Strophen einander unvermittelt ab4). In der
komischen „Beichte der Sennerin", die in Steiermark und Tirol fast völlig
gleichlautend gesungen wird, bedient sich die Sennerin des derbsten Dia-
lekts, der Pfarrer des reinsten Schriftdeutsch6).
Deutsch-Osterreich ist überaus reich an den mannigfaltigsten, wert-
vollsten, ältesten Volksliedern. Mit dem „Aussterben des Volks-
liedes" hat es also hier noch seine guten Wege. Auch in diesem Punkt
bedarf die so oft ausgesprochene allgemeine Meinung einer Einschränkung.
Seitdem in Deutschland Volkslieder von gebildeten Sammlern aufgezeichnet
werden — und das ist nun über 120 Jahre der Fall — ertönt immer
wieder die Klage, das Volkslied sterbe aus, man könne es nur mehr von
einigen alten Frauen hören, es sei höchste Zeit, die vorhandenen Reste
durch Schrift und Druck festzuhalten und vor dem Untergang zu retten.
Aber seit Herders, seit Arnims und Brentanos Sammlungen wurden in
allen deutschen Landschaften Tausende und Abertausende von Volksliedern
gefunden und je später, um so eindringlicher und zielbewusster wurde
geschürft und um so reichere Schätze wurden zu Tage gefördert. Und die
vielberufenen alten Frauen können doch nicht ewig leben. Goethe hat im
Sommer 1771 für Herder „auf seinen Streifereien im Elsass aus denen
Kehlen der ältesten Mütterchens" Lieder gesammelt und dabei nur ein
Dutzend Balladen „aufgehascht"6). Mündel, der ein Jahrhundert später
elsässische Volkslieder sammelte, teilt in strenger Auswahl aus seinen
Funden 256 Nummern mit. Die vor zwei Jahren abgeschlossene deutsch-
böhmische Sammlung von Hruschka und Toischer bringt (die Vierzeiler
und Kinderreime abgerechnet) ein halbes Tausend Volkslieder, die, wie
1) Vgl. Müllenhoff a. a. 0.
2) Schuster, 15 und 417.
3) Herrmann und Pogatschnigg, Deutsche Volkslieder aus Kärnten, Salon-Ausgabe,
S. 45 ff.
4) v. Ditfurth, Die historischen Volkslieder des österreichischen Heeres, 1874, S. 76.
5) Schlossar, Deutsche Volkslieder aus Steiermark, 1881, Nr. 336. — Greinz und
Kapferer, Tiroler Volkslieder 1, 17 ff.
6) Vgl. Ephemerides und Volkslieder von Goethe, herausgeg. von Martin (Deutsche
Litteraturdenkmale 14) S. XVI.
6
Häuften :
die Herausgeber ausdrücklich erklären, „jetzt noch vom Yolke gesungen
werden, oder doch noch bis in die neueste Zeit bekannt waren1)". Und
angeregt durch die Sammlung, sandten Kenner des Yolkes aus allen Teilen
Böhmens den Herausgebern so viele neue Lieder, dass diese einen reich-
haltigen Nachtrag werden veröffentlichen müssen. Meinert hat im Jahre
1817 durch seine reiche Sammlung aus dem Kuhländchen die deutschen
Forscher überrascht. Doch wird demnächst eine Sammlung kuhländischer
Liedchen erscheinen2), die Meinert ganz in Schatten stellt, obwohl seitdem
zwei Menschenalter unter dem Einfluss der ausgleichenden Kultur gelebt
haben. In einem Gebiet, das mir persönlich näher bekannt ist, in der
deutschen Sprachinsel Gottschee in Krain, hat Schröer im Jahre 1867 an
dreissig Lieder gesammelt3), während meine mit Hilfe heimischer Lehrer
veranstaltete Sammlung (die im Frühling erscheinen wird) an zweihundert
Gottscheer Volkslieder bringt.
Yon einem Aussterben des Volksliedes kann heute nur in jenen Land-
schaften und bei jenen Gattungen die Rede sein, bei denen der schrift-
deutsche Gesang herrscht. In industrie- und verkehrsreichen Strichen
vergisst das Yolk die alten Balladen. „Vor dem Qualm der Fabriken
verschwinden die Volkslieder, wie einst die Elfen vor dem Schalle der
Glocken"4). Fremde Einflüsse beirren die ruhige Sammlung, zersplittern
die Kraft des Gedächtnisses. Vielfach wissen die Sänger von längeren
Balladen nur mehr einzelne Strophen oder einen lückenhaften Auszug an-
zugeben. (Doch ist noch heute das Gedächnis einzelner Frauen im
Volke erstaunlich5). In Gegenden, die dem Bannkreis der Städte näher
liegen, werden die alten Balladen allerdings unaufhaltsam verdrängt von
albernem Operetten-Singsang, von den ethisch sehr tief stehenden geschmack-
losen Erzeugnissen der modernen Bänkelsänger, die sich stolz Volkssänger
nennen (so besonders im weitesten Umkreis von Wien herum), von lieder-
lichen Gassenhauern und von den gottlosen Liedern der sozialdemokratischen
Liederbücher6). Doch in abgelegeneren Gegenden, da stirbt das Volkslied
nicht aus, da lebt und grünt es fort und treibt täglich neue Blätter und
1) Deutsche Volkslieder aus Böhmen, 1891, S. XI; vgl. auch die Nachträge in der
Zeitschr. d Yer f. Volksk. 3, 176 ff.
2) Ygl. Willibald Müller, Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Mähren,
1893 S. 338.
3) Schröer, Wörterbuch der Mundart von Gottschce (Wiener Sitzungsbericht) 1868
und 1870.
4) Bockel, a. a. 0. S. II.
5) Ditfurth, a. a. 0. 2, S. XXVIII berichtet von Sängerinnen in Franken, die weit
über hundert Lieder vollständig auswendig wussten. Das Gleiche kann ich für Gottschee
bestätigen.
6) „Gottlos" in dem Sinne, als sie den Ausdruck Gott ängstlich vermeiden. Das
schöne Eichendorffsche Lied: „Der frohe Wandersmann" z.B. beginnt hier:
„Wem man will rechte Gunst erweisen,
Den schickt man in die weite Welt." (!)
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
7
Blüten. In Österreich wurden noch in jüngster Zeit auf moderne Ereignisse
neue Volkslieder und Vierzeiler von poetischem Gehalte geschaffen1).
(Nebenbei gesagt hat auch der glorreiche Feldzug vom Jahre 1870/71 in
Deutschland eine Reihe der schönsten Soldatenlieder auf blutgedüngtem
Boden gezeitigt2).) Die zahlreichen österreichischen Sammlungen geben uns
noch kein abgerundetes Bild von der Fülle der im Yolke lebenden Poesie.
Vieles in Hochthälern und Sprachinseln harrt noch des Finders, anderes,
was lange den Druck verdient hätte, liegt unbenutzt in verstaubten Hand-
schriften. Wie viel mehr würde gewonnen werden, wenn die historischen
Vereine der einzelnen Kronländer planvolle Sammlungen veranlassen
würden. Eine zweite Ausgabe, die so reichhaltig und wissenschaftlich ge-
diegen wäre, wie die schon wiederholt erwähnte deutsch - böhmische
Sammlung, giebt es in Osterreich nicht. Am nächsten reichen an sie
heran die Ausgabe siebenbürgisch-sächsischer Volkslieder von Friedrich
Wilhelm Schuster, die Kärntnische von Pogatschnigg und Hermann und die
reichhaltige (aber auch einzelnes Unechte enthaltende) steirische Sammlung
von Schlossar, die an ältere Vorarbeiten von Weinhold, Rosegger, Jeitteles
und an die von Erzherzog Johann veranlassten Aufzeichnungen anknüpft3).
1) Auch auf die Okkupation in Bosnien, wie mir Dr. Pommer mitteilte und vgl.
unten S. 14.
2) Vgl. unter anderem F. von Ditfurth, Historische Yolks- und volkstümliche Lieder
des Krieges von 1870—1871, zwei Bände. Berlin, 1871. 1872.
3) Ich unterlasse es hier, die ausführlichen Titel aller Sammlungen und Aufsätze
anzugeben, indem ich auf die jüngste Bibliographie des Volksliedes von John Meier in
Pauls Grundriss der germanischen Philologie 2, 1, 750-—776 verweise. Diese Zusammen-
stellung ist bedeutend reichhaltiger, als die nächst ältere bei von Bah der, Die deutsche
Philologie im Grundriss 1883, 278—291 und dürfte im allgemeinen erschöpfend sein.
Zu den Kapiteln über Österreich-Ungarn erlaube ich mir einige Zusätze und Berichtigungen.
Bei Meier fehlt die Angabe der von Schröer mitgeteilten Volkslieder der Deutschen im
ungarischen Berglande (vgl. unten S. 20 Anm. 1) und der Gottscheer (vgl. oben S. 6 Anm. 3).
In § 17 gelten Pommers Jodler und Juchezer und Hörmanns Schnadei-hüpfeln für
das ganze Alpengebiet und nicht für Tirol uud Salzburg allein, wie es nach Meiers Ein-
teilung vermutet werden sollte. In §18 erstrecken sich die Sammlungen von Vogl,
Vernaleken und Seidl auf ganz Innerösterreich, die übrigen auf Nieder- oder Ober-
österreich allein, was doch zu scheiden gewesen wäre. Rank, Aus dem Böhaierwald,
gehört nicht in § 27, sondern in § 29, ferner reiht Meier unter „Sammlungen" auch
Schriften über das Volkslied ein, so in § 17 Wagner, Die Volksdichtung in Salzburg.
Endlich sind jüngst neu erschienen zu § 30 Willibald Müller, Beiträge zur Volkskunde
der Deutschen in Mähren, Wien und Olmütz 1893; zu § 17 Greinz und Kapferer, Tiroler
Volkslieder, Zweite Folge 1893 und J. Pommer, 252 Jodler und Juchezer, Neue Folge,
1893; zu §20 Hans Neckheim, 222 echte Kärntnerlieder, zwei Abteilungen (Wien 1893).
Die beiden letztgenannten Sammlungen wurden herausgegeben von dem überaus rührigen
Deutschen Volksgesang-Verein in Wien, der unter der Leitung Prof. Dr. Pommers, seit
seiner Gründung (1889) mit Erfolg die Verbreitung und Pflege des echten Volksliedes
fördert, mehrere österreichische Volkslieder für vierstimmigen Männerchor und Flugschriften
»zur Kenntnis und Pflege des deutschen Volksliedes" veröffentlicht hat. Unter diesen ist
Nr. 1 ein Neudruck des schwungvollen Aufsatzes: „Die österreichischen Volksweisen" von
Anton Ritter von Spaun aus dem Jahre 1843, Nr. 4 (in Vorbereitung): „Verzeichnis
empfehlenswerter Volksliederausgaben und Schriften über das Deutsche Volkslied."
8
Hauffen :
In Niederösterreich sind seit der von Tschischka und Schottky zumeist
aus dem Wienerwald geschöpften, schon 1819 (und in zweiter Auflage 1844)
erschienenen Sammlang Volkslieder im grossen nicht mehr aufgezeichnet
und veröffentlicht worden. Aus Oberösterreich haben wir ausser Weih-
nachtsliedern, einige Alm- und Tanzlieder1) und ein paar Balladen. Für
Tirol giebt es neben der kritiklosen Lienzer Sammlung und verstreuten
Stücken die unverlässlichen und unwissenschaftlichen Salonausgaben der
Schnadahüpfeln und Volkslieder von Greinz und Kapferer. Eine umfassende
Sammlung fehlt; möge der einzig Berufene, Ludwig von Hörmann, sein
Versprechen, sie zu liefern, möglichst bald einlösen. Salzburgische Volks-
lieder veröffentlichte Maria Vincenz Süss. Doch eine grössere, an 700
Nummern zählende spätere Sammlung hinterliess er handschriftlich dem
Salzburger Museum. Uberaus reichhaltig sind die Mitteilungen aus Öster-
reichisch-Schlesien von Anton Peter. Doch sind in dem dritten Band
(1873) die versprochenen Anmerkungen und Abhandlungen ausgeblieben.
Aus Mähren wurden seit Meinerts schöner Gabe aus dem Kuhländchen
( 1817)2) einzelne Kinderreime und Weihnachtslieder durch Feifalik, viele
Vierzeiler und Sprüche durch Willibald Müller bekannt gemacht. An
Abhandlungen über das deutsche Volkslied in Osterreich ist, abgesehen
von einzelnen Einleitungen zu den Ausgaben und kurzen Aufsätzen über
beschränkte Gebiete nichts vorhanden. Auch in den bisher erschienenen
Bänden der österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild ist
das Volkslied — im Gegensatz zu den sehr eingehenden Schilderungen
der Sitten und Bräuche — auf beschränktem Raum kurz abgethan und
von den verschiedenen Mitarbeitern ganz ungleichmässig behandelt worden.
In dem vorliegenden Versuch kann ich nur eine ganz kurze Über-
sicht geben über den reichen Besitz Österreichs an deutschen Volksliedern.
Vor allem müssen die bezeichnenden, unserer Heimat eigentümlichen
Gruppen hervorgehoben werden. Die Almlieder, die besondere Poesie
der Alpenwelt, die stofflich damit verwandten Schnadahüpfeln und die
Lieder der Sprachinseln. Dann müssen wir Österreichs Anteil an den
allgemeinen deutschen Volksballaden, an dem historischen und dem geist-
lichen Liede feststellen und endlich einige Worte über die Beziehungen
zu dem Liedergute unserer fremdsprachigen Mitbürger sagen.
Die Almlieder sind die echte heimische Blüte der Alpenwelt. Die
eigenartige Lebensweise der Álpler verleiht auch ihrer Poesie ganz
1) Spauns Sammlung Österreichischer Volk s weisen3 Wien 1882, bringt
(nach einer Mitteilung des Sohnes Spaun an Pommer) fast ausschliesslich oberösterreichische
Lieder. Die übrigen oben erwähnten Sammlungen verzeichnet John Meier a. a. 0.
2) Über die Entstehung dieser Sammlung giebt jetzt interessante Auskunft Müller,
Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Mähren S. 334 ff. — Fast alle älteren oben ge-
nannten Ausgaben sind jetzt im Buchhandel vergriffen und auch durch Antiquare oder
auf Bibliotheken nur schwer zu erhalten.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
9
bestimmte Merkmale. Yieles ist allerdings allen Bewohnern von Hoch-
gebirgen gemeinsam und man findet entsprechende Züge auch in den
Hochländern Schottlands, Norwegens und im Kaukasus. Insbesondere
aber verbindet der Charakter der Alpenwelt verschiedene Yölker zu
gleichen poetischen Äusserungen. Italienische und französische Älpler
haben die gleichen Bergsagen, wie Alemannen und Baiern. Aus dem
hübschen Buche der gelehrten Italienerin Maria Savi-Lopez1) geht dies
deutlich hervor. Sie hätte noch die Slowenen Oberkrains und Kärntens
heranziehen können. Suchen wir aber nach einem engeren Begriff, so
finden wir eine natürliche Abrundung für die Bewohner der österreichischen
Alpenwelt, die sich der baierischen Mundart bedienen. (Oberbaiern muss
natürlich mitgenommen werden). Auf diesem Gebiete werden wir wohl
kaum schärfere Unterschiede für einzelne Länder feststellen können.
Nicht politische und historische Grenzen, sondern der Lauf der Gebirgs-
züge bildet die massgebende Scheidewand. So haben die einzelnen
Thäler eine bestimmte Form der Mundart, besondere Lieder, Sprich-
wörter, dramatische Spiele u. s. w. Allen aber ist in grossen Zügen die-
selbe Volkspoesie der Alpenwelt gemeinsam.
Die eigenartigste Erscheinung im Leben der Gebirgsbewohner bildet
die Almwirtschaft. Im Frühling ziehen Knechte und Mägde mit den
Rinderherden aus ihrem tiefer gelegenen Dorfe zu den hohen, ihrem
Herrn oder den Gemeinden gehörenden Bergwiesen, wo das Yieh den
Sommer über im Freien weidet, der Senner oder Schwaiger und die
Sennerin (Schwaigerin) die Milch versorgen, Butter und Käse zubereiten
müssen. Diesen ganzen luftigen Sommeraufenthalt mit all seinen ein-
zelnen Erlebnissen begleitet und verklärt das Lied2). In rein lyrischen
Tönen, ja zuweilen mit sentimentalem Naturgefühl erklingt hier die Freude
über den Frühling, über die apern d. h. schneefreien Fluren, über die
freie Alpenluft, die weite Rundsicht. Die Sennin besingt in jubelnden
Liedern die blühenden Blumen, die leuchtende Morgenröte, das lustige
Springen der Kälber und Kühe. Eine Reihe von Liedern in Steiermark,
Salzburg, Kärnten etc. beginnen mit dem Yers: „Lustig ists auf der Alm",
» Auf der Alma oben da ist 'n lustigs Leben," „Auf der Alm is kan Trauer"3).
Kurz, der Älpler kennt und wünscht sich kein schöneres Leben. Und
gar wenn es ihm die Blüte der Liebe verschönt. Die Sennin herrscht in
ihrem Staate gewöhnlich allein, bisweilen mit Hilfe eines alten Melkers
oder eines kleinen Hirtenknaben. In ihrer Einsamkeit gedenkt sie des
fernen Geliebten, eines Holzhauers oder Jägers, und haucht ihre Sehnsucht
1) Le leggende delle Alpi, Torino 1887, deutsch Stuttgart 1893.
2) Ygl. Mittler, Nr. 1105—1132, Schlossar, Nr. 113—175. Und die oben erwähnten
Sammlungen.
3) Süss, S. 65, 66, 75, 79. — Schlossar, Nr. 113, 131, 136 u. a. — Pogatschnigg und
Hermann 2, 548 und Neckheim Nr. 13.
a
10
Hauff en:
empfindungsvollen Liedern ein. Kommt er zn Besuch, gewöhnlich Samstags
Abend, dann begrüsst sie ihn mit einem ausgelassen heiteren Liebeslied
oder mit einem weithin hallenden Jodler, er antwortet mit kecken Schnada-
hüpfeln. Der weite Weg verschuldet es auch, dass er erst des Nachts
eintrifft, dann erhebt sich vor ihrer Kammer der poetische Fensterstreit,
das gesungene'Zwiegespräch der Liebenden mit losen Scherzen und heissen
Liebesschwüren1). Erst weist sie ihn ab, neckt und höhnt ihn. Harrt er
aus und zieht er nicht beleidigt wieder ab, so erhält er ein „sakrisches
Busserl" und wird wohl zum Lohne eingelassen, denn „auf der Alm giebts
ka Sünd", wie die Lieder in verschiedenen Variationen versichern. Die
Schönheit des Mädchens weiss der Bursch glühend zu schildern. Nicht
nur die „sakrisch dicken Wadeln", sondern wie die galanten Lyriker aus
langvergangener Zeit, vergleicht er ihren Hals dem weissen Marmor, ihre
Augen dem Kristall, ihre Zähne Perlenreihen2). Und auf die Reize des
Grüberl singen Tiroler und Steirer ein eigenes Lied3). Ist die schöne
Nacht (deren Freuden mit freimütigem Humor besungen werden) allzu
rasch geschwunden, dann nehmen die Liebenden wieder in Yersen von
einander Abschied, die in Wortlaut und Situation an die altdeutschen
Tagelieder aus der Zeit der Minnesänger, an Romeos Klage: „Es ist die
Lerche, die Tagverkünderin, und nicht die Nachtigall" lebhaft erinnern4).
Nicht immer finden diese hochgehenden Liebeswogen Ruhe im Hafen der
Ehe. Eifersucht und Untreue beschwören Stürme des Hasses herauf.
Manch ein leichtsinniger Bursch verlässt das Mädchen im Elend. Er-
greifende Lieder der Verlassenen und die tragischen Balladen von aus-
gesetzten und gemordeten Kindern legen trauriges Zeugnis dafür ab5).
Neben dem Senner ist der Jäger die charakteristischste Erscheinung
der Alpen. Die wildreichen Gehege dieser Gegenden sind an vornehme
Herren oder Jagdgenossenschaften verpachtet. Die grosse Schar ihrer
Untergebenen, die das Gebiet zu beaufsichtigen haben, sind die Jäger.
Ein Kind der Berge, vertraut mit ihren Reizen und ihren Gefahren, ist
der Jäger seinem Berufe leidenschaftlich ergeben. In den zahlreichen Jäger -
lied er n ertönt die Freude über die sicher treffende Büchse, die schöne Land-
schaft, das muntere Getier, das sich so zahlreich darin herumtummelt. Zarte
1) Österreich-Ungarn in Wort und Bild, Oberösterreich und Salzburg S. 131, 474ff.
Süss S. 161—175. Schlossar Nr. 142. Pogatschnigg und Hermann l2 241—266.
2) Schlossar Nr. 133, 123, 127. Neckheim Nr. 8.
3) Greinz und Kapferer 1, 15. Schlossar Nr. 154.
4) Seidl, Almer 2, 81. Romeo III, 5. Pogatschnigg a. a. 0. S. 283ff. Gustav Meyer,
Essays und Studien 1, 347. Vgl. jetzt Ludwig Frankel, Shakespeare und das Tagelied,
1893, besonders S. 68 ff.
5) Neckheim Nr. 122. Greinz und Kapferer, Volkslieder 2, 29. Herrmann und Po-
gatschnigg, Salonausgabe S. 55. Baumgarten, im Bericht des Museums in Linz 29,
S. 140 u. a.
Das deutsche Volkslied in Österreich - Ungarn.
11
Beziehungen zu einer Sennerin leihen seinem rauhen Leben und seinen
Liedern einen milden Schimmer1). Des Jägers Todfeind ist der Wildschütz
oder der Wildpratschütz, wie er zumeist in den Alpen genannt wird.
Wie den aufrührerischen Bauern des 16. Jahrhunderts, so erscheint den
Alplern das Verbot der freien Jagd als eine Verkürzung ihrer natürlichen
Hechte. Fast allen macht es eine Freude, hierin das Gesetz zu umgehen.
Die Gebirgsbewohner sind entschieden fromm, in ihrem gefahrvollen, be-
schwerlichen Leben bedürfen sie eines überirdischen Trostes. Doch sie
vergessen leicht über dem himmlischen Herrn, dem sie auf ihrer Berges-
höhe soviel näher sind, die irdischen Herren, den Richter und den Priester.
Auf der Alm ist, wie die verbotene Liebe, so auch das verbotene Jagen
keine Sünde, denn, so lautet die Moral der Almlieder, wäre der Herrgott
dagegen, dann hätte er die schönen Dirndln, sowie die Gemsen und Rehe
gar nicht erschaffen. Die Lieder der Wilderer sind viel leidenschaftlicher,
selbstbewusster, als die der Jäger. Sie haben mehr „Schneid", um einen
Lieblingsausdruck der AVilderer zu gebrauchen. Im* Kampf zwischen ihm
und dem Jäger ergreifen die Volkslieder immer seine Partei. Der Jäger
ist unbeliebt, weil er eine Art Spion bildet und über viele Familien durch
die Verfolgung der Wilderer Unheil bringt. Zahlreiche Volkslieder, die
fast gleichlautend über das ganze Gebiet verbreitet sind, erzählen, wie
sich der Wildschütz durch die Überzahl der ihn verfolgenden Jäger durch-
schlägt, wie er mit List und Kraft seinen Gegner überwindet und ihn
noch zum Hohne zwingt, seine Jagdbeute zu tragen, wie er von seinem
Liebchen, der Sennerin, vor den Häschern verborgen gehalten und mutig
beschützt wird. Sollte er doch gefangen werden, dann bittet sie ihn frei2).
Die Alpen des bairisch-österreichischen Sprachgebietes sind auch das
klassische Land und die Heimat der vierzeiligen Epigramme des Volkes,
der Schnadahüpfeln. Ihre Zahl ist unbegrenzt. Jeder Tag gebiert
neue Liedchen. Die besten pflanzen sich fort von Thal zu Thal, von
Jahrhundert zu Jahrhundert. Und nach diesen, oft sehr alten Vorbildern,
werden je nach der augenblicklichen Lage des Sängers neue Varianten
gebildet. Aus jedem Kronland sind uns Tausende überliefert; die beste
Auswahl von „Schnaderhüpfeln aus den Alpen" bot uns Ludwig von
Hörmann3), tiefer gehende Stadien mit weit ausgreifenden Vergleichungen
Gustav Meyer4). Zahlreich sind diese Vierzeiler unter den verschiedensten
Namen auch in der Schweiz, in Schwaben, im südlichen und westlichen
1) Schlossar Nr. 138ff. Pogatschnigg und Hermann 2, Nr. 545—550.
2) Süss, S. 6G, 75f. 78. Greinz und Kapferer 1, 169; 2, 137 und 140. Schlossar
Nr. 178—186, Nr. 302 f. Tschischka S. 89, 92. Pogatschuigg und Herrmann 2, Nr. 551.
3) Zweite Auflage, Innsbruck 1882. Während des Druckes erschienen: Gstanzln,
^ien 1893, gesammelt von Herrn Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este.
4) Essays und Studien, Berlin 1885, S. 332—407 (hier auch eine Bibliographie) und
zweiter Band 1893, S. 145—162.
12
Hauffen :
Böhmen und im Yogtlande. Einzelne sind weiter versprengt bis nach
Ostpreussen und dem siebenbürgischen Sachsenland. Die Alpen sind ihre
Heimat, denn allen diesen Auswanderern können wir in jedem Alpenthal
Dutzende naher Verwandter nachweisen1).
Die wichtigste Rolle spielt das Schnadahüpfel als Tanzweise, darauf
deutet auch sein Name hin. Wenn der Bursche sein Mädchen zum Tanz
führt, so wirft er den Musikanten ein Geldstück hin und singt ein Gesätz,
dessen Melodie nun von dem ländlichen Orchester aufgespielt wird, so
„frimt" (friimmt) er den Tanz an. Die übrigen Paare folgen und während
des Tanzes singt nun bald der eine, bald der andere nach der angegebenen
Weise ein Schnadahüpfel, das sich meist auf seine Tänzerin bezieht, die
die Antwort nicht schuldig bleibt. Aber diese Liedchen sind auch ausser-
halb des Tanzbodens, ausser Kirchweihen und Hochzeiten, die steten Be-
gleiter im Leben der Alpler, förmlich die Poesie des täglichen Gebrauchs.
Wir sehen es besonders übersichtlich an der schönen Anordnung der
Kärntner Sammlung, wie diese „Pleppaliedln" alle Stufen des Liebes-
lebens vom ersten ahnenden Erwachen bis zur gegenseitigen Erklärung
und zum dauernden Bündnis, alle Reize der Heimlichkeit, Erwartung und
Wiedersehen, das „Fensterin" und den nächtlichen Genuss, aber auch
Zurückweisung und Untreue, je nach dem verschiedenfältigen Charakter
der Liebenden, je nach der veränderten Umgebung in reichstem Wechsel
schildern. Manches Schnadahüpfel ist nur ein verhallender Seufzer oder
ein Jubelschrei. Die einen sind zart und sinnig, die anderen derb und
urwüchsig. Am lautesten ertönt der ausgelassene Übermut; der Bursche
predigt, gewöhnlich „mit Federn aufm Hut", Leichtsinn in Liebes- und
Geldangelegenheiten, Gleichmut gegen die Behörde und die Religion,
was man nicht immer ernst nehmen darf. Andere wenden sich mit
schonungsloser Bosheit gegen besondere Stände oder Landschaften. Die
Eifersucht zwischen einzelnen Burschen oder ganzen Dörfern tritt im
Wettgesang hervor, beginnt mit neckenden „Trutzliedln" und endigt mit
blutigen Schlägereien. Viele Schnadahüpfeln endlich sind gesungene Sprich-
wörter von gehaltvollster Lebensweisheit.
Manche Gedanken und Wendungen dieser „Gstanzln" sind uralt. Das
Bild vom verlornen Herzensschlüssel, das Wernher von Tegernsee um
1170 niedergeschrieben hat, ist in allen Alpenländern in mannigfachen
Varianten verbreitet2), aber auch der Eingang dieses alten Liedchens:
„Du bist min, ich bin din", der in zahllosen Volksliedern wiederkehrt,
klingt in Schnadahüpfeln an. In einem kärntnischen Vierzeiler lautet der
Schluss: „Gherst ja lei mein, I ja lei dein" und ein siebenbürgisches
1) Meyer, a.a.O. 1, 341, 352ff., 361 f. und die Anmerkungen bei Hruschka und
Toischer S. 515—521.
2) Meyer, a. a. 0. 1, 343ff. Hruschka und Toischer S. 515, 19 a.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
13
Tanzliedchen, das den Eindruck eines versprengten Schnadahüpfels macht,
lautet:
'Ech bän déinj, Ich bin Dein,
Ta bäszt méinj, Du bist mein,
Tu guldijet metchen Du goldnes Mädchen,
Dre dich féinj. Dreh Dich fein1).
1) Pogatschnigg und Herrmann 1, Nr. 640. Schuster, Siebenbürgisch-sächsische Volks-
lieder S. 109. Hier eine zweite Fassung:
cEch bün deinj,
Teâ bäszt méinj,
Und esi sal et
äinjde séinj.
Parallelen zu dieser Formel haben zusammengestellt R. M. Meyer in der Zeitschrift
für deutsches Altertum 29, 133, Bolte ebenda 34, 161 ff. und im Anzeiger 17, 343. Strauch
ebenda, Anzeiger 19, 94 (vgl. auch Anzeiger 6, 151). "Wir ersehen daraus, dass sich diese
Formel vom zwölften bis zum neunzehnten Jahrhundert immer wieder nachweisen lässt,
bei den Minnesängern und in der höfischen Epik, bei Hans Sachs und bei englischen
Komödianten, bei Schiller und Heyse, in der neulateinischen und der niederdeutschen
Litteratur, in allen Arten geistlicher Poesie (für die innige Versenkung in Gott), vor
allem aber in zahlreichen Volksliedern. Diesen Angaben füge ich ausser den oben an-
geführten Versen noch einiges hinzu. Die Ansicht Boites, diese Worte seien eine alte
deutsche Rechtsformel für Verlobungen gewesen, bestätigt der Schluss eines steirischen
Liebesgespräches (Schlossar Nr. 175):
Du bist mein,
Ich bin Dein,
Hochzeit soll sein.
ferner der häufig angewendete volkstümliche Spruch auf gemalten Ostereiern in Iglau
(Wil. Müller a. a. O. S. 404):
Ich bin Dein, Du bist mein,
Alle Tag kann Hochzeit sein.
uöd endlich der Schluss eines hessischen Volksliedes (Mittler, Nr. 832):
Du bist mein und ich bin Dein,
Morgen soll die Hochzeit sein,
diesem Zusammenhang muss auch ein schlesisches Volkslied erwähnt werden (Hoff-
mann und Richter, Nr. 112). Das Mädchen weist zuerst den Werber zurück:
Ich bin nicht Dein, Du bist nicht mein,
Bis Du mir bringst drei Rosen.
Nachdem der Herr ihren Wunsch erfüllt hat, beschliesst sie das Lied mit den Worten:
Jetzt bist Du mein und ich bin Dein,
Beisammen wollen wir bleiben
Bis uns der Tod wird scheiden.
^on Volksliedern sind noch zu nennen: Reifferscheid, Westfälische Volkslieder Nr. 29, und
r. 43. In einem Sommer- und Winterspiel der Deutschen im ungarischen Berglande
(Schröer, Wiener Sitzungsberichte 31, 289) steht der Vers: „Du bist ganz mein und ich
Pm Dein" und mehrere Gottscheer Liebeslieder schliessen mit den Worten:
Ich bin Dein und Du bist mein,
Das kann und mag nicht anders sein.
Einen Exkurs über diese Formel mit vielen neuen Belegen bringe ich in meinem Buch
über Gottschee.
14
Ha uff en :
Auch sonst ertönen im Schnaderhüpfel oft bekannte Wendungen und
Bilder alter Volkslieder, so in Tirol
„Die Sternlen am Himmel
Die gebn a schöns Liecht,
Dass der Bue mit'n Loaterl
Zum Fensterlngehn siecht1).
Hier ist die Beziehung zum Liebespaar deutlicher als in dem bekannten,
schon von Herder aufgezeichneten Yolkslied:
„Es leuchten drei stern am himmel,
die geben der lieb einen schein;
gott griiss dich, schönes jungfräulein,
wo bind ich mein rösslein hin2)?"
Und die poetische Ausdrucksweise für Nimmermehr in dem kärntnischen
Schwatzliedl
„I werd di schon liebn
Wenn die Zaunstecken blühn3)"
erinnert an Tannhäusers Zurückweisung durch Urban:
„Der bapst hat ein steblin in seiner hand
und das was also dürre,
als wenig das steblin gronen mag
kumstu zu gottes hulde4)."
Bei den Siebenbürger Sachsen und den Gottscheern ist dieses Bild zu einer
oft gebrauchten Formel erstarrt.
Aus dem Jahre 1807 sind uns eine Reihe Tiroler „Schnodahaggen"
aufgezeichnet5), die mit den heute gesungenen völlig übereinstimmen. So
schliessen die gewandten Stegreifdichter von heute immer wieder an alte
Einfälle an, aber sie verwenden sie für jüngste Ereignisse: so wurden in
Oberösterreich vom Yolke Schnaderhüpfeln verfasst auf die Grundsteuer-
regulierung, auf den Reichsrat, auf die Landsturmvorlage6). In den meisten
Dörfern sind einzelne Burschen und Mädchen berühmt wegen ihrer Fertig-
keit, rasch und gut zu setzen.
Die Schnaderhüpfeln bestehen gewöhnlich aus vier kurzen, mit zwei
Hebungen versehenen Zeilen. Senkungen fehlen oft ganz. Meist reimt
nur die zweite und vierte Zeile, seltener folgen einander zwei Reimpaare.
Auch die klingenden Reime werden wie stumpfe gesungen, mit dem Ton
auf der letzten Silbe. Häufig haben die ersten drei Zeilen das gleiche
1) v. Hörmann 203, Greinz und Kapferer, Schnadahüpfel 2, 73.
2) Uhland Nr. 76 D u. a.
3) Pogatschnigg und Hermann l2, 95; v. Hörmann 69.
4) Uhland, 297 A — C; vgl. Erich Schmidt in Nord und Süd 1893 S. 183 und
unten S. 19.
5) Von Strotz im „Sammler für Geschichte und Statistik von Tirol" 2, 57—96.
6) Österreich-Ungarn, Oberösterreich 184 f.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
15
Eingangswort, während die vierte, welche die überraschende Pointe bringt,
davon abweicht; z. B.
«
Geit, du Schwarzaugeti, oder Zu dir bin i's gangen,
Gelt, für di tauget i Zu dir hat's mi gfreut,
Gelt, für di war i recht, — Zu dir geh i's nimmer —
Wenn i di möcht Der Weg ist mer z'weit1).
Das giebt den Schnaderhüpfeln einen ausgesprochen epigrammatischen
Charakter. Die deutschen Priameln des 14. und 15. Jahrhunderts kommen
ihnen in diesem Punkte sehr nahe. Auch alle vier Zeilen haben zuweilen
den gleichen Anfang2).
Ein grosser Teil der Schnaderhüpfeln hat einen sogenannten Natur-
eingang. Dass dieses Bild oder der Vorgang aus der Natur mit dem im
zweiten Teil berichteten Ereignis aus dem menschlichen Leben ursprüng-
lich im engsten Zusammenhang stand, dass aber dann in spätem Liedchen
das beliebt gewordene Naturbild mit ganz ungleichartigen Ereignissen in
eine unpassende Verbindung gebracht wurde, hat Meyer an zwei Beispielen,
die man leicht vermehren könnte, überzeugend nachgewiesen3). Manche
Eingänge geben einen ganz genauen Vergleich:
Wie kloaner die Ros'n,
Wie grösser der Dorn,
Wie kloaner das Dirndl,
Wie grösser der Zorn4);
manche deuten nur im allgemeinen die Stimmung der Liebenden an:
Aufn Tauern thuets schauern,
Dass's blau niedergeht,
's Diandle thuet trauern,
Weil der Bua von ihm geht5),
andere geben nur die Jahreszeit des Ereignisses an:
D'Hasselnussen sein zeitig,
Es klappern die Kern,
Und 's Diandl sagt no nit Ja,
Mögt narrisch grod wem0).
Mehrere dieser Vierzeiler werden auch häufig zu längeren Liedern
zusammengestellt. Vielfach bilden sie von Haus aus Frage und Antwort,
Trumpf und Gegentrumpf, oder Fortsetzungen des gleichen Zustandes.
1) Hörmann 33, 150; ähnlich 11, 86, 189, 254 u. a.
2) Ebenda 9, 11 u. a.
3) Meyer 1, 356 f., 402 f.
4) Hörrnann 71, ähnlich 174 Nr. 48.
5) Hörmann 170.
6) Ebenda 81, ähnlich 60 u. a.
16
Hauffen :
Yon einzelnen Kärntner oder Tiroler Liebesliedern führt jede Strophe
auch ein Sonderleben1).
Ein vierzeiliges Gesätz mit Natureingang ist eine Form, die überall,
wo es Yolkspoesie giebt, angewendet wird, nicht nur bei allen arischen,
auch bei fernen. überseeischen Volksstämmen2). Am nächsten verwandt
im Inhalt sind den Schnaderhüpfeln die Vierzeiler der nichtdeutschen
Alpenbewohner, so die Villotte der Italiener und Furlaner am Südabhang
der Alpen3) und die Vize (Weisen) der Slowenen in Kärnten und Ober-
krain4). Eines aber zeichnet das Schnaderhüpfel vor allen übrigen Vier-
zeilern aus, die jauchzende Stimmung, die urwüchsige Kraft, die es selbst
in der Regel erfüllt und das ganze Gstanzel in einen weithin schallenden
Jubelruf verwandelt. Häufig ist in den Vierzeilern vom Juchezer die
Rede5). Der Juchezer, der denkbar frischeste Ausbruch der Lebenslust,
ist ein Anruf, ein gesungener Schrei, der in den Bergen durch den viel-
fältigen Wiederhall zu herrlicher Geltung kommt. Wie der Juchezer, so
gehört der Jodler zu dein den Alpen eigenartigen Volksgesang. Er wird,
ohne eigentlichen Text, selbständig oder als Kehrreim der meisten Alm-
lieder ein- und mehrstimmig gesungen. Der Jodler ist eine freie, charakte-
ristische Melodie von weitem Umfang, voll grosser Sprünge, die nur mit
Hilfe der Kopfstimme gesungen werden kann. Auch in den Juchezern
und Jodlern herrscht musikalisch und rhythmisch der reichste Wechsel,
und der fleissige Sammler Pommer hat deren in dem ganzen Alpengebiet
über dreihundert verschiedenartige gehört und aufgezeichnet6). Auch die
1) Vgl. Greinz, Tiroler Volkslieder 2, 57 f. und Hörmann 28, 43, 208 u. a.; Greinz
2, 61 ff. und Hönnann 54, Pogatschnigg l2 31 — 85. — Peter, Österreichisch-Schlesien 1
313, vgl. Pogatschnigg l2 376. — Pogatschnigg l2 S. 39. Die meisten mehrstrophigen
Lieder bei Neckheim und Spaun sind aus Vierzeilern zusammengesetzt, die bei Pogatschnigg
und Herrmann getrennt zu finden sind. Ich greife nur ein aus einem anderen Grunde
interessantes Beispiel heraus. An das bekannte Kärntnerlied „Verlassen bin i", das auch
in anderen Fassungen verbreitet ist (Neckheim Nr. 78) wird (ebenda 211) als drittes
Gesätz der folgende in ganz Kärnten noch selbständig verbreitete (Pogatschnigg 1 Nr. 217)
Vierzeiler angefügt, der die grösste Ähnlichkeit mit einem Heineschen Liede hat:
Ich bin mit Pogatschnigg und Herrmann (1, S. XVIII) der Ansicht, dass die Kärntner
diese schlichte Form eines naheliegenden Gedankens nicht Heine entlehnt haben. Eher
hat Heine hier, wie auch sonst, ein ihm bekanntes volkstümliches Motiv verwertet.
2) Meyer, 1, 377 ff.; 2, 150 f. Den Ausführungen von Meyer wären noch hinzu-
zufügen die KeigenVierzeiler der Kroaten, podskocnice; vgl. Krauss, Sitte und Brauch bei
den Südslawen, 1885, S. 458.
3) Österreich-Ungarn, Küstenland 189 f. Zeitschr. d. Vereins f. Volksk. 3, 329. 411.
4) Grün, Volkslieder aus Krain XV f. u. 141 —148.
5) Hörmann 199, 200 f., 246 f., 249, 252, 261 u. a.
6) Pommer, Jodler und Juchezer. Wien. o. J. Zweite Folge. Wien 1893.
I hâb allweil ginant,
I datragets gar nia
Und hiaz hâb i's datragen,
Abr iragts mi nit wia.
Heine :
Anfangs wollt ich fast verzagen
Und ich glaubt ich trüg es nie,
Und ich hab es doch ertragen,
Aber fragt mich nur nicht: wie?
Das deutsche Volkslied in Österreich - Ungarn.
17
Almlieder und Schnaderhüpfeln werden natürlich immer gesungen, ein-
stimmig oder mehrstimmig, und sind von der Melodie gar nicht zu trennen.
Der Alpensänger wäre nicht imstande, die Worte eines Liedes vorzutragen,
ohne sie zu singeil. Häufig ist die Begleitung der Zither, die das eigent-
liche Instrument der Alpen darstellt.
Bauernlieder, wie sie sonst in Deutschland gesungen werden, die die
Freuden und Leiden des Bauernstandes schildern, den Gegensatz gegen
die Städter betonen u. s. w,, sind auch in den Alpenländern bekannt1).
Schliesslich sei erwähnt, dass auch einzelne Lieder von Kunst-, besonders
Dialektdichtern, wie Alexander Baumann, Kiesheim, Castelli u. a. in den
Alpenländern völlig zu Volksliedern geworden sind2).
Ein weit abgeschlosseneres Gebiet, als die Alpenländer, stellen die
deutschen Sprachinseln dar. Ihrem Leben hat zwar nicht eine eigen-
artige landschaftliche Umgebung einen besonderen Stempel aufgedrückt,
doch die jahrhundertelange Abgeschlossenheit hat ihre Bewohner in den
Bräuchen und der Poesie auf der Grundlage, die sie einst aus der deutschen
Heimat mitgebracht haben, zu einer ganz eigentümlichen Entwickelung
geführt. Die grösste, sowie durch geistige Ausbildung und historische
Beziehungen bedeutsamste Sprachinsel ist die der 200 000 Deutschen in
Siebenbürgen, der sogenannten Sachsen3). In der Mitte des 1'2. Jahr-
hunderts kamen sie vom Niederrhein, von dem ungarischen König Geisa II.
gerufen, um unwirtliche Landstriche zu bebauen. Später durch Zuzüge
aus anderen deutschen Gegenden verstärkt, haben sie in ihren drei grossen
Kolonieen, dem Sachsen-, Nösner- und Burzenlande, verschiedene Mund-
arten ausgebildet, die in wesentlichen Zügen gleich, dem Mittelfränkischen
am nächsten stehen. Seit der Reformation, der sie sich früh angeschlossen
haben, waren die Siebenbürger Sachsen in steter Verbindung mit dem
geistigen Leben ihrer norddeutschen Religionsgenossen. An poetischen
^ Olksüberlieferungen sind sie überaus reich: an Kinderliedern und Sprüchen,
an Rätseln und vielgestaltem Aberglauben, an historischen Sagen und
Märchen; reicher als das Mutterland an alten Zaubersegen und Tiersagen4).
Gross ist die Zahl der siebenbürgischen Volkslieder. Ihr Sammler,
Friedrich Wilhelm Schuster5), hat, entsprechend den wiederholten stärkeren
Verbindungen mit Deutschland, mehrere Altersschichten der Einwanderung
dieser Volkslieder angenommen. Stücke mit heidnisch-mythischer Färbung,
einzelne Kinderliedchen, die innigsten Verkehr mit der Natur aufweisen,
1) Pogatschnigg und Herrmann 2, Nr. 540 — 546. Greinz und Kapferer 2, 77, 105,
115 u. a. Süss S 47-63. Schlossar Nr. 209 ff. u a.
2) vgl. Neckheim 1, Einleitung S.YIII. Pogatschnigg u. Herrmann 1, S. XVIII u. a.
3) "V\ attenbach, Die Siebenbürger Sachsen 2, München 1882.
4) Haltrich, Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen, Wien 1885. Derselbe,
eutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande 4, Wien 1885. Müller, Siebenbürgische
agen 2, Wien 1885. Vgl. Pauls Grundriss der germanischen Philologie 2, 1, S. 791 f.
5) Siebenbürgisch- sächsische Volkslieder, Hermanstadt 1865.
Zeitschr. d. Vereins f Volkskunde. 1894. ■ 2
18
Häuften:
sind jedenfalls schon von den ersten Einwanderern mitgebracht worden.
In der Zeit des neu aufblühenden Yolksgesanges in Deutschland im 15.
und 16. Jahrhundert kamen die schönsten Balladen durch Handwerker,
Kaufleute oder Söldner nach Siebenbürgen. Dies wiederholte sich in
späteren Jahrhunderten. Alle diese Lieder wurden im Lande so völlig in
die Mundart übersetzt, dass sie Fernerstehenden fast unverständlich sind.
Erst in allerjüngster Zeit wurden einzelne hochdeutsche Volkslieder von
den Sachsen unverändert aufgenommen. Mehreres entstand in Siebenbürgen
selbst. Anspielungen auf Ereignisse und Zustände des Landes erweisen
dies1). Historische Lieder und Balladen wurden hier nicht geschaffen,
weil die jahrhundertelange Leidensgeschichte der von übermächtigen Nach-
barn bedrängten Kolonisten grosser, Heldensang weckender Thaten ent-
behrt. Doch die furchtbaren Einfälle der Tartaren und später der Türken,
die so viele Menschenleben in der Blüte verderbten, so viele Landeskinder
in Sklavenketten legten, haben schöne poetische Früchte gezeitigt: die
ergreifenden Lieder des Abschieds und der Sehnsucht, die zahlreichen,
herzzerreissenden Waisenlieder, eine Besonderheit des siebenbiirgischen
Yolksgesanges2). Ausdrücklich mit Namen genannt werden Tartar und
Türke nur als Schreckgespenst in den Kinderliedern, wie der Schwede in
Deutschland3). Im Lande entstanden auch jedenfalls die zahlreichen Lieder
zu kirchlichen und Familienfesttagen. Hochzeitslieder fehlen nirgends, wo
sich sinnige alte Bräuche noch erhalten haben, doch nirgends sind sie so
vielgestaltig, von so zarter Poesie, so voll Erinnerungen an alten Mythus
und voll volkstümlicher Wendungen, wie in Siebenbürgen. Jeder Teil des
Hochzeitsfestes wird hier durch Reihen- oder Einzelgesänge gefeiert. Am
Polterabend nehmen die Freundinnen von der Braut mit einem sogenannten
„Rockenliede" Abschied und überreichen ihr hierbei einen geschmückten
Rocken. Am Hochzeitsmorgen singen die Mädchen, die für das Fest Vor-
bereitungen treffen, bestimmte Lieder zur Arbeit. Während zur Kirche
geläutet wird, fordern die Gäste die Braut singend auf, von Eltern, Ge-
schwistern und Freunden Abschied zu nehmen u. s. w.4). Eigenartig sind
auch die Totenklagen, die von eigens bestellten Klageweibern beim Be-
gräbnis halb singend recitiert werden. Alte typische Wendungen werden
mit den besonderen Verhältnissen des Verstorbenen zu überraschender
Wirkung verbunden5). Poetische Totenklagen sind immer alten einfachen
Kulturzuständen eigen. Sie fehlten in althochdeutscher Zeit nicht. Heute
sind sie in Europa noch, ausser bei den Siebenbürger Sachsen, bei den
1) Schuster S. 60 Nr. 66.
2) Ebenda S. 35 f. und 42 f.
3) Haltrich a. a. 0. S. 236-243.
4) Schuster 69 - 90.
5) Ebenda 458 ff.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
19
Deutschen im ungarischen Berg'land1), bei den Gottscheern, den Korsen2)
und den Finnen3) im Gebrauch. Auch einen dramatischen Totentanz haben
die Siebenbürger, worin der Tod einen sich vergeblich sträubenden König-
in seinen Reigen aufnimmt4).
Neben diesem Sondergute finden wir bei den Siebenbürger Sachsen
auch eine Reihe allgemein deutscher Balladen. So die Lieder von der
Nachtigall und dem Kuckuck als Liebesboten, von Liebchens Grab, vom
Brudermörder, von der Schnur und der Schwieger, von der Spinnerin und
andere5). Lieder, die später ins Land kamen, wurden nur leicht um-
geändert, andere, die vor Alters einwanderten, nahmen die Eigentümlich-
keiten der übrigen siebenbürgischen Lieder an. Zu diesen gehören: die
einfache Strophenform, zwei viermal gehobene durch Assonanz oder Reim
verbundene Zeilen und einzelne immer wiederkehrende typische Formeln.
In Sprachinseln, wo seltener fremdes Gut eindringt, geschieht es leicht,
dass Wendungen und ganze Zeilen eines beliebten Liedes in alle übrigen
übergehen6). Bei der grossen Zahl der siebenbürgischen Abschiedslieder
(auch die Hochzeitslieder gehören ja zum Teil hierher) haben die Formeln
für das Scheiden die grösste Verwendung. So die auch in deutschen Liedern
bekannten Klagen:
Ach scheiden, ach scheiden, wî huot dej erduocht,
Dät ta meinj härz än tröuren huosst bruocht.
Ach scheiden, wer hat Dich erdacht,
Dass Du mein Herz in Trauren hast gebracht7).
und: „Wann werde ich wiederkommen" oder; „Wann wird mein Trauern
ein Ende haben, bis der Birnbaum Rosen trägt, bis die Raben weisse
Federn tragen, also nimmer"8). Natürlich werden auch die Ereignisse
deutscher Lieder in siebenbürgische Orte verlegt. Die Nachtigall singt
»ze Krunen", das ist in Kronstadt9) und der Raubmörder reitet in kürzester
Frist vom Rhein nach „Torembrich", dem Wojwodenscliloss Thornburg10).
Geringer an Zahl und auf tieferer Stufe sind die Deutschen im
ungarischen Bergland. Sie sprechen einen mitteldeutschen Dialekt.
1) vgl. unten S. 20 Anm. 1.
2) Gregorovius, Corsica, 2, 34—88.
3) Meyer, Essays und Studien 1, 160.
4) Aus Siebenbürgens Yorzeit und Gegenwart, Hermannstadt 1857 S. 74—80.
5) Alle bei Schuster, vgl. Siinrock Nr. 86, 122, 157. Uhland Nr. 74 A—D, 276.
Simrock 266.
6) Vgl. unten S. 21.
7) Schuster 25 ff. 29, 544 u. a. vgl. üliland 86 f.
8) Schuster, 23, 25ff. 30, 76f. 544 u.a. Vgl. Mittler, Nr. 1008. „Wenn auf der
Weide Kirsche wächst", ähnlich 352 u. a. Hruschka und Toischer S. 91: „Bis der Birn-
baum wird Äpfel tragen, dann soll mein Trauern ein Ende haben" u. a. vgl. Uhland,
riften 3, 215. Einen Exkurs darüber bringe ich in meinem Buch über Gottschee.
9) Schuster, 6f.
10) ebenda 58.
2*
20
Hauffen :
Auch ihre Heimat war wahrscheinlich der deutsche Niederrhein. Sie sind,
von Slowaken rings umgeben, sich kaum ihrer Zugehörigkeit zum deutschen
Volke bewusst. Doch ihre ansehnliche poetische Yolksüberlieferung ist
rein deutsch. Sie haben Sprüche, Kinderlieder, Hochzeitslieder, Spott-
reime, Sagen und Märchen, vom allgemein deutschen Liedergut einige
Martinslieder, das Gespräch zwischen dem Mädchen und der Haselstaude
in mehreren Fassungen, „Es waren drei Gesellen"1) und andere.
Den grössten und bedeutendsten Liederschatz unter den Sprachinseln
hat das Herzogthum Gottschee im südlichen Krain2). Yon Slowenen und
Kroaten umgeben, wohnen hier auf etwa 15 Geviertmeilen über "25 000
Deutsche. Ihre Vorfahren sind um die Mitte des 14. Jahrhunderts in das bis
dahin unbewohnte waldreiche gebirgige Karstgebiet eingewandert. Wahr-
scheinlich aus Kärnten, doch auch aus anderen Gegenden, denn ihre Mund-
art zeigt bei entschieden bairischer, zumeist kärntnischer Grundlage einzelne
alemannische Eigentümlichkeiten. Da die Gottscheer Männer des schlechten
Ackerbodens wegen seit 1492 den Hausierhandel betreiben, so brach die
Beziehung zu deutschen Ländern nie ab, von da wanderten Sagen, Märchen,
Rätsel, Balladen in die Gottschee, wo sie sich in der Stille länger und
reiner erhielten als im Stammlande. Der Gottscheer Liederschatz ist
wiederholt von deutschen Gelehrten beachtet worden, schon wegen der
zwei litterarisch wertvollsten Balladen, die zur Lenoren- und zur Kudrun-
sage in enger Beziehung stehen. Die erstere erzählt die grauenhafte Sage
vom Totenritt in sprunghafter, ergreifender Weise, von Bürgers Lenore
in mehreren echt volkstümlichen Zügen abweichend3). Das Lied von
der schönen Merarin (Meeranwohnerin), das mir in sieben verschiedenen
Fassungen vorliegt, erzählt die Begebenheiten, die an die Erkennungsscene
zwischen der am Meeresstrand waschenden Kudrun und den im Kahne
heranfahrenden Helden Herwig und Ortwin (in der 25. Aventiure) deutlich
erinnern. Freilich erweisen diese Lieder deshalb nicht ein Fortleben der alten
Yolkssage, sondern nur eine Nachwirkung des mittelhochdeutschen Kudrun-
liedes, das den auswandernden Yorfahren der Gottscheer leicht bekannt sein
konnte4). Einzelne Fassungen dieses Gottscheer Liedes sind mit fremden
Fäden aus der slowenischen Ballade von der schönen A7ida umwoben.
Yon den bekanntesten deutschen Volksliedern werden die meisten
auch in Gottschee mit bemerkenswerten abweichenden Zügen, viele in
1) Schröer in den Wiener Sitzungsberichten 25, 213—272. 27, 176—218. 31, 245—292
und 44, 253—436.
2) Ygl. Schröer in den Wiener Sitzungsberichten 60, 165—288 und 65, 391—510.
Ich berichte hier ganz kurz auch über die mir handschriftlich vorliegenden Gottscheer-
lieder, die ich demnächst veröffentlichen werde.
3) Schröer a. a. O. S. 235. Erich Schmidt, Charakteristiken, S. 225f.
4) Schröer in der Germania 14, S. 327 ff. und Symons, Kudrun S. 29. Inzwischen
gelang es mir, die Melodieen zu dem Lenoren- und zu dem Kudrunliede in den Gottscheer
Pfarrdörfern Obermösel und Eieg aufzuzeichnen.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
21
verschiedenen Versionen neben einander gesungen. So die Ballade vom
Brautmörder, vom Abschied und Wiedersehen unter der Linde, vom
Müller, der seine gesegnete Gattin Räubern verkauft, vom edlen Moringer,
vom ausgesetzten Kind, von der "Wirtin Töchterlein u. a.Überaus reich
ist Gottschee an Legenden, Liedern von Maria, die ihren besonderen Ver-
ehrern ausserordentliche Hilfe spendet, Legenden von der heiligen Regina,
Katharina, Barbara, von Stephan, Martin, Georg, Alexius, Ambrosius,
Leonhard und rührend innigen geistlichen Liedern. Zu den Hochzeits-
gebräuchen und zum Sonnwendfeste giebt es besondere Lieder. Auch
Scherz- und Spottlieder, Kettensprüche und Kinderreime fehlen nicht.
Ariele von diesen Volksdichtungen sind nur in Gottschee nachweislich.
Die unangenehme Nachbarschaft der Türken, die in Krain wiederholt ver-
heerend einfielen, kommt in mehreren Liedern zur Geltung. Endlich sind
über zwanzig Gottscheer Balladen Übertragungen aus dem Slowenischen.
Die charakteristischen Lieder der Alpenwelt, Schnadahüpfeln, Alm- und
Schützenlieder fehlen hier vollständig.
Wie bei den Siebenbürger Sachsen, so können wir auch bei den
Gottscheern mehrere Altersschichten in der Einwanderung der Lieder
unterscheiden. Ganz alte Lieder, die wahrscheinlich schon bei der ersten
Besiedelung mitgebracht wurden, jüngere, die mit den in Deutschland ge-
sungenen völlig übereinstimmen und nur in die Mundart übersetzt wurden,
und endlich aus der allerletzten Zeit halb oder ganz hochdeutsche Lieder.
Die eigentlichen alten Gottscheer Balladen und Legenden weichen von
den deutschen Volksliedern ganz bedeutend ab und sind untereinander
ganz gleichartig in Form, Aufbau und Stil förmlich nach einer Schablone
gemacht. Das ist eine Folge der Abgeschiedenheit. Noch mehr als in
Siebenbürgen sind hier einzelne auch in deutschen Volksliedern gebrauchte
poetische Redewendungen zu einer immer wiederkehrenden gedankenlos
auch an unpassender Stelle verwendeten Formel erstarrt. So besonders
der Eingang. Einzelne deutsche Lieder beginnen mit dem Vers: „Es
wollt ein Mädchen früh aufstehn"2), der hier ganz am Platze ist. Drei
Viertel der Gottscheer Lieder nun, darunter alle alten, beginnen mit den
Worten :
Wie früh ist auf (der junge Bursch, oder das schöne Mädchen u. s. w.)
Er (sie) steht des Morgens gar früh auf.
Ists ein junger Mann, so wird dann gewöhnlich weiter erzählt, dass er
sich von seiner Mutter ein Frühstück kochen, von den Knechten die
Î ferde satteln lässt. Ists ein Mädchen, so spricht sie ihr Morgengebet,
kleidet sich schön an und geht dann ins Freie. Daneben giebt es auch
1) Teils bei Schröer, teils noch ungedruckt, vgl. Uhland Nr. 74, 116. Simrock 36.
Ehland 298. Mittler Nr. 487 ff. und 116 ff.
2) Mittler, Nr. 47—53, 268 f., 683 u. a.
'22
Häuften:
einige andere alten Eingänge. „Es waren" und „Dort stellt eine grüne
Linde." Andere typische Wendungen sind: „Er zieht (reitet) dahin auf
dem breiten Wege", „Er hat das Wort kaum ausgeredet, da" u. s. w. und
der Schluss der meisten Liebeslieder:
Du bist mein und ich bin Dein,
Es kann und mag nicht anders sein ').
Typisch gebraucht werden ferner Turteltauben, Rosmarinsträusschen, der
Rosengarten, die Frist von sieben Jahren u. a., bestimmte Formen der
Wiederholung und Negation und die Beiwörter. Das Mädchen ist immer
schön, der Wald finster, der Friedhof grün, das Kirchlein, die Stadt, die
Leiche, die Hand weiss, der Weizen rot, der Hut hoch u. s. w. Benach-
barte Orte, Reifnitz, Karlsstadt, Laibach, der Oguliner Boden (in Kroatien)
werden oft erwähnt. Die Darstellung ist überaus einfach, verständlich,
zuweilen nüchtern. Es fehlt jede weitere Ausmalung der Einzelheiten.
Es fehlen Bilder und schmückendes Beiwerk. Manche Lieder machen
den Eindruck knapper Inhaltsangaben. Sie sind von ernstem, zuweilen
düsterm Tone. Aus den meisten spricht eine strenge Auffassung der
Treue und guter Sitte, wahre Frömmigkeit und edle Gesinnung. Die
metrische Form der alten Lieder erinnert auch an Siebenbürgen. Es sind
immer zwei viermal gehobene Zeilen. Die Senkungen können fehlen oder
zweisilbig sein, auch im Auftakt. Die letzte Silbe trägt immer die Hebung,
selbst bei scheinbar klingendem Ausgang.
Wie Schuster2) aus einzelnen siebenbiirgischen, so gewinne ich aus
vielen Gottscheer Liedern den entschiedenen Eindruck, dass sie uns eine
ältere Form darstellen als die entsprechenden Volkslieder gleichen Inhalts
in Deutschland, die ja unter dem Einfluss der Kunstdichtung raschen Ver-
änderungen ausgesetzt waren. Danach nrüssten mehrere bekannte Volks-
lieder, die wir urkundlich erst für das fünfzehnte Jahrhundert nachweisen
können, schon vor der Auswanderung der Siebenbürger und Gottscheer
gesungen worden sein.
Zu den jedem Lande besonders zukommenden Gruppen gehören auch
die historischen Lieder, die ja die geschichtlichen Ereignisse der be-
treifenden Landschaften begleiten. Die historischen Volkslieder des öster-
reichischen Heeres von 1639—1849 hat Freiherr von Ditfurth3) gesammelt,
die älteren sind in das grosse Werk von Liliencrons aufgenommen4),
1) vgl. oben S. 13.
2) Schuster a. a O. 545. Nähere Nachweise für das oben Mitgeteilte bringe ich in
meinem Buch über Gottschee.
3) Wien 1874.
4) R. von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. —16. Jahr-
hundert, gesammelt und erläutert. 4 Bände mit Nachtrag. Leipzig 1865—1869. Hier sind
österreichisch die Nummern 74. 81. 129 f. 250. 291. 306—311. 421 f. 498 f. 522. 532. 535.
537. 539 f. 573—577 und die Türkenlieder vgl. unten S. 23 Anm. 2.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
23
Neueres bringen die Sammlungen der einzelnen Kronländer, besonders die
steiermärkische1). Yieles ist verstreut gedruckt oder ruht noch in Flug-
blättern ungenutzt in den Archiven. Die volkstümlichen historischen Lieder
schliessen sich in Österreich, wie anderwärts, in Melodie, Metrum und Stil
häufig an bekannte Volkslieder an. Sie haben Natureingänge „Der Mond
verliert den hellen Schein, Ist ganz von Blut gerötet". Oder es eröffnet
der Abschied des Soldaten vom Liebchen ein Kriegslied. Im Ton erinnern
viele historische Gesänge an die nicht historischen Soldatenlieder, sie preisen
den stolzen Beruf des Kriegers, besonders dem Bauern gegenüber, sie
fordern zu todesmutiger Tapferkeit auf und zu bedingungsloser Fahnen-
treue. Andere schliessen an bekannte Fabellieder an und lassen die
Wappentiere statt der Parteien auftreten. Der kaiserliche Adler rupft den
französischen Hahn und ähnliches. Den meisten Schlachtenschilderungen
sind eine Reihe von Zügen gemeinsam. Im Eingang eine kurze Angabe
des Grundes, warum der Kampf geschieht. Nun sprengt der Feldherr
heran, ermahnt die Soldaten zur Ausdauer und giebt kurz den Kriegsplan.
Dann geht es los. Ein kühner Reiterangriff, das Donnern der Geschütze,
das Dreinhauen der Musketiere. Blut und Getümmel. Immer die Ver-
sicherung, dass es eine Schlacht ohnegleichen war. Nach gewonnenem
Sieg ertönt das Lob des Feldherrn, Freude über die gute Sache und ein
Te deum laudamus. Einzelne historische Lieder sind sehr ledern, poesielos
und unendlich lang. Fremde Ausdrücke sind namentlich seit dem dreissig-
Jährigen Kriege stark eingedrungen, wie avisieren, viktorisieren, Curaschi,
florieren u. s> w.
Im Mittelpunkt des historischen Gesanges in Österreich, vom Anfang
des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, stehen die Türkenlieder. Die
ersten Greuel dieses neuen Feindes in Ungarn, die Belagerung Wiens, 1529
und 1683, wurden in zahlreichen Liedern geschildert2). Durch die Türken-
gefahr kommt in die Lieder ein grosser Zug der Begeisterung für das
ganze Reich, für das Herrscherhaus, für Deutschtum und Christentum. Aus
Böhmen sind uns für das 16. Jahrhundert zahlreiche Türkenlieder nach-
gewiesen3) und die Steirer sangen ein Siegeslied auf die Schlacht von
Stuhlweissenburg, 1593 4). Der volkstümlichste österreichische Feldherr
gegen die Türken ist Prinz Eugen, er ist auch der meist besungene
Held. Diifurth bringt an zwanzig Lieder auf die verschiedenen Siege des
savoyischen Prinzen. Er wirkt bis heute im historischen Volksgesange
Österreichs lebendig nach. Es hat sich nicht allein das berühmte Prinz
1) Schlossar Nr. 253—296.
2) Liliencron Nr. 412-419. 443. 466 f. 473-475. Ditfurth Nr. 1.
3) Wolkan, Böhmens Anteil an der deutschen Litteratur des 16. Jahrhunderts, Prag
J890, Nr. 227, 235, 242, 272, 274, 302, 325, 331, 350-354, 362, 364-367, 371—373, 3S2,
392, 395 f.
4) Schlossar Nr. 253.
24
Hauffen :
Eugenlied im Heere mit nngeschWächter Beliebtheit erhalten, dieses, wie
andere zuerst für ihn bestimmte Lieder wurden in der Folgezeit immer
wieder nachgeahmt, für andere Helden und Siege, bewusst oder unbewusst,
in der Melodie und im Aufbau des Textes, bis zu wörtlichen Uberein-
stimmungen nachgebildet.
Prinz Eu genius, der edle Ritter,
Wollt' dem Kaiser wiedrum kriegen
Stadt und Festung Beigerad
so beginnt dieses auf zahlreichen Flugblättern in verschiedenen Fassungen
verbreitete Kriegslied, das 1717, der Sage nach ein brandenburgischer
Soldat im Heer Eugens schuf. In raschem, wirksam andeutendem Bericht
werden die Ereignisse vorgeführt: Das Vorrücken der Armee, Prinz Eugen
giebt seine Befehle und ficht dann selbst wie ein Löwe. Prinz Ludwig
von Baden ermahnt seine Leute: „Halt euch brav, ihr deutschen Brüder".
I3ie begeisterten Truppen verwirklichen nun durch Tapferkeit und Aus-
dauer den genialen Plan des Führers, bis alle Türken fliehen. Und dann
der rein menschlich ergreifende Schluss. Prinz Ludwig verliert sein junges
Leben und trübt dem Freunde den Jubel des Sieges. Getragen von einer
hinreissenden Melodie, gehoben durch die historische Bedeutung des Er-
eignisses, musste dieses Lied rasche Verbreitung finden und das bekannteste
historische Volkslied überhaupt werden1). Nach der gleichen Melodie und
auch im Text beeinflusst, wurden unter anderm gedichtet ein Lied auf
die Schlacht von Aspern 1809:
Prinz Carolus, der edle Ritter,
Hat dem Kaiser g'wonnen wieder
Eine grosse Siegesschlacht
und auf den Feldmarschall Radetzky 1849:
Graf Radetzky — Edler Degen
Schwurs des Kaisers Feind zu fegen
Aus der falschen Lombardei.
Auch das drollige Lied, das ein Füsilier beim Ausbruch des Krieges
1870 nach der Prinz Eugen-Melodie verfasste, zeigt sich von dem Wort-
laut des Vorbildes abhängig2).
1) Druck bei Diffurth Nr. 15a f. — von Soltau, Ein Hundert deutsche historische
Volkslieder S. 527—5?0. Vgl. Hoffmann von Fallersleben, Unsere volkstümlichen Lieder,
S. 113 und 191. Vgl. auch Freiligraths schöne Ballade: Prinz Eugen, der edle Ritter. —
Die beiden Nachbildungen bei Ditfurth Nr. 51 und GO.
2) „Als Napoleon dies vernommen
Liess er gleich die Stiefeln kommen"
nach „Als Prinz Eugenius dies vernommen,
liess er gleich zusammen kommen etc."
Die gleiche Strophe findet sich übrigens schon in einem Lied auf das Jahr 1683:
3SP
Das deutsche "Volkslied in Österreich-Ungarn. 25
Die gleiche Nachwirkung fand das Lied „Prinz Eugen vor Lille" aus
dem Jahre 1708. Es ist ein Zwiegespräch zwischen Eugen und der von
ihm belagerten Stadt, die als umworbene spröde Dame gedacht wird.
Der Belagerer beginnt:
Lilge, du allerschönste Stadt,
Die du bist so fein und glatt,
Schaue meine Liebesflammen,
Ich liebe dich vor allen Damen.
Die Dame fragt nach seinem Begehren. Er giebt sich zu erkennen und
beginnt sie zu bestürmen. Sie weist ihn vorerst mit Hohn zurück, ist
aber schliesslich genötigt, sich ihm zu ergeben. Das Lied wurde schon
wenige Jahre später nachgeahmt für die Belagerung Belgrads durch Eugen
1717. Eugen beginnt hier ebenfalls:
Beigerad, du schöne Stadt,
Die du bist so rein und zart,
Schau, wie ich vor Liebesflammen,
Dich lieb, dich vor andern Damen.
Und so folgen noch die weiteren Strophen mit Ausnahme der nötigsten
Änderungen wörtlich der Yorlage. Dasselbe Lied wird nachgeahmt für
Laudon vor Belgrad 1789, Prinz Koburg vor Landreciers 1794 und Erz-
herzog Johann vor Hüningen 18141).
Nach Prinz Eugens Verscheiden, 1736, wurde auch ein Gesprächslied,
im Anschluss an das alte bekannte Motiv vom Totentanz, verfasst. Der
Tod holt den Prinzen ab, und dieser, jeden Widerstand als vergeblich
einsehend, nimmt vom Kaiser und den Kriegsleuten Abschied und folgt
dem Sensenmann2). Ähnliche Gesprächslieder wurden auch auf den Tod
Kaiser Karls YI. und der Kaiserin Maria Theresia gedichtet3).
Der siebenjährige Krieg4), hervorragende Erscheinungen, wie Maria
Theresia und Josef IL, ferner die Franzosenzeit (besonders in Tirol die
Als Chursachsen dies vernommen,
Dass der Türk vor Wien gekommen
Ruft er seine Völker bald.
Diese Strophe mag der Sänger des Prinz Eugenliedes schon nachgebildet haben; vgl. Erk,
Deutscher Liederhort S. 386. Neue Bearbeitung von Frz. Böhme (1893) II. S. 134.
1) Ditfurth Nr. 8, 16, 33, 39, 59.
2) Ditfurth Nr. 18.
3) Schlossar Nr. 255 und 259. Beide haben grosse Ähnlichkeit mit dem oben S. 19
erwähnten siebenbürgischen Königslied. Es ist ein weit verbreitetes volkstümliches Motiv,
^gl. Schlossar Nr. 12, Der Jüngling und der Tod. Rosegger und Heuberger, Volkslieder
aus Steiermark Nr. 2Í „Yom sterbenden Jungfräulein". Ein ähnliches Motiv hat Claudius
verwertet für sein von Schubert komponiertes Gedicht: „Der Tod und das Mädchen".
A erwandt sind: „Der Tod und der Ortsvorsteher" in Gottschee, slowenisch: „Der Müller und
(ler Tod", „Der Tod und der Jüngling", Koritko, Slovenske pesmi 4, 53 u. 105; 5, 68, end-
lich tschechisch: „Der Tod und der Landmann" bei Waldau, Böhmische Granaten 2, Nr. 268.
4) Richter, Österreichische Volksschriften und Volkslieder im siebenjährigen Kriege,
Wien 1869.
26 Hauffen :
Thaten Hofers und Speckbachers) und die revolutionären Bewegungen von
1848 haben viele Lieder gezeitigt. Sehr verbreitet sind historische Spott-
lieder, besonders auf Napoleon nach dem russischen Feldzug1). Das
überaus volkstümliche Gedicht von Kotzebue: „Es kann ja nicht immer so
bleiben" wurde in-Steiermark parodiert zu einem Spottlied auf Kossuth2).
1) Hruschka und Toischer S. 79. Pogatschnigg und Herrmann 2, S. 152 ff.
2) Schlossar Nr. 276. Es sind die erste und vierte Strophe des Kotzebueschen
Liedes, die umgestellt und verändert wurden:
Kotzebue 1.
Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond,
Es blüht eine Zeit und verwelket,
Was mit uns die Erde bewohnt.
4.
Wir sitzen so traulich beisammen
Und haben uns Alle so lieb,
Erheitern einander das Leben,
Ach, wenn es doch immer so blieb.
Das steirische Lied stimmt nun im ganzen Aufbau völlig überein mit einem französisch
gesinnten Spottlied der Elsässer auf die Österreicher in Italien (Mündel Nr. 180) und mit
einem thüringischen Spottliede auf die Dänen und Napoleon. Das thüringische (mitgeteilt
von Schade im Weimarischen Jahrbuch 3 S. 264 f.) dürfte das älteste sein.
Steiermark.
Wir sitzen so fröhlich bei-
sammen
Und haben einander so lieb,
Wir erhalten einander das
Leben,
Ei, wenn es nur immer so
blieb.
Und weils kann nicht immer
so bleiben,
Hier unter dein Wechsel des
Monds,
So muss der Krieg den Frieden
vertreiben
Und im Kriege wird keiner
verschont.
Und da kamen die stolzen
Ungarn
Und mir Deutschen, mir
fürchten uns ja nit,
Mir stehn so fest, als wie die
Mauern
Und legen die Waffen nicht
hin.
Mir legen die Waffen nicht
nieder,
Bis dass Deutschland ist
wiederum frei,
Die Ungarn müssen refirieren
Aus Deutschland ohne Strumpf
und ohne Schuh.
Elsass.
Wir sitzen so fröhlich zu-
sammen
Und haben einander so lieb,
Wir erheitern einander das
Leben,
Ach, wenn es doch immer so
blieb.
Es kann ja nicht immer so
bleiben
Und es kann ja nicht immer
so sein,
Denn der Krieg muss den
Frieden vertreiben
Und im Krieg wird keiner
verschont.
Es kamen die stolzen Östreicher
daher,
Wir Franzosen wir fürchten
uns nicht,
Wir stehen ja so fest, wie die
Mauern,
Und wir legen unsere Waffen
nicht ab.
Die Östreicher müssen reti-
ñeren
Aus Solferino ohne Strumpf
und Schuh,
Ihre Heimat müssen sie ver-
lieren
Und ihr jungfrisch's Leben
auch dazu.
Thüringen.
Wir sitzen so fröhlich bei-
sammen
Und haben einander so lieb,
Wir erheitern einander das
Leben,
Ach, wenn es doch immer so
blieb.
Und es kann ja nicht immer
so bleiben,
Hier unter dem wechselnden
Mond,
So muss der Krieg denFrieden
vertreiben
Und im Krieg wird keiner
verschont.
Da kommen die stolzen Dänen
daher,
Wir Deutschen, wir fürchten
uns nicht,
Denn wir stehen so fest, wie
die Mauern,
Wir weichen und wanken kein
Schritt.
Und wir legen die Waffen
nicht nieder,
Bis Deutschland ist gänzlich
in Ruh,
Und ihr Dänen, ihr müsst
retiñeren
Nach Dänemark ohne Strümpf
und Schuh.
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
27
In neuerer Zeit sind namentlich von und über österreichische Soldaten
in Italien schöne Lieder geschaffen worden. Der Alpenbewohner leidet
im Feldzug' an grosser Sehnsucht nach seinen Bergen, aber stolz auf seine
engere Heimat, will ér ihr auch in der Fremde Ehre machen und sich
vor den übrigen auszeichnen. Steirische Lieder verherrlichen die Kriegs-
thaten ihrer Landsleute vom neunten Jägerbataillon1), die Deutschböhmen
besingen den Heldentod der Zehnerjäger in S. Lucia bei Magenta. Ob-
wohl sich dies Ereignis 1848 zugetragen hat, überträgt es das Yolk, um
seine Lieder modern zu erhalten, auf die .Jahre 1859 und 18662). Auf
diesem Grebiete berührt sich Yolks- und Kunstdichtung sehr nahe. In
Tirol sind Lieder von Primisser und Staudacher3) auf die Franzosenzeit
und Mosens Andreas Hofer zu wahren Volksliedern geworden.
Osterreich hat nun neben diesen ihm eigentümlichen Liedergruppen,
in der Alpenwelt, den Sprachinseln und im historischen Gesänge, natürlich
auch einen bedeutenden Anteil am allgemeinen deutschen Liederschatze,
0 Kossuth, du Schustergeselle,
1 >u sitzest nicht fest auf dein'm
Thron,
In Osterreich, da warst du so
schnelle
Und in Ungarn, bekomst du
deinen Lohn.
Und wärst du nach Ostreich
gegangen
Und hättest den Frieden ge-
macht,
So Avärest du ja Feldmarschall
worden
Und hättest den allerschönsten
Lohn.
Der Kaiser, der Grosse, aus
Schwabenland,
Der sitzt so fest auf seinem
Thron,
Die Italiener thut er schreck-
lich misshandeln,
Yon uns Franzosen bekommt
er seinen Lohn.
Wärst du zu Hause geblieben,
Und Napoleon, du Schuster-
geselle,
Du sitzest nicht fest auf dem
Thron,
In Deutschland, da warst du
so schnelle
Und in Flensburg bekamst du
den Lohn.
Und hättest du nicht nach
Deutschland gedacht
Und hättest du nicht nach
Flensburg gedacht
So wärest du Kaiser geblieben
Und hättest den allerschönsten
Lohn.
Hättest ini t Italien den Frieden
gemacht,
So wärest du als Kaiser nicht
vertrieben
Und du wärst in deiner aller-
schönsten Pracht.
Die vierte und fünfte Strophe dieser Lieder folgt einem bekannten deutschen Spottlied
auf Napoleon (bei Simrock Nr. 328), das seinerseits wieder in einem schlesischen Soldaten-
lied Aufnahme fand:
Simrock. Schlesien (Hoffmann Nr. 260).
Napoleon, Schustergesellchen,
Du sitzst gar nicht fest auf dem Thron,
Die Bauern stehn ja wie die Mauern
Und legen die Waffen nicht hin. —
Sie legen die Waffen nicht nieder,
Bis Deutschland ist ganz in der Ruh,
Bei Leipzig verloren sie die Hosen,
Bei Brüssel die Strümpf und die Schuh.
^ ü" ersehen aus diesen Beziehungen, für die wir noch mehrere unbekannte Zwischen-
glieder annehmen müssen, die vielgestaltige Verwendung einzelner volkstümlicher Motive.
1) Schlossar Nr. 286.
2) Hruschka und Toischer, S. 82 ff. und 505.
3) Greinz uud Kapferer, 2, 170ff.
Napoleon, du Schustersohn,
Wirst abgesetzt von deinem Thron,
Du Lumpenkaiser!
Hättst du mit den Preussen Friede gemacht
Und hättest nicht an Russland gedacht,
So wärst du noch Kaiser.
28
Häuften :
über den wir noch ganz kurze Rundschau halten müssen. Vorerst über
die Balladen. Die Alpenländer sind daran nicht reich. Steiermark, wo
auch ein Lied vom Doktor Faust gesungen wird, und Oberösterreich haben
mehr volkstümliche Epik als die übrigen Länder. Die Balladen vom
Schloss in Österreich, von der Brombeerpfliickerin, vom Brautmörder (Blau-
bart), vom ausgesetzten Kind sind überall bekannt1), das Tannhäuserlied
ist in Tirol, Kärnten, Oberösterreich und Steiermark in freien, zum Teil
sehr poetischen Umgestaltungen erhalten2), die Ballade von der Toten-
braut (Lenore) ausser in Gottschee und dem Kuhländchen auch in Nieder-
österreich, Deutschböhmen, Österreichisch-Schlesien, Steiermark, Kärnten
und Tirol8). Viel reicher, als die Alpen, sind an Balladen Österreichisch-
Schlesien, das daran stossende Kuhländchen in Mähren; vor allem aber
Deutsch-Böhmen, wo wohl keines der bekannteren deutschen epischen
und episch-lyrischen Volkslieder fehlt und die meisten in verschiedenen
Fassungen neben einander erhalten sind. Nur ein Beispiel. In den zahl-
reichen Varianten des bekannten Liedes vom Soldaten, der heimgekehrt
sein ungetreues Lieb ersticht4), sehen wir, wie der überlieferte Stoff ver-
schieden, je nach dem Geschmack des jeweiligen Sängers verändert oder
ergänzt wird. Einmal trinkt der Soldat noch eine Flasche Wein mit der
Geliebten zum Abschied, ehe er sie tötet, das andere Mal wird die Er-
stochene in des Vaters Garten unter Rosen und Nelken begraben. Ein
Sänger vermeidet ganz den Mord, der andere fügt an den Vers: „Soldaten
marschieren ins Feld", ein modernes Einschiebsel, das nicht älter sein
kann, als die Einführung der dreijährigen Dienstzeit:
„Ei, wenn die drei Jahr um waren,
Da trachtens wieder nach Haus."
Man müsste eine Charakteristik des deutschen Volksliedes überhaupt
schreiben, wollte man den Reichtum Böhmens an Liedern ausführlich
schildern.
Versagen muss ich es mir auch, hier eine Darstellung des geist-
lichen Volksliedes in Österreich zu geben; es hängt so innig mit dem
allgemeinen deutschen geistlichen Lied zusammen und ist so unübersehbar
reich an den mannigfaltigsten Gruppen, dass es zu seiner Erörterung
allein einer umfassenden Studie bedürfte. In allen Kronländern5) finden
1) Vgl. die oben S. 7 verzeichneten Sammlungen.
2) Vgl. Erich Schmidt in Nord und Süd 1893, 184 und 193.
3) Erich Schmidt, Charakteristiken, 222 und 240. Jetzt bringt alle Fassungen des
Tannhäuser- und des Lenorenliedes neben einander Ei-ks Liederhort (neu herausgegeben
von Böhme) 1, 39—51 und 596—601. Merkwürdigerweise wird hier von Erich Schmidts
Aufsätzen keine Notiz genommen.
4) Hruschka und Toischer S. 130 ff.
5) Die oben S. 7 f. erwähnten landschaftlichen Sammlungen haben alle auch eine Ab-
teilung: „Geistliche Lieder." Daneben giebt es besondere Sammlungen geistlicher Volks-
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn.
29
wir Legenden, Wallfahrtslieder, Mariengriisse, feierliche Lobgedichte auf
den Herrn, aber auch Lieder allgemein betrachtenden Inhalts über irdische
Vergänglichkeit, über Sünde und Strafe, gereimte Gebete zu verschiedenen
Schutzheiligen. Dann Lieder zu den verschiedenen Kirchenfesten. Und
überall die grösste Mannigfaltigkeit in Form und Inhalt, Auffassung und
Behandlung.
An Zahl und Bedeutung ragen die Weihnachtslieder unter allen
anderen hervor. Sie werden überall in der Advents- und Weihnachtszeit
in den Dörfern von herumziehenden Personen gesungen, aber auch am
Abend im häuslichen Kreis, endlich in abgelegenen Gegenden auch in der
Kirche beim Weihnachtsfeste, wo sie aber durch die Orgel und den schul-
mässigen Chorgesang immer mehr verdrängt werden. Diese Lieder sind
uralt. Sie entwickelten sich ursprünglich aus den lateinischen Hymnen
der Kirche, sind in ganz Deutschland seit dem Mittelalter nachweisbar,
aber auch im germanischen Norden, in England und Frankreich bekannt.
Das Aufblühen des weltlichen Yolksgesanges und die Reformation hat sie mit
neuer, lebensvoller Kraft erfüllt. In den Alpenländern insbesondere sind die
halbdramatischen Hirtenlieder sehr verbreitet. Sie sind meist in der Mundart
abgefasst und haben stark lokale Färbung, denn das heilige Ereignis wird
unmittelbar in die Gegenwart und in die Heimat versetzt, so dass einzelne
Stücke abgerundete Kulturbilder darbieten. Alle haben gemeinsame Züge.
In lebendiger Weise erzählen sie, wie die im Freien schlafenden Hirten
durch einen hellen Schein erweckt werden. Ein Engel verkündet ihnen
(lie Geburt Christi. Sie eilen zur Krippe, beschenken das Kind und beten
es an. Allen ist auch ein vertraulich-scherzender, kindlicher Ton eigen.
Doch wenn auch der Nährvater „ein alter Tatti" genannt, die Armut der
heiligen Familie respektlos geschildert wird, so ist das nur ein Ausfluss
naiver Treuherzigkeit, fern von jeder Gotteslästerung1).
In Auffassung und Inhalt verwandt mit den geistlichen Liedern sind
die geistlichen Yol k ss eh au spiele, die überall in Österreich von Tirol
bis Siebenbürgen aufgeführt werden, Weihnachts- und Drei-Königsspiele,
Oster- und Passionsstücke, aber auch andere biblische Dramen, unabhängig
von kirchlichen Festen2). Diese Aufführungen waren, wie die Bauerntheater
überhaupt, im Laufe unseres Jahrhunderts sehr zurückgegangen, blühen
aber in der jüngsten Zeit wieder neu auf.
^eder, die für Österreich in Pauls Grundris 2, 1, S. 770—774 verzeichnet sind. Ygl. be-
sonders Aug. Hartmann, Volkslieder, 1. Band. Volkstümliche Weihnachtslieder. Leipzig,
1884 und Pailler, Weihnachts- und Krippenlieder aus Oberösterreich und Tirol, 1 Band.
Innsbruck, 1881.
1) Vgl. Weinhold, Weihnachtsspiele und -Lieder aus Süddeutschland und Schlesien,
376-399.
2) Die Litteratur der Volksschauspiele verzeichnet John Meier in Pauls Grundriss,
1, S. 832-836.
30
Häuften :
Zinn Volksliede gehören im weitem Sinne Kinderlieder und Rätsel,
gereimte Festsprüche und Sprichwörter, Bauernregeln und Zauberformeln,
Haus- und Grabinschriften. Alle diese Gattungen sind in Österreich reich
vertreten. Kinderlieder und Rätsel haben in ganz Deutschland den
gleichen Inhalt, die österreichischen unterscheiden sich im wesentlichen
nur durch die häufig verwendete Mundart1). Gereimte Sprüche, die nicht
gesungen, sondern „aufgesagt" werden, sind bei Verlobungen, Hochzeiten,
Taufen, Erntefestenu.s.w. in allen Kronländern unter Bauern gebräuchlich2).
Auch das Sommer- und Winterspiel ist in ganz Österreich bekannt. In
den Sprichwörtern Österreichs ist neben allgemeinem viel Sonclergut, weil
die meisten an die örtliche Lebensweise, Mundart und Wortwahl ge-
bunden sind3).
Viel Poesie und Lebensweisheit steckt in den Haussprüchen, die auf
dem Laude gerne über dem Thor und in der Stube an bevorzugten
Stellen angebracht werden4). Ihr Inhalt ist mannigfaltig. Tiefsinnige
Lebensregeln, fromme Glaubenssätze und Gebete, Inschriften voll gesunden
Humors nnd derber Satire, Sprüche über das Bauen, über das Gewerbe
des betreffenden Besitzers, über Gastfreundschaft, Wirtshaussprüche u. a.
lösen einander ab. Viele sind sehr alt und lassen sich bis ins Mittelalter
zurückverfolgen5). Einzelne sind über das ganze Alpengebiet und darüber
hinaus bis nach Siebenbürgen verbreitet6).
Ein ähnlicher schöner Brauch ist die poetische Grabschrift7). Die
Verse auf den Gräbern handeln natürlich meist über Tod und Ewigkeit,
1) Kinderlieder und Rätsel sind mit abgedruckt in den oben S. 7 f. erwähnten land-
schaftlichen Sammlungen. Für die Rätsel vgl. ausserdem die Zusammenstellung von John
Meier in Pauls Grundriss 2, 1, S 831 f.
2) Vgl. die Darstellungen des Volkslebens in dem Werke: „Die österreichisch-
ungarische Monarchie in Wort und Bild."
3) Bibliographie in Pauls Grundriss 2, 1, S. 822f. Für die Alpen besonders: L. von
Hörmann, Volkstümliche Sprichwörter und Redensarten aus den Alpenländern. Leipzig,
1891. Eines dieser Sprichwörter findet sich schon 1704 als Kehrreim in einem historischen
Liede auf die Bayern angewendet.
Hörmann, S. 157. Ditfurth, Österreichische Heereslieder Nr. 5.
Gespräch nach der Schlacht bei Hochstädt.
Knödel, Nudel, Nocken, Plenten Nudel und Stearz, Nocken und Blünten
Sein der Tiroler vier Elementen. Seyn der Bayer vier Elementen.
4) Vgl. besonders L. von Hörmann, Haussprüche aus den Alpen, Leipzig, 1890 und
Haltrich, Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen 1885, S. 409—490.
5) Vgl. J. von Zingerle in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1, 104.
6) Hörmann, „Wer will bauen an der Strassen" S. 3—5 und 16, vgl. Haltrich, S. 430.
Meier, Schwäbische Volkslieder S. 266. Hörmann, S. 11: „Bauen ist ein schöner Lust",
vgl. Haltrich 431. Hörmann, S 70: „Heiliger Florian14, vgl. Haltrich 416. Meier S. 266
und Pogatschnigg und Herrmann (Kärnten) 2, 235. Hörmann, S. 124: „Wir bauen Häuser
hoch und fest", vgl. Haltrich 434f. Meier S. 266. u. a.
7) Hörmann, Grabinschriften und Marterln, Zwei Bändchen I890f.
1
Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn. 31
die Strafen des Jenseits, über Stand und Todesart des Begrabenen, sie
drücken den Sclnnerz über Yerlust, Hoffnung auf ein Wiedersehen aus.
Einzelne Inschriften, besonders die auf Kindergräbern, sind von rührender
Innigkeit, andere, auf Gräbern zänkischer Weiber, arger Wucherer u. s. w.
von schonungsloser Bosheit. Auch unbeabsichtigte Komik bieten sie
reichlich dar durch die ergötzlichsten Verstösse gegen Rechtschreibung
und Sprachlehre. Einige volkstümliche Wendungen und beliebte Gedanken
wiederholen sich immer wieder, von Kirchhof zu Kirchhof wandernd. Am
häufigsten die Yerse:
Hier lieg ich im Rosengarten
Und thu auf Yater und Mutter warten1).
Dann: „Hir lieg ich im kühlen Grab"3); „Wandrer, steh still, bete und
gedenk des Verstorbenen" 3J, „Der Tod macht alle gleich, der Tod ist wie
ein Dieb"4) u. a. Ahnlich sind die Inschriften in den Totenkapellen,
auf Grab kreuzen, auf den Leichenbrettern, die zur Erinnerung an Ver-
storbene an Kreuzwegen eingepfählt werden (eine Sitte, die in Oberbayern
und dem Böhmerwald besonders häufig ist) und endlich die Marterln,
rafelchen mit bildlicher Darstellung und gereimter Erklärung des an
diesem Orte stattgefundenen Unfalls, wobei häufig der Y erstorbene selbst
sprechend eingeführt wird. Die Dichter dieser Sprüche suchen die Mund-
et zu vermeiden.
Bei der Behandlung des vorliegenden Gegenstandes drängt sich wohl
von selbst der Gedanke auf, ob denn nicht die Volkspoesie der fremd-
sprachigen Stämme Österreichs das deutsche Volkslied beeinflusst habe.
Nach einer vergleichenden Untersuchung muss diese Vermutung im allge-
meinen zurückgewiesen, ganz geringe Ausnahmen und das Vorhandensein
eiflzelner den Deutschen und Slawen gemeinsamer Balladenstoffe zugegeben
Werden. Die Volkspoesie der Slawen, Ungarn und Romanen in Osterreich
ist durchwegs national, denn „wo sich ein selbständig Volksleben aus-
gebildet hat, wird auch ein eigentümliches Volkslied klingen"5); von der
deutschen Volkspoesie weicht sie völlig ab. Die südlichen Nachbarn des
deutschen Älplers, die Slowenen, besitzen zahlreiche alte Legenden und
kirchliche Festlieder mit mythischer Grundlage, Lieder mit Sagen- und
1) ebenda 1, 4 f., 10, 14; 2, 22 f., ebenso in Mähren, vgl. Willibald Müller a. a. 0.
426. In Volksliedern ähnlich in Hessen, Mittler Nr. 903; in Österreichisch-Schlesien,
1 eter S. 237; in Gottschee u. a. Über Rosengarten = Friedhof vgl. Bockel, Deutsche Volks-
üeder aus Oberhessen, S. XVIII.
2) Hörmann 1, S. 37 und 45.
3) ebenda 1, 80, 90; 2, 116, 129, 131, 136; 2, 5, 192 u. a.
4) ebenda 1, 14, 32, 78 und 143 u. a.
5) Anastasius Grün, Volkslieder aus Krain, Leipzig, 1850, S. VI. Hier auch in der
Umleitung eine Charakteristik der slowenischen Volkspoesie, vgl. auch Scheinigg in der
^sterreichisch-ungarischen Monarchie, Band Kärnten und Krain, S. 154—157 und 385—389.
111 Bibliographie vgl. Nehring in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1, 278 f.
32
Hauff en :
Märchenstoffen, Balladen aus der Türkenzeit, die sich in Stoff und Stil
enge an den serbischen Volksgesang anschliessen. Sie haben, wie bereits
erwähnt wurde, einzelne Balladen den ihrem Einfluss so sehr ausgesetzten
Gottscheern abgetreten, auf die geschlossenen deutschen Sprachstämme in
Steiermark und Kärnten haben sie gar nicht eingewirkt, sondern im Gegen-
teil von ihnen die Schnadahüpfeln übernommen, ihre vize, die immer
mehr den alten epischen Sang der Slowenen verdrängen. Auch die Lieder
Wälschtirols haben die deutschen Nachbarn nicht im geringsten beeinflusst.
Der Ostnachbar des Älplers, der Magyare, hat einen Yolksgesang, der mit
den landschaftlichen und sozialen Bedingungen Ungarns lebt und verweht
und darum nicht über die Grenze wandern kann. Die weite Puszta, der
schilfumrandete See, die ungeberdigen Wogen der Theiss sind der Hinter-
grund, ein wilder Ritt auf unbezähmbaren Pferde, Zigeunermusik, edler
.Feuerwein, der Tanz des schwarzhaarigen Mädchens der besungene Stoff.
Dabei die wildeste Leidenschaft der Liebe. Die Reize der braunen Schön-
heit, die Umarmung, der Kuss werden anschaulich geschildert, während
sich das deutsche Lied hierfür mit andeutenden, meist formelhaften
Wendungen begnügt. In den Liedern der Rosshirten werden Diebstahl
und Raub verklärt. Vielgestaltig ertönt der Ausspruch: „Extra Hungariam
non est vita." Im Stil herrscht ein Uberreichtum an der lebendigsten
Bildersprache, an kühnen Vergleichen und Hyperbeln. Es bedarf wohl
nicht der besonderen Versicherung, dass keine Spur dieser Lieder bei den
Siebenbürger Sachsen, bei den Deutschungarn, bei den steirischen oder
niederösterreichischen Nachbarn wiederkehrt.
Das engste Beisammensein zweier verschiedener Volksstämme findet in
Böhmen statt; aber auch hier ganz verschiedene Volkspoesien. AVer von
den deutschen Rändern nach dem Innern Böhmens zuwandert, kann leicht
schon an der Bodenbeschaffenheit die Sprachgrenze erkennen. Wo die
schöne Waldkultur, die anmutige Landschaft aufhört, mit den fruchtbaren,
aber eintönigen, baumlosen Gefilden beginnen die Sitze der Tschechen.
Sie sind ein ausgesprochen ackerbautreibender Stamm und die Landwirt-
schaft bildet auch den Mittelpunkt ihrer Volkslieder, den Rahmen und
Hintergrund ihrer Liebeslieder; sie leiht ihre Gegenstände für die Bilder
und Vergleiche her, sie giebt den Natureingang und die Bezeichnung für
den Wechsel der Jahreszeiten. Das Pflügen, Schneiden und Jäten, daneben
wohl auch das Gänseweiden und statt des deutschen Weins, das „rote"
Bier kehrt immer wieder. Im ganzen tritt uns in den tschechischen
Liedern ein arbeitsames, friedliches, etwas einförmiges Landleben entgegen.
Keine grossen Leidenschaften, kein lauter Jubel, aber auch keine Not
und Armut. Leicht ist der Erwerb, anspruchslos der Genuss. Es fehlt
die düstere Trostlosigkeit der rassischen, die strenge poetische Gerechtig-
keit der germanischen Lieder. Sie lieben eine friedliche Lösung, die
Sünde wird verziehen, auch getrennte Liebende finden raschen Trost.
Das deutsche Volkslied iri Österreich-Ungarn.
33
Aus den Liedern spricht also eine ruhige Pleiterkeit und Genügsamkeit,
die den thatsächlichen Verhältnissen des tschechischen Landvolkes ent-
spricht. Neben diesen so eigenartigen lyrischen Liedern haben die
Tschechen eine Reihe von Balladenstoffen mit den Deutschen gemeinsam.
Krejci1) hat auf einzelne hingewiesen: „Maria hilft einer Sünderin in den
Himmel" 2), „Die Höllenstrafe der dritten bösen Schwester"8), „Die Königs-
tochter, die als Magd in einem Wirtshaus dient"4), „Die Lieb esprobe"5) u. a.
Ausserdem singen die Tschechen, so viel mir bekannt ist, auch die deutsche
Ballade vom Habersack in der Mühle6) und von den Mordeltern7). Krejci
lässt die Frage nach der ursprünglichen Heimat dieser Lieder unentschieden.
Man kann sie ohne Rückhalt beantworten. Alle diese Balladen sind in
Deutschland seit Jahrhunderten bekannt, für alle entferntesten Winkel
deutschen Bodens nachgewiesen, sodass die Möglichkeit einer tschechischen
Abstammung für sie unbedingt zurückgewiesen werden muss.
So wäre denn auch durch die letzten Ausführungen gezeigt worden,
dass das Volkslied der deutschen Stämme in Osterreich nicht nur in der
Sprache, sondern auch im Stoff und der Auffassung ein von fremder
Beeinflussung reines deutsches Volkslied ist.
Prag.
1) In der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1, 414—421.
2) Wunderhorn 2, 220. Hruschka und Toischer 1, 30a und 30b. Simrock, Nr. 69, wo
die in den übrigen Liedern augenscheinlich korrumpierte Strophe lautet: „Ich hab ja alle
Sanistag Nacht, Ein Abendtänzchen mitgemacht." Das war also die Sünde. Nach anderen
Fassungen (Peter, Österreichisch-Schlesien 1, S. 352, Ditfurth, Fränkische Volkslieder 1,
64 und Gottschee) rettet Maria die Seele „weil sie ihr alle Samstag Nachts ein Licht-
lein gebrannt hat."
3) Erlach 2, 275. Wunderhorn 2, 201. Simrock Nr. 68. Möllenhoff, Schleswig-
Holstein, S. 496.
4) Erlach 4, 131. Wunderhorn 2, 277. Ditfurth 2 Nr. 4 u. a.
5) Uhland Nr. 116 und in allen deutschen Landschaften, vgl. Hruschka und Toischer
S- 87 ff., S. 505. auch in Gottschee. Auf die Beziehungen des deutschen zu dem tschechi-
schen und mährischen Liede weist schon hin Beifferscheid, Westfälische Volkslieder,
S. 155.
6) Simrock Nr. 283 und in allen Landschaften, vgl. Hruschka und Toischer 198 ff.,
Waldau, Böhmische Granaten 2, Nr. 378.
7) Simrock Nr. 34 und überall in Deutschland; • vgl. Hruschka und Toischer S. 229 f.
und 513. Mündel, Elsässisch Nr. 16 und besonders jetzt Erks Liederhort (Neue Ausgabe)
1, 172—177. Als wahre Begebenheit berichtet es Gregorovius aus Korsika 2, 31 f., Vogel
ai,s Leipzig für das Jahr 1618, eine Gottscheer Ortsüberlieferung u. a. Waldau, Böhmische
Granaten 2, Nr. 276.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894.
O
34
Boite:
Das Märchen vom Gevatter Tod.
Von Johannes Bolte.
Über das alte Märchen vom Tod als Paten und seine Verbreitung bei
den verschiedenen Nationen hat zuletzt Gustav Meyer (Essays 1885 S. 242
bis 286) vortrefflich gehandelt. Wenn ich daher an dieser Stelle einige
unbeachtete oder schwer zugängliche Variationen davon zum Abdrucke
bringe, kann ich mich mit einer etwas vervollständigten Aufzählung der
bisher bekannten Fassungen begnügen und für die sich daran knüpfenden
Fragen auf jenen Aufsatz verweisen. Ich möchte nur hervorheben, dass
wir gerade aus Deutschland ältere Fassungen besitzen, die uns zu Ver-
mutungen über die Entwickelung des Märchens Handhaben bieten.
1. Deutsche Fassungen.
A. Hugo von Trimberg, Renner 1549 Bl. 118a .Yon dem todt, wiç er ein kind,
hub' = ed. Bamberg 1883 v. 23 666 — '23 787. Aus einer Halberstädter Hs. des 16 Jahrh.
hrsg. von G. Schmidt, Ztschr. f. deutsche Philol. 12, 144—149. — Nur der Eingang gehört
hierher; dann folgt die Geschichte von den Boten des Todes, über die Grimm, KHM 177
und Oesterley zu Paulis Schimpf und Ernst 267 und zu Kirchhofs Wendunmut 1, 2, 124
(vgl. MSH 3, 345) Nachweise geben.
B. Hans Sachs, Schwank ,Der pawer mit dem dot', 1547, 20. November gedichtet.
Aus dem 6. Spruchbuch, Bl. 47a, abgedruckt von R. Bechstein, Deutsches Museum, N. F.
1, 182 (1862) und von E. Goetze, Schwanke von Hans Sachs 1893 Nr. 99.
C. Hans Sachs, Meisterlied ,Der pawer mit dem dot' im Rosenton H. Sachsen,
1547, 20. oder 21. December gedichtet. Stand im verlorenen 9. Meistergesangbuch Bl. 340b:
unten S. 37 aus Georg Hagers Sammlung (Berliner Ms. germ, quart 583, Bl. 229 a) und
aus Arnims Meisterliederhandschrift (Berliner Ms. germ fol. 22, Bl. 22a Nr. 19) ab-
gedruckt.
D. Jakob Ayrers Fastnachtspiel ,Der baur mit seim gefatter todt'. Opus theatricum
1618 2, BL 26b = ed Keller 1865 4, '2467 - 2489.
E. Moscherosch, Gesichte Philanders von Sittewald. Ander Theil, 6. Gesicht.
Soldatenleben. S. 671 f. Strassburg 1643 = ed. Bobertag in Kürschners Nationallitteratur
32, 306 (1883). — Bearbeitet von A. v. Arnim, Sämtliche Werke 11, 165 f. (1842). — Hier
ladet der Yater des Erzählers den Tod zu Gevatter und bittet, als dieser ihm einen Wunsch
freistellt, ihn nicht eher zu töten, als bis er ein Vaterunser gesprochen.
F. Heinrich Wolff, Meisterlied ,Der gfatter Dot' im späten Ton Frauenlobs; 1644,
18. Februar gedichtet. Aus Arnims Handschrift (Berliner Ms. germ. fol. 24, Bl. 216b)
unten S. 39 abgedruckt.
0. Joh. Praetorius, Der Abentheuerliche Glücks-Topf 1669 Kap. 17 S. 147 f. —
Unten S. 40 abgedruckt.
bl. Biblisches Bilderbanquet (um 1691), 3. Theil = A. Birlinger, Nimm mich mit!
Kinderbüchlein. 1871 S. 271 ,Yom Bäuerlein und dem Tod'.
1. [Joh. Chph. Ettner], Deß Getreuen Eckharts unwürdiger Doctor 1697 S. 190:
,Der Maulaffe wurde sehr berühmt seiner Cur halben, mehr als der jenige, welcher den
Tod zum Gevatter hatte und aus seinen bey denen Betten der Patienten veränderten
sitzen deren aufkommen und absterben urtheilen konte'.
Das Märchen vom Gevatter Tod.
35
K. [F. G. Schilling], Neue Abendgenossen (Hamburg 1811) 3, 145—286. — Yon
Grimm benutzt.
L. Grimm, Kinder- und Hausmärchen Nr. 44 ,Der Gevatter Tod1 (zuerst 1812). —
Vgl. Nr. 42 ,Der Herr Gevatter'.
M. L. Aurbacher, Ein Volksbüchlein (1827. 1835). 3. Auflage. 1879 1, 119
,Gevatter Tod'.
N. L. Bechstein, Deutsches Märchenbuch 1845 S. 88 ,Gevatter Tod'.
0. J.W.Wolf, Deutsche Hausmärchen 1851 S. 365 ,Das Schloss des Todes'.
P. II. Pröhle, Kinder- und Volksmärchen 1853 Nr. 13 ,Gevatter Tod'; vgl.
S. XXVIII.
Q. F. Schönwerth, Aus der Oberpfalz 3, 12 (1859) ,Gevatter Tod'.
R. Th. Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen 1864 (2. A. 1892) Nr. 42 ,Der
Kropfige'.
S. A. Birlinger, Aus Schwaben 2, 372 (1874) ,Der Gevattersmann'.
T. Zwei jüdisch-deutsche Überlieferungen bei G. Meyer, Essays S. 268—273.
U. Carl Haffner, Oesterreichisches Volkstheater 1, 165-240 (1845) ,Der Tod und
der Wunderdoctor', in drei Aufzügen. Musik von Hebenstreit. Aufgeführt am 19. April 1841
im Leopoldstädter Theater zu Wien.
V. Franz Pocci, Gevatter Tod. Schauspiel in drei Akten und einem Vorspiel.
München o. J. [1855].
W. Peter Sch . . ., Die alte Komödie vom Arzt und Tod, oder Schuster bleib bei
deinem Leisten. Ein scherz- und ernsthaftes Spott- und Lustspiel. Göttingen 1857. —
Den Namen des 1861 verstorbenen Verfassers (H. v. A.) hat mir Herr Geh. Legationsrat
Dr. Aegidi gütigst mitgeteilt, mich aber noch nicht zur öffentlichen Nennung ermächtigt.
X. 0. Roquette, Gevatter Tod. (Drama.) Stuttgart 1873.
F. Rud. Baumbach, Der Pate des Todes. Dichtung. Leipzig 1884.
/j. L. Budde, Gevatter Tod. Eine Weihnachtsgeschichte. Leipzig 1887. — Vorher
in den ,Grenzboten' gedruckt.
2. Skandinavisch.
a) H. Gering, Islendsk aeventyri (1882—83) 1, 204. 2, 143 Nr. 78 ,Der Königssohn
und der Tod'. — Die älteste Handschrift stammt aus dem 15. Jahrhundert, die Dichtung
geht wohl noch bis ins 13. zurück.
b) S. Grundtvig, Gamie danske Minder 2, 13—20 (1861) ,Den modige svend".
o) Asbjörnsen, Norske Folke-eventyr. Ny Sämling 1876 Nr. 45 ,Gutten med
«ldunken'. ' '
3. Littauisch, Slavisch, Ungarisch.
d) A. Bezzenberger, Litauische Forschungen 1882 S. 36 f. — Deutsch bei Gering,
Islendsk aeventyri 2, 395 und bei Meyer, Essays S. 262.
e) E. Veckenstedt, Wendische Sagen 1880 S. 341.
f) W. v. Schulenburg, Wendisches Volkstum 1882 S. 36 ,Der Tod als Gevatter'.
g) F. Krauss, Sagen und Märchen der Südslaven 2, 119 (1884) Fordere den Tod
öicht heraus'.
h) Ipolyi, Zeitschr. für deutsche Mythologie 1, 262 f. (1853). Aus dem Trentsiner
Komitat.
0 Waldburg, ebd. 1, 358. Aus der Bukowina.
k) G. Stier, Ungarische Volksmärchen aus Gaals Nachlass 1857 Nr. 4 ,Der Arme
und der Tod'.
T) H. v. Wlislocki, Märchen und Sagen der transsilvanischen Zigeuner 1886 Nr. 38
>Der Tod als Pate'.
4. Französisch, Spanisch, Italienisch.
m) Gueulette, Mille et un quarts d'heure, contes tartares Nr. 73 , A ventures d'un
bûcheron et de la mort' — Le cabinet des fées 21, 45.
3*
36
Boite:
n) Ch. Deulin, Contes d'un buveur de bière. 6. édit. 1873 p. 31 ,Le compère de
la mort', p. 195 ,Le filleul de la mort'.
o) Armana prouvençau 1876, 60.
p) Luzel, Légendes chrétiennes de la Basse-Bretagne (1881) 1, 335 ,L'homme juste'
(= Revue celtique 3, 383. 1878) und 1, 346 ,L'ankou et, son compère'.
q) F. Caballero, Cuentos y poesías populares andaluces 1861 p. 83 = Caballero,
Ausgewählte Werke 16, 147 (1862) ,Juan Holgado und Frau Tod' = F. Wolf, Sitzungsber.
der Wiener Akademie 31, 198 (1859).
r) Coelho, Contos populares portuguezes 1879 Nr. 23.
s) Widter und Wolf, Venetianische Märchen im Jahrbuch f. roman. Litt. 7, 16
(1866) ,Der Gevatter Tod'. Bemoni, Tradizioni popolari veneziane 1, 6 (1875) = Crane,
Italian popular tales 1889 p. 226 ,The just man'.
t) Gonzenbach, Sicilianische Märchen 1870 Nr. 19 ,Gevatter Tod'. Pitrè Nr. 109.
u) Salv. Fabbrichesi, II Medico e la Morte, ossia le cinque Giornate di Moestro
Crespino Ciabattino. Commedia 1825 (Biblioteca ebdomadaria teatrale, fase. 246.
Milano 1868).
V) Luigi e Federico Ricci, Crispino e la Comare. Opera buffa. Text von Piave.
Napoli 1836.
5. Griechisch und Albanesisch.
w) Po litis, Meléti] sul Tov ßlov xwv vscotsqcov 'EXXrjvœv 1, 293 (1874).
X) B. Schmidt, Griechische Märchen 1877 S. 117 ,Gevatter Charos'; vgl. S. 235.
y) Carnoj et Nicolaides, Traditions populaires de l'Asie Mineure 1889 S. 144.
z) Jarnik, Albanesische Märchen (in böhmischer Sprache) 1883 S. 16. — Deutsch:
Veckenstedt, Zeitschr. f. Volkskunde 3, 264 f. (1891) und bei G. Meyer, Essays S. 246.
Das Meisterlied des Hans Sachs (C) unterscheidet sich von dem einen
Monat früher gedichteten Spruchgedicht (B) nur durch die Weglassung von
sechs Tersen, die mit der zwanzigzeiligen Strophe des Rosentons nicht im
Einklang standen *). In der jüngeren der beiden Handschriften, durch die
es uns überliefert ist, steht eine verkehrte Jahreszahl, wie die Vergleichung
mit dem eigenhändigen Register des Dichters zeigt. Die Erzählung beginnt
damit, dass der Bauer den Herrn Christus, der sich ihm als Gevatter an-
bietet, wegen seiner ungleichmässigen Behandlung der Menschen zurück-
weist und sich lieber dem gegen Hoch und Niedrig gerechten Tode zu-
wendet. Eine ähnliche Einleitung haben auch spätere Fassungen, aber dann
erscheinen nicht zwei Personen, sondern stets eine Dreizahl. Dass der
Bauer schliesslich, als der Tod ihn mit sich nehmen will, diesen durch die
Bitte, vorher noch ein Yaterunser sprechen zu dürfen, überliste, kommt
1) Es sind folgende. Hinter V. 16 des folgenden Abdruckes stand ursprünglich:
Ynd sprach: ,Wen dw gest zw eim kranckn,
So hab nur auf mich dein gedanckn,
Wen ich ste pey ....
Hinter V. 22: Der kranck den arzt hies willig kumb,
Der sach paid nach seim gfatern vmb,
Der dort peis ...
Hinter V. 40; Wenn ich das gar aus pettet hab,
So wil ich mit euch schaiden ab.'
Das Märchen vom Gevatter Tod.
37
schon in der isländischen Legende («) vor, ferner bei Moscherosch, J.W.Wolf
und im norwegischen Märchen (E, O, c).
Zwischen Hans Sachs und dem in den letzten Jahren des dreissig-
jährigen Krieges dichtenden Nürnberger Meistersänger Heinrich Wolff (F)
steht Jakob Ayrer; an sein flottes Fastnachtspiel ($) schliesst sich Wolff
in allen Einzelheiten an. Er nennt den Bauer, ebenso wie Ayrer, Claus
Gerengast, er lässt ihm, ebenso wie Ayrer, den Herrn Christus, den Teufel
und den Tod entgegentreten, und sich zur Übernahme der Patenstelle er-
bieten, — eine Dreizahl, die auch bei Prätorius (Gr), im Biblischen Bilder-
banquet (üT), im norwegischen, bretonischen und venezianischen Märchen
(c, p, s) erscheint1) — und er vergisst nicht, die zwei Apfelkerne zu er-
wähnen, die der Tod bei Ayrer seinem Gevatter als scheinbares Heilmittel
anzuwenden empfiehlt. Bei beiden Dichtern erwirbt Claus durch seine
Heilungen ein grosses Vermögen, wird aber schliesslich vom Tode mit-
genommen. Yon einem listigen Entschlüpfen des Bauern wie bei Hans
Sachs ist keine Rede; der Ausweg, den Tod durch Umkehren des Bettes
um ein Opfer (Arzt oder Kranken) zu betrügen, begegnet erst in i/, also
um 1691.
Bei Prätorius (Gr) ist die merkwürdigste Abweichung, dass der Tod
nicht dem Vater, sondern dem neugeborenen Sohne die Fähigkeit, Kranke
zu heilen, verleiht. Hierdurch wurden spätere Erzähler veranlasst, ein
romantisches Element, die Liebe des jungen Arztes zu einer dem Tode
verfallenen Prinzessin und einen dadurch hervorgerufenen Kampf zwischen
dem Arzte und seinem Paten einzuführen.
I. Der pawer mit dem dot.
In dem rossen thon Hans Sax2).
J.
Ein pawer wolt gwinnen ein gfatern,
Da pekara im vor seinem gatern
Ynser hergot vnd sprach: ,Wohin?'
Er sprach: ,Ein gfatern ich gewin'.
5 Der herr sprach: ,Gewin mich, mein mane!'
Er sprach: ,Das selb wil ich nit thone;
Wan dw dailst dein guet vngeleiche,
Machst ain arm vnd den andren reiche'.
1) Der Held des parodistisch gehaltenen norwegischen Märchens (c) sucht allerdings
keinen Gevatter, sondern einen Trinkkameraden. Im sicilianischen (t) treten Johannes,
Petrus (beide von Gott gesandt) und der Tod auf.
2) Die Melodie steht im Berliner Ms. germ. fol. 25 S. 205. — Varianten der Arnim-
schen Hs.: 1 baur — gewinen einen gfattren — 2 Begegnet — gatren — 5 Eu sprach
er so — 6 Der bauer sprach ich wils nicht danne — 7 gut auß vngleiche — 8 einen
arm den —
38
Boite :
Nach dem peleara im auch der dot,
10 Der sich zu eim gfatern erpot;
Wo er in nera zw disen sachen,
Wol er ein arezet aus im machen,
Das er wurt reich in kurezer zeit.
Die gfaterschaft er in zw seit;
15 Der dot hueb aus dem dauff das kinde,
Lert sein gfatern die kunst geschwinde,
Sprach: ,Ste ich pey des kranken haupt,
So kumpt der selb nit auf, gelaupt.
Ste ich aber peis krancken fuesen,
20 So muegt in im die kranckheit puesen'.
2.
Im dorff lag kranck ein reicher pawer,
Zu dem der arezt kam vnd sach sawer;
Der dot peis krancken fuesen stund.
Der arezt sprach: ,Wiltw werden gsund,
25 So gib mir zwelff gulden zu lone!'
Er sprach: ,Das wil ich geren thone.'
Paid er den krancken det gsund machen,
Wurt er peruemet in den sachen.
Paid er ging zw eim krancken ein,
30 Sach er auf den gefatern sein.
Stund er peim haiipt, der kranck paid starbe;
Pein fuesen, er gsuntheit erwarbe.
Nach im man schicket in die stet,
Vil geldes er verdienen det.
35 Als das weret auf zehen jare,
Kam sein gfater dot zw im dare,
Zum haupten stiind, sprach: ,Gfater ir,
Macht euch paid auf! Ir miest mit mir.'
Der arezt sprach: ,Thut mich nit verspetten,
40 Last mich ein vatter vnser petten!'
3.
Der dot sprach: ,Das wil ich auch thone.'
Der arezet fing zw pettn one,
Pet doch nit mer den das erst wort
(Der dot den schalck merck an dem ort)
45 Vnd pet also daran sechs jare,
Das vater vnser pet nie gare.
11 Vimd wan er — zu den — 12 So wolt er ein arzt — 13 reich wurt — 14 im
zu saigt — 15 der tauff — 19 bey seinn fuesen — 20 mögt ir in — 21 paur — 22 Der
arzt ging zu im und sach saur — 27 Als er — gsund tet — 28 berumbt in seinen sachen
— 29 Wan er — 30 bald auff den gfatren — 31 pein kopff — starbe fehlt — 33 statt —
34 verdinet hat — 38 nmst — 39 nicht — 41 dz selb wil ich tanne — 42 arzt — betten
— 44 merckt dein schalck —
Das Märchen vom Gevatter Tod.
39
Der clot gar oft kam in sein hause,
Sprach: ,Hapt ir noch nit pettet ause?'
Doch imer lenger in auf zueg.
50 Der dot zw leczt süecht ein petrueg;
In eines krancken menschen gstalde
Lag vor seins gfatern haus gar palde
Vnd schray: ,Herr arczet, helffet ir
Mit einem vater vnser mir!'
55 Der arczt loif rab, sprach sein gepete.
Der dott im paid sein halss vmb drete,
Sprach: .Nun pistw mein aygen gar". —
Darumb ist das alt Sprichwort war,
Rein krawt sey fuer den dot gewachsen;
60 Wirt auch verschonen nit Hans Sachsen.
Anno salutis 1547
am 20 tag decembris.
II. Der gfatter Dot. f
Im späten thon Frauenlobs J).
1.
Claus Gerengast ein bauer war;
Als der zu hauß saß ein halb jar,
Ihm sein hausfrau ein söhn gebar.
Deß war er fro, ging, wolt ein gfattren gwinen.
5 Dem begegnet der herre rein,
Er sprach: ,Ich wil dein gfatter sein,
Ich ertheil dir den segen mein.'
Der bauer thet sich darob lang besinen,
Endlich sprach er: ,Ich muß ein gfattren haben,
10 Der mich mit gelt vnd reichthum kan begaben.
Dein segen ist doch nur arbeit aulf erden.'
Ging drauff von dem herren lobsam.
Als dises der teuffei war nam,
Gar bait er zw den bauern kam
15 Vnd sprach zu ihm: ,Ich wil dein gfatter werden.'
2.
Der bauer fraget ihn darbei,
Weß stand er wer, wie sein nam sei.
Der teuffei antwortet ihm frei,
Er wer diser, der all schätz het in henden.
47 Gar offt kam der tod fur — 50 Zu lezt sucht der dott — 51 gstaltt — 52 haußtur
balte — 53 Ynnd sprach — 54 Mit meinen — 55 lieft' rab sprach dz — 56 in bald —
trede — 57 nun hilfft dich kein beste zwair — 60 Wirt auch nicht versäumen Hanns
Saxsen. Ano salutis 1553 jar am 17 no[v]embri.
1) Die Melodie steht in demselben Berliner Ms. germ, fol 24, Bl. 245a.
40 Boite : ,
20 Der bauer sprach bald zu der frist:
,Ich glaub, dz du der teuffei bist.
Mich bewar der h[err] Jesu Christ!'
Darauff thet sich der teuffei von ihm wenden.
Kalt kam hernach der dot zu ihm getretten,
25 Sprach: ,Thu mich zu einen gefattren betten,
So wil ich dich reich machen in deim leben
Ynd dich lehrnen eine kunst fein.
Wo du kehrst bei eim krancken ein,
So soltu mich sehen allein.
30 Deß kranckheit wil ich dir zu kennen geben:
3.
Steh ich bei deß krancken haupt hoch,
So wird der kranck genessen doch.
Stehe ich bei den füssen noch,
So muss der kranck sein leben bald verlihren.'
35 Der bauer sich nicht lang besan,
Dacht: ,Doctor ich jetzt werden kan,'
Vnd den dot zu gefattren gwan,
Doch fragt er, wie er kranckheit solt curiren.
Sein gfatter dot sprach: ,Nim zwen öpffel keren,
40 Gib es den krancken ein nach mein begeren!'
Durch die kunst thet er grosses gut erwerben;
Endlich ein kranckheit in ein nam.
Sein gfatter dott auch zu ihm kam,
Stellt sich zu sein füssen grausam,
45 Sein gfatterschafft halff ihn nicht, er must sterben.
1644 den 18 februari dichts Heinrich Wolff.
III. Das patengeld machet reich.
(Joh. Praetorius, Der abentheuerliche Glückes-topf 1669 Kap. 17 S. 147 f.)
Ich muß allhier schließlich noch ein anders seltzamers vom pathen-gelde
erzehlen, nehmlich: Es soll eines baurs-mannes frau ein kind einmahl gebohren
haben; darzu hat der vatter beschlossen gevatter zu bitten, welche ihme zu erste
begegnen würden im ausgehen. Hatte sich derentwegen aus dem hause auff dem
wege gemachet; da war ihme erstens der teuffei begegnet, der von ihme erfraget,
wohin er wolte. Der baur antwortet: ,Ich wil zu gevatter bitten'. Der teuffei
spricht: ,Bitte mich!' Antwort: ,Nein, du betreugst und verführest alle leute;
drumb mag ich dich nicht.' — Weiter war ihm zweitens der liebe gott begegnet.
Zu solchen hat er auch gesprochen, daß er ihn nicht begehre, sintemal er etliche
leute reich, etliche arm mache und hielte keinen1) vergleich durchaus mit dem
menschlichen geschlechte. — Drittens war zu ihme der tod gekommen. Den het
er gebeten, weil er es allen leuten gleich machete, wenn er aus allen lebendigen
leuten leichen zubereitete. Funus itaque foenus fuit [148] etiam rustico. .Ja,' hat
1) Verdruckt: kinen.
Das Märchen vom Gevatter Tod.
41
der tod gesaget, ,du thust recht; nimb nur mich zum gevatter. Ich wil deinen söhn,
wenn er groß wird, sehr reich und vornehm machen. Ich wil ihme ein kraut
zeigen, damit er alle kranckheiten heilen kan, nehmlich auff solche art. Wird er
zu dem krancken gefordert werden, da wil ich mich allezeit von ihme alleine
sehen lassen. Werde ich denen bettlägerigen zun füssen stehen und er sihet
solches, so soll er denen krancken von meinen kraute eingeben und gewisse ver-
heissung thun, daß er davon auffkommen soll, welches auch ihme nicht fehlen
wird. Wird er mich aber zum häupten stehen sehen, so soll er flugs sagen, daß
er nicht helffen möge, und hieran soll er auch nicht fehlen, sondern immer ein-
treffen. Und also sol er berühmt und für den besten medi cum gehalten werden
und viel geld verdienen.
Eine aberglaubige und gottlose fratze, so gemeinschafft mit der Jüden wahn
bat, daß der tod bey einem sterbenden zum häupten stehe, habe ein groß schlacht-
messer und an der eusersten spitze ein gifftiges tröpflein hengen; solche treuffe
er den patienten in den mund, und davon müst er sterben. Weiter, wenn der tod
zum hause hinaus nach seiner verrichteten arbeit gehe, so wasche er solches sein
besser im ersten wasser im hause wieder ab, daß er mag antreffen; und daher
giessen sie alles wasser im hause hernach aus, sobald einer verschieden ist, damit
sie deß gifftes auch nicht gemessen mögen. — Weiter ziehlet jenes auch dahin,
daß der unserigen weiber, wenn sie zu einen gefährlichen bettlägerigen im be-
suchen zu erste hinantreten, sie acht haben, ob der patient sich zum häupte oder
zum füssen ausdene. Nach diesem hoffen sie besserung, nach jenem ablebung.
Wunderlich! Der tod in töpffen, heisset es sonst1), hier in [149] köpffen. Die füsse
sterben ja immer ehr beym krancken als der köpf; so strecket der Streckebein
(als der daher den nahmen überkommen) auch die erblasseten füsse zuerst auß.
Aber denen ungeräumten köpffen wil solches nicht eingehen. — Weiter solle man
reichthumb vom todt erwarten und soll man denselben darzu lieb haben und zu
gevattern bitten! Zwar die gevattern heissen irgendwo in der teutschen spräche
doden, und heissen im hebräischen lieb. So singen auch etliche cantores nicht
uuibsonst: ,Sterben ist mein gewinn und schadet nicht'; nehmlich wenn sie fein
Vlel leichen zum grabe beleiten und davon das erste stücke der verlassenschafft
auff sie fällt. Da macht das sterben ein nützbares echo: erben.
Berlin.
Der Schuh im Volksglauben.
Von Paul Sartori.
Einleitung: Der Fuss im Volksglauben.
1. Sympathetische Kraft der Fussspur.
Die Fussspur ist dasjenige, was auch nach dem Verschwinden dessen,
der sie dem Boden eingedrückt hat, noch eine Zeitlang bleibt und Kunde
giebt von ihrem Urlieber. Was vermag nicht alles der scharfe Sinn des
1) 2. Könige 4, 40.
42
Sartori:
Natursohnes ans einer solchen Spur herauszulesen? In einer Erzählung
des Talmud erkennt jemand an den Spuren, die ein Kameel hinter sich
gelassen hat, dass dieses auf einem Auge blind gewesen sein und zwei
Schläuche getragen^ haben müsse, deren einer mit Wein, der andere mit
Ol gefüllt war, endlich, dass zwei Männer, ein Israelit und ein Heide, es
geführt hätten (Yeckenstedt, Ztschr. f. Volkskunde, IT, 299 f.). Yon der
Fertigkeit der Hottentotten im Spurfinden teilt uns Theophilus Hahn inter-
essante Beispiele mit, vgl. Ratzel, Völkerkunde, I, S. 95.
Überall auf der Erde werden Fussspuren gezeigt, an welche sich die
Erinnerung an Götter, Heilige, berühmte Menschen u. s. w. knüpft: Vgl.
u. a. Creuzer, Symbol. IV, 56. Andree, Ethnogr. Parallel. 94ff. Birlinger,
Volkstüml. a. Schwaben I, 415. Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen
335f. Schindler, Der Aberglaube des Mittelalters, 42. Rochholz, Schweizer-
sagen a. d. Aargau I, 1. II, 282. Wolf, Beitr. zur deutschen Mythol. II,
24ff., 30ff.
Der Enteilende „lässt seine Spur zurück." An ihr haftet, so lange
sie selbst vorhanden ist, noch immer ein Teil von dem Wesen ihres Ur-
hebers. Wir finden daher mancherlei Beispiele bei den verschiedensten
Völkern, in denen an die Fussspur sympathetische Wirkungen von allerlei
Art geknüpft werden. Schon bei Burchard von Worms heisst es: Fecisti
quod quaedam mulieres facere soient diabolicis adimpletae disciplinis:
quae observant vestigia et indagines Christianorum et tollunt de eorum
vestigio cespiten! et ilium observant, et inde sperant sanitatem aut vitam
eorum auferre: Grimm, Mythol.4 III, 410. Und wie bereits Pythagoras ver-
boten haben soll, mit einem Messer oder Nagel in die Fussstapfen eines
Menschen zu stechen, so glaubt der Mecklenburger: schlägt man in einen
in die Erde eingedrückten Fussstapfen einen Nagel, so wird die Person,
der diese Fussspur angehört, lahm: Bartsch, Sagen aus Mecklenburg II,
329f. Derselbe Zweck wird erreicht, wenn man die Erde, in welche sich
die Fussspur eines Menschen eingedrückt hat, mit einem Grabscheit heraus-
holt und in eine frisch gegrabene Gruft wirft. Hängt man statt dessen
die Erde in den Rauch, so verdorrt der Fuss: Ebenda. Ähnlich hält man
in der Gegend von Mautern (Niederösterreich) es für möglich, jemandem
ein Fussübel anzuzaubern, wenn man einen Sargnagel in seine Fussspur
vergräbt: Landsteiner, Gymnasialprogr. von Krems, 1869, 54. Anm. 2.
Vgl. Schulenburg, Wendische Volkssagen, 235. Besonders wendet man
ein solches Mittel gegen Diebe an: Bartsch, a. a. O. II, 330. 332. Grimm,
D. M. III, 471. Meier, Sag. a. Schwaben, 500. Im Jahre 1638 wollte eine
Dienerin gesehen haben, wie eine andere Sand auf die Fussspuren der russi-
schen Zarin streute. Die Missethäterin wurde als Hexe gefoltert und nach
Sibirien verbannt: Ausland, 1888, 663. Kranke Flisse auf Zeitlebens macht
man jemandem, wenn man seine im nassen Boden zurückgelassenen Fuss-
stapfen vom Boden abnimmt, in einen Topf mit Nägeln, Glasscherben u. s. w.
Der Schuh im Volksglauben.
43
luftdicht verschliesst und unter gewissen Zauberformeln so lange kochen
lässt, bis der Topf zerspringt (Böhmen): Wuttke, Der deutsche Volks-
aberglaube § 396. Ein Australier, welcher lahmte, sagte dem Reisenden
Howitt auf Befragen nach der Ursache: Ein Feind habe Flaschenglas in
seine Fussstapfen gedrückt, daher komme sein Übel, welches in Wirklich-
keit Rheumatismus war. Die Karenen in Birma stecken vergiftete Tierkrallen
m die Fussstapfen ihrer Feinde, die nun an Fussgeschwüren zu Grunde
gehen. Ahnlich bannt der deutsche Jäger das Wild in sein Revier, indem
er dessen Spur mit einem Sargnagel befestigt. Der Odschibwä wirft zu
diesem Zwecke „Medizin" in die Spuren: Ausland, 1890, 573 (nach Frazer).
Pferde werden behext, wenn man einen Nagel in ihre Fussstapfen steckt,
Sle können dann nicht von der Stelle (Süddeutschland): Wuttke, a. a. 0.
§ 392. Ygl. Bartsch, a. a. 0. II, 155. Hat man ein Pferd gekauft und
reitet darauf nach Hause, so muss man auf der ersten Fassspur, welche
dasselbe auf dem Gebiete des eigenen Dorfes macht, Erde nehmen und
nickwärts über die Grenze werfen, so kann es nicht behext werden
(Brandenburg): Wuttke, a. a. O. § 711. Um dem Pferde die Mücken zu
Vertreiben, leitet man es auf eine Wiese, schneidet den Fussstapfen mit
einem Messer heraus, wickelt das herausgeschnittene Grasstück vorsichtig
111 einen alten Lappen von eines Mannes Hemde und hängt denselben in
den Schornstein. Wenn das Gras vertrocknet ist, vergehen dem Pferde
(lie Mücken: Bartsch, a. a. 0. II, 155. Ein Nagel, in den Tritt geschlagen,
Iuacht das Pferd hinken : Grimm, D. M. III, 472, 473. Wird ein Stück
^ ieh lahm, so soll man den Rasen, worauf es mit dem kranken Beine
skeht, ausschneiden und auf eine Zaunstange hoch oben aufstecken (Nor-
wegen): Liebrecht, Zur Volkskunde, 316.
Wenn man die frischen Fussstapfen, welche der Dieb hinterlassen,
111 ein Säckchen thut und in den Schornstein hängt, so bekommt der Dieb
^ie Auszehrung (Hessen, Wetterau): Wolf, Beitr. I, 240. Grimm, D. M.
452 (im Saalfeldischen), Am Ur-Quell II, 126 (Holstein), Bartsch
a- a- 0. II, 334. Auch bei den Grossrussen gehört das Ausschneiden der
^Ussspur zu den beliebtesten Mitteln, durch die man einen Feind vernichten
kann. Will man diesen nur mit Unruhe und Beklemmung heimsuchen,
Sü legt man unter geheimnisvollen Beschwörungen den Abdruck in der
Wohnstube unter den Tragbalken der Decke; wenn es dagegen auf den
' od des Feindes abgesehen ist, verbrennt man ihn in der Stille der Nacht
der Badestube: Ausland, 1888, 697.
Von beiden Verehelichten muss der zuerst sterben, dessen Fusstritt
aiïl Altar nach der Trauung am meisten sichtbar ist (Thüring. Vogtld.)
°der bei dem diese Stelle feucht ist (Oberpfalz. Waldeck): Wuttke
d* a. 0. § 304. In der Fussspur schaut der Bruder, wie es dem Abwesenden
eigeht, je nachdem sie sich mit Erde, Wasser oder Blut füllt: Grimm,
44
Sartori:
Gre sell. d. d. Sprache I, 137. Aura. Zurückgehen in den eigenen Fuss-
spuren macht geistersichtig: Bartsch a. a. 0. II, S. 236.
Die Spur, welche ein Ehebrecher getreten, heisst eine quade; wer
hineintritt, dem wird dadurch etwas angethan (Ostfriesland): Kuhn und
Schwartz, Nordd. Sagen, 444. Ygl. Wuttke § 628. Wer in die Fuss-
stapfen eines Bären tritt, dem schält sich nach dem Glauben der Kamt-
schadalen die Haut von den Sohlen: Kohn-Andree, Sibirien u. d. Amur-
gebiet II, 191. In die im Stein zurückgelassene Fussspur des hl. Rat-
peronius setzte man gerne seinen Fuss, um nicht müde zu werden. Auch
in dem Kirchlein von Rethsee lag ein Stein mit einer ähnlichen Fussspur.
Wer seinen Fuss da hineinlegte, genas, er mochte, was immer für Fuss-
leiden haben: Birlinger, Yolkstüml. a. Schwaben, I, 409 f. Aus den
„Herrgottstritten" Christi auf dem Rosenstein und Scheuelberg pflegten
die abergläubischen Leute Augenwasser zu trinken: Laistner, Nebelsagen,
179. Wenn man im frischgefallenen Schnee Fussstapfen findet und in
denselben genau geht, so kann die Person, von der sie herrühren, nicht
mehr weiter, wenn sie eine Hexe ist (Iselthal) : Zingerle, Sitten des Tiroler
Yolkes, 66.
Endlich müssen wir auch der alten Sitte der Blutbrüderschaft hier
gedenken. Im nordischen Altertum pflegten zwei, welche Brüderschaft
schlössen, ihr Blut in die Fussspur rinnen zu lassen: Grimm, Gesch. der
dtschn. Sprache I, 137. In merkwürdiger Übereinstimmung übrigens
mit dem Gedanken, der jenem nordischen Brauche zu Grunde liegt,
schneidet der Basuto die Rasenerde aus, auf der sein Verbündeter sass,
hebt sie auf und hat damit eine Bürgschaft, dass jener treu zu ihm steht:
Ausland, 1890, 573.
2. Der Fuss befruchtet die Erde.
Wenn der Psalmist (65, 12) von seinem Gotte sagt: „Du krönest das
Jahr mit deinem Gut und deine Fussstapfen triefen von Fett", so mag
das eine poetische Ausdrucksweise genannt werden. Oder wenn es im
mecklenburgischen Aberglauben (Bartsch II, 160) heisst: „Des Herren
Fusstritt düngt den Acker; des Herren Fusstritt mästet das Yieh", so mag
man diesem Ausspruch eine rationalistische Deutung geben. Ygl. Roch-
holz, Naturmythen, 25. Zu Grunde liegt aber in beiden Fällen doch
eine Anschauung, die wir als eine echt volkstümliche bezeichnen müssen,
nämlich die, dass an den Fuss eine die Erde befruchtende, segenbringende
Kraft geknüpft wird. Wenn, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, an der
hinterlassenen Fussspur noch immer ein Teil des Wesens ihres Urhebers
haftet, so ist es folgerecht, dass die Spur eines freundlichen Dämons
Fruchtbarkeit, Glück und Heil, sowie die eines feindlichen Unsegen und
Unfruchtbarkeit zurücklässt: Creuzer, Symbolik IY, 56 f. Bachofen,
Yersueh über die Gräbersymbolik der Alten, 231. 389. Wo der Böse
Der Schuh im Volksglauben. 45
hintritt, wächst kein Gras: Seifart, Sagen a. Hildesheini II, 178, 87.
Möllenhoff, Sagen aus Schleswig-Holstein, 272 f. Die Fusstritte eines
Frevlers bleiben bis zum jüngsten Tage. Es bleibt kein Regen oder Schnee
darauf und kein Ungewitter tliut ihm etwas: Birlinger, Aus Schwaben
^ 274. Auf einer Wiese auf Amrum ist ein dürrer Ring, auf dem
Männer armen Waisenkindern den Acker abgeschworen haben. Kein
Tau und Regen fällt darauf und kein Korn wächst dort: Miillenhoff a. a. 0.
138f. Durch Hexentänze wird die Heide versengt: Schmitz, Sitten und
^agen des Eifler Yolkes II, 43. Wolf, Beitr. I, 250 (Nr. 605). II, 261.
fingerle, Sitten des Tiroler Yolkes, 63 (541), Tschischwitz, Nachklänge
germanischer Mythe in den Werken Shakespeares. Halle, 1865. 19. Bei
den Esthen darf kein Leichenzug über einen Acker gehen, wenn er auch
brach liegt: Grimm, D. M. III, 489 (36).
Wenn aber auf den Mulden ein Streif des fettesten Grases ist, sagt
ttian: da ist der Alber darüber gegangen. Denn der Alber (Almgeist)
hat schmalzige Fiisse und düngt durch sein Auftreten allein den Weg
(Burgeis): Zingerle 76 (629). Die Muttergottes-Schühlein heissen deshalb
s<>5 weil sie unter den Füssen der Muttergottes aufgeblüht sind und ihren
Schuhen ähnlich sehen (Unterinnthal): Ebenda 109 (936). Wo die
Jungfrau Maria hintritt, spriessen die schönsten Blumen aus der Erde:
^eifart, Sagen u. s. w. aus Hildesheim I, 19, sowie im italischen Märchen
Unter den Tritten der Heldin Veilchen und Lilien, in einem schwedischen
Kosen, während sie in einem wälschtiroler goldene Fussspuren hinterlässt:
^onzenbach, Sicil. Märchen, II, 225. Wo der Fuss des tanzenden (esth-
1 ^chen) Gottes Wanniemuine auf die Erde sprang, sprossten Blumen
hervor: Rochholz, Naturmythen, 26. Schon im Aitareya-Brahmana wachsen
Blumen unter dem Fusstritt hervor: Gubernatis, Die Tiere in der indo-
germanischen Mythol. 578. Yiele andere Beispiele namentlich aus deutscher
^age bringt Rochholz a. a. O., 25—30. Ygl. auch Grimm, D. M. I, 395.
Auch die vielfach vorkommenden Flurumritte, Saatgänse, Fackelläufe
, ? O O J
er die Felder u. dgl., über die so eingehend Mannhardt in den „Wald-
Ul>d Feldkulten" (namentl. I, 311—406, 534ff.) gehandelt hat, sind hierlier-
^ziehen. Wenn in ihnen, wie Mannhardt meint, durch den Wandelnden,
jantenden, Reitenden der Vegetationsdämon vertreten wird, so ist es doch
eben zunächst der Fuss, an welchen die befruchtende Wirkung geknüpft
In einigen dieser Gebräuche wird auch dem Fuss oder Beine eine
es°ndere Rücksicht zu teil. Im Nassauischen wird einem solchen Stell-
veitreter des Yegetationsdämons, dem „Schnak", ausser anderer Ver-
dünnung eine Schelle an das rechte Bein gebunden : Mannhardt a. a. O.
' ,j24. Zu Brunau in der Altmark heisst der Pfingstwettlauf auf der
ügstweide das Molitzlaufen. Der letzte wird nämlich Molitz genannt,
sich ein Strohband ums Knie binden und hinken, weil er sich an-
ís-blich ins Knie gehauen habe: Ebenda, S. 382. Sollte nicht das an-
46
Sartori:
geblich verletzte Knie auf die durch das Zuspätkommen beeinträchtigte
Befruchtungsfähigkeit deuten ?
Mitunter zeigt sich auch die befruchtende Kraft des springenden oder
tanzenden Fusses in einer Art von sympathetischer Wirkung in die (räum-
liche oder zeitliche) Ferne. Wenn die Mädchen am Fasching recht viel
tanzen, so wächst der Flachs hoch. Durch das Tanzen werden die Disteln
zusammengetreten (Mallebern in Niederösterreich). In Schlesien herrscht
die Sitte, dass die alten Leute zur Zeit des Kirchweihfestes um den
Stubenpfeiler herumspringen müssen, damit der Flachs gedeiht: Land-
steiner, Progr. v. Krems, 1869, 72. Wenn die Weiber auf Lichtmesse bei
Sonnenschein tanzen, sagt die Chemnitzer Rockenphilosophie, so gerät
ihnen der Flachs dasselbige Jahr: Grimm, Myth. III, 437 (78). Oft wird
uns bei Schilderung der Johannisfeuer berichtet, dass, so hoch die Springer
über die Feuer setzen, so hoch der Flachs oder das Getreide wächst.
Yon dem ebenfalls hierher gehörenden Beissen in die Zehe, dem
Abwischen der Fiisse, Stiefel, Schuhe bei der Ernte wird später die
Rede sein.
3. Glück und Segen knüpft sich an den Fuss.
Eine Anzahl abergläubischer Meinungen lehrt uns, dass man dem Fuss
allerlei günstige Kraftäusserungen, einen wirksamen Einfluss auf Glück und
Gedeihen in mancherlei Art zuschreibt. Weit verbreitet ist die Ansicht,
dass ein Missgelaunter Morgens mit dem linken Fusse zuerst aus dem Bette
gestiegen sein müsse, oder dass man in diesem Falle für den Tag Un-
glück haben werde: Bartsch II, 133 (572). Beim Ausgehen setze man den
rechten Fuss zuerst vor die Thür (Pforzheim): Grimm, D. M. III, 454
(591). Wer mit dem rechten Fuss zuerst in die Gerichtsstube tritt, ge-
winnt (Würtemberg): Ebenda, 457 (671). Wenn hierbei auch auf das
Rechts und Links Gewicht gelegt wird (siehe darüber Grimm, Gesch. d.
d. Sprache II, 980ff. Liebrecht, Zur Volkskunde, 339f.), so bleibt doch
das in beiden Fällen Wirksame eben der Fuss. Ein gebrauchtes Fussbad
soll nicht eher als den andern Tag ausgegossen werden, man giesst sonst
das Glück mit weg: Grimm, D. M. III, 445 (350). Hat einer Fieber, so
gehe er an einen Fluss, tauche den rechten Fuss ein und und spreche
eine vorgeschriebene Formel, dann geht das Fieber fort (Swinemünde):
Kuhn und Schwartz, Nordd. Sagen, 439. Wer ein Überbein hat, muss
eine schwangere Frau darauf treten lassen, so vergehts (Stendal): Ebda.,
463. Ein neugeboren Knäblein stosse man mit den Füssen an seines
Vaters Brust, so nimmt es nimmer kein bös Ende: Grimm, D. M. III, 438
(132)x). Bei den Esthen wird das neugeborene Kind den Händen dei"
1) Wenn es dagegen heisst, dass ein Kind nicht wächst, wenn man über dasselbe
schreitet (Grimm, D. M. III, 436; so auch im altmexikanischen Glauben: Liebrecht, Zur
Der Sclmh im Volksglauben.
47
Mutter nicht sogleich übergeben, sondern erst vor ihre Fusse gelegt, damit
ihr linker Fuss des Kindes Mund berühre. Dann wird es nicht wider-
spenstig werden: Ebda. 488 (27). Wer Hund, Katze, Henne kauft, drehe
sie dreimal Um sein rechtes Bein, so gewöhnen sie gut ein: Ebda. 474
(1061). Stirbt einem esthnischen Bauern in der neuen Wohnung zuerst
em Tier mit rauhen Füssen, so ruht Segen auf dem Haus; ist es aber ein
Geflügel mit unbedeckten Füssen, so wird er traurig, fürchtet Armut und
Rückgang in seinen Unternehmungen: Ebda. III, 491 (95).
Ist nicht auch die Meinung, dass man einem andern auf den rechten
(oder linken) Fuss treten und über die Schulter sehen müsse, um geister-
sichtig zu werden, hierherzuziehen? Ygl. Grimm, D. M. II, 927, III, 320.
Meier, Schwab. Sagen 513 (439).
Noch eine andere eigentümliche Sitte möchte aus der segenbringenden
Wirkung, die man dem Fusse zuschreibt, zu erklären sein. Mannhardt
beschreibt in den „Wald- und Feldkulten" 1, 251 if. unter der Über-
schrift: „Der Schlag mit der Lebensrute" eine Reihe yon Gebräuchen,
nach denen an bestimmten Tagen Menschen oder Tiere mit einem grünen
Zweige oder Stocke geschlagen werden, um gesund oder kräftig zu werden.
'Hese Schläge treffen namentlich Hände und Füsse (vgl. 262f., 268f., 280,
-98), wie Mannhardt meint, weil diese die zur Arbeit unentbehrlichsten
Glieder des Menschen sind und daher vorzugsweise für ihre Verrichtungen
kräftig und tüchtig gemacht werden sollen. Wahrscheinlich ist aber nach
(lem Yorhergehenden der Grund der, dass Fuss (und Hand) zuerst durch
('en „Schlag mit der Lebensrute" vor feindlichen Dämonen gesichert
Werden müssen, weil sie in erster Linie, und zwar auch ohne besondere
Arbeit, Segen und Gedeihen vermitteln1).
Vielleicht können wir nun auch die Frage Grimms (D. M. II,. 942)
beantworten: weshalb eines Hinkenden Angang für übel galt? Ygl. Bir-
linger, Aus Schwaben I, 376. Wenn an den Fuss Gedeihen und Segen
geknüpft war, so musste eben die Verletzung oder Schwächung des Fusses
aUch Einbusse des Glückes bedeuten. Übrigens herrschte jener Glaube
auch bei Griechen und Römern: Ygl. Lucian, pseudolog. 17. Seneca,
^ °lkskunde, 349, 14), so gehört das zu einer anderen Art von abergläubischen Meinungen,
Welche das Zählen und Messen verbieten.
1) Für die segenbringende Wirkung der Hand seien hier nur folgende Beispiele an-
geführt: Das Zusammenschlagen der Hände dient bei Verzauberungen: Grimm, D. M. II,
'■ Durch Handauflegen wird gesegnet: Ebda. I, 110. Welcher Teil während der
rauung die Hand oben hat, bekommt in der Ehe die Meisterschaft: Ebda. III, 453 (560).
er jüngste von sieben in unmittelbarer Folge geborenen Söhnen ist ein geborener Arzt
hat nicht erst nötig, diese Kunst zu lernen. Allen Schaden kann er mit Berührung
^ei Hand heilen und alles, was er anfasst, gedeiht: Bartsch, Sagen aus Mecklenburg Ii,
(49). Wenn ein Hengst eine Stute decken soll, so gelingt es nicht, sobald jemand
abei steht, der die beiden Hände in die Hosentaschen gesteckt hat: Ebda. II, 155 (707).
§!• noch Liebrecht, Zur Volkskunde, 491. Bachofen, Gräbersymbolik, 173—lb4.
48
¡Sartori :
controY. Y, 33. Plin. H. N. 28, 4, 7. Schwarz, Progr. des Realgymnas.
von Celle, 1888, 48 f.1).
Aus demselben Grunde ist auch das Anstossen und Straucheln mit
dem Fusse ein ungünstiges Vorzeichen nicht nur im klassischen Altertum
(vgl. Schwarz a. a. O. 35, Anm. 1), sondern auch im deutschen Volksglauben:
Wuttke, a. a. 0. § 317. Grimm, D. M. II, 940.
4. Aphrodisische Kraft des Fusses.
Ganz seltsam und schwer erklärlich ist nun endlich der Glaube, dass
dem Fuss (oder Bein) auch eine sozusagen animalische Zeugungskraft
innewohne. Beispiele der Vorstellung von Geburten aus dem Beine giebt
Liebrecht, Zur Volkskunde, 490f. (Dionysos, Hephästos, Ymir u. a.). Ob
er mit seinem Hinweis, dass die Fülle des Oberschenkels dem schwangeren
Mutterleibe ähnelt, auf den richtigen Weg der Erklärung leitet, muss
dahingestellt bleiben. Jedenfalls erkennt man, was es zu bedeuten hat,
wenn man in Ditmarschen von schwangeren Frauen sagt, sie seien „grossföt"
oder „kesföt", oder wenn man die Bettlägerigkeit entbundener Mütter den
kleinen Kindern durch die althergebrachte Redensart motiviert: „Der
Storch hat die Mutter ins Bein gebissen." Das Wochenbett wird nämlich
im Anschluss an alte Vorstellungen als eine Krankheit am Bein dargestellt:
Liebrecht a. a. 0. 491. Rochholz, Alemannisches Kinderlied und Kinder-
spiel 127 f. Im Mittelalter sollen Weiber mit langen Füssen als besonders
fruchtbar gegolten haben : Karl Meyer, Der Aberglaube des M. A., 37. Um
fruchtbar zu werden, stecken junge Frauen ihren Fuss in eine heisse
Quelle in Baden im Aargau. Ebenso ist bei der Quelle Groosbeck zu
Spaa ein Fusstritt ausgehauen, in den sich unfruchtbare Frauen stellen,
um den heiligen Remaclus anzurufen: Wolf, Niederl. Sagen 227. Roch-
holz, Schweizersagen a. d. Aargau, I, 15.
Einige merkwürdige Gebräuche scheint jener Glaube bestimmt zu
haben. Der Kirchgang der Sylter AVöchnerinnen wurde in folgender
Weise begangen: Die Kirchgängerin war durch Kleidung und Gangart
von den übrigen Kirchleuten abgesondert. Sie trug einen grünen und
einen roten Strumpf, nach anderen einen grünen und einen gelben. Ausser-
dem war der Gang der Wöchnerin eigentümlich. Durch Nachstellen des
einen Fusses wurde es ermöglicht, zwei Schritte mit einem Fusse in der
Richtung der Länge des Fusses zu machen, alsdann wurde der nach-
gestellte Fuss vorgestellt, der andere nachgezogen und jener wieder vor-
gesetzt, worauf dann der erste Fuss mit seinen zwei Schritten an die
Reihe kam. Die Gangart ist also dem Kiebitzgange nicht unähnlich ge-
wesen, den wir unseren freiübenden Kindern einzuprägen suchen; sie
1) Auch bei den Griechen bringt der Fuss Segen: Sopb. Antig. V. 1115: fiohïv
xafiagalo) jioöi. Weniger, Progr. von Weimar, 1883, 8.
Der Schuh im Volksglauben.
49
'wurde das „Hünbeiern" genannt und galt als Ausdruck der Freude über
den glücklich erlebten Kirchgang. Den wahren Grund giebt aber wohl
die Sitte auf Föhr an. Hier musste die Kirchgängerin während des Ge-
sanges nach der Predigt in Begleitung einer anderen Frau aus der Ver-
wandtschaft, z. B. der Schwester, um den Altar herumgehen und auf den-
selben ein Opfer legen. Sie musste dabei langsamen, gemessenen Schrittes
Sehen, anderenfalls, so hiess es, würde bald wieder ein Kind folgen; von
Ederen Frauen wurde genau auf den Gang geachtet: Jensen, Die nord-
friesischen Inseln, 230f. Auch hier sehen wir also den Fuss als ein der
Fruchtbarkeit förderliches Organ behandelt. — Wenn bei einigen nord-
Ungarischen Zigeunerstämmen Braut und Bräutigam vor dem Gange zur
Trauung sich gegenseitig die linke Fusssohle mit ihrem Blute einschmieren
(Am Ur-Quell, III, 93), so soll diese Ceremonie doch wohl der Frucht-
barkeit Vorschub leisten. Ebenso, wenn in Sigmaringen zu Fastnacht
Jedem Neuvermählten des verflossenen Jahres am Marktbrunnen die rechte
^ussspitze gewaschen wurde: Birlinger, Volkstümliches a. Schwaben, II, 45.
Mannhardt, Wald- und Feldkulte, I, 489.
Wenn eine Schwangere über die Schwelle tritt und den rechten Fuss
vorsetzt, so ist das ein Zeichen, dass sie mit einem Knaben geht (Süd-
Westfalen): Woeste im Jahrb. d. Ver. für niederdeutsche Sprachforschung,
1877, 146. Vgl. Ztschr. f. dtsche. Mythol. III, 314f. Dagegen glauben
Spanier und Portugiesen, dass ein Mädchen zu erwarten ist, wenn die
^ rau mit dem rechten Fusse den ersten Absatz der Treppe betritt; ge-
schieht es aber mit dem linken, so wird ein Knabe geboren werden.
Ahnliches treffen wir in llocos auf Luzon; nur heisst es da, wenn eine
Schwangere mit dem rechten Fusse beim Verlassen des Bettes zuerst
auftritt, wird sie mit einem Knaben niederkommen, berührt aber zuerst
Jhr linker Fuss die Erde, dann ist ein Mädchen in Aussicht: Globus,
48, 200.
Am Andreasabend binden sich Mädchen einen Heller auf die grosse
^ehe, setzen sich an den Kirchweg und schauen unter den Frühmett-
gängern nach ihrem Bräutigam: Grimm, D. M. III, 470 (965). Ziemlich
Verbreitet ist der Gebrauch, dass in der Andreasnacht die Mädchen den
blossen Fuss auf die Bettstatt setzen, um ihren künftigen Liebsten zu
sehen. Bei den siebenbürgischen Sachsen sprechen sie dazu: „Bettstatt,
lc.h tritt dich, heiliger Andreas, ich bitt dich, lass mir heint Nacht er-
scheinen den allerliebsten meinen!" Mätz, Progr. v. Schässburg, 1860, 22.
Ahnlich am Oberharz: Wolf, Beiträge I, 122. Im Isergebirge stossen
(be Mädchem zu gleichem Zweck mit der grossen Zehe an die untere
^ettwand: Ain Ur-Quell, I, 100. Ähnlich ist das „Bettstaffeltreten" in der
^'oinasnacht in Niederösterreich: Ebda., 109 f. Vgl. Leoprechting, Aus
d- Lechrain, 205.
Ze'tschr. d. Vereins f. Volkskunde, 1894. 4
50
Sartori :
Wenn Bräutigam lind Braut am Hochzeitstag einen dreiköpfigen Böhmen
(eine Münze) unter die rechte Fusssohle legen, haben sie Eheglück: Grimm,
D. M. III, 474 (1050). An manchen Orten in Esthland laufen die jungen
Eheleute Hand in Hand mit grösster Geschwindigkeit aus der Kirche, um
einen schnellen Fortgang ihrer Verrichtungen zu bewirken: Ebda. 487 (4).
Fällt die Braut, nachdem sie abgeholt worden, unterwegs, so bedeutet
das den frühen Tod ihrer drei oder vier ersten Kinder: Ebda. (5). Bei
schweren Entbindungen fördert es, wenn der Ehemann über sein Weib
steigt: Ebda, 488 (21). Niemand aber darf über den Fuss schwangerer
Weiber treten, die Kinder bekommen sonst krumme, ungestalte Fiisse:
Ebda. (26). Eine Kreissende lasse eine reine Jungfrau über sich hin-
schreiten und die Jungfrau in währendem Uberschreiten ihren Gürtel
auf die Kreissende fallen, so genest diese alsobald: Ebda. 447 (410).
Wenn es endlich heisst: „Ein Kind zu entwöhnen, setze es die Mutter in
die Stube und stosse es mit dem Fusse um, so vergisst es der Mutter
desto eher", ebda. 441 (205), so scheint auch das auf einen ursprünglichen
Zusammenhang zwischen dem Kinde und dem Fusse hinzudeuten, der nun
eben durch die Entwöhnung gelöst werden soll.
Yon dem Tritt auf den Fuss bei der Yerlobung und Vermählung soll
später die Rede sein.
A. Der Schuh als Symbol der Fruchtbarkeit und des Segens.
I. Schuh und Vegetation.
Es soll im folgenden nachgewiesen werden, dass die ursprünglich dem
Fusse innewohnende Kraft in sehr vielen Fällen auf seine Bekleidung;,
o*
Schuh, Sandale, Strumpf u. s. w. übergegangen ist. Betrachten wir zunächst
einige Beispiele, in welchen dem Schuh eine Wirkung auf die vegetative
Fruchtbarkeit zugeschrieben wird.
Herodot berichtet (II, 91), dass in einem Tempel der ägyptischen Stadt
Chemmis eine von Perseus getragene, zwei Ellen grosse Sandale sich be-
finde; wenn diese sichtbar werde, sei ganz Ägypten gesegnet. Dieser
Perseus ist nach Brugsch und Stein zu dieser Stelle der ithyphallische
Hor-Min, ein Dämon der Fruchtbarkeit.
Wenn Isis, die Göttin des Ackersegens und Fruchtüberflusses, von
Nonnus die „schönbeschuhte" genannt wird, (Bachofen, Gräber Symbolik
der Alten, 231, Anm. 1), so ist darauf wohl nicht allzu viel Gewicht zu
legen. Wenn wir aber auf einem römischen Stein zwischen dem Bilde
von zwei Fussstapfen oder Sandalen die Worte: „Isidi fructiferae" lesen,
so müssen wir diese Worte doch wohl mit Creuzer (Symb. IV, 57) für
eine Erklärung dieses einfachen Sinnbildes halten. Vgl. jedoch die anderen
Der Schuh im Volksglauben.
51
Deutungen in Roschers Lexikon der griechischen und römischen Mytho-
logie II, Sp. 526 ff.1).
Ein interessantes Beispiel liefert uns Plutarch (Quaest. Graec. XII)
dem Mythus von der delphischen Charila. Ygl. Bötticher, Der Baum-
kultus der Hellenen, 84. Usener im Rhein. Mus. N. F. XXX, 182 ff.
Roscher, Lexik. I, Sp. 872 f. nnd 1044. Der ennaeterische Cyklus der
Delpher schloss ab mit folgendem Gebrauche: Auf dem Ehrenplatz sass
der Basileus und verteilte an alle Anwesenden Mehl und Hülsenfrüchte.
Dann wurde ein kindliches Bild der Charila herbeigebracht, der Basileus
schlug dies mit seiner Sandale, darauf brachte die Führerin der Thyiaden
es in eine Schlucht, man legte ihm einen Strick um den Hals und begrub
es dort. Die zur Erklärung von Plutarch überlieferte Legende ist offenbar
späteren Ursprungs. Mit der symbolischen Beerdigung selbst aber vergleicht
Usener richtig den bei germanischen und slavischen Yölkern verbreiteten
ßrauch des Austreibens, Yergrabens, Ersäufens, Yerbrennens des Winters.
»Man schloss eine abgelaufene Periode ab und trug sie zu Grabe." Zu-
gleich aber soll, wie es bei ähnlichen Bräuchen nicht selten vorkommt
(vgl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, 418f., II, 298), auch die künftige
Fruchtbarkeit der Yegetation im voraus gesichert werden. Und dazu diente
eben in unserem Falle das Schlagen mit der Sandale, dem Symbol der
Fruchtbarkeit, wodurch die der Befruchtung hinderlichen Kräfte vertrieben
Werden. Ygl. Mannhardt a. a. 0. I, 251 ff. (Der Schlag mit der Lebensrute)
Und Mythol. Forsch, 113—115.
Wenden wir uns nun zum deutschen Brauch und Glauben. Auch hier
zeigt sich ein Yegetationsgeist in einer gewissen Beziehung zum Schuh,
der hl. Nikolaus. In diesem haben wir nach Mannhardt, W. F. K. II,
184fì'. Anm. nicht so sehr einen Rest Wodans zu sehen (obgleich sich
Züge desselben an ihn geheftet haben mögen; vgl. Meyer, German. Mythol.
257 f.) als vielmehr eine Personifikation des Kalendertages (6. Dezember),
die mit dem um die Wintersonnenwende wieder ins Land einziehenden
Vegetationsdämon verschmolzen ist. Er wird begriisst durch das Symbol
der Fruchtbarkeit, den Schuh, in den er zum Zeichen künftigen Segens
Apfel und Nüsse legt, während umgekehrt sein eigenes Pferd aus diesem
^chuh Nahrung erhält. An den meisten Orten in Brabant putzen die
Kinder am Nikolausabend selbst ihre Schuhe und stellen sie in die Nähe
der Eltern am Schornstein oder Herd auf, damit der Heilige bei seiner
nächtlichen Luftfahrt etwas hineinwerfe. Sie sorgen auch, dass Hafer und
1) Ob auch die Schuhe des Jason, von denen übrigens erst bei Apollon. Rhod. und
■^-pollodor der eine im Schlamm stecken bleibt, hierher zu ziehen sind (Bachofen, Gräber-
'^'mbolik, 281, 389), lässt sich bei der Unsicherheit, welcher die Deutungen des Helden
selbst bis jetzt unterliegen, nicht sagen. Nach einem Fragment des Euripides (Nauck
5°4) pflegten die Ätoler bei kriegerischen Unternehmungen den linken Fuss unbeschuht
lassen.
4*
52
Sartori :
Heu in den Schuhen stecke, welches für sein Pferd oder seinen Esel be-
stimmt ist: Ztschr. f. deutsche Mythol. I, 177 f. Ygl. Wolf, Beitr. z. dtschn.
Myth. II, 115. In der Grafschaft Mark und Homburg versammeln sich
die Kinder am Abend.vor dem Niklastage, und jedes hat einen seiner
Schuhe mit Hafer gefüllt. Dieser wird auf eine grosse Schüssel geschüttet,
um das Pferd des hl. Nikolaus, der in der Nacht vom 5. auf den 6. De-
zember anlangt, damit zu füttern: Grimm, Kinder- und Hausmärchen II,
XLIH. Wenn in Österreich der hl. Niklas zu den Kindern kommt, sagt
er zu ihnen:
Wiarsd' oardla sain?
Schdehl daine Schuch in Hain,
siach das ka Schnee n'eifält
und siach n'aus, waans zehn hoast zölt.
Wenn er dann fort ist, werden schnell die Schuhe von den Füssen
gezogen, abgebürstet und mit den Schuhbändern zusammengebunden.
Alsdann schleicht der mutigste Knabe zur Hausthür, horcht, ob er das
Glöcklein noch höre, uud stellt dann behutsam seine Schuhe hinter ein
Gesträuch im Garten, wo er den Schnee fleissig weggekehrt hat. Diesem
folgen nun seine übrigen Geschwister und stellen ihre Schuhe unter das-
selbe Gesträuch. Wenn es zehn Uhr schlägt, sieht man wieder nach und
findet die Schuhe mit verschiedenen Sachen, gewöhnlich mit Äpfeln,
Nüssen u. a. m. gefüllt: Yernaleken, Mythen etc. aus Österreich, 288 f. Für
Schleswig-Holstein nimmt Handelmann, Weihnachten in Schleswig-Holstein,
38, eine ähnliche Verwendung des Schuhes an. Auf Helgoland gehen die
Kinder am Nikolaustage zu ihren Yerwandten und Pathen und bringen
ihnen einen ihrer Schuhe, damit Sönner Klâs was hineinlege: Ortwein,
Deutsche Weihnachten, 39. In Ankum (Westfalen) bringt der Klausmann
den Kindern Naschwerk in ihre vor das Fenster gestellten Holzschuhe:
Grässe, Sagenbuch des preussischen Staates II, 847. In Meiderich (Reg.-
Bez. Düsséldorf) legen die Kinder ein dem Holzschuh nachgebildetes
„Kliimpke" auf ihren Teller, das sie gewöhnlich aus einer Wurzel oder
einer Rübe, aber auch wohl aus einem Stückchen Holz, Kreide u. s. w.
mit grosser Geschicklichkeit anzufertigen verstehen: Ztschr. d. Yer. f.
Volkskde. III, 92. Im Isergebirge binden die Kleinen ihre Strümpfe an
das Fenster, damit sie St. Nikolas gleich finde, wenn er füllen kommt:
Am Ur-Quell I, 102. In Italien wird der hl. Nikolaus durch die Fee
Befana (zunächst eine Personifikation des Epiphaniastages) ersetzt. In
Toskana und Rom legen die Kinder am hl. Dreikönigsabend vor Schlafen-
gehen ihre Strümpfe an den Kamin, durch den die Befana herabsteigen
soll, und wenn sie brav gewesen, finden sie am andern Morgen diese
Strümpfe mit den guten Geschenken, die sie sich gewünscht, gefüllt; stand
es anders um sie, so finden sie üble Dinge, Strafwerkzeuge u. dgl. : Usener
im Rhein. Mus. XXX, 197. Auch in die Stiefel bringt die Fee ihre
Der Schuh im Volksglauben.
53
Geschenke: Gubernatis, Die Tiere in der indogermanischen Mythologie,
^52. Anm. I1).
Auf die vegetative Fruchtbarkeit scheint die Verwendung des Schuhes
Vilich auch in einer ganzen Reihe germanischer Erntegebräuche hinzu-
deuten, die zusammengestellt und besprochen sind von Mannhardt, Mythol.
Forsch. 36ff. In der Umgegend von Soest werden dem zur Erntezeit am
Felde vorübergehenden Fremden mit einem Kornseile die Fiisse zusammen-
gebunden oder die Stiefel geputzt. Dasselbe geschieht allgemein in West-
falen , in der Rheinprovinz und in mehreren anderen deutschen Land-
schaften. An die Stelle der Kornhalme ist dann häufig ein Halstuch,
eine Schürze oder die ehrerbietig vom Kopf gezogene Mütze getreten.
Man spricht dabei:
„Dem Herrn zu Ehren, mir zu Nutzen
Werd' ich dem Herrn die Stiefel putzen."
Ausser den Fremden, die vorbeigehen, werden auch dem Mädchen, das
am ersten Erntetage das Frühstück aufs Feld bringt, also gleichfalls einer
nicht zum Erntepersonal gehörigen Person, die Schuhe mit einem Stroh-
wisch gekehrt und sie muss Getränk zahlen (Kreis Moers). Beim Hanf-
brechen nehmen die Mädchen den Vorübergehenden die Mütze vom Kopf
°der putzen ihnen die Stiefel mit Abfällen von Hanf (Kreis Saarlouis).
Kommt bei der Hopfenernte in Kent der Besucher des Gutsherrn zum
ersten Male aufs Feld, so wird ihm mit Hopfenblättern über die Stiefel
gewischt, wofür ein Trinkgeld erwartet wird.
Das Schuhabwischen ist zuweilen verbunden mit dem Beissen in den
¿eh. Wenn die Küchenmagd den Roggenmähern zum erstenmal das
Frühstück bringt, beisst ihr jeder Arbeiter in die Zehen (Grfsch. Limburg;
Herscheid, Kr. Altena; Aplerbeck, Kr. Dortmund). Wenn die Magd zum
erstenmale mit dem Essen zu den Schnittern aufs Feld kommt, droht ihr
der Baumeister (Oberknecht) mit der Sensenschärfe die Zehen- zu haaren.
Sie kann sich davon durch Branntwein lösen (Kr. Hamm, Reg.-Bez.
Arnsberg). Fremden, die das Ährenfeld oder die Dreschtenne besuchen,
Wischt man die Schuhe mit einem Alirenbüschel und beisst sie in die
Zehen (Kr. Meschede). Wahrscheinlich, weil um die Fastnachtszeit das
Vreschen auf den Bauernhöfen zu Ende ging, finden sich die vorstehenden
Gebräuche zuweilen auf Fastnacht und Ostern übertragen. Die Knechte
wischen den Mägden, die Mägde den Knechten die Schuhe ab, oder beide
1) Eine interessante Parallele aus dem griechischen Altertum wäre das Gerät, in
Welchem so oft auf Bildwerken Früchte als Weihegaben dem Baumheiligtum dargebracht
Verden, wenn es wirklich ein Schuh wäre. Vgl. Bötticher, Baumkultus der Hellenen, 67,
der jedoch darin „die schaufelartige Schwinge zur Reinigung des Getreides" Mxvov, vannus)
sieht, die selbst als Symbol der Segensfülle (jxvaxixòv rrjç Är¡u-r¡zqíov rootpyjç m/fu-Iov) ge-
golten haben soll. Könnte aber dieser Korb nicht einem ursprünglich zur Verwendung
gekommenen Schuh nachgebildet sein?
54
Englert:
Geschlechter beissen sich gegenseitig in die Zehen (Assinghausen). Am
Fastenmontag bürsten die Mägde den Knechten die Ftisse, Tags darauf
schneiden die Knechte den Mägden die Socken von den Strümpfen und
beissen ihnen dabei wo'hl auch in die Zehen (Alten-Hunden), während in
der Grafschaft Mark am Fastnachtsmontag die Mannsleute von den Weibs-
leuten, am Dienstag die letzteren yon den ersteren in die Zehen gebissen
werden1). In Yorkshire in England rauben die jungen Leute den Mädchen,
am Ostermontag die Mägde den Burschen die Schuhe oder Schuhschnallen,
falls sie nicht mit einer Gabe sich lösen. Ygl. noch Kuhn, Westfälische
Sagen II, Nr. 385, 386, 388, 524.
Die Person, an welcher diese Gebräuche vollzogen werden, ist nach
Mannhardt im ursprünglichen Glauben ein Repräsentant des Korndämons.
Die Ceremonie selbst soll der Überrest einer symbolischen Darstellung
des den Fuss der Halme treffenden Kornschnittes sein, das Zehenbeissen
bedeutet das Einbeissen der Sense in den Körper des Korngeistes. Mann-
hardt selbst erkennt aber an, dass jener Korngeist zugleich als zeugerisch
gedacht wird. Wir werden also wohl annehmen dürfen, dass der Bevor-
zugung des Fusses und seiner Bekleidung in jenen Gebräuchen vielmehr
der Glaube an die befruchtende Kraft jenes Gliedes zu Grunde liegt.
Das Wischen, Beissen u. s. w. würde dann auf eine Stufe zu stellen
sein mit den schon öfter erwähnten Gebräuchen, in denen Schlagen,
Streichen u. s. w. die der Fruchtbarkeit feindlichen Kräfte verscheucht und
dadurch das künftige Gedeihen fördert („Schlag mit der Lebensrute").
(Fortsetzung folgt.)
Wiegenlieder aus dem Spessart.
Von Anton Englert.
I.
a) Haie bobaie, die Nunne
Hömmer2) das Kindle genumme,
Hümmers genumme un nimmer gebrocht.
Was hâwwe die Nunne fer Sache gemacht!
Röttbach. Mündlich.
1) Noch in jüngster Zeit kam dies gegenseitige Zehenbeissen in Büeke bei Soest vors
Dortmunder Schwurgericht. Dortmunder Zeitung vom 18. Oktober 1892.
2) Haben mir; hömmers haben mir es.
Wiegenlieder aus dem Spessart.
55
b) Haie bobaie, die Nunne
Höiwe1) ma Kindle genumme,
Höiwes genumme un nümmer gebracht.
Was höiwe die Nunne für Sache gemacht!
Steinmark. Mündlich.
c) Haie bobaie, die Nunne,
Hast mer mei Kindle genumme,
Hast merseht) genumme un nemmer gebrächt.
Hast mich no recht dezu augelâcht3). Hafenlohr. Mündlich.
d) Haie bobaie, die Nune
Hömmer mei Kindle genuine,
Hömmersch genuine un nemmer gebrächt,
Wünsch i mein Kindele e gurte Nâcht.
Berg Rothenfels. Mündlich.
e) Haio bobaio, die Nunne,
Die ho we mei Kindle genumme,
Die howe mei Kindle wiedergebracht,
Potztausend, potztausend, was howi4) g'lacht!
Partenstein. Mitg. yon Herrn Lehrer Jörg.
/) Haie bobaie, die Nunne
Hömmer mei Kindle, genumme,
Hömmersch genumme un nimmer gebrächt.
Wâs hawwe die Nunne für Händel gemacht!
Lohr. Mündlich.
y) Haie bobaie, bobole,
Sie hawwe mei Kind geschtohle,
Sie hawwes geschtohle und nimmer gebracht.
Was hawwe die Leute for Händel gemacht!
Lohr. Mündlich.
IL
o) Haio bobaio, die Nunne, b) Aie bobaie, die Nünnerchen
Die bringe meïm Kindele Blumme, Bringe meîm Kindche Bliimmerchen,
Die bringe meïm Kindele Veilche, Und e Stengele Rosmarein,
Dass es muss geschweige. Das mein Kindele schläfert ein.
Partenstein. Mitg. von Ruppertshütten. Mündlich.
Herrn Lehrer Jörg.
c) Haio bobaio, die Ninnercher
Bringe meïm Kindche Blimmercher,
Blimmercher un Rosmareï,
Solle meï Kindche schiefern eï.
Aschaffenburg. Mündlich.
1) haben; höiwes haben es.
2) mir es.
3) ausgelacht.
4) habe ich.
5) - Sachen.
56
Englert:
III.
c) Haie bobaie bobole,
a) Haie bobaie bobole, . S Herrgottche werd dich schon hole,
Der liebe Gott wird dich scho hole Mit sam griene Lädche
Mit dem silberne Läppchen, Pihrt er dich ens Gräbche,
Mit dem goldene Kräppchen. Do kumme die Engelchen allzugleich
Ruppertshütten. Mündlich. Un fihrn dich nei ens Himmelreich.
Unterafferbach. Mitg. von
b) H aio bobaio bobole, Herrn A. Bott, st. phil.
Der liebe Gott wird dich schon hole
Mit seine silberne Lädche '), d) Haie bobaie, na Bole,
Kommt miteinander ins Gräbche, Der liebe Gott wird dich scho hole
Kommt miteinander ins Himmelreich, Mit seïm goldne Schlietlea),
Wo sind die Engel allsogleich. Nehm dei Mütterle mietle3),
Partenstein. Mitg. von Setz dei Yätterle owwe druff
Herrn Lehrer Jörg. Und fohrt minanner in Himmel nuff.
Frammersbach. Mündlich.
e) Sile sile sole,
Die Engel wolle dich hole
Mit dem göldne Schlietche,
Setz dich hinne druff
Un fohr als gegem Himmel nuff.
Weibersbrunn. Mitg. von Herrn Y.Roth, st. jur.
Bemerkungen.
Zu I und II. Über die in I und II vorkommenden Tünnen,
mundartlich Ninne (Dim. Nünnerchen, Ninnercher) giebt eine inter-
essante Sage mit dem Titel „Die Masskanne" in A. Herrleins „Sagen des
Spessarts" (Aschaffenburg 1851, 2. Aufl. 1885) Aufschluss. Hier begegnen
uns die „Nunnen" als Wasserweibchen, welche in einem Brunnen (Weibers-
brunn en, zwischen Eschau und dem Kloster Himmelthal) wohnen. In
alten Zeiten kamen sie oft aus dem Brunnen und gingen mit den Menschen
um. Sie schenkten den Kindern schöne Blumen, und im Winter kamen
sie unversehens in die Spinnstuben und sangen mit den Burschen und
Mägden, bis die Glocke zwölf Uhr schlug. Dann gingen sie ebenso schnell
wieder fort, als sie gekommen waren. Niemand aber durfte sie fragen:
woher oder wrohin? sonst kamen sie lange Zeit nicht wieder ins Dorf.
Manchmal gaben sie auch einem Sonntagskind einen Ring; wenn das den
1) Lädche = Totenlade. Es sollte wohl der Singular stehen wie in c und d.
2) Schlittchen.
3) Kose-Diminutiv von „mit". In meiner Heimatstadt Aschaffenburg kann man solche
Verkleinerungsformen häufig hören. Z.B. „Grell' sehe langsamche!" oder „Soche!"
— „So!" oder „So ist's recht!" „Soche" wird sogar Erwachsenen gegenüber nicht selten
gebraucht.
Wiegenlieder aus dem Spessart.
57
Ring drehte, mussten sie kommen und nach seinem Begehr fragen; wenn
nian aber zwischen 12 Uhr nachts und dem Hahnenschrei dies versuchte,
so war die Nunne verloren.
Auf der Agneshöh, so berichtet die Sage weiter, wohnte eine Gräfin,
die rückte ihren Ring einmal, als es schon zwölf geschlagen hatte, weil
ihr Kind krank geworden war und die Nunne ihm einen Trank bereiten
sollte. Dieselbe kam zwar und half dem Kinde, aber sie war sehr traurig
und sagte: Jetzt muss ich sterben, und als sie aus dem Schloss gegangen,
hörte man grosses Wehklagen und Wimmern in der Luft und des andern
Tags sah man auf dem ganzen Weg vom Schloss bis an den Brunnen die
hellen Blutstropfen, einen an dem andern.
Zu selbiger Zeit wohnte auch eine Müllersfrau im Kloster, die hatte
ein kleines Töchterchen, Kathrinchen genannt, und wenn sie das Kind
einschläferte, so sang sie, wie heutzutage noch die Frauen thun:
Heio popeio, die Nunne,
Die bringe mei'ni Kathrinche Blume*).
Das hören die Nunnen gern und sie hatten das Kind lieb, brachten
ihm Blumen und spielten mit ihm — und als das Mädchen gross wurde,
Ward es auch sehr schön und sittsam.
Den Hauptinhalt des Folgenden gebe ich in Kürze wieder:
Das Mädchen heiratet den Sohn eines Schiffers. An ihrem Hochzeits-
tage kommt die Nunne zu ihnen und schenkt ihnen eine grosse schöne
Masskanne von Silber. Damit sollen sie täglich ihren Abendtrunk aus
dem Brunnen schöpfen, niemals aber sollen sie die Kanne zweimal füllen.
Wie sie die Kanne am andern Tage füllen und trinken, da zeigt es sich,
dass es köstlicher Wein ist. Lange Zeit thun sie, wie ihnen die Nunne
befohlen, bis sie eines Tages ein Musikant, der lustige Eckart geheissen,
überredet, das Gefäss ein zweites Mal zu füllen. Dies gereicht ihnen allen
zum Yerderben.
Wer sind nun die Nunnen der vorliegenden Sage und der obigen
Kinderliedchen? Verschiedene Züge lassen uns dieselben als die Schicksals-
schwestern erkennen, die ja auch anderweitig unter dem Namen Nonnen
vorkommen2), was aus Nomen entstellt sein kann. Ygl. Simrock, Handb.
d. deutsch. Myth., 4. Aufl. S. 350 und Panzer, Bayr. Sag. u. Br. I, S. 282f. Als
Schicksalsgöttinnen bezeichnet unsere Nunnen zunächst der Umstand, dass
sie in einem Brunnen wohnen (vgl. Panzer I, S. 277ff. u. Grimm, Deutsche
1) Der Herausgeber führt in Anmerkung eine Variante aus Aschaffenburg an, welche
der in II¿ oben ganz ähnlich ist.
2) Auch Nonne = Klosterfrau lautet in der Mundart Nunne. — Bei dieser Gelegen-
heit sei bemerkt, dass unter den sieben Nuna in den oberfränkischen Johannisfeuer-
liedern Panzer I, S. 216 ff. Nr. 243, 246 und 247 wohl auch die Schicksalsschwestern zu
verstehen sind, worauf besonders die Stelle in Nr. 247 hindeutet: „sieben Nuna Bschern
ein alten Brunna."
58
Englert:
Myth., 4. Ausg. I, S. 337 u. 344), ferner dass sie nächtlicher Weile die
Gesellschaft der Menschen aufsuchen und den Gesang lieben, sowie dass
ihre verspätete Rückkehr in der Nacht ihren Tod nach sich zieht, der
aus Blutspuren ersichtlich wird (vgl. Panzer, I, S. 279f.), endlich dass sie
als Freundinnen der Kinder erscheinen, die sie mit Gaben ausstatten (vgl.
Grimm, I, S. 341, 345; III, S. 116). Vielleicht mag auch noch in Betracht
kommen, dass die Nunne in unserer Sage den jungen Eheleuten ein Ge-
schenk überreicht (vgl. Panzer, I, S. 281).
Yon den oben unter I mitgeteilten Wiegenliedern sind c und g offen-
bar aus der in a, d und f vorliegenden Fassung verdorben. Wenn in
diesem Liedchen die Mutter dem Kinde, das nicht einschlafen will, mit
den Nunnen droht, so erinnert das an eine ähnliche Drohung bei Panzer
I, S. 59: „Wollte uns Kinder Frau von Donnersberg zum Fleisse und zur
Ruhe ermahnen, so sagte sie: Seid ruhig, Kinder, und lernt, sonst kommt
die Böse und bindet euch an das Seil, und die Guten ziehen", was sich
auch auf die Schicksalsschwestern bezieht.
Auch ausserhalb des Spessarts kommen Varianten von I und II
vor. So teilt mir Herr J. Blum die folgenden Fassungen aus Seligen-
stadt a. M. mit:
(Zu I.) (Zu II.)
Haio bobaio, die Nunne, Haio bobaio, die Nünnercher
Die hawe mei Kinnche gefunne, Bringe mam Kinnche Blümmercher,
Sie hawes gefunne und widder gebracht, Blümmercher und Rosmareì,
Do hot se mei Kinnche recht ausgelacht. Solle mei Kinnche schläfern eî.
Auch in Kehreins Volkssprache in Nassau II, S. 79 findet sich eine
Variante zu II:
Schlaf, Kindchen! Nünnercher
Brechen dem Kindchen Blümercher,
Brechen ihm ein Körbchen voll,
Dass das Kindchen schlafen soll.
Kehrein fasst „Nünnercher" als Verkleinerungsform von „Nonnen"
(= Klosterfrauen) auf. Auch im Spessart begegnete ich da, wo ich nach
der Bedeutung des Wortes fragte, stets derselben Auslegung. Ob wohl
die richtige Auffassung noch irgendwo im Volke anzutreffen ist?
In einem Wiegenliedchen aus der Grafschaft Tambach in Oberfranken,
bei Firmenich, Germ. Völkerst. II, S. 403, kommt der Anfang von I in
entstellter Form vor. Das Liedchen lautet:
Heia Puppeia, die Nunna,
Ho ich ä Michele funna;
Heia Puppeia, Wiegenstroha,
Schlöft mei Michele, bin ich froha.
Die zweite Hälfte des aus zwei Bestandteilen zusammengesetzten
Liedchens bildet ein auch im Spessart verbreiteter Wiegenreim.
Wiegenlieder aus dem Spessart,
59
Zu dem Wiegenliedchen I in der Form d findet sich auch in Öster-
reich eine Yariante. In den österreichischen Volksliedern von Ziska und
Schottky, Pesth 1819 (2. Aufl. 1844), steht auf S. 3 ff. ein zehnstrophiges
Wiegenlied, dessen erste Strophe beginnt:
Haid'], bubaid'l in guäda Ruä,
Druk daini schwarzbraun! Augerln zuä.
Die neunte Strophe dieses Gredichtes lautet:
Da Haid'l-bubaid'l') is kumma,
Und had ma main Kiiìderl wegg'numma:
A had mas wegg'numma, hâd's nimma bracht,
So winsch i main'm Kiñderl a guadi Nâcht.
Haid'l, haid'l!
Bubaid'l!
Zu III. Die Fassung a ist wohl arg entstellt. In e fehlt eine Zeile.
In der von Birlinger und Crecelius bearbeiteten Ausgabe von „Des Knaben
Wunderhorn" II, S. 735 finden sich drei Varianten2) des Liedchens, wo-
runter eine aus der WTetterau, eine andere aus Mörs. Die letztere stimmt
ziemlich mit d überein, die beiden anderen im Ganzen mit b und c. An
d reiht sich auch eine von Rochholz in seinem Alem. Kinderlied und Spiel
(Lpz. 1857) S. 303 mitgeteilte Fassung aus der Schweiz an. Sie lautet:
Nuni-nuni-soli:3)
Dass dich der Liebgott hole!
Uf em goldige Schütte
"Wem-mer z' Himmel rite.
Sitzt es Mueterli vorne zue,
Sitzt es Vater] i hinten ue;
Briegt es liebe Mütterli,
Fahre mer im Schlitteli,
Fahre mer in Reihe,
Butti-butti-heie.
1) In dem von den Herausgebern dem Buche beigegebenen Wörterverzeichnis steht:
„bubaid'ln, schlafen, schlummern. — haid'l, haiderin, schlafen; haid'l, schlaf!
da Haid'l-Bubaid'l, der Schlaf." „Haid'l, bubaid'l" ist ohne Zweifel ganz das-
selbe wie „Haie, bobaie." Ygl. darüber A. Stöber, Eis. Yolksb., 2. Aufl. (1879), S. 116,
wo weitere Litteratur verzeichnet ist, und Dunger, Kinderl. aus dem Vogtl. (1874) S. HO.
2) Die erste beginnt wie mehrere der in III angeführten Varianten mit: „Aia
pop ei a pop ole." Dieses „popole" kommt auch anderwärts in Wiegenliedern vor. So
in E. Meiers Deutschen Kinderreimen aus Schwaben, Tüb. 1851, Nr. 4: „Heide Popoole,
So wieg' i di, etc." Vgl. Stöber Nr. 11: „Haioclie, boboche!", Frommanns Mund-
arten III, S 513 (Wiegenlied aus dem tirol. Etschlande): „Heijá, pumpaijá, pum-
pêlà" etc. und Ziska-Schottky, S. 7: „Haid'l, bubaid'l, bubölla" etc.
3) Zu Nuni vgl ausser Rochholz S. 303 Stöber S. 11G und besonders DWB unter
Ninne und Revue des langues rom., VI (1874), S. 487ff. und 550. — S. auch (Brenner)
Baslerische Kinderreime, Basel 1857. S. 1 und 2 (nina). — Das in dem oben mitgeteilten
Reime aus der Grafschaft Tambach vorkommende Nunna bringt Rochholz irrtümlich mit
dem obigen Nuni in Beziehung. Soli, dem sole in III e entspricht, erklärt Rochholz
als spielendes Diminutiv. Darnach wäre es identisch mit dem Aschaffenburgischen Diminutiv
„Soche" (s. oben).
60
Englert: Wiegenlieder aus dem Spessart.
Noch sei liier eine von den obigen Fassungen ziemlich abweichende
Variante aus Kehrein (a. a. 0., S. 80) mitgeteilt:
Schlaf, Kindche, wohle!
Uns'er Herrgott will dich hole
In einem goldne Kutschelche,
Schlaf, mein liebes Trutschelche.
Unserm Liedchen liegt höchst wahrscheinlich ein mythologischer Zug
zu Grunde. Darauf deutet besonders die, wie es scheint, am weitesten
verbreitete Fassung hin, welche in d und in den Varianten aus der Schweiz
und aus Mörs vorliegt, sowie auch die Fassung aus Nassau. Der liebe
Gott ist wohl an die Stelle Wotans getreten, und das goldene
Kutschelchen oder der goldene Schlitten ist wohl das Gestirn des
grossen Bären oder „der Himmelswagen, den der ewige Fuhrmann
fährt" (vgl. E. H. Meyer, Germ. Myth., Berlin 1891, S. 239, Simrock
a. a. 0. S. 209; Grimm, Deutsche Myth., 4. Aufl., I, S. 125), wie denn auch
das wilde Gjaid in Steiermark auf schiffförmigem Schlitten fährt
(s. Meyer a. a. 0. sowie auch S. 281 unten). Es ist wohl nicht daran zu
denken, dass schon Wotan in der von uns angenommenen Urgestalt des
Liedchens als Totenferge gedacht war, der das Kind in das Reich der
Seelen führen sollte (vgl. Meyer, S. 233f. und Mogk bei Paul, Grundriss,
I, S. 1082) und dass mithin die an das „dv oî ïïeoi cpilovotv, ajio&vr¡oxei véoç"
erinnernde Grundidee unseres Liedchens schon ursprünglich vorhanden war.
Vielmehr hat sich diese Idee, welche ganz der christlichen Weltanschauung
entspricht, wohl erst mit der Umkleidung des Liedchens in christliches
Gewand herausgebildetl).
Die Fassungen b und c, sowie die entsprechenden im Wunderhorn
a. a. 0. sind wohl später entstanden als d etc. Au Stelle des nicht mehr
verstandenen Schlittens ist die Totenlade getreten, wodurch die christliche
Vorstellung noch klarer zum Ausdruck gebracht wird.
München.
1) Bei dem ärmeren Volke, für welches das Leben nur Mühsal bietet, mag die
pessimistische Auffassung des irdischen Daseins von jeher am tiefsten Wurzel gefasst
haben. Othenin d'Haussonville erzählt in der Rev. d. deux mond., März 1878, S. 345, dass
er eine Bauersfrau, welche von einem neugeborenen Kinde sprach, sagen hörte: „Jetzt
wo es die Gnade der heiligen Taufe empfangen hat, könnte ihm kein grösseres Glück zu
teil werden, als wenn es sterben würde." Ein ähnlicher Gedanke spricht sich in den im
Spessart und anderwärts beim Sterben eines kleinen Kindes vielgebrauchten Trostworten
aus: „Das giebt ein schönes Engelchen" oder: „Das ist gut aufgehoben" u. ä.
Negermärchen von der Goldküste.
61
Negermärchen Yon der Goldküste.
Yon J. G. Christaller.
Um Stoff zur Auswahl für ein neues Lesebuch zu gewinnen, wurden
die an 64 verschiedenen Orten der östlichen Goldküstenländer (zum Teil
in jetzt deutschem Gebiet) angestellten eingeborenen Arbeiter in der Basler
Ts chi-Mission (gegen 120 an der Zahl) zu schriftlichen Beiträgen auf-
gefordert. Etwa 45 entsprachen der Aufforderung und sandten 250 Arbeiten
ein, darunter 20 grössere Fabeln oder Märchen. Yon diesen seien probe-
weise einige von mittlerem Umfange hier in freier Ubersetzung mitgeteilt.
Das erste ist eingesandt von dem Pastor Esaù Ofori in Kyebi, Akém
Abúnkwa, das zweite von dem Lehrer Charles Owusu in Nsakye, Aburi
Akuapém.
1. Die Geschichte vom Grossadler und seinem Neffen
Kleinadler.
Aller Federtiere König ist der Grossadler. Weil er sein Volk wohl
regierte und seine Reichsgenossen gut behandelte, hatten sie alle ihn gern.
Aber er hatte einen Neffen, namens Kleinadler, der war (kühn und) streng,
so dass das ganze Yolk ihn fürchtete; deshalb dienten sie auch dem König
Grossadler, wie sichs gebührte.
Eines Tages nun berief Grossadler sein ganzes Volk zusammen und
sprach zu ihm: Ich habe gesehen, dass ihr mich gern habt, und ich habe
euch auch gern; und was wünschet ihr nun, dass ich für euch thue? Das
Volk (d. h. hier: seine Vertreter) erhob sich, ging zur Beratung abseits,
kam und sprach zu ihm: Du hast gesehen, dass wir dich gern haben und
dir recht dienen; aber wenn du willst, dass wir dir völlig dienen, — das
kann nur sein, wenn du deinen Neffen Kleinadler getötet hast; denn er
ists, der uns dir nicht recht dienen lässt. Da sass Grossadler lange
schweigend und sagte (endlich) zu seinen Volksgenossen: Nachdem ihr
solches gesprochen, — ich hab's gehört, denn das Volk ist gewichtig; ich
will's thun.
Jetzt liess Grossadler sich eine Kiste machen, riss seinem Neffen
Kleinadler alle Schwungfedern aus, steckte ihn in die Kiste, streute die
Federn alle umher und verbarg ihn in dem Hause, wo er seine Schätze
aufbewahrte. Als nun die Leute Kleinadlers Federn sahen, so veranlasste
das ein allgemeines Gerede: Man hat ihn getötet, man hat ihn wirklich
getötet; jetzt ists uns wohl.
62
Christaller:
Als kurze Zeit vergangen war, fingen die Volksgenossen an, von Gross-
adler abzufallen. Wer nach Wasser gehen sollte, ging nicht mehr; wer
Holz holen sollte, holte keins mehr; die, welche die königlichen Wiirde-
zeichen zu halten (oder den Ehrendienst zu thun) hatten, waren alle davon
gelaufen. Da sagte Grossadler: Diese Sache gefällt mir nicht; rufet mir
meine Hauptleute und Altesten. Jeder sagte: er komme nicht; sie haben
keine Zeit; um Kleinadler willen haben sie ihm einst viel gedient, weil sie ihn
fürchteten; aber da er jetzt tot sei, dienen sie ihm ferner nicht mehr so; sie
seien jetzt ihre eigenen Herren. Das verursachte Grossadler viel Kummer;
er trank und spielte bei drei Tage lang und sagte: Es macht nichts.
Nun ging's so fort, bis die Zeit kam, da er das jährliche Reinigungs-
fest zu halten hatte und alle seine Volksangehörigen wieder zusammen-
berief. Weil es das Jahresfest war, kamen sie auch zusammen und Gross-
adler empfing sie aufs schönste und gab ihnen viel zu essen und zu trinken.
Als die Zeit kam, da er die Trinkversammlung hielt, fragte er sie wieder:
„Aber das Wort, das ihr jetzt vor einem Jahr zu mir sprächet, gilt es auch
als ein richtiges Wort oder ging es aus Missachtung hervor?" Da gingen
die Volksmänner zur Beratung, kamen und sagten: „Gerade wie wir sagten,
so sagen wir noch; denn wir können den harten Dienst nicht dienen wie
vormals." Da sagte Grossadler: „Nachdem ihr so gesprochen, — ich hab's
zu Ohren genommen."
Nun hatte aber, seit Kleinadler verborgen worden war, Grossadler ihn
oft besucht und danach gesehen, ob seine Schwingen wieder wüchsen; und
bis zurZeit, da er das Volk zusammenberief, hatte Kleinadler wieder völlig
ausgewachsene Federn bekommen und war wieder ganz hergestellt.
Als nun das Volk dem Grossadler also geantwortet hatte, stand er auf
und ging heim und liess ihnen wieder zu trinken bringen. Während sie
aber daran waren zu trinken und sich lärmender Lustigkeit hinzugeben,
da kam Grossadler mit der Kiste, in welcher Kleinadler sich befand, öffnete
sie und liess Kleinadler heraus. Als das Volk ihn also sah, da lagen so-
fort alle am Boden und Kleinadler richtete sie übel zu. Aisdaun sprach
Grossadler zu seinem Neffen Kleinadler: „Jetzt lass ab, dass ich hören möge,
welches Wort mir das Volk zu sagen hat." Da gingen sie alle sich zu ver-
bünden und sagten: jetzt aber werden sie ihm besser dienen als zuvor.
Und in der That, das Volk diente hinfort seinem König im rechten
Dienst besser als vormals, und auch der König mässigte seine Strenge und
nahm sich seines Volkes an mit Liebe und Herzensgüte, so dass sein ganzes
Volk Ruhe und Frieden hatte.
Schlussbemerkungen.
Die Züge, welche in den Hofhalt eines afrikanischen Königs und sein
Verhalten seinem Volke gegenüber Blicke thun lassen, entsprechen ganz
der Wirklichkeit.
Negermärchen von der Goldküste.
63
Die Lehre aus der Geschichte ist einfach die: Allzu grosse Milde und
Nachgiebigkeit macht den Herrscher verächtlich. Herrsche, und man wird
dir gehorchen.
Yon der bei den Tschi-Völkern üblichen Feier des der Jamsernte
vorangehenden Hauptjahresfestes wird der Ausdruck gebraucht : wotwa
odwira. Letzteres Wort bedeutet „Bespritzung"; twa (schneiden) geht
wohl auf die Durchschneidung des Halses der Schafe oder Menschen, mit
deren Blut der Königsstuhl u. a. von dem das Jahr hindurch daran ge-
kommenen „Schmutz" (in bildlichem Sinne) gereinigt werden sollte. Die
Auskunft, welche ein alter Neger, Sohn eines früheren Königs, dem
Schreiber dieses einst gab, führt zu dieser Erklärung. Diese alten Bräuche
und Reinigungen stimmen vielfach mit dem überein, was wir bei anderen
alten Yölkern, auch bei Israel, finden.
[Uber das Königtum des Adlers in alter abendländischer Sage J. Grimm, Reinbart
Fuchs S. XLIY.]
2. Der Mensch hat keinen Dank.
Ein Mann zog aus seinem Wohnort in ein fernes Land, um Handel zu
treiben. Während er dort war, sandte man Boten und liess ihm sagen:
sein Weib liege auf den Tod krank: wenn er nicht schnell komme, werde
er ihre Leiche nicht mehr treffen. Alsobald machte er sich fertig und
beeilte sich, heimzureisen. Er war etwa einen Monat lang gereist, hatte
nur noch über einen Ort zu kommen, ehe er daheim anlangte, und da,
wo er noch einmal eingekehrt war, sagte er seinem Hausherrn: Der eine
Weg, den ich noch zu machen habe, ist der, auf den mir bange ist;
erkundige dich nach jemand, mit dem ich zusammengehen könne. Sein
Hauswirt sagte zu ihm: „Es ist ein Jäger hier im Ort, der sich in aller
Frühe auf den Weg machen wird, um auf die Jagd zu gehen; der wird
dich rufen und mit dir gehen." Am nächsten Morgen, als der Jäger gehen
sollte, kam er nicht, den Mann zu rufen, sondern ging eben; und als unser
Keisender ging, ihn zu rufen,.um mit ihm zu gehen, wrar er fort. Da
sagte er: „Wenn eine Flinte knallt, so liegt sie an eines Mannes Brust1);
ich werde allein gehen!" — und begab sich auf den Weg. Als er bis zur
Mitte des Weges gekommen war, da kam eine Giftnatter und wickelte
sich um seine Fiisse. Jetzt hatte er nichts vor Augen als den Tod. Da
liess die Schlange ihre Stimme vernehmen und sagte zu ihm: „Ich werde
dich nicht hier unterwegs töten, sondern erst wenn wir heimgekommen
sind." Jetzt war unser Freund in Kummer und Ängsten. Nicht lange, so
sieht er einen Springbock (Okwadu, eine Antilope). Unser Freund sagte
zu ihm: „Yater Springbock, komm, töte mir die Schlange da; tötest du sie,
so werde ich dir danken." Der Springbock sagte: „Nein! Der Mensch
1) Dieses Sprichwort will sagen: In der Gefahr muss sich der Mann beweisen.
64
Christaller :
verdients nicht, class man ihm Gutes thue; wenn ich heute dich aus deiner
Not errette, wirst du vielleicht morgen zur Flinte greifen und mich tot-
schiessen." Und so ging- der Springbock weiter. Nun traf der Mann auf
eine Büffelantilope (ewi) und richtete dieselbe Bitte an sie; aber die sagte
auch gerade wie der Springbock. Er begegnete noch vielen Tieren und
bat sie, aber keines errettete ihn. Endlich traf er eine Wildkatze (adnatia,
Kurzschwanz). Er sagte: „Vater Wildkatze, ich bitte dich, erbarme dich
mein und töte mir diese Schlange; wenn du sie tötest, werde ich dir etwas
schenken." Die Wildkatze sagte: „Du Tagmensch1) sprichst so?" Er ant-
wortete: Ja. — „Was wirst du mir geben?" — Er: „Irgend etwas, das man
in Akra verkauft und du von mir begehrst, werde ich dir geben." Die
Wildkatze sagte: „Ich will nichts als zwei Hühner und zwölf Eier." Der
Tagmensch sagte: „Ich wills dir geben. Wohin soll ichs dir bringen?" Die
Wildkatze sagte: „Ich werde kommen und mich hinter den Kehrichthaufen
legen; wenn du es bringst und mir rufst, dass ichs holen soll, so lass es
dort und geh, und ich werde es holen." Der Mensch sagte: „Ich werde es
bringen; aber mach jetzt schnell und thue etwas für mich!" Da riss die
Wildkatze die Augen auf gegen die Schlange und alsbald fing sie an sich
zu lösen und zu fliehen. Die Wildkatze aber fuhr schnell auf sie zu,
ergriff und verzehrte sie. Und der Mann machte sich auf und kam heim.
Als er daheim anlangte, war Freude eingekehrt. Nicht lange, so hatte
sich hurtig ein WTahrsager eingestellt, der sich anheischig machte, er werde
das Weib erretten. Er machte seine Gaukeleien und sagte dann: jetzt
werde er dem Unheil zu Leibe gehen: sie sollten ihm einer Wildkatze
Barthaare verschaffen, dass er damit das Unheil wegnehme und das Weib
wieder gesund werde. Des Weibes Mann sagte, das werde er beischaffen;
man solle ihm nur zwei Hühner und zwölf Eier bringen, dass er damit
eine (Wildkatze) töte und (das Verlangte) bringe. Bald waren Hühner
und Eier zur Hand, und er sagte, sie sollen zwei Flinten nehmen und
ihm folgen. Es geschah so. Als sie an den Kehrichthaufen anlangten,
sagte er zu den Flintenmännern, sie sollten sich wohl verstecken, und so-
bald sie die Wildkatze sähen, auf sie abfeuern und sie erlegen. Jetzt liess
er seine Stimme erschallen und rief: „Herr Wildkatze, Wohlthäter2), deine
Hühner und Eier sind da; komm und hol sie dir!" Darauf entfernte er
sich. Bald kam die Wildkatze zum Vorschein, und sie legten die Flinten
auf sie an: puff, paff! Die Wildkatze sagte: „Tagmensch, ei, wohlgethan3)!
(Ists nicht also), dass der Mensch nicht verdient, dass man ihm Gutes
erweist? Ist Böses der Dank für Gutes? Wie doch der Mensch so gar
1) Dies Wort, mit welchem in den Tierfabeln der vernünftige Mensch im Unterschied
von den Tieren bezeichnet wird, bedeutet höchst wahrscheinlich den, der den ganzen Tag
bis an den Abend seine Arbeit treibt (Psalm 104, 23).
2) Höfliche, schmeichelhafte Anrede: gütiger oder gnädiger (Herr).
3) Anerkennung einer wohlgelungenen That: Bravo! Glückauf!
Negermärchen von der Goldkiiste.
65
keinen Dank kennt (so gar keine Erkenntlichkeit hat)! Sieh, deine Flinten
haben mich nicht getroffen. Ich gehe jetzt, und wenn du nach Hause
kommst, so ist dein Weib tot." — Und wahrhaftig, als er heimkam, so war
sein Weib gestorben. Er grämte sich über seines Weibes Tod so sehr,
dass auch er bald darauf verstarb.
Schlussbemerkung.
Der Wahrsager dachte wohl, das von ihm Verlangte sei nicht so leicht
beizubringen und er dann ausser Schuld, wenn das Weib darüber sterbe;
aber neben der Leichtgläubigkeit des Mannes wurde nun seine treulose
undankbare Gesinnung offenbar.
3. O Mensch, ist das dein Dank?
(Undank ist der Welt Lohn.)
Ein armer Jäger verliess eines Tages sein Dorf, um sich irgendwo im
Busch aufzuhalten und da Wild zu erlegen, damit er es verkaufen und
seine Schulden bezahlen könne. Während er so im Walde lebte, machte
er sich eines Tages auf und ging auf die Jagd. Wie er so dahin ging,
gelangte er an einen Ort, wo er ein undeutliches Sprechen hörte, ohne
dass er sah, was es war. Er blickte rings um sich, sah aber immer noch
nicht, wo geredet wurde. Da sagte er: „Jetzt will ich aber wohl auf-
horchen, um zu hören, wo dieses Sprechen ist." Da hörte er es zu seiner
Linken und sagte: „Vielleicht ist da die Unterwelt (das Totenreich), wovon
man sagt. Sei es zum Tode oder zum Leben, — ich habe ja meine Flinte,
— ich will gehen und sehen, was es ist, dass ich etwas zu erzählen habe,
wenn ich heimkomme." Als er etwas vorwärts gegangen war — wobei er
gute Acht auf seine Flinte hatte — sah er eine grosse Grube vor sich,
aus der das undeutliche Gerede kam. Da sagte er: „Ja, es ist wie ich
sagte: an der Unterwelt bin ich angekommen!" Als er vorsichtig vollends
bis an die Grube gelangt war, hörte er sagen: „Herr Jäger, schiesse deine
Flinte nicht ab, lass mich erst etwas sagen!" Als der Jäger das hörte,
fürchtete er sich, dass ihm die Haut schauerte. Er blickte hinunter in die
Grube und sah darin einen Menschen (Tagmann), einen Leoparden, eine
Schlange und eine Ratte. Und der Tagmann sagte zum Jäger: „Du siehst
das Unglück, in das ich geraten bin ! Ich und ebenso diese Beisstiere sind
in diese Grube gefallen und ich habe niemand, der mir heraushilft.- Darum
bitte ich dich, hilf mir heraus und ich werde mich einmal dafür erkennt-
lich zeigen; und nicht nur ich, sondern wir alle, die wir in dieser Grube
liegen, haben uns verbunden: wer immer uns heraushilft, dem werden wir
unsern Dank entrichten. Deshalb bitte ich dich, hilf uns!" Der Jäger
sagte: „0 Mensch, Tagmann, wo ist deine Erkenntlichkeit?" Der Tagmann
Zeitsciir. d. Vereins Í. Volkskunde. 1S94. 5
66
Christaller :
sagte: „Hilf mir, und ich werde dir danken." Da half ihm der Jäger
heraus.
Da sagte auch der Leopard zu dem Jäger: „Herr Jäger, hilf mir heraus
und ich werde dir einst danken!" Der Jäger sagte: „Du Leopard, wo ist
dein Dank? Wenn ich dir heraushülfe, so würdest du mit meinen Schafen
oder Ziegen und meinen Hühnern dir gütlich thun." Der Leopard sagte:
„Hilf mir heraus und ich werde dir erkenntlich sein." Da half der Jäger
dem Leoparden heraus.
Auch die Schlange sagte: „Herr Jäger, hilf mir heraus, und ich werde
dir einst danken." Der Jäger sagte: „0 Schlange, warst einst du es, die
meinen Bruder biss, dass er starb und heute noch die Schuld von seiner
Leichenfeier auf mir lastet, was mich auch hierher trieb? An der Armut,
die mich umbringt, bist du vor allem schuld. ,Wenn der Schlange Eier
verfaulen, was ist dann verdorben?' Dir kann ich nicht heraushelfen!"
Aber die Schlange sagte: „Hilf mir heraus, und ich werde dir einstmals
danken." Da half ihr der Jäger heraus.
Auch die Ratte sagte zu dem Jäger: „Herr Jäger, hilf mir, und auch
ich werde dir erkenntlich sein." Der Jäger sagte: „Auch du, Ratte, wo
ist dein Dank? Die Palmnüsse, die ich steckte, um einst davon etwas an
meiner Schuld abzutragen, die hast du alle ausgescharrt; du bist mit daran
schuld, dass es mir so hart gegangen ist." Aber die Ratte sagte: „Hilf
mir heraus, und ich werde dir einmal danken." Und der Jäger half ihr
heraus.
Als nun der Jäger allen herausgeholfen hatte, schickte er sich an, in
sein Dörflein zu gehen. Da rief ihm die Schlange und sagte: „Herr Jäger,
komm!" Und er kam. Die Schlange sagte zu ihm: „Da nimm diese
Arzeneikugel1) und diese Blätter und nimm sie überall hin mit dir, wohin
du gehst; und wenn jemanden eine Schlange gebissen hat, selbst wenn er
schon gestorben ist, wende die Arzenei bei ihm an, so wird er mit dem
Leben davon kommen und du bekommst Geld dafür, deine Schulden zu
bezahlen." Der Jäger sagte: „Guten Morgen, ich danke dir2)." Aber der
Leopard und die Ratte sagten: „Wir werden dir ein andermal unsern Dank
abstatten."
Der Tagmann aber sagte: „Ich möchte vorerst mit dir gehen und dein
Dorf lein sehen." Und so gingen sie miteinander. Der Mensch Tagmann
hielt sich etwa drei Tage auf, und der Jäger bewirtete ihn, wie es sich
gehört: darnach ging er seines Weges.
1) Ein zermahlener ArzeneistofE, mit Guineapfeffer vermischt, in eine Kugel geformt
und getrocknet.
2) Für ein erhaltenes Geschenk bedankt sich der Tschineger in der Regel nicht so-
gleich, sondern kommt erst am nächsten, vielleicht nochmals am übernächsten Morgen mit
einem oder etlichen Begleitern als Dankeshelfern und sagt: „Guten Morgen, ich danke".
Hier wirds sogleich abgemacht.
Negermärchen yon der Goldküste.
67
Nach etwa drei Tagen gedachte der Jäger in den Wald zu gehen. Als
er aber vor seine Wohnimg hinauskam, sah er ein Tier, das der Leopard
erbeutet und da hingelegt hatte. Er ging und nahm es. Am nächsten
Tag, als er wieder gehen wollte, konnte er wieder ein solches Tier an
sich nehmen. Und so ging es fort, drei Wochen lang. Einen Teil des
Fleisches verkaufte er, einen Teil ass er. Nach etwa drei Wochen wollte
der Jäger eben in den Wald gehen, da begegnete er dem Leoparden. Als
er ihn sah, griff er nach seiner Flinte, um auf ihn zu schiessen. Aber der
Leopard sagte: „Herr Jäger, schiesse nicht; hast du nicht seit etwa drei
Wochen die Tiere gesehen, die ich gefangen und dir hingelegt habe?" Der
Jäger sagte: „Ich habe sie gesehen." Der Leopard: „Das war mein Dank."
Der Jäger: „Guten Morgen, ich danke dir!" Und der Leopard ging seines
Weges.
Etwa drei Tage darauf lag der Jäger in seiner Hütte von Palmzweigen.
Da sah er, als er sich erhob, dass eine Ratte Erde aufgeworfen hatte und
seine Matte und der Boden des Häuschens davon voll war. Er sagte:
„Ist etwa das der Ratte Dank, dass sie mir meine Hütte über den Kopf
zusammenfallen lässt? Jetzt will ich aber die Hatte kriegen, wo sie auch
ist! Und so holte er ein Grabeisen, um die Ratte auszugraben." Wie er
so gräbt, da sieht er, dass da ein grosser Steinkrug in der Grube steht,
mit Gold angefüllt, das die Ratte geholt und dem Jäger gebracht hat. Der
Jäger nahm ihn an sich und hob ihn wohl auf. Iis war dies das Gold
eines grossen Königs in der Stadt des armen Jägers, das die Ratte durch
Graben im Boden bis in sein Gemach dort geholt und nun dem Jäger ge-
bracht hatte. Nach etwa drei Tagen kam die Ratte, dem Jäger zu sagen:
„Hast du den Dank, den ich dir abgestattet, gesehen?" Der Jäger sagte:
„Ich habe ihn gesehen; guten Morgen, ich danke dir, ich danke dir!" Und
die Ratte ging ihres Weges. Der König seinerseits suchte gehörig nach
seinem Gold, das ihm abhanden gekommen war, und als er es nicht fand,
liess er ab, darnach zu forschen.
Dieweil das Gold verwendet zu werden begehrt, stand es gar nicht
lange an und der arme Mann wurde ein gar reicher Mann, dessen Dörflein
voll war von Sklaven und Sklavinnen, dass es von ihnen wimmelte.
Als der Mensch Tagmann solches hörte, sagte er: „Ich will doch gehen
und diesen meinen Freund besuchen." Er machte sich auf und ging. Als
er dort ankam, sah er, dass der Jäger wirklich sehr reich geworden war.
Da kam dem Tagmann der Neid, und er sagte bei sich: „Wie ist doch
mein armer geringer Genosse so reich geworden ! es wird wohl des Königs
Gold, das abhanden gekommen ist, sein, das er gestohlen hat und von dem
er so reich geworden ist. Deswegen werde ich zu dem Könige gehen und
es ihm sagen, dass er es ihm abnimmt und ich mit ihm wieder gleich bin."
Und der Mensch Tagmann machte sich auf, ging zu dem König und sagte:
68
Christaller:
„Dein Gold, das verloren ging, hat der Jäger gestohlen. Ich bin sein guter
Freund, ich weiss das alles ganz gut."
Da liess der König den Jäger greifen und ihn, sein Weib, seine Kinder,
seine Sklaven und Sklavinnen und all seine Habe in sein Gehöfte bringen.
Auch des Königs Gold befand sich wirklich darunter. Als sie anlangten,
wurde der Jäger in den Block geschlagen1) und eine Gerichtssitzung ver-
anstaltet, die Sache zu verhandeln.
Der König brachte seine Sache vor und sagte: „Jäger!" Dieser ant-
wortete und sagte: „Mein Herr!" Der König: „Kennst du den Menschen
Tagmann, der da sitzt?" Der Jäger: „Ich kenne ihn." König: „Was ist
er dir?" Jäger: „Er ist mein guter Freund." König: „Dann gilt also (das
Sprichwort): Wenn dein Stuhl, darauf du sitzest, gegen dich zeugt, so
bezweifelt man's nicht. Ich war ruhig daheim, da kam der Mensch Tag-
mann und sagte mir: mein Gold, das abhanden kam, habest du gestohlen.
Deswegen habe ich dich verhaften und herbringen lassen. Das ist's, was
ich zu sagen habe." — Da antwortete der Jäger: „0 Mensch, Tagmann,
ist das dein Dank? So hat man also in der That ein Recht, zu sagen:
der Mensch hat keine Erkenntlichkeit! Undankbarer! gedenke des Einst-
mals! Tagmann, was habe ich dir Böses gethan, dass ich dich (auf den
Armen oder dem Rücken) trug, dass du Leben sehest, und du mich nun
trägst, dass ich den Tod sehen soll."
Während der Jäger noch redete, sandte man einen Boten, dem König
zu sagen: „GrossVater, erhebe dich schnell, denn eine Schlange hat deinen
Sohn gebissen und er ist am Sterben; deswegen komm schnell und lass
des armen Jägers Sache einstweilen anstehen." Da brachen der König und
alle seine Leute zusammen auf und gingen an den Ort, wo sich sein Sohn
befand. Den Jäger übergab er den Scharfrichtern zu bewachen; falls sein
Sohn sterbe, werde er den .Jäger töten zur Bestattung seines Sohnes. —
Als sie gegangen waren, sagte der Jäger zu den Scharfrichtern: „Ach,
wenn ich nicht im Block läge, so würde ich ihn, selbst wenn er schon
gestorben wäre, wieder zum Leben bringen! Denket aber nicht, weil ich
im Block liege, so mache ich nur schöne Worte." Da lief einer der Scharf-
richter schnell zum König und sagte ihm dieses. Als er hinkam, hatten
die Baumwurzelmänner (die Arzeneikundigen) alles Mögliche versucht, aber
es stand gar nicht gut. Da liess der König den Jäger aus dem Block
befreien und herbringen. Als der Jäger da war, sagte er: „König, lass
die Arzeneimacher alle ihre Arzeneien wegthun, dass ich die meinige an-
wende, und ihr werdet sehen, ob's dann nicht aufhört." Der König that
also. Der Jäger aber trug, wohin er immer ging, die Arzenei, welche ihm
die Schlange gegeben, in sein Lendenkleid geknüpft bei sich, und nun
1) Einem, der in Haft genommen wird, schlägt man über dem rechten Handgelenk
ein halbkreisförmiges Eisen so in einen Holzblock, dass er die Hand nicht herausziehen
und nicht entfliehen kann.
Negermärchen von der Goldküste.
69
löste er den Knoten auf, schabte etwas von der Arzenei ab und liess es
den von der Schlange gebissenen lecken, und auf der Stelle wurde er
wieder gesund. Da sagte der König: „Jäger, sag mir an, was irgend du
verlangst und ich werde es dir geben!" Der Jäger sagte: „Ich begehre
garnichts als den Kopf des treulosen Menschen Tagmann, der über mich
log, als ob ich dein Gold, gestohlen hätte." Der König sandte hin und
liess dem Menschen Tagmann den Kopf abschneiden, dem Jäger aber gab
er sein Gold, Weib und Kinder, Sklaven und Sklavinnen und all seine
Habe zurück und derselbe kehrte wieder zurück zu seinem Dorf.
Deswegen sagt man im Sprichwort: „Das ist des Menschen Dank!"
(= Undank ist der Welt Lohn!) und in einem anderen Sprichwort heisst
es: „Wenn dich dein Freund dahin trägt, wo du Leben findest, trägst du
ihn nicht dahin, wo er den Tod findet\u
[In den Fabeln des Morgen- und Abendlandes ist das Thema von den dankbaren
Tieren und dem undankbaren Menschen weit verbreitet, vergi. Benfey, Pantschatantra
I, 194—199. 202 — 222. II, 128 —132. E. Meier, Deutsche Volksmärchen aus Schwaben
Nr. 14 mit Anm.
Die Übereinstimmung dieser sowie anderer Negerfabeln mit indo-europäischen führt
auf den uralten Verkehr zwischen Arabien und der afrikanischen Ostküste; vgl. Zeitschr.
f Ethnologie. Verhandlungen der Beri, anthropol Ges 1891. S. 877 ff.]
4. Bleib in der Grube, bleib eben in der Grube.
Ein Panther, der umherstreifte, fiel in eine Grube, die ein Jäger ge-
graben und mit Gesträuch und Laub bedeckt hatte, dass irgend ein Tier
hineinfalle und ihm zur Beute werde. Der Panther lag in der Grube und
hatte niemand, der ihm heraushülfe. Wenn irgend ein Tier an die Grube
kam und der Panther das hörte, rief er es an. Wenn dann das Tier fragte:
„Wer bist du, der du mir rufst?" so sagte der Panther: „Ich bin es, der
Panther! ich bin in die Grube gefallen, deswegen bitte ich dich, komm
und hilf mir aus dieser Grube; und ich werde dir nichts tlmn." Dann
antwortete ihm das betreffende Tier: „Bist denn nicht du es, der uns
immer verfolgt und uns zu fangen und zu fressen sucht? heute aber hast
du dich absichtlich verstellt und dich, um uns zu überlisten, in die Grube
gelegt, suchst aber nur uns zu fangen! wir kommen gewiss nicht!" Mit
solchen Worten liessen sie den Panther, wo er war, und gingen.
Nun lag der Panther in der Grube, hatte niemand, der ihm helfen
konnte, auch quälte ihn der Hunger. Einsrnals kam eine Ratte daher und
nahte sich von ungefähr der Grube. Der Panther hörte etwas und fragte:
„Wer bist du, der du da vorbei kommst?" Die Ratte antwortete: „Ich,
Ratte, bin's." Da sagte der Panther: „Herr Ratte! ich bitte dich, komm
und hilf mir aus dieser Grube! ich werde dir nichts thun!" Die Ratte
sagte: „Du? Dein Brauch war es ja, schon unsere Yoreltern wegzufangen,
und wenn du heute uns den Gefallen gethan hast, in die Grube zu fallen,
70
Christaller:
so soll ich dir heraushelfen?" Da sagte der Panther: „Ich schwöre bei
deinem Fuss, ich schwöre bei meinem Unglück, das mich getroffen hat, in
dieser Grube zu liegen, dáss, wenn du mir heraushilfst, ich dir und deinen
Nachkommen nichts zu Leide thun werde!"
Dieses Wort bewog die Ratte zum Erbarmen; sie ging und riss eine
Schlingpflanze ab für den Panther, dass er sich daran hielt und herauskam.
Sobald aber der Panther heraus und frei war, sagte er zu der Ratte: „Es
ist zwar richtig, dass ich geschworen habe, ich werde dir und deinen Nach-
kommen nichts thun; aber, vor Hunger fast ohnmächtig, kann ich nicht
mehr umherstreifen und ein anderes Tier suchen, und wenn ich dich laufen
lasse, bringt mich der Hunger um; deshalb werde ich dich fangen und
fressen." Da antwortete die Ratte: „0 Panther, habe ich damit Böses
gethan, dass ich dir aus der Grube half?"
Während sie noch redeten, kam eine Spinne daher und fragte sie:
„Was für eine Sache habt ihr da zu verhandeln?" Die Ratte berichtete
der Spinne ihre ganze Sache und der Panther erzählte die seinige. Da
sagte die Spinne: „War denn das möglich, dass diese Ratte da dir aus
dieser Grube heraushalf?" Der Panther sagte: „Ja, die Ratte war es, die
mir heraushalf." Die Spinne sagte: „Das glaube ich nicht, dass diese
kleine Ratte dich aus der Grube herausholen kann; deshalb geh und leg
dich noch einmal hinein und die Ratte soll dich herausbringen, dass ichs
sehe; dann erst kann ich in eurer Sache einen Bescheid geben." Da sprang
der Panther hinab in die Grube, und alsbald zog die Spinne die Schling-
pflanze aus der Grube und sagte zu dem Panther: „Lieg in der Grube,
lieg eben in deiner Grube dort! Wenn dein Genosse dir Gutes thut, thust
du ihm nicht Böses dafür!"
Die Ratte dankte der Spinne und ging mit Freuden ihres Wegs; aber
der Panther lag in seiner Grube. Deshalb hat man das Sprichwort: „Lieg
in der Grube, bleib eben in deiner Grube."
[Der Inhalt stimmt zu der durch das Schiedsrichteramt erweiterten äsopischen Fabel
vom Bauern und der Schlange, vgl. F. W. Schmidt, Petri Alfonsi discipl. clericalis
no. YII mit Anmerk. S. 117 ff. Vergi, auch aus russischen Märchen Verwandtes hei
Gubernatis, Die Tiere in der indogerm. Mythologie, übers, von M. Hartmann. S. 441.]
5. Angeberei und Yerleumdung brachten dem Panther jähen
Tod zuwege.
Dieses Sprichworts Ursprung ist folgender:
Den Löwen befiel eine tötliche Krankheit und das ganze Tierheer
ging, ihm den Morgengruss darzubringen; die Hyäne aber beeilte sich nicht
damit. Der Panther, der unter den ersten war, die hingingen, fragte den
Löwen: „Ist, seitdem du krank bist, die Hyäne je gekommen, dir den
Morgengruss zu geben ?" Er antwortete ihm: „Nein!" Da sagte er zu ihm:
„Wenn du einen Feind in der Welt hast, so ist's eben der!"
Negermärchen von der Goldküste.
71
Als der Panther gegangen war, sandte der Löwe einen Boten, die
Hyäne vorzubescheiden. Als sie kam, fragte er sie: „Warum bist du, da
du docli von meiner Krankheit wusstest, noch nicht gekommen, mir den
Morgengruss zu bringen?" Die Hyäne antwortete ihm: „Deiner Krankheit
wegen ging ich umher und suchte Arzenei; jetzt fehlt mir nur noch Eines;
wenn man das noch dazu mischt und du sie trinkst, so wirst du alsbald
gesund werden." Der Löwe fragte ihn: „Und was ist dieses Eine?" Die
Hyäne antwortete ihm: „Es sind des Panthers Backenzähne." Auf der
Stelle sandte der König und liess den Panther herberufen, Hess ihm den
Kopf abschneiden und brach seine Backenzähne aus, um sie unter die
Arzenei zu mischen.
Wer seinem Genossen Böses zu bereiten trachtet, bahnt einen Weg
für sein eigenes Unglück.
[Nachweisungen zu der verwandten, im Abendlande wohlbekannten Fabel vom ge-
schundenen Wolf, dessen Haut nach des Fuchses Rat den kranken Löwen heilen soll, bei
E. Voigt, Ecbasis Captivi S. 57. Ysengrimus S. LXXX. K. W.]
Schorndorf in Württemberg.
Buddhistische weibliche Heilige.
Yon S. Singer.
Eine Sammlung der Lebensgeschichten von buddhistischen weiblichen
Heiligen lehrt uns das von E. Müller im Auftrage der Pali Text Society
(London 1893) herausgegebene Paramatthadipanî kennen. Am inter-
essantesten für abendländische Sagenforschung sind darin wohl die Er-
zählungen von Üppalavanna und Patacara, zu welchen vor kurzem durch
einen günstigen Zufall Parallelversionen im Journal of the asiatic society
1893, 540 ff., 556 ff. veröffentlicht wurden.
Padumavati, später Uppalavanna*) genannt, ist ein Mädchen, das aus
einer Lotusblume geboren ist und die Eigenschaft hat, dass unter ihren
Fusstritten Blumen entspriessen. Bei einem Einsiedler im Walde findet sie
ein König und nimmt sie als seine Frau mit sich. Die 500 Nebenfrauen
verdächtigen sie wegen ihrer wunderbaren Eigenschaften als Hexe und als
sie einst, während der König auf einem Kriegszuge abwesend ist, nicht
weniger als 500 Kinder gebiert, nehmen sie ihr dieselben weg und legen
an deren Stelle einen blutbeschmierten Holzklotz neben sie, als ob sie
1) Diese Geschichte hauptsächlich nacli der letzteren Quelle, die dieselbe ausführ-
licher giebt, als der Auszug in Müllers Einleitung.
72
Singer:
diesen geboren hätte, die Kinder aber setzen sie im Strome aus. Der
zurückgekehrte König jagt nun U. aus dem Hause. Eine alte Frau nimmt
sie bei sich auf. Die Kinder werden im Strome aufgefischt, vom König
als die seinen erkannt, die Königin gesucht und gefunden. Die 500 Neben-
frauen werden als Sklavinnen in ihre Hand gegeben, sie schenkt ihnen
die Freiheit.
Am nächsten steht dieser Erzählung ein modernes indisches Märchen,
das Cosquin, Contes populaires de la Lorraine I, 195 nach Miss M. Frere,
Old Deccan Days, London 1868, No. 4 erzählt: Ein indischer Fürst, welcher
zwölf Frauen aber keine Kinder hat, heiratet die Tochter eines Gärtners,
weil ihm prophezeit wird, dass diese ihm 100 Söhne und eine Tochter
schenken würde. Sie gebiert auch wirklich, während er einst abwesend
ist, die angegebene Zahl; die neidischen Nebenfrauen lassen aber die
Kinder bei Seite schaffen und an ihre Stelle 101 Steine in die Wiegen
legen. Als der König zurückkehrt, beschuldigen unter Hinweis darauf die
Nebenfrauen die Königin, eine Hexe zu sein, worauf sie eingesperrt wird.
Nach mannigfachen Abenteuern kommen aber die Kinder zurück und die
Wahrheit triumphi ert.
Varianten dieses Märchens sind in ganz Asien und Europa verbreitet
und eine derselben ist im Mittelalter mehrfach litterarisch fixiert worden
(siehe G. Paris, Romania XIX, 315 ff.)1). In Einzelheiten stehen diese
Varianten der Erzählung von Uppalavanna näher, als das indische Märchen,
so darin etwa, dass die Königin im Walde gefunden wird, dass ein Holz-
klotz die Stelle der Steine einnimmt, dass die Kinder wunderbare Eigen-
schaften haben, welche dem Blumenspriessen unter dein Fusstritt2) U.s
entsprechen, dass dieselben auf einem Strome ausgesetzt werden u. a. m.
Verwandt ist auch die Erzählung von der Manekine (Suchier, Oeuvres
poétiques de Philippe de Remi, Sire de Beaumanoir I, p. XXIII ff.), die
im Schlüsse sogar näher stimmt. Ersetzung der Nebenfrauen durch die
Schwiegermutter in den europäischen Fassungen ist typisch (s. Bedier, Les
Fabliaux, Paris 1893, p. 119); dieses Verhältnis ward schon von G. Paris
a. a. 0. 326 richtig gemutmasst3).
Noch willkommener ist die zweite Geschichte, welche eine bisher nur
aus der mittelalterlichen europäischen Litteratur bekannte Erzählung unter
die international wandernden einreiht. Patacará lässt sich von ihrem
Liebhaber aus dem elterlichen Hause entführen. Sie lebt mit ihm einige
Zeit und schenkt ihm ein Kind. Sie begeben sich auf die Reise nach
ihrer Heimatstadt. Auf dem Wege wird sie von Kindsnöten überrascht
und gebiert ein zweites Kind. Zu gleicher Zeit bricht ein furchtbares
1) Nachweis von Prof. Freymond.
2) Grimm, Myth.4 Nachti. 349, ühland, Schriften III, 420.
3) „On peut croire . . que, là comme ailleurs, la méchante belle-mère de l'heroine
était originairement la première femme du mari."
Buddhistische weibliche Heilige.
73
Unwetter los. Während ihr Mann Gras schneidet, nm ihr ein Lager zu
bereiten, beisst ihn eine Schlange tot. Sie zieht nun mit beiden Kindern
allein weiter. Am Ufer eines Stromes angelangt, setzt sie den älteren
Jungen ans Ufer, während sie den jüngeren hinüberträgt. Wie sie auf
dem Rückwege in der Mitte des Stromes angelangt ist, sieht sie, wie ein
Habicht auf das kleinere Kind herunterstösst. Sie wirft die Hände in die
Höhe, um ihn zu verscheuchen, dies hält das ältere Kind für ein Zeichen,
zu ihr zu kommen, geht ins Wasser und wird fortgeschwemmt. Unter-
dessen trägt der Habicht den jüngeren fort. P. kommt nun in ihren
Heimatsort und findet alle die ihrigen tot. Als nackte, wahnsinnige
Bettlerin läuft sie herum, bis sie einst in eine Versammlung von Buddhisten
kommt, wo gepredigt wird. Ein Nebenstehender bedeckt sie mit einem
Gewände, sie erkennt ihren Wahnsinn und wird eine Bhikkhuri (.Tourn. of
the asiat. soc. 1893, 556. Müller p. XVII).
Ziemlich genau stimmt hiermit das altfranzösische Gedicht von Guillaume
d'Angleterre, dessen Quelle unbekannt ist. Ich gebe den Inhalt, soweit er
hier von Interesse ist, nach Holland, Crestien- von Troies, S. 64 ff. König-
Wilhelm entflieht mit seiner Frau aus seinem Reiche infolge einer Vision,
die ihm sein Land zu verlassen befiehlt. Auf dem Wege gebiert die
Königin Zwillinge. Kaufleute entführen sie und lassen dem Gatten einen
Beutel mit Goldstücken zurück. Während er das eine Kind in ein am
Meeresufer liegendes Boot trägt, raubt ihm das andere ein Wolf, und den
Beutel mit den Goldstücken reisst ihm ein herabstossender Adler aus den
Händen. Als er dann zum Meere zurückeilt, ist das Boot mit dem Kinde
verschwunden. Schliesslich kommt aber alles zu gutem Ende: W. kommt
als Schiffbrüchiger in das Land, in dem seine Gemalin mittlerweile Königin
geworden ist und dort finden sich auch die auf wunderbare AVeise geretteten
Kinder wieder.
Andere Bearbeitungen dieser Erzählung verzeichnet Holland a. a. 0.
Ich will hier nur hervorheben, dass die Ubereinstimmung im Namen der
Heldin in den beiden mittelhochdeutschen Gedichten von der guten Frau
und Wilhelm von Wenden (die guote frouwe und frouwe Guote),
trotz des historischen Hintergrundes, den Toischer in seiner Ausgabe des
Gedichtes wohl mit Recht für den letzteren vermutet, dennoch wohl mehr
als zufällig ist und auf eine zwischen dem Guillaume d'Angleterre und dem
Wilhelm liegende Quelle, aus welcher auch die gute Frau wenigstens
mittelbar herstammt, zu weisen scheint.
Zu anderen Erzählungen wiisste ich keine schlagenden neuen Parallelen
anzuführen, weshalb ich auf M.s Einleitung zu verweisen mich begnüge.
Bern.
74
Ha as e :
• Bastlösereime1).
Gesammelt von K. Ed. Haase.
1. Klopp, klopp, klopp, klopp, Bullerjahn,
Lass die Pief bald äff ergahn.
Neu-Ruppin.
2. Bi, bi, bo,
Det Büngchen von Stroh,
Det Büngchen von Bastian,
Lät de Fleut gôd afgahn.
Neu-Ruppin.
3. Hopp, hopp, ho,
Plütkeii (— Flötchen) von Stroh,
Plütken von Batterjahn,
Lât mi ne klein Plüt draus wer'n;
Lât se nich verderwen,
Lât se wieder wer'n.
Hopp, hopp, ho,
Plütken von Stroh.
Neu-Ruppin.
4. Piep, piep, piep hahn,
Lât mein Piep bald better gahn.
Stiefel muss sterben, ist nocli so
jung
Wenn das der Absatz wüsst',
Dass Stiefel sterben müsst'!
Stiefel muss sterben, ist noch so jung.
Neu-Ruppin.
5. Sibbe, sibbe, seute,
Mâk mi êne Fleute,
Det se recht schön gahn deit,
Det se nich kaput gahn deit.
Neu-Ruppin.
6. Hopp, hopp, hopp nah Möln,
De Bur rit up det Föln,
De Jung rit up de bunte Koh
Hopp, hopp, hopp nah Möln to.
Alt-Ruppin.
7. Christian, Bastian,
Lât de Pfêp gôd afgahn,
Det se nich verderwen deit,
Det se gôd afgahn deit.
Alt-Ruppin.
8. Beim Klopfen :
Buller, buller, Bastian,
Lass mine Flöt gut abgahn,
Lass sie nicht verderben
In vierundvierzig Kerben.
Beim Streichen:
Strìk ab, strìk ab,
Strîk se nich so têf,
Sonst wird die Flöte schêf.
Alt-Ruppin.
9. Bi, bi, Bullerjahn,
Lass de Sunn unnergahn,
Lass sie wieder schîn(en)
Von hier bis Berlin.
Hinter Paretz,
Da liegt en scharf Metz;
Hinter Ma(r)kau,
Da liegt ne fette Sau.
Alt-Ruppin.
1) Grimm, Deutsche Mythologie 12, 1190 f. Firmenich, Germaniens Yölkerstimmen
1, 249. 352. 42G. 442. 2, 102. Simrock, Das deutsche Kinderbuch. 2. Aufl. (1857) S. 1C0
bis 163. Wegener, Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland 1, 101 —112. Müllcnhoff,
Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig-Holstein und Lauenburg S. 510. Woeste, Volks-
überlieferungen aus der Grafschaft Mark S. i.0. Frischbier, Preussische Volksreime und
Volksspiele S. Gl. Nachlese S. 12. Fiedler, Volksreime und Volkslieder aus Anhalt-Dessau
S. 79. Eskuche, Hessische Kinderliedchen S. 5G f. Alemannia XX, 200-203 (aus Franken).
Pantzer, Bayerische Sagen und Bräuche 1, 2G9. Hruschka und Toischer, Deutsche Volks-
lieder a. Böhmen S. 426. Am Urquell. N. F. 1, 34. 2, 107. 3, 203. 254. 294. 324. 4, 26. 198.
Bastlösereirae.
75
10. Hinter Bernau,
Da liegt ne fette Sau;
Hinter Berlin,
Da liegt en fett Schwîn.
Teschendorf, Kr. Ruppin.
11. Sibbe, sibbe, sente,
Mâk rai êne Fleute;
Sibbe, sibbe, sêpe,
Mâk mi êne Pfèpe.
Grosswoltersdorf, Kr. Ruppin.
Oder:
Sipp, sapp, sêpe,
Mach mi êne Pfêpe;
Sipp, sapp, seute,
Mach mi êne Fiente.
Friesack.
12. Krischan, Bischan, Bawelohn,
Lât de Fleut gôd afgâhn,
Lât se nich voderwen,
Lât se doch gôd werden,
Det se schallt bis Neu-Ruppin.
Da liggt en dick, fett Schwîn;
Da hippelt de Buck, da springt de
Zick
Bis öwern letzten Knaken;
De Bûer treckt den Haken;
De Jung met sine bunte Koh,
Immer tô, up un af;
Geit denn de Fleut noch nich
bald af?
Kraatz, Kr. Ruppin.
13. Beim Klopfen:
Sibbe, sibbe, seute,
Ik make mi ne Fleute.
Wovon? Von Thymian, von
Mayeran,
Det sind de besten Planten.
Krischän, Krischän, Bullerjähn,
Lât de Fleut gôd afgâhn,
Lât de Sunn schîn
Bis Oll-Martîn.
Beim Streichen:
Plätt af, plätt af, platt af!
Zernickow, Kr. Ruppin.
14. „Mutter, gef mi Lumpen!"
„Wat wiste met de Lumpen?"
„Stecknadeln holn!"
„Wat wiste met de Stecknadeln?"
„Sack dicken!"
„Wat wiste met den Sack?"
„Stêner lesen!"
„Wat wiste met de Stêner?"
„Vögel schmîten!"
„Wat wiste met de Vögel?"
„B rajen,
Daraet min Fleut gôd gerâjen."
Keller, Kr. Ruppin.
15. Hopp, hopp, hopp Bullerjähn,
Lât de Sunn unnergâhn,
Lât se werr schîn
Bes Ollen Roppin.
Da danzen de Schwîn,
Da fiddelt de Buck,
Da geit't immer schmuck, schmucl
(oder: Da geit't näh'n Heustall rup).
Strîk af, strîk af!
Strîk den Bulln den Büdel af!
Protzen, Kr. Ruppin.
16. Hopp, hopp, hopp, Bullerjähn,
Lât de Fleut nich unnergâhn,
Lât se nich vöderwen
In de dicke Erften,
Lât se nich vödüften
In de dicke Tliffeln.
Hinner Berlin,
Da liggt en fett Schwîn;
Hinner Paretz,
Da liggt ne lang Metz. Protzen.
17. In Ollen-Roppin
Da danzen de Schwîn,
Da ftddelt de Buck,
Da geit det so schmuck,
Blankenberg, Kr. Ruppin.
18. Hopp, hopp, hopp, Pummerjâhn,
Lât de Sünn unnergâhn,
Det se gôd geit,
Det se nich entwei geit. —
Strîk af, strîk af!
Strîk dem Bulln den Beuel af,
Det se gôd geit,
Det se nich entwei geit.
Blankenberg.
76
Haase: Bastlösereime.
19. Hopp, hopp, hopp, unnerjâhn,
Lât de Sunn unnergâhn,
Lât de Sunn schîn
Bet Old-Roppin.
Da danzen de Svvîn,
Da fiddelt de Buck;
Det geit mal recht schmuck!
Hinter Markau,
Da liggt ne Bidel Bädel Frau. —
Bit al', strik af!
Bit den Bullen den Beuel af,
Bit en nich so lang af,
Det er morgen wieder Bier und
Brantwein drinken kann.
Paalzow, Kr. Ruppin.
20. Hopp, hopp, hopp, hopp. Hobelmann,
Treck den Burn den Stäwel an.
Geit er nach 'n Bi'unnen,
Find't er 'nen klonen Jungen.
Maria mit der roten Taschen
Soll ihm die Windeln waschen.
Kantow, Kr. Ruppin.
21. Pott, pott, pott, pott, Müllerjahn,
Will de Pfêp nich alferga hn?
Hinter Ruppin
Liegt en Schwîn,
Hinter Wustrau
Liegt 'ne Sau.
Fehrbellin, Kr. Ost-Havelland.
22. Pell Widen ab! Pell Widen ab!
Pell du dem Bock den Büdel ab!
Brandenburg a. d. Havel.
23. Hopp, popp, popp, Punnerjahn,
Lât de Sunn unnergahn,
Lât de Sunn schîn
Bes Oll-Roppin.
Da fiddelt de Buck,
Da sind se so schmuck;
Da danzt de Bär,
Da geit et gôd her! —
Strik af, strik af!
Strik den Bulln den Bädel af!
Strik em nich to völ af!
Herzsprung, Kr. Ost-Priegnitz.
24. Hipp, hipp, hipp, hô,
Wipen von Stroh,
Wipen von Basterjâhn.
Lât mi min Fient afgâhn.
Pritzwalk.
25. Kloppe, kloppe, Bastian,
Lât mi ne klêne Flüt afgahn,
Se soll ja gar nich mine,
Se soll ja Bastian sine.
Lehnin, Kr. Zauche-Beizig.
26. Huppen (= Pfeife), Huppen, wôrte !
(= warte!)
Witte (— Willst du) nich gerôte,
Schmiss ich dich in Bach,
Frisst dich der Wach,
Schmiss ich dich in Tich.
Frisst dich der Wich,
Schmiss ich dich in Graben,
Fressen dich de Micken un de Made
[: Kraft, Saft!
En Tippchen (= Töpfchen) voll Saft
Bleicherode,
Kr. Grafschaft Hohnstein a. Har
27. Pfeifchen, Pfeifchen, gieb mir Saft!
Wenn der Bauer Hafer rafft,
Rafft er nicht alleine.
Der Hund hat krumme Beine,
Die Katze hat ein langen Schwanz,
Pfeifchen, Pfeifchen bleib mir ganz.
Hirschberg in Schlesien.
Auf einem Bauernhöfe im Gsiessthal in Tirol.
77
Auf einem Bauernhöfe im Gsiessthal1) in Tirol.
Von weil. Dr. med. Thomas Hell2).
Der Schmötzler Bauer in Emmersberg ist ein angesechner Bauer, hat
ein hübsches Anwesen, Äcker, weitschichtige Wiesenmähder, Wälder und
ein schönes Loach3). Es ist ein alter Familienstamm, der auf dem Iidmdt
(dem Familiengute) haust: seine Vorfahren, der Nene. TJrnêne und Gugge-
nêne (Grossvater, Urgrossvater und Ururgrossvater) sind lang schon im
Grab. Die Nandl (Grossmutter) ist erst vor etlen Jahren auf dem Rêchbretl
(Leichenbrett) gelegen, und erst noila hat man zwd Zivindln (Zwillinge)
begraben.
Das Haus ist dnschichtig (liegt einsam) auf dem Aarazberge und beim
Kirchsteig. Deshalb sind die Leute selten allein. Die Vettern und Muim,
der Gvatter und die Gvattrin kehren nicht ungern zu, und der Toete wTie
die Töte besuchen die Tôtenkinder (der Pate, die Pate, die Patenkinder).
Sie werden um Allerheiligen mit Nüssen und Kosten (Kastanien), um
Weihnachten mit Fogazen*), um Ostern mit gefärbten Eiern beschenkt.
Die Nachbarleute kommen im Winter zum wärmen, im Sommer zum
gassen5). Dann giebt es immer Bracht (Geplauder) oder Kartenspiel beim
Heimgart.
Im Winter sind die Ndterinen (Nähterinnen), die Schneider und Schuster
auf der Stear (Stör, Hausarbeit), und gegen den Langns6) kommt der
Weber, das Wintergespinnst aufzuwirken. Deshalb sitzen die Dirnen
(Mägde) von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends beim Spinnrade mit seinem
IJbergeisch (Spinnrocken) und spinnen das Werch für das rupfene und den
gehachelten Haar7) für das harbene Tuch. Die schwarze und weisse
M olle wird zum Loden, die elbe (bräunliche) dagegen zu Strümpfen ver-
wendet.
1) Das Gsiessthal ist ein Seitenthal des Pusterthals. Es wird vom Gsiessbach durch-
flössen, der am Südrand des Deferegger Gebirges entspringt und sich bei Welsberg in die
Rienz ergiesst.
2) Dr. Thomas Hell (geb. 21. Dez. 1810, gest. 16. Okt 1884) vrar durch lange Jahre
Arzt in Welsberg und ein genauer Kenner seiner Heimat. Er hat mir 1876 obige Schilde-
rung nebst vielen anderen Mitteilungen gegeben. K. W.
3) Eingefriedetes Waldstück mit Weide, mhd. loch.
4) Weizenbrote, ital. focaccia, sonst auch in Tirol die Pochenz oder Pochaz, mhd.
vochenze.
5) Zum Besuch über die Gasse, zur Unterhaltung, Lexer, Kämt. Wörterb. 109.
6) Kämt. Langiss, Langess, ahd. lengizo Lenz.
7) Der Haar: Plachs; harben: flachsen; rupfenes Tuch, aus Wergfäden ge-
webtes Zeug.
78 Hell :
Dieweil liegen die Knechte nach dem Nachtmahl und gemeinsamem
Rosenkranz(betert) auf der Ofenbank. Dann nehmen sie Weichenbrunn
(besprengen sich mit Weihwasser) und gehen mit einem Globeschristes
ins Bett.
In den Hoachenzeitentage7i — so hiessen die Weihnachten — wird das
heilige Mahl bereitet, die Fichten (Gerichte) in die Stube gestellt, mit
Weichen brunii besprengt und mit Meisterwurz (imperatoria ostrathium) ein-
geraucht; ebenso werden alle Geziinmer und Kammern geräuchert. Das
heilige Mahl beginnt mit einem Milchmus und Magen (Mohn) darauf; dann
folgt Arbessuppe (Erbsensuppe), verschiedenes Backwerk und schliesst mit
frischer lauterer Milch. Ein Gast, der Weihnachtslôter1), gewöhnlich ein
armer Anverwandter, ist geladen, in den drei Weihnachtsfesttagen an dem
Essen teilzunehmen.
Um Lichtmessen ist Schlang Icltag : der Wander- oder Ziehtag der Dienst-
boten. Die neuen Ehhalten treten ein, welche die Ar ri te (lat. arrha, das
Mietgeld) schon fearten (vorig Jahr) erhalten haben.
Die Ehhalten kosten den Bauer ein grosses Geld. Darüber hin muss
er noch dem grossen Knecht ein Paar Stämme im Walde zu hacken
erlauben als Zubusse zum Jahreslohn. Die Psorgerin (Besorgerin des
Rindviehs) begehrt ein Geschenk, wenn die Kühe kälbern oder wenn
Mästochsen verkauft werden, und die Kucheldim will zumorgens Kaffee
haben, weil ihr Magen die Formess (Frühstück) von Suppe und Mus2)
nicht mehr vertragen kann.
Der Kirchsteig ist immer ein viel betretener Weg, daher ist allzeit
viel Abwechselung beim Schmötzler Bauer. Das Bettelvolk hat seinen
Strich: kein Bettler bleibt unbeschenkt. Damit im Hause Glück und Segen
sei und kein böser Mensch darüber komme, giebt man Almosen gern. Es
sind aber nicht immer die Armen, sondern Leute, die den Bettel als Ge-
schäft betreiben, das bequemer und einträglicher ist als arbeiten. Zahlreich
kommen die Bladner8) und Camelger4): manchmal auch Törcher5) und
Zigeuner. Die letzteren sind besonders gefürchtet, weil ihr Fluch auf
Menschen und Tieren haftet. Man sagt: „mische kein Zigeunergeld unter
das deine, denn dann schwindet wie Laub auch das deine". Ferner: „Gieb
dem Zigeuner was er verlangt und besprenge die Schwelle, wenn er hin-
weg ist/'.
Abends kommen die Nachtherbig er. Es ist wohl nicht selten, dass einer
oder mehrere bei dem Bauer einkehren und um das „Übernachtzubleiben"
1) Der Lotter, Landstreicher, Bettler, aber auch in gutem Sinne eine Mannsperson.
2) Mues, Brei aus Mehl, Milch und Schmalz.
3) Leute aus Sappada in Friaul.
4) Leute aus Radola und Comelico in Cadore im Venetianischen.
5) Törcher, Dercher: Faulenzer; Landstreicher, die mit Weib und Kind herumziehen
und einen kleinen Hausierhandel mit Töpfen, Wetzsteinen u. dcrgl. treiben, oder Pfannen-
und Kesselflicker sind.
Auf einem Bauernhöfe im Gsiessthal in Tirol.
79
bitten. Sie bekommen Nachtessen und die Liegerstatt in der Stube oder
im Futterhause. Da giebt es auch immer etwas zu erzählen, was neu ist
and was die Zeitungen wissen und was die Leute im Hause gern hören.
Regelmässig an gewissen Zeiten erscheinen die Sammelpatern (Kapuziner
und Franziskaner), um Butter, Schmalz, Kerzen und Getreide oder auch
Geld durch ihre Träger in Empfang zu nehmen. Die Klöster dieser Orden
werden durch die Mildthätigkeit der Leute erhalten, und nur einmal, erzählt
man, sei es gewesen, dass die Hungerglocke geläutet hat.
Der freundliche Pater teilt im Hause Gaben aus: Paternkreuze und
Pfennige, geweihtes Kräuterpulver für das kranke Yieh, Lukaszettel unter
den Strohsack zu legen; er beschenkt die Knaben mit heiligen Bildern und
steckt den Mädchen Ringe an die Finger, und unter das Kissen des Wiegen-
kindes schiebt er ein geweihtes Amulet und schenkt noch extra ein Ska-
pulier der frommen Bäuerin. Sie zahlt ihm dafür noch eine heilige Messe,
und das erste Kalb der Kalbe wird dem Kloster gewidmet. Für das junge
Füllele lässt der Pater ein geweihtes Brevele (Amulet, Talisman) zurück,
das um den Hals des Tieres gehängt wird.
Die Bäurin kommt auch manchmal selbst in das Kloster und ist gern
gesehen. Sie bringt Eier, Rahm, ein Kitz oder sonst etwas, was sie sich
abgespart hat, und bekommt dafür Samen und junge Pflanzen für den
Garten und Ignaziwasser, den Kabis (Kopfkohl) zu sprengen, wenn die
Würmer darauf sind.
Die Ortsgeistlichen, die He arm, nämlich Gsellhearr (Kaplan), Fruli-
niesser und Pfarrer, kehren beim Schmötzler Bauer ein, wenn sie des
Weges kommen. Sie sind die Helfer und Ratgeber in allen Dingen. Der
Kooperator kommt auf Haar (Flachs) Sammlung für den Schuldienst; der
Messner ums Läutekorn für das Wetterläuten; der Artigerx) um Milchkorn
für den Gemeindedienst.
Der Pfarrer benediciert das Haus, wenn es am Geweichten2) fehlt,
den Stall, wenn ATieh erkrankt und das Butterfass, wenn die Butter nicht
zusammengeht. Er segnet das neugebaute Haus und die neuen Ställe ein,
er bereist die Alben, um sie vor dem Auftrieb des Yiehs zu segnen. In
der Kirche werden geweiht der St. Johannissegen3) um Weihnachten;
Totenkerzen an Lichtmessen; Scheiterholz am Weichenpfmztag4); Schinken,
Eier und Brot am Ostertag und der Weichebusch am Hoacliunserfrauentag5),
sowie die Palmreiser am Sonntag vor Ostern.
1) Aiuunger, der die Einung, die Gemeindeversammlung und die Steuern zu leiten
hatte, vgl. Schmeller, Bayr. Wb. 12, 90. Hier bezeichnet es den Gemeindeboten.
2) An den Dingen, die kirchlich geweiht sein sollen.
3) Wein, der am Tage Johannis des Evangelisten (27. Dez.) geweiht wird, der bei.
den Hochzeiten, auch vor Beiseli getrunken wird.
4) Weihenpfinztag, der heilige Donnerstag, Gründonnerstag.
5) Am grossen Frauentag, 15. August, an dem die Kräuter geweiht werden.
80
Baumgart :
Bei Wettern, wenn der Schauer (Hagel) droht, wird das geweihte Holz
und der Weichebusch auf dem Herde verbrannt.
Am St. Blasiustage «lässt man sich blasigen1) gegen das Halsweh, am
Aschermittwoch das Haupt äschern (mit Asche bestreuen).
Man geht wallfahrten: die Fütterleute zu St. Sylvester, dem Viehpatron,
zu St. Florian gegen Feuergefahr. Johann von Nepomuck hilft gegen
Gefahr des Wassers, St. Antoni findet das Verlorene, Appollonia hilft fürs
Zahnweh.
Bei besonderen Anliegen unternimmt man eine Wallfahrt nach Absam
(bei Innsbruck), in den Luschariberg (in Krain), auf den heiligen Berg im
Gailthal u. s. w. Und wenn man es selbst nicht thun kann oder mag, so
g-iebt es eigene Leute, gewöhnlich alte Gitschen (Mädchen), welche mentschel-
iveis hausen2), die solche Aufträge geschäftsmässig übernehmen und manch-
mal den ganzen Sommer dabei ihren Unterhalt finden.
Zu den Wallfahrten kommen noch die vielen gemeinsamen Kreuzgänge
(Bittprocessionen): im Frühjahr nach Innichen, Aufkirchen, Prags, Olang,
Enneberg, Virgen, Säben oder Ehrenburg. Dazu die zeitweiligen Jesuiten-
missionen, die Specialandachten, die Ablasstage und vielen letzen (ab-
gebrachten) Feiertage, welche mit den gebotenen zusammen im Jahr mehr
als hundert Tage betragen. Das giebt zusammen ein Bild des kirchlichen
Lebens, das auf Gewohnheit, geistlicher Autorität und Glauben beruht.
Der Bauer selbst ist selten daheim. Er geht seinen Geschäften nach,
besucht alle Märkte, sich in Kenntnis zu erhalten über die Vieh- und
Futterpreise, Vieh ein- und auszukaufen, hat in der Gerichtstube und
beim Advokaten zu thun, und verfolgt überhaupt nur sein persönliches
Interesse. Das, was dieses nicht unmittelbar berührt, kümmert ihn nicht.
Verschiedenes vom Aberglauben, von Sitten und
Gebräuchen in Mittelschlesien.
Von weil. August Baumgart3).
Wenn an einem Fliederstrauche (sambucus niger) sich zu gleicher Zeit
Blüten und schwarze reife Beerentrauben finden, so bedeutet dies den Tod
eines Familiengliedes, ebenso, wenn während des Läutens der Abendglocke
1) Der Geistliche hält den zu ihm herantretenden unter Gebett'ormel zwei brennende
Kerzen kreuzweis unter das Kinn; in Bayern einbläseln, Schmeller 12, 329.
2) Für sich allein als ledige Weibsbilder leben.
3) Zeitschrift III, 144 f.
Verschiedenes vom Aberglauben, von Sitten etc. in Mittelschlesien.
81
die Turmuhr schlägt, und gleichfalls, wenn irgendwo ein Kranker sich
befindet und in der Nähe seiner Wohnung abends eine Eule schreit oder
ein Hund heult.
Wenn bei Nacht oder abends heftiger Sturm sich erhebt, z. B. zur
Zeit der Aequinoktien, so bedeutet dies, dass sich jemand gehangen habe.
Wenn jemandem eine Rinde Brot heimlich in die Federbetten ein-
genäht wird, unter denen er schläft, so hat dies Unglück, langsam zehrende
Krankheit und wohl gar den Tod zur Folge.
Wenn eine Kuh kalbt, so muss sie drei Schwefelfäden und drei
Zwiebeln, alles zu drei Teilen gemischt, geschnitten, auf einem Stück Brot
bekommen. Tritt jemand Fremdes in den Stall, zu irgend welcher Zeit,
so darf nicht vergessen werden zu sagen: „Viel Glück in den Stall!" —
Kein Tier, weder Pferd noch Kuh, Kalb, Schwein u. s. w. darf, bei Gefahr
des Yerdorrens des betreifenden Tieres, schön oder hübsch genannt werden.
Als Zeichen des Beifalls sind nur die Wörtchen schmuck oder gärtlich1)
erlaubt. — Dem Kuhstall stetes Gedeihen zuzuwenden und die Hexen ab-
zuhalten, wurden sonst die Sommerreiser der Kinder2) an die Stallthiiren
gesteckt und nach jedem Lätare-Sonntage erneuert. Allerlei Unglück aber
kommt in den Stall, wenn unter die Schwelle oder Krippe Knochen von
einem gefallenen Tiere, vorzüglich derselben Gattung, oder auch Haare,
besonders Menschenhaare in einem recht verworrenen Knäuel verscharrt
werden. — Wird ein Kalb an einen Fleischer oder Viehhändler oder über-
haupt verkauft, so muss dasselbe rückwärts und mit aufgehobenem Schwänze
aus dem Stalle geführt werden.
Wird Brot gebacken, so werden gewöhnlich, damit es gerate, drei
Kreuze auf den fertigen Teig eingedrückt, unter der leise gesprochenen
oder gedachten Formel: „Im Namen Gottes etc." Ebenso Wird auf jedes
Brot, welches angeschnitten wird, auf seiner Kehrseite mit dem Messer
das Zeichen des Kreuzes gemacht, damit es gedeihe, doch so, dass der
Querstrich nach der Brust der anschneidenden Person hingezogen wird.
Mit dem Brote wird zuweilen ein höchst ungesundes und schweres
Gebäck bereitet, ein sogenannter Platz, d. i. ein Kuchen von gewöhn-
lichem Brotteige, mit Butter stark bestrichen und mit geschnittener grüner
Petersilie bestreut, der aber noch ganz warm gegessen werden muss.
Wenn die Nase juckt, so bedeutet das baldiges Kuchenessen, das Ver-
lieren der Schürze einen Patenbrief, das Jucken des rechten Auges bis
Mittag, dass man etwas gern sehen werde, das Jucken des linken Auges
bis Mittag, dass man Ärgernis haben werde; Nachmittags jedoch wechseln
die Augen ihre Rollen und ihre Bedeutung. — Nüchtern niesen bedeutet
ein Geschenk oder ein Gescheite. — Das Kratzen der Katze an der.
1) gärtlich entstellt aus gätlich (passend, schön, nett: Grimm, D. Wörterbuch IV, 1,
1. Sp. 1490 f.)
2) Die geschmückten Tannenzweige von der Sommerverkündung am Lätaresonntage.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1S94. (j
82
Baumgart :
Thürpfoste bedeutet Gäste, das Grasfressen der Hunde schlechtes Wetter.
— Kriecht eine Spinne am Morgen umher, so heisst es: „Spinne am Morgen
bringt Kummer und Sorgen!", am Abend aber: „Spinne am Abend, Er
quickung und Labung!" — Sonst gelten unruhige Spinnen, und zwar mit
Recht, dem Landmann als Zeichen eines höchst ungünstigen Witterungs-
wechsels, sowie man den Wiederschein der Abendröte im östlichen Gewölk
für ein ganz besonders günstiges Zeichen eines folgenden ausgezeichnet
schönen Tages hält. — Wenn es im März oder April über den noch kahlen
Busch donnert, so vermutet man noch einen Nachwinter. — Blitzt es in
die Baumblüte, so fürchtet man für das Gedeihen des Obstes. — Milde
Witterung ohne Schnee zum Weihnachtsfeste hat das Sprüchwort ver-
anlasst: „Grüne Weihnachten, weisse Ostern!" — Ebenso ist das Sprüch-
wort entstanden, wenn zu Ende des Frühlings und Anfang des Sommers
feuchte Witterung trifft: „Mai, Juni, Juli nass, füllet Scheuer und Butter-
fass".
An jedem Sonnabend, mit Ausnahme von dreien im Jahre, glaubt man,
müsse die Sonne scheinen, und wäre es auch nur auf Sekunden. Das
Wetter des Freitags soll das des Sonntags vorher bestimmen. Sogenannte
Wassergallen (regenbogenartige Erscheinungen am Himmel) bedeuten mehr-
wöchentlichen Regen, ebenso auch Nebensonnen.
Yom 23. April bis zum 24. August (von George bis Bartholoinä), also
in der Zeit der längsten Tage und der angestrengtesten Feldarbeit, ver-
pflichtet eine uralte Gewohnheit den Bauer, seinem Gesinde Vesperbrot zu
geben, sogenannte Klevasper; zu anderer Zeit hängt dies vom freien Willen
ab; daher der Reim:
„ Jö rgetâ g (Geo rge - Ta g)
„Brengt a Vespersâk,
„Borthelmê (Bartholomaeus)
„Traet (trägt) a (ihn) wieder hêm.
Schlucken bedeutet sehnsuchtsvolle Erinnerung entfernter Freunde;
deshalb sprechen wohl auch schluckende Mädchen: „Trost dich (tröste
dich) mei Schatz in der Weite, wenn du ni in der Nähnde bist" (vergi.
Weinhold, Beiträge z. schles. Wörterbuch, S. 84).
Ohrenklingen bedeutet, wenn auf die Frage: „Vor welchem Ulire klingt
mersch?" von dem Gefragten das betreffende Ohr nicht richtig erraten wird,
üble Nachrede.
Schwalben und deren Nester in einem Hause bringen Glück; sie zu
vertreiben und zu zerstören gilt für eine schwere Sünde. Lassen die
Schwalben jahrelang ihre Nester in einem Hause leer, so glaubt man, dass
Krankheit oder irgend ein chronisches Übel der Hausbewohner daran Ur-
sache sei. — Für einen glückbringenden Schutz des Hauses wird vorzüg-
lich in alten Gebäuden die von niemand gesehene, sich selbst in den Grund
des Hauses einwühlende, sogenannte Hausotter gehalten, von der man
»
Verschiedenes vom Aberglauben, von Sitten etc. in Mittelschlesien.
83
glaubt, dass sie zuweilen einen eigentümlichen, fast stinkenden, pecli- und
wachholderartigen Geruch von sich gebe, worauf dann gewöhnlich Regen-
wetter folge.
Ein Storch auf dem Giebel eines Hauses oder auf dem Wipfel eines
daneben stehenden Baumes schützt vor Feuersgefahr, wenn er dort nistet.
Die massiv gebauten Bauerngüter unserer Gegend mit ihren Ziegeldächern
und Feuerassekuranz-Tafeln haben aber die Störche aus den Dörfern ver-
drängt, darum werden dieselben vorzüglich nur noch gehegt in den Wald-
gegenden des rechten Oderufers, wo man ihnen wohl auch noch alte Räder,
um darauf ihre Nester zu bauen, auf Dächer und Bäume legt.
Schafe zur Rechten am Wege bedeuten einem Wanderer, dass er am
Ziele seiner Wanderung willkommen sein werde, Schafe zur Linken —
das Gegenteil. — Ein Hase, der über den Weg läuft, bedeutet Unannehmlich-
keiten und Verdruss.
Als Mittel gegen epileptische Zufälle und wohl auch Zahnschmerzen
gilt (selbst bei Vornehmen) ein zu einem Ringe geschmiedeter, in einem
Grabe gefundener Sargnagel.
Gegen Zahnschmerz hilft ferner ein ungesucht gefundener Tierzahn,
den man auf der Seite des leidenden Zahnes in den Kleidern trägt, so
nahe als möglich dem Körper (vorzüglich in der Ober-Lausitz an-
gewandt).
Die Finger- und Zehen-Nägel muss man Freitags abschneiden, dann
wachsen sie langsamer.
Mohrrüben dürfen nicht an einem Tage gesäet werden, der im Kalender
das Zeichen des Krebses trägt, sie bekommen sonst krebsscherenähnliche
Doppelschwänze.
Eine Wirtin und Verkäuferin soll in ihrer Geldtasche, aus der sie
wechselt, und in die sie Geld einnimmt, stets ein Otternköpfchen, d. h. ein
kleines rundes Muschelchen, tragen, dann wird sie in ihren Verkäufen und
Einnahmen immer glücklich sein.
Ein fremder Hund wird seinem neuen Herrn anhänglich, wenn dieser
ihm die Bissen Brot reicht, auf die er gepisst, oder je dreimal ge-
spuckt hat.
Wenn in einem Hause der Nachbarschaft Feuer ausbricht, so muss,
nachdem die eigenen Habseligkeiten in Sicherheit gebracht sind, der Tisch
in der Wohnstube auf die Platte umgestürzt werden, dann bleibt die eigene
Wirtschaft vor Gefahr geschützt.
Am Karfreitag vor Sonnenaufgang müssen Frauenspersonen, ohne ein
Wort zu sprechen, ja sogar ohne Vorübergehende zu grüssen und ihnen
zu danken, aus dem nächsten Flusse, Graben, Teich u. s. w. (aber nicht
aus einem Brunnen) einen Krug oder eine Kanne Wasser holen und ebenso
schweigend in ihre Behausung bringen. Es ist dieses Karfreitagswasser für
viele recht modern geputzte Bauerndirnen noch heute ein unentbehrliches
6*
84 Baumgart:
Schönheitsmittel der Haut; und selbst manche gnädige Frau verschmäht
es nicht, Scherzes und Versuchs halber, sich ausser ihrer Lilionaise auch
einmal damit zu waschen.
Als Schutzmittel gegen das kalte Fieber werden hin und wieder die
ersten drei Palmen (Weidenkätzchen), wohl auch die ersten drei Teilchen
verschluckt, die man findet. Als Sympathiemittel gegen das Fieber braucht
man zuweilen ein Froschgeschlinge, in eine gebackene Pflaume eingehüllt,
oder auch die weissen Exkremente eines Hundes (natürlich müssen diese,
sowie alle dergleichen Mittel, mit drei Kreuzen und der Formel: im Namen
Gottes u. s. w. gesegnet sein). — Als Sympathie gegen Hühnerwarzen werden
geraten: dreimaliges Beschöpfen und Bekreuzen mit dem Scheine des ab-
nehmenden Mondes (!), unter Flüsterung derselben Formel; dreimaliges
Bekreuzen (in nomine etc.) der Warzen und Bestreichen derselben mit
einer schwarzen Schnecke, die alsdann auf eine dünne Rute aufgespiesst
wird und langsam sterben muss; dreimaliges Bekreuzen mit Fleisch, welches
von des Tischnachbars Teller genommen sein muss;-dreimaliges Bekreuzen
mit heissem, neubackenem Brot. Alle diese Mittel müssen aber heimlich
und bei abnehmendem Mond gebraucht werden. — Ebenso darf man sich
weder selbst noch anderen die Hühnerwarzen zählen, weil man dieselben
sonst auf andere Teile des Körpers überträgt, oder auch bei anderen, die
dadurch davon befreit werden, sich ansteckt.
Als Mittel gegen die Gelbsucht dient, dem Kranken dreimal unvermutet
in die Augen zu spucken.
Ins Wasser zu pissen, gilt bei vielen alten Leuten noch heute für einen
Frevel, der nichts anderes bedeutet, als Gott ins Angesicht pissen, weil
sich der Himmel im Wasser spiegelt.
Am Walpurgisabende pflegt man wohl noch hin und wieder Rasen-
stücke und Besen kreuzweis vor die Thüren der Ställe zu legen; es werden
dadurch die Hexen abgehalten.
In den schlesischen Bergwerken, sowohl bei Waldenburg, als auch in
Ober-Schlesien, darf kein Bergmann in der Grube pfeifen, es liiesse dies
den Berggeist erzürnen und herausfordern. So trägt auch jeder ober-
schlesische Bergmann, als guter Katholik, einen in Form eines Gesichtes
plump ausgeschnittenen Tuchfleck, welcher seinen Schutzheiligen bedeutet,
als Amulet an einer Schnur um den Hals auf blossem Leibe. — In den
allermeisten Gruben- und Hüttenwerken Mittel- und Ober-Schlesiens, ohne
Unterschied der Konfession des Besitzers, der Beamten und Arbeiter, wird
die Mannschaft täglich des Morgens zum Gebet versammelt.
Furcht und Grau vor Kirchhöfen und leeren Kirchen zur Nachtzeit
bleiben wohl unaustilgbar, man hält sie für unheimliche Tummelplätze von
Geistern, ebenso wie die Kreuzwege, auf denen man möglicherweise den
Zug der Hexen sehen kann.
Verschiedenes vom Aberglauben, von Sitten etc. in Mittelschlesien. 85
Während der Ernte binden die Schnittermädchen anständig gekleidete
Vorübergehende entweder mit künstlichen Blumen und seidenen Bändern
(so vorzüglich ihre Herren) oder mit einigen verschlungenen Ähren, um
Trinkgelder zu erhalten, und bedienen sich dabei folgender Verschen: —
entweder:
„Sie werden mir s nicht ungütig nehmen, Sie zu binden:
„Ich binde Sie mit einem Band, dass Sie greifen aus Ihrer Tasche in
„meine Hand."
Oder: „"Wir binden Grafen und Fürsten,
„AVir trinken, wenn wir dürsten,
„Es mag sein Bier oder Wein:
„So sollen Sie auch mit eingeschlossen sein!"
Der gewöhnliche Neujahrswunsch der Landleute lautet: „Ich gratuliere
Ihnen zum neuen Jahr! Frisch und Gesundheit! — Fried' und Einigkeit! —
und nach diesem Leben die ewige Freud' und Seligkeit!"
Träume von Überschwemmung, Schlamm, Morast und dergl. bedeuten
Krankheit, wohl gar einen Todesfall; — von Feuer ohne Rauch Glück und
Geld; — von Rauch Ärgernis und Yerdruss; Ausfallen der Zähne Unglück,
wohl gar auch einen Todesfall. —
Die erste Schwalbe im Fluge, der erste Pflug im Zuge, auch der erste
Frosch im Trocknen bedeuten ein günstiges, glückliches Jahr.
Wenn drei Lichter zufällig auf einem Tische brennen, so bedeutet
(lies, wenn mehrere Personen im Zimmer anwesend sind, dass darunter
eine Braut sich befinde.
Strohhalme in der Stube, auf der Diele bedeuten Gäste; vorzüglich
aber werden spitzfindige Gäste vermutet, wenn eine Schere oder Gabel
auf den Fassboden fällt und einspickt.
Das Krähen der Hühner (ähnlich dem Schreien des Hahnes) bedeutet
irgend ein Unglück, vorzüglich Feuer. — Auch ohne die gefürchteten
traurigen Folgen ist solches Krähen dem Landmanne höchst fatal, weil
alsdann die Henne nicht mehr legt; daher das Yerschen:
„Mädeln, die pfeifen, und Hühnern, die krähn,
Muss man bei Zeiten den Hals umdrehn."
Aus einem und demselben Glase sollen befreundete Personen nicht
trinken, sie werden sich sonst gram; auch sollen sie sich weder Nadeln
noch Messer schenken, weil diese die Liebe und Freundschaft verletzen,
es sei denn, der Geber hätte sich vorher damit eine kleine aber blutige
Wunde beigebracht, wodurch der schädliche Einfluss aufgehoben wird. —
Verbände von Wunden und gebrauchte Pflaster dürfen nur in iiiessendes
Wasser, aber ja nicht ins Feuer geworfen werden; im ersteren Falle wird
die Heilung beschleunigt, im letzteren Falle aber möglicherweise ein un-
heilbarer Schaden herbeigeführt.
A
86
Rademacher :
Einem Gehangenen, wenn er abgeschnitten wird, muss zur Strafe für
sein Verbrechen, sowie als einfacher Wiederbelebungsversuch baldigst eine
Ohrfeige gegeben werden, auch dann noch, wenn bereits Spuren von Ver-
wesung eingetreten sind.
Träume von Bienen bedeuten Feuer. — Die Erfüllung sämtlicher
bedeutungsvoller Träume wird innerhalb einer Frist von drei Tagen ge-
setzt, wenigstens der Anfang der Erfüllung. Was man in den zwölf
Nächten, vom Weihnachtsheiligenabende ab, träumt, gilt als ein Schicksals-
orakel für jeden der betreffenden Nacht entsprechenden Monat des ganzen
Jahres.
Wenn am Weihnachtsheiligenabende das Licht angezündet wird, so
muss man sich an den Wänden umsehen, ob einer von den im Zimmer
befindlichen Personen am Schatten der Kopf fehlt. Wo dies der Fall ist,
stirbt die betreffende Person im Laufe des Jahres. — Dieser Aberglaube
hat wohl darin seinen Grund, dass in vielen, auch den armen Familien an
diesem Abende zwei Lichter angezündet werden, wo dann die Doppel-
schatten sich kreuzen, und einzelne Körperteile, wie besonders die Köpfe,
nur ganz schwach ausgedrückt erscheinen, ja fast verschwinden.
Alle Kräuter und Wurzeln, vorzüglich solche, die zu sympathetischen
Kuren gebraucht werden, wie z. B. Schwarzwurzel u. s. w., müssen am
Johannistage, mittags 12 Uhr, gesammelt und gegraben werden, sonst sind
sie kraftlos.
In der Advents- und Fastenzeit geht der weibliche Teil der Ge-
meinden, wohl ohne Unterschied der Konfession, schwarz gekleidet (oder
doch wenigstens dunkel) in die Kirche.
Kleine Mitteilungen.
Das Spengeltucli.
Ein Totenbrauch aus der Eifel.
Nach mündlichen Mitteilungen aus Heisdorf, Bleialf, Bleckhausen und Ringhusclieid.
Spengel bedeutet Nadel; man braucht in der Eifel den Ausdruck „ spengein ",
um das Feststecken von Bändern vermittelst Stecknadeln zu bezeichnen. Dieses
„Spengein" findet aber nur Anwendung bei der Herrichtung des Leichen- oder
Bahrtuches, das darum auch kurzweg „Spengeltuch" genannt wird.
Zu dem „Spengeltuche" wird ein feingewebtes Linnen (Tischtuch) genommen,
gross genug, dass es, über den Sarg gelegt, nach allen Seiten lang herunterhängt.
Kleine Mitteilungen.
87
Dieses spengelt man nun mit möglichst buntfarbigen, schmäleren und breiteren
Bändern, künstlichen Blumen, wiederum sehr bunten, und kleineren Sträusschen
von frischem Palm.
Die Art der Ausschmückung ist folgende:
In der Mitte ein grosses Kreuz; es ist so angebracht, dass unter diesem beim
Gebrauche des Tuches gerade der Sargdeckel sich befindet. Dort, avo die Balken
sich kreuzen, befindet sich eine grössere Banc!rosette, kleinere an den Enden der
Balken.
Je eine grössere Rosette ziert auch die Ecken des Tuches, während die Seiten
desselben mit umgeschlagenen, im Zickzack laufenden Bandstreifen gespengelt
sind. Die noch frei bleibenden Stellen werden durch Blumen, Palmsträusslein
und Palmrosetten in passenden Zwischenräumen ausgefüllt.
Dieses Leichentuch wird am Vorabende des Begräbnistages hergerichtet und
zwar in dem Sterbehause. Die Mädchen der Nachbarschaft, örtlich sogar die des
ganzen Dorfes, versammeln sich dort unter Leitung und Beaufsichtigung der
ältesten Teilnehmerin. Ist das Tuch „gespengelt", erhalten die Mädchen einen
Kaffee.
Beim Begräbnisse steht das älteste Mädchen, örtlich auch das zunächst
wohnende, mit dem Tuche im Sterbehause bereit, um in dem Augenblicke, wenn
der Sarg über die Thürschwelle getragen wird, den Sarg mit dem Tuche zu be-
decken. Dafür geniesst das Mädchen auch die Ehre, beim Leichenzuge unmittel-
bar hinter den Leidtragenden einherzugehen. Wird der Sarg ins Grab gesenkt,
muss es wiederum das Tuch abnehmen und in die Kirche tragen, wo es den vor
dem Altare hergerichteten Katafalk ziert, oder, falls dieser nicht aufgestellt wurde,
(bei Kinderbegräbnissen) die Kommunionbank.
Nicht jeder Gestorbene erhält ein solches Leichentuch ; nur die unverheirateten
Personen, Kinder, Jünglinge und Jungfrauen; gefallene Mädchen sind ausgeschlossen.
Allen verheirateten Personen wird der Sarg mit einer ungespengelten weiss-wollenen
Decke (Schoats) bedeckt.
Bis zur nächsten Totenmesse, die meistens einige Tage nach dem Begräbnisse
stattfindet, bleibt das Spengeltueh in der Kirche, dann wird es von dem ältesten
Mädchen wieder in das Sterbehaus gebracht. An dem folgenden Sonntage ver-
sammeln sich dieselben Mädchen daselbst, um das Kleid, wie man sagt, „abzu-
spengeln".
Die Bänder und Blumen werden abgenommen durch das Ausziehen der Nadeln,
da strenge darauf gehalten wird, dass nichts auf dem Tuche angenäht war. Die
Bänder werden aufgerollt und mit den Blumen in Schachteln gelegt. Darauf findet
wiederum eine kleine Bewirtung für die Mädchen statt. Das Tuch wird der Familie
übergeben und die Bänder dem ältesten Mädchen zur Verwahrung übertragen bis
zum nächsten Sterbefalle.
Bemerkenswert ist noch, wie die Bänder und Blumen gesammelt werden.
Beim Mailien („Am Urquell" Bd. IV S. 231) habe ich berichtet, dass die
Burschen der Eifeldörfer sich erkundigen, wenn der Bräutigam einmal während
der Verlobung im Hause seiner Braut weilt. Die Burschen gehen dann in das
Haus. Der älteste von ihnen trägt einen Strauss, nicht von Blumen, sondern es
ist ein Tannenzweig, der mit allerlei bunten Bändern geschmückt ist. Dieser
Strauss wird nach Hersagung eines Spruches und dem Versprach von Seiten des
Bräutigams, eine gewisse Summe Geld za geben, diesem feierlich überreicht. Die
Bänder des Strausses gehören der Braut und sie werden dem dörflichen Vorrate
von Bändern zum Herrichten des Spengeltuches von dieser geschenkt. Auch hat
88
Frischauf:
jede Familie, der ein Tuch gespengelt worden ist, eine Rolle Band oder eine
Blume neu zu stiften.
An einigen Orten wird anstatt des weissen Tuches ein blaues gespengelt.
Dieses blaue Tuch gehört «der Kirche, das jedesmal in das Sterbehaus gebracht,
dort in der oben beschriebenen Weise auf- und abgespengelt wird. Die Bänder
sind auch hier im Verwahr des ältesten Mädchens.
Der Brauch führt die Bezeichnung: Kleidspengeln.
Köln. C. Rademacher.
Schwerttaiiz und Wettlauf.
Im Pfarrgedenkbuche von Leesdorf bei Baden in Nieder-Üsterreich findet sich
zum Jahre 1694 die Bemerkung, dass jährlich am Kirchweihfeste, d. i. dem Tage
Johannis des Täufers, ein Wettlaufen stattfinde, an welchem sechs Mädchen und
sechs Burschen teilnehmen. Die Herrschaft Melk widmet die Preise. Zu diesem
Wettlaufen wurden auch die Burschen und Mädchen der Nachbarorte Brailen und
Weikersdorf geladen.
Vor dem Wettlauf ward zu Johannis in den genannten Dörfern Leesdorf,
Brailen und Weikersdorf bis gegen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein
Schwerttanz in der Weise gehalten, dass hölzerne bemalte Schwerter1) in die Erde
gesteckt wurden, zwischen denen die jungen Bursche hin und her sprangen.
Näheres hat sich nicht mehr ermitteln lassen, obschon sich die Erinnerung
an den Schwerttanz und Wettlauf bei alten Leuten noch bis jetzt dort er-
halten hat.
Wien. Dr. Eugen Frischauf.
Zu Zeitschr. IV, 54 ff. „Wiegenlieder aus dem Spessart" von A. Englert.
1. Zu S. 57, 3. Zeile von unten. — Es sei hier noch auf eine sehr inter-
essante Sage hingewiesen, welche Robert Hunt in seinen Popular romances of the
West of England, London 1865, Bd. I, S. 246 und Bd. II, S. 50 mitteilt. Nach
dieser Sage befand sich in Altarnun oder Alternon in Cornwallis eine Kirche,
welche aus den Überresten eines alten Nonnenklosters erbaut war, das aus den
ersten Zeiten des Christentums stammte. Als Gründerin des Klosters gilt St. Nunne,
die auch St. Nuanita, St. Nun oder St. Ninni e genannt wird. Bei dem Kloster
befand sich ein heiliger Brunnen mit wunderthätiger Kraft. — Man vergleiche
mit dieser Sage die Nonnensagen bei Panzer a. a. 0.
2. Zu S. 56 und 59 f. - In der trefflichen Sammlung. „Deutsche Volks-
lieder aus Böhmen", herausgegeben von Hruschka und Toischer, Prag 1891, ist,
wie ich nachträglich sehe, S. 393 f. eine Reihe von Wiegenliedern zusammen-
1) Hölzern sind die Schwerter auch in dem Harzer Schwerttanzspiel (Möllenhoff
über den Schwerttanz in den Festgaben für Homeyer. Berlin 1871. S. 141) und in dem
ballo alla scherma zu Messina (Dunlop, Geschichte der Prosadichtungen, übersetzt von
Liebrecht S. 516). In Neapel war aus dem Schwerttanz ein Stockttanz (Imperticata) ge-
worden (Liebrechts Übersetzung von Basiles Pentamerone 2, 253).
Kleine Mitteilungen.
89
gestellt, welche mit dem von mir Zeitschrift IV, S. 56 und 59 f. besprochenen
Wiegenreime offenbar eng verwandt sind. An Stelle des lieben Herrgotts findet
sich in den Reimen aus Deutsch-Böhmen der Tod. Nur eine Fassung (Nr. 80),
deren zwei erste Zeilen wahrscheinlich unter Anlehnung an die Reime eines
anderen weitverbreiteten Wiegenliedanfanges *) umgestaltet sind, hat „Grauf"
statt „Tod".
In der Fassung Nr. 78a und b hat der Tod ein kleines Körbchen, um die
Kinder hineinzustecken. Ebenso hat der Grâuf in Nr. 80 einen kleinen Hand-
korb („a guldnas Züstrl"). In 79c hat der Tod einen grossen Schlitten,
in 79c? ein goldenes Wägelchen, worin er die Kinder mitnimmt.
Die beiden letzteren Fassungen lasse ich der leichteren Vergleichung halber
hier folgen.
79 c. 79 d.
<
Schiauf, Kinnal, sause, Schlâuf, ma" Kinnrl, schläuf,
Ta Täud stäiht untan Hause, In'n Gart'n sitzt da Tâud,
Haut aran grauss'n Schign mit, Haut a gol das Waghrl mit,
Nimmt a döia schreiata Kinna âlz'sâmm Wennst net schläfst, sa nimmt a di mit.
mit.
Plan. Plan.
Varianten von 79 a kommen auch in Preussisch-Schlesien und in der Provinz
Preussen vor (s. Hruschka S. 524). Bei Firmenich I S. 285 steht eine besonders
stark an Nr. 78, zum Teil auch an 77 anklingende Fassung aus Koesfeld (West-
falen), in welcher der dem Tod entsprechende „Mann" gleichfalls mit einem Trag-
korb („met de Kiepen") erscheint.
Die Attribute, mit denen der Tod in Nr. 79c und d auftritt, deuten auf den
seelengeleitenden Wotan-Hermes hin2), und ich glaube, dass die fraglichen
Lieder auf dasselbe ursprüngliche Lied zurückgehen, wie der Zeitschr. IV S. 56
und 59 f. von mir besprochene, inhaltlich verwandte Wiegenreim, in welchem der
liebe Gott vermutlich an die Stelle Wotans getreten ist. Ja vielleicht liegt uns
ein weiteres urverwandtes Lied in folgendem Wiegenreim aus der Oberpfalz vor,
in welchem derWoutzel wahrscheinlich kein anderer ist als Wotan (vgl. Bavaria,
Bd. II Abt. 1 S. 235):
Schweig stilla g'schwind,
Mä loibes Kind!
Da Woutzl kummt
Und nimmt de mit.
Schweig stilla g'schwind
Und halt da Mäul,
Er is schou drass'n
Mit sein' Gäul!
Dou, dou, dou, dou!
München. Anton Englert.
1) Schlaf, Kindchen, schlaf, Dein Vater ist ein Graf. — Vgl. Hruschka S. 393 Nr. 73
bis 75, Ziska und Schottky, österreichische Volkslieder, Festh 1819, S. 6, Dunger, Kinder-
lieder aus dem Vogtlande, Nr. 6 etc.
2) Vgl. Zeitschrift IV, S. 60. — Über die Berührung des Todes mit Wotan, vgl.
Grimm, Deutsche Mythologie, 4. Aufl.Ii, 700 flg., Vernaleken, Mythen und Bräuche des
Volkes in Österreich, Wien 1859, S. 65 flg., besonders 82, 89.
90
Engl ert:
Zu dem Liede „Die Sonne steht am Himmel".
(¡Zeitschrift III, 183 und 338.)
Die erste der beiden nachstehenden Passungen habe- ich im vergangenen
Herbste im Stanzer Thal in Tirol gehört, die zweite wurde mir von Herrn Franz
Straff aus Graz mitgeteilt.
1.
Die Sonne sank im Westen,
Mit ihr da schied die Schlacht;
Sie senkte ihre Strahlen,
Da kam die dunkle Nacht.
Und mitten unter den Toten
Lag sterbend ein Soldat,
Und neben ihm zur Seite
Sein treuster Kamerad.
Vernimm, mein liebster Bruder,
Was ich dir sagen muss:
Ich fühle, dass ich sterbe.
Und von dir scheiden muss.
Nimm du den Ring vom Finger,
Wenn ich gestorben bin,
Und alle meine Briefe,
Die im Tornister sind.
Und sag', ich sei geblieben
Bei Sedan in der Schlacht,
Hab' in den letzten Zügen
Noch treu an sie gedacht.
Und sollte sie einst stehen
Vereint vor dem Altar,
So wünsch' ich ihr alles Gute,
Und dies zum letzten Mal.
Nur Sonne, Mond und Sterne,
Sie scheinen auf ihn herab,
Und leuchten dem toten Soldaten
Ins kühle dunkle Grab.
Die Sonne strahlt im Westen,
Mit ihr verschwindt die Nacht;
Da senkte sich der Schleier
Bei klarer Mondesnacht.
Mitt' unter den Gefallnen
Liegt sterbend ein Soldat,
An seiner Seite knieet
Sein treuer Kamerad.
Er senkt sein Haupt hernieder,
Der Sterbende, und spricht:
Vernimm, mein treuer Bruder,
Was mir am Herzen liegt:
Nimm diesen Ring vom Pinger,
Wenn ich gestorben bin,
Und alle meine Briefe,
Die im Tornister sind.
München.
1) Marktflecken in Bosnien. Hier fi
Zusammenstoss mit den Insurgenten statt.
Und sollte dich einst führen
Zur Heimat das Geschick,
So bringe meinem Liebchen
Dies Liebespfand zurück.
Und sag', ich bin geblieben
Zu Maglai1) in der Schlacht,
Und in den letzten Zügen
Hab ich an sie gedacht.
Und sollte sie einst führen
Einen andern zum Altar,
So soll sie oftmals denken,
Wer ihr Geliebter war.
Nun woll'n wir Abschied nehmen,
Gieb mir den letzten Kuss,
Ich fühle, dass ich sterbe
Und von dir scheiden muss.
Anton Englert.
am 3. und 5. August 1878 der erste blutige
Kleine Mitteilungen.
91
Aus Bekehrungsgeschichten der Jesuiten.
Über die Bekehrungen von Lutheranern, Calvinisten und Juden, welche die
Jesuiten der böhmischen Provinz in Böhmen, Mähren und Schlesien während der
Jahre 1661 —1678 ziistande brachten, hat das Mitglied der Gesellschaft Jesu,
F. Bohuslaus Balbinus, einen Bericht verfasst (Relatio progressus in exstirpanda
haeresi etc.), der in einer Handschrift der kais. Hofbibliothek in Wien (no. 8038
ree. 1479) erhalten und von P. Anton Rezek in den Sitzungsberichten der k. böhm.
Gesellschaft der Wissenschaften. Phil. hist. Cl. v. J. 1892 (Prag 1893. S. 203—257)
herausgegeben worden ist. Es kommen darin einige Geschichten vor, die für den
Aberglauben der Zeit, auch unter den Vätern Jesu, Zeugnis ablegen.
1. In Glogau in Niederschlesien wurden 1670 sechsundsechszig Lutheraner
bekehrt, darunter ein Weib, das in einer Vision zur Hölle gefahren war und dort
die Qualen der Lutheraner geschaut hatte. Als sie wieder zu sich kam, liess sie
einen Jesuiten holen, ward aber vom Teufel (a daemone) in Gestalt eines graus-
lichen Tieres so ausser sich gebracht, dass sie im Wahnsinn Hand an sich legen
wollte. Ein Schluck vom Ignatiuswasser (haustus aquae Ignatianae) brachte sie
wieder zu Verstände und trieb den Teufel samt der Ketzerei für immer aus ihr
(a. a. 0. S. 225).
2. In Komotau in Böhmen bekehrten die Jesuiten 1670 nur zwei, darunter
aber einen aus Sachsen gebürtigen militärischen Mineur (in cuniculis subterraneis
moliendis artifex militaris). Derselbe hatte einen Hausgeist, der in Gestalt einer
Fliege immer unter seiner Achsel sass und ihn unverwundbar machte. Aber all-
gemach ward er seiner überdrüssig und er warf ihn ins Wasser, wiederholt auch ins
Feuer. Doch stets vergebens Die Fliege kam immer unter die Achsel des Mannes
zurück, auch der Verkauf derselben an einen Kameraden gleiches Gelichters half
nichts. Als sich aber der Mann an einen Jesuiten wandte und seine Ketzerei ab-
schwur, war er von dem teuflischen Geiste befreit (a. a. 0. 224).
3. Im Jahre 1662 ereignete sich eine höchst merkwürdige Bekehrung (memo-
rabilis maxime conversio) an einer Lutheranerin in Breslau. Dieselbe glaubte sich
von einem fürchterlichen Gespenst durch finstere und steile Gegenden geführt und
beunruhigte durch ihr Angstgeschrei die Hausgenossen. Da erschien ihr im Traum
ein Mann von würdigem Aussehen und sprach: „Du gehst, meine Tochter, nicht
auf dem Wege des rechten Glaubens. Besuche eine katholische Kirche, da wirst
du Rettung und Seelenfrieden finden." Trotzdem ging die Frau am nächsten
Morgen in die lutherische Magdalenenkirche; doch hörte sie den Prediger auf der
Kanzel nicht und sah keinen Menschen, obgleich das Gotteshaus dicht voll Zuhörer
war. Erschreckt ging sie nun in das Jesuitenkollegium und meldete sich zum
Übertritt. Sie ward von den Vätern unterrichtet und nach Empfang des hl. Abend-
mahls in den Schoss der alleinseligmachenden Kirche aufgenommen. Ein unglaub-
licher Trost übergoss sie, und standhaft bekannte sie jedem, der sie fragte, dass
alles so geschehen sei. K. W.
Ostfriesische Lautspiele und Sprechübungen.
1. Sniders schêr snidt scharp,
scharp snidt sniders scher etc.
2. Uns' grôt knecht sne dre sne stute,
dre sne stut' sne uns1 grôt knecht etc.
92
Dirksen:
3. Jöde, mi jökt de nös'.
.Jökt di de nös' ôk Jöde?
4. Moders maid mâld moi musterd,
moi musterd mâld modera maid etc.
5. De Larrelter kark, de hangd ful krallen, ful klinkerklare, rosenrode blôds-
krallen etc.
Die unter 1—5 verzeichneten Sätze geben sich die Kinder in Ostfriesland zum
Nachsprechen auf. Die Sätze sind wiederholt geläufig und richtig zu reproduzieren,
was einem im Sprechen weniger geübten Kinde nicht selten Mühe macht. Anstatt
snidt in Nr. 1 wird gewöhnlich schit, anstatt stute in Nr. 2 snute, anstatt jökt
in Nr. 3 nökt gesagt. Da die bei der fehlerhaften Wiedergabe entstandenen
Wörter in der Regel etwas Unanständiges bezeichnen, so gesellt sich zum Arger
über den Misserfolg noch der Spott der Kameraden. Das erste Sprüchlein ist
auch gedruckt in den Kinder- und Ammenreimen in plattdeutscher Mundart
(Bremen 1836) auf S. 40, bei Simrock, Kinderbuch Nr. 982, Frischbier, Preussische
Yolksreime Nr. 421, das unter Nr, 5 gebotene in Kern und Willms' Sprichwörter-
sammlung S. 10 Nr. 58. Nichtostfriesen, besonders solche, welche sich der hoch-
deutschen Sprache bedienen, dürften kaum imstande sein, die vorstehenden Sätze
sofort richtig und geläufig nachzusprechen. Am meisten Schwierigkeit machen die
unter 1 und 2 gebotenen Beispiele wegen des in ihnen auftretenden sn; durch die
Zusammenstellung mit sch oder st wird dieselbe nicht unwesentlich erhöht.
Sammlungen solcher Lautspiele und Sprechübungen bei Simrock, Kinderbuch 2 278
bis 284. Stöber, Elsässisches Volksbüchlein 2 217—253. Rochholz, Alemannisches Kinder-
lied und Kinderspiel S. 21—47. E. Meier, Deutsche Kinderreime aus Schwaben S. 87—89.
Dunger, Kinderlieder a. d. Vogtlande 2. Aufl. S. 130. Wegener, Volkstümliche Lieder aus
Norddeutschland Nr. 183—186. Kinder- und Ammenreime in plattdeutscher Mundart (Bremen
1836) S. 40—42. Frischbier, Preussische Volksreime Nr. 398—430. Nachlese Nr. 154—175.
Carl Dirksen.
Grabinschrift auf dem Freithof von Grossensass.
Der ehrengeachte
Johann Auckenthaler geweßter Wirth und
Fleischhauer dahier 1849
Als Metzger im Leben
Geschlachtet oft hab
Ingleichen so will auch
Ich bitten für euch
Das wir einstens kommen
Ins himmlische Reich.
Meine Stund hat ausgeschlagen
Gattin Kinder lebet wohl
Denn das Maaß meiner Tage
Ist erfüllt und übervoll.
Dir Gemahlin sei mein Segen
Und mein Dank für Lieb und Treu,
Lass dir nun sein angelegen
Unsere Kinder alle zwei.
Zur Nahrung der Menschen
Das Vieh als Gottgab.
Nun lieg ich im Grabe
So gehts auf der Weld
Wo alles so eitel
Und kurz ist bestellt.
Seit doch meiner Seele
im Gebeth eingedenk
Und oft einen Weihbrunn
Und Messopfer schenkt.
M. v. W.
Kleine Mitteilungen.
93
Das YVeilinaclitspiel
im grossen Saale der Musik-Gesellschaft in Wien.
Weihnachten 1893.
In den Weihnachttagen 1893 hatte die litterarische und musikalische Gesell-
schaft Wiens einen besonderen Genuss: die Aufführung eines Mysteriums von der
Geburt des Heilands, gedichtet von Richard Kralik, auf Kosten der Leogesellschaft
in dem Saale des Musikvereins von Künstlern und Dilettanten dargestellt, die
Chöre und Lieder von 70 trefflich geschulten Knaben der städtischen Waisen-
anstalt gesungen, Dekorationen und Kostüme so schön als Wien es gewohnt ist.
Der frühere Direktor des Burgtheaters, Baron Alfred v. Berger, hatte die Regie
übernommen, seine reizende Gemahlin, die Burgschauspielerin Hohenfels, spielte
den Engel Gabriel, Hofschauspieler Schreiner den Josef, Kapellmeister Hermann
leitete das Musikalische. Der grosse Saal war bei der Generalprobe wie bei der
Hauptaufführung bis zum letzten Platz besetzt und die Teilnahme der Zuschauenden
und Zuhörenden ward erregt durch das seltsam mittelalterlich anmutende Spiel.
Richard Kralik, dessen Gattin, eine edle Frauengestalt im Stil Anselm Feuer-
bachs, die Maria gab, hat sich mit unserm volkstümlichen Schauspiel seit langem
beschäftigt, wie seine Ausgabe deutscher Puppenspiele (Wien 1885) beweist. Es
war ihm der Gedanke wohl durch das Oberammergauer Passionsspiel gekommen,
es mit dem in Österreich noch unter dem Landvolk wohl bekannten Drama des
Weihnachtcyclus zu versuchen, ob es lebendig gemacht werden könne auch für
die feine moderne Gesellschaft. Grundlagen für seine Neudichtung fand er überall.
Seitdem K. Weinhold (1853) die Paradeis-, Christkinde]- und Dreikönigsspiele für
die Litteratur wieder entdeckt hatte und K. J. Schröer in der Forschung ihm nach-
gefolgt war, ist in den verschiedensten deutschen Ländern, nicht zum mindesten
in den österreichischen Donau- und Alpenlandschaften, das Weihnachtspiel auf-
gespürt und bekannt gemacht worden.
Kralik wusste auch, dass Hans Sachs von Einlluss auf diese geistlichen Spiele
gewesen ist. So hielt er denn sein Mysterium im Stil des Nürnberger Meisters
und lehnte sich im Inhalt so häufig an die von Weinhold, Schröer u. a. gedruckten
Texte, dass man den Text des Kralikschen Weihnachtspiels, das mit einem
musikalischen Anhang, welcher die vierzig Chöre in vierstimmigem Satze enthält,
bei C. Konegen in Wien (1894) erschien, mit Noten aus den Ausgaben der oben
genannten Gelehrten reichlich versehen könnte.
Kralik hat das Mysterium in zwei Teile zerlegt: der erste beginnt mit dem
Prolog im Himmel, worin die Menschwerdung Gottes des Sohnes beschlossen wird
und schliesst mit der Anbetung der Hirten; der zweite ist im wesentlichen ein
Herodesspiel und endet demgemäss mit der Heimkehr aus Egypten. Diese Zwei-
teilung ist der Dichtung Kraliks nicht günstig gewesen, wie manchem bei der Auf-
führung deutlich war, die nur den ersten Teil brachte und doch, aller zum Teil
gewaltsamen Kürzungen ungeachtet, noch drittehalb Stunden währte. Es fehlte
diesem ersten Teil, der wesentlich aus acht Bildern bestund, die von Deklamation
und Musik begleitet waren, das dramatische Leben, welches dem ganzem aus dem
Dreikönigs- und Herodesspiel hätte kommen können. Es fehlt auch der volks-
tümliche, sinnlich naive Zug, welcher die echten Christkindelspiele so anziehend
macht, und deshalb war die Wirkung nicht durchschlagend. Man hatte etwas
Absonderliches, äusserlich Schönes gesehen, aber von jener wunderbaren Wirkung,
welche das Oberammergauer Passionsspiel auf Christen und Juden, auf Amerikaner
94
Pischel :
Franzosen und Deutsche, auf ungläubige Weltkinder und strengkatholische Bauern
übt und sie durch viele Stunden, vor- und nachmittags, unter brennender Sonne
und strömendem Regen au/ den Holzbänken festhält, war kaum etwas zu spüren.
Der Erfolg war doch nur äusserlich. Man hatte etwas Apartes genossen, ein inter-
essantes Experiment mitgemacht, allein es war nur die flüchtige galvanische Er-
regung, nicht die glaubenskräftige Erweckung eines Dahingegangenen zu neuem,
wahrem Leben.
Bücheranzeigm
1. Çnkasaptati, Die. Textus simplicior. Herausgegeben von Richard
Schmidt. Leipzig 1893 (Abhandlungen für die Kunde des Morgen-
landes, herausgegeben von der Deutschen Morgenländischen Gesell-
schaft. X. Band. Nr. 1).
2. Oukasaptati, Die. (Textus simplicior.) Aus dem Sanskrit übersetzt von
Richard Schmidt. Kiel, C. F. Haeseler, 1894.
Die indische Fabel-, Märchen- und Erzählungslitteratur ist von den Sanskritisten
auffallend lange vernachlässigt worden. Erst 1887 hat Peterson einen kritisch
reineren Text des Hitopadëça herausgegeben, auf dem die Übersetzung von Fritze,
Leipzig 1888, beruht. Vom textus ornatior des Pancatantra fehlt eine Ausgabe
noch immer und die literarhistorischen Fragen, die sich an dieses Werk knüpfen,
sind erst durch L. von Maiikowskis Arbeit: Der Auszug aus dem Pancatantra
in Kshëmëndras Brihatkathâmafijarî, Leipzig 1892, wieder in Fluss gebracht worden.
Von Kshëmëndras Brhatkathämaiijarl fehlt ebenfalls noch eine vollständige Aus-
gabe. Über die Simhäsanadvätrimcikä hat erst 1878 Weber die ersten um-
fassenden Mitteilungen gemacht (Indische Studien 15, 185 ff.); vom Texte selbst
giebt es nur schlechte indische Ausgaben. Die Yëtâlapancavimçatikâ wurde erst
1887 von Uh le kritischer herausgegeben. Von dem vierten neben Pancatantra,
Simhäsanadvätrimcikä und Vetälapancavimcatikä heut in Indien in Übersetzungen
in den Landessprachen beliebtesten Erzählungswerke, der Oukasaptati, war bis
1890 im Sanskrittext nur der Anfang bekannt, den Lassen schon 1838 in seiner
Anthologia sanscrítica herausgegeben hatte, während 59 Erzählungen nur in der
griechischen Übersetzung des Galanos (Athen 1851) vorlagen, der sie aus dem
Sanskrit übertragen hatte. Der Grund der langen Vernachlässigung war hier der
Mangel an genügendem Material. So allgemein verbreitet das Werk auch in den
neueren Sprachen Indiens ist, und wohl gerade deswegen, so selten sind Sanskrit-
Handschriften, die obendrein noch zwei verschiedene Recensionen des Textes
bieten und auch innerhalb derselben Recension beträchtlich schwanken. Eine Aus-
gabe des Originals war um so wünschenswerter, als uns längst die persischen
Bearbeitungen, das Tütx-nämah „Papageienbuch", des Nachschabl und Muhammad
Qädirl und die auf Nachschabï beruhende türkische Bearbeitung durch Über-
setzungen bekannt sind.
Text und Übersetzung liegen uns nun durch Dr. Richard Schmidt vor.
Bereits 1890 hatte Schmidt in seiner Schrift: „Vier Erzählungen aus der Çuka-
Bücheranzeigen.
95
saptati. Samskrt und Deutsch. Kiel 1890" Berieht über sein Material gegeben und
vier Erzählungen in der Fassung zweier Recensionen im Originaltext mitgeteilt
und übersetzt. Wie beim Pañcatantra, so scheiden sich auch bei der Oukasaptati
deutlich zwei Recensionen aus, eine längere, in rhetorischer, oft sehr gezierter
und bombastischer Sprache geschriebene, und eine kurze, in ganz einfacher Sprache
verfasste, die mit mehr Versen als die erste durchsetzt ist und auch Verse in
Prakrit und Apabhramca enthält, von denen die längere frei ist Nach dem Vor-
gange Kosegartens beim Pañcatantra hat Schmidt auch hier diese Recensionen als
textus ornatior (0) und textus simplicior (S) geschieden und seine Ausgabe
und Übersetzung giebt uns den letzteren Text. Von 0. hat er seine Ausgabe in
Arbeit. Schmidt entscheidet sich dafür in S einen „Auszug aus einem umfang-
reicheren Werke" zu sehen und er hat darin unzweifelhaft recht. Ein abschliessendes
Urteil wird erst möglich sein, wenn auch 0 vorliegt Schon jetzt aber kann man
aus den Proben ersehen, dass die Motivierung in 0 besser ist als in S. So ist
z. B. die 32. Erzählung in S sehr matt, der Schluss völlig unbefriedigend, während
er in 0 (Vier Erzählungen p. 18. 41) allen Ansprüchen genügt, ohne den Eindruck
einer nachträglichen Verbesserung zu machen. Ebenso ist die 26. Erzählung in
S gegenüber 0 (1. c. p. 13. 37) ganz wirkungslos und für Erzählungen, wie die
16., 24., 68., würde man gern eine weitläufigere, klarere Fassung' haben.
Die Oukasaptati hat dieselbe Form, wie die übrigen Werke ^dieser Art: die
einzelnen Erzählungen werden in eine Rahmenerzählung eingeschachtelt. Madana-
vinöda, der Sohn des Grosskaufmanns Haridatta, war ein ungeratener, lliderlicher
Mensch, der seinen Eltern viel Kummer bereitete. Ein Freund des Haridatta, der
Brahmane Trivikrama, brachte diesem einen in der Weltweisheit erfahrenen Papagei
und eine Predigerkrähe und durch die Unterweisungen des Papageis wTurde Madana-
vinöda bekehrt und ging in die Fremde, um Handel zu treiben. Seine Frau
Prabhfivatl liess sich von Freundinnen überreden, mit einem anderen Manne ein
Liebesverhältnis anzuknüpfen, wird aber jedesmal, wenn sie ausgehen will, von
dem Papagei abgehalten, der ihr eine Geschichte erzählt von Leuten, die sich
durch ihre Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit aus schwieriger Lage befreiten.
Meist sind es Männer oder Frauen, die auf dem Ehebruch ertappt werden. Der
Papagei rät der Prabhâvatï zu gehen, wenn sie in gleicher Lage sich ebenso gut
zu helfen wTisse wie jene. Durch diese Geschichten wird Prabhâvatï vor dem
Ehebruch bewahrt, und nachdem 69 Geschichten erzählt sind, kehrt ihr Mann
zurück.
Wer sich mit indischer Litteratur beschäftigt, ist an etwas starke Kost ge-
wöhnt. Die Erzählungen der Çukasaptati gehören zu der Gattung, vor die man
mit viel mehr Recht als Chézy dies bei Amaru gethan hat, als Motto den Aus-
spruch des Ovid setzen könnte: me legat non frigida virgo. Manche sind ohne
Witz, was zum Teil der vorliegenden Fassung zuzuschreiben sein dürfte, wie schon
erwähnt. Der grössere Teil aber enthält einen gesunden Humor, der trotz des
anstössigen Inhalts seine Wirkung nicht verfehlt. Nur ganz wenige Erzählungen,
wie die 31., 41., 42. bis 44., sind auch inhaltlich ganz unbedenklich. Für die
Volkskunde aber ist die Oukasaptati ganz unschätzbar. Zum erstenmale erhalten
wir hier die Sanskritfassung vieler uns aus anderen Quellen bis herab auf Boccaccio
bekannter Erzählungen und es ist eine dankbare und anziehende Aufgabe, alle
diese Erzählungen miteinander zu vergleichen und ihre ursprüngliche Gestalt fest-
zusetzen. Den Anfang hat Benfey in seiner Anzeige von Rosens Übersetzung des
Tütl-Namah schon 1858 (jetzt = Kleinere Schriften 2, 3, 64 ff.) und im ersten
Bande seines Pañcatantra gemacht, eine vollständige Arbeit darüber verspricht
Schmidt.
—
BMP
96
Weinhold:
Die Herstellung1 des Textes war bei dem grossen Schwanken der Handschriften
keine leichte Aufgabe. Schmidt hat sich ihrer mit Geschick und guter Sprach-
kenntnis erledigt. Ebenso ist seine Übersetzung durchweg zu loben und ganz zu-
verlässig. Dass man manche Stellen anders als er fassen kann, ist natürlich. Un-
begreiflich ist mir, von wo p. 24, 22 die Worte: „nennt es ja seinen Ruhm" in
die Übersetzung gekommen sind, die ganz sinnlos sind und im Original nicht
stehen. Ärgerlich ist der Druckfehler p. 25, 22 „bestrebt" statt „befleckt" und
p. 41, 16 „jeder" für „jedes". Auf S. 53 ist die Wendung „als er sein Geschäft
besorgt hatte" gar zu leicht misszuverstehen; man lese: „als er damit fertig war".
Seite 55 lies statt „Kleid" vielmehr „Mieder" und statt des wieder leicht miss-
zuverstehenden „seine Frau sagt nur so", ist „seine Frau spricht so" zu setzen.
Zu wörtlich ist p. 68 die Übersetzung „Gefäss". Dass damit die Sulöcanä gemeint
ist, kann man aus der Übersetzung nicht ersehen. An anderen Stellen, wie p. 83.
84, wäre für Nicht-Sanskritisten eine Anmerkung nötig gewesen. Ga,napati, Madana,
der Herr der Hindernisse, sind für weitere Kreise unverständlich.
Hoffentlich giebt uns Schmidt auch bald die Übersetzung der wichtigen
Maräth! - Übersetzung. Für seine bisherigen Leistungen gebührt ihm die vollste
Anerkennung.
Halle a. d. Saale. R. Pischel.
Lieder und Geschichten der Suaheli. Übersetzt und eingeleitet von
C. G. ßiittner. Berlin, E. Felber 1894. S. XYI. 202. 8°. (Beiträge
zur Volks- und Völkerkunde. 3. Bd.)
Der jüngst durch den Tod unerwartet hin weggeraffte Dr. Büttner, früher
Missionar in Ostafrika, zuletzt Lehrer am Orientalischen Seminar in Berlin, hat
von ihm gesammelte und übersetzte Lieder und Geschichten der Schwarzen im
deutschen Schutzgebiete in Ostafrika, der Suaheli, der Litteratur als letzte Gabe
dargebracht. Es sind drei grössere Gedichte, aus den muhamedanischen Glaubens-
vorstellungen von den letzten Dingen entsprossen, wie dieselben, nach allem zu
urteilen, von den Maskatarabern nach Ostafrika gebracht worden sind. Auch von
den Märchen und Geschichten geht manches auf arabische Quellen zurück, was
sich aus dem uralten Verkehr zwischen Arabien und der Goldküste leicht erklärt.
Eine Art sansibarischer Anstandslehre hat der frühere Lektor Sleman aufgezeichnet,
während sein Nachfolger Amur Mitteilungen über seine eigene Herkunft und die
Eindrücke Berlins auf ihn niederschrieb. Von den in prosaischer Übersetzung ge-
gebenen kleinen Gedichten sind die meisten Spottlieder. Der Einblick, den wir
in das innere Leben der Suaheli durch Büttners Buch bekommen, ist sehr inter-
essant.
Percy's lieliqnes of ancient english poetry, nach der ersten Ausgabe
von 1765 mit den Varianten der späteren Originalausgaben heraus-
gegeben und mit Einleitung und Registern versehen von Arnold
Schröer. Berlin, E. Felber 1893. S. XXVIII. 1136. 8°.
Wir wollen hier nur kurz auf diese neue Ausgabe der wichtigen Sammlung
alter englischer Lieder und Balladen des Bischof Percy hinweisen, welche
■
4
Bücheranzeigen.
97
Prof. Arnold Schröer in Freiburg veranstaltet hat; der ursprüngliche Plan des
Herausgebers musste nach dem Schiffbruch des ersten Verlegers sehr beschränkt
werden. Aber die Hauptsache, ein möglichst korrekter Abdruck der ersten Aus-
gabe mit den Varianten der folgenden Originaleditionen ist ausgeführt worden.
Das literarhistorische Register Schr.s ist dankenswert. Denen, die sich mit Percys
Reliques beschäftigen, welche auf die englische und die deutsche Poesie so be-
deutend bald nach ihrem Erscheinen wirkten, wird dieser gute Neudruck mit seinen
Beigaben sehr willkommen sein.
I
Frankel, Dr. Ludwig, Shakespeare und das Tagelied. Ein Beitrag zur
vergleichenden Literaturgeschichte der germanischen Völker. Hannover
1893. Helwingsclie Buchhandlung. 132 S. gr. 8°.
Der Volkskunde gehört die Gegenwart und die Zukunft; sie dient allen und
beherrscht alles, und wer sie selbst auf dem Gebiete der vergleichenden Litteratur-
geschichte zu Wort kommen lässt, läuft den Mitstrebenden den Vorrang ah. Die
vorliegende Sonderuntersuchung ist ein kräftiger Beweis dafür. Dr. Fränkel stellte
sich die Aufgabe, in Shakespeare den altgermanischen Geist, den verehrungsvollen
Vertreter altnationaler Sitte und Sage (uns) zum Bewusstsein zu bringen und geht
hierbei von dem berühmten Zwiegespräch der Liebenden in Romeo und Julie,
III. Akt 5. Sc. 1—GO aus. Da er in der uns erhaltenen älteren englischen Litteratur
keine Parallele für diese Episode vorgefunden, meint Dr. Fränkel, der Dichter habe
ein deutsches oder holländisches Vorbild gekannt. Für uns kommt vorwiegend
der 3. Teil der Abhandlung (Sachliche Übereinstimmungen S. 68—128) in Betracht,
wo der Verfasser poetische Stücke verschiedener Art, Lieder und Märchen, auch
Bräuche und Volksglauben, Überbleibsel alter Anschauungen, die die Voraus-
setzungen des Tageliedes erläutern, in staunenswerter Fülle zum Vergleich heran-
zieht. Die bekannte Thatsache, dass Shakespeare praktisch ein vortrefflicher
Kenner des englischen Volkstums gewesen und mit seiner künstlerischen Kraft
darin gewurzelt, hat uns Dr. Fränkel hier wieder erschöpfend nachgewiesen, doch
auch etwas mehr: die tiefe, innige Verwandtschaft des germanischen mit dem
romanischen Volkstum. Hier hätte er nachdrücklicher einsetzen dürfen und die
Untersuchung wäre ergebnisreicher ausgefallen. Es ist kein blosser Zufall nämlich,
dass z. B. weder die Südslaven noch die Kleinrussen in ihren Volksdichtungen
eine halbwegs vollwertige Parallele zum Tageliede bei Shakespeare besitzen, ob-
gleich es an „Voraussetzungen" zu Liebesscenen, wie die gedachte, gewiss auch
unter den Slaven niemals gefehlt haben kann. Das Tagelied zeigt sich uns als
eine jener volkstümlichen Schablonen mit flüssigem, dichterischem Inhalt, die leicht
von Volk zu Volk wandern, bis sich endlich jemand findet, der den Text derart
fest giesst, dass er in seiner bestimmten Form über das Schablonenhafte hinaus-
wächst. In diesem Nachweise, scheint es mir, beruht der eigentliche "Wert der
Studie Dr. Fränkels, die übrigens von Belesenheit und Vielseitigkeit ihres Ver-
fassers Zeugnis ablegt und mannigfach zum Nachdenken anregt.
Wien. Friedr. S. Krauss.
Zeitsebr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894.
7
98
Hauffen :
Aufsätze über Märchen und Volkslieder yon Reinhold Köhler. Aus
seinem handschriftlichen Nachlass herausgegeben von Johannes Bolte
und Erich Schmidt. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung. 1894.
S. 152. 8°.
Nach dem Tode des unverge s slichen Reinhold Köhler erhub sich bald der
Wunsch nach einer Sammlung seiner vielzerstreuten, für die Yolkspoesie und die
vergleichende Litteratur- und Sagengeschichte hochwichtigen Aufsätze. Die Ver-
hältnisse unseres Buchhandels machten die Erfüllung dieses Wunsches bis jetzt
unmöglich. Dafür haben Erich Schmidt und Johannes Bolte den Freunden der
Volksdichtung in dem vorliegenden Buche ein schönes Andenken an den vorzeitig
geschiedenen Forscher in die Hände gegeben. Dasselbe enthält ausser dem zuerst
in unserer Zeitschrift (II. 418 f.) gedruckten Nachruf von Erich Schmidt und dem
Schriftenverzeichnis (ebenda 428) sechs in dem Weimarschen Mittwochs- oder
Schlüsselverein gehaltene Vorträge, von denen nur der erste „über die europäischen
Volksmärchen" bis jetzt gedruckt war. Die fünf anderen : Eingemauerte Menschen;
S. Petrus, der Himmelspförtner; Die Ballade von der sprechenden Harfe; Vom
Glück und Unglück; Das Hemd des Glücklichen, treten hier zuerst in die Öffentlich-
keit. Sie sind mit litterarischen Nachweisungen Köhlers, welche die Herausgeber
möglichst ergänzten, versehen.
Einer besonderen Empfehlung des Buches bedarf es für niemanden, der da
weiss, wer und was Reinhold Köhler gewesen ist. Und wer es nicht wusste, lerne
ihn hier kennen! K. Wein hold.
Tille, Y., Lit er arni studie I-Skupina lidovych poví dek o nez m amé m
rekovi, jenz v závodech ziskal princeznu za chot. Prag 1892.
S. XV und 124. 8°.
Tille untersucht in der vorliegenden Schrift die Gruppe der Volks -
erzählungen vom unbekannten Helden, der sich in einem Wettkampf
eine Prinzessin zur Frau erwirbt Er hat zu diesem Zweck alle nur irgend
zugänglichen Märchen Sammlungen der verschiedensten Volksstämme durchforscht
und die zahlreichen Fassungen dieses Märchens kritisch geprüft. Aus dem Schmuck
der späteren Darstellungen, aus jüngeren Anwüchsen und Varianten sucht er den
ursprünglichen Kern der Dichtung loszulösen und ihn auf dem Wege der Natur-
symbolik und der volkstümlichen Ethik zu deuten. Nach den vorhandenen Ele-
menten des Stoffes und nach deren Beziehungen zu einander hat T. alle hierher
gehörigen Märchen in drei Gruppen gesondert.
Die Märchen der Gruppe A haben im wesentlichen folgenden Inhalt. Der
unbekannte Held ist der jüngste von drei Brüdern. Er ist gut und gilt für dumm.
Nach dem Tode des Vaters soll jeder der drei Brüder an dessen Grabe je eine
Nacht Wache halten. Der Jüngste wacht jede Nacht, auch in Vertretung seiner
pflichtvergessenen Brüder, und erhält jedesmal von seinem als Geist auftretenden
Vater ein wunderbares Pferd. Der König eines fernen Reiches will seine Tochter
nur jenem Helden geben, der zu ihr in das dritte Stockwerk zu Pferde hinauf-
springt oder einen Glasberg hinaufreitet. Mit seinen wunderbaren Pferden voll-
bringt der jüngste der Brüder dreimal die waghalsige That und eilt bescheiden
von dannen. Doch an einem Zeichen, das ihm die Prinzessin auf die Stirn ge-
drückt hat, wird er erkannt und mit ihr getraut. Der Stoff ist in reiner Gestalt
Büeheranzeigen.
99
über das ganze Gebiet des europäischen Russlands verbreitet, in verstümmelten
oder abgerundeten Fassungen auch in anderen Ländern nachweisbar.
Die Gruppe B weicht von A darin ab, dass hier nicht ein Grab, sondern ein
Feld zu behüten ist, dass die wunderbaren Pferde dem jüngsten Bruder von hilf-
reichen Märchengestalten (Feen, Zwergen, redenden Tieren u. a.) überreicht werden
und dass die verlangte schwierige Aufgabe in einem Wettrennen besteht. Dieser Stoff
ist allen slavischen und germanischen Volksstämmen bekannt. Die einzelnen Fassungen
weichen infolge der stark aufgetragenen Lokalfarbe ziemlich von einander ab.
In den Märchen der Gruppe C ist der Held ohne Brüder, gewöhnlich ein
Hirtenknabe, der auf der Weide mit Drachen oder Biesen kämpft, sie tötet und
in deren Behausung die drei wunderbaren Pferde findet. Mit ihrer Hilfe siegt er
dreimal auf einem von dem König veranstalteten Turnier. Später wird er an einer
Wunde erkannt, die er beim Wegeilen vom Turnier erhalten hatte, und der
Prinzessin vermählt. Dieser Stoff ist in ganz Mitteleuropa verbreitet, vielfach von
fremdartigen Fäden umwoben.
Aus der vergleichenden Prüfung aller dieser Märchen, aus der Hervorhebung
der gemeinsamen Grundzüge ergiebt sich als das ursprüngliche Gerippe der Er-
zählung: Ein unbekannter Held erwirbt sich eine Geliebte nach Besiegung grosser
gefahrvoller Aufgaben. In den meisten Fällen bestehen die Gefahren in der Er-
klimmung eines Glasberges und der Tötung eines Drachen. Dass dieser Erzählung
ein Naturmythus zu Grunde liegt, wird noch deutlicher durch eine Betrachtung der
wunderbaren Pferde. Ihre Farben sind in der Kegel rot, weiss und schwarz, erst
später zuweilen — es ist eine Übertragung von dem Metall der Rüstungen —
silbern, golden und kupfern. Was jene Farben bedeuten, lehrt uns ein Märchen
der Bukowiner Zigeuner, wonach der Held nur ein Pferd reitet, das am Morgen
rot ist, also im Widerschein der Morgenröte, bei Tage weiss (die meisten Zauber-
und Götterpferde sind Schimmel), in der Nacht schwarz. Vom Stand der Sonne
hängt also die Farbe des Pferdes ab. Als man diesen Zusammenhang nicht mehr
kannte, machte man drei Pferde aus demeinen. Der Held dieser Volkserzählungen
ist also auch ein späteres märchenhaftes Abbild des Sonnengottes, der sich mühsam
die Erdgöttin erwirbt, die auf dem Glasberge thront, d. h. Winters über in Eis
und Frost gefangen ist, oder die von Drachen, d. h. von den Mächten der Finsternis,
der Kälte, des Nebels bewegt wird. Nach der Lösung dieser Fesseln vermählt er
sich ihr, d. h. er befruchtet sie zu neuer lebensvoller Thätigkeit.
Neben dieser Form des bei allen Völkern vorhandenen Naturmythus zeigen
die Märchen der Gruppen A und B noch ein zweites ethisches Moment, das nach
Tilles Ansicht erst angefügt wurde, nachdem man die Natursymbolik vergessen
hatte. Der jüngste der drei Brüder ist treu, uneigennützig, mitleidig, bescheiden,
als Lohn für seine Herzensgüte erhält er den Preis, nach dem seine stolzen, bösen
und eigentlich auch unvernünftigen Brüder vergebens ringen. Ein Zug, der mit
mehr oder minder deutlicher moralischer Tendenz bekanntlich auch in vielen
deutschen Märchen verschiedensten Inhalts wiederkehrt.
Tilles Schrift ist mit grossem Fleiss und mit vorsichtig prüfender Sorgfalt
gearbeitet. Sie ist auch methodisch bemerkenswert, weil hier wieder der Versuch
gemacht wurde, bei einer verbreiteten Märchengruppe die Entstehung, Ausgestaltung
und Auflösung des Stoffes zu verfolgen und zu erklären. Wäre die Arbeit nicht
in tschechischer Sprache abgefasst, wodurch sie den meisten Fachgenossen ein
Buch mit sieben Siegeln geworden ist, so könnte sie der Volkskunde viel grösseren
Nutzen bringen.
Prag. A. Hauffen.
100
Weinhold:
Die Geschichte der deutschen Weihnacht von Alexander Tille. Leipzig-,
E. Keils Nachfolger, 1893. S. XI. 355. 8°.
Eine Geschichte der deutschen Weihnachtsfeier schreiben, ist eine dankbare
Aufgabe, da kein kirchliches Fest sich bei uns volkstümlicher und fröhlicher ge-
staltet hat. Diese Geschichte ist aber nicht so leicht zu entwerfen, da bei aller
Fülle von Stoff doch wieder Lücken in den Zeugnissen klaffen und die Kom-
bination oft zu Hilfe kommen muss. Zuverlässige Voraussetzungen finden und
ichtige Folgerungen ziehen ist aber nicht jedes Mannes Sache.
Herr Dr. A. Tille, ein geborener Sachse, jetzt an der schottischen Universität
Glasgow als Dozent des Deutschen angestellt, hat durch vorliegendes Buch die
Aufgabe zu lösen gesucht und mit viel Belesenheit und Sammlerileiss eine Menge
von nutzbaren Nachrichten zusammengetragen. Allein die Verarbeitung des Stoffes
hat durch unrichtige Annahmen und unsichere Beweisführung an mehr als einer
Stelle gelitten.
Der Verf. hätte nach meinem Urteil manchen Irrtum vermeiden können, wenn
er über die deutsche Jahrteilung die richtige Ansicht hätte. Statt anzuerkennen,
dass die Sommer- und Wintersonnenwende uralte germanische Einschnitte in die
beiden Jahreshälften, Winter und Sommer bilden, die deshalb auch hohe religiöse
und Kultbedeutung hatten, läugnet er dies und erklärt die deutsche Weihnachts-
feier aus der „Vermählung des ehemals am Martins-, Andreas- und Nikolastag
haftenden Glauben mit dem kirchlichen Jesusgeburtfest". Ohne mich hier, wo der
Raum beschränkt ist, auf die Widerlegung des einzelnen einzulassen, sei auf
Grund der klar und sicher zeugenden Volksgebräuche festgestellt, dass die Sonnen-
wende im Winter so gut als die im Sommer eine hochheilige Zeit der Germanen
war; die Wende im Winter erhielt ihre Bedeutung namentlich dadurch, dass von
hier das Aufwachen des erstorbenen Naturlebens beginnt: daher war diese Zeit
den chthonischen Gottheiten heilig1) (zu denen Wotan-Odin gehört). Die Nord-
germanen brachten zu dieser Zeit die grossen Opfer til grodiar, d. i. für die
Fruchtbarkeit (Ynglingasaga c. 8), eine Angabe, die, wenn auch erst im 13. Jahr-
hundert von einem Christen gemacht, dennoch Echt- und Altheidnisches verbürgt.
Winter- und Sommeranfang lagen an den Tag- und Nachtgleichen. Das ger-
manische Jahr begann also Ende September oder Anfang Oktober, es ward nach
Wintern gerechnet, wie die Tagesgruppen nach Nächten. Der Sommer hub Ende
März oder Anfang April an. Der Martinitag erhielt seine Bedeutung erst durch
den Julianischen Kalender, in welchem der Winteranfang auf den 10. November
fällt. Auf ihn wurde dann religiöser und bürgerlicher Brauch von dem germani-
schen Jahresanfang verschoben.
Was an den Andreas- und Nikolaustag sich später angeheftet hat, sind Vor-
zeichen der heiligen Zeit der Wintersonnenwende unter Einwirkung der kirchlichen
Adventfeier. Beim Nikolastage hat das junge Motiv der Bedeutung des Weihnacht-
festes für die Jugend mitgewirkt, da der hl. Nikolaus, dessen Verehrung sich erst
seit Ende des 11. Jahrhunderts ausbreitete, Patron der Schuljugend war.
Was das vom Verfasser so übermässig hervorgehobene Viehschlachten im
November und Dezember betrifft, so müsste nach dem, was Dr. Tille vorbringt,
dadurch alljährlich der ganze Viehstand vernichtet worden sein. Weiches Volk
1) Nur wolle man das nicht, wie E. Mogk, und ihm nach A. Tille thun, durch den
vogtländischen Namen der Zwölften Unternächte beweisen, der nichts als Zwischen-
nächte bedeutet: die Nächte zwischen Weihnacht und Epiphanias.
Bücheranz eigen.
101
könnte sein Hauptvermögen so wahnwitzig zerstören! Der Monatname slacht-
mân ist, nebenbei bemerkt, geographisch sehr beschränkt (Meine deutschen
Monatnamen S. 54). Was der Verf. von der Erneuerung des Herdes zu Winters-
anfang vorbringt (S. 11), ist unbewiesene Phantasie.
Mit den Beweisen steht es überhaupt übel. So schreibt der Verf. S. 42, dass
die deutschen Städte im 14. Jahrhundert Weihnachten ebenfalls (die Beziehung
dieses „ebenfalls" ist dunkel) zu feiern begannen. Den Beweis soll eine Stelle
aus den Wiener Schneiderstatuten von 1340 geben, worin geboten wird, die hohen
Kirchenfeste (Ostern, Pfingsten, Weihnachten), die vier Marientage und die Sonn-
tage samt ihren Vigilien zu feiern, d.h. an ihnen nicht zu arbeiten!
Die Gliederung nach Zeit und Landschaft vermisst man durchaus. Die Methode
fehlt, auch der rechte Blick und die Zuverlässigkeit der einzelnen Angaben. So
heisst es S. 221, die hl. Hedwig sei in Schlesien geboren; sie Avar aber bekannt-
lich eine Frankin, aus dem Grafengeschlecht von Andechs, und umgab sich in
Schlesien mit Leuten aus der Heimat.
Um ein Wort über den Weihnachts- oder Christbaum zu sagen, so ist der-
selbe ursprünglich Symbol des frischen Naturlebens, so gut als die Bäumchen oder
Zweige bei der Lenzverkündung und als der Maibauni. Solche Bäumchen oder
Bäume waren und sind daher auch bei Hochzeiten (z. B. in. Oststeiermark,
Schwaben, im lüneburgischen Wendland) Brauch. Der Aufputz fand sich all-
mählich von selbst hinzu. Die Lichter des Weihnachtsbaums sind wahrscheinlich
von den Lichtern der Christmesse entlehnt.
Der Julblock ist das auf das Hausinnere beschränkte Sonnwendfeuer, wie
schon Mannhardt (Baumkultus I, 237) vermutete.
Wenn sich der Verf. S. 248 wundert, dass vom 15.—17. Jahrhundert Zeugnisse
für den weihnachtlichen Schmuck der Häuser mit grünem, rote und weisse Beeren
tragendem Laub und mit blühenden Büschen mangeln, so kann man sich über
diese Verwunderung wundern, da im deutschen Winter naturgemäss grünes Laub
und Blüten fehlen Aber der Schmuck mit Tannenreisern ist auch für jene Periode
durch Sebast. Brant (Narrenschiff 65, 37) und Geiler (Omeiss) hinreichend bezeugt,
also durch Elsässer, aus deren Heimat dann das früheste Zeugnis für den nach
heutiger Art geschmückten Weihnachtsbaum (Tille S. 258) stammt.
K. Weinhold.
Litterarisches Jahrblich. Centralorgan für Nordwestböhraen und die
deutschen Grenzlande. Begründet und herausgegeben von Alois John.
IV. Band, 1894. Eger, im Selbstverlag des Herausgebers. S. 106. 8°.
Mit 1 Porträt und 1 Bilde.
Dieses für das Egerland in erster Linie bestimmte Jahrbuch liegt zum vierten-
male vor. Es verdankt seine Entstehung und Fortführung einem begeisterten
Egerländer und tüchtigen Deutschböhmen, Herrn Alois John, der für deutsches
Volkstum und Geistesleben seiner schönen Heimat seit einer Reihe von Jahren
wirkt und schafft. Das vorliegende Bändchen enthält einen Aufsatz von H. Pudor
über volkstümliche Kunst, worin der Verf. zum Heil deutscher Kunst die Rückkehr
zum Holzbau, zur farbigen Holzplastik, zur Miniaturmalerei in Wasserfarben, zum
Volkslied in Text und Melodie fordert! Dann handelt A. John über das Eger-
land und seine Dialektdichtung und im besonderen über Graf Clemens Zedtwitz,
den Nestor der Egerländer Dialektdichter. In sehr lebendiger Art erzählt darauf
102
Weiiihold:
J oh. Peter, der Nachfolger von Stifter und Rank als Schilderer des Böhmer-
waldes in seinen Dorfgeschichten, von dem Passionsspiel in Höritz. Aus dem
übrigen Inhalt heben wir einen von W. von Biedermann mitgeteilten Brief
Goethes an Bergmeister Lössl und die Kritische Rundschau des Herausgebers
hervor. Wir wünschen dem Litterarischen Jahrbuch die Teilnahme aller patrioti-
schen Egerländer und die Beachtung im übrigen Deutschland, damit der Heraus-
geber und Selbstverleger in seinem löblichan Streben nicht ermatten dürfe.
K. Weinhold.
Die Medicin der Naturvölker. Ethnologische Beiträge zur Urgeschichte
der Medicin. Yon Dr. Max Bartels. Mit 175 Original-Holzschnitten
im Text. Leipzig, Th. Griebens Yerlag (L. Fernán). 1893. S. XII.
361. 8o.
Man braucht kein Mediciner zu sein, um das neue Werk von Sanitätsrat
Bartels würdigen zu können, ja ich glaube, dass dasselbe ausserhalb des engeren
Fachkreises mehr Teilnahme und Benutzung finden werde als innerhalb. Die Ge-
schichte der Medicin wird heute überhaupt immer mehr in den Hintergrund ge-
schoben, so dass Beiträge zur Urgeschichte derselben den mit allen Früchten der
modernen Naturwissenschaften, und mit Hilfe ausgezeichneter Technik arbeitenden
Medicinern der Gegenwart wohl recht gleichgiltig sind. Um so lebhafter werden
Anthropologen und Völkerpsychologen dem Verf. danken, dass er die vielfach
zerstreuten Nachrichten über die Heilkunde der Naturvölker in ein systematisch
geordnetes Kompendium gebracht hat. Es war ein gewaltiges Material zu be-
wältigen, da auch die europäische Volksmedicin vergleichend herbeigezogen werden
musste. Diese Vergleichung lehrt, dass die Grundauffassung über die Ursachen
der Krankheiten überall dieselbe ist, indem übersinnliche Gründe dafür gesucht
werden, welche die Heilungsversuche in enge Beziehung mit der Religion und
dem Kultus bringen. Priester und Ärzte sind in ältester Zeit häufig dieselben
Personen, und den Medicinmann der Naturvölker, sowie die weisen Frauen der
europäischen Volksheilkunde umgiebt der mystische Glaube als kräftigste Stütze
ihrer Kuren. Mit dem. mystischen Element verband sich aber nicht selten der
Vorteil reicher Erfahrung und die Gabe guter Beobachtung, so dass in manchen
Teilen die Medicin der Naturvölker überraschende Thatsachen aufweisen kann.
Das Buch zerfällt in 15 Kapitel: Einleitung, die Krankheiten, die Ärzte, die
Diagnostik, die Medikamente, die Arzeneiverordnungslehre, die Wasserkur, Massage-
kuren, Verhaltungsvorschriften, übernatürliche Diagnose, übernatürliche Kranken-
behandlung, specielle Pathologie und Therapie, Gesundheitspflege und Epidemien,
die kleine Chirurgie, die grosse Chirurgie.
Zur Erläuterung des streng objektiv gehaltenen Textes dienen zahlreiche Holz-
schnitte, welche grösstenteils nach photographischer Aufnahme von Gegenständen
des Berliner Museums für Völkerkunde gemacht sind.
Wir müssen auch vom Standpunkte der Volkskunde dem verdienten Herrn
Verfasser danken, da sein Werk für die Einsicht in Grund und Mittel unserer
Volksmedicin ein unentbehrliches Hilfsmittel fortab sein wird.
K. Weinhold.
Bücheranzeigen.
103
Die Anfänge der Knnst. Yon Dr. phil. Ernst Grosse. Mit 32 Ab-
bildungen im Text und drei Tafeln. Freiburg i. B. und Leipzig,
Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),
1894. S. VII. 301. 8°.
Es ist sehr unrecht von Richard Andree, seine Herrn Grosse sonst so wohl-
gesinnte Anzeige im „Globus" (LXV Nr. 1) mit dem Satze zu beginnen: „einen
regelrechten Kunsthistoriker von der alten Schule dürfte der Schlag rühren, wenn
er dieses Buch liest". Nun fühlt sich gewarnt, wer doch den grössten Nutzen
haben könnte, sofern er des Umlernens noch fähig wäre. Nicht müssiges Spiel
und eitel Zeitvertreib ist die rohe Kunst der Naturvölker; sie ist nur noch ein
rein sociologisches Phänomen, dessen sehr bestimmte und bei allen primitiven
Völkern voll übereinstimmende Gesetze festgestellt sein wollen; die Kunst der
untersten Kulturstufen, wenn sie auch noch keineswegs ausschliesslich ästhetischen
Absichten entspringt, sondern vielfach in erster Linie praktischen Zwecken dient,
ist in ihren wesentlichen Mitteln und Zielen schon Eines mit dem künstlerischen
Schaffen der gebildeten Völker. Über ihre Anfänge kann uns keine Archäologie
und keine individuelle Psychologie, sondern nur die Völkerpsychologie und das
ethnographische Material aufklären. Nur die Anfänge der künstlerischen Architektur
haben einen späteren Ursprung.
Der Verfasser, der, mit gründlicher philosophischer Vorbildung ausgestattet,
sein Thema in fliessender, lichtvoller Darstellung behandelt- und keinen Augenblick
langweilig oder trivial wird, sucht seine Kunstgesetze nur bei den Jägerstämmen;
seine Künstler sind vornehmlich die Australier, die Minkopie, die Botokuden und
die Eskimo. Primitive Völker sind ihm solche, die eine primitive Form des
Nahrungsgewerbes haben; durch die bei einer Gruppe vorherrschende Wirtschafts-
form lässt er die Gestaltung der höheren Vorstellungen bestimmt werden. Er
erörtert in besondern Kapiteln die Kosmetik, die Ornamentik, die Bildnerei
den Tanz, die Poesie und die Musik. Leider gestattet der zur Verfügung ge-
stellte Raum nicht, ihm in die einzelnen Kunstgebiete zu folgen; um so nach-
drücklicher sei es im allgemeinen hervorgehoben, dass es ihm nicht auf das Auf-
zählen und Aneinanderreihen, sondern auf das Zergliedern und Verstehen der
Beobachtungen ankommt. Hierin steckt das grosse Verdienst der vortrefflichen
und für jeden Vorwärtsstrebenden unentbehrlichen Arbeit.
Es soll kein Tadel sein, wenn die Meinung ausgesprochen wird, dass mehr
Stämme für die Untersuchung hätten verwertet werden können, als durchgängig
geschehen ist. Nötig war es nicht und die Ergebnisse wären nicht anders ge-
worden. So hätte besonders Südamerika noch mancherlei schätzbares Material
geboten. Aber geradezu erstaunlich ist die Zahl der Bestätigungen, die dem Ver-
fasser für die Kapitel der Kosmetik, Ornamentik und Bildnerei aus dem gleich-
zeitig erschienenen Buche des Referenten „Unter den Naturvölkern Centralbrasiliens"
erwachsen. Es finden sich Übereinstimmungen, und zwar zuweilen mit dem ganzen
verblüffenden Habitus des „Völkergedankens", in solchem Umfang, dass man mit
Fug und Recht schliessen darf, in beiden Fällen werde eine gute Sache verteidigt.
Referent kann deshalb jedem, der seinem Reisebericht Interesse abgewonnen hat,
nur auf das Dringendste empfehlen, auch das Grossesche Buch zu lesen, und
möchte umgekehrt seiner angeborenen Bescheidenheit nicht die Zügel schiessen
lassen und einen Freund Grosses etwa mit Gewalt zurückhalten, falls er sich auch
bei den Naturvölkern Centralbrasiliens umschauen wollte.
Karl von den Steinen.
104
Weinhold:
Unter den Naturvölkern Central-Brasiliens. Reiseschilderungen und
Ergebnisse der zweiten Schingú-Expedition 1887 — 88 von Karl von
den Steinen. Mit 30 Tafeln sowie 160 Textabbildungen nebst einer
Karte. Berlin 1894. Dietrich Reimer (Hoefer & Yohsen). S. XIY.
570. gr. 8°.
Die geographische und anthropologisch - ethnographische Bedeutung dieses
Buches, worin Professor von den Steinen seine zweite Reise zu den Indianern
des Sehingú-Quellgebietes in Central-Brasilien in anziehender und gründlicher Art
beschreibt, haben wir hier nicht zu würdigen; die Geographen und Anthropologen
werden das hinreichend thun. Uns liegt nur ob, auf die reichen Mitteilungen auf-
merksam zu machen über die Kulturverhältnisse und über die Sitten jener
Indianervölkchen, die für die vergleichende Kulturgeschichte des Menschen-
geschlechtes sehr reiches Material bieten. Wir wollen nur einzelnes herausheben.
Bei den Bakaïri, den Paressi, Bororó und anderen Stämmen herrscht die Sitte
des männlichen Wochenbettes, die Couvade. Nach der Geburt eines Kindes liegt
der Vater den grössten Teil der Zeit in einer Art Wochenstube in der Hänge-
matte, fastet streng, berührt keine Waffen, während die Mutter nur kurze Erholung
geniesst und bald an die Arbeit geht. Genösse der Vater etwas anderes als eine
dünne Wassersuppe, so würde es dem Kinde schaden.
Wenn der letzte Rest der Nabelschnur abfällt, ist er wieder ein freier Mann.
Bis dahin hat er das Kind zu besorgen, das mit dem Abfallen des Nabelschnur-
teils zur selbständigen Persönlichkeit wird.
Das Kind erhält bald nach der Geburt einen Namen, aber nicht den des
Vaters, sondern des Grossvaters, Oheims oder sonst eines Vorfahren. Unter Er-
wachsenen kommen Namentausche als Zeichen besonderer Freundschaftsbündnisse
vor. Einer klopft den anderen sechs- oder siebenmal auf den Rücken und sagt
ebenso oft seinen Namen, bläst ihm dann auf die Brust und sagt ihm seinen
Namen ins Ohr. Dann ist der Namentausch vollzogen (S. 125. 334. 434. 503).
Die Ehen werden bei den Bakaïri und Paressi ohne besondere Festlichkeiten
eingegangen, indessen nachdem Besprechungen der Eltern vorangegangen sind; bei
den Bakaïri erhält der Vater des Mädchens Pfeile und Steinbeile als eine Art
Brautkauf, bei den Paressi bekommt das Mädchen Geschenke. Dann hängt der
Mann seine Hängematte über die der Braut (S. 331. 434). Die Scheidung geschieht
nach dem Belieben des einen oder andern Teils ohne jede Förmlichkeit.
Bei dem wilden Jägervolke der Bororó ist die Einwilligung der Eltern nicht
verlangt; der Mann nimmt sich die Frau und diese bleibt im Hause ihrer Eltern,
auch wenn sie Kinder gebiert. Dort besucht sie der Mann des Nachts.
In dem Männerhause, worin die unverheirateten Männer zusammen leben,
herrscht wilder Verkehr der Geschlechter. Die Männer holen sich die Mädchen
mit Gewalt hinein oder es werden ihnen solche gegen die Abgabe von Pfeilen an
den Bruder oder Mutterbruder zum Gebrauche überlassen. Als Väter der Kinder
gelten sämtliche Insassen des Männerhauses, mit denen das Mädchen verkehrt
hat. Eine solche Ranchäofrau verheiratet sich nicht mehr an einen Einzelnen
(S. 500 f.).
Sehr interessant sind die Ausführungen über die Vorstellungen jener brasiliani-
schen Indianerstämme von dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier (S. 350 fg.).
Sie betrachten die Menschen und die Tiere als gleiche Wesen, die sich nur durch
das Äussere und die Eigenschaften von einander unterscheiden, die aber eine wie
die andern nach Familien und Stämmen gegliedert sind und ihre verschiedenen
Biicheranzeigen.
105
Sprachen sprechen. Ein mit besonderem Wissen und Können begabter Mensch,
ein Medicinmann, kann sich in jedes beliebige Tier verwandeln, und versteht auch
die Sprachen aller Tiere. Aber nicht bloss die Medicinmänner vermögen das.
Dieser und jener Stamm steht zu gewissen Tieren in genauer Verwandtschaft.
Die Bakaïri und die Paressi, ursprünglich menschenfressende Völkerschaften, haben
den Jaguar zum Stammvater. Die Bororó sind Ararás, weil sich nach verbreitetem
Glauben ihre Verstorbenen in rote Ararás verwandeln. Die Neger werden nach
ihrem Tode zu schwarzen Vögeln, zu Urubús.
Jene Völker sehen die ganze Natur unter dem Urbild der Tiere. So erklären
die Bororó die grossen Gestirne, Sonne und Mond, für rote Araráfedern, das süd-
liche Kreuz für die Zehen eines grossen Strausses, den Orion für eine Schild-
kröte u. s. w. Diese Tiere oder Tierglieder sind durch Zaubereien an den Himmel
hinauf gekommen und haben sich dort verwandelt.
An derartigen, für Völkerpsychologie und für Volkskunde überhaupt wichtigen
Mitteilungen ist das Werk Professors von den Steinen reich. Das wenige, das wir
hier hervorhüben, möge dazu dienen, alle Volksforscher auf diese ergiebige neue
Quelle aufmerksam zu machen. K. W.
Friedr. Tribukeits Chronik. Schilderungen aus dem Leben der preussisch-
littauischen Landbewohner des 18., 19. Jahrhunderts. Herausgegeben
von A. und P. Horn. Insterburg, im Selbstverlag der Herausgeber,
1894. S. III. 47. 8°.
Im Dorfe Christiankehmen, im ostpreussischen Kreise Darkehmen, hat der
Gemeindevorsteher Tribukeit 1864—75 Lebenserinnerungen und Schilderungen des
Lebens im Dorfe aufgeschrieben, die in dem vorliegenden Hefte herausgegeben
sind, begleitet von erläuternden Anmerkungen dei' beiden Herausgeber und des
früheren Kultusministers, jetzigen Oberpräsidenten von Westpreussen, Herrn
v. Gossler, der eine Zeitlang Landrat jenes Kreises gewesen ist und für Volks-
leben ein lebhaftes Interesse besitzt. Das Büchlein ist eine wertvolle Gabe zur
Kenntnis der littauischen oder ehemals littauischen Bauern, denn der Verfasser
der Chronik seines Heimatdorfes, Friedr. Tribukeit, war ein gescheiter, tüchtiger
Mann. Ausser Nachrichten über seine Familie und das Dorf Christiankehmen
handelt er über die Wege, den Wirtschaftsbetrieb, die Baulichkeiten (wobei der
Schule eingehend gedacht wird), das Winterleben im Hause, die Hochzeitgebräuche,
die Nahrungsmittel, den Handel (die Juden), die Ackerseparation und ihre wohl-
thätigen Folgen. Man möchte wünschen, dass jedes Dorf seinen Tribukeit hätte.
K. W.
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Berlin, Freitag, den 24. November 1893. Der Verein versammelte sich
im Hörsäle des Museums für Völkerkunde, wo Herr Geheimrat Prof. Dr. Bastian
eine reiche Auswahl von Fetischen zur Illustrierung seines Vortrages über
106
Roediger: Protokolle.
Fetischismus aufgestellt hatte. Er sprach von den Grundlagen des Fetischglaubens,
wies seine Verbreitung über die ganze Erde nach, hob Übereinstimmungen im
einzelnen auch bei entlegenen Völkern und Racen hervor und verweilte besonders
bei charakteristischen Erscheinungen des Fetischglaubens der afrikanischen Natur-
völker1). An der Diskussion beteiligten sich die Herren Meitzen und Brückner.
Sie drehte sich hauptsächlich um die Methoden des Sammeins und Untersuchens.
Freitag, den 15. Dezember 1898. Herr Oberlehrer Dr. H. Lübke sprach
über den Totenkultus der Neugriechen, der in der Art der Bestattung, der Toten-
mahlzeiten, Spenden für die Toten u. s. w viele Ähnlichkeit mit dem griechischen
Altertum, aber auch mit den Bräuchen verwandter Völker zeigt. Besonders ver-
weilte der Vortragende bei den Charosliedern, deren er eine Anzahl in eigenen
poetischen Übertragungen vorlas, wobei auf die Ausbildung des Charos und seines
Reiches und allerhand an die Toten sich knüpfenden Aberglauben eingegangen
wurde. — Herr Generaldirektor Waiden wies thüringische Trachtenbilder vor
und besprach die verschiedenen Typen der deutschen Köhlerhütten, daran die
Frage nach einem etwaigen Zusammenhange mit dem ältesten deutschen Hause
knüpfend. — Im geschäftlichen Teile der Sitzung strich der Verein die Bestimmung
des § 11 der Statuten, dass zum ersten Vorsitzenden dasselbe Mitglied nur drei
Jahre hintereinander gewählt werden könne, und wählte dann auf Antrag des Herrn
Waiden den Vorstand des Jahres 1893 für das folgende wieder. Er besteht aus
den Herren Weinhold als erstem, Virchow als stellvertretendem Vorsitzenden,
Brückner als erstem, Minden als stellvertretendem Schriftführer, Alexánder
Meyer Cohn als Schatzmeister, Meitzen und Schwartz als Beisitzern.
Freitag, den 26. Januar 1894. Herr Gymnasialdirektor Dr. W. Schwartz
teilte in einem Vortrag „Vom Sagensammeln" ernste und heitere Erinnerungen
aus den Wanderungen mit, die er in den Jahren 1837—1849 teils und zuerst im
Verein mit Adalbert Kuhn, teils allein unternahm. Vom Umkreise Berlins dehnten
sie sich nach Norden bis an die pommersche und friesische Küste, südwärts bis
nach Westfalen aus und lieferten das Material für die bekannten Sagensammlur^en
der beiden Forscher, die zu den ersten gehören, die auf diesem Gebiete des Volks-
tums arbeiteten. Nützliche Winke für die Weise des Sammeins fehlten nicht. —
Fräulein E. Lemke besprach Volkstümliches über Brot und anderes Gebäck. Sie
behandelte Sitten und Bräuche bei Bereitung und Verwendung der Gebäcker indem
sie namentlich bei Westpreussen verweilte, aber auch die übrigen Teile Deutsch-
lands heranzog. Zeichnungen machten eine grosse Zahl verschiedenartigen Back-
werks anschaulich. — Der Vorsitzende, Herr Geheimrat Professor Dr. Wein h old,
verlas den Geschäftsbericht, der ebenso erfreulich war, wie der vom Schatzmeister,
Herrn Alexander Meyer Cohn, vorgeführte Kassenabschluss. Bemerkt sei noch,
dass die Bibliothek des Vereins in einem von Herrn Cohn ihr überlassenen
Zimmer des Hauses Unter den Linden 11 aufgestellt ist und von Herrn Franz
Goerke verwaltet wird. — Da der erste Schriftführer, Herr Prof. Dr. Brückner,
sein Amt niedergelegt hat, hat der Vorstand in seine Stelle den Unterzeichneten
kooptiert. Prof. Dr. Max Roediger.
1) Der Vortrag ist erweitert erschienen unter dem Titel: Controversen in der Ethno-
logie. Von A. Bastian. III. Über Fetische und Zugehöriges. Berlin, Weidmannsehe Buch-
handlung. 1894. S.VIII. 87. IX. 8°.
Aus Gossensass.
Arbeit und Brauch in Hans, Feld, Wald nnd Alm.
Yon Marie Rehsener. ')
II.
(Hierzu Tafel I).
„Wie mir scheint", sagte die Zenze, „hat der Bauernstand die schwerste
Arbeit und ist am ,feschstesten' verachtet."
Ja, wenn hier das Erdetragen nicht wäre, meinte ich, und die Sorge
wegen der Güsse (Überschwemmung)! „Ja, wenn — war! wenn Wasser
Wein war und Kühdreck Butter, hätt der Glaser Lipp sich auch a Kuh
derrichtet."
Einmal hat Einer vom Erdetragen nichts wissen wollen. „Erde",
sagte er, „haben wir genug! Die. reicht ja bis an die Jöcher!" Er hat
bald aufgehaust.
Und wie ging es einem Andern? Er glaubte alles wohl imstande zu
haben und sagte abends zur Diern: „Jetzt magst Du das Glück bei Thiire
aussnkehren, jetzt braucht es nur noch ein schönes Kalbl." In der Nacht
zerstörte die Güsse sein Haus, begrub ihn darunter und überschüttete alles
Land mit Schotter (Geröll). Nichts wächst jetz dort mehr als Stauden, in
denen es nachts mitunter rêrt (weint)2).
Der Hochwiedner Bauer hat gesagt: „Hier muss man sein Land lieb
haben, soll es etwas tragen."
Wird einem die Arbeit auch noch so schwer, man darf vom Land
nichts hergeben, gleich kann man die zweite Kuh nicht mehr halten und
dann fehlt es überall.
Auch die Erträgnisse der Felder soll man nicht verschleudern. Yon
allem, was sie hervorbringen, müssen sie wieder ihren Antheil haben: „Es
steht schlimm, wenn einer — etwa wegen Schulden — das Korn dem Bäck
(Bäcker) und das Heu dem Schuster hingeben muss! Bei einem Bauern
üiängelt (vermisst) man ein jedes Stötzl (kleines Maass) Korn, wenn nicht
anders im Mist.
1) Zeitschrift III, 40—55.
2) Die Stelle bei Schmirn heisst man noch beim Staudenrêrer.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894.
8
108
Rehsener:
Sparen muss mail — es geht nicht anders — ausderschöpfen kann
man einen See." —
„Einen Hof wie den Nockerhof — Haus, Garten, Feld und Wald,
alles in einem Zaun — wüsst ich keinen zweiten."
Das Haus ist dem ganzen Besitzthum, was der Herd dem Hause. Yon
ihm geht alles aus und kehrt wieder dorthin zurück, und Faulige und
Furm (Faulheit und Unordnung) im Hause rächt sich auch in der Weite:
Das Haar, welches man herumwirft, sammeln die Hexen und bringen es
wieder in den Schlössen des Schauers (Hagels). Da kann man es sehen
— sie sind oft auch nicht kugelit, sondern eckig. — Man hat sie in den
brennenden Ofen geworfen, weil man meinte, wie man dem Hexenwerk
thut, geschieht es den Hexen selbst, sie fühlen das Brennen.
Im Hause kann die Arbeit ruhig ihren Gang gehen, und wer einen
Dienst mit Schatten und Scherni1) sucht, d. h. wo er Schutz gegen Sonnen-
schein und Regen hat, der findet ihn dort. Anders in der Weite2).
Hier muss der Feldarbeiter neben dem Brauch noch Rücksicht auf das
Wetter nehmen: „Das Wetterle aber hat Sekten (Wunderlichkeiten)! es
wartet nicht auf die Leut, die Leut müssen warten aufs Wetter."
Wartet man vergeblich, dass der Regen aufhört, so heisst es: Heut
schneidet der Regen (zerstört, was gewachsen war). Der faule Knecht
fragt dann wohl: „Jetzt weiss ich nicht, gehe ich um ein Gras oder Lâb
(Laub)?" (Er kann keins von beiden thun.) A toal (einige) Leut schimpfen
allm (allweg, immer) auf das Wetter; da kann man nichts einwenden.
Doch einmal hat es auch ein Mandl geben, das war immer damit zufrieden,
hat allm gut Wetter gehabt. Als es gestorben war und auf Ehren (auf-
gebahrt) lag, hat von den Leuten in der Stube Einer zum Andern gesagt,
was der (Todte) wohl heut zum Wetter sagen würde. Da hat das Mandl
den Kopf auerderhebt und „gut Wetter" gesagt. Er wird wohl gut
Wetter gehabt haben — im Himmel. —
Dauert es sehr lange, bis eine gewünschte Veränderung des Wetters
eintritt, so erinnert man sich besorgt des alten Spruches:
Trocknes Jahr — Kummerjahr!
Nasses Jahr — Hungerjahr!
Bei der grossen Abhängigkeit vom Wetter, das den Brauch in der
Weite nicht streng durchführen lässt, sucht man unbewusst in der Natur
selbst nach einem andern festen Halt für alles auf die Arbeit Bezügliche.
1) Man sagt: Ich gehe in Seherin, d. i. in Obdach, vgl. Schöpf, Tirolisches Idiotikon
602. Ein Sonnen- oder Regendach heisst Ombrell, ital. ombrello.
2) Zeitschr. I, 421.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 109
Widersinniges weist der Ausruf zurück: da kann man kemmen! zu Weih-
nachten um ein Schnittl (Schnittlauch) und zu Jacobi um ein Eis.
Man sieht: wie der Mond zunimmt, gedeiht die junge Pflanze und
man sagt: Wenn er wachset (wachsend) ist, wächst sie lieber und um-
gekehrt. Scheint während der Heuernte auch die Sonne, der vertrautere
Mond giebt doch den Ausschlag: Ist er gross, so trocknet das Heu schneller.
Wenn gegen Ende des Jahres die ganze Draussenwelt ruht, sollen
auch die Blumen im Hause nicht wachsen — nicht ehnder der Tag wächst
— sonst kommen sie nicht zum Blühen!
Die selbst in einem laublosen Reise noch vorhandene Triebkraft
genügt der Bäuerin, um das Gedeihen allen Säens und Pflanzens im
kommenden Jahre vorauszuwissen: Ein am St. Barbara-Tage (4. Dez.) von
einem Kêrschenbaum (Kirschbaum), ehe die Sonne anschlagt (voll drauf-
scheint) gebrochenes Reis ins Wasser gesetzt und auf den warmen Ofen
gestellt, blüht zu Weihnachten. Blüht es reichlich, so giebt es ein frucht-
bares Jahr.
Wer es derthäte, während der Christmette auf dem First seines Hauses
zu sitzen und die Sense zu dengeln — im Augenblicke höchster Weihe
und Andacht diese harte, geräuschvolle Arbeit zu verrichten — der hätte
das ganze Jahr Schneid; aber es derthut es keiner1).
Dergiebt die Sonne im Dezember nichts mehr, wird es Zeit, an das
Fällen des Bauholzes zu denken; doch die alten Bauern gaben viel auf
den rechten Tag und um diesen zu bestimmen, sahen sie noch in einem
gedruckten Buche nach, in dem neben den guten die Schwind-2) und Los-
Tage verzeichnet waren, danach hatten sie ,ausderkopft'3), dass der beste
Tag der sei, an dem der Mûne (Mond) ganz unter der Erde wäre.
Es ist eben der Tag, sagte ein Zimmermeister aus Sterzing, den wir
um seine Meinung befragten, an dem das Holz am kleinsten, weil saft-
losesten, ist. Und er erzählte: Der Meister in Innsbruck, bei dem ich
ausgelernt habe, war von einem grossen Bauern aufgefordert, an einem
bestimmten Tage im Dezember ihm eine Tenne zu bauen. Als er mit seinen
Leuten hinkam, sah er nirgends Bauholz; der darum befragte Bauer aber
antwortete: „In dem Holz für die Tenne singen noch die Yögel! Richtet
1) Der Saxer, ein Bauer von Raminges bei Sterzing (das Greschlacht der Saxer ist
noch dort) hat ohne zu dengeln allm Schneid gehabt. Er hatte ein Zauberbuch. Die
Andern wollten ihn ticken (necken), haben ihm Denglstangen (zolldicke Eisen) in den
Wosen (Rasen) gesteckt: er hat sie grad durchgemäht.
2) Als bösester Schwindtag galt der Todestag Judas Ischariots. Hat man eine Warze,
so bringt man sie leicht weg, wenn man dafür einen Schwindtag erwischt. Haut man aber
aus Versehen an einem solchen Tag in einen grünen Baum, so muss er verdorren. Über
die verworfenen und Schwendtage I. Zingerle Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler
Volkes. Innsbruck 1857, S. 130 f.
3) In der Schule, wo der Lehrer vom Kopfrechnen spricht und man gach (jäh)
etwas sagen soll, hat ein Bübl, was von einem andern im Lernen gestört wurde, einmal
gesagt: „Lass mich köpfen", seitdem sagen sie köpfen statt denken.
8*
110
Rehsener:
euch die Zimmerstöcke nur her und euer Handwerkszeug; bis ihr gevormesst
(gefrühstückt) habt, wird das Holz schon da sein."
Darauf fuhr er mi*t seinen vier Ochsen in den Wald und war zur
rechten Zeit mit den Bäumen da. Die Tenne aber wurde aus dem eben
geschlagenen, grünen Holze hergestellt. Das wird gut werden, dachte der
Zimmermann, und als er ein Jahr danach an dem Hof vorbeikam, erinnerte
er sich der Tenne und fragte sich, wie sie wohl aussehen möge. Da kam
der Bauer auf ihn zu und sagte: „Wollt ihr nicht meine Tenne richten?"
— „Ich habs mir gleich gedacht", rief der Zimmermann, „die wird gut
aussehen von dem grünen Holz." Als er sie dann ansah, konnte sie nicht
schöner sein; sie war so dicht, dass er nicht einmal mehr die einzelnen
Bäume zählen konnte.
Auch bei Sterzing wurde eine neue Hausthiire von solchem Holze
gemacht, und der jetzige Bürgermeister, damals ein Knabe, sah zu. Da
sagte der Bauer zu diesem: „Du bist ein junger Mensch, pass auf die
Thüre, sie wird nicht schweiin, sich nicht biegen und keine Risse be-
kommen. u Sie steht heute noch unverändert da. Trotz dieser Beweise
für die richtige Wahl der Zeit fühlt man sich nicht sicher; denn man sagt
Dem einen ist dies, dem andern das ein sicheres Lös und — die alten
Löäser (Meinungen, Bauernregeln) und alten Zäune fallen um.
Beim Nahen des Frühlings taucht wieder die Sorge auf, wie es mit
der Wirtschaft gehen werde. In wenigen Tagen beginnen die Fasten; da
heissts, schnell sich noch durch Essen gestärkt! Am ,Frassmontig' soll
man neun Suppen und ,einen' Butter vor dem Yormessen (zweiten Früh-
stück) essen, dann hat man Schneid, und das gelöapete (vom Essen übrig-
gebliebene und aufgehobene) Sauerkraut den Hennen geben, dann hat der
Huhne (Hahn) den Robl (den Sieg, wenn er mit andern Hähnen kämpft)2).
Um sich gesund zu erhalten, soll man sich am Aschermittig die Haar
schneiden, dann bekommt man kein Kopfweh; ein Teil Leut schneiden gar
dem Yieh etwas Haar ab.
Sind am Palmsonntag die Balm (Palmzweige) geweiht, so laufen die
Giggelb erger3), ein jeder mit dem seinen, so schnell sie können, heim.
Wer zuletzt oben ist, hat den Pfingstzoll, d. h. wie er jetzt hier der letzte
war, wird er später auf der Alm mit dem Yieh der letzte sein. Schneit
es in die Balm, die von Palmsonntag bis Pfinstig (Donnerstag) den Schmuck
der Häuser bilden, so fürchtet man, es schneie auch noch auf die Schöwer
(Schober, künstlich zusammengestellte Garben auf den Erntefeldern).
Wo der Herrgott am Auffertstag (Himmelfahrt) bei der Darstellung
der Himmelfahrt zuletzt das Antlitz hinwendet, von dort kommt das erste
1) Zeitschrift 1893, S. 43 wird der Februar für Holzfällen als beste Zeit angenommen.
2) Der stärkste unter den Männern heisst ,Hogmoar'' (Meister); wenn er in ein Wirts-
haus kommt, setzt er sich allein an einen Tisch.
3) Die Leute vom Giggelberg, über Schelleberg.
Aus Grossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. Hl
Gewitter her. Ein Segensblick, denn die Biedner, Grascliler (lauten
Donnerschläge) machen die Erde rogl (locker).
Die Landarbeit braucht viel Arbeitskräfte, daher meinte ein
G'scheiter: „nehmt nicht alles Land zu Klee, lasst auch etwas, um Eh-
halten (Dienstboten) und Tagewerker darauf zu säen."
Für die schweren und schwersten Arbeiten glauben die Leute
ausreichende Kraft besonders vom Schmalz1) zu gewinnen. Ein Knecht,
Tcliiippele Josele, dem die Kost dafür nicht wiech (fett) genug schien, hat
eine Topfnudel zwischen die Thüre geklemmt und sie schwören gemacht,
dass sie kein Tröpfle Schmalz gesehen habe. Auch hat er morgens das
Schmalz yom Mus in einen Löffel geschöpft und mit in den Wald ge-
nommen. Dort hat er es (das Schmalz im Löffel) vor das Holz gespannt,
welches er nach Hause ziehen sollte, um dem Bauern zu beweisen, dass
mit so wenig Schmalz im Leibe das Holz nicht zu ziehen wäre. — Doch
auch dem stärksten Arbeiter läutet es Feirum (Feierabend) und die aller-
dringendste Arbeit unterbricht der Sonn- und Feiertag; den heiligen
Tag aber rechnet man nicht nur bis Mitternacht, sondern bis die Sonne
am nächsten Tage wieder aufgeht.
An einem Montag, als es noch dunkel war, stiegen 12 Männer von
Tulfers bei Sterzing in die Berge, um Heu zu ziehen. Als sie hinaufkamen,
fanden sie ihre Barrii (Heubündel) schon aufgelegt — eine Teufels-
verblendung — ; aber eine Stimme rief: „Wisset Ihr nicht, dass der heilige
Tag wäret bis an den hellen lichten Tag?" Sie sind schleunig gegangen.
Schon ist es Dezember, aber ein klarer Tag folgt noch dem andern,
und die Bauern warten auf Schnee; es wird frisch (empfindlich kalt) und
— „kein Holz am Hause!"
Der Brennerbach bringt Rogéis (Grundeis) — das sieht wie lebendig
aus —; ein Geklumper macht die Eisgüsse, grösser als das Wasser, wenn
es im Sommer ,wâss' wie hoch ist; der Bach kann nicht mehr derrinnen —
er kriecht noch eine Weile hin und her. Ein zorniger Wind schiesst die
Gasse entlang, das wird lange dauern, elinder der steht! Der grabt den
Roggen aus und jetzt ist auch das Trinkwasser hin worden (eingefroren).
„Es ist eine Strafe Gottes. Einer muss Unrecht gethan haben, hier
oder andern Orts, dass der liebe Gott so straft. Aber, dass er grade
eines Menschen wegen so straft, das glaube ich (Zenze) nicht; dafür ist
er viel zu gescheidt! Doch nachts habe ich so viel grosse Sterne dicht
1) Frische Butter wird auf schwachem Feuer unter fortwährendem Abschäumen und
Rühren so lange gekocht, bis sie gelb wie Bernstein ist, und man den Boden der Pfanne
durchsehen kann; nicht zu verwechseln mit dem im Handel vorkommenden Alpenschmalz.
112
Rehsener:
beianand gesehen1), dann sagt man, kommt der Schnee", und er kam.
Die Draussenarbeit konnte beginnen.
Um aber frei zwischen Haus, Feld und Wald fahren zu können, werden
Zäune und Gatterle ausgehoben und, um die Wege abzukürzen, Winter-
brücken geschlagen d. h. auf einige quer über den Bach gelegte Baum-
stämme Fichtenzweige gebreitet und mit Schnee beschüttet, dass alles zu
einer festen Masse zusammenfriert. —
Im Herbst war, wie gewöhnlich, die Gmoane (Gemeinde) zur Wald-
ordnige (Ordnung) berufen. Es muss ein jeder angeben, wie yiel Bäume
er fällen möchte — die guten Leut gehn aber nicht hin, damit die andern
nicht hören, wie yiel sie brauchen. Es wird vorgelesen, was im Walde
verboten ist, z. B. mit der eisernen Reche Strebe zu klauben (Moosstreu
für das Yieh zusammen zu harken), weil die jungen Bäume dabei zu leicht
mit aus dem Boden gekratzt werden können. Später kommt der,Waldherr'
selbst von Sterzing und sieht nach, was ein jeder will, streicht auch noch
manches davon ab. Die zu fällenden Bäume aber zeichnet der ,doaige'
Waldherr aus. Es soll jährlich nicht mehr Holz gefällt werden, als in
einem Jahre auf gleichem Platz nachwachsen kann, sagen die Herrn und
der Gemeinde-Yorsteher soll darauf sehen, dass es so geschieht; „aber" —
sagen die Bauern, „wer will das wissen, wie viel das ist", und so giebt
es Reibungen.
Die Goase (Ziegen) sollen nicht in den Wald gehen, weil sie die
Marbl (neuen Schösslinge der Fichten) und die neuen Anpflanzungen be-
schädigen. „Goase sind immer gegangen und Bäume hat man früher wohl
die dickern gehabt! So dick!" und der sich ereifernde Bauer spannte
beide Arme aus. „Das Anpflanzen ist auch für nichts", fuhr er fort, „von
1000 Bäumen wachsen nicht 20. Der Wald muss sich selber anpflanzen.
In den Wiesen sind junge Lärchen genug, man muss sie grad abmähen.
Und die Erlen bei Sterzing wachsen wie das Korn (so dicht); wenn sie
1, 2 Ellen hoch sind, thun sie sich selber schnoaten (beschneiden), d. h.
wo sie zu dicht sind und überflüssige Äste haben, dorren die schwachen." —
Das Holz treib en geschieht auf folgende Weise. An einer dafür
geeigneten Stelle, ,der Riese', werden die kahlen Stämme vom Felsen ge-
worfen, während unten bei der Strasse eine Wache steht. Die Wache
schellt, wenn ein Vorübergehender sich naht; die Holzknechte oben hören
die Glocke und halten mit dem Holztreiben inne, bis, wenn der Wandrer
vorüber ist, die Glocke von neuem ertönt. Dann gleiten die Stämme
herab, rollen vorwärts, überschlagen sich, bleiben unterwegs liegen, oder
stürzen mit voller Gewalt bis auf die Strasse. Dieses verursacht auf der
1) Dass diese hellfunkelnden Sterne — der Orion war gemeint — immer gleich nahe
stehen, beobachten sie nicht; sie sehen nur danach, wenn sie Schnee erwarten oder fürchten.
2) Das Holz, welches die Gemeinde selbst braucht, beträgt nicht so viel, aber das,
welches von Privatwaldungen ausgeführt wird, desto mehr.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus. Fold, Wald und Alm. H3
gefrorenen Erde ein klingendes Getöse, als berührte man den Resonanz-
boden des Klaviers.
Die meisten Stämme bringen die Holzknechte gegen 12 Uhr mittags
und 4 Uhr nachmittags auf ihren Halbschlitten1).
„Fluicht, fluicht!" ruft, als wir auf steilem Pfade im Walde stehen,
eine Stimme hinter uns, und sausend schiesst ein Halbschlitten herbei,
vorüber und um die nächste Ecke. Weit ab schleifen auf dem Schnee
die mit Ketten festgebundenen schweren Stämme. Sie schwanken nach
rechts und links, aber sicher geführt, rollen sie nicht über den Rand des
Abgrunds, den sie berühren. Gleich folgt ein zweiter Schlitten u. s. w.
Die Gasse zum Dorf hinauf geht es desto langsamer. Wer in der
Nähe ist, hilft schieben. Ein Kurat hat gar geprediget, wenn man seinen
Feind so in der Gasse sähe, sollte man nicht wegsehen, sondern hinzueilen
und ihm weiter helfen. Und ein anderer hat selbst gelegentlich mit Hand
angelegt und sich gefreut, auch gearbeitet zu haben.
„Jetzt ist das Holz am Hause, Gott sei gedankt! Yon dem, was im
Kiniger Walde uns gestohlen, findet man nicht Lab noch Stab." Der
Huis hat schon beim Abladen geholfen, jetzt stellt der 83jährige den Brigl
(Hauklotz) und die Zimmerstöcke zurecht, holt eiserne Klammern, den
Keil und das Holzbeil (Axt) herbei, und er bringt das Kleinmachen der
fast meterdicken Stämme richtig fertig. „Dass er noch das grosse Holz
derarbeitet, mich wunderts selber", meint die Zenze. „Er thut es mit
Yörteln (Vorteil) — mit Ausdenken, wie er es auchnbringt — mit der
Kraft nicht."
Der März hat ausgerammelt (die Stürme sind vorüber) und die Sonne
treibt schon hier und dort einen Halm, ein Blatt aus der Erde; das Heu
geht, zu Ende und an manchem Ort werden schon Feichtenzweige ver-
füttert. „Wenn die Menschen nichts zu essen haben, ist es noch ein
Leichtes, aber das Yieh!"
Die Schafe waren den ganzen Winter im Stall angehängt und
erhielten oft nur so viel, dass sie grad am Leben blieben, da können
sie draussen schon eben so viel finden — der Hunger treibt sie zu suchen
und sie steigen die höchsten Berge hinauf —; sie werden hinausgetrieben
und sind im Walde sich selbst überlassen. Nur eine grössere Anzahl
erhält einen Hirten; zu den andern steigt ab und zu Einer hinauf, sie zu
salzen (ihnen etwas Salz und Mehl zu bringen) ; das wissen die Tiere und
kommen an dem Orte zusammen, wo sie etwas erhalten. Fehlt dann
ein Lampi (junges Schaf), so geht der Eigentümer es suchen und führt das
Gefundene wieder zu den andern Lämpern zurück.
1) Zeitschr. I, 429 f.
114
Rehsener:
Da, im April hat es gehimmblitzt (wetterleuchtet), kniehohen Schnee
auf den Bergen gemacht und ihn zusammengeweht wie der Feind. „Es
sein zwei Winter beianand", hat ein alter Mann gesagt.
Die armen Schafe in den Bergen! Wer holt sie heim? Die Leut
können ja nicht gehen — wegen der Lanen! Endlich den dritten Tag
steigen junge Männer, immer mehrere miteinander, in die Berge. Da
sind die Tiere, aber einer tìndet vier, der andere sechs von den seinigen
erfroren; die jungen auf dem Rücken der Mutterschafe angeklammert, mit-
unter noch lebend, während die alten schon tot sind. „Die Lampler
saugen so lange an den Mutterschafen, bis das Blut kommt, daher leben
sie- oft länger als diese." Die noch lebenden sind meistens so matt, dass
sie nicht mehr gehen können — der Schnee hat sich fest in ihre Pelze
gesetzt und sein Gewicht erschwert noch ihr Grellen — sie müssen von
den Bubn hinab getragen werden. Den kräftigern tritt man einen Weg
Yoraüs durch den Schnee. Sind sie endlich am Hause angelangt, „schleunig
mit ihnen an den warmen Ofen oder den Herd und schnell etwas zu
fressen!"
Einer fand von seinen fünf Schafen keine Spur. Sind sie weit ab in
andere Berge gekommen oder ein Raub der Geir geworden? „Das Kunter
hat auch Hunger!" —
Ist der Schnee zurückgegangen auf die Höhen, so wird wieder gut
gemacht, was die Winterstürme verdorben haben. Mit dem das Eigentum
schützenden Zaun wird begonnen. Zerbrochene Stellen werden gerichtet,
d. h. Zaunsäulen eingegraben und Stecken (Stäbe) mit Lärchenästen auf
3/4 Höhe zusammengeflochten.
Für jeden Stecken dient ein schöner Lärchenast, der yon den Neben-
ästen befreit, angefeuchtet und über gelindem Feuer biegsam gemacht
worden ist. Der ,Zaunring'1), ausWeiden gefertigt, verschliesst wieder das
Gatterle und der Gatterschub (eine Vorrichtung zum Selbstverschluss) die
Thür e zur Albe (Alm).
Alle diese Yorrichtungen gewähren nur Schutz gegen das weidende
Yieh, dem Menschen steht die Weite offen, daher wiegt ein Diebstahl von
den Feldern um so schwerer. Wehe dem aber, der an der Grenze selbst
rückt und rührt! Doch ein Mann hatte bei einem Streit um die Grenze
im Waldgebiet sogar falsch geschworen, dafür irrt er seit seinem Tode in
dem Gebiet nachts umher und viele haben ihn gesehen und können es
bezeugen, dass die drei Finger seiner rechten Hand, die er beim falschen
Schwur erhoben hatte, in hellen Flammen brennen. Ihm kann nicht ge-
1) Zeitschrift III, Tafel 1.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. H5
holfen werden, bis ein gottbegnadeter Mensch ihm so viel freiwillig schenkt,
als das ausmachte, worum er seinen Nachbarn einst betrogen hat.1)
Ein anderer hat gar die Marksteine anders gestellt, und wenn man
nachts in Trens bei Strasse ging, konnte man oben in den Bergen die
arme Seele schreien hören. Sie schrie nur das eine Wort: „wohin? wohin?"
Einmal kamen Männer spät abends aus dem Wirtshause und hatten wohl
etwas im Kopf, da hörten sie wieder den Schrei „wohin?" Einer von
denen hernieden (unten) rief: „Du dummer Teufel, wo du sie (die Grenz-
steine) hergenommen hast!" Da war die arme Seele erlöst. —
Dem Umsichgreifen des Wassers zu wehren, werden den Bach entlang
die Archen (der Wasserverbau)2) wieder in Stand gesetzt; verfaulte Steften
und Flecken (Pfähle und Bretter) erneuert.
Yon vier bis sechs Männern gehoben, fällt der schwere Archenschlägl3)
im Takte auf den einzutreibenden Pfähl, während bis 12 gezählt oder
folgendes gesungen wird:
Steften schlagen,
Ochen jagen,
Hoch aufheben,
Bessre (Schläge) geben,
Noch â mal auf
Und Ruh und Rast drauf. —
Hier hat ein jedes Stück Land, auch das höchstgelegene, seinen
Eigentümer. Eine Ausnahme davon macht nur die Raabmahd, d. h. die
Grasfläche neben einem Joch, sie ist vogelfrei und es kann sie ein Jeder
mähen und hagen (das Heu einführen), der will.
Wie alles seinen Besitzer hat, so hat es auch seinen Namen.
„Wer die Feld- und Wiesennamen aufgegeben hat, das weiss kein
Mensch; die bleiben! Es sterben nicht alle Menschen (die die Namen
wissen) auf einmal!"
Puitl heisst das Feld vor unsern Fenstern, Sagerain das an der Holz-
säge, Bachacker beim Mädersteg, Wolfenboden. Bei Strassberg giebt es
den Ummisboden (Ameisenboden), Aschpen- (Espen-), Frauen-, Lett-,
Radei-, Schotteracker.
Weitere Namen sind: Goas- (Geis-) ecke, Goasloch, Tschaupiskopf,
Kaserboden, Sauweide, Gamsthal (Gemsthal), Halsl, Anterkelle, Eckehorris,
Bürstlick, Gallnbügl, Kreuzbachl, Zweibach, bei den drei Brunnen, in
Farmit, Gramblloch, Plattenbödele, Holzerboden, Stierleger, beim Wies-
bach, Brantler, der Kamp; in die Klingler, Knappenlöcher.
1) Ist wohl so zu verstehen, dass der Betrag der Kirche geschenkt wird, damit für
die arme Seele gebetet werde.
2) Schmeller, Bayr. Wörterbuch, I2, 138. Schöpf, Tirolisches Idiotikon 17.
3) Er ist höher als ein grosser Holzklotz, unten mit Eisen beschlagen und rund
herum mit aus Weiden geflochtenen Handgriffen versehen.
116
Rehsener:
Der Redwitzplatz heisst eigentlich Schindelbödele (auch schiene,
schöne, Bödele), der Ibsenplatz in alten Berg, und der Dittelplatz in
der Kohlgrube. Die'Uferpromenade heisst Scharleite. Weiter in Pflersch
giebt es Moos, Ast, Stein, Reisenschuh. Der Teil yon Gossensass nach
Hochwieden zu heisst die Nâtenburg, der an der alten Hochstrasse Gäns-
büchl und weiter nach Schelleberg Ellent.
Wo die Zenz geboren ist, heisst in der Nähe ein grosser Stein Nock
(ein grosser Brocken) 1) : man sagt in Nock gehen und nennt die Familie
die Nocker. In der Nähe des Steins geht es zu den Weisshüttler, Haar-
schinke, unterm Schlot. Oben sind die Mahrmähder, Schlieserküken,
Schlotmaht, Anhalte (Aufenthalt des Yiehes), Kersch-(Kirsch-)acker,
Ochsnerlacke, kalter Boden bis zum hohen Lorenzenjoch.
Höllen giebt es an mehreren Stellen. So beim Gröbner auf dem
Brenner. Als der Thomas von einem Felsen gestürzt wrar und sich der-
fallen hatte, sagte man: Der Tuifel Thummes (Thomas) ist in die Hölle
gefallen, und seitdem heisst die Stelle so.
Dem Zäunen folgt das Aufräumen der Wiesen und Mähder. Junge
Leute steigen mit Fusseisen hinauf, um dürre Äste, Strauchwerk, Steine
oder Geröll, was sich im Winter angesammelt, wieder fortzuschaffen, damit
das Gras im Wachstum nicht gehindert werde. Im Anger stellt man den
Mäusen und dem Maulwurf Fallen.
Ein Bauer hatte einen ,Wühler' lendig gefangen und er überlegte
lange (weil er sehr dumm war), wie er diesem ein Leids thun (ihn um-
bringen) solle. Endlich und endlich meinte er etwas Rechtes zu wissen
und — er grub den Maulwurf lendig wieder in die Erde ein! Da konnte
er weiter wühlen.
Auch sind in einem Ort viele Heuschrecker (Heuschrecken) gewesen,
die Leut haben sie abgesucht und erschlagen, aber es hat wenig genutzt.
Der Pfarrer hat gesagt, sie sollten dafür (für die Abwehr der Plage) a
Kirchen (Messe) zahlen und die Bauern waren auch dazu bereit; nur Einer
hat gesagt: „Fürs Kirchenzahlen wehre ich die Heuschreckler!" ihm haben
sie alles gefressen.
Sobald als möglich, sucht man zu bauen (ackern). Wie hier die
Arbeit geht? jetzt alles anders. Sie haben ja die nuien (neuen) Pflüg!
Selten nur wird noch ein Yaterunser gebetet, ehe der Fürsetzer die
Rosse einspannt. Der Pflugheber (Halter) muss sehen, dass der Pflug
nicht zu tief greift, sonst kommt er in die todte Erde — sie ist rot,
1) Schmeller, Bayr. Wörterb. I2, 1723.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
117
nicht schwarz und in ihr wächst nichts. Frauen folgen in gleichen Ab-
ständen und hacken mit der fünfzinkigen Krahle die Erde feiner und
entfernen die Unkrautwurzeln.
Das Land darf nicht übersäet werden. Das N. N. Feld ist meistens
übersäet. Der 0. hat gesaet und so dicht, dass, wenn ein Schuhmacher
mit einer Ale hineingestochen hätte, er nicht ochn gekommen wäre.
Auf ein halbes Tagewerk rechnet man 11/2 bis 2 Starx) Aussaat
(Roggen oder Weizen), die vorher sorgfältig gewaschen ist.
Nach dem Bauen finden sich die Ackervögel: Bachstelzen, Pfannen-
stielmeisen u. s. w. auf dem Felde ein — und suchen die aufliegenden
Körner ab. Kommt noch Schnee, so zieht er die Körner wohl wieder aus
der Erde hervor. Auch fürchtet man den Brand, das ist eine Acker-
krankheit.
Es ist die höchste Zeit zum Saen: „Der Urban (25. Mai) nimmt die
letzten Saarn en an."
Neunern und Rändl2) wird den Leuten vom Haus aufs Feld gebracht —
ein leerer Sack (dor Magen) steht nicht lang, dann geht die Weinflasche
um und Speck und Brot werden geteilt.
Mitunter kommt es beim Essen vor, dass ein Bube einem Mädchen
einen Brotanschnitt zuwirft, indem er ruft: „Da hast du ein Scherzi,
(Ranftl; Abschnitt), epper (vielleicht) lacht dich a mal a Bua an.3)
Alle erhalten die gleiche Kost, essen Sonntags und zum Teil auch
am Kirchtag mit.
Zu Mittag hatte einmal eine Frau dem Hui seil Peter etwas extra
geloapet (übrig gelassen) und hingestellt. Er schob es zurück und rief:
»M ir haben miteinander gearbeitet und miteinander wird auch gegessen."
In der Erde blüht wohl auch ein Schatz. Einmal hat der Bauer, dem
die Felder unter Raspenstein gehörten, einen solchen gesehen. Es war
ein Korb voll Gold. Er rief dem Fürsetzer zu, nicht mit dem Pfluge
drüber wegzufahren, aber schon war es geschehen und der Schatz ver-
sunken — wer weiss für wie lange —! Es hätte schnell etwas Geweihtes
Mnzugeworfen werden müssen.
Das Pflanzen soll beginnen, aber das Feld ist so dürre, brodtrocken,
man dermacht kein Loch zum Kartoifelsetzen, es rinnt alle Erde wieder
zusammen.
„Was meinst du Goaser (Ziegenhirte), wird es nicht regnen?" —
»Den Goasen nach regnet es morgen", giebt der zur Antwort. „Wenn es
1) Star, das Tiroler Getreidemass = Ys Wiener Metzen; ital. staro, aus lat. sextarius.
Schöpf, Tirol. Idiot. 700.
2) Jenes Morgen-, dieses Nachmittag- (Marendl-) Imbiss.
3) Wortspiel zwischen Scherz = Abschnitt (engl, scarce, ital. scarso, franz. escarse)
und Scherz = jocus.
118
Rehsener:
gewittrig ist, wollen sie nicht hoam, fangen immer wieder zu fressen an
und legen sich nieder."
Um dieselbe Zeit fragte ein Mann den andern: „Weisst du, wie viel
Kaisers Gutsche (Kutsche) wert ist?" — „Das weiss ich nicht", antwortete
der; „aber das weiss ich: ein Regen im April und zwei im Maidn sein
mehr wert als Kaisers Gutsche."
Inmitten der Felder werden Klee, Kartoffeln und Kohl, Bohnen und
Erbsen, Flachs und Hanf gezogen.
Vor langer Zeit hat der Matzler Yaitl (Yalentin) die ersten Erdäpfel
,Grundbirnen' hergebracht, drei hat er gesetzt, die neugewachsenen wurden
ihm bis auf fünf gestohlen. Yon diesen stammen hier die Erdäpfel ab.
Die Pusterer (eine sehr grosse Gattung) hat der Furtscliaffer1) her-
gebracht. Er hat einen Loab Brot für einen Erdapfel verlangt.
Einer klagte, dass seine Erdäpfel nicht gut seien. „Gut sind sie",
sagte ein Anderer, „es kommt nur darauf an, wie man sie zubereitet." —
„Wie soll man das denn thun?" — „Man muss sie kluge (fein) zerdrücken,
etwas Mehl hineinrühren und sie dem Fâken zu fressen geben und nachher
selber den Speck essen."
Yon der Bohne (Saubohne) Nahrgehalt heisst es: wer ein Jahr lang-
alle Tage Bohnen ässe, der würde so stark werden, dass er ein'Ross über
den Zaun heben könnte. Wenn eine Bohne auf der Erde liegt, da soll
wohl ein Reiter vom Ross steigen und sie aufheben, von derentwegen,
weil unser Herr (Jesus Chr.) die Bohnen unter den Nägeln sich ausser-
geschnitten hat.
„Geh Kobis (Kopfkohl) umhacken!" sagte die Zenze zur Sefe (Josefa),
„rauf und runter, hin und her; wie, giebt dir schon der Verstand ein. Siehst,
dass du ihnen nicht Erd' in die Herzein (ins Innere) wirfst."
Das Gras soll man suchen bei den Steinern und das Fleisch bei den
Beinern.
An geschützten Stellen, wo auch im Winter mitunter ein Flender
(Schmetterling) herumflattert, wurde das erste Grün als Osterblume
freudig begrüsst; jetzt grünen und blühen die unzähligen Arten von Gräsern
und Blumen, die bald früher, bald später kommen, bald mehr Trockenheit,
bald mehr Feuchtigkeit lieben — ein Blüthenmeer. Vorsichtig, mit blossen
Füssen gehen Frauen darin umher, wenn die Milchblume (Löwenzahn)
in der Blüte steht und pflücken diese einzeln ab. Jetzt ist sie ein gutes
Viehfutter, später, wenn gemäht wird, wäre sie zu hart.
Um das junge Getreide zu jäten, knieen mehrere Frauen in einer
Reihe und rücken langsam vor. Sie ziehen auch die spannhohen Getreide-
1) Den Namen wird er wohl haben, weil er an der Furt, in der Nähe der Gletscher
zu thun gehabt hat.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
119
pflanzen aus, wo sie zu dicht stehen und wo sie fehlen, pflanzen sie sie
nach. Das gesammelte Grün wird gedörrt, die Erde davon abgeschüttelt
und das Kraut dann dem Yieh als Futter gegeben. Das niedergedrückte
Getreide erholt sich bald, und die Farbe der Felder ist durchscheinend
wie ein klares Wasser.
Im Weizen macht der Windhafer zu schaffen; dem Roggen wird,
Wenn sie nicht genügend ausgezogen ist, die schöne Kornblume zum
Koggentod; der Klafft (Wiesenklapper) aber — das ist ein Lump!
Wenn der Roggen noch so schön aussieht und es steht viel Klafft darin,
schneidet man ihn, nachher ist es nichts. Der Roggen ist rein ausgezehrt!
alle Kraft, die ihm zukam, frass der Lotter (Bettler)! Ja, er frisst noch
das Brot, wenn es schon im Backofen ist, so viel schädlich ist er. Klaubt
man ihn nicht zeitig genug aus, erst wenn er schon Saamen hat, und giebt
ihn den Kühen zum Fressen, so saet er sich auch noch im Mist weiter.
Viele verbrennen das Unkraut deshalb.
Nimmt trotz aller Mühe das Gras in einem Felde überhand, so wird
Hoch mehr hineingesäet — daher die Bezeichnung ISTuistrate (Neugestreut)
— was dann vorzüglich wächst. So geht es eine Weile, bis wieder der
Grraswuchs nachlässt und Korn gebaut werden kann.
Auch auf den Höhen ist schon so viel gewachsen, dass das Yieh
-Nahrung findet und um den Pfeitstag (Yitus) 15. Juni — je nachdem die
Weideplätze sonnig oder weniger sonnig gelegen ein paar Tage früher oder
später — beginnt das Almenleben.
Die Kühe, denen ein solches bestimmt ist, werden einige Zeit vorher
m der Gasse spazieren geführt, um sich ans Gehen zu gewöhnen, und sehr
erwünscht ist es, dass es vor dem Auffahren geregnet hat, weil die Tiere
mi feuchten Boden leichter steigen. Die Arbeit der Senner beginnt auch
mit dem Zäunen. Dann heisst es, auf das Yieh achten, dass es bleibt.
Besonders die älteren Kühe und auch Schafe gehen gern und oft stunden-
weit nach dem Stall zurück. Fast Unglaubliches wird erzählt: Eine Kuh,
die nie aus dem Stalle gekommen, ist vom Giggelberg den Brennerweg
auf die hoch über dem Bad gelegene Alm geführt worden und in der
Nacht ohne Weg und Steg, grade über die Berge und auch noch über
zwei Zäune nach Hause gekommen.1)
Das A^ieh rauft zuerst mit einander.
Wenn zwei fremde Kühe zusammenkommen, so macht jede einen Grint
(setzt ihren Kopf auf), und sie fahren mit den Hörnern aufanand. Dabei
bricht wohl ein Horn ab oder sie kriegen sonst einen Treff (Stoss). Die
1) Schafe sind von ebendaher bei Strasse nach Ridnaun gebracht (über 5 Stunden
Weit) und über den Rosskopf und Pflersch zurückgekommen. Andre, die von hier nach
dem Pfitschthal verkauft worden, haben über das Schlüsseljoch ihren Weg gefunden.
120 Rehsener:
Hirten müssen wohl aufpassen und sie auseinander treiben, dass
sie nicht zu viele Treffe kriegen. Die Kühe auf der Alm geben es nicht
ehnder auf, bis sie wissen, welche die ärgigste (stärkste) ist. Yor der
müssen die andern fluchten. Kommt sie, und geht eine andere ihr nicht
aus dem Wege, so stösst sie. Der Ochse1) aber, der den Robia) hat, muss
den Hirten am Kirchtag zum Essen laden.
Die Schafe, oft 4—500 auf einer Alm, gehen zum Schlafen immer auf
die höchsten Bergspitzen und Schneiden3) und zwar, je heisser es ist, um
so höher, der bessern Luft wegen. Yon dort muss sie der Hirte vor
Sonnenaufgang herunterholen, damit sie nicht auf falscher Seite hinab
gehen und sich in andre Gegenden verlaufen.4)
Um den Preis für die Versorgung der Kühe zu bestimmen, werden
sie auf der Alm am Margarethentage von ihren Eigentümern gemolken,
(riebt eine Kuh eine alte Halbe Milch, so ist für die Weide nichts zu
zahlen6); giebt sie weniger, so wird dem entsprechend für sie bezahlt und
giebt sie mehr, so erhält der Besitzer den Mehrbetrag der Milch im Hörbist
als Butter und Käse zugewogen.
Die Milch muss ihren Frieden haben, aber die Butter teilt oft mit der
Sennerin die enge Kammer.
Zuerst ist es ein fröhliches Leben oben. Sie sagen: An lustigen Leut
hat auch unser Herrgott sein Freud. Und auf der Alm giebt's koa Sünd!
Mit Stolz zeigen sie dem Fremden, der sie hoamgesucht hat, die 150 Rinder,
wie sie zur Tränke vorbeigeführt werden,
oder zum Melken kommen — der Senne
trägt fürs Melken eine originelle Leder-
kappe, das Melcherkappl (Figur 1). Aber
dann, wenn es gegen das Ende geht, ist es
ein Elend! kein Futter fürs Vieh, nicht
Milch noch Butter für die Leut! Um diese
Zeit kamen wir einmal abends nach den
Almen der Falming und wünschten im Heu
zu übernachten. Die Sennerin hütete ängstlich den spärlichen Futterrest,
auch in den Stall durften wir keinen Schritt thun, wir könnten ja das Vieh
im Schlafe stören; desto sorgloser war sie mit ihrem Eigentum, sie über-
liess uns ihr eigenes Bett, ihre Alm und ihr einziges Licht (eine räuchrige
Petroleumlampe in der Stalllaterne), zeigte nur noch den Verschluss der
Hausthür und verschwand zwischen den niedrigen Hütten im Dunkel der
1) Selbstverständlich der Bauer, dem er gehört.
2) Der Robler ist der stärkste Rauf held; hier übertragen auf das stärkste Rind.
3) Nach beiden Seiten abschüssige Stellen.
4) Die Rosse werden vor der Ernte auf den Rosskopf (Berg bei Gossensass) in die
Sommerfrische gegeben, um sich für ihre Arbeit zu kräftigen.
5) Die Milch kommt dem Eigentümer der Alm zu gute.
Det Stnn et
aus Lcete-
Fig-ur 1.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
121
Nacht. Nichts hatte sie vorher bei Seite gelegt; eine handvoll Geld lag-
lose auf dem Balken (Fensterbrett).
Bei dem düstern Licht und den unförmlichen Schatten der Laterne
erschien der steinerne Raum noch gedrückter als vorher. Die grossen
Butterknollen in Reih und Glied — für die Eigentümer abgewogen und
mit hineingepressten Ornamenten gezeichnet (Fig. 2 u. 3) — erinnerten an
die Aschenbehälter der Columbarien. Diese Ornamente sind in Holzwalzen
eingeschnitten, die mit zwei Griffen versehen, über die Butterknollen gerollt
Figur 2. Figur 3.
werden. Hart schlug das Ticken des Wachtier (Läufer, Partikel, Pendel)
der Wanduhr an unser Ohr. Das Vieh nebenan schlief unruhig — man
hörte die schweren Körper sich wälzen, dass die Schellen erklangen —
es hatte Hunger! Dies erfuhren wir, als die Sennin sich morgens ent-
schuldigte, auch für uns zum Frühstücksschmarren nur ein Iii nehmen zu
können. —
122
Behsener:
Der Matthuis (21. Sept.) macht kuis, kuis! (lockt das Yieh zusammen).
Es wird endlich, spätestens Michaelis, oer gefâren; dabei müssen der
Stier und die Ochsen« die Ketten tragen, mit denen die Kühe in den
Ställen angehängt waren.1) ,Kümpfe', Schellen und Glocken mit breiten
Riemen werden den Kühen zum Schmuck vom Dorf entgegen gebracht
und wenn sie auf der Strasse angelangt sind, ihnen umgehängt. Die Kuh,
welche den Robl hat, bekommt ausser dem einen schienen (schönen)
Kranz, der so gross ist, dass sie kaum durchsehen kann und sie wird den
andern voran getrieben. Trägt sie zum ersten Mal den Kranz, da ist er
ihr wohl ungewohnt; aber hat sie ihn schon öfters getragen, dann hat sie
ihre Freude daran. Sie geht stolz einher und hebt den Grint hoch.
Ein Geistlicher in Sterzing, dem auch die Thumburg gehörte, hatte
so schönes Vieh, dass, wenn es über den Berg so geschmückt herkam,
man lachen musste. Als er gestorben war, kam das Yieh von der Alm
und es war schwarz umhängt. —
Einmal ist eine Alm um eine lödene (wollene) Joppe verkauft-worden.
Dort, bei Grasstein, waren so viele Beisswiirmer (Schlangen), dass weder
Mensch noch Yieh es aushalten konnte.
„Yon den Beisswürmern will ich Euch wohl helfen", sagte ein Mann,
der bei Strasse ging, „d. h. wenn kein weisser darunter ist." Man hatte wohl
einen gesehen, aber verschwieg es. Der Mann machte ein grosses, rundes
Loch, stellte eine Säule hinein und sich darauf, dann pfiff er den Schlangen
und sie kamen alle herbei und in das Loch, worin er sie verbrannte. Da
hörte man ein Gebrülle, wie das eines Löwen und sah in der Ferne einen
weissen Beisswurm kommen.
„Jetzt bin ich verloren!" rief der Mann; die Schlange2) kam und riss
ihn selbst herab, dass auch er im Feuer umkam. —
Auch hat man dort auf der Alm bei der Herde einen Geisbock gesehen,
der nicht dazu gehörte. Der Hirte schoss nach ihm, sah, dass er ihn ge-
troffen, und dass er zusammenstürzte; aber den nächsten Tag stand er
wieder lebend auf seinem alten Platz. Zum zweiten Mal wagte der Hirte
nicht auf ihn zu schiessen. —
Meistens stehen mehrere Almen bei einander. Lötz (schlecht) kann
es gehen, wenn nur eine allein steht. In Pflersch starb ein Weibis auf
ihrer Alm und es wusste niemand davon. Erst als das Yieh soviel
jämmerlich liänte (schrie), weil es angehängt im Stall stand und schon
gewiss zwei Tage nichts gefressen und getrunken hatte, wurden Yorüber-
gehende aufmerksam, gingen zu und fanden die Sennin tot auf der Erde
liegen. So erzählte die 82jährige Moidl, Schwester der Zenze, und fügte
1) In manchen Almen haben sie keine Ställe und müssen Tag und Nacht und bei
jeder Witterung in der Weite sein.
2) Wenn Schlangen ein Naturbild der Wasseradern sind, ist mit der weissen Schlange
vielleicht die Lawine gemeint.
Aus Grossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
123
hinzu: „Auch das Yieh auf den Almen kann einen erbarmen. Es hat so
viel die Langeweile, dass ihm oft die hellen Poppein (Thränen) die
Backen herunterlaufen — das hat mir selbst eine Sennin gesagt —, auch
kann es den Brand bekommen und der kommt nur daher, dass die
Berge nicht mehr gesegnet werden. Früher stieg ja im Langis (Lenz)
der Pfarrer mit dem allerhöchsten Gut bis auf die höchsten Höhen,
sie zu segnen; jetzt geschieht es nimmer, denn sie glauben nicht mehr
daran. Aber weil es nicht mehr geschieht, sieht das Vieh statt der Berge
mitunter schwarze Ungeheuer und wird dann auf der Stelle hin: das ist
der Brand."
Ich unterbrach sie mit der Frage, was das für Ungeheuer wäreil.
„Allerhand", lautete die Antwort, „da sind schwarze Hasen mit langen
Schwänzen." Unwillig rief die Zenze: Wem hat denn das Yieh es erzählt,
was es gesehen hat!?
Im Dorf bleibt im Sommer nur das nötigste Yieh. Den meisten Leuten
genügen ein paar Goase (Geisse). Die muntere Heerde steigt von Georgi
bis Martini täglich die Berge hinauf. Dann kann der Hirte die drei bis
vier Geisböcke, die er für die Heerde zu stellen hatte, auf den Markt
treiben und verkaufen. Er erhält für jede Geis 60 Kreuzer Lohn und
von den Eigentümern der Reihe nach Kost und Wohnung — ein Nomaden-
leben innerhalb der Gemeine.
Einmal hörten wir am Waldesrande, wo die Ziegen weideten, Hunde-
gebell und sahen verwundert hin, da die Geishirten keinen Hund halten.
Unser Blick begegnete dem eines kleinen Mädchens, welches lachte und
sagte: „Das ist kein Hund, der Hirt bellt selber so, damit die Goase ihm
besser folgen."
Ein andermal kam unser Hirte — ein schöner alter Mann — durch
den Kotzenx) wohl nicht genügend gegen die Kälte geschützt, am
regnerischen Frühlingsabende heim. „Die Frühlinger sind nicht mehr
so wie früher", rief er uns schon von weitem zu, „sie kommen viel
später!''
Im Sterzinger Stadt] | da hiit' ein alter Mann,
Der das Horn nimmer | derblasen kann,
Und im Gossensasser Dörfl | geht's viel rarer zue,
Da hütet der Thümml | und blasen thut der Bue'"').
1) Eine grobwollene Decke, die in der Mitte ein Loch zum Durchstecken des Kopfes
hat und so übergezogen wird, dass sie lang über Brust und Rücken herabfällt. — Schöpf,
Tirol. Idiotikon, S. 826. Schmeller, Bayr. Wörberb. I2, 1317.
2) Damit ist ein und dieselbe Person gemeint. Buabn werden Unverheiratete genannt,
wenn sie auch noch so alt sind.
» 9
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894.
124
Rehsener:
Der Goaser.J)
Weil ich amai der Goaser bin,
Da blas' ich hàlt brâv zite.
Die Weiber schreien alle zsàmm:
„Geh her, mei lieber Bue!
Wir werd'n dir dein Lohn richtig geben
Und a gute Kost daneben.
Heut kehr i dir die Goasler für,
Wann kimmst in Kost zu mir?"
Sobald der Bue in de Kost hinkimmt,
Da sind die Manner stolz.
Sie sagen zu den Weibern gleich:
„Der Bue, der gilt jetzt àll's!"
Jetzt thun s' ihm besser z' essen geben,
Er hàt ein grossen Lohn darneben.
„Möcht auch ein solcher Goasbue sein,
Mi dunkt, mi dunket's fein!"
Der Bue, der sagt zun Mannern:
„Dös wisst ös auch nit all's.
Kimmt man nur zu den Weibern hin,
Die haben ja nie kein Schmàlz!
Schaut nur in die Spalt hinein,
Was dös für spere2) Nudel sein!
Man bringt sie lei gleich garnit hin,
Kein Tröpfle Schmàlz ist drin.
Kimmt màn nur zu den Weibern hin,
Die sind ja klein verdreht!1)
Sie gebn ein glei kei Butter mit
Und wenn sie glei ein hätt'n.
Die ein schreit gross, die andre klein,
Der Teufel möcht ihn Recht derthun.
1st denn dös nit ein Teufelsleben,
Ich will's, mein Oad4), aufgeben!" —
Mit Beginn der Ernte, um Peter und Paul (clen 29. Juni), erwachen
Übermut und Hamür (Humor).
„Dir möcht ich einen Stein in den Garten werfen, wenn das Gras am
höchsten steht (wenn man es bald schneidet, also leicht mit der Sense
1) Yon dem 86 jährigen Bauern Johann Kofier diktirt, den wir hoch auf einer Leiter
stehend beim Lauben seiner Esche trafen. Er sagte: „Es fehlt die Weise (Melodie), da
geht es besser ineinander."
2) sperr: (trocken).
3) Oder: Ja, bein Weibern ist a Teufeissein,
Sie thun ja nichts als grein.
4) Bei meinem Eid.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch iu Haus, Feld, Wald und Alm.
125
anstossen kann)", schrieb ein Mädchen an ein anderes. Und der Huis hat
den Müller gefragt, wir möchten Ende der Woche mähen, ob sie uns
hülfen. „Da braucht man den Waldherrn nicht erst zu fragen; die Stingili
(die Grasstengel) braucht er nicht anzulacken (mit einem Merkmal ver-
sehen), wie er die Bäume im Walde (die gefällt werden sollen) an-
zeichnet."
Was zwei Männer mähen, hat ein Mädchen zu rechen. „Mach'' dass
du ochn kimmst mit dem Neuner, Sefe." — »Die zwei Buabn im Anger
dermachen mir keine Hund (so heisst, was beim Rechen liegen bleibt),
aber ich will gehen, sonst zahlen mich die Mander aus." — „Dann
thust Du es geschwind versaufen und die Schelte ist verschluckt", ant-
wortete die Bäuerin.
Das Gras wird ,gestiefelt', wenn es nicht gleich eingebracht werden
kann.
In der Ebene ist gehagt (geheut, Heu gemacht), jetzt heisst es ,vorzu'
(voran), jetzt heisst es ohne Aufhören! Vom Anger auf die Wiesen im
Walde — wo nur noch einzelne Bäume stehen — und weiter obern Wald
— wo nur noch Stauden (Erlen und Luttern)1) wachsen, und der Wind
gern das Heu verweht — ganz in die Freie!
Das Gras auf den Köfeln (abschüssigen Felsen) wird gleich getrocknet,
dann in Ballen fest zusammengebunden und in die Stadl (Heuhütten)
gebracht. Es sind dafür immer zwei starke Männer nötig. Sie schlagen
eine dicke Eisenstange in die Erde und schlingen ein langes Seil darum,
dann befestigt sich der eine das eine Ende des Seils um den Leib, nimmt
den Heuballn und klettert damit hinab; der andre nimmt das andere Ende
des Seils in die Hand und bleibt oben stehen. Dieser hat den Heuträger
zu halten, falls er beim Hinabklimmen abstürzen sollte, und er lässt das
Seil langsam gleiten. So lange das Seil reicht, klettert der Heuträger und
bleibt dann stehen. Jetzt zieht der oben befindliche das Eisen aus und
kommt dem andern nach; von neuem wird es eingeschlagen und so fort,
bis sie zur Stelle sind.
Die Mähder werden nur einmal gemäht und die allerhöchsten Gras-
flächen immer nur zur Hälfte oder ein Jahr ums andre.
Auf dem Schlüsseljoch kann man nur hagen, wenn keine Wolke am
Himmel ist. (Die Fläche senkt sich nach Norden und das Gras würde
also sonst zu schwer trocknen.)
Auch die Murmentler (Murmeltiere) hagen dann nur, aber sowohl bei
Tag als bei Nacht.
Mit Interesse verfolgen die Leute im Thal die Arbeiten auf der Höhe,
denn man erkennt an der Farbe, wo gemäht worden ist; die Flächen sehen
nicht mehr grün, sondern gelblich aus.
1) Zwerg-birken, Schmeller B. W. I2, 1542.
9*
126
Rehsener:
Im Thal giebt es ausser dem Legerheu und Grummit noch Bofl1).
Der dritte Schnitt wird dem Vieh gefährlich, wenn es zu viel davon frisst,
es derschnellt (die Gedärme platzen).
Zwei Bauern hatten ihr Heu auf die Wagen geladen und wollten es
einführen, als das Feirum(Feierabend)läuten begann. Der eine war mit
dem Heu grade mitten im Bach, liess es stehen und ging heim. Der
andre arbeitete weiter, führte das Heu nach Hause, um es sicher unter
Dach zu haben. Die Nacht brannte sein Haus ab und das Heu verbrannte
mit. Der Heuwagen im Bach aber stand nächsten Morgen unversehrt da.
Schöner kann das Wetter nicht sein, und das reife Getreide harrt
der Schnitter; aber wo genug Arbeiter hernehmen? Der Nachbar hilft
dem Nachbarn und auch Fremde, Pusterer (Pusterthaler) und Welsche,
die Arbeit suchend durchs Land ziehen, werden angenommen.
Sie schneiden mit der Sichel; geschieht es mit der Sense, so schneidet
je ein Bursche, und je ein Mädchen bindet die Garben. Früher schenkte
der Bursche dem Mädchen ein Schnürband fürs Mieder. Immer 14 Garben
werden um einen Pfahl gestellt, mit noch einer Garbe gedeckt und mit
einer handvoll Halmen, dem Band2), zusammengebunden — die Schöwer.
Sie sollen so lange auf dem Felde stehn bleiben, bis sie grau, trocken
sind3) wie ein alter Zaun. Wenn das der Fall ist, wird um den Schöwer
ein langes Seil geschlungen und fest zugezogen, ein Stab durchgesteckt
und mittelst dessen von einer Person, die sich dafür hinkniet, der Schöwer
auf ihren Nacken gehoben und in die Tenne getragen. Kopf und Nacken
sind durch einen übergehängten Sack geschützt. Männer tragen auch wohl
zwei zusammengebundene Schöwer auf einmal. Zu Bartholomä thut das
Schöwertragen weh (es ist spät dafür).
Früher hat man vom Korn Zoll in Sterzing zahlen müssen. Sie
kamen aufs Feld und zählten die Schöwer, und immer der zehnte wurde
mit einem Stäudl (grünen Zweig), das oben auf gesteckt wurde, gezeichnet.
Der durfte nicht eingebracht werden, sondern musste stehen bleiben, bis
sie4) ihn selbst holten. Der Herr Stolz hat das besorgt. Nachher hatten
die Bauern ein Mahl im Deutschritterhaus in Sterzing. Einmal gab es
Erbsensuppe. „Endlich habe ich eine Erbse derwuschen", sagte während
des Essens der eine von ihnen, „und ich einen Palg" (das Häutchen einer
Erbse), sagte der andere. Die Suppe wird wohl lauter (dünn) gewesen sein.
Auch die Herren (die Geistlichen) bekamen mitunter Korn: das Psät.
So war es in Lovis bei Mattrei. Yon dort mussten die Herren zu den
1) Das letzte Gras der Wiesen, welches das Vieh abweidet: Schöpf, Tirol. Idiot. 513.
2) Gedreht heisst es Drôl, nach dem Dreschen zerrüttet, Riede.
3) Wenn das Getreide bei feuchtem Wetter trocknet, zerfallen die Knödel.
4) Die Sterzinger Stadtherren als Grundherren von Gossensass und Brenner.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
127
Kranken ins Lovisthal kommen — sie hatten schon die Vergünstigung, ein
Ross für den Weg zu erhalten —; einmal musste ein Herr zu einem
Kranken, und als sie an die böse Eck kamen — es war schlecht Wetter
— konnten sie nicht weiter, da sagte er: „Ich thue hier ,die Moanige'
(lass die Absicht als That gelten); kehren wir um."
Als nachher aus dem Thal das Psät geschickt werden sollte, schickten
die Bauern statt dessen einen Boten zu dem Geistlichen und liessen ihm
sagen, sie hätten das Korn ein Stück Wegs gebracht und weiter kämen
sie nicht; sie hätten die Moanige gethan. Seitdem wurde kein Korn mehr
als Zins gebracht.
Wo Korn geschnitten ist, werden gleich Rüben gesaet; wo Weizen
stand, Roggen.
Säet man die Rüben zu spät nach Lorenzen (10. August), so wachsen
die Rüben nur noch in den Schwänzen! (in dünnen senkrechten Wurzeln).
Wenn sie zu Michaeli rübeln (kleine Rüben angesetzt haben), giebt es
Ruabn ab.
„Wie der Wind die Nebel (Wolken) auertreibt! das ist eine Eigen-
schaft! Wer dem Herrn nur geholfen hat, das Alles so einzurichten?"
Für den Wind hat man früher den Kassian (S. Cassi anus) verehrt.
„Wir hatten Hör (Flachs) schön ausgebreitet", erzählte eine Frau, unsre
Mutter sagte: Ihr werdet sehen, der Kassian sticht uns eine Lasse (?) und
so war es, es war alles verwühlt.
Auf den jetzt leeren Feldern prangt, von Sichel und Sense verschont,
nur noch vereinzelt der Himmelsbrand1) (verbascum phlomoides) und es
wird Zeit zum Ercletragen, -aufspringen oder -führen.
Die schrägen Felder haben mehr Fläche als der horizontale Grund,
die Sonne durchwärmt sie mehr; aber beim Bauen (ackern) arbeitet sich
die Erde herab und muss wieder liinaufgesehafft werden.
An den steilsten Plätzen steigen Männer mit den mit Erde gefüllten
Rückkörben mühsam nach einander hinauf. „Das Arbeiten, besonders das
schwere Tragen, haben die Menschen von den Umissen (Ameisen) gelernt."
Beim Erdeaufspringen oder -aufrennen wird zu oberst ein Stander mit
Steften auf dem Felde festgemacht. Wo dessen vordere Schinken griten
(auseinander spreizen2), geht überzwerg ein Holz mit einem Kloben, der
oben angehängt ist. Uber diesen läuft ein langes Seil mit grossen Ösen
an beiden Enden. Hernieden (unten) steht das Erdständerle. Es ist kleiner
als der Stander und hat ein Brett zum Aufstellen des Korbes, in den die
Erde geschöpft wird. In diesen d. h. in seine aus Birkenstämmen ge-
1) Seine mild duftenden Blüten werden zum Thee für Wöchnerinnen benutzt.
2) Schöpf, Tirol. Idiot. 215.
128
Eehsener:
flochtenen Wieden (Bänder zum Hineinschieben der Arme) schlieft der
Erdeträger, hebt den Korb, zieht sich das eine Ende des Seils über den
Kopf und mittelt über den Korb. Ein zweiter Träger, welcher oben seinen
Korb eben ausgeleert hat, geht mit dem andern Ende des Seils in der
Hand herab und zieht so den ersten in die Höhe. Dieser kann den andern
schon ticken (necken) ; wenn er sich sehr hinten überbiegt, ist er schwerer
aufzuziehen. Wir sahen einmal Kinder, die eine Frau so hinaufzogen
(vgl. das Bild auf Tafel I).
Beim Erdefiihren besorgen ein Paar Ochsen, die auf dem obern Rande
hin und hergehen, das Aufziehn einer mit Erde gefüllten Karre. —
Täglich den ganzen Sommer hindurch hatten die Frauen Grünfutter
und wenn es ging auch Strebe (Streu) fürs Vieh zu besorgen, und die
Kinder holten in kleinern Rückkörben Tschurtschen (Tannenzapfen), dürres
Holz und Beeren1).
Etwa neunjährige Buabn haben das Yieh, kommt es von der Alm, zu
hüten, denn so lange es irgend geht, wird das Yieh in die Weite getrieben.
Oft hört man lautes Peitschenknallen, Singen und auch Schreien auf den
Höhen. Die Hirtenbuebl lärmen so, damit die Mutter im Thal sie hören
möchte; dann fühlen sie sich nicht so einsam. Schafe und Ziegen weiden
auf dem jungen Roggen, weil er später weniger vom Frost leidet, wenn er
nicht so viel Blätter hat.
Im Mareiterthal sahen wir sogar im November noch Kühe auf der
Weide. „Dann sind sie dort noch lantiger (ländlicher) als in Gossensass,
wurde hier gesagt.
Führt der Galle das Vieh zum Stalle,
Sperrt der Martein es gar ein:
Die Kathrein steckt den Nagel ein.2)
„Ja, wenn hier das bischen Viehzucht nicht wär!" Wie in der Erde
ein Schatz blühte, so fand sich auch Gold im Vieh, das aus einem Gold-
brunnen getrunken hatte.
Vom Blunbauern oberhalb Strassberg, kaufte ein Viehhändler Ochsen.
In den Ochsen war Gold. Da kaufte der Händler gern immer die Ochsen
von dem Bauern. Man glaubte, dass das Gold in dem Wasser wäre, aus
dem das Vieh trank, und dass die Ochsen es mit dem Wasser eingetrunken
hätten.
1) Die Glane (Preisseibeere) hat der Tuifl erschaffen, aber unser Herr hat ein Kreuz
drauf gemacht, dass die Menschen sie essen können; man sieht es auf jeder Beere.
2) Gallus (16. Okt.), Kathrein (25. Nov.) schliesst den Stall völlig.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 129
Ein anderer hatte so viel Vieh, dass, wenn alles recht war, jede Nacht
eine Kuh kälberte —, dem Sparer folgt aber der Zehrer — sein Sohn that
nicht wie die andern: nicht gut. Er sang:
Und wenn ich mein Yater a Kalbl verthu,
So kälbert des Nachts mehr an andere Kuh.
Ein grosser Bauer, der Moar in G'moarn (Meiern im Ridnaunthal, ihm
gehörte damals allein, was jetzt viele besitzen) hatte den Brauch, alle Jahr
eine Kuh für die Armen zu schlachten. Als er selbst nur noch eine Kuh
hatte, schlachtete er sie doch. Nachher ist er wohl wieder zu etwas
kommen. Das Fleisch wurde vor der mitten im Thal auf einem Bühel
gelegenen St. Magdalenenkirchex) zerlegt und verteilt. Der Fleischklotz,
auf dem dies geschah, steht noch in der Vorhalle; der Bauer selbst aber
ist in der grossen Kirche abgemalt.
Zu den letzten Draussenarbeiten gehört das Lauben. Am Rande der
Felder, wo der Schatten nicht schaden kann, stehen Escheil. Die Blätter
derselben werden auch als Yiehfutter verwendet und damit sie dicht
wachsen, die Bäume unbarmherzig beschnitten. Die wunderlichen Formen
der alternden Stämme zeugen von der Gewalt, die ihnen in einem langen
Leben angethan ist; aber die jungen Reiser, die Râle2), steigen immer
wieder kerzengrade in die Höhe. Doch der Bauer sagt: „Das Schiioaten
(schnaiten: behauen) ist der Eschen Dungit (Dünger), dann wachsen
sie wiech (üppig); es muss alles seine Eigenschaft haben."
Es werden Leitern an die Bäume gestellt und oft sind es die ältesten
Bauern, die sorgfältig auch das letzte Blatt herabholen. Dann rechen sie
den Ertrag zu einem grossen Laub-Grabhügel zusammen.
Es läutet Feirum! Dort entblösst ein greiser Arbeiter das Haupt
und ruht neben dem Eschenlaub — dann geht er heim.
Alle sind zurück., nur eine Frau arbeitet noch emsig draussen. Die
Krapfen-Moidl, eine Toarl (taube), muss das Gebetläuten nicht gehört haben,
sie ist noch in der Erde.
Yor der Hausthür aber sitzt die alte Mutter, die, so lange die Krumpe
(Rheumatismus) es nicht unmöglich machte, fleissig in der Erde gearbeitet
hat, legt die getrockneten Kräuter zurecht und sammelt die Saarn en für
das kommende Jahr. Sie sieht, dass nichts verwerd (umkomme). „Das
gute Zeug verwerden lassen, das wäre eine Sünde!"
1) Auch Brot ist dort am Magdalenentage bis vor nicht langer Zeit verteilt wordön.
2) Schöpf, Tirol. Idiot. 530.
130
Rehsener:
Das Grün von den eingebrachten Ruebn (Riiben) wird im Hause selbst
zum Yiehfutter abgeschnitten und die Rüben werden, wie auch die Erd-
äpfel im Keller verwahrt.
Der Roggen wird gedroschen1) und endlich auch der Weizen.
Unser Herr hat zwar einst zum Adam gesagt, zu dreschen brauche er
nicht und hat ihm einen Stab gegeben, mit dem er nur zuschlagen sollte,
dann würden die Körner ausserfallen; aber Adam hat es ihm nicht geglaubt
und angehebt zu dreschen, deshalb müssen wir auch es jetzt thun.
Beim Schluss dieser Arbeit erwacht toller Übermut. Wer beim
Dreschen den letzten Schlag thut, hat den Dreschzoll und wird gefoppt.
Dass man ihm tote Mäuse in die Tasche zu stecken sucht, ist schon gesagt
worden; früher hat man ihn mit einer Bratwurst gewürgt, sie ihm um den
Hals gelegt und zugezogen. Noch früher, als einmal in Obernberg ein
Mädchen den Zoll hatte, haben sie es auf eine Mistkarre gebunden und
diese die Kofi hinabgelassen. Beide kamen zerschmettert unten an. Man
ist nicht mehr so dumm, solche Sachen zu machen, aber etwas wird man
immer anrichten. Jetzt gehen sie ins Wirtshaus, zur Feuerwehr u. s. w.,
ja, ganz soll man dieses Leben nicht vertrauern!" (G'schnitzer Hannes).
Das Getreide wird, nachdem es mit der Maschine gereinigt ist, in
grossen hölzernen Truhen aufbewahrt. Wir sahen eine Truhe, die
unten zwei Schieber hatte, welche aufgezogen, immer das zu unterst liegende
Korn herausströmen liessen. An einem dämmigen (feuchten) Ort fliegt
der Roggen ausser und der Weizen erblindet (wird hohl).
Der Roggen wird zu lauter kleinen Mücken: er ist nicht zu halten,
nicht in einer hölzernen und nicht in einer eisernen Kiste, er fliegt in die
Lärchen, man sieht es; es liegen rote Streifen in den Bäumen, und dann
sagt man: da ist Roggen aussergeflogen.
Auf dem Ritten bei Bozen war ein Bauer, der Pensler, ein schrecklich
reicher. Drei Wochenmärkte waren in der Gegend, in Bozen, Brisen und
Klausen, und er ist das ganze Jahr mit Korn zum Markte gefahren. Zum
Pensler ist in der Hungersnoth eine Müllersfrau bitten gekommen, er möge
ihr Roggen verkaufen. Er hat welchen gehabt, aber gesagt, er habe keinen.
Nachher ist der Roggen ihm aussergeflogen, der Weizen erblindet und der
Plenten (Buchweizen) hat so gestunken, dass ihn nicht einmal das Vieh
fressen mochte. Zuletzt ist der Bauer so weit gekommen, dass er sich
aufgehängt hat.
1) In manchen Orten wichsen sie das Getreide, d. h. schlagen es mit langen Aesten,
die im stumpfen Winkel gebogen sind.
2) Im Pusterthal bekommt der, der den letzten Schlag beim Dreschen thut, die Sau,
d. h. einen grossen Krapfen, in dem viele kleine Krapfen stecken.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 131
Im Hause raufen wohl die Kinder und die jungen Leut' gansen1); aber
nur selten tuifelt2) ein Weib darin umher oder wird eine Lappete (schwach-
sinnige Person) gehundet (hundsmässig behandelt). Manche Bäuerin möchte
wohl lieber ein Star Flöhe hüten als die Ehhalten. Da meint man, was
Gutes zu haben und hat des Tuifels Schweif.
Der Knecht ist ein Kolderer3) und toast. „Man wird wohl sehen, wie
er speit" (was er schwatzt), sagte ruhig der Bauer. „Wegen eines wunder-
lichen Knechts werden wir in einem Jahr nicht verrückt; er kann zu
Lichtmess schlenkeln (die Stelle wechseln). — „Die schienen Frauenzimmer
kehren nur, wo die Herren gehen und wo die Mäuse gehen nicht — je
mehr aussen hui, innit pfui — und wenn du etwas zur Dirn sagst, gleich
fährt sie zornig urnanand wie ein Beisswurm (Natter). Zum Feiern stellt
man niemand an, das kann man selber, wenns es tragt." Dagegen preist
auch manche Dirn ihren Stand, weil der Dienende frei ist, zu gehen, wenn
es ihm wo nicht mehr gefällt, „Hund sein, kann man überall."
„Wie die Handwerker auf die Stêr gehen4), kommen auch Frauen
zum Flicken ins Haus. Diese arbeiten von 6 Uhr früh bis 8 Uhr abends
für 12 Kreuzer. Wenn sie Hennenstunde halten, d. h. zwischen Licht und
Dunkel eine Weile ausruhen, müssen sie bis 9 Uhr „flicken und nähen
und die Flecken für die Löcher drehen."
Es ist gewaschen und Brot gebacken; Kobis (Krautköpfe) eingestossen,
ein Facke (Schwein) oder ein paar Schafe oder Goase sind geschlachtet
und das Fleisch gewurstet und eingesalzen.
„Hängt das Fleisch unter die Asen!": so hiessen ursprünglich im
Bajuwarischen die grossen Dachbalken; jetzt ist der Raum über dem Herde,
in dem sich der Rauch sammelt, gemauert, wird aber noch so benannt.5)
Linke = Lanke (was sich hin und her wiegt) hangt oben,
Der Hieve — Hahre hockt hernieden,
Denkt Hiere = Hahre: hätt ich Linke — Lanke
Dann tbät ich schinke = schanke (hineinbeissen).6)
Die Spinnräder werden hervorgeholt, und Frauen und Mädchen spinnen.
„Die Kathrein stellt das ,G'spilc ein" (die Hochzeitsmusik). Es darf
nicht gefreit werden.7)
„Jetzt ist es aus, jetzt ist es gar, Advent ist da, die Diandln sein in
den Rauch gehängt." —
1) Zieren sich, kokettieren, Schöpf, Tirol. Idiot. S. 174.
2) Teufelmässig lärmen.
3) Zänner, Zänker, vgl. Schmeller I2, 1242.
4) Zu Michaeli heben die Hantierer an, bei Licht zu arbeiten, und zu Martini wird
das Lichtbratl (die Martinsgans) gegessen.
5) Schmeller, Bayr. Wb. I2, 155: das hölzerne über dem Herde oder Ofen angebrachte
Gestell.
6) Würste und Fleisch unter den Asen und der Kater unten sind in diesem Rätsel
gemeint.
7) Katrein (25. Nov.) stellt'n Tanz ein, Schmeller I2, 1309.
132
Rehsener:
So sorgen die Bauern, class die Kirche ira Dorf bleibt (halten Ordnung).
Das Land ernährt sie, wenn sie sich plagen; „aber Vieh und Leut' müssen
elend zu Grund gehen, wenn man einen Schuichn (Scheu) für die Arbeit
hat, wie der Tuifel für's Kreuz!"
Früher, wenn in der Hütte etwas vorfiel, was sich die Bäuerin nicht
gleich erklären konnte, sollten es die Nörggelen oder Heinzin (kleine
Hausgeister) gethan haben.
Yerwunschene Kinder sollen es gewesen sein, solche, die nicht genug
gesegnet, oder solche, die mit der Eltern Fluch belastet waren.
Einmal hat ein Vater viele Kinder gehabt und ihnen Brot gegeben,
dabei aber gesagt: „Jetzt fahrt nicht drauf, wie die Rappen (Raben)."
Da ist ein Rabe gekommen und „hat die Kinder durch"1), und niemand
hat sie mehr gesehen.
Die Nörggelen haben in den Wänden gesteckt und gelacht und für
die guten Leut toll gearbeitet, aber sie auch getickt und getrazt
(geneckt und Bosheiten verübt). Das Vieh haben sie gefuttert und gemolken
— oft wenn die Dirn zum Melken ging, hat die Milch bei der Tliüre
schon gestanden —; den Dirnen haben sie aber auch beim Melken den
Melkstulil fortgezogen oder sie geplatterta) (der Kinasten ihr Bruder hat
es noch gesehen), oder sie haben zwei Rinder mit einer Kette angehängt
und haben der Bäuerin, wenn sie das Fuir schön angemacht und sich nur
umgekehrt hat, es wieder ausgeblasen.
In den Käsern der F alining sind sie eingezogen, als die Senner oer-
gefahren. Als darauf der Bogeholzer und noch ein Gossensasser nach der
Falming hinaufkamen, Hirsche zu jagen, sind die Nörggelen aufs Dach
der Käser gestiegen und haben mit der G oasi (Peitsche) geschnellt, dass
kein Hirsch zukam, und wenn mehr einer kam, haben sie mehr geschnellt.
Bei Mareit aber, wo der Weg vom Schloss hinabführt, sollen sie fort-
gezogen sein und „immer paarweis sind sie gangen." —
Der alten Zenze ,längstes Gedenken' reicht nicht so weit zurück.
„Da bin ich noch mit den ,Profoldern' (Pfafoldern)3) herumgeflogen4).
Der schwersten Bauernarbeit — der im Felde — und der Dienenden
— die umanand arbeiten und ummerleiden — nimmt sich noch
besonders die Schutzpatronin Tirols an.
1) d. i. hat gemacht, dass er mit den Kindern fortkam.
2) Geschlagen — plattern, mit etwas flachem schlagen, Schöpf, Tirol. Idiot, 507
plèttern, Lexer, Kämt. Wörterb. Sp. 31.
3) hin e Verstümmelung von Feifalter (Schmetterling), nach dem wiederholten Zu-
sammenfalten der Flügel, durch Reduplikationssilbe verstärktes Falter.
4) Sie meint, da war ich noch nicht geboren. In Schmetterlinggestalt erscheinen die
Seelen der Ungeborenen, wie der Verstorbenen.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 133
Die heilige Notburga hatte sich auch einst zum Dienste verdungen
und zwar bei einem Bauern, der die Leute sehr hart bei der Arbeit hielt.
Sie schnitten Weizen und noch waren sie nicht mit dem Felde fertige als
die Sonne sank; aber der Bauer erklärte, niemand dürfe zu arbeiten auf-
hören, bis die letzte Garbe gebunden sei. Da richtete sich die Heilige in
die Höhe, hob die Sichel überschi und rief: So wahr meine Sichel
in Lüften hangt, ist Feirum. Sie hing am letzten Sonnenstrahl, und
es wurde Feirum gemacht.
Die heilige Notburga wird dargestellt in der frühem Tracht der Land-
frauen, Ähren und eine Sichel in der Hand1). Ursprünglich hatten die
vier Dienstmädchen, die die Gestalt bei den Umgängen (Prozessionen)
trugen, die gleiche Tracht. Jetzt tragen sie nicht mehr den bäurischen
Kittl (Rock). Sie wollten ihn der Notburga auch nehmen, aber der Geist-
liche sagte, das ginge nicht, dann müssten sie der Heiligen ein teures
taffetnes Gewand kaufen, was unterblieb, und so hat sie allein noch die
alte Tracht.
Der Tiroler Dichter Adolph Pichler giebt obiger Sage auch noch eine
andre Deutung:
Ohne Götter nicht ist diese Stätte. Herthas Wagen stieg
Aus jener Flut in stiller Mitternacht.
Und während Sonnenfeuer auf den Spitzen
Rings loderten, geleitete der Priester
Geheimnissvoll die Heilige zu Thal.
Sie wandelt segenspendend noch, wenn auch
Zerbrochen Feig' und Nabe sind, kein Opfer
Yon reinen Früchten, reiner Frauen Hand
Auf ihrem Altar liegt. Als Magd verhüllt
Trat sie bei einem Bauersmann in Dienst,
Der das Gesinde schonungslos zur Arbeit
Im Felde zwang. Noch war die letzte Garbe
Gebunden nicht, als droben ging zur Rüste
Die Sonne. — „Rasten dürft ihr heut mir nicht,
Bis auf der Tenne liegt das Korn." Da stand
Die Herrliche, die tiefgebeugt bisher
Den Weizen schnitt. Sie warf zum Himmel auf
Die Sichel und am letzten Sonnenstrahl
Blieb hängen sie, ein Wunder in der Luft.
Hörst du die Glocke aus den grünen Bäumen?
Nichts wollte von der Heidengöttin mehr
Die Kirche wissen, drum verbarg sie sich
Im Kirchlein dort und heisst nun Sanct Notburga.
Gossensass, den 17. Oktober 1893.
1) Auch hat sie noch auf alten Bildern die Feirabendglocke in der linken Hand, und
ein Engel hält den Rechen.
134
Sajaktzis:
GräcowalacMsclie Sitten und Gebräuche.
Yon Georg Sajaktzis.
Ich habe mich längere Zeit mit den gräcowalachischen Sitten und
Gebräuchen zumeist meiner Yaterstadt Monastir (Bitolia, Macédonien),
besonders denen bei dem Eintritt eines Menschenkindes in die Welt, ohne
wissenschaftliche Absicht, beschäftigt. Was ich aus dem Munde älterer
Frauen erfuhr, schien mir merkwürdig und interessant genug, es aufzu-
zeichnen; wenn es nun Anklang und freundliche Aufnahme bei den Lesern
dieser Zeitschrift und bei meinen Stammesgenossen finden sollte, bin ich
für meine Mühe genügend entschädigt.
Sobald die Yorzeichen der Geburt die Ankunft des neuen Weltbürgers
verkünden, wird sofort das Lämpchen zumeist vor dem Marienbilde an-
gezündet und heimlich die Wehmutter herbeigeholt, die bei uns „jnajuju?]"
und ,,jujiá¡ujza" (bei den Alten „Bavßco") genannt wird.
Die Lampe vor dem Bilde der Muttergottes, welche als die Beschützerin
der Geburt gilt, wird brennend erhalten während der ganzen Dauer des
Wochenbettes, damit auch die heilige Jungfrau stets beim Kopfende der
Wöchnerin wache.
Man beruft aber die Hebamme darum so heimlich als möglich, selbst
vor den Hausbewohnern, damit die bösen Geister nichts davon hören, die
sonst den glücklichen Yerlauf der Geburt hindern könnten. Auch ihrer
eigenen Familie gegenüber bewahrt die Hebamme Stillschweigen über den
Ort, wohin ihre Pflicht sie ruft.
Glaubt man aber, dass trotzdem ein an dem intimeren Yorgang nicht
beteiligter Hausgenosse davon erfahren hat, so muss, wenn es eine Frau
ist, diese den Mund voll Wasser nehmen und damit die Wöchnerin be-
sprengen; ist es aber ein Mann, der bis nach der Yorsegnung natürlich
keinen Zutritt findet, so nimmt man ihm heimlich seine Schuhe und
schüttet etwas Wasser hinein, das man aus diesen auf Lippen und Brust
der Frau tropfen lässt, oder man nimmt ihm wenigstens ein Taschentuch
oder sonst einen Gegenstand, der bei der Leidenden gleichsam als Ver-
sicherung gegen etwaigen Schaden zurückbleibt.
Die Hebamme, wie auch die berufenen Frauen der Familie oder
Nachbarinnen pflegen, wenn sie kommen, Wünsche auszusprechen wie:
„Gott (sc. die heilige Jungfrau) möge dir die Geburt erleichtern!" oder
„Gute Entbindung (xaty éXevdeQÍa) !" u. s. w.
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche.
135
Die Wehmutter bringt, ausser dem anderen Röthigen, eine Jerichorose
mit sich, von welcher wir bald Näheres hören werden, und freundliche
Worte zum Trost und zur Ermunterung der Leidenden, welche die Gottes-
mutter um Hilfe während der Wehen (bei uns jióvol genannt) anruft.
Die heilige Maria ist die Nachfolgerin der Hera, auch einer der Be-
schützerinnen der Geburten bei den Alten, welche deswegen Geburtsgöttin
oder Geburtshelferin heisst. Denn wie die Alten auch den übrigen der
Ehe waltenden Gottheiten, besonders aber der jiorvia Hera Gebet und Opfer
darbrachten, so rufen auch bei uns die Frauen vor und nach der Geburt
die heilige Jungfrau zuhilfe, zünden ihr Kerzen an und spenden auch
andere Gaben.
Nun einige Worte über die Jerichorose, die auch vor alters die Frauen
unter dem Namen „Glykyside" sehr verehrten. Während der Wehen
benetzt sich die Leidende das Antlitz und die Lippen mit dem durch die
Jerichorose geweihten Wasser, damit sie leichter über ihre schwere Stunde
hinwegkomme (òià va efov&sQcofifj pi evxoMa). Die Jerichorose, bei uns
»yßQi rfjç Ilavayiaç — Hand der Muttergottes", ist ein niederes, vielästiges
Kraut, das durch Pilger vom heiligen Grabe gebracht wird und die Eigen-
thümlichkeit hat, sich ausgetrocknet zu einem gitterförmigen Ballon zu-
sammenzurollen und angefeuchtet wie eine menschliche Hand wieder aus-
zubreiten. Mit Beziehung auf die Form und den Namen der Jerichorose
erzählt man, sie sei dort erwachsen, wo die heilige Mutter den Abdruck
ihrer Hände zurückliess, als sie allein in dichter Finsternis zur Schädel-
stätte auf Golgatha emporklomm.
An Stelle der Jerichorose galt bei den Alten auch Apollons heiliger
Lorbeer, den die Frauen während der Wehen in Händen hielten.
Bei den Alten, wie bei uns, gab es nicht viele Hebammen, weil man
diesen Beruf für ekelig hielt, da er sie zwingt, die Wöchnerin zu berühren,
Welche als unrein betrachtet wird und ward. Daher vollzogen sich auch
bei den Alten die Geburten nur unter Beistand der Frauen der Familie,
"wie das zumeist auf unseren Dörfern geschieht, wo die Weiber manchmal
sogar unterwegs einem Kinde das Leben schenken, ohne Beistand, weder
eines männlichen, noch eines weiblichen Geburtshelfers.
II.
Nach der strengen Forderung des weiblichen Aberglaubens hebt man
das Stückchen des Nabelstranges (des letzten materiellen Bandes zwischen
Mutter und Kind), welches einige Tage nachher vertrocknet abfällt und bei
uns auch Nabel (àcpalóg — ojucpahóg) heisst, sorgfältig auf, um es nach
einigen Jahren dem Kinde zu zeigen, „damit ihm alles geschickt von der
Hand gehe". Deswegen sagen die Frauen mitunter von einem Yiel-
geschäftigen: „Der hat seinen acpaXóg gesehen". Nachdem dieser seine
Wohlthätige Aufgabe erfüllt hat, wird er in den Tiefen eines Koffers oder
136
Sajaktzis:
eines ähnlichen Behältnisses zur Ruhe gelegt, damit er besonders vor Nässe
geschützt sei, weil sonst das Kind an Leibweh zu leiden hätte. Auch hält
man es nicht für gut* (ôev xô'r/ovv yià yjilb), den àcpalóg einem andern als
seinem ursprünglichen Besitzer zu zeigen.
Bei uns kommen folgende Phrasen vor: „Das kehrt mir den Nabel
um!" oder „darüber verliert man den Nabel!" (juov Çéoxor/yjev <5 àcpaXóg —
ecpvyev ô áípcüóg) bei Dingen, die Ekel oder Furcht erregen. Auch sagt
man: „Das geht mir nicht vom Nabel" (ôev ¡u> sg/exai cmó xòv àcpaló — ôev
juov 'nfjye 3a xòv àcpaló), statt dessen häufiger: „Das kommt mir vom Herzen,
das geht mir zu Herzen!" u. s. w.
Wenn die Geburt glücklich vorüber ist, erwartet man mit ängstlicher
Spannung das Abgehen der Nachgeburt, bei uns „das Häuschen des Kindes"
genannt, die entweder in der Erde des Gartens, in der Scheune vergraben
oder in fliessendes Wasser oder anderswohin geworfën wird.
Wenn aber in seltenerem Falle das Kind mit einem Stück der Eihäute
über dem Gesicht, mit der sogenannten Mutterhaube, wie man bei uns
sagt, „mit dem Hemde" erscheint, so wird es als ein vom Glück (¡uè xv%r¡)
besonders begünstigtes angesehen. Dann wird diese Mutterhaube von der
Hebamme losgelöst und auf einem Blatt Papier aufgeklebt, wo sie allmählich
trocken wird. Zu bemerken ist, dass die weise Frau dieses vielgesuchte
Stück auf jede Weise während der Entbindung zu entwenden sucht, damit
sie es anderwärts verwerte. Bis zur Vorsegnung (oagavriauóg), wobei die
Wöchnerin den kirchlichen Segen empfängt (négvei rr¡v ev%y) xrjg), bleibt es
unter dem Kopfkissen derselben; hernach wird es in eine oder drei Kirchen
getragen, wo es durch vierzig Tage unter dem Altar liegt (leixovgyelxai).
Nachdem es so geweiht ist (èyxaiviâ'Çexat), wartet man die Ankunft eines
Metropoliten, Statthalters, Richters oder sonst einer Standesperson ab und
legt es unter einen Stein am Wege oder unter höchstens drei Brücken,
damit die betreifende Person darüber hinwegschreite. Dann bringt man
es in Sicherheit und bewahrt es sorgfältig. Wenn nämlich ein ungerecht
Verklagter ein kleines Stück dieses Talismans auf der Brust trägt, so
braucht er für seine Verantwortung gar nicht besorgt zu sein, denn dieser
giebt ihm Mund und Weisheit, so dass alle seine Widersacher nicht zu
widerstehen und zu widersprechen vermögen. Und noch eine Besonderheit:
während der Gerichtsverhandlung trägt der Beschuldigte diesen Talisman
unter der Achsel und lässt bei der Rede des Gegners den Arm lose hängen,
damit er die Gründe des Feindes entkräfte; spricht er aber selbst, so presst
er den Arm stark an sich, damit seine Gründe an Kraft gewinnen.
Manchesmal schiebt man den Talisman in den rechten Schub, in welchem
Fall der Fuss den Dienst des Armes zu erfüllen hat.
Auch der Wanderer benützt ihn, damit der Feind auf seinem Wege
erblinde. Endlich wird er manchmal angewendet, wenn in einem Hause
Zank und Hader (ygvvia xaí ogyrj) eingekehrt ist und zwar in Kürze
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche.
137
folgendermassen: in irgend etwas, das für die hadernden Familienglieder
zum essen oder trinken bestimmt ist, wirft man ein in Asche verwandeltes
Stückchen dieses vielgesuchten Mittels, und schnellstens stellt sich das
Gleichgewicht des durch den Finger der Zauberei (juayeia) ins Schwanken
gerathenen Züngleins an der Wage der Familienharmonie wieder her. —
Während die Hebamme das Neugeborene aus dem Dunkel seines bis-
herigen Daseins in das ungewisse Leben bringt, rüsten die Anwesenden in
einer Ecke des Gemachs ein warmes Lager, auf welches die Leidende
gebettet wird. Gleich darauf giesst die weise Frau laues Wasser mit einer
Handvoll Salz in ein Becken, und in dieser Soole, in die oft einige Tropfen
Weins gegossen werden, besonders wenn das Kind schwächlicher Natur ist,
wäscht sie das Kind zur Reinigung. Ist diese vorüber, so werfen zumeist
bei Leuten besseren Standes und gar bei einer Erstgeburt, die Haus-
genossen in das Bad verschiedene Münzsorten, oder Stücke Goldes und
Silbers, damit das Kind auch im späteren Leben von dem goldführenden
Paktolus getragen werde.
Wenn das Kind zum schönen Geschlecht gehört, so durchsticht ge-
wöhnlich die Hebamme nach dem Bade, oft mit einer goldenen Nadel,
seine Ohrläppchen, ehe es noch an die Brust gelegt wurde (äßv'Qaxxo).
Hernach hüllt die Hebamme das Kleine in das Hemdchen, das Röckchen
und die Windeln (vjioxá/uioo, ávreqám xa't xwXónava), bedeckt den Kopf
desselben mit einem Häubchen, wickelt es in eine grosse Windel (ojzágyavo),
fascht es dann mit einer drei Ellen langen Binde fcpaoxiá), legt es in eine
Atlasdecke, schnürt sie um die Hüfte mit einem Tuch und bettet es, nun-
mehr ein Wickelkind (bei uns „nójzavov" = Wäscherschlägel), in sein eigenes
Bettchen neben dem der Mutter, „die nicht mehr an die Angst denkt
wegen der Freude, dass ein Mensch zur Welt geboren worden ist". Hat
die Hebamme den kleinen Engel in seinem weichen Bettchen den Armen
des wartenden Morpheus übergeben, so beglückwünscht sie die Mutter:
„Möge es dir erhalten bleiben (vá oäg Çrjorj) !" — „Es gedeihe glücklich
(xaÀoQQÎÇixo)\u „Bei den Eltern (jus rovg yoveïg)!" sc. möge es gross werden;
den anwesenden Frauen aber: „Möge die Reihe jetzt an euch kommen
(vá oäg ehe yvotouêva) !" Nachdem endlich die Hebamme und die Frauen,
welche nunmehr ihre Rolle auf dem geheimnisvollen Schauplatz ausgespielt
haben, ihre Hände gewaschen und nach unerlässlichem Gebrauche Ein-
gesottenes und Kaffee (ylvxó xaí xacpé) genommen haben, sprechen sie
weggehend ihre Wünsche aus: „Möge es dir erhalten bleiben!" — „Mit
vollem Arm (= mit dem Kinde) und voller Brust! sc. sollst du'aufstehen
(ué [MTQáToa yeuára naí orr/dia y e fiara).u
Allein wenn ein Mädchen nach anderen Mädchen und nicht nach
Knaben (zwischen denen es mit grosser Freude begriisst wird) geboren ist,
pflegt man, allerdings unter einiger Vorsicht, einige Trostesworte wegen
der weniger erfreulichen Geburt zu sprechen: „Eh! schadet nichts! Möge
138
Sajaktzis:
es leben! Jeder hat sein Geschick! Es leben ja die Eltern! Ein andermal
einen Buben!" ("E Sev tieiqcxQei, và odç , yji'ùêva jué rr¡v rvyr¡ rov eívs,
vá 'Çïjoovv ol yoveiç roif, xi allore ¡xliyóoi.) Wenn es aber wieder ein Knabe
ist, wünscht man nicht minder mit Freimut: „Und wieder einen Knaben!"
Merkwürdig! Wie wenn der Knabe an sich schon Ainaltheas Horn besässe,
das Mädchen aber die verwünschte Büchse der Pandora, woher uns alles
Übel gekommen ist. Diese Wünsche dürfen uns aber nicht wundern, wenn
wir uns der Anschauungen erinnern, welche schon die Alten von den
Frauen gehabt haben, Anschauungen, auf welche auch das Evangelium
nicht wenig eingewirkt hat: „Die Frauen müssen ihren Männern unterthan
sein, wie dem Herrn, weil der Mann das Haupt des Weibes ist, wie Christus
das Haupt der Kirche (Paul Br. a. d. Eph., Y, 22, 23)." Sagen doch unsere
Frauen, ihr eigenes Geschlecht herabsetzend, charakteristisch genug: „Der
Mann wird mit dem Kreuz auf dem Kopf geboren, wir Frauen aber sind
arme Even!" und „der Mann kommt mit dem Geldbeutel um den Hals
zur Welt!" u. s. w.
Die Reinigung der Kinder ist ein uralter Gebrauch; in jenen voll-
kräftigen Zeiten der Menschheit wuschen die verwandten Frauen der
Wöchnerin, welche bei der Geburt des Kindes Beistand geleistet hatten,
dieses mit reinem oder mit durch Ol vermischtem Wasser, damit es reinige
und kräftige. In Sparta aber nahm man zu diesem Bade Wein, wie auch
Plutarch im Leben des Lykurgos bezeugt, indem er sagt: „Nicht in Wasser,
sondern in Wein wuschen die Frauen die Neugeborenen, dadurch ihre
Kraft erprobend; denn hinfällige und kränkliche Kinder sollen in dem
ungemischten Weinbad an Krämpfen sterben, die Gesunden aber an Kraft
und Stärke in ihrem Befinden gewinnen." Nach dem Bade salbte man
das Kind und wickelte es ein, ausser bei den abgehärteten Spartiaten, die
niemals ein Kind einhüllten, damit seine Glieder und seine Gestalt von
edlem Ansehen würden, wie Plutarch sagt. Hernach legten sie das Kindlein
in die Wiege, zum Zeichen seines künftigen Geschickes. Gleichzeitig
hing man an den Thürpfosten, damit die Yorbeigehenden davon erführen,
einen Ölkranz, wenn ein Knabe, Wolle aber, wenn ein Mädchen geboren
war, zum Zeichen der Thätigkeit, welche jedes von ihnen zu vollbringen
hatte, nämlich der Knabe in den Kämpfen und im Ackerbau, das Mädchen
jedoch in der Hauswirtschaft.
\
III.
Grosse Aufmerksamkeit wird darauf verwendet, dass die Wöchnerin
und das neugeborene Kind ja keinen Schaden durch den bösen Blick oder
die Zauberzunge erleide. Yon den noch jetzt bestehenden Gebräuchen
gelten besonders folgende:
Yor dem Weggang der weisen Frau befestigt diese oder auch eine
andere Frau aus der Familie mittels eines doppelten, rotweissen, zusammen-
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche.
139
gedrehten Fadens, der Märzfaden1) (/.uágroogj heisst, am Halse der Wöchnerin
gegen den bösen Blick (yià /uátiaajua) einen goldenen Ring, zumeist Ehe-
ring, den sie durch die vierzig Tage trägt. Einen solchen Faden bindet
dieselbe Person auch aussen über der Thüre des Zimmers der Wöchnerin
an, damit dem Kind der böse Blick nicht schade (va ¡xr\ ¡uaTtáor¡ rò ¡uixqó).
Zu demselben Zweck näht man in das oben erwähnte Mützchen des
Kleinen und ebenso in seine Nachfolger gewöhnlich ein Stück Knoblauch
oder Weinstein, bei einem Erstgeborenen und Einzigen aber Wolfszähne
und silbergefasste Maulwurfsfüsse, Drachenblut (al¡mi an èvvrjà âSélcpi.a =
Blut von neun Brüdern), Kreuze, heilige Bildchen (uovóxsga) u. s. w., aber
jedes für sich begleitet von dem unerlässlichen Konstantinato, dem Kleinod
und Palladium der Familie, einer Münze mit dem Bildnisse der Heiligen
Konstantin und Helene.
Nach der Taufe legt man unter das Kissen des Kindes verschiedene
Anhängsel (ne.giamo.) als Mittel gegen Bezauberuug: Talismane (yaiixalia)^
Kreuze, Bildchen, ein Reliquienkreuz (tîjulo-ÇvXo; das ist ein Kreuz mit
einem Splitter vom Kreuze Christi) u. s. w., welche später um den Hals
des Kindes gehängt werden und es oft bis zum Grabe begleiten.
Ebenso muss jeder Eingetretene (besonders später) zur Wöchnerin und
vor allem zum Kind, nachdem er sie etwas angespuckt hat, sagen: „Phtu!
mögest du nicht verzaubert werden! (Möge dir der böse Blick nicht
schaden! = ra ¡ur¡ oovve duco /mItl, — và ¡ur) nágrjg ano juán u. s. w.)." Diese
Phrase ist bekräftigt durch die sehr alte Anschauung, dass das Anspucken
die Zauberei vertreibe; vor zweitausend Jahren schon sang der anmutige
Theokrit durch den Mund des den Polyphemos darstellenden Damoitas in
der VL Idylle:
„Damit ich nicht verzaubert werde, spuckte ich dreimal in meinen Busen,
Denn das lehrte mich die alte Kotytaris,
Die früher bei Hippotion den Schnittern vorspielte" (vid. neugr. Lex. v. Byz.).
Analog den oben angeführten Phrasen sind bei den Alten folgende:
„Möge dich der Pfeil der Rache nicht treffen! — Möge Neid dir fern sein!
(Nejuéoecog in) ßäloi ßeko'g, ânéorco (pí)óvog)" u. s. w. Zur Abwehr der ver-
derblichen Wirkung des bösen Blicks, wie auch der Zauberzunge (ini
ßaoxaviag fj cpßovov änorgonfj, wie die Alten sagten), hatten auch sie ausser
dem Anspucken und verschiedenen Sprüchen manche Pflanzen wie Knob-
lauch, Raute u. a. m., satyrische Embleme und Talismane (ngoofìe/uara), wie
den Phallus und andere, die man den Kindern um den Hals hängte und
Gegenzauber nannte.
1) Am Yorabend des 1. März bindet man den Kindern mit solchen Fäden eine kleine
Silbermünze (aanqo) um den Hals oder die Hand. Am Morgen des 9. März legt man nur
die Fäden auf Weinlauben oder Bäume, von wo sie der durch Lieder herbeigerufene
Storch holt, der dafür die Ostergeschenke bringt.
Zeitscbr. d. Vereins f. Volkskunde. 1S94. 10
140
Sajaktzis :
Zu einem endlich, der einen anmutigen Säugling oder ein aufgewecktes
Kind unverwandt anstarrt, sagen bei uns die zufällig Anwesenden: „Dir
läuft Blut von der Nase!" oder „Schau auf deine Nägel!" u. a., wahr-
scheinlich, damit man den Anstarrenden von dem Gegenstande seiner Auf-
merksamkeit ablenke. Ahnliche Redensarten sind auch im Gebrauch in
Hinsicht auf das schöne Aussehen von verschiedenen Haustieren.
Nach der Geburt müssen um 9 Uhr abends alle, ausser den engeren
Hausgenossen, fortgehen; man schliesst die Thür gut ab und zündet in dem
aus uralter Zeit überlieferten Thymiaterion Räucherwerk an, mit dem man
Wöchnerin und Kind beräuchert, was jeden Abend bis zum vierzigsten
Tage wiederholt wird, damit nicht das Übel, die Schatten, oder die bösen
Geister hereinkommen. Diese überfallen (naxovv) unter verschiedenen
Gestalten als Araberin, als ein schwarzer Stier, ein Hund, eine Ziege u. s. w.
die Wöchnerin im Schlaf; sie träumt dann von Gespenstern, wirft sich auf
dem Lager herum, schreit auf, schaudert vor Angst ((pQitji), der Athem
stockt, die Sprache verliert sich, die Frau wird ohnmächtig (yávzxai), und
oft stirbt sie. Besonders ist die Frau während ihrer Schwangerschaft diesen
Uberfällen ausgesetzt, welche häufig eine Frühgeburt bewirken. Diese
Ohnmacht erklärt man damit, dass die bösen Geister von dem Schatten
der Kranken Besitz ergriffen haben, um ihn über Land und Meer davon
zu führen. Solange die Frau bewusstlos ist, sucht man Hilfe durch aller-
hand abergläubische Mittel : man hält der Kranken angezündete Fäden, die
am Stock des Wollhaspels im Laufe der Zeit sich verwickelt haben, unter
die Nase; wie durch das Feuer die verwirrten Fäden, so soll durch den
Rauch die Verwirrung der Sinne gelöst werden. Oder man hält der Be-
wusstlosen ein Weberblatt mit seinen engen Fächern vor die Augen, damit
sie Sehkraft gewinnen. Auch bildet man aus Hochzeitsblumen oder solchen,
die beim Fest Johannis des Täufers (rai-Fiavviov) als Schmuck gedient
haben, einen Kranz, durch den die Kranke gezogen wird.
Auch das Kind ist ähnlichen Gefahren ausgesetzt: es bekommt die
Gelbsucht, hat Hitze, fliegenden Athem, der Unterleib schwillt etwas an,
es folgen Krämpfe u. dgl.; dann sagt man euphemistisch, das komme vom
Guten (amò xaló). Damit das Kind nicht die Gelbsucht bekomme, darf
die Mutter dem Kinde im Bette niemals den Rücken kehren. Zur Ab-
wendung der Gelbsucht aber bindet man dem Kinde Dienstag abends einen
gelben Seidenfaden um den Hals und ebenso einem Rosenstrauch im
Garten einen roten, die Mittwoch früh vertauscht werden. Auch die Kirche
versagt in dieser Lage nicht ihre Hilfe, indem der Priester Mutter und
Kind segnet und andere Cereinonien anwendet.
Bis zum vierzigsten Tage darf in das Zimmer der Wöchnerin bei
Nacht ein brennendes Licht weder hereingetragen, noch aus demselben
entfernt werden, weil die Dämonen durch das Licht der Muttermilch
schaden könnten. Auch ist es nicht erlaubt, dass Brot und Wein aus dein
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche.
141
Gemach hinausgetragen werden, damit nicht das häusliche Glück, dessen
Symbol sie sind, mit ihnen entfliehe.
Bis zum siebenten Tage beiläufig muss stets ein dritter getaufter
Mensch um Kind und Wöchnerin weilen, besonders nachts. Nach der
Taufe aber ist der Dritte zwar überflüssig, die Mutter aber muss ständig
bei ihrem Kinde bleiben; wenn sie aber auszugehen gezwungen ist, soll
sie neben das Kind den Besen stellen, damit er ihm Gesellschaft leiste.
Alles das geschieht zum Schutz gegen die Anfechtungen sichtbarer und
unsichtbarer Geister bei Tag und Nacht, welche besonders die noch unreine,
weil nicht vorgesegnete Wöchnerin und auch das unreine, weil noch un-
getaufte Kind verfolgen.
Entsprechend unseren Geistern hatten auch die Alten die Empusen,
nächtliche Gespenster (der Schrecken der Kinder), die sich in mannigfaltige
Gestalten von Menschen und Tieren verwandeln und ein feuerglänzendes
Gesicht, blutfarbige Leiber, einen Eselsfuss oder einen eisernen Fuss haben.
Yon derselben Art waren auch die Morino, Mormolyke, die Lamia und
andere solche Gespenster. Die Sage von der Lamia ist auch bei uns nicht
ganz unbekannt. Zur Verscheuchung dieser benützten auch die Alten
verschiedene Schutzmittel, wie den Jaspis, den der Reisende Dionysios
(724): „den dunkeln Jaspis, den Feind der Empusen und anderer Ge-
spenster" nennt.
Endlich darf die Wöchnerin zu keiner Stunde der Nacht ausgehen,
noch weniger unter der Dachtraufe oder sonst irgendwo verweilen, weil
besonders in der Mitternacht die weissgekleideten und blumengeschmückten
Nymphen erscheinen, die man schmeichlerisch bei uns „die Weissen, die
Weissen und Freundlichen" nennt, und von denen man glaubt, dass sie
Jungfrauen von idealer Schönheit seien, ein Glaube, der aber nicht allzu-
streng aufzufassen ist. Sie kommen aus den kalten Luftwellen, von den
Gipfeln der Berge, am meisten von den Dachrinnen, von Bäumen, aus
Brunnen u. dgl. ; und wie die Klodonen und Mimmalonen der alten Mace-
donen toben und rasen sie mit Handpauken und unter Tänzen, den Unein-
geweihten unmerkbar,, schlagen sie (xtvjiovoi), thun Übles und erwürgen
oft in ihren lieblosen Armen jede Menschenseele, die zu dieser unglück-
seligen Stunde ihrer Wut anheimfällt.
Falls aber die Wöchnerin (oder auch eine andere Person) bei nächt-
lichem Ausgang von den „Weissen" geschädigt wird (xrvnrj'&fi) und in eine
schwere Krankheit verfällt, geht gewöhnlich ihre Mutter eines Nachts genau
um die geheimnisvolle Geisterstunde, wann selbst das Wasser schläft, wie
man bei uns sagt, aus und schleicht zum Hausbrunnen im Hof, zur Dach-
traufe, in den Schatten der Bäume, zu der Quelle des Gartens, zum Bächlein
im Grase, überhaupt zu jedem schlafenden Wasser des Hauses, und mit
leise murmelnder Stimme ruft sie die „Weissen und Freundlichen" oder
die „Weissen und Allerschönsten" mit anziehendem Liedchen ßmpdij) an,
10*
142
Sajaktzis :
indem sie ihre Anmut und Güte preist und sie anfleht, sie möchten der
Kranken die Gesundheit wiedergeben, die sie ihr unbilliger Weise genommen
haben, obwohl die Arme getauft und eine gute Christin ist. Zur Yersöhnung
aber beträufelt sie ihre vorgenannten Wohnsitze mit Honig, damit sie auch
ihr bitter gekränktes Herz durch die Wiedergenesung der Kranken be-
sänftigen. Wenn die Nymphen die Bitten der Mutter erhört haben,
schenken sie der Tochter wieder ihre Gesundheit; sind sie aber un-
versöhnlich und unerbittlich, so beweisen sie dies durch Schädigung auch
der Mutter selbst.
Damit die Wöchnerin und besonders das Kind durch die „Weissen"
oder „von aussen (— ari egeo)" nicht Schaden leide, oder wie die Alten
angemessener sagten, verzückt (vv¡Ácpókr¡jixog) werde, dürfen auch die
Kleider der Wöchnerin, wie die Windeln des Kindes nachts nicht unter
freiem Himmel bleiben. Aus demselben Grunde muss auch das Wasser,
mit dem Kind und Mutter und ihre Sachen gewaschen wurden, in Köhren
und Kanälen in die Tiefen der Erde geleitet werden.
AVie aber die Alten den Nymphen Öl, Milch, Schafe, Wein und Blumen
opferten, so bringt man ihnen bei uns Milch, Honig, Zucker Blumen,
Weizenkringel, Torten, Kuchen mit Rosinen und gebrannten Kichererbsen,
Mahlzeiten u. s. w. dar.
Nun noch in Kürze über die anmutigen Nymphen der Alten, die sich
in nichts von ihren Nachfolgerinnen unterscheiden. Die Sage nannte sie
jungfräuliche Gottheiten unbekannter Abkunft, die oft aus Liebe zur
Menschenwelt dem Himmel entfliehen und ihre Wohnstätte auf Bergen,
in den Thälern, in Wäldern, bei den Quellen, besonders in Gewässern,
uuter Bäumen u. a. ä. 0. aufschlagen; davon heissen sie Oreaden und
Dryaden, Nereiden (Nsgaidsg) und Aiseiden, Napaien und Krenaïen u. s. w.,
genau wie bei uns. Blumen bekränzt folgten sie dein Musagetes Apollo,
der „fxoyooxoxog" Artemis, dein Pan, der mit seiner Syrinx ihre Reigentänze
regelt, dem lyäischen Dionysos und einigen anderen ihrer schöngestalteten
Genossen. Sie sangen und tanzten, spannen und jagten, tobten und rasten,
sie spendeten Wohlthaten und zerstörten.
IY.
Damit das einzige Kind (/uoväxgißo — einziggeborenes oder erst-
geborenes) am Leben bleibe (ôià và Cv°Yì)i nimmt man vor und nach der
Geburt Zuflucht zu allerhand nichtigem Aberglauben, wovon wir hier
einiges Hervorragende anführen.
Von dem Zeitpunkt an, da die junge Frau die Frucht der Liebe unter
ihrem Herzen sich regen fühlt, ergiebt sie sich besonderer Frömmigkeit
(evMßeta) und macht viele Spenden (xágeg): so trägt sie verschiedene
Talismane, beruft öfter den Priester zu einer Bitte (ôià Tiagaxkrjoi), macht
mancherlei Ceremonien in der Kirche mit, umwandelt sie mehrmals mit
Gr äc o walach is eli e Sitten und Gebräuche.
143
einer geweihten Kerze, zündet eine Kerze in ihrer Grösse an, vor dem
Bilde der Muttergottes, damit sie durch ihre Gnade mit Leichtigkeit ent-
binde, hängt vor ihm ein Hemd, Strümpfe, feine weisse Leinwand u. dgl.
auf, klebt ein goldenes Figürchen an die Yerglasung desselben, lässt, wenn
wohlhabend, den Heiligenschein oder eine Hand des Bildes vergolden,
spendet eine Stola oder einen andern kirchlichen Gebrauchsgegenstand;
sie gelobt endlich, zur Yorsegnung eine benachbarte Liebfrauenkirche zu
besuchen, wo sie ähnlich wie oben erzählt ist, thut und für die glück-
liche Ankunft des geliebten Wesens betet, das in ihrem Schoss sich ent-
wickelt.
Etwa drei Monate vor der Geburt sucht eine bisher mit Kindern
unglückliche Mutter (xaQoxajufxevi] ¡uávva) yon einer Pilgerin die Phokea
(Çojvi] rfjç Ilavaylaç = Gürtel der Muttergottes), einen behaarten Ledergürtel
zu erlangen, den sie um die Hüfte gürtet, und den sie bis zur Geburt
trägt. Dann wird er unter ihr Kopfkissen gelegt und nach der Yorsegnung
dorthin zurückgegeben, woher man ihn erhalten.
Alles, was auf die vorgestorbenen Geschwister des zu erwartenden
Kindes Beziehung hat, wie Wiege, Windeln, Kleider u. dgl. wird aus dem
Hause gebracht, der Kirche oder den Armen geschenkt und durch Neues
ersetzt. Y011 der ganzen neuen Ausstattung des künftigen Weltbürgers
werden das Mützchen und Hemdchen durch vierzig Tage in einer Kirche
unter dem Altar zur Weihe niedergelegt.
Das einzige Kind wird, kaum geboren, wie ein Held des Zirkus durch
einen eisernen Reifen gezogen oder leichter mit dem eisernen Dreifuss in
Berührung gebracht, damit auch seine Glieder eisenstark werden.
Augenblicklich, wenn das Kind zur Welt ist (ä/ua jiéor¡ rò ¡ulxqó),
schaut die Hebamme nach den entscheidenden Geschlechtszeichen und
ruft, wenn es ein Knabe ist, aus: „ein Mädchen, ein Mädchen" und ein
andermal „ein Knabe!"
Die erste Windel (fieyáXo xcolónavov), mit welcher das Ivindlein nach
dem ersten Bade umgeben wird, bereitet man am Yorabend des Grün-
donnerstags, wenn er in die Zeit der Schwangerschaft fällt. An diesem
Abend nämlich werden die engeren Verwandten der Schwangeren ins Haus
geladen, und durch Mitwirkung aller wird bis zum Morgen die Wolle
gewaschen, getrocknet, gekrempelt, gewebt und in das soviel geehrte
Kolopanon verwandelt.
Auf ähnliche Weise wird das erste Hemd, welches das Kind nach dem
Bade einhüllen soll, vorbereitet: etwa zwei Wochen vor der Geburt nimmt
man aus drei befreundeten Häusern ein entsprechendes Stück Stoff und
bringt es zum Nähen zu einem darin unerfahrenen Mädchen, das noch
Eltern hat (juè yoveïç); dieses setzt sich im Hof auf einen Stein und muss
unter der Anleitung einer erfahrenen Frau vom Morgen bis zum Abend
das lebenspendende Hemd beginnen und vollenden.
144
Sajaktzis:
Dem Kinde, auch wenn es ein Knabe ist, wird, bevor es getrunken
hat, das rechte Ohrläppchen durchbohrt, in welches, wie bei den Mädchen,
ein silberner oder goldener Ohrring eingehängt und durch einige Jahre
getragen wird. Am Gründonnerstag nämlich sucht man bei drei bekannten
oder auch fremden Familien, die einen Konstantin und eine Helene oder
allein eine Marie als Kinder haben, je eine silberne oder goldene kleine
Münze zu erlangen, die man zum Goldarbeiter giebt, damit er daraus den
genannten Ohrring verfertige.
Seltener trägt man jetzt das Kind zu einer Frau, die von ihren Vor-
fahren her eine silberne Münze hat, die Pinezi heisst, mittels der sie dem
Kind ein Kreuz zwischen den Augenbrauen einritzt.
Gleich nach der ersten Einwickelung nimmt eine alte Frau das Neu-
geborene und trägt es in ein gut verschlossenes Nebenzimmer, wo sie es,
besonders während der ganzen ersten Nacht (oder auch oft bis zur dritten
Nacht, in welcher die Mören das Kind besuchen, um sein Schicksal zu
bestimmen), auf ihren Armen behält, ohne dass es, aus Furcht vor den
Geistern, den Boden berührt; oder, was seltener ist, man schwärzt dem
Kinde in der Wiege das Antlitz, damit alles Böse sich vor ihm fürchte,
und thut noch mancherlei, was mir leider entfallen ist. Gleich am Morgen,
bevor das Kind getrunken hat, trägt die erwähnte Frau es in die Kirche
zur Taufe. Merkwürdig ist aber, dass man, sobald das Kind entfernt wird,
gleich statt desselben neben die Wöchnerin einen Wäscherschlegel (xónavoç),
künstlich zurechtgemacht und eingehüllt in die Atlasdecke, hinstellt, damit
die Schatten, das Übel oder selbst die Mören (von denen vielleicht in
einem anderen Aufsatz berichtet werden soll) getäuscht, diesen statt des
Neugeborenen überfallen (nXaxœoovv) und schädigen.
Nach Ausführung des Erzählten nimmt eine alte Frau schnell das
Kind und legt es heimlich auf der Schwelle der Kirchenthür nieder; dem
ersten Christen aber, der zufällig daherkommt, ruft sie, aus ihrem Versteck
hervoreilend, wie Miriam aus dem Schilf, als sie den Moses bewachte,
freudig zu: „Dir war's vom Schicksal bestimmt! (\5im] oov rv/rj íjravE)íí;
dann übernimmt der Wanderer erfreut die Pflichten des Paten und
spendet dem Neugeborenen ein Hemdchen oder dazu ein Mützchen mit
einer Goldmünze oder auch noch andere Geschenke (dcöga bei uns), wenn
seine Mittel es gestatten. Früher waren noch viele andere Sitten
im Gebrauch, die aber jetzt nur bei alten, erbgesessenen Familien im
Schwange sind.
Wenn man aber bemerkt, dass das Neugeborene, wie seineu Eintritt
in die Welt bereuend, sich beeilt, wieder emporzufliegen in jenes unbekannte
Land, woher es gekommen, dann bringt man es sofort nach dem Bad,
bevor es getrunken hat, in die Kirche, damit es die Gnade der Taufe
empfange. Denn vor dieser hält man es, da es an seinem Fleisch den
Rost der Erbsünde trägt, für einen Heiden (bei uns auch Judenkind
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche.
145
— eßgaLonovlo), mithin noch nicht für ein Glied der Kirche; deswegen
bringt man es, wenn es stirbt, nicht dorthin, sondern gleich nach dem
Friedhof, wo es, nicht würdig der kirchlichen Ehren, abseits begraben wird.
Eine Missgeburt oder ein unregelmässig entwickeltes Kind bezeichnet
man als ein göttliches Wahrzeichen (ov]¡iáói àn ròv i'hó) und giebt ihnen
abergläubischer Weise verschiedene phantastische Ursachen; vor allem
andern sind es der Zorn Grottes, ein auf der Familie lastender Fluch oder
ein schweres Vergehen, oder aber auch die zu verbotenen heiligen Zeiten
erfolgte Empfängnis, welche solche Missgeburten hervorrufen.
Im Altertum wurden die Spartiatenkinder einer Probe unterzogen,
angesichts der Könige, des Rates und des Volks, und wenn eines miss-
gestaltet, lahm, schwächlich, kurz unfähig befunden wurde, das Vaterland
zu verteidigen, warf man es in den Kaiades, eine tiefe Schlucht des
Taygetos. So handelten nicht die edleren Athener, die das Schimpfliche
einer so unmenschlichen Handlungsweise sehr lebhaft empfanden und dies
bewiesen, indem sie ihren Feinden den angeblich lahmen Sänger Tyrtaios
zusandten.
Die Wöchnerin, das Kind (fa%ováQi) und alle Frauen, die mit ihr in
Berührung gewesen sind, gelten als unrein, und deswegen dürfen sie nicht
kochen oder irgend etwas Ähnliches thun, bis sie gereinigt sind. Zur
Reinigung also und in der Folge zur Abwehr der bösen Geister und des
bösen Blicks geschieht Folgendes:
Der Diener des Allerhöchsten, bald die Hebamme ablösend, beräuchert
alle, wie auch das Zimmer der Wöchnerin, weiht die mit Basilikumkraut
verschlossene Wasserflasche neben der Wöchnerin und liest verschiedene
Gebete.
Alle Anwesende benetzen ihr Gesicht und besprengen auch die Wöchnerin
mit Weihwasser; mit diesem benetzt auch die Wöchnerin ihr und ihres
Kindes Gesicht jeden Abend bis zur Vorsegnung.
Die Abergläubischeren unter den Helferinnen, wie auch die Hebamme,
gehen gleich nach der Entbindung nach Hause und wechseln ihre Kleidung,
was man auch nach der Berührung eines Toten zu thun pflegt.
Auch das Haus selbst, in dem das Kind zur Welt kam, gilt als ver-
unreinigt; deshalb wird es beräuchert, mit Weihwasser besprengt, in ihm
Räucherwerk angezündet jeden Abend durch vierzig Tage, und endlich
an einem der letzten dieser Tage wird es mit allen Möbeln gewaschen,
ausgenommen die Sachen, die es nicht vertragen; diese werden mit dem
Rest des Weihwassers bespritzt.
Auch in alter Zeit galten jene, welche die Wöchnerin berührt haben
(oî Xe%ovç ovvayájusvoi), als unrein, was auch in seiner „Iphigenia bei den
Tauriern" (V. 381 ff.) Eurípides sagt, dass nämlich Artemis von ihrem
Altar die fernhält, welche mit einer Wöchnerin, einem Mord oder einem
Leichnam in Berührung gekommen sind.
146
Sajaktzis :
. . . „ßgoorcöv ¡uev r¡v riç aipr¡rai cpóvov
f¡ yju Ao/jdaç f¡ vex gov óíyei '/ßoolv
ßafjucüv àndqyu ¡uvoagov cbç f/yov/iévi]" . . .
Zur Reinigung aber wuschen am fünften Tage nach der Geburt, wenn
man die Amphidromien feierte, nämlich die Reinigung des Hauses beging,
alle, die mit der Wöchnerin und der Entbindung überhaupt zu thun gehabt
hatten, ihre Hände; hernach trug die Hebamme das Neugeborene um den
brennenden Herd des Hauses, auf dem man Polypen und Sepien zur Sühne
opferte; den ganzen Tag aber blieb das Haus mit Myrten und anderen
Blumen bekränzt, es wurde ein festlicher Schmaus mit den nächsten Ver-
wandten abgehalten, und diese schickten dem Kinde verschiedene Geschenke
(yevéd'XiOL ôôoecç), wie das auch bei uns der Brauch ist.
V.
Nach dem Weggang des Priesters saugt das Kind zum ersten Male,
worauf es durch Kamillenthee vorbereitet wurde. Die Mutter, über deren
Haupte eine Frau in einem Siebe ein Brot hält, während jene eine Flasche
Wrein in der Rechten hat, die Symbole des Glückes, drückt ihren Liebling
an ihre Brust und bemüht sich, in sein kleines Mündchen einige Tropfen
Milch zu bringen.
Die erste Milch der Wöchnerin, bei uns Kolastra (lat. colostra), ist
dicker und seltener bis zum dritten Tag, wo dann gewöhnlich im Gefolge
des Milchfiebers die Milch reichlicher kommt.
An demselben Tage bäckt man, ausser der Torte für die Mören, zwei
Weizenkringel, das eine kleinere für das Kind, das zweite grössere für die
Mutter, damit die Milch befördert werde.
Wenn aber beiläufig in einer Woche keine Milch sich zeigt, dann
netzt eine alte Frau das grössere Weizenkringel beim Morgengrauen der
Reihe nach an drei Brunnen, während welcher Zeit sie kein Wort reden
darf, damit die bei den Brunnen badenden Nymphen sie nicht wahrnehmen
und ihr schaden. Dieses Weizengebäck isst die Wöchnerin, damit ihre
Milch iiiesse, wie das W'asser vom Brunnen. Das kleinere aber hängt man
dem Kind um die Hüfte, nach dem 40. Tag wirft man es in irgend ein
fliessendes Wasser, damit das Kind das Weinen ablege (yià và qí£¡7 xr¡v
xMyji).
Aus demselben Grund muss am frühen Morgen eines dieser Tage die
Wöchnerin nach der Sitte Wasser vom Hausbrunnen holen, nachdem sie
sich gewaschen, mit den Fingerspitzen ihre Brust unter dem Saum des
Gewandes benetzt und geflüstert hat: „Wie dein Wasser, so möge bei mir
die Milch fiiessen."
Interessant ist, was uns eine Frau über eine milcharme Wöchnerin
berichtete: Eine Wöchnerin hatte gar keine Milch, an der ihre Nachbarin
Überflnss besass; damit sie ihr die Milch entziehe, that sie Folgendes:
Gräcowalachische Sitten und Gebräuche.
147
eines Tages vor Sonnenaufgang nimmt sie zwei Brote unter ihre Achseln
und ein Fläschchen Wasser in die rechte Hand; damit schleicht sie heim-
lich zu irgend einem Baum im Hof, von wo aus sie in das Fenster der
Nachbarin sehen kann; wie sie sieht, dass diese ihr Kind stillt, hebt sie
dreimal die Flasche genau bei Aufgang der Sonne, murmelt einige geheimnis-
volle Worte und trinkt mit dem Wasser in drei Schlucken die ganze Milch
der Nachbarin, die nun so ausgeleert blieb, wie die leere Flasche. Kurz
darnach aber nahm ihr die Nachbarin auf dieselbe Art die Milch wieder weg.
Auf ähnliche Weise wanderte vor etwa fünf Jahren noch eine Frau,
der die Milchdrüsen ihren Dienst versagten, auf einen Wiesenfleck, genannt
„Blätter des Feigenbaums". Etwa eine halbe Stunde von Monastir bei
Debé-Chane, mitten in einer grasreichen Wiese, hebt sich, umgeben von
einigen hochwipfeligen Bäumen, ein kleiner Fleck ab, auf dem früher
niedrige wilde Feigen wuchsen; die Wiese wird von ihrer Gestalt „Tisch"
genannt. Die Entstehung dieser Feigenblätter umgiebt ein Gewebe dunkler
Sagen, das zu lüften wir nicht wagen. Es sei nur das gesagt, dass ein
Herr, dem geträumt hatte, diese milchreichen Blätter deckten Schätze,
vor einigen Jahren den ganzen Platz gründlich umwühlen liess.
Zu diesen besonders von den Frauen verehrten Feigenblättern wanderte
nun ungefähr zwei Wochen nach der Niederkunft die milchlose Wöchnerin
vor Aufgang der Sonne, nüchtern, mit geringer Begleitung, damit sie, wie
die Frauen sagen, die Milch für das Kind „abweide". Darum neigte sie
sich, nach der Sitte auf den Knien liegend, wie ein Lamm und biss drei-
mal eine Blattspitze ab; hernach nahm sie mehrere Blätter, kochte sie
und trank an drei Morgen ihren Saft; dazu tauchte sie, als sie nach Hause
kam, ein Weizenkringel oder eine Brotrinde, die sie von Hause mit sich
getragen, in zufällig vorhandenes Wasser und verzehrte es so zur Ver-
mehrung der Milch.
„Für die Milch!" (yià yaka) ist die Losung für die Anregung des
Appetits der Wöchnerin durch kleine Bäckereien, Obst oder anderes der-
artige, was ihr in die Augen fällt.
Bis zum vierzigsten Tage darf die Mutter kein anderes Kind stillen
als ihr eigenes, welches nur im Notfall auch zu einer fremden Brust
kommen kann. Wir sagen im Notfall, weil glücklicherweise die Bezahlung
einer Amme ein nicht beneidenswertes Vorrecht der höheren Schichten
unserer Gesellschaft ist, während die übrigen Frauen selbst ihre Kinder
stillen.
Diese schöne und gute Sitte herrschte auch bei den Alten. Homer
berichtet, dass Hekabe den ,,xoQv&aíoÁ,og" Hektor, die kluge Penelope den
„jiETtvvjLLEvov" Telemach selbst genährt hatte. Die Gesetze des Lykurg
verpflichteten die lacedämonischen Frauen, ihre Kinder selbst zu säugen,
und Demosthenes verlangte die Bestrafung einer Athenerin, die ihrem
Kind die Milch einer fremden Frau verschafft hatte. Auch verehrten die
148
Sartori :
Alten sehr die ihre Kinder selbst stillenden Mütter; ein spartanisches Gesetz
gebot jedem, der einer solchen Mutter begegnete, sie zu grüssen und ihr
Platz zu machen. Plütarch endlich sagt sehr richtig in seiner Schrift
„Von der Erziehung der Kinder" Folgendes: „Die Natur schon offenbart,
dass es Pflicht der Mütter ist, die Kinder, die sie geboren haben, auch
selbst zu stillen und zu ernähren; deswegen gewährte auch die Natur jedem
gebärenden Wesen die Milchnahrung; ausserdem dürften dadurch die Mütter
den Kindern wohlwollender und liebevoller werden."
Wenn der neue Erdenbürger auf dieser Welt eingetroffen ist und in
Ahnung ihres Jammers die ersten Schreie ausgestossen hat, die Erstlinge
so zu sagen seiner zukünftigen Klagen, dann eilen die unruhig seiner
wartenden Geschwister oder Geschwisterkinder nach dem Bade in das Haus
der Mutter der Wöchnerin, in das Geschäft des Yaters und zu den übrigen
Verwandten, wenn es aber eine Erstgeburt oder das einzige Kind ist, auch
zu den entfernten Verwandten und Bekannten, damit sie für ihre erfreuliche
Botschaft den ihnen noch erfreulicheren Botenlohn (¿iyy%aQr¡xia) empfangen.
Falls aber das einzige Kind ein Knabe ist, melden sie das Gegenteil,
nämlich, dass es ein Mädchen sei, „damit es lebe, glücklich und zufrieden".
Das sind die Sitten und Gebräuche, die bei dem Eintritt eines Menschen-
kindes in die Welt innerhalb kurzer Zeit bei uns sich abspielen.
Wien.
Der Schuh im Volksglauben.
Von Paul Sartori.
(Fortsetzung.)x)
II. Glück, Segen und allerlei Zauberkraft an den Schuh
geknüpft.
a) Einwirkung auf die Gesundheit.
Wrie dem Fuss allerlei segenbringende Eigenschaften zugeschrieben
werden, so auch seiner Bekleidung.
Mensch und Tier können mittels eines Schuhes von Krankheiten
geheilt werden. Das Verfangen der Schweine wird durch das Bestreichen
mit einem Erbpantoffel kuriert: Bartsch, Sagen etc. aus Mecklenburg II,
S. 157 (723). Kranke Hühner lässt man aus einem Schuh fressen (Böhmen):
Wuttke, D. dtsche Volksabergl. § 676. Einem kranken Kalbe giebt man
1) Zeitschrift IV, 41—54.
Der Schuh im Volksglauben.
149
Salz und Wasser ans einem Schuli, den man beim letzten Abendmahl
angehabt hat, zu trinken (Oldenburg): Ebda. § 698. Wenn man Seiten-
stechen hat, macht man mit Speichel ein Kreuz auf den Stiefel, dann hört
der Schmerz auf (Münsterland): Strackerjan, Abergl. etc. a. d. Herzogt.
Oldenburg I, S. 70. Der Fieberkranke legt den Zettel, auf welchem das
Fieber abgeschrieben ist, ohne ihn zu öffnen, in seinen Schuh, wo er so
lange bleibt, bis er ganz und gar zerfetzt ist (Jever): Ebda. I, S. 80. In
Nordholland trägt man gegen Influenza den von einem Kreuzwege auf-
gelesenen Sand in einem weisswollenen Strumpfe an den Lenden oder
unter dem Herzen: Am Ur-Quell, III, S. 329. In Belgien befreit man sich
vom Fieber, indem man sein Strumpfband an den Galgen oder an den
Ring der Kirchenthür bindet: Wolf, Beitr. z. d. Myth. I, S. 223. Mit
einem alten Schuh, den man iiberrücks ins Wasser wirft, vertreibt man in
Böhmen das Fieber, aber auch die Mäuse (Grolimann, Apollo Smintheus,
S. 60) und die Ratten, indem man an einem hohen Festtage vor Sonnen-
aufgang einen alten ungeputzten Schuh schweigend auf einen Kreuzweg
trägt und die Schuhspitze nach der Gegend richtet, wohin die Ratten aus-
wandern sollen: Wuttke, D. dtsche Yolksabergl. § 616. Urin, aus dem
linken Schuh getrunken, hilft bei vielen Krankheiten: Bartsch a. a. 0. II,
S. 101 (368); vgl. S. 103. Ein Weib, das den Schnupfen hat, soll in des
Mannes Schuhe riechen: Grimm, D. M.4 III, S. 446 (361). Erwachsene
riechen gegen den Schnupfen öfters in ihren Schuh oder Stiefel (Ost-
preussen): Am Ur-Quell, III, S. 72. Zur Kapelle auf dem Tannenberger
Wahlplatz strömten am zweiten Pfingstfeiertage Kranke, Lahme und Krüppel
zusammen, zogen ihre Strümpfe und Schuhe aus und legten diese nebst
ihren Krücken auf die Mauer gegen Osten, um zu genesen: Grässe,
Sagenbuch d. preuss. Staates, II, S. 542. Die sogenannten „Hexenpantöffelein",
kleine Stücklein Holz, wie ein Pantoffel geschnitzelt, woran der Absatz
von Wachs angeklebt ist, helfen gegen alle Hexerei und davon herrührende
Krankheiten: Birlinger, Aus Schwaben, I, S. 367. Die Beduinen hängen,
um ihre Kamele vor dem bösen Blick zu bewahren, denselben allerlei auf
dem Wege gefundene Sachen an, wie Stücke von alten Sandalen, Kleidern,
Hufeisen u. s. w.: Andree, Ethnogr. Parallel. S. 36. Die sibirischen Golden
hängen sich gegen Schmerzen in den Knieen kleine Schuhe aus Papier
oder Fischhaut um: Globus, 52, S. 207. Im Jahrbuch f. roman, u. engl.
Literatur VII, S. 411 giebt Tobler den Inhalt einer altfranzösischen Legende
an: „Von einem Ungläubigen, der an der Wunder kraft der hl. Jungfrau
und insonderheit des von ihr herrührenden heiligen Schuhes zweifelt, dafür
mit schwerer Krankheit gestraft, von der hl. Jungfrau aber um seiner Reue
willen geheilt wird." — In Slavonien giebt man einem Sterbenden aus
einem alten Schuh Wasser zu trinken, um ihm zum Tode zu verhelfen:
Krauss in d. Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde I, S. 154. Wenn man träumt,
dass von Schuhen Sohlen oder Absätze abfallen, so stirbt man: Schulen-
150
Sartori :
burg, Wendische Yolkssagen S. 236. Will man wissen, ob ein Kranker
mit dem Leben davonkommt, so schmiert man seine Fusssohlen mit Speck
und wirft diesen dem "Hunde vor; frisst er ihn, so genest der Kranke, im
Gegenteil stirbt er (Bistritz in Siebenbürgen): G. Schuller im Progr. des
Gymnasiums zu Schässburg, 1863, S. 21. Ygl. E. Meier, Sagen a. Schwaben,
S. 508.
Hat einer's Gschnuder (Schnupfen) und schneizt in die Schuhe eines
andern, so erbt's jener (Ehing. a. D.): Birlinger, Aus Schwaben, I, S. 405.
Ygl. Yolkstüml. a. Schwaben, I, No. 707,20. Gegen Gicht und Rheumatismus
schützt man sich, wenn man stets den rechten Strumpf zuerst anzieht:
Strackerjan a. a. O. I, S. 66. Ebenso gegen Kopfschmerzen (Nordholland):
Am Ur-Quell, III, S. 329. Wer seine Pantoffeln so vors Bett stellt, nach-
dem er hineingestiegen ist, dass sie hinter's Bett sehen, der muss wegen
Krankheit das Bett hüten: Bartsch a. a. O. II, S. 489. Gegen das cheville-
ment (sorte de maléfice, qui empêche d'uriner) speie man auf den rechten
Schuh, ehe man ihn anzieht (Frankreich): Wolf, Beitr. I, S. 250. Schon
bei den Römern gehörte es zu den Yerwahrungsmitteln, dass man in den
Schuh des rechten Fusses spuckt, ehe man ihn anzieht: Plinius H. N.
XXYIII, 7.
Einige Meinungen mögen pädagogischen Erwägungen ihr Dasein ver-
danken. Wer nur in einem Schuh oder Strumpf geht, bekommt den
Schnupfen: Grimm, D. M.4 III, S. 445 (321). Oder verliert das Mass:
Ebda. S. 473 (1039). Geht jemand, einen Fuss bloss, den andern beschuht,
die Strasse einher, so erkrankt alles Yieh, das dieses Weges kommt: Ebda.
III, S. 462 (788). Ein Angehöriger stirbt dem, der mit einem Fusse ge-
schuht, mit dem andern bloss herumgeht, Schuller, Progr. v. Schässburg,
1863, S. 261). Wenn man die Strümpfe über Nacht auf dem Tische liegen
lässt, bekommt man Fussreissen (Böhmen): Wuttke, D. dtsche Yolks-
abergl. § 465.
Am verbreitetsten von allen diesen Anschauungen ist wohl auch jetzt
noch die, dass gegen Halsschmerzen und Heiserkeit ein nachts um den
Hals gebundener Strumpf helfe. Liebrecht, Zur Yolkskunde, S. 399 f. will
darin weniger einen Aberglauben, als vielmehr ein ganz probates Heil-
mittel sehen: Im Hinblick jedoch auf die obigen Zusammenstellungen
wird auch der so verwendete Strumpf nicht aus dieser Gemeinschaft aus-
geschlossen werden dürfen.
In einigen Gegenden Pommerns ist die Redensart gebräuchlich: „Dem
Tod ein Paar Schuhe schenken", d. h. am Leben, bleiben, von einer Krank-
heit genesen: Jahn, Yolkss. a. Pommern S. 3. Knoop, Yolkss. a. d. östl.
Hinterpommern, S. YII. Jahn sieht darin ein ursprüngliches Opfer für den
Tod und vergleicht andere Redensarten (der Hei einen Scheffel Hafer
1) Dieser Glaube stimmt allerdings merkwürdig mit der Sage vom Jason ^ovojisödo?
überein.
Der Schuh im Volksglauben.
151
geben, dem Tod einen Haufen Holzbirnen verehren) aus Dänemark,
Schleswig-Holstein und Niederösterreich. Vgl. Jahn, I). dtschen. Opfer-
gebräuche etc. S. 13. Doch meint die obige Wendung vielleicht nur, dass
der Kranke den Tod fortschicke, ihm gewissermassen „Beine gemacht"
habe. Wenigstens bedeutet im Bremischen die Redensart „En e m een Paar
Schoe geven" so viel wie „einem den Laufpass geben, einen von sich
jagen": Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs. Bremen,
1770, IV, S. 665. Ebenso sagt man im Harz, wenn jemand entlassen
werden soll: der bekommt bald ein Paar Schuh: Pröhle, Unterharz. Sagen
No. 30.
Über die Bedeutung der Füsse, die man in Verbindung mit Darstellungen
ägyptischer Gottheiten auf Münzen und Gemmen, sowie selbständig in
Marmor gearbeitet, gefunden hat, gehen die Ansichten auseinander: Roscher,
Lex. d. griech. u. röm. Myth. II, Sp. 526—529. Denkbar wäre es immerhin,
dass man sie mit den Beispielen dieses oder des folgenden Abschnitts in
irgend eine Beziehung setzen könnte.
b) Sonstige Wirkungen des Schuhes.
Dem Schuh wird auch allerlei Einfluss auf Reichtum und Glück des
Menschen zugeschrieben; er muss mit besonderer Rücksicht behandelt
werden, mancherlei Zauberkraft wohnt ihm inne.
Wer seine Schuhe einwärts tritt, wird reich, wer sie auswärts tritt,
wird arm: Panzer, Beitr. z. dtschen Myth. I, S. 264 (124). Vgl. Grimm,
D. M.4 III, S. 436 (65). Birlinger, Aus Schwaben, I, S. 397. Wer ein
rundes Loch in die Schuhsohle tritt, wird reich: Birlinger a. a. 0. Wenn
das Dienstmädchen einem beim Ausfegen mit dem Besen über die Stiefel
fährt, fegt sie einem das Glück weg: Bartsch, Sagen etc. a. Meklenburg
II, S. 317. Wenn man sich die Schuhe auf den Füssen putzt, erleidet
man einen schweren Tod: Wuttke, D. dtsche Volksabergl. § 465. Kuhn,
Märk. Sagen S. 385: Eine üble Vorbedeutung ist es, wenn die Gotte (Pate)
die Schuhe verliert (Schweiz): Ztschr. f. dtsche Myth. IV, S. 3. Ein alter
Schuh auf dem Wege ist ein schlechtes Zeichen: Schulenburg, Wendische
Volkss. S. 244. Wenn die Sohlen der Schuhe oder Stiefel knarren, so
sind sie noch nicht bezahlt: Meier, Sagen a. Schwaben, S. 507. Wem
bei einer Feuersbrunst die Schuhe angehen und zu brennen anfangen, der
wird für den Brandstifter gehalten: Grimm, D. M.4 III, S. 464 (837).
Einiges mag auch hier durch pädagogische Zwecke beeinflusst sein.
Schuhzeug soll man nicht herumstehen lassen, sonst hat man Unglück.
Strackerjan, Abergl. u. Sagen a. d. Herzogt. Oldenburg, I, S. 16. In Ost-
preussen dürfen Kinder nie an einem Fuss unbekleidet sein, sonst kommen
sie nie zu Brod: Ploss, Das Kind, II, S. 204.
Vorsicht beim Anziehen des Schuhes ist besonders geboten. Schon
Kaiser Augustus hielt es für ein übles Vorzeichen, wenn er morgens einen
152
Sartori:
Schuh auf den falschen Fuss zog: Sueton. Aug. 92. Eine gefährliche
Empörung gab er diesem Unistande schuld: Plin. H. N. II, 5. König
Wladislaus, ein Litauer von Geburt, hielt den Tag für unglücklich, quo
primum calceum sinistrum fortuito accepisset: Haupts Ztschr. f. dtsches
Altert. I, S. 140. Ygl. Strackerjan a. a. 0. I, S. 33. Zingerle, Sitten etc.
des Tiroler Volkes S. 33 (243). In Osterode am Harz darf man am Montag
keinen Schuh links anthun: Grimm, D. M.4 III, S. 461 (771). Schon
Yintler spottet in der 1411 gedichteten „Blume der Tugend":
und etleich die jechen
es sei nicht guet, daz man
den tenken schuech leg an
vor dem gerechten des morgens frue (v. 7850).
Grimm a. a. 0. III, S. 423. So heisst es bei Birlinger, A. Schwaben, I,
S. 414: „Viel glauben, wann sie zu Markt gehen und haben frühe, als sie
die Schuhe angezogen, den rechten Schuh zuerst angezogen, so werden sie
ihr Wahr tlieur los werden" (Conlin): Ygl. Grimm a. a. 0. III, S. 438
(114). Ztschr. f. d. d. Myth. III, S. 313. Zieht man sich Strumpf und
Schuh hintereinander erst auf einen Fuss an, so zieht man sich das Unglück
an; und zieht man beides ebenso aus, dann zieht man sich das Glück aus
(Island): Liebrecht, Zur Yolkskunde, S. 369, No. 12. Wer einen Strumpf
verkehrt anzieht, dem wird an demselben Tage ein guter Rat gegeben
(Frankreich): Wolf, Beitr. z. d. Myth. I, S. 250. Niesen beim Schuh-
anziehen bedeutet Unglück: Grimm, D. M. III, S. 440 (186).
Auch die Stoffe, aus denen der Schuh verfertigt wird, sind mitunter
von besonderer Wichtigkeit. Die Fiammica Dialis durfte weder Schuhe
noch Sohlen von dem Leder eines gefallenen Yiehes tragen: Preller,
Rom. Myth. S. 182. Nach französischem Aberglauben soll man die ersten
Schuhe eines Kindes von Wolfsfell machen: Liebrecht, Gervas. v. Tilbury
S. 244 (300). Auch in der sicilischen Provinz Girgenti glaubt man, dass
Schuhe aus Wolfsfell, Kindern angezogen, sie beim Kampfe mutig und
glücklich machen: Gubernatis, D. Tiere in d. indogerman. Myth. S. 302.
Dagegen sagt die Chemnitzer Rockenphilosophie : Werden dem Kind unter
einem Jahre rote Schuhe angezogen, so kann es kein Blut sehen: Grimm4,
III, S. 436 (40). Schuhe aus Fuchsleder bleiben bei Tage zu Haus und
gehen nachts aus: Baumgarten im Progr. d. Gymnasiums zu Kremsmünster,
1860, S. 21, Anm. 8.
Das Nachwerfen eines Schuhes bringt Glück. In dem niederdeutschen
Schauspiel Theophilus (herausg. von Hoffmann v. Fallersleben aus einer
Trierer Handschrift des XY. Jahrh.) sagt Theophilus, im Begriff zum
Teufel zu gehen, zu dem Juden, der ihm den Weg weist (I, 524 f.):
Up dat it my wol enhant gae
So werp my einen alden scho nae!
Der Schuh im Volksglauben.
153
Geht jemand zur Jagd, auf Reisen oder in Geschäften von Hause, so muss
man ihm, wenn er aus der Thür geht, einen Holzsehuh nachwerfen, dann
hat er Glück (Saterland): Strackerjan a. a. 0. I, S. 94. (Wenn es da-
gegen ebda S. 96 heisst, dass man, um etwas zu vergessen, sobald man
wieder daran denkt, den Pantoffel rückwärts über den Kopf werfen solle,
so soll damit wohl eben ein Vonsichthun der Gedächtniskraft symbolisiert
werden.)1) Ygl. Rochholz, Schweizers, a. d. Aargau, I, S. 79. Demnach
ist die englische Gewohnheit dem abreisenden Paar Neuvermählter in
scheinbarem Ärger den Pantoffel nachzuwerfen (vgl. z. B. Dickens, David
Copperfield, I, 10) nicht, wie Lubbock, Entstehung der Civilisation, S. 98 f.
mit M'Lennan meint, eine Erinnerung an alten Brautraub, sondern soll
Glück und Segen, in diesem Falle wohl besonders die eheliche Fruchtbar-
keit vermitteln. In demselben Sinne werden die Brautleute in England
mit Reiskörnern beworfen. Ganz ähnlich wirft man der Braut beim Kirch-
gang den Hausschlüssel nach, wenn aus ihr eine haushälterische Frau
werden soll: K. Meyer, D. Abergl. d. Mittelalters, S. 220.
Vielfach wird mancherlei zauberkräftigen Mitteln dadurch zur Wirkung
verholfen, dass man sie in den Schuh legt. Wer eine Hyänenzunge in
seiner Fussbekleidung unter der Sohle hat, wird von Hunden nicht an-
gebellt: Plin. H. N. 28,27. Wenn man im Neumond einer Schlange die
Haut abzieht, diese trocknet und zu Staub zerklopft und den Staub in die
Schuhe streut, so kann man vor Gericht gut reden: Wuttke a. a. 0 § 153.
Bei Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen und Märchen S. 89 will eine
weisse Jungfrau einen Förster glücklich machen. Doch dürfe er das Beste
nicht vergessen, er müsse nämlich drei „Kreuzblätter" (vom Ahorn) in den
Schuh legen. Der Schwanz einer Eidechse, in den Schuh gelegt, bringt
Geld und Glück (Frankreich): Wolf, Beitr. I, S. 247 (56.0). Nach angel-
sächsischem Aberglauben muss ein Bestohlener zur Wiedererlangung des
Gestohlenen eine rechteckige, mit einzelnen Buchstaben beschriebene Figur,
welche schweigend gezeichnet sein muss, in den linken Schuh unter die
Ferse legen: Fischer, Progr. d. Realgymnasiums zu Meiningen, 1891, S. 20.
Schlangenkraut, in den Schuh gefallen, verleiht wunderbare Kräfte: Toppen,
Abergl. a. Masuren, S. 72. Johannis-Middag bläuht dat Snakenkrut, dat up
de Stoppeln wasst; in ein' Stunn' warft rip, und fölt einen wat in de
Schauh, so passiert wat Slimmes: Bartsch, Sagen a. Mecklenburg II, S. 291
(1453). Durch die in den Schuh gefallenen Farnsamen kann man un-
sichtbar werden, so lange man den Schuh anhat: Jahrb. f. d. Landeskunde
der Herzogt. Schleswig-Holstein und Lauenburg, VII, S. 381. Ztschr. des
Ver. f. Yolkskunde I, S. 217 (Eisenerz in Obersteiermark); Weddigen u.
Hartmann, Sagenschatz Westfalens S. 18 f. (Bergkirchen); Kuhn, Mark.
1) In der Grafschaft Ruppin sagt xnan zu einem, der etwas vergessen hat: „Du hast
dich gewiss an die grosse Zehe gestossen." Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde, 1892, ,S. 439.
154
Bartori:
Sagen S. 206; Tschischwitz, Progr. d. Realschule im Waisenhause zu Halle,
1865, S. 21. Einem fällt die Blüte von Farnkraut in die Schuhe, und er
versteht die Sprache der Gänse: Schulenburg, Wendische Volkss. S. 82.
Ebenso einer die Sprache der Ochsen: Krauss, Sagen u. Märchen d. Süd-
slaven, II, S. 426. In Kroatien muss sich der Angeklagte vor dem Richter
das Gesicht -abwischen, in den Stiefeln aber muss er ein Band haben, mit
welchem einem Toten die Fiisse zusammengebunden waren. Mag der
Angeklagte ein noch so böses Verbrechen begangen haben, ihn wird trotz-
dem nie eine Verurteilung treffen: Krauss, Volksglaube und religiöser
Brauch der Südslaven S. 141. Sobald man den ersten Kukuk hört, suche
man ihm möglichst nahe zu kommen und ziehe den linken Schuh aus, so
findet man darin ein gelbes Haar von derselben Farbe wie die Spitze der
Schwanzfeder des Kukuks (England): Ztschr. f. dtsche Myth. III, S. 266.
Bei einem Delinquenten versagte die Axt des Henkers den Dienst. Man
fand in dem einen Schuh desselben einen Holzstab, in dem andern ein
Stück von einem Menschenschädel, beides mit Runen beschrieben : das war
der Zauber, wegen dessen die Axt nicht hatte schneiden wollen: Maurer,
Isländ. Volkss. S. 234. Die „Schleicher" sowie die Teufel in den Faschings-
komödien sollen sich etwas Geweihtes in die Stiefel thun, denn sonst hat
der Teufel Gewalt über sie. Mehrere, die dies nicht thaten, wurden schon
vom Teufel vertragen (Ranggen): Zingerle, Sitten etc. des Tiroler Volkes,
S. 136 (1197). Weit verbreitet ist namentlich der Glaube, dass ein in den
Schuh gelegtes Kraut (Beifuss1), Eisenkraut, Johanniskraut) das Mtide-
werden beim Gehen verhindere: Wuttke a. a. 0. § 134, 137. Woeste.
Volksüberl. a. d. Mark, S. 56; Busch, Dtscher Volksabergl. S. 149; Zingerle
a. a. 0. S. 103 (878), S. 106 (906); Birlinger, Aus Schwaben, I, S. 109;
Plin. H. N. 26, 89; Fischer im Progr. d. Realgymnasiums zu Meiningen,
1891, S. 30 (Angelsachsen). Nach dem Glauben der Angelsachsen schützte
auch die Haut des Dachses oder des Fuchses, in den Schuh gelegt, vor
Ermüdung: Fischer a. a. O. S. 36, 37. Um schnell zu gehen, lege man
ein Briefchen, mit den Namen der hl. drei Könige beschrieben, in den
Schuh (Frankreich): Wolf, Beitr. I, S. 248 (577). Gegen Schlaflosigkeit
schützt man sich, wenn man die Schuhe mit der Spitze aufs Bett zu stellt
(Brandenbg. Schlesien): Wuttke a. a. O. § 462.
Auch für sich allein ist der Schuh zu manchem Zauber verwendbar.
Gesellen sitzen im Wirtshause. Einer von ihnen versichert, jeden Kameraden
auf die Schenkbank festbannen zu können. Ein dazu Bezeichneter vermag
alsbald nicht mehr aufzustehen. Dieser zieht aber nun seine Schlarpen
(Halbschuhe) ab, die an den Hufeisen tüchtig genagelt sind, und schlägt
.die Stöcklein gegeneinander. Dadurch hat er den Bann gelöst und kann
1) Über die Kraft des Beifuss s. Grimm, I). M.4 II, S. 1013. Jahn, D. dtschen
Opfergebräuche etc. S. 43. Fischer im Progr. des Realgymnasiums zu Meiningen, 1891,
S. 29 f. (Angelsachsen).
Der Schuh im Volksglauben.
155
wieder aufstehen; er hat aber damit auch dem Banner das Handwerk ge-
legt, denn diesem spritzt im selben Augenblicke das Blut aus den Ohren:
Rochholz, Schweizersagen a. d. Aargau, I, S. 78. Um sich gegen den Bann
zu schützen, braucht der Dieb nur in Schuhen oder Pantoffeln zu gehen,
nicht in Stiefeln. Zieht er dann die Schuhe oder Pantoffeln aus, so ist er
von selbst gelöst: Schulenburg, Wendische Volkss. etc. S. 82. Ygl. Bir-
linger, A. Schwaben, I, S. 114. In der Saga vom hl. Jon Ögmundarson
entflieht der gelehrte Saemundr seinem Lehrer. Dieser las in den Sternen,
welchen Weg er gezogen war, und setzte ihm nach. Saemundr, der auch
die Sterne zu deuten wusste, setzte seinen Schuh voller Wrisser auf seinen
Kopf. Der Astrolog glaubte ihn ertrunken und kehrte um. In der nächsten
Nacht sah er, dass er sich geirrt, und wollte S. wiederum einholen. S.
verwundete sich, liess sein Blut in die Schuhe laufen und setzte sie auf
seinen Kopf. Der Astrolog hielt ihn nun für ermordet und bemerkte zu
spät, wie gut er S. seine Künste gelehrt hatte: P. B. Müller, Sagenbibl.
iibers. v. Lachmann, S. 248. Maurer, Island. Volkssagen S. 119 f. Im
slavischen Kärnthen kann niemand in der Christnacht die Tiere mit ein-
ander reden hören, wenn er nicht Stiefel mit neun Sohlen an den Füssen
und Farnwedel in den Stiefeln hat. Es wTar einmal ein Knecht im Gailthal,
der hatte sich ein Paar sehr starke Schuhe machen lassen, welche nachher
vielfach geflickt und gesohlt wurden, so dass sie die erforderliche Zahl an
Sohlen hatten, ohne dass er es wusste. Er geht zu seiner Liebsten, unter-
wegs verfängt sich etwas Farnkraut in den Stiefeln, und nachher kann er
die Tiere im Stall reden hören: Ausland, 62, S. 265. — Von dem Schuh
als Schutzmittel gegen Hexen, Mährten u. s. w. wird später die Rede sein.
Eine besondere Art solchen Zaubers ist der durch das Wechseln
der Schuhe hervorgerufene. Namentlich hilft er, wenn man sich verirrt
hat. Das Verirren, namentlich im Walde, führt das Volk auf irgend eine
Bezauberung durch Spukgeister, Irrlichter, magische Kräuter u. dgl. zurück.
Wie man nun z. B. einen durch das Lesen in einem Buche hervorgerufenen
Zauber dadurch wieder aufheben kann, dass man das Gelesene rückwärts
liest (vgl. z. B. Müllenhoff, Sagen etc. aus Schleswig-Holstein, S. 199), so
kann man auch den Zauber, durch den das Verirren hervorgerufen ist,
dadurch lösen, dass man eine Umkehrung, einen Wechsel an seiner Be-
kleidung, namentlich an den Schuhen, vornimmt. Man macht durch dieses
sympathetische Mittel die Bezauberung gewissermassen „rückgängig". So
erklären sich folgende Anschauungen.
Wenn man verirrt ist, braucht man blos die Slarpen (Pantoffel) oder
die Schuhe umzuziehen, dann weiss man wieder, wo man ist: Bartsch,
Sagen aus Mecklenburg II, S. 317 (1572). Wer auf Irrkraut getreten ist,
muss »lie Schuhe wechseln, wenn es ein Frauenzimmer ist, die Schürze
verkehrt umbinden (Juchsethal b. Meiningen): Haupts Ztschr. f. d. A. III,
S. 364 (33). Vgl. Firmenich, German. Völkerstimmen, II, S.. 146. Wenn
Zeitschr. cl. Vereins f. Volkskunde. 1894.
Sartori :
mau auf Zauberkräuter tritt, verliert man die Besinnung und verirrt sich.
Sowie man aber die §chuhe wechselt, und wäre es auch nur für wenige
Schritte, so findet man sich gleich wieder zurecht: Meier, Sag. a. Schwaben,
II, S. 502. Man zieht auch die Schuhe aus, schlägt sie dreimal mit den
Absätzen zusammen oder wirft sie über die Schulter: Wuttke a. a. 0.
§ 630; vgl. § 123. Ein Bauer, durch die Erscheinung eines schwarzen
Mannes verblendet, wechselt seine Schuhe und findet sich dadurch wieder
zurecht: Schambach-Müller, Niedersäclis. Sagen S. 203. Ein anderer aus
Gassen bei Celle hilft sich gegen einen ihn fortwährend begleitenden Geist
dadurch, dass er sein Messer in der Tasche umkehrt: Firmenich a. a. O. I,
S. 206,1. Die schwedische Skogsnufva verlockt einen oft im Walde. Das
einzige Gegenmittel ist, Wamms, Mütze oder Strümpfe umkehren oder das
Vaterunser rückwärts beten: Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, S. 129.
Tritt jemand zufällig in die noch frische Spur des russischen Waldgeistes
(Lj escili), so verirrt er sich. In dieser Not ist das beste Mittel, das Futter
von Hemd, Schuhen oder Pelz nach aussen zu kehren: Ebda. I, S. 140.
Oder man zieht die Stiefel aus und verkehrt mit dem Absatz nach vorn
wieder an: Globus, 57, S. 283. Dwâllichter bringen vom rechten Wege
ab, zieht man aber den Schuh aus, kehrt ihn um und zieht ihn dann
wieder an, so können sie einem nichts anhaben (Steinfurt): Kuhn, Westfäl.
Sagen II, No. 62. Auf der Iburg in Baden wurden zwei holzlesende
Mädchen durch ein Geisböcklein stundenlang im Walde irre geführt. Erst
als sie die Schuhe umkehrten, verschwand es: Mannhardt a. a. O. II,
S. 177.
Durch Schuhwechsel kann man übrigens auch manchen andern Bann
und Zauber lösen. Wenn man den Drachen durch den Schornstein in ein
Ilaus hineinfahren sieht, und man zieht dann einen Pantoffel an den ver-
kehrten Fuss oder steckt ein liad an den verkehrten Wagen, so kann der
Drache nicht wieder heraus und verbrennt das Haus: Bartsch a. a. O. I,
S. 257 (336,2). Einem Manne aus Au, der nachts von Durlach heimging,
setzte sich ein gespenstiger Kapuziner auf den Rücken und liess sich bis
an dessen Haus tragen. Als der Mann, unter der Last keuchend, die
Stiege heraufkam, rief ihm seine Frau zu, er solle seine Schuhe gegen
einander wechseln. Er that es, und sogleich fiel ihm der Kapuziner vom
Rücken und polterte gleich einem rollenden Fasse die Treppe hinunter:
Baader, Neuges. Volkss. a. d. Lande Baden, No. 118. AVer einen gebannten
Baum besteigt, kann nicht mehr herunter, bis ihn der Meister selbst her-
unterkommen heisst. Geschieht das nicht vor Sonnenauf- oder Sonnen-
untergang, und gelingt es dem droben nicht, Erde aufzunehmen oder die
Schuhe zu wechseln, so wird er brandschwarz: Rochholz, Schweizersaffen
> o
aus dem Aargau I, S. 78. Ein in einen Wald Gebannter löst den Bann
dadurch, dass er den rechten Fuss in den linken Schuh und den linken
in den rechten thut: Schmitz, Sitten u. Sagen des Eifler Volkes, II, S. 32.
Der Schuh im Volksglauben.
157
Zum Schlüsse sei noch auf das Schmieren der Schuhe hingewiesen,
dem mitunter eine besondere Wirkung beigelegt wird. Ob damit ursprüng-
lich der Glaube verbunden war, dass durch das auffrischende Schmieren
dem Lebens- und Segenssymbol neue Kräfte verliehen werden, muss dahin-
gestellt bleiben. Wenn man Schuhe von Knaben mit Wagenschmiere oder
mit Schweinsfett bestreicht und sie alsdann in die Kirche schickt, so kann
keine Hexe heraus, bevor die Knaben heraus sind: Wolf, Dtsche Märchen
und Sagen, No. 362. Wenn man sich am Charfreitag die Schuhe putzt, so
wird man von keiner Schlange oder anderem Tiere gestochen: Kuhn,
Westfäl. Sagen II, No. 401. Wenn man sich Ostern die Schuhe schmiert,
bekommt man kein Ungeziefer (Schlanow, Mark Brandenburg): Ztsclir. d.
Ver. f. Volkskde. I, S. 181. Dagegen sagt man in Mecklenburg: Wer zu
einem Leichengefolge geht, darf die Stiefel nicht schmieren, sonst liegt der
Tote nass, oder hat keine Ruhe im Grabe: Bartsch a. a. 0. II, S. 96.
Wer in einem Leichengefolge frisch gesehmierte Stiefel trägt, stirbt zuerst
von den Begleitern: Sonntag, Die Totenbestattuiig, S. 175. Wer abends
Stiefel schmiert, hat Unglück: Bartsch a. a. 0. II, S. 317. Kein Gevatter
darf am Tauftag sich die Stiefel schmieren, damit das Kind stets eine reine
Haut habe (Wenden in Niedersachsen): Ploss, Das Kind, I, S. 187. Auch
in den Zwölften darf man keine Stiefel schmieren (Thomsdorf i. d. Ucker-
mark): Kuhn u. Schwartz, Norddeutsche Sagen S. 411 (160).
III. Der Schuh als aphrodisisches Symbol,
a) Zeugung, Geburt u. s. w.
Die in der Einleitung entwickelten Ideen der Zeugung und Geburt,
welche so vielfach an Fuss und Bein geknüpft sind, finden wir oft über-
tragen auf die Bekleidung des Pusses : Schuh, Strumpf, Strumpfband.
Um die Unfruchtbarkeit der Frau zu beschwören, wird in China am
häufigsten ein geweihter Schuh aus dem Tempel der Göttin der Kinder
genommen und im Hause des Weibes, das sich beglückt zu sehen wünscht,
neben dem Bilde der. Göttin aufgestellt und verehrt; wird der Wunsch
erfüllt, so stiftet die glückliche Mutter ein Paar neue Schuhe in jenen
Tempel: Ratzel, Völkerkunde, III, S. 596. Die Eskimos nehmen, um ihre
Frauen fruchtbar oder schwanger zu machen, ein Paar Stücke von den
Sohlen unserer Schuhe und behängen sich damit; sie halten nämlich das
englische Yolk für fruchtbarer und körperlich stärker als das ihrige und
bilden sich ein, vermittelst unserer Kleidungsstücke die guten Eigenschaften
unseres Körpers auf den ihrigen übertragen zu können: Lubbock, Ent-
stehung der Civilisation S. 17 (nach H. Egede). In Ranggen muss ein
Vater, der männliche Kinder erzeugen will, Stiefel dazu anziehen: Zingerle,
Sitten etc. des Tiroler Volkes, S. 26 (151). Vgl. Liebrecht, Zur Volks-
kunde S. 440. In einigen Gegenden Esthlands wechseln die Schwangeren
11*
Sartori :
wöchentlich ihre Schuhe, um den Teufel von ihrer Spur abzuleiten; der-
selbe soll ihnen nämlich auf Schritt und Tritt folgen: Ploss, Das Kind, I,
S. 9. Der wahre Grund dieser Sitte ist aber wohl der, dass die Frauen
durch häufiges Anziehen frischer Schuhe die glückliche Geburt beeinflussen
wollen. Benutzung des Schuhes erleichtert überhaupt manchmal das Ge-
bären. Bei den Serben muss die Frau vor dem Gebären aus den Schuhen
ihres Mannes Wasser trinken: Ausland, 49, S. 495. (So lässt man in
Böhmen die Hühner am hl. Abend aus einem Schuh Erbsen fressen, um
fleissiges Eierlegen zu bewirken: Wuttke, Der dtsche Volksabergl. § 673).
In Schwaben muss die Kreissende in den Kindeswehen die Pantoffeln des
Mannes anziehen: Grimm, D. M.4 III, S. 457 (673). In Frankreich des
Mannes Hosen: Wolf, Beitr. I, S. 251 (616). Im Ansbachischen glaubt
man, dass die Frau leicht gebären wird, wenn ihr der Bräutigam am
Hochzeitstage die Strumpfbänder bindet: Grimm a. a. 0. III, S. 459 (716).
Wenn es in der Chemnitzer Rockenphilosophie (vgl. Grimm a. a. 0.
III, S. 449) heisst: Eine Kindbetteriu, die zur Kirche geht, soll neue Schuh
anlegen, sonst fällt ihr Kind gefährlich, wenn es laufen lernt (vgl. ebda.
S. 462 (797): Wuttke, D. dtsche Volksabergl. § 577 (Wetterau), Rochholz,
Aleni. Kinderlied etc. S. 316), so ist wohl der ursprüngliche Sinn des Ge-
brauches der, dass die Wöchnerin sich re optime gesta zu neuen Thaten
anschickt. Von einem gefallenen Mädchen heisst es bildlich: sie hat ein
Hufeisen verloren, abgeworfen: Grimm, Dtsches Wbch. IY, 2, S. 1868.
In dies Kapitel gehören auch einige bairische Ausdrücke, welche wir
bei Schineller, Bair. Wörterbuch II, S. 391 finden: „Ei d' Schuelih kemë
heisst bei oberländischen Landmädchen: die Menstrua bekommen, in
welchem Zustande sie sich hüten barfuss zu gehen, wie sie es wohl sonst
zu thun pflegen." (Wohl eine rationalisierende Erklärung, wie das Folgende
zeigt). S. 392 heisst es: „Der Schnellster bedeutet auch die Menstruation.
So sagt man: den Schuster haben, den Schuster auf der Stör haben (d. h.
eig. bei sich im Hause zur Arbeit haben). Bei älteren Weibspersonen
macht de' Schueste 's Lade zue." — Auf S. 393 hat Schmeller auch noch
die Bedeutung: „schuestern, beschlafen". Zu vergleichen ist die Wendung
in Fr. Müllers Faust: „Der Königin von Arragonien Pantoffelflicker (= Lieb-
haber) mocht' er gerne sein": Grimm, D. Wbch. VII, S. 1426.
Noch ein Punkt mag hier, wenn auch nicht erledigt, so doch kurz
berührt werden. Schon bei den Alten galt die Sandale als Symbol der
Herrschaft der Frau über den Mann. Vgl. 0. Jahn zuPersius V, 169, p. 207.
Gewiss wurde sie öfter, wie aus den dort angeführten Stellen hervorgeht,
als Züchtigungsinstrument gebraucht. Was aber das Vorbild dieser Be-
handlung^ weise, den von Omphale geschlagenen Herakles, betrifft, so
möchte doch wohl die Frage Erwägung verdienen, ob wir es nicht auch
hier mit einer Art von erotischer Symbolik zu thun haben, die ursprünglich
ähnliches bezweckte, - wie der schon öfter erwähnte, fruchtbar machende
Der Schuh ira Volksglauben.
159
„Schlag mit der Lebensrute." Aach Eros wird gelegentlich von der Aphro-
dite èç ràç Jivyàç tcò oavôàlœ geschlagen (vgl. Lucian Dial. deor. 11,1), und
diese selbst mitunter mit dem Attribut der Sandale dargestellt: Ygl.
Bernoulli, Aphrodite, S. 352. Roscher, Lex. d. griech. u. röm. Myth. 1,
S. 418. Uber ein vjióxqvoov oavòàliov als Opfergabe für Aphrodite siehe
Bötticher, Baumkultus der Hellenen, S. 63.
Eine erotische Beziehung hat der Schuh auch noch in der folgenden
Erzählung, die einer Pfälzer Handschrift (No. 314, Bl. 95 a) entnommen
ist. Ein Herr hatte seinen Schreiber inYerdacht der Buhlschaft mit seiner
Frau. Er kam einmal unversehens nach Hause, dass der Schreiber entfloh
und einen Schuh verlor. Nachts sagte der Herr zu seiner Frau, sie wollten
zur Kurzweil mit einander Reime machen und fing an: Ich hau ain weyn-
garten, ain feynen vnd ain zarten, da vor fand ich din layst (Schuh), der
mir meyn weyngarten erlaytt (verleidet). Nun zwang er seine Frau zu
antworten, sie sagte endlich nach vielem Weigern: Du hast ein weyngarten,
aiii feynen und ain zarten, den buwest du aber gar sälten, des muestu
dick engelten. Der Schreiber, der unterdess zurückgekommen, seinen
Schuh zu holen, machte den dritten Reim also: Ir hand ain weyngarten,
ain feynen und ain zarten,- das got doch wol waysz, daz ich der weynber
uye enbaysz: Heidelberg. Jahrbb. 1819, S. 1075. Mit Mut und Stiefel scherzt
auch ein Volkslied vorn betrogenen Ehemann (Simrock, Yolksl. No. 241);
er will wissen, was die vielen Reiterstiefel und Männerhüte an seiner Frau
Fhebette bedeuten, und sie erklärt sie ihm als ebenso viele Bierkrüge und
Milchwannen: Rochholz, Aargausagen I, S. 378.
b) Liebeszauber.
Entsprechend seiner erotischen Bedeutung findet der Schuh allerhand
zauberische Verwendung, um Liebe zu erregen oder zu beseitigen.
Schon bei Lucian Dial. Meretr. 4,4 hat eine alte Hexe, um einen
Treulosen wieder heranzuziehen, irgend etwas von ihm nötig olor íjuána y
XQr¡móag f¡ oÂlyaç tCov xQiyCov r¡ ti tcov xolovxcûv. lui Jahre 1026 soll zu
Pfalzel in der Rheinprovinz eine Nonne für den Bischof Poppo ein Paar
seidene Stiefel gemacht haben, die den Bischof und jeden, der sie anzog,
in dämonische Liebesglut versetzten: Grässe, Sagenbuch d. preuss. Staates
II, S. 104. In Hessen entwendet man dem Geliebten heimlich einen Schuh
oder Stiefel, trägt ihn acht Tage lang selbst und giebt ihn dann zurück:
Wuttke, D. dtsche Yolksabergl. § 552. Wenn ein Bursche ein während
des Ave Maria gepflücktes vierblättriges Kleeblatt einem Mädchen heimlich
in die Schuhe legt oder näht, so muss sie ihm nachlaufen (Böhmen): Ebda.
§ 130. In Ostpreussen wie in der Oberpfalz stecken sieh Liebende einander
heimlich vierblättrigen Klee zu, besonders in die Schuhe, so bleiben sie
treu: Ebda. § 550. Bei den Sachsen in Siebenbürgen zwingt man eine
Person zur Gegenliebe, wenn man in der Thomasnacht deren Fusssocken
160
Sartori:
koclit, daher von einem, der keine Ruhe findet und rastlos umhertreibt,
gesagt wird: Dem hat man die Fusstücher gekocht, d. Ii. er ist bezaubert: Mätz
im Progr. v. Schässburg, 1860, S. 24. Serbische Zigeunermädchen schneiden
sich am Tage des hl. Basilius mit einem Glasscherben in den linken Fuss
und fangen das entströmende Blut zur Zeit des Kirchengeläutes in einem
neuen Napfe auf. Gelingt es einer Maid, von diesem Blute, so lange es
noch warm ist, etwas in die Fussbekleidung des Burschen unbemerkt zu
tröpfeln, so lenkt er Tag und Nacht seine Schritte zu ihr. Daher heisst
man zigeunerisch das, was wir „Fensterpromenade" nennen, „auf blutigen
Füssen gehen": Am Ur-Quell, III, S. 12.
Wenn ein Mann eine Liebe los sein will, soll er sich neue Schuhe
anziehen, eine Weile gehen und so laufen, dass er schwitzt. Wenn sie
ausgeschwitzt sind, soll er Bier oder Wein hineingiessen und austrinken,
dann geht die Liebe fort: Schulenburg, Wendische Volkssagen etc. S. 243.
Vgl. Am Ur-Quell, III, S. 59. In Schlesien und Thüringen dürfen Liebende
einander keine Schuhe schenken, weil sonst die Liebe „zerlatscht" wird:
Wuttke a.a.O. § 553. Ebenso iu Sainland: Am Ur-Quell, F, S. 12. Will
man eine quälende Liebe los werden, so schabt man den Kot vom Absatz
des rechten Schuhes ab, thut ihn in die Schuhe und wirft ihn von einem
Wassersteg rückwärts über den Kopf ins Wasser und geht, oline sich um-
zusehen, nach Hause (Mähren): Wuttke a. a. O. § 555. Ein Pommerscher
Kavalier hat von einer geilen Metze einen Liebestrank bekommen. Da
legte ihm jemand Mist in die Schuhe, und nachdem er darin eine Stunde
gegangen und sich satt gerochen, ward seine Liebe auch stinkend: Grässe
a. a. 0. II, S. 465. In Oldenburg darf eine Frau ihre Schuhe nie um-
gekehrt vors Bett stellen, sonst wird der Mann untreu: Wuttke a. a. 0.
§ 570. Schmiert man bei den Magyaren die Schuhsohlen der Braut voi-
der Trauung mit dem Blute oder auch nur mit dem Speichel des Bräutigams
ein, so wird sie ihrem Gatten bald abhold werden: Am Ur-Quell, III,
S. 270.
Als eine Art von Liebeszauber müssen wir den Schuh wohl auch in
einem weitverbreiteten Märchenzuge betrachten, der namentlich in den
Aschenbrödelmärchen zu Tage tritt. Am häufigsten ist die Wendung, dass
der Held auf irgend eine Weise in den Besitz eines Schuhes gerät, die
Eigentümerin ausforschen lässt und heiratet. Der badenden Rhodopis raubt
ein Sturmwind (nach Aelian ein Adler) einen ihrer Schuhe und wirft ihn
dem grade Recht sprechenden König von Ägypten in den Sclioss, der jene
dann heiratet: Strabo 808. Vgl. Mannhardt in der Ztschr. f. d. Myth. IV,
S. 244. Ygl. die mannigfaltigen Variationen bei Grimm, Ii. II. M. III, S. 289 ff.
Hocker, Die Stammsagen der Hohenzollern u. Weifen, S. 104. Rassmann,
D. dtsche Heldensage I, S. 405 ff. Liebrecht in der Germania XIV, S. 91
(vlämisch); Gubernatis, D. Tiere in der indogerm. Myth. S. 24, 125, 162
(russisch), 186 (schottisch); Maurer, Island. Volkss. S. 282; Karadschitsch,
Der Schilt im Volksglauben.
Volksmärchen der Serben, S. 193. Romania VII, S. 574 ff. Zeitschr. f. d.
Myth. I, S. 310; Jahrb. f. roman, u. engl. Phil. VII, S. 387 f.; Gonzenbach,
Sicil. Märchen, I, S. 59 f.; Stier, Ungar. Märch. u. Sag. S. 43ff. Armenische
Bibliothek, IV, S. 7. In einem Märchen bei Krauss, Sagen u. Märchen d.
Südslaven II, S. 342 ff. kommt das Aschenbrödel aus der „Stiefelstadt".
% In dem sicilischen Märchen „Die beiden Fürstenkinder von Monteleone"
(bei Goiizeiibacli I, S. 42) lässt sich die Schwester, die ihren zum Tode
verurteilten Bruder erlösen will, eine kostbare Sandale machen. Mit dieser
auf einem silbernen Theebrett setzt sie sich an den Weg, auf welchem
ihr Bruder zum Galgen geführt werden soll. Dann ruft sie den König an:
„Einer Eurer Minister hat mir eine Sandale gestohlen, die zu dieser hier
gehörte, und der dort ist der Dieb." Damit wies sie auf den Minister,
durch dessen Schuld ihr Bruder den Tod erleiden sollte. Der Minister
behauptet, das Mädchen nie gesehen zu haben, während er sich früher ihrer
Gunst gerühmt, hatte. So wird er entlarvt.
c) Liebesorakol.
Die Verwendung des Schuhes zur Enthüllung der Zukunft scheint
schon ziemlich alt zu sein. Bei Du Gange heisst es s. v. Calceamentum
in altum projicere: „Superstitionis species qua de vitae diuturnitate augura-
bantur. Vita S. Arnulfi, toni. 3. Aug. pag. 238 col. 1: Vanum praesagium,
imo scelestum sortilegium, initio nuper actae Quadragesimae de ilio (filio)
exereuisti, ut quasi mori non posset cujus calceamentum in altum projectum
ultra trabem supervolasset. Peccatum tibi mansit et filii vita recessit."
Die sermones disc, de tempore nennen unter abergläubischen Weihnachts-
gebräuchen das calceos per caput jactare (sermo XI): Grimm, D. M.4 II,
S. 936. Vintler in der 1411 gedichteten „Blume der Tugend" spottet V. 7938ff. :
und an der rauchnacht wirfet man
die schuech, als ich gehört han,
über das haupt ärslingin,
und wa sich der spitz cherot hin,
da sol der mensch peleiben.
Zingerle, Sitten etc. des Tiroler Volkes, S. 184 (1521).
Gewöhnlich will man durch das Werfen1) oder Setzen des Schuhs an
bestimmten Tagen erfahren, ob man noch längere Zeit im Hause bleiben
1) Über den Wurf als Orakel bandelt eingebend Zeissberg „Hieb und Wurf als Eechts-
symbole in der Sage", Germania XIII, S. 419 ff. Die Gegenstände, mit denen geworfen
wird, sind sehr mannigfach: Hammer, Speer, Schleier, Pfeil u. s. w. — Auf Amrum gingen
die Schnitterinnen vor dem Ernteschmaus nach dem Garten oder der Toft und warfen ihre
Sicheln über den Kopf nach rückwärts; dann sahen sie zu, ob die Sichel mit der Spitze
in der Erde stehen geblieben war oder nicht; in jenem Falle, wähnte man, würde die
Schnitterin den Ernteschmaus nicht wieder erleben. Auf Sylt warf man ebenfalls nach
beendigter Ernte die Sichel über den Kopf zurück zu einer ähnlichen Losung; zeigte sie,
so geworfen, mit dem Griff nach dem Kirchhofe, so war es bestimmt, dass der oder die,
wer sie geworfen, vor der neuen Ernte sterben würde" : Jensen, D nordfries. Inseln, S. 371 f.
162
Sartori :
wird oder nicht. In Mecklenburg setzen sich in der Neujahrsnacht (am
Silvesterabend) die Knechte und Mägde in der Stube auf den Fussboden
und werfen rücklings über den Kopf einen Holzpantoffel oder Schuh.
Kommt derselbe mit der Spitze nach der Thür hin zu stehen, so müssen
sie im nächsten Jahre das Haus verlassen; steht er dagegen ins Zimmer
hinein, so bleiben sie noch ein Jahr im Hause: Bartsch, Mecklenb. Sageij
II, S. 236 f. (1227). Vgl. Witzschel, Progr. v. Eisenach, 1866, S. 9; Panzer,
Beitr. II, S. 257 ; Jahrb. f. d. Landeskunde der Herzogt. Sclilesw.-Holst, u.
Lauenbg. VII, S. 379 f.; Knoop, Volkssagen etc. a. d. osti. Hinterpommern,
S. 178 (215); Toppen, Abergl. a. Masuren, S. 64. Wuttke, Der deutsche
Volksaberglaube § 332.
Anderswo wird dazu die Weilmachtsnacht gewählt: Vgl. Grimm, 1).
M.4 III, S. 437 (101); Vernaleken, Mythen etc. in Österreich, S. 349 f.
Panzer, Beitr. I, S. 266 (168). Oder die Thomasnacht: Wuttke a. a. 0.
§ 332. Zingerle a. a. 0. S. 184 (1521). Oder der Matthiastag: Grimm a. a. 0.
IH, S. 461 (773). Oder die Dreikönigsnacht: Schmeller, Bair. Wörterbuch,
II, S. 390 f.
Die Richtung der Schuhspitze zur Thür zeigt auch an, dass der
Werfende sterben muss: Vgl. Wuttke a. a. 0. § 332. Strackerjan, Abergl.
a. Oldenburg" I, S. 88 f. Lemke, Volkstüml. in Ostpreussen I, S. 3. Lieb-
recht, Zur Volkskunde, S. 324 f. (Norwegen), In Krain wirft in der Braut-
nacht der Bräutigam seinen Schuh; fällt die Spitze nach der Wand zu, so
stirbt der Mann zuerst, fällt sie nach dem Bette zu, die Frau: Wuttke
a. a. 0. In Österreich stecken in der Silvester- oder Thomasnacht die
Mädchen einen Besen in die Erde oder auch in den Schnee und stellen
ihre Schuhe ringsherum; am andern Morgen finden sie dieselben meist
verschoben; die Richtung auf den Kirchhof zeigt den Tod an u. s. w.:
Ebda. Vgl. Vernaleken a. a. O. S. 351 f.
Auch für einen 'andern als den Werfenden kann das Orakel gelten.
Im Stedingerlande wirft man über einen andern, der vor der Thür steht
(z. B. eine Frau über einen Mann, den sie gern los wäre), seinen Schuh;
steht die Spitze nach dem Hause, so lebt jener noch lange, steht er vom
Hause ab, so stirbt er bald: Strackerjan a. a. 0. I, S. 88 f. Fällt einem
beim Eintreten der Pantoffel ab und bleibt vor der Thür liegen, so ist
jemand in der Nähe „feig", d. i. seinem Tode nahe (Norwegen): Liebrecht,
Z. Volkskunde, S. 327 (III).
In allen diesen Beispielen sehen wir also ein Orakel zur Anwendung
gebracht, welches über Bleiben oder Gehen der fragenden Person Auf-
schluss giebt. Dass hierbei der Schuh als Werkzeug gebraucht wird, ist
so natürlich, dass wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn wir etwas
Ähnliches sogar im Innern Afrikas wiederfinden: Stanley, Durch d. dunkeln
Weltteil (übers, v. Böttger) I, S. 112, erzählt von dem Sohne des Häupt-
lings von Mwenna in Ostafrika: Vermöge eines durch seine Sandalen von
o o
Der Schuh im Volksglauben.
163
Kuhhaut befragten magischen Orakels sagte er meiner Reise Erfolg voraus.
Da die Sandale des rechten Fusses, dreimal emporgeschleudert, jedesmal
mit der oberen Seite zu Boden fiel, so war meine Gesundheit und mein
Wohlergehen, wie er sagte, ohne allen Zweifel gesichert.
Zum blossen Spielwerk ist der zeigende Schuh in dem schwäbischen
„Schuhschoppen" (Schuhschieben) geworden, das Birlinger, Volkstüml. aus
Schwaben I, S. 432 beschreibt. Man sass im Kreis in der Stube herum,
zog einem Mädchen einen Schuh aus, einem andern wurden die Augen
verbunden. Die Mädchen (Bursche durften nicht dabei sein) zogen die
Füsse etwas auf, und durch die so entstandenen Kniewinkel wurde der
Schuh von einer der andern zugeschoben. Die Blinde musste suchen, und
bei welchem Mädchen sie den Schuh fand, das musste au ihre Stelle.
Ganz ähnlich schildert Goldsmith im Yicar of Wakefield, Cap. 11, als ein
Spiel aus der guten alten Zeit das slipper-hunting. Genau wie dieses wird
unter dem märkischen Landvolke das Sliiffkenjagen gespielt: Woeste,
Volksüberlieferungen a. d. Grfsch. Mark, S. 11.
Wenn wir nun die Verwendung des Schuhes speziell als Liebes-
orakel ins Auge fassen, so sehen wir auch hier zunächst das Prinzip
massgebend, dass die werfende Person (in diesem Falle wohl immer ein
Mädchen) je nach der Stellung des Schuhes entweder, um zu heiraten, in
einer bestimmten Zeit das Haus verlassen oder noch bleiben wird. Mit-
unter bezeichnet die Lage des geworfenen Schuhes auch die Richtung, aus
welcher der Freier kommen wird: Vgl. Schütze, Holst. Idiot. IV, S. 286;.
Mätz, Progr. v. Schässburg, 1860, S. 23 (Siebenbürger Sachsen); Grenz-
boten, 1864, S. 392 (Erzgebirge); Wuttke, D. dtsche Volksabergl. § 332; ,
Zingerle, Sitten etc. des Tiroler Volkes, S. 194 (1590); Ausland, 45, S. 572
(Venedig, Bologna).*)
Dass aber der Schuh doch nicht bloss deshalb benutzt wird, weil er
eben mit dem Gehen in der nächsten Beziehung steht, sondern weil' ihm
selbst eine Art erotischer Kraft innewohnt, scheinen die folgenden Variationen
des Werfens zu beweisen. In Warnsdorf in Böhmen werfen zu Weihnachten
junge Mädchen Strohwische, Schuhe u. dgl. auf blätterlose kleine Bäume;
bleiben sie gleich das erste Mal auf dem Baume hängen, so heiraten die
Mädchen künftiges Jahr; müssen sie es aber mehrere Male thun, so bleiben
sie noch ebenso viele Jahre unverheiratet: Vernaleken, Mythen etc. des
Volkes in Österreich, S. 338. In der Oberpfalz werfen die jungen Leute
in der Christ- oder Thomasnacht einen Stecken oder einen Strohwisch,
1) In ganz ähnlicher Weise wird auch mit einem andern Liebessymbol, dem Apfel,
'Ho Zukunft ergründet. Aus dem Fallen der über den Kopf geworfenen Schale oder der
Kerne erkennt man, ob oder wen man heiraten wird. Vgl. u. a. Pröhle, Harzbilder, S. 48;
Birlinger, Volkst. a. Schwaben, I, No. 702,6; Meier, Dtsche Sagen etc. a. Schwaben, II,
S. 507 (386); Strackerjan a. a. O. I, S. 89; Wolf, Beitr. z. d. Myth. 1, S. 210 (70); Sébillot,
Cont. popul. de la Haute Bretagne, p. 101.
164
Sartori :
einen Schuh etc. dreimal auf einen Birn- oder Apfelbaum; wenn er das
dritte Mal liegen bleibt, so wird aus der Liebschaft eine Ehe: Wuttke
a. a. 0. § 332.]) Es ist wohl gestattet, hierbei an Mannhardts Auseinander-
setzungen über den geheimnisvollen Zusammenhang, den man sich zwischen
Baum und Mensch bestehend dachte, zu erinnern.
Yon andern Arten und Folgen des Werfens seien noch folgende er-
wähnt. In Northumberland setzen sich am Ende der Hochzeit Braut und
Bräutigam auf das Brautbett, in voller Kleidung, ausgenommen Schuh und
Strümpfe. Eine der Brautjungfern nimmt des Bräutigams Strumpf, stellt
sich unten mit dem Rücken an das Bett und wirft mit der linken Hand
über die rechte Schulter den Strumpf, nach dem Gesicht des Bräutigams
zielend. Das thun dann alle Mädchen nach der Reihe, und die, welche
sein Gesicht treffen, werden bald verheiratet. Der Strumpf der Braut wird
darauf von den jungen Burschen auf gleiche Weise geworfen und ebenso
daraus geweissagt: Grimm, D. M.4 III, S. 476 (1107, vgl. 1106). In einigen
Ortschaften Österreichs stellen sich die Dirnen am Weihnachtsabend im
ííofe oder Garten in einen Kreis, verbinden sich die Augen, drehen sich
mehrere Male herum, nehmen einen Schuh in den Mund, werfen ihn drehend
in die Höhe, und zu welcher Dirne er innerhalb des Kreises fällt, die wird
nie heiraten. Dieses Werfen wird von jeder wiederholt: Yernaleken a. a. 0.
S. 330. Im bairischen Hochland stellt sich in der Thomasnacht das Mädchen
nackt vor den Spiegel und wirft den Schuh rücklings über die Schulter,
um den Liebsten zu schauen, der ihr beschieden ist: Stieler, Kulturbilder
aus Baiern, S. 104. Wenn die Mägde in Belgien ihren Geliebten im Traume
schauen wollen, so legen sie ihre Strumpfbänder kreuzweise ans Fussende
des Bottes und einen kleinen Spiegel unter das Hauptkissen, dann sehen
sie im Traume das Bild ihres Zukünftigen aus dem Spiegel blicken: Wolf,
Niederländ. Sagen S. 359 f. In der hl. Nacht soll man einen Pantoffel auf
die Fussspitze hängen und mit dem Beine rückwärts über den Kopf werfen.
Wenn er auf die Sohle fällt, bleibt man freiledig, fällt er verkehrt, mit
dem Leder auf die Erde, so verliurt man sich: Schulenburg, Wendische
Volkss. S. 248. Im Hanöverschen wird erzählt, dass ein Mädchen, das
gern einen Mann haben will, Gott um ein Zeichen bittet, und dass ein Hirt,
der das ganze Gebet hinter einer Hecke mit angehört hat, einen alten Schuh
hinüberwirft, wofür es Gott freudiglich dankt: Grimm, K. H. M. III, S. 231.2)
1) In der Pflege Reichenfels im Vogtlande pflücken die ledigen Mädchen zu Johannis
in der Mittagsstunde zwischen elf und zwölf neunerlei Blumen, wobei Winde, Storch-
schnabel und Feldraute nicht fehlen dürfen, winden einen Kranz und binden ihn mit einem
in derselben Stunde gesponnenen Faden. Ist der Kranz fertig, wirft ihn die Binderin
rückwärts an einen Baum. So oft er geworfen wird, ehe er hängen bleibt, so viele Jahre
dauert es noch, ehe sie heiratet: Schindler, D. Abergl. des Mittelalters, S. 268. Grimm,
L). M.4 HT, S. 464 (848).
2) G. Ebers hat ini ersten Bande seines Romans ..Die Nilbraut" das Schuhwerfen
auch als ägyptisches Liebesorakel dargestellt. Wie er mir gütigst mitteilt, gründet sich
Der Schuh im Volksglanben.
165
Zum Schluss noch einige Arten der Verwendung des Schuhes als
Liebesorakel, bei denen vom Werfen überhaupt nicht mehr die Rede ist,
sondern allein die dem Schuh anhaftende aphrodisische Kraft die Wirkung
hervorbringt.
Ein Mädchen, das ein vierblättriges Kleeblatt in den Schuh legt, kann
den Vornamen ihres künftigen Geliebten erfahren. Sie darf sich nur nach
dem Namen des ersten Mannes erkundigen, der ihr begegnet; wie er heisst,
so wird auch der Zukünftige lieissen: E. Meier, Dtsclie Sagen etc. aus
Schwaben, No. 281,2. Bei den Neugriechen nimmt das Mädchen, um den
Namen des Zukünftigen zu erfahren, einen Schluck Schicksalswasser in
den Mund (oder giesst etwas davon in den Schuh; so auf Jos), tritt vor
das Haus und wartet, bis es einen (männlichen) Namen zu hören bekommt
-— es ist der Name des vom Schicksal bestimmten Gatten: Ztschr. d.
Ver. f. Volkskde., 1892, S. 401. In Waldeck steckt sich das Mädchen
Bräutigamskraut in die Schuhe, so begegnet ihr der künftige Bräutigam:
Wuttke a. a. 0. § 366. Zu Albringwerde in Südwestfalen falten die Mädchen
Bandgras und stecken es in den Strumpf. Klafft dasselbe nachher beim
Herausnehmen auseinander, so sagen sie, ein Liebhaber denke an sie: Woeste
im Jahrb. d. Vereins f. niederdtsche Sprachforschung, 1877, S. 129. Geht
einem Mädchen das Strumpfband auf, dann denkt der Bräutigam an sie:
Bartsch a. a. 0. II, S. 57 (173). Wolf, Beitr. I, S. 210 (Rheinisch). Ver-
liert eine Frau oder Magd auf der Gasso ihr Strumpfband, so ist ihr der
Mann oder Freier ungetreu: Grimm, 1). M.4 III, S. 438 (124). In Ost-
preussen findet am Johannisabend das „Kaulchendrehen" statt. Das
Mädchen dreht sich auf dem Absatz ihres Schuhes oder auf der blossen
Hacke dreimal im Sande in die Runde, wodurch eine kleine Vertiefung
entsteht. Dann geht sie schweigend an das nächste Gewässer, schöpft mit
der Hand einige Tropfen und träufelt dieselben in das „Kaulchen" (die
erwähnte Vertiefung); was nun am nächsten Morgen dort gefunden wird,
hat Bezug auf den Stand des künftigen Gatten: Strohhalm — gewöhnlicher
Arbeitsmann, Ziegel oder Stein = Maurer, Pflanze — Gärtner u. s. w. : Lemke,
Volkstüml. in Ostpreussen, I, S. 20f. Beim Schlafengehen am Joliannis-
abend muss das Mädchen ein kleines Geldstück in den Schuh legen; sie
sieht dann den Liebsten im Traume: Ebda. S. 21. Wenn einem Burschen
die Stiefel knarren, wird er bald heiraten (Böhmen). Auch wem beim
Stiefelputzen die Bürste oft aus der Hand fällt, der wird bald heiraten:
Wuttke, a. a. O. § 312. In dem Märchen „Die drei Männlein im Walde"
(Grimm, K. II. M. I, No. 13) ist ein Witwer unschlüssig, ob er wieder
heiraten soll. Endlich zieht er seinen Stiefel aus und sagt zu seiner
diese Stelle auf ein Bild in einem Grabe zu "Abd el Qurna, auf welchem man eine Reihe
von Mädchen sieht, die den Kopf tief zu Boden senken, diese nach hinten, jene nach vorn,
andere in ihrer Mitte werfen den Schub. Im Spiel thun sie es jedenfalls, weiter lässt sich
allerdings nichts darüber sagen.
166
Sartori:
Tochter: „Nimm diesen Stiefel, der liât in der Solile ein Loch, geh damit
auf den Boden, häng1 ihn an den grossen Nagel und giess dann Wasser
hinein. Hält er das Wasser, so will ich wieder eine Frau nehmen, läuft's
aber durch, so will ich nicht." Das Mädchen tliut es; aber das Wasser
zieht das Loch zusammen, und der Stiefel wird voll bis oben hin. Darauf
heiratet der Vater wieder. In dem sicilianischen Märchen „Yon Giovannino
und Caterina" (Gonzenbach I, S. 212) bittet Caterina ihren Yater fort-
während, doch ihre Lehrerin zu heiraten. „Da hing der Vater über seinem
Bette ein Paar eiserne Stiefel auf und sprach: „Wenn diese Stiefel auf-
gebraucht sein werden, dann will ich deine Lehrerin heiraten." Caterina
ging hin und fragte die Lehrerin um Rat; die sprach: „Jeden Morgen,
wenn dein Vater auf dem Felde ist, musst du die Stiefel in einer Pfütze
reiben, so werden der Rost und Schmutz sie verbrauchen." Caterina thut,
was die Lehrerin ihr befohlen, und nach einigen Monaten hatten die Stiefel
Löcher." Darauf heiratet der Yater die Lehrerin.
d) Hochzeitsgebräuche.
Die Hochzeitschuhe der Frau verlangen besondere Rücksicht. Das
Weib sichert sich eine gute Behandlung des Mannes, wenn es die Hoch-
zeitschuhe gut aufhebt; so lange diese nicht zerrissen sind, darf sie nicht
geschlagen werden (Siebenbürg. Sachsen): Mätz im Progr. von Schässburg,
I860, S. 101. Ygl. Grimm, D. M. III, S. 462 (795). Im Erzgebirge heisst
es: Die ersten Schuhe, welche die junge Frau abreisst, dürfen nicht weg-
gegeben, sondern müssen weggeworfen werden, sonst wird sie unglücklich :
Wuttke, D. dtsche Volksabergl. § 570. Wenn eine Braut am Hochzeitstage
zu enge Schuhe trägt, wird sie Unglück in der Ehe haben: Zingerle,
Sitten etc. des Tiroler Volkes, S. 19 (118).
Wir wenden uns nun zur Betrachtung einer Reihe von weitverbreiteten
Gebräuchen bei Verlöbnis und Verehelichung, in denen dem Schuh eine
gewisse Rolle zuerteilt ist.
Zunächst bringt zum Zeichen der geschehenen Verlobung der Bräutigam
der Braut Schuhe dar. Bei Gregor. Turon. De vitis patr. cap. 16 heisst
es: „sponsali vinculo obligatur, cumque amori se puellari praestaret affa-
bilem et cum poculis frequentibus etiam calciarli enta deferret; cap. 20: dato
sponsae annulo porrigit osculum, praebet cal ci am en tum, célébrât sponsali um
diem festum." Grimm, Dtsche Rechtsaltert. S. 155 f. bemerkt dazu: „Es
wird nicht gesagt, aber praebere (weniger deferre) calceum könnte schon
heissen, dass der Bräutigam sich selbst entschuhte und die Braut eigentlich
seinen Schuh anziehen musste, so dass auch hier beide in einen Schuh
zusammengestiegen wären.1) Nachher wurde es üblich, der Braut neue
1) Grimm deutet mit dieser Bemerkung auf die entsprechende Sitte hei der Adoption
und Legitimation. Vgl. D. Rechtsaltert. S. 155. .Nach altnordischem Recht soll der Yater
Der Schuh im Volksglauben.
167
Schuhe darzubringen, eine natürliche Wendung des Symbols." Bekannt
ist die Stelle aus dem Gedicht vom König Rother V. 20*20—2288, wo der
Werbende zwei Schuhe, goldene und silberne, schmieden lässt und sie der
Braut, die ihren Fuss in seinen Schoss setzt, selber anschuht. Ganz gleich
ist die Erzählung vom König Osantrix in der Willtina Saga cap. 61. Bei
-Neidhart von Reuenthal (Haupt, S. 21) singt das Mädchen:
er sante mir ein rösenschapel, daz het liehten schîn,
uf daz houbet mm;
und zwêne röte golzen brâht er her mir über Rin:
die trag ich noch hiwer an minem beine. ')
In einem alemannischen Kinderspielliede bei Rochholz, Aleni, lvinder-
lied und Kinderspiel S. 379 f. heisst es:
Es chumt ein Her mit eim Pantoffel,
ade, ade, ade!
es kommt ein Herr geritten
von alten Adams Sitten,
er bitt' ums jüngste Töchterlein,
lass es dich nicht gerauwen sein u. s. w.
Die Hamburger Hochzeitsorduung von 1292 bestimmte, dass der
Bräutigam der Braut, nur ein Paar Schuhe schicken dürfe, die Braut ihm
dagegen ein Paar Linnenkleider, eine Haube, einen Gürtel und einen
Beutel: Weinhold, Dtsche Frauen im M. A. S. 222 (I2, 338); vgl. S. 228 f.
In einem alten Augsburger Erlass des Magistrats heisst es: Swann man auch
hochzit hat, so sol man nieman chainen schuh geben, ez enwelle ein man
dan silier lmsfrowen zwêne schlich bringen (13. 14. Jahrb.): Birlinger,
A. Schwaben, I, S. 305. Das Geseker Statutarrecht (Südwestfalen) vom
Jahre 1360 sagt in No. 22: „Yortmêr mach de brudegam gheven drê par
schôh der brut und eren nêsten; de briìt mach dem brudegam gheven ein pâr
lynner clêdere und liumande nicht mer." Die Soester Schrae aber verbietet
im 2. Artikel das Geben der Brautschuhe: Woeste im Jahrb. d. Ver. f.
ein Mahl anstellen, einen dreijährigen Ochsen schlachten, dessen rechtem Fusse die Haut
ablösen und daraus einen Schuh machen. Diesen Schuh zieht er dann zuerst an, nach
dun der adoptierte oder legitimierte Sohn, hierauf die Erben und Freunde. Dies heisst:
mit einem in den Schuh steigen. — Sollte nicht auch hier der ursprüngliche Sinn des
Gebrauches der sein, dass der Vater vermittelst des Symboles der Fruchtbarkeit den Akt
der Zeugung gewissermassen noch einmal symbolisch vollzieht? Und liegt etwas Ähnliches
vor in der Sitte des Schuhtausches, auf welche im westfälischen Süderlande und im
Bergischen die Redensart weist: „Unsere Vorfahren haben einmal mit Holzschuhen ge-
tauscht", womit man ausdrücken will: wir sind weitläufig mit einander verwandt?: Woeste
im Jahrb d Ver. f. niederdtsche Sprachforschung, 1877, S. 127. Symbol der Adoption
sowohl wie der Verlobung war im Norden übrigens auch das Kniesetzen: Grimm, Dtsche
Kechtsaltert. S. 438. Hatte auch dieser Gebrauch einen aphrodisischen Sinn? Bei den
Indern ist das rechte Knie für die Kinder und für die Schwiegertöchter zum Sitze be-
stimmt, das linke Knie für die Gemahlin: Holtzmann, Indische Sagen I, S. 198.
1) Die hier mit den golzen zusammen genannten Kränze wurden ebenfalls häufig als
biebeszeichen verwandt, wofür viele Beispiele bei Uhland, Ges. Sehr. III, S. 417 u. Anm.
168
Sartori:
iiiederdtsche Sprachforschung, 1877, S. 127. Bei den Siebenbürger Sachsen
sind Gegenstände der Morgengabe (welche der Bräutigam am Hochzeits-
morgen der Braut durch den Brautknecht überbringen lässt) in der Regel
ein Paar neuer Schuhe mit „Kreiselröhren", in denen die Braut getraut
wird, ferner Taschentücher, Bänder, eine Haube, Äpfel, Nüsse und Geld-
stückchen: Mätz, Progr. v. Schässburg, 1860, S. 51. Eigentümlicher Art
ist der Yorgang bei der Darbringung der Morgengabe in Havelagen (zwei
Stunden von Schässburg). Der Akt findet statt, wenn der Zug des Bräuti-
gams die Braut zur Trauung abholt. Nachdem sich die eine Partei rechts
vom Eingang, die andere links aufgestellt und man sich gegenseitig in die
Freundschaft aufgenommen, tritt von jeder Seite eine Frau vor; die des
Bräutigams hält in einem Tuch ein Paar neue Schuhe verdeckt, in einem
andern einen alten Schuh, während die Frau der Brautpartei für den
Bräutigam ein Hemd und eine Schürze verhüllt darbringt. Beide bieten
nun Tauschhandel an, wobei man nicht ermangelt, das Seine gehörig an-
zupreisen. Jene preist ihre schönen schwarzen Rosse (die Schuhe), die
der Farbe wegen weit gesucht und gerühmt sind, diese dagegen die weissen
(Hemd und Schürze), „denn diese tragen goldene Ketten". Nach langem,
fruchtlosen Hin- und Herhandeln trifft sichs oft zu allgemeiner Belustigung,
dass jede Partei sich den unbrauchbaren Artikel erlost, die Bräutigamsfrau
die Schürze, die Brautfrau den alten Schuh, die zwei übrigen Stücke werden
leichter getauscht. Der Bräutigam geht im neuen Hemde wie die Braut
in den neuen Schuhen zum Altar: Ebda. S. 52. In dem Märchen von
Siebenschön (Müllenhoff, Sagen a. Schlesw.-Holst, etc. S. 389) schickt der
Prinz seiner Geliebten nacheinander einen goldenen Fingerreif, ein Paar
silberne Schuhe und ein goldenes Kleid. Ebenso erhält (bei Grimm, Altdän.
Heldenlieder, S. 117) Klein Christel von dem sie liebenden König ein
seidenes Hemd, silbergespangte Schuh und eine Goldharfe geschenkt. —
In einigen Orten Sirmiens wird beim Ringwechsel bei der Yerlobung die
Braut barfuss hereingeführt, auf einen Mantel gestellt und von den zu-
künftigen Schwiegereltern mit roten Strümpfen und neuen Stiefeln oder
Schuhen beschenkt, welche sie angesichts der Anwesenden anzieht. Häufig
gegeben und getragen werden Strümpfe aus schwarzer, mit Goldfäden
durchzogener Wolle. Der Schwiegersohn bekommt von den Eltern der
Braut ein durchsichtig gewebtes Hemd und eine Hose, wofür er Sandalen
und Stiefel giebt: Globus, 1884.
Eine Erweiterung des ursprünglichen Gebrauches ist es wohl, wenn
auch andere an der Hochzeit Beteiligte vom Bräutigam mit Stiefeln begabt
werden. In Karlstadt erhält erst kurz vor der Heimführung der Braut auch
der Brautvater vom Bräutigam seinen Betrag, der immer in einem Paar
Stiefel besteht, während alle Schwägerinnen und die Schwiegermutter ein
Geldstück empfangen, letztere angeblich für die zuletzt dargebotene Speise:
Lippert, Kulturgeschichte, II, S. 118. In Südwestfalen erhielt, wenn die
Der Schuh im Volksglauben.
Hochzeit zustande kam, der Freiwerber von der Braut ein Hemd oder ein
Paar blaue Strümpfe oder vom Bräutigam am Hochzeitstage ein Paar lange
Stiefel. In einem Dorfe bei Bochum war es Sitte, dass der Bräutigam
dem Zimmermann ein Paar lange Stiefel schenkte: Woeste im Jahrb. d.
Ver. f. niederdtsche Sprachforschung, 1877, S. 130.
Nach Grimms Vorgänge pflegt man die Überreichung der Schuhe an
die Braut von Seiten des Bräutigams damit zu erklären, dass jene dadurch
in die Mundschaft des Bräutigams trete, seiner Gewalt unterworfen werde.
Gewiss ist, wie später noch erörtert werden soll, der Schuh ein Symbol
der Herrschaft. In unserm Fall scheint aber doch auch die nun schon zur
Genüge erwiesene aphrodisische Bedeutung des Schuhes mithineinzuspielen.x)
In folgenden Gebräuchen tritt diese Bedeutung noch klarer hervor.
Ziemlich verbreitet ist die Sitte, dass der Braut bei der Hochzeit die
Schuhe ausgezogen werden. In der Rheingegend thun es die Weiber
(Kuhn, Westf. Sag. II, No. 109 Anni.); anderswo die anwesenden Burschen,
welche dann die geraubten Schuhe versteigern und den Erlös vertrinken.
Vgl. Schmitz, Sitten u. Sagen des Eifler Volkes, I, S. 58; Ausland, 1887,
S. 266 (Amöneburg in Hessen); Birlinger, Volkst. a. Schwaben II, No. 330
(Franken) II, No. 324 (Altheim bei Horb); Am Ur-Quell, I, S. 34 (Axin
bei Brettin in Pommern). In der Bergstrasse und dem Odenwald ist es
Sitte, bei der Hochzeit der Braut einen Schuh auszuziehen und daraus zu
trinken: Kuhn a. a. O. II, No. 109, Anni. In Eschburg werden die Schuhe
und die Strumpfbänder der Braut versteigert und von dem aus den Schuhen
gelösten Geld Zuckerwein gemacht. Das Geld, welches aus den Bändern
gelöst wurde, bekommt die Braut. In Obersteinbach und Kimbach bei
Masmünster werden der Braut die Schuhe versteckt. In Ernolsheim haben
die Brautjungfern, „Schmolljungfern" genannt, die Aufgabe, der Braut die
Strumpfbänder zu hüten. Der Brautführer raubt sie aber doch, d. h. er
hat ein anderes Band in der Tasche, welches er für das der Braut ausgiebt.
Er hebt es hoch in die Höhe, es allen zeigend. Die Schmolljungfern
werden dann vom Hochzeiter gescholten. Das Strumpfband wird zer-
schnitten, und kurz vor Schluss des Essens gehen drei Teller herum, einer
mit den Stücken des Strumpfbandes, der andere mit Stecknadeln. Jeder
Hochzeitsteilnehmer muss sich ein Stück anheften. Auf den dritten Teller
legt er ein Geldstück: Jahrb. für Geschichte, Sprache u. Literatur Elsass-
1) Eigentümlich vereint erscheinen beide Anschauungen im Ansbachischen: Schnallt
der Bräutigam der Braut am Hochzeitstag den linken Schuh ein, so bekommt sie die
Herrschaft. Bindet er ihr die Strumpfbänder, so gebiert sie leicht: Grimm, D. M.4 III,
S. 459 (715, 716). Bemerkenswert ist übrigens die von Grimm Kl. Sehr. II, S. 302 erwähnte
indische Sitte, nach welcher die Frau eines iu der Ferne verstorbenen und verbrannten
Kschatrija, wçnn sie in der Heimat einen zweiten Scheiterhaufen besteigen will, etwas von
des ferngestorbenen Gatten Gerät, namentlich seine Sandalen, aul' ihrer Brust zum Feuer
tragen muss. Dadurch will doch wohl die Witwe ihre enge, eheliche Zusammengehörigkeit
mit dem Toten beweisen.
170
Sartori :
Lothringens, IL Jahrg. Strassburg 1886, S. 190. In Winkel und Umgegend
in der Eifel sind, wenn das Hochzeitsmahl etwa zur Hälfte vorüber ist,
die Mädchen darauf bedacht, die Schuhe der Braut, und die Jünglinge,
die Schuhe des Bräutigams zu erhaschen. Gelingt dies dem einen Teile,
so muss der andere Teil demselben die Schuhe abkaufen, damit der
Bräutigam oder die Braut zu dem nach der Mahlzeit beginnenden Tanzen
mit Schuhen versehen sind: Schmitz a. a. 0. S. 58. In der Gegend von
Darmstadt suchen die Yerheirateten der Braut den Kranz vom Kopfe zu
reissen und den rechten Schuh auszuziehen; ehe sie sich unter die Yer-
heirateten setzt, bekommt sie ein Paar ganz neue Schuhe: Ztschr. f. dtsche
Myth. II, S. 78. In Lerbach überreicht man der Braut und dem Bräutigam
am Ende des ersten Hochzeitstages wohl eine Laterne mit grünen Kränzen,
damit sie jetzt nicht irre gehen. Doch ward zuvor der Braut der Schuh
ausgezogen, und auch den Brautjungfern wurden die Schuhe weggenommen:
Pröhle, Harzbilder, S. 9. Bei Bauernhochzeiten in Vorarlberg wurde vor
noch nicht langer Zeit der Braut, nachdem sie eine Runde getanzt hatte,
ein Schuh ausgezogen: Kuhn a. a. 0. II, 109 Anni. In der Bretagne
verstecken die Eltern der Braut oder auch diese selbst am Hochzeitstage
die Schuhe und der garçon d'honneur muss sie suchen: Sebillot, Coutumes
populaires de la Haute Bretagne, S. 116 f.
In allen diesen Gebräuchen handelt es sich offenbar ursprünglich
darum, dass der Braut ihre Schuhe weggenommen und dafür andere, neue
gegeben werden. Man pflegt in dieser Sitte Reste eines ursprünglichen
Wettlaufes um die Braut, des Brautkaufes und eines alten Trankopfers zu
sehen. Ygl. z.B. Simrock, Dtsche Myth. S. 594 f. Bei der grossen Ver-
breitung aber, welche der Schuh als aphrodisisches Symbol hat, ist doch
wohl die Frage erlaubt, ob nicht auch hier diese Bedeutung hineinspielt.
Die Umwandlung des Mädchens in eine Frau wird symbolisch dargestellt
durch einen Wechsel der Schuhe. In einer bejahenden Antwort auf eine
Liebeswerbung sagt daher eine Helgoländerin bei Firmenich, Germaniens
Völkerstimmen, I, S. 10: Ick treed dann ütt mien Famels-Skuh (Ich trete
dann aus meinem Mädchenschuh). In einer schwedischen Ballade spricht
ein Mädchen zu ihrem getöteten Entführer: „Noch soll ich tragen meine
Jungfraunschuh!": Mohnike, Altschwed. Balladen etc. S. 145. Und in einem
norwegischen Volkslied ruft die Jungfrau Heiemo, die den Nix, ihren Ent-
führer, getötet hat, triumphierend aus:
„Lieg, Nix, hier vor Hunden und Raben nun,
Noch tanz' ich ein Weilchen in Jungfrauenschuhn."
Ygl. Reifferscheid, Westfäl. Volkslieder, S. 168.
Einen entsprechenden Sinn wird es denn auch wohl haben, wenn bei
den Serben die Braut, nachdem sie ihre neuen Schuhe angezogen hat, die
alten jener Freundin giebt, welcher sie wünscht baldigst zu heiraten, mit
den Worten: Gehe nach meinem Wege, Ausland, 49, S. 629, sowie in einem
Der Schuh im Volksglauben.
171
schwedischen Liede Schön Anna ihrer begünstigten Nebenbuhlerin ihre
„vertragenen Schuhe" giebt: Mohnike a. a. O. S. 59.1) In Steiermark
herrscht dagegen nach einer freundlichen Mitteilung Roseggers der Glaube,
dass ein Mädchen, wenn es die Schuhe einer Braut anzieht, keinen Mann
kriegt.
Während bei den Sloyenen sich die Brautleute im Schlafgemach
einander gegenseitig Schuhe und Strümpfe ausziehen (Ausland, 45, S. 546),
scheint in Russland mehr Gewicht gelegt zu werden auf das Entschuhen
des Bräutigams. Wladimir, der im Jahre 980 um Ragnalds Tochter warb,
wurde von ihr verschmäht mit den Worten: „Ich will den Sohn einer
Magd nicht entschuhen": Grimm, Dtsche Rechtsaltert. S. 156. Am ersten
Tage nach der Trauung steckte der Mann in einen seiner Stiefel eine
Peitsche. Die junge Frau, welcher die Verpflichtung oblag ihm die Stiefel
auszuziehen, konnte wählen, mit welchem sie beginnen wollte. Erwischte
sie den mit dem Straf instrument zuerst, so versetzte ihr der Mann einen
Schlag über den Rücken. Dieses schlagende Beispiel sollte ihr beweisen,
dass der Gemahl vollständige Gewalt über sie besitze: Mannhardt, Wald-
und Feldkulte, I, S. 301. Wahrscheinlich hat aber dieser Schlag, wie auch
sonst der „Schlag mit der Lebensrute", die Bedeutung, die die Fruchtbarkeit
und Geburt zurückhaltenden Dämonen auszutreiben: Ygl. Mannhardt a. a. 0.
S. 251 ff. Mythol. Forsch. S. 113—155.
Am deutlichsten zeigt sich wohl die aphrodisische Kraft des Schuhes
in einer Gruppe von Hochzeitsgebräuchen, die darin bestehen, dass der
Braut oder auch dem Bräutigam am Hochzeitstage der Schuh mit Getreide
bestreut oder Getreide in den Schuh gethan wird. Das Korn wird mitunter
durch andere Gegenstände, namentlich durch Geld, ersetzt. Die Gründe
für die seltsame Handlung werden verschieden angegeben, aber Mannhardt
hat ohne Zweifel recht, wenn er „Mythol. Forsch." S. 365 meint, dass die
Sitte ausging von der Empfindung eines sympathetischen Verhältnisses
zwischen Menschen und körn ertragendem Grase und von dem Vergleich
zwischen Leibesfrucht und Getreidekorn. Man wollte also durch das Be-
werfen mit Getreide die Brautleute fruchtbar machen. Dass der Schuh
hierbei als Medium dient, zeigt eben wieder seine aphrodisische Kraft, die
sich übrigens mit der allgemein segnenden, namentlich auch vegetativ be-
fruchtenden, wie die folgenden Beispiele zeigen, mannigfach verbunden hat.
In Stry in Galizien legt man der Braut Getreidekörner in die Schuhe,
und die alten Leute sagen, falls ihr ein Weizenkorn zwischen die Zehen
komme, werde ihr Kind ein Krüppel werden. Auch die Letten in Livland
1) In manchen Orten der Bretagne spielt die Nadel eine ähnliche Rolle. Die Braut
verteilt die Nadeln, mit denen ihre Krone befestigt war, unter die Mädchen und Burschen
zum Vorzeichen künftiger Ehe: Sébillot a. a. O. p. 133, 135. Die Nadel erteilt auch
Liebesorakel: man wirft sie ins Wasser oder sticht irgendwo hinein und weissagt daraus:
Sébillot a. a. O. p. 96 ff.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 12
172
Sartori :
streuen der Braut Getreidekörner in die Schuhe: Mannhardt, Myth. Forsch.
S. 358. Zu St. Pölten im Böhmerwalde werden die Schuhe der Braut mit
Getreide bestreut, damit sie im Ehestand Glück habe. In Stockerau und
dem Mannhardtsberge (Österreich) legt man der Braut Erbsen in die
Schuhe, in Baiern Getreide, Erbsen oder Geld. In Falkenau (Kr. Eger,
Böhmen) legt man der Braut Ähren in die Schuhe und auf das Herz.
Dieselben kommen nachher unter das Saatgetreide: Ebda. S. 359. In
Thüringen tliut sich die Braut Flachs in das Schuhwerk oder bindet ihn
um die Hüften: Ebda. S. 360. In Schweden legte man im Kirchspiel
Sillerud (Wermland) den beiden Brautleuten bei der Hochzeit Weizen-
und Gerstenähren in die Strümpfe, Weizen- und Gerstenähren auf die
Laken des Brautbettes: Ebda. S. 361. In Waldeck thut man der Braut
heimlich Brot und Salz in die Schuhe, das bringt Segen. Wird ihr Mohn
in die Schuhe geschüttet, so bleibt sie kinderlos: Wuttke, Der dtsche
Volksabergl. § 562. In der Saulgauer Gegend wird den Brautleuten am
Hochzeitstage geweihtes Salz in die Schuhe und Stiefel gethan: Birlinger,
Aus Schwaben, I, S. 415. In Samland legt die Braut ein Geldstück in den
Schuh: Am Ur-Quell, I, S. 13. Ygl. Toppen, Abergl. a. Masuren, S. 88;
Lemke, Yolkstiiml. in Ostpreussen, I, S. 38 f.; Ztschr. d. Yer. f. Volks-
kunde I, S. 183 (Soldin, Mark Brandenburg). In Ranggen muss die Braut
etwas Geweihtes in ihre Schuhe legen, damit ihr nichts Böses begegne:
Zingerle, Sitten etc. des Tiroler Volkes S. 20 (120). In der Mark hat die
Braut beim Kirchgang in ihren Schuhen Haare \Ton allen Vieharten des
Hofes, sonst gedeiht dasselbe nicht. Der Bräutigam hat in die Schuhe
Körner von allen gebauten Kornarten gelegt, denn so kann er gewiss sein,
dass er reichliche Ernten haben wird: Kuhn, Märk. Sagen S. 357. Geht
das Brautpaar nach der Kirche, so wirft man, ehe sie das Haus verlassen,
einen Feuerbrand auf die Schwelle, über die sie fortschreiten müssen.
Die Mutter der Braut streut sich Dill und Salz in den Schuh und sagt
dabei :
Dille lass nicht Wille
Salz lass nicht nach.
Auch Bräutigam und Braut streuen sich Dill und Salz in den Schuh,
das schützt gegen Hexerei: Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen S. 434 (283).
Wenn dagegen der Braut auf dem Wege zur Kirche ein Steinchen in den
Schuh gerät, so hat sie ein hartes Geschick in der Ehe zu erwarten: Am
Ur-Quell I, S. 13 (Ostpreussen).
Eine eigentümliche Variation des Gebrauches findet sich in Ostfriesland.
Wenn hier eine Kindbetterin zum erstenmal die Kirche besucht, muss
sie etwas Salz in ihre Schuhe streuen und darauf achten, dass sie nicht
in die Spuren der anderen Leute tritt, sonst bekommt sie eine geschwollene
Brust: Pio ss, Das Kind, I, S. 229. Wie bei der Braut veranlasst, so soll
hier bei der Kindbetterin die Fruchtbarkeit offenbar erneuert werden.
Der Schuh im Volksglauben.
173
Ein vereinzelter Hochzeitsgebrauch sei zum Schlüsse noch angeführt.
In dem Fischerdörflein Stilli an der Aare wurden am Hochzeitstage in
die hohen und roten Stöcklein der Laschenschuhe, welche die Braut trug,
drei „Jungfernnägel" unter geheimnisvollen Ceremonien eingeschlagen:
Rochholz, Deutscher Glaube etc. II, S. 245.
Endlich möge hier noch der ferne Osten einen Beitrag liefern. Im
chinesischen Hochzeitszuge figuriert u. a. ein Mann, welcher einen Bambus
über der Schulter trägt als das Sinnbild raschen Wachstums; an dem einen
Ende des Bambus hängt ein rotes Bündel Schuhwerk, an dem andern eine
rote Steppdecke: Ausland, 62, S. 265. Da wir schon früher den Schuh
als aphrodisisches Symbol auch bei den Chinesen angetroffen haben, so
liegt eine ähnliche Deutung auch hier nicht fern.
B. Der Schuh als Würdezeiclien.
Eine natürliche und leicht verständliche Symbolik ist es, dass der
Sieger zum Zeichen völliger Besiegung den Fuss auf den zu Boden ge-
streckten Feind setzt: Ygl. z. B. Ratzel, Völkerkunde, II, S. 640. Dass
diese Sitte auch der germanischen Vorzeit eigentümlich gewesen ist, be-
merkt Grimm, Dtsche Rechtsaltert. S. 142 f. Unter anderen Beispielen
führt er hier auch an, dass in einigen geistlichen Lehnhöfen bei der Be-
lehnung der Herr mit seinem rechten Fuss auf den des Vasallen trat.
Umgekehrt reichte der Besiegte dem Uberwinder vom Staube unter seinen
Füssen dar: Grimm, Dtsche Myth.4 I, S. 304 f.
Das Setzen des Fusses auf Land oder anderes Gut war ein Zeichen
der Besitzergreifung. Grimm, Dtsche Rechtsalt. S. 142 f. liefert auch hierfür
Beispiele. Aus der Volkssage gehören hierher die Erzählungen, in denen
einer sich unrechtmässigerweise ein ihm nicht gehörendes Stück Land
zuschwört, nachdem er Erde des fremden Gebietes in seinen Schuh gethan
hat: Vgl. z.B. Rochholz, Aargaus. II, S. XL VI u. LUI f.; Naturmythen,
S. 129. Am Ur-Quell, III, S. 188. Der Schuh galt daher auch als Acker-
mass, und scuopuoza (Schuhfleck, Schuhlappe, assumentum calcei) bezeichnet
das kleinere Grundstück im Gegensatz zur huoba. Im Ansbachischen hiess
mit ähnlichem Namen ein kleinerer Teil der Hube Schuhkauf und Enkelein
(vom ahd. anchal, talus): Grimm in Haupts Ztschr. f. d. Altert. VIII,
S. 394 ff.
Als ein Zeichen der Besitzergreifung fasst man es auch gewöhnlich
auf, wenn der Liebende der Geliebten, der Bräutigam der Braut verstohlen
auf den Fuss tritt: Vgl. Wilkina-Saga cap. 119 (v. d. Hagen, I, S. 263).
Helmbrecht v. 1534. Der noch heute hier und da herrschende Glaube,
dass derjenige die Herrschaft im Hause erhalten werde, der bei . der
Trauung dem andern auf den Fuss tritt (vgl. z. B. Am Ur-Quell I, S. 14 f.
(Samland); Bartsch, Sagen etc. aus Mecklenburg II, S. 63), wird darauf
bezogen. Übrigens ist diese Anschauung recht weit verstreut. In China
12*
174
Sartori:
hält der Aberglaube es für entschieden, dass, wer von beiden Brautleuten
beim ersten Nebeneinanderverweilen auf ein Kleidungsstück des andern
sich setze, die Herrschaft im Hause haben werde: Ratzel, Völkerkunde,
III, S. 595. Die Redjang, ein malaiischer Stamm, treten der Braut auf
die grosse Zehe, indem sie sie aus dem Yaterhause führen, weil den Fuss
auf etwas setzen die Besitznahme anzeigt: Ebda. II, S. 432. Auch zur
Erlangung der Geistersichtigkeit und zur Entzauberung dient der Fusstritt:
Tgl. Grimm, D. M.4 II, S. 927 und III, S. 320. Schambach-Müller, Nieder-
sächs. Sagen etc. No. 260,2 und Anm. dazu. Müllenhoff, Sagen etc. aus
Schlesw.-Holst., S. 385. Doch scheint es nicht ausgeschlossen, dass auch
in allen diesen Fällen die früher behandelte Anschauung von der be-
fruchtenden und segnenden Kraft des Fusses mithineinspielt.*)
Noch andere Sitten und Gebräuche weisen auf eine dem Fusse bei-
gelegte besondere Würde oder auf eine mit der Berührung des Fusses
verbundene besondere Demütigung. Die Palau-Insulaner reiben sich mit
Hand und Fuss des zu Grüssenden das Gesicht: Ratzel a. a. 0. II, S. 200.
In Tahiti durfte man nicht mit den Füssen gegen den Marai (Empfangs-
halle, Tempel) gekehrt schlafen: Ebda. II, S. 213. Der Fusskuss ist ein
bekanntes Symbol tiefster Verehrung. Kaiser Diocletian verlangte ihn so
gut wie die eiserne Petrusstatue in Rom und der Papst. An das Symbol
der Fusswaschung braucht bloss erinnert zu werden.
Die Kraft des Fusses ist nun auch hier auf den Schuh übergegangen,
der dadurch in manchen Fällen zum Zeichen der Herrschaft, der Würde,
des Ranges u. s. w. geworden ist.
Mächtige Könige sandten geringeren ihre Schuhe zu, welche diese zum
Zeichen der Unterwerfung tragen mussten. Von dem norwegischen Olaus
Magnus wird berichtet: Murecardo regi Hiberniae misit calceamenta sua,
praecipiens ei, ut super humeros suos in die natalis Domini per medium
domus suae portaret, in conspectu nuntiorum ejus, ut inde intelligeret, se
subjectum Magno regi esse: Grimm, Dtsche Rechtsaltert. S. 156. An die
Umkehrung des richtigen Verhältnisses im Pantoffel gebietender Ehefrauen
erinnert Weinhold, Dtsche Frauen im M. A. I2, 372. Bis nach Damaskus
hin reicht dies Verhältnis, wo eine Redensart lautet: „Meine Grossmutter
ist nicht gekommen, sondern sie hat einen ihrer Pantoffeln geschickt (als
Symbol, dass sie ihren Einfiuss dennoch geltend machen wolle): Socin,
Arabische Sprüche und Redensarten, Progr. v. Tübingen, 1878, S. 15 (198).
In der altnordischen Sage heisst Skirnir Freys Schuhknecht: Grimm, D. M.4
I, 278. In Gudrûnarkvida I, 9 klagt Herborg, Hunenlands Königin: „Da
1) In eigentümlicher Weise sind zwei Gebräuche vereinigt in Landsberg a. W. Hier
trägt die Braut Pimpernell, Salz und Dill im Schuh, hält während der Trauung den Fuss
über den des Mannes und spricht: „Ich trete auf Piinpernelle, Salz und Dille; wenn ich
rede, bist du stille." Dann bekommt sie die Herrschaft über den Mann: Ztschr. d. Ver.
f. Volkskunde, I, S. 183.
Der Schuh im Volksglauben.
175
musste ich den Schmuck bereiten und die Schuhe binden der Gattin des
Herzogs jeden Morgen." So liessen sich auch bei den Israeliten Vornehme
durch ihre Sklaven die Sandalen festbinden, während Schüler es sich zur
Ehre rechneten, dies Geschäft an ihren Lehrern vornehmen zu dürfen:
Herzog, Real-Eneyldopädie f. protest. Theol. VII, S. 729.
Das erste Anlegen der Schuhe bei Fürstenkindern ist mitunter ein
besonders feierlicher Akt. Die jungen Inka-Prinzen wurden erst nach
Ablegung einer dreissigtägigen Prüfung als wahre „Söhne der Sonne"
anerkannt. Die Schwestern und Mütter der jungen Ritter legten denselben
zum Zeichen ihres errungenen Standes Schuhe an: Wuttke, Gesch. d.
Heidentums I, S. 324. Als im Jahre 1886 der Madrider Hofschuhmacher
für König Alfons XIII das erste Paar Schuhe herstellte, musste er im
Auftrage der Königin Christine zugleich auch 300 Paare für arme Kinder
verfertigen. Die Schuhe des Königs wurden, bevor er sie anlegte, einer
alten Sitte gemäss mit Weihwasser besprengt, damit der Lebensweg des
Pürsten gesegnet sei: Köln. Zeitg. v. 27. Aug. 1886.
Die ersten Schuhe eines Kindes verlangen überhaupt allerlei Rück-
sichten. In Halberstadt darf man, wenn man sie kauft, nichts abhandeln:
Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen S. 459 (440). Ebenso nicht in der
hessischen Wetterau: Wolf, Beitr. I, S. 207 (33), wo man dem Kinde die
ersten Schuhe auch nicht anmessen darf: Ebda. S. 208 (34). In der Mark
Brandenburg werden die ersten Kinderschuhe aufbewahrt, weil sonst das
Kind nicht alt werden würde: Ztschr. d. Ver. f. Volkskde. I, S. 184.
Nach französischem Aberglauben soll man sie aus Wolfsfell machen:
Liebrecht, Gervas. v. Tilb. S. 244.
Das Schuhtragen ist mitunter ein Recht besonderer Klassen oder Per-
sonen. Una, der Feldherr des ägyptischen Königs Pepi (der 2795 v. Chr.
zu regieren begonnen haben soll) erhielt für seine Verdienste die Erlaubnis
im königlichen Palaste und selbst in Gegenwart des Königs seine Sandalen
nicht abzulegen: Justi, Gesch. d. oriental. Völker im Altert. S. 52. In
Abessinien trägt nur die Geistlichkeit Schuhe: Rohlfs, Meine Mission nach
Abessinien, S. 243. Als Rohlfs vom Negus empfangen wurde, standen dem
Etschege, dem höchsten Geistlichen, hochschnablige Schuhe zur Seite.
Ebda. S. 211. Die Unterthanen des Häuptlings von Bango in Angola sind
in eine Anzahl Klassen eingeteilt. Die höchste freie Klasse sind die Rat-
geber; die niedrigsten Freien sind die Lastträger. Die nächste höhere
Klasse hat das Recht Schuhe zu tragen und bezahlt den Häuptling dafür;
die Soldaten zahlen dafür, dass sie dienen dürfen, denn so dürfen sie nicht
als Lastträger benutzt werden. Sie zerfallen auch in grosse und kleine
Herren, und obgleich kohlschwarz, nennen sie sich selbst die Weissen und
diejenigen, welche keine Schuhe tragen dürfen, die Schwarzen: Livingstone,
Missionsreisen und Forschungen in Südafrika (übers, v. Lotze), II, S. 58.
176
Sartori:
Die Serben haben ein Sprichwort: Wer sich zuerst beschuht, der befiehlt
auch: Karadschitsch, Volksmärchen d. Serben, S. 333.
Nicht selten ist der Schuh in eigentümlicher Form oder Farbe Kenn-
zeichen für besondere Personen, Gesellschaftsklassen, Vereinigungen u. dgl.
In Konstantinopel sind die Pantoffeln bei den Türkinnen gelb, bei den
Armenierinnen rot, bei den Griechinnen schwarz und bei den Jüdinnen
blau: v. Moltke, Briefe a. d. Türkei, S. 36. In Tanger pflegen viele
Araber weisse Strümpfe zu tragen und die allgemein üblichen gelben
Lederpantoffeln. Schuhe oder Stiefel wird ein konservativer Marokkaner
nie tragen: Lenz, Timbuktu, I, S. 28. In Mardin in Kurdistan hört man
die Redensart: Der mit den groben Sandalen (der Kurde) müht sich ab,
und der mit den Stiefeln (der Aga) geniesst: Socin a. a. O. S. 1. Und:
Der Polizist hat an seinen Schuhen Schnüre (diese Leute tragen euro-
päische Schuhe), aber seine Monatslöhnung besteht aus Kuhbohnen: Ebda.
S. 19. Bei den Indianern der Sierra Nevada de Santa Marta besitzen nur
die Kaziken Hemd und Schuhe, und die Frauen der Kaziken eine Art
Pantoffeln als Unterscheidungszeichen gegenüber den andern Indianerinnen:
Globus, 53, S. 235. Bei den Römern war die solea, Ledersandale, eine
Prärogative Tracht der Freien: Schiller, Rom. Altert. S. 806. Alle Ma-
gistrate, die im Senate waren, trugen den roten Senatorenschuh (mulleus
oder calceus senatorius), auf dem bei den Patriziern die lunula hinzukam
(calceus patricius): Ebda. S. 517. Vgl. Herzog, Rom. Staatsverfassung,
I, S. 901, Anm. 1. Zu erinnern ist hier auch an die Sandalen des Aegeus,
die er samt seinem Schwert unter dem Felsen verbarg und an denen er
später seinen Sohn Theseus erkannte: Apollod. III, 15. In Deutschland
schrieb im Mittelalter die Mode und zuweilen auch das Gesetz den leichten
Weibern gelbes Gebände oder ein gelbes Fähnlein auf den Schuhen vor:
Weinhold, Dtsclie Frauen im M. A. S. 291 (II2, 24). Ygl. Rochholz, Dtscher
Glaube u. Brauch etc. II, S. 284. Zingerle, Sitten etc. d. Tiroler Yolkes S. 208
(1675). In dem „Westersteeder Kaspelleed" (Ammerland im Grossherzogt.
Oldenburg) werden die Einwohner etlicher Dörfer durch ihre Schuhtracht
folgendermassen nach ihrem Wohlstande und ihrem Ansehen charakterisiert:
„De Halsbekker hewwt de hogen Schoh';
De Eggeloger snöret se to."
„De Fikenholter hewwt de Snippern-Schoh,
Damit treet se na de Westerstede!' Karken to."
„De Torsholter stickt ähre Stavvelken ut:
Det weerd' de Ho wickers seiden froh."
Firmenich, Germaniens Völkerstimmen, I, S, 226 f. Ygl. d. Anm. dazu.
In einer Stadt an der unteren Diemel in Kurhessen wird bei besonderen
Gelegenheiten den Gästen durch einen Jungen, der ehemals durch einen
weissen Schuh kenntlich war und deshalb noch jetzt der Wittfoot heisst,
eingeschenkt: Ebda. I, S. 314, Anm. In einer Sage bei Wolf, Dtsche
Der Schuh im Volksglauben.
177
Märchen und Sagen No. 288 lässt Kaiser Karl ein Gebot ausgehen, „class
von da ab ein jeglicher frei Besenreis möge schneiden zu ewigen Tagen,
nur müsse er tragen einen Holzsehuh und einen Schlappschuh oder
Schluffen."
Auch als Wappen kommt der Schuh mitunter vor. Der Schuhmacher-
zuuft in Brüssel soll ihn Kaiser Karl verliehen haben: Wolf a. a. 0. S. '290.
Das Wappen von Schwandorf führt neben den Löwen und Rauten der
Wittelsbacher zugleich einen schwarzen Stiefel: Rochholz, Aargaus. IT,
S. 120. Auch an den Bundschuh, das Symbol des Aufruhrs im Bauernkrieg,
ist zu erinnern: Ygl. Grimm, D. Wbch. II, S. 522 f. /
Hier und da in Deutschland erscheint der Schuh als feststehende
Abgabe an bestimmte Personen. Dem Kölner Domkapitel hatten die sechs
nächstgelegenen Benediktinerklöster am zehnten November jedes Jahres
42 Paar Mettenstiefel für die sechs Würdenträger zu liefern, die für jedes
Paar eine Flasche Wein und einen Groschen gaben: Montanus, Vorzeit
der Länder Cleve, Mark etc. II, S. 35. „Das Paar Filzstiefel, womit das
Kloster Heilsbrunn dem ersten Richter des Blutbannes vielleicht ein sehr
willkommenes Geschenk machte, ward und blieb Symbol dieses'Blutbannes
für alle Nachfolger, sie mochten Filzstiefel brauchen oder nicht": Diimge,
Symbolik german. Völker in einigen Rechtsgewolmheiten, S. 35. Nach den
Statuten der Totengilde zu Klein-Wesenberg bei Lübeck erhält die Wirtin
für ihre Bemühungen am Gildetage ein Paar neue lederne Pantoffeln. In
der Eifel dingte man früher die Schäfer um einen halben Stiefel, später
um Korn: Schmitz, Sitten u. Sagen des Eifler Volkes, I, S. 67. Manchmal
knüpft sich an die Abgabe eine ätiologische Sage, in der es sich meist um
die Zurechtführung Verirrter handelt. Die Nachtwächter in Waren bekamen
früher für tägliches Läuten von 83/¿ bis 9 Uhr abends vom Gute Torgelow
jährlich einige Scheffel Korn und einen Stiefel, weil ein verirrter Herr
von Behr einst durch die Glocke der St. Georgenkirche zu Waren sich
wieder zurechtgefunden hatte: Bartsch, Mecklenb. Sagen I, S. 386. Vgl.
S. 389. Eine ähnliche Sage aus Hildesheim, wo der Läuter jährlich einen
Schuh und einen Thaler erhält, bei Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen
S. 20. Seifart, Sagen etc. aus Hildesheim II, S. 6. Der Prediger in Stralau
bei Berlin bekam jährlich einen Stiefel, angeblich, damit er den zwischen
Kirche und Dorf gelegenen Graben durchschreiten könne. Der Prediger
in Käthen in der Altmark erhält ebenfalls alljährlich einen Schuh: Kuhn,
Märk. Sagen S. 337. — Thietmar von Merseburg erzählt II, 17, wie Kaiser
Otto, einem Traume folgend, das erledigte Bistum Regensburg dem geben
will, der ihm dort zuerst begegnet. Bei Tagesanbruch kommt er zum
Kloster des hl. Emmeran, wo ihm ein Mönch Namens Gunther öffnet.
Der Kaiser redet ihn an: Quid mihi, frater, pro adipiscendo episcopatus
honore vis dare? Der Mönch antwortet lächelnd: Calceos meos. Er wird
Bischof.
178
Sartori:
In eigentümlicher Weise dienen in China die Stiefel als Ehrenzeichen.
Als 1861 der Präfekt von Tientsin diese Stadt verliess, bat das in Haufen
ihn vor das Thor Begleitende Yolk beim Weichbilde nm seine Schuhe,
die im Triumphe zurückgebracht und im Tempel des Stadtgottes aufgehängt
wurden: Ratzel, Völkerkunde III, S. 611. In der Stadt Han tschuan sahen
die Missionare Hue und Grabet, wie einem in Ungnade gefallenen und
anderswohin versetzten Mandarinen von seinen ihn verehrenden bisherigen
Unterthanen in feierlicher Form die Stiefel ausgezogen und neue angezogen
wurden. Die alten Stiefel wurden unter dem Thorgewölbe aufgehängt.
„Der eigentümliche Brauch, einem Mandarinen die Stiefel auszuziehen,
wenn er eine Gegend oder eine Stadt verlässt, ist in China allgemein und
sehr alt. — Fast in allen Städten hängt unter den Thoren eine Menge
Stiefel, meist dick mit Staub bedeckt und vor Alter schon in dürftigem
Zustande; sie sind aber ein Schmuck, auf den die Stadt hohen Wert legt.
Man kann daraus gewissermassen abnehmen, ob recht viel wackere Ober-
beamte in der Stadt gewesen sind." Hue und Gäbet, Wanderungen durch
das chinesische Reich, bearb. v. K. Andree, S. 205.
Wie der Schuh ein Zeichen der Herrschaft, der Hoheit und des
Ranges ist, so ist andrerseits die Entblössung des Fusses, die Ablegung
des Schuhes ein Zeichen der Ehrfurcht, Demut und Niedrigkeit.1)
An heiligen Stätten, in der Nähe der Gottheit zieht man die Schuhe
aus. „Tritt nicht herzu", spricht der Herr zu Moses, „ziehe deine Schuhe
aus von deinen Füssen, denn die Stätte, darauf du stehest, ist heilig":
Exod. 3,5; vgl. Josua 5,15. Die israelitischen Priester waren in ihrer
Amtsthätigkeit an den Füssen unbekleidet. „Ton Indien bis nach Rom,
bei Pythagoräern und Muhammedanern finden wir die avvjcoòrjoia religiosa;
nur die ägyptischen Priester gingen nicht barfuss, sondern trugen Papyrus-
sandalen, vnoò^fxaxa ßvßliva" : Herzog, Realencyklopädie VII, S. 718. Das
Heiligtum der Athene im nachhomerischen Troja kehrten Jungfrauen mit
nackten Füssen : Roscher, Lexik. I, S. 138. Den alten Bannforst „Kammer-
forst" bei Trier durfte niemand mit „gesteppten Leimein" (genagelten
Schuhen) betreten: Grimm, D. M.4 IH, S. 80.
In der Nähe Vornehmer waltet der gleiche Gebrauch. Ein Haus mit
den Sandalen an den Füssen zu betreten oder vor einem Höhergestellten
in solcher Weise zu erscheinen würde bei den Annamiten als ein grober
Verstoss gegen gute Sitte gelten: Globus, 58, S. 264. Die Makalaka in
Südafrika legen bei Annäherung an Fremde voll Achtung Speere, Schild
1) Es findet sich allerdings auch die Sitte, dass die Entblössung des Fusses geradezu
als unanständig gilt: Peschel, Völkerkunde, S. 176. Eine junge Mordwinin z. B. erscheint
nie und nimmer vor ihrem Schwiegervater oder einem andern bejahrten Yerwandten barfuss
oder ohne Kopftuch. Anlässlich des so entwickelten Anstandsgefühls legen die Mordwinen
selbst zur Nacht ihre Fussbekleidung nicht ab und schlafen in Felle eingehüllt und mit
hohen Stiefeln angethan: Ausland, 1884.
Der Schuh im Volksglauben.
179
und Sandalen in einiger Entfernung ab: Ratzel, Völkerkunde, I, S. 370.
Die britischen Beamten in Indien fordern aufs strengste von jedem Ein-
geborenen, welcher Kaste er auch angehöre, dass er ihr Arbeitszimmer nur
nach Ablegung seiner Schuhe betrete: Peschel, Völkerkunde, S. 176.
Mitunter beschränkt sich die Sitte auf gewisse Stände. Plutarch er-
wähnt eine ägyptische Sitte, nach welcher es den Weibern nicht erlaubt
gewesen sein soll, Schuhe zu tragen. In Fez und Marokko müssen die
Juden ausserhalb der Mellah, des Judenquartiers, stets barfuss gehen.
Sie tragen dann die Pantoffeln unter dem Arme oder im Gewände ver-
borgen: Lenz, Timbuktu, I, S. 102, 140, 238.
Auch zum Zeichen der Unterwerfung entschuht man sich. In der
Wilkina Saga heisst es cap. 291 (y. d. Hagen, Heldensagen II, S. 251):
„Damit zog der Jarl seine Schuhe ab und legte alle seine Rüstung von
sich, und dasselbe thaten alle Häuptlinge der Reussen und gingen barfuss
und wehrlos hinaus vor die Burg und zeigten solchergestalt, dass sie über-
wunden wären." Vgl. auch Grimm, Dtsche Rechtsaltert. S. 156.
So werden auch vogelfreie Verbannte entschuht. Bei Grimm, Dtsche
Sagen II, IsTo. 384 weissagt ein Einsiedler von Theoderichs Tode: . . „gestern
am Tage um die neunte Stunde sah ich, dass er entgiirtet und entschuht
mit gebundenen Händen ... in den Schlund des benachbarten Vulkans
gestürzt wurde". Glimm vergleicht dazu Lex Salica tit. 61. Vgl. auch die
Vita S. Liudgeri (Mon. Germ. H. II, p. 418) III, 19, wo ein junger Mensch,
der seinen Bruder erschlagen hat, discalciatus et sine lineo indumento in
exilium missus est.
Überhaupt wird durch Entschuhung symbolisch Verzichtleistung auf
Ghit und Erbe bezeichnet. Grimm, Dtsche Rechtsaltert. S. 156 f. führt aus
einer Urkunde die Worte an: devestitura per caligulam impletam de terra
et virgulam de viridario. Im alten Indien war eine ähnliche Gewohnheit.
Bei Holtzmann, Ind. Sagen II, S. 344 spricht F arata zu seinem Bruder Rama:
„So ziehe, edler Raghawer,
Die goldgestickten Schuhe aus,
Zum Zeichen, dass dein Erbe du,
Die Herrschermacht, mir überträgst.
Und Rama zog die Schuhe aus
Und gab sie ihm." —
Eigentümlich stimmt hierzu eine Stelle des Buches Ruth, 4,7, wo es
heisst: „Es war aber von alters her eine solche Gewohnheit in Israel:
Wenn einer ein Gut nicht beerben noch erkaufen wollte, auf dass allerlei
^ache bestände, so zog er seinen Schuh aus und gab ihn dem andern;
das war das Zeugnis in Israel. Und der Erbe sprach zu Boas: Kaufe du
es, und zog seinen Schuh aus." Damit zu vergleichen ist eine andere
altjüdische Sitte, die uns Deuteron. 25, V. 5—10 berichtet wird. Wenn
ein Israelit sich weigerte, die Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten,
180
Boite :
so konnte ihm diese vor den Ältesten den Schuh ausziehen und ihm ins
Gesicht speien. „Und sein Name soll in Israel heissen des Barfüssers
Haus." Die Schwägerin entkleidete jenen also symbolisch durch diese
Ceremonie der Stellung, die er zu dem verstorbenen Bruder oder zu dem
väterlichen Hause einnahm und erklärte ihn für unwürdig seiner Familie :
Ygl. Keil, Handbuch der bibl. Archäologie, II, S 63.
Ein Zeichen der Yerachtung scheint die Entschuhung in einem serbischen
Liede zu sein, von dem Grimm, Kl. Sehr. Y, S. 170 f. einen Auszug giebt :
Zur stolzen Jelena kommen drei Engel. Sie aber gab nicht Almosen,
sondern warf vom rechten Fuss ihren Schuh: „Sieh da, ihr Engel, wie
gehabt sich euer Gott, dass er nicht ernähren mag seine Leute bei sich
selbst und sie zu mir sendet?" u. s. w.
Endlich deutet das Ablegen der Schuhe auch Trauer an. David ging
den Ölberg hinan und weinete, und sein Haupt war verhüllt, und er ging
barfuss: 2. Sam. 15,30. Und umgekehrt Ezechiel 24, 17: Heimlich magst
du seufzen, aber keine Totenklage führen, sondern du sollst deinen Schmuck
anlegen und deine Schuhe anziehen. Noch jetzt währt bei den streng-
gläubigen Juden die grosse Trauer sieben Tage, und die Leidtragenden
müssen dann ohne Schuhe gehen und dürfen kein Fleisch essen: Andree,
Zur Yolkskunde der Juden, S. 166. Die Asche des Kaisers Augustus
sammelten die vornehmsten Ritter mit aufgelösten Gürteln und entblössten
Füssen: Sueton. Octav. Aug. cap. 100.
Mitunter wird auch bei den Schuhen geschworen: v. d. Hagen, Gesamt-
abenteuer, I, 495: daz hân ich gesworn bî mînen schuon. Ygl. ebda, II,
S. 222, 111 (232, 491): ich will nimmer mer getreten in keinen schuoch unz
an die stunt.
Zum Schluss noch ein paar Redensarten: Ei d* Schuelih stë Einem,
in den Dienst, in die Funktionen treten, die er verlässt. Ei d* Schuelih
scheissm Einem, noch vor dessen Austritt als Nachfolger ins Haus kommen:
Schmeller, Bair. Wbch. II, S. 392. Einem die Schuhe austreten = sich
in dessen Stelle drängen: Sanders, Dtsches Wbch. II, S. 1018.
(Fortsetzung folgt.)
Das Kinderlied vom Herrn you Niniye.
Yon Johannes Bolte.
Unter den von fleissigen Sammlern aufgezeichneten Spielliedern unsrer
Kinder befindet sich mehr als eins, dessen Sinn rätselhaft und dunkel
bleibt. Wir wollen an einem solchen mit Hilfe älterer Aufzeichnungen
versuchen, aus dem scheinbar sinnlosen Texte eine Bedeutung auszumitteln.
Das Kinderlied vom Herrn von Ninive.
181
In der schönen Sammlung deutscher Volkslieder aus Böhmen, die
A. Hruschka und W. Toischer 1891 herausgegeben haben, steht S. 446 als
No. 396 zu lesen:
1. Ich bin der Kaiser von Ninive,
Kaiser von Pilatus.
2. Ich will die jüngste Tochter haben.
3. Die jüngste Tochter geben wir nicht.
4. Da schlagen wir die Läden ein.
5. Da habt Ihr die jüngste Tochter hin,
Kaiser von Pilatus.
Ninive und Pilatus sind biblische Namen; man könnte also von dieser
Seite Aufklärung erwarten. Sichrer scheint es jedoch, sich zuerst nach
den in andern Gregenden aufgezeichneten Yarianten umzuthun. Im Erz-
gebirge (Alfred Müller, Volkslieder aus dem Erzgebirge 1883, S. 202)
lautet der Anfang: 'Es kommt ein Mann aus Niniveh, Kaiser vivat lazerus',
und der Schluss:
Was will er mit der Tochter machen?
Er will ihr einen Mann verschaffen.
Ebenso in Königsberg (Frischbier, Preussische Yolksreime 1867, No. 706):
'Es kommt ein Herr aus Ninive, Ci ça Hasenfuss'. — In Wien (Vernaleken
und Branky, Spiele und Reime der Kinder in Österreich 1876, S. 55): 'Es
kommt ein Mann von Ninive, Kaiser von Pilatus'. — In Anhalt (Fiedler,
Volksreime in Anhalt-Dessau 1847, S. 69, 100): 'Es kommt ein Mann aus
Ninafe, Heider Yifilatius'. — Im Yogtland (Dunger, Kinderlieder aus dem
Vogtlande 1874, No. 292): 'Es kommt ein Herr aus Niniveh, Juchheisa
vivilate'. — Ebenso in Chemnitz (Gelbe, Germania 22, 307, No. 175). — In
Mähren (Feifalik, Ztsclir. f. dtsche Mythol. 4, 362): 'Es kommt ein Mann
aus Linafê, Kaiser Wifilatus'. — Ebenso aus Thüringen bei Birlinger, Nimm
mich mit 1871, S. 131, 41 und aus Westfalen bei Woeste, Volksüber-
lieferungen in der Grafschaft Mark 1848, S. 12. — Aus Lüdenscheid und
Apolda (bei Zimmer, Volkstümliche Spiellieder 1879, No. 53b, d): 'Es
kommt ein Herr aus Ninive, Heissa fiffilatus1. — Aus Nordhausen (ebenda
No. 53 a): 'Es kommen zwei Herrn aus Ninive, Samarikolade'. Hier soll
die erste Tochter ins Kloster gebracht werden; ebenso in der Berliner
Lesart bei Zimmer, No. 53e: 'Es kommt ein Herr aus Württemberg, Juch-
heissa fiffalatus' und in der Glatzer Aufzeichnung (Viertel] alirsschr. f. d.
Gresch. von Glatz 9, 54. 1889): 'Es kommt ein Mann aus Ninive, Fliffla
fliffla fleh'. — Auch in einer Kölner Variante (Firmenich, Germaniens
^ ölkerstimmen 1, 460) ist von der Einkleiduug einer Nonne die Rede:
'He kummen de Hähre vun Nunnifäär, Heiza Piffilatus', während in einem
ähnlich beginnenden Iserlohner Texte (ebenda 3, 181): 'Hir kuemt de
Hären ut Nonafi, Hetsa Fifilatsius' die Tochter zur Braut des Königs von
England gemacht werden soll.
182
Boite:
Anderwärts ist der Ortsname der ersten Zeile noch weiter entstellt
oder umgedeutet. Am Niederrhein soll nach Kretsclimer-Zuccalmaglio
(Deutsche Volkslieder 1840 2, No. 313) gesungen werden: 'Es kommen
drei Herren aus Himmelreich, Juchheissa, fröhliche Dinge'. — In Schleswig
(Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder 1845, S. 486. Handelmann, Volks-
und Kinderspiele 1874, No. 84) heisst es: 'Da kommen zwei Herren aus
Lünefeld, Juchheisasa filadi' oder (Handelmann a. a. 0.): 'Es ist ein
Herr ins Dorf gekommen; heiza fiza fumm'. In der zweiten Fassung ist
die jüngste Tochter wiederum dem Kloster bestimmt. — Bei Augsburg
singt man (Birlinger S. 126): 'Es kommt a Frau von Ninive, Ade, ade, ade'.
— In Böhmen (Hruschka-Toischer S. 445, 395): 'Quam eine Frau aus
Friedeland, Adje, adje, adje'. — Dieselbe Kehrzeile findet sich in einer
Reihe von Texten, deren erste Zeile von einem Pantoffel handelt: 'Es
kommt ein Herr mit einem Pantoffel' (E. Meier, Kinder-Reiine aus
Schwaben 1851, No. 381. Rochholz, Alemannisches Kinderlied 1857, S. 379)
oder: 'Ich kam mit einem Pantoffel herein' (Wegener, Volkstümliche Lieder
aus Norddeutschland 1879, S. 292, 1028. Zimmer No. 53 c) oder gar: 'Es
kamen zwei Pantoffeln herein, Ade, ade, ade' (Eskuche, Hessische Kinder-
liedchen 1891, No. 213).
Bisweilen sind auch die ersten Zeilen ganz fortgefallen, so in einer
hessischen Aufzeichnung (Eskuche No. 219): 'Wir wollten gern die erste
Tochter, Heisa Fifilatus' und in einem oldenburgischen Texte (Aus dem
Kinderleben 1851, S. 36): 'Ich wollt so gern die erste Tochter, Heissa fifilasius'.
Dass dasselbe Spiel bei den Slaven Böhmens vorkomme, bemerkt
Feifalik (Ztschr. f. d. Mythol. 4, 363). Einen niederländischen Text bringt
J. van Vloten (Nederlandsche Baker- en Kinderrijmen. 3. Druck 1874,
S. 139, 60): 'Daar kwam eens een kanonnikje an, Van eifrank, van olie-
frank, van oliekanonnikje'; vgl. G. Kalff, Het lied 1884 S. 534 und Gittée,
Volkskunde 3, 39; 4, 123 (Gent 1890—91). Andres wie das englische Lied
bei Halliwell (Nursery Rhymes of England 1844, No. 232: 'We are three
brethnen, out of Spain') oder die dänischen Spiellieder bei S. Grundtvig
(Gamie danske Folkeminder 1, 26; 2, 142; 299; 3, 183. Antiquarisk Tidskrift
1849—51, 310) steht zu entfernt, um es noch mit Nutzen zur Vergleichung
heranziehen zu können. Soviel haben wir gesehen, dass zwei verschiedene
Dinge von den in zwei Reihen gegen einander marschierenden Kindern
dargestellt werden, entweder eine Brautwerbung, bei der der eine Chor-
führer den Freiwerber, der andre den Brautvater spielt, oder die Abholung
einer dem Kloster geweihten Tochter, aiso einer Himmelsbraut, aus dem
Schosse der Familie. Der so mannigfach variierte Anfangsvers ist freilich
noch nicht erklärt; doch bleiben uns noch einige bisher ausser Acht ge-
lassene Varianten übrig.
Aus Schweden hatArwidsson (SvenskaFornsânger 3, 188. 1842) folgendes
von denMädchen undBurschen abwechselnd gesungene Tanzlied veröffentlicht:
Das Kindeiiied vom Herrn von Ninive.
183
1. Här komma de stolta Nunnor, Herr Domine,
Frân de gröna Lunder. Cito, cito, citissime, Herr Domine.
2. Hvad vilja de stolta Nunnor?
3. De vilja med Biskopen tala.
4. Biskopen är ej hemma.
5. Hvar mande han da vara?
6. Han är i sin Skrifkammar.
7. Hur lyder det han skrifver?
8. Detta Brefvet lyder sä,
Att Ungersven skall Jungfrun fa.
(oder: Munken skall tili Nunnan gâ).
Mit diesem Liede vergleiche man nun einmal, was die Herzogin
Elisabeth Charlotte von Orleans im Jahre 1709 an ihre Halbschwester
schreibt (Briefe hsg. von Holland 2, 68. 1871): 'Ich danke Euch, mir die
zeittungen geschickt zu haben; sie haben mich recht lachen machen, aber
es ist kein wort war, wass sie hir vom hoff sagen. Es mögt aber woll
mitt gehen, alss wie man in dem spilgen singt:
Von da kommen wir gecken undt nonen her,
herr domine,
zu endt vom spiel nehmblich:
Undt wass nicht ist, kan werden war,
Sede sede sánete, quid, nostre domine?'
Und neun Jahre später, am 7. Juli 1718, schreibt dieselbe pfälzische
Fürstin, deren Briefe auch für die deutsche Volkskunde so manches Be-
achtenswerte bieten1), (Briefe 3, 311. 1874): 'Ich war heütte morgen ahn
der lügen geblieben, so ich doch von hertzen wünschen mogte, dass war
Wehre, nehmblich dass die printzes von Wallis den könig [Georg I. von
England] gesehen. Hirauff wolte ich singen wie in dem. endt vom spill:
Da kommen wir gecken und nonen her,
herr domine, herr domine!
Undt wass nicht ist, mag werden war,
Cede, cede, sánete, quit, nostre domine.
í)ass ist woll ein narisch spiel. Ich weiss nicht, ob man es noch in
Teütschlandt spilt.'
Man sieht, die Herzogin citiert den Anfangsvers des Spiels fast genau
so, wie er noch heut in Schweden gesungen wird, wenn auch der von ihr
angeführte Schluss abweicht. Und ich glaube nicht fehlzugehen mit der
Behauptung, dass in diesen beiden Fassungen uns der echte, ursprüngliche
Anfang des Liedes vom Herrn oder von der Frau von Ninive, Linafe,
Lünefeld, Württemberg, Friedeland u. s. w erhalten ist. Diese Namens-
1) Vgl. Bolte, Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte (Alemannia 15,
01'—62). 1694 schreibt sie (Briefe 1,27): 'So alt alss ich auch jetzt bin, gestehe ich doch,
dass es mir nicht leydt sein solte, noch ein mahl spieiger undt sprichwörtter undt historien
zu spiellen, wie wir in unssern jungen jähren spilten'.
184
Wossidlo:
formen sind sämtlich entstellt aus den Worten 'Nonnen daher', an die ja
das kölnische 'Nunnifäär' und das holländische 'Kanonnikje' noch deut-
licher anklingen.
Da die pfälzische Prinzess Elisabeth Charlotte 1652 geboren ist und
1671 an den französischen Hof kam, ist ihr Zeugnis über das Kinderspiel
in die sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts zu setzen. - Aus derselben
Zeit vermag ich schliesslich noch ein andres Zeugnis beizubringen. 1663
zählt ein Freund Rists, der Hamburger Conrad von Hövel, auch Candorin
genannt, in seinem Harsdörffers Gesprächsspielen nachgeahmten 'Eren-,
Danz-, Singe-Schauspile-Entwurf'3, 37 folgende Gesellschaftsspiele auf,
die uns zumeist schon aus dem berühmten Spielverzeichnis in Fischarts
Gargantua bekannt sind: 'Königs Spilen, Schuhe verstäkken, Ballen suchen,
Ring aus dem Munde nämen, Blindekühe laufen, Dritten slagen, Häsichen
jagen, Küssen umtragen, Pfand-gäben, Hi komen wir käkken Nonnen her,
Herr Domine. Morgen wollen wir Haberen mähen, Kätgen las dich nicht
erwischen, Sähet euch nicht um, mein Kniitgen gäht um. Hei, wisch ein-
malil herum. Adam hatte sieben Söhne u. s. f.' Ob Hövel mit seiner
Lesart 'wir käkken Nonnen' den Vorzug vor den 'Gecken und Nonnen' der
Herzogin verdient, dürfte nicht so leicht auszumachen sein.
Berlin.
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
Yon R. Wossidlo.
Der Reichtum der niederdeutschen Mundarten an Synonymen ist sehr
viel grösser, als die vorhandenen Idiotika ahnen lassen; unser mecklen-
burgisches Landvolk wenigstens, dessen Empfinden und Denken zu er-
forschen ich mir zur Lebensaufgabe setzte, hat für manche Begriffsgruppen
einen ganz erstaunlichen Vorrat treffender Bezeichnungen, der vielfach über
die Gesamtheit dessen hinausgeht, was aus allen anderen niederdeutschen
Dialekten bisher zusammengebracht worden ist.
Yon ganz besonderem Reize schien es mir von Anfang an, zu be-
obachten, wie unser Yolk vom Sterben redet; wie überall der sinnende
Geist der Sprache den Tod mit einem Gewebe tiefer, ahnungsvoller Poesie
1) Exemplar in Wolfenbüttel. In der Orthographie scheint Hövel sich Zesen zum
Vorbilde zu nehmen. Über sein Leben vgl. A. Fahne, Die Herren und Freiherren von
Hövel 1, 87 (1860).
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
185
umkleidet hat, so sah ich mich auch in unserer Mundart bei näherem
Eindringen in dies Gebiet durch immer neue Schönheiten überrascht.
Ich bin überzeugt, dass das, was ich hier gebe, — und ich bitte
bemerken zu dürfen, dass alles, was ich veröffentliche, soweit nicht andere
Quellen angegeben sind, ausnahmslos von mir selbst aus dem Volksmunde
gesammelt worden ist — den Besitz unseres Yolkes bei weitem nicht
erschöpft; doch ist ja ein Sammler, der Veröffentlichungen scheut, weil er
die Lückenhaftigkeit seines Stoffes klar erkennt, in Gefahr, seine Mühe
fruchtlos zu vergeuden. Hinweise auf ähnliche Ausdrücke in anderen
niederdeutschen Mundarten (die mir zahlreich zu Gebote standen) unterliess
ich, um den Umfang meiner Zusammenstellung nicht allzusehr anwachsen
zu lassen; für eine gesamt-niederdeutsche Synonymik ist ohnehin ja die Zeit
noch nicht gekommen.
Aberglaube und Gebräuche sind hier nicht herangezogen. Die
Ordnung des Stoffes bot grosse Schwierigkeiten; um nicht zusammen-
gehörige Bilder zu trennen, liess ich die Ausdrücke für „bald sterben"
und „gestorben sein" durcheinander gehen.
I. Sprichwörter.
De dod söcht ne ursak.
Enen dod is man gott man schüllig.
Enen dod kann de minsch man starben.
Yör den dod is ken krut wussen.
Mit dem dode ys quadt bütent. (Gryse wedewenspegel.)
Mit'n dod is ken god kirschenplücken.
Wenn de wind ut'n nors rut will, helpt ken toknipen to.
De ollen rnöten starben un de jungen känen't ok.
De doden miise biten nich. (Gryse Laien-Bibel.)
De hunn, de dod sünd, biten nich mihr.
AVer dod is, lett sin kiken, auch mit dem Zusatz: un sin schiten ok.
Den enen sin dod is den annern sin brod.
Wenn de oss slacht is, süht man, wo väl talg he het (Mi's Wtbch.).
Wenn de wies dod is, swörmen de immen öwerall.
Umsiinst is de dod, un de ok nich, köster un prester willen ok ehr deil.
Gott lässt keinen tischler verderben, lieber ein altes weib absterben.
Wenn den buern ne fru starwt, dat 's so god, as wenn lie sik an'n
dränappel (Ellbogenknochen) stött.
Auch: Wenn de fru dod bliwt, kümmt de mann eil koppküssen höger
to îiggen (durch die Mitgift der neuen Frau).
Und: AVenn de frugens god störken un de pir god stahn, denn kann
de buer rik warden.
A'gl.: Ach gott, ach gott, wat büst vorn gott, nimmst ini de koh un
lettst mi dat wiw.
186
Wossidlo:
Wenn ik dod bün, kannst mi winkollschal yör'n nors geiten.
Wat is de all lang dod, de vorn johr storbeii is.
Wenn rugfot (ein Stück Yieh) starwt, sali glattfot (der Mensch) nich
truern.
Ik möcht, dat ik dod wir, un leg, wo väl brod wir, un wir mit pann-
koken todeckt un wiird von'n jungen cavalier wedder up weckt.
II. Todeskampf. Laiiges Leben. Genesung.
De het all witt uhren.
De plückt am beddelaken. (Gryse.)
De rangt mit'n dod.
He wringelt em noch.
De möt noch ihrst büssen.
Den het de düwel noch in hänn.
De kann nich leben un nich starben.
De kann nich to gnad kamen.
De kann nich henkamen, wo lie hen will.
De seggt ok, mach end, o herr, mach ende!
Den will de seel nich dörch'n nors.
De kann nich afmucken, de liggt up hohnerfeddern.
Den hebben se wedder uprohrt: durch lautes Klagen am Sterben ge-
hindert.
Yon Langlebigen:
De möt'n dokter hebben, ahn dokter starwt de nich.
De het'n kattenleben, de is mit de katten in 't recht.
De krepiert ahn holt äxnich.
Lewt de noch? denn lewt he wol as de ewig jud.
Alte Leute klagen:
WTer weit, wo lang ik noch uppe ird, up gotts irdbodden Spannern,
rümkrupen, rümspalken, rümspaddeln, rümschurren, rümkrückhacken möt.
Bei der Genesung von schwerer Krankheit:
Dat lebenslicht seet all up'n glär, he het noch ens frisch anstickt.
Ik hef 'n frischen akkord makt.
Ik hef up't frisch wedder annahmen (auch bei Reuter).
Ik hef noch ens frisch anfat't.
Ik hef den dod 'n schäpel hawer toseggt.
Ik bün den dod entlopen, hef mi noch ens strüwt, hef sträwkatt spält,
hef em 'n knippsclien schlagen, bün em noch ens öwer worden.
De het den dod wider schickt.
Ik hef de beddstäd noch ens bettorückt.
De is noch ens wedder dörchgrönt, utgrönt, upgrönt, het noch ens
dörchhahlt, dörchbraken, dörohwirkt, is noch ens dörchschrapt.
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
187
De het sik dörchquient, dörchgrast, dörchfreten.
De het utsükt.
De het sik wedder begrawwelt, uprappelt.
Unkrut vergeiht nich, so kolt is de winter nich.
För enen spannt de düwel nich an.
III. Grab, Sarg, Kirchhof, Bestattung.
De geiht an grawes burd.
Ik gali all an de grow.
De steiht ok all mit enen fot in't graww.
Dat ward ok bald ne kul vull, ne grow vull, ne hand vull ird, dor
helpt nix gegen.
De is dor hen, wo all so väl sünd.
De kiimmt bald na de lang reihg, na de grot wisch, na kösterskamp,
snitt ellern weden.
De is na Kreuzdudelwisch kamen, sali strük trecken un pahl rammen.
De kümmt bald achter'n tun, achter de muer, na 'n musklewer.
Kannst di nahst rauhgen, wenn du hinnern tun liggst.
De geiht ok bald na de nachtkoppel, na de fettkoppel, na de dodenkoppel.
De het all lang sand äten.
Wenn se mi man unner de wrausen packten.
De liggt all lang unner de wrausen, unner de plaggen.
Öwer den wasst all lang grass, den is 't grass all up'n kopp wussen.
Den hebben se henbröcht, wo de mullworms em uppe näs danzen.
De kümmt ok bald na Madenhof.
Den hebben de maden all upfräten.
De is nu pürrickfoder.
De is wol all vermulscht.
De het all lang bi Irdmann (vadder Irdmann) slapen.
Se wiren ihrst bi Yadder Irdmann: (Stillfried Wilhelmshäger kösterlüd
II, 254).
De ett mit Kulmann und Irdmann.
Ik fri nu bald Irdmann: hörte ich von einer alten Witwe.
De kümmt ok bald na Irdmannsdörp.
Der flache Sarg heisst: näsendeckel, näsenkniper, näsenstüper, näsen-
quetscher, näsendrücker (Reuter), näsenklemmer, näsenstuker.
De dod steiht up'n prahl: wenn die Leiche öffentlich ausgestellt ist.
In min jungen johren, ja kinner kregen wol 'n kränz, öwer oll lüd,
wer dacht doran (sagte mir ein Alter), öwer dat sali jo nu all grotherrsch sin.
Ik hef all väl doden graben laten.
Fiw kinner hef ik graben.
Den hebben se still wegbröcht, ken köster, ken prester, ken gor nix.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894
13
188
Wossidlo:
Ik hiir ken likenkass an: ik legg mi np 't stinken.
Den sin sarg is all bestellt.
Den möt de dî'scher ok bald 'n hus bugen, 'n fleischtuppen, 'n fleisch-
kasten, 'n luskasten raaken.
Den möt de discher ok dat höltern naclitkamsol anmäten.
Den möt de discher bald dat maat nehmen.
Den ward de discher bald sin letzt wahnung anwisen.
De krigt bald wat eigens, de krigt bald sin eigen hus, wo de näs an
de fast stött.
De krigt bald 'n deckel uppe näs.
Rauhgen kannst di, wenn de näs an 'n palli sitt.
De krigt ok bald ne stuw ahn finster.
Den möt de kulengräwer ok maat nehmen.
De makt den kulengräwer ok bald de arbeit.
Den het de kulengräwer all up de list, de is all upschreben.
De kann sik ok inschriben laten.
Den ward he sik bald inpäkeln.
De kulengräwer makt all wedder 'n fleischlock, ne schinnerkul.
För den makt de köster ok bald de letzt arbeit.
De geiht ok bald mit köster un prester spazieren.
De sorgt ok bald wedder Yör'n köster.
Den sin brutmiss ward he ok bald trecken.
Den warden wi (se) bald hensläpen, rutdrägen, henbringen, henlüdden.
De ward ok bald hendragen, hensungen, wegsungen, utsungen, utlürrt.
Den hebben wi rümzoddelt,
De ward ok bald üm de eck zoddelt.
De makt ok bald de letzt reis.
De het de grot reis antreden.
De het 'n reisrock all an.
För den is de durzettel ok all utschreben, de grot pass all utstellt.
De treckt ok bald ut 'n dur.
De möt ok bald rutspazieren.
Den is 't dörp verwiest.
Den drägen 's ok bald öwern barg.
De is öwern barg, öwern hasenbarg, öwern rehbarg, öwern horz gahn.
De is öwer de au gahn.
De is üm de eck gahn.
Den heben wi henbröcht na de fettkoppel, henslöpt, inbuddelt, inbusselt,
inkuhlt, inpurrt.
De het mennigenen hensungen: von einem alten Pastor oder Küster.
De het ok mennigenen henhulpen: von Ärzlen.
De folgers: so heisst das Trauergefolge.
Dor treckt wedder en üm.
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
189
De het ok ne slichte reis: wenn schlechtes Wetter bei der Beerdigung ist.
Das Mahl nach der Bestattung liiess früher: Hiihlgrütte, dorup man de
hut Yortert, auch häge (Mantzel, Bütz. Ruh. 7, No. 34).
Klappsupp ist dafür heute in Teilen des Fürstentums Ratzeburg üblich.
Der allgemeine Ausdruck ist: dat feil versupen.
Willn dat feil versupen un de knaken an 'n luntenkirl verköpen.
De hudt versupen und de sorge vordrincken: Gryse, Laien-Bibel.
De hut vertehren (Selecta jurid. Rostoch. bei Bartsch II, 50).
Auch hörte ich: De geiten water up, dat de fährmann nog water het.
Wenn ik starw, sagt wohl scherzend die Ehefrau, krigt min manu
tweimal söt grütt; einmal wenn ik graben ward un dat anner mal, wenn
he wedder heurat.
Günnt em doch de selig rauh, lat em sin gaud rauh.
Gott lief sin seel leiw.
De leiw gott erfreu sin seel.
IY. Gott. Petrus. Teufel.
De is bi'n leiwen gott in 'n ellerbrok, auch mit allerhand Zusätzen
wie: möt poggen gripen, schap höden, stämmklotzen, leggelproppen sniden
u. s. w., meist von Einem, der in tiefem Schlafe ruht, gebraucht, aber auch
von Toten.
Nur aus dem Strelitzer Lande ist mir die Redensart bekannt: De is
up Nobelskrog (Nowerskrog), (sett kegel up).
Nobelskrog liggt up'n hälwten weg na'n himmel; dor möten se in-
schreben warden, dor krigen se ehren zettel för Petrus.
Na, wenn du dod bliwst, grüss den Nobelschen kröger.
Ein Krug mit dem Namen Nobelskrog liegt bei Kratzeburg; ein zweiter
desselben Namens, in der Nähe der Bahnstation Blankensee, ist vor einigen
Jahren weggerissen.
[Über den Nobiskrug J. Grimm, Deutsche Mythologie 22, 954. E. H. Meyer, German.
Mythol. S. 174 f., Laistner, Nobishaus und Verwandtes in der Germania XXVI, 65—95,
176-199].
De möt ok nägenmal bi Petrus ankloppen.
Het he sinen nam ok schriben un lesen künnt? süss nimmt Petrus em
üich an.
Dor het Petrus an de dör kloppt.
Den het Petrus all in't og.
Den het Petrus noch nich hebben wullt.
De geiht ok bald na Petrussen.
De möt ok bald baben klümp anrühren.
De ollsch möt ok bald rup un bi Petrus de höhner fohlen.
De möt nu ok Petrus de piep stoppen.
De ward ok bald Petrus sin handlanger.
18*
190
Wóssidlo:
De möt rm ok bi Petrus kegel upsetten, stein karren, stamm hangen,
buddels späulen etc.
De is bi Petrus, möt snei riwweln, wulken schuwen, hagel schrapen.
De is bi Petrus, möt stirn maken yon de oll man.
Den liet Petrus all lang anstellt.
De möt uppe linke sid swin liöden.
De ollen jungfern möten de bück vor de höll höden; auch: möten
höhner utföhlen, poggen höden, den mand blank putzen u. s. w.
Den hahlt de deuwel ok bald uppe schinnerkarr.
Den ward de Oll bald hahlen.
De geiht ok bald mit Unkel Köhn.
De drömt ok all von'n düwel, von'n schinner.
De kiimmt bi'n düwel as fiierböter, sagt man, wenn ein Schmied
gestorben ist.
Wenn Petrus mi nich upmakt, gali ik na den swarten Scheper.
De geiht ok bald mit Johann Klapperbein.
Den het Hans Klapperbein all uppe spör.
Den ward Klapperjiirn bald krigen.
Holl di fast, Klapperbein steiht an de dör.
Vom Selbstmörder heisst es:
Den het de düwel in'n nacken stött, dat knick ümdreiht.
Den het Lurjan hahlt.
Den het Johann Paeth wat brukt.
Dor is de anner öwer her west, den het Dreifot hahlt.
Dor is wol de pierfötig mit bi west.
Den is de Oll mit de seel affohrt.
Den het de swart öwerhulpen.
Den het Herr Gender (Jender) hulpen.
Jenner mit'n widen hamer het em vör'n kopp haugt.
Den het de bös regiert.
Den het Murrjan de kehl todrückt.
Dor het de düwel kemedi, kiikewih, dumm jung mit spält.
För den het de düwel sorgt.
Von Einem, der sich erhängte: De het'n reiper sin dochter frigen
wullt und de het em 't strick geben.
Y. Seele und Leib.
Dor möt en mit'n sack hen un fangen de seel up.
De het sin seel den herrn empfahlen.
De schickt sin seel ok bald na Kopenhagen.
Din seel is mi all uppe trepp begegent: scherzend, z. B beim Karten-
spiel = du bist verloren.
Den is de seel ut'n nors rutfohrt: vom Selbstmörder.
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
191
De jappt ut't letzt lock, auch: de fläutt, piept, fingeriert up't letzt lock.
De snappt bald af.
Den is de pust, de piep utgahn, den het he dat licht utpust.
De het den aten to tidig anhollen.
De het't atenhalen yergäten.
De het utjappt, uthojappt, uthojant.
De het sik utlacht.
De is inslapen, de is hen slapen gahn.
De slöppt den langen slap.
De het de ogen todahn.
De het den kopp dalieggt.
De het sik up't uhr leggt.
Den is de kipps öwer de uhren sackt.
De het den nors toknäpen.
Den is de nors tosnappt; vgl. die Meldung der alten Frau: Min mann
in'n nors, herr Paster.
Oh, de ogen siind noch wid yon'n nors: sobald ist das Ende noch nicht da.
De kümmt ok nich wedder in de bein.
De danzt uppe letzten sahlen.
De geiht uppe letzten bein.
De letzten föt hest all, wenn du de letzten scholl man ihrst harrst.
De letzten ogen (suglippen) het he ok all.
Vergleiche noch: De wadt in't letzt water.
De het ok sinen letzten kätel bald schäten.
De is ok bi't letzt viertel.
De spält ok dat letzt viertel.
De het dat letzt foder, den letzten happen brod ok bald in'n liw.
Vor den is dat letzt brod ok all backt.
De het sin mihrst brod ok vertelirt.
De het't brodäten vergateli.
De is all mit lang, de ett nich mihr.
Wat het he äten? hört man bei einer Todesnachricht fragen.
Wat süllen wie äten, dat wi dod bliben deden: antwortete mir ein
Tagelöhner auf meine Frage nach seinem Wohlergehen.
De lickt den läpel ok nich wedder.
De het den läpel an de wand stäken.
Sporbrod het'n läpel dalieggt.
Sin schäpel is vull.
De het sinen schäpel sand (ascli) noch nich up: enen schäpel sand
ßiöt jeder minscli ihrst äten, ihrer bliwt he nich dod.
Den dohn de tähnen, de kusen nich mihr weih.
De dat bugt het, den deiht de kopp gewiss nich mihr weih.
De het ken koppbräken mihr.
192
Wossidlo:
Den klingen de uhren nich mihr na uns.
Den drückt de sädel nich mihr.
Den drücken de likdürn nich mihr.
Nu het he't jück run yon de knaken.
De het sin knaken all väle johren rauhgt.
Mit den sin knaken warden all appel un beeren von de böm smäten.
De is de juden los.
Den sitten de juden nich mihr uppe hacken.
VI. Vergleiche und Redensarten aus dem Tierreich.
Dod as ne rott, as ne uhi, as ne katt.
Sonst: paddendod, steendod (Brinckman), stockendod, mausendod,
mauschendod, musingdod (Reuter), murssdod (Mantzel, Bütz. Ruh. 8 No. 49),
mussdod, mossendod, muschendod, musedreckeldod.
Das Erscheinen yon Eule und Elster in der Nähe des Hauses bedeutet
einen baldigen Todesfall:
Dor krigt de uhi ok bald enen.
Dor hahlt de häster bald enen weg.
So auch von Schwerkranken:
Wenn de häster em nich bald anner ordre bringt, is 't ut mit em.
Dor sünd de rotten all in'n aben.
De geiht ok vor de hunn.
Den ward de hund ok bald 'n denkmal setten.
Den sett de hund ok 'n likenstein: von prahlenden Reichen.
Den biten de hunn nich mihr, auch: Den biten keil Iiis mihr.
De schurrt all uppe flüchten.
Dor het ok wedder en den toni utdahn.
Den sünd de hofisen afnahmen: sagt das Volk, wenn ein Todkranker
das Abendmahl (Nachtmahl) genommen hat.
Dat is'n vagel vor de katt.
De is riep vör'n schinner sin duben, vor de kreihgen.
Den steckt de kiwitt bald.
De hürt de lewark ok nich wedder singen, pipen.
De hürt den kukuk ok nich wedder ropen, röhren.
De krigt de swälk, den kiwitt nich wedder to seihn.
Ähnlich :
De süht ok de böm nich wedder grön warden.
De hürt de bädklock ok nich wedder stöten.
De hürt de grot bass ok nich wedder.
, Ik dacht, du krigst de siinn wol nich wedder to seihn.
Hinner mi röhrt nich katt oder hund an, hört man wohl von allein-
stehenden Leuten sagen
Dor kreiht nich hund oder halin na, wenn ik starw.
Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
193
VII. Verschiedenes.
Stirbt Einer jung dahin, so sagt das Volk:
De liet ok so jung int gras, int sand biten müsst.
Vgl. Schlu's Isaac 42, 3: Dat de sik nicht laten bald in dreck byten.
Die volksetymologische Umbildung in't graww biten ist nicht sehr
verbreitet.
De harr't ok noch 'n bäten mit anseihn könnt.
Allein :
De leiw gott will ok wat gods hebben.
Dor het he (der Vater) kenen ordentlichen aten in sett: wenn ein
Kind stirbt.
Vom Geizhals:
De het nich ihrer nog, as bet he enen mit de schiiffel vör'n nors krigt,
d. h. bis er bestattet wird.
Nu ward lie den rächen wol vull hebben.
God, dat de schaffhals an de sid is.
De het't ok hier laten müsst.
De het ok nix mitkregen.
Wi hebben nix mitbröcht un krigen ok nix wedder mit*
Stirbt ein Reicher, so heisst es: is'n fettoss, 'n bradenfräter dod bieben.
Ist ein Verhasster gestorben:
De deiht nu ken unrecht mihr.
De perrt nu kenen de ogen mihr ut.
Nu het he nog schawernackt.
Schifferausdrücke: De is öwer stür (burd) gahn, de is koppzeis gahn.
Ähnlich sonst: De is koppöwer, heisterkopp gahn, de geiht bald kattut,
de is kuntra gahn, perschäu gahn, to hinner gahn.
Der gewöhnlichste Ausdruck über einen auf der Fahrt verunglückten
Seemann ist: De is biaben.
In Wustrow auf dem Fischlande hörte ich: Den het Rasmus hahlt, und:
ße is in'n gottskeller, in'n kabeljaukell er gahn (in die Meerestiefe).
Von alten Leuten sagt man: De het sin deinsten bald dahn.
Oder sie selbst äussern:
Ik hef min ding (min dahten) bald dahn.
Wi hebben uns mihrsten strük treckt, de mihrsten klotz haugt, ik
hef de dicksten bräd nu bohrt.
Wi hebben uns föder bald vull ladt.
Ik hef minen sträng am längsten treckt.
Wi hebben't sädel lang nog dragen.
De johren sünd dor, dat ik lienmöt.
Wat sali ik oll krück, oll stütt hier noch.
Mi het gott vergäten to hahlen.
194
Wossidlo: Der Tod im Munde des mecklenburgischen Volkes.
Yon Kranken:
De lewt ok ken hunnert johr mihr: z. B. bei schwerem Husten.
Den steiht de dod up't gesicht, up de backen schreben.
Den kickt de dod all ut de ogen.
Den sitt (steckt) de dod all uppe tung.
Bi den kickt de dod all öwer't heck.
Dor steiht de dod achter de dör.
Den röhrt de dod ut'ii nors as 'n johrsch kalw.
De liet dat dodenhemd all an.
De kann sik man na'n dodenhemd ümseihn.
De kann sik't dodenhemd ok all neihgen laten.
De is riep as ne gäl beer.
Dor is ken herrgotteil mihr bi gedacht, dor helpt ken achgotten mihr.
Ik glow em nich mihr = habe kein Zutrauen, dass er wieder genese.
Mit den is't tom topassen.
De kümmt nich wedder öwer end.
De möt an (Mussaeus, Plattd. Sprachlehre S. 80).
De ward dor mit upgahn.
De is ok all up't spill.
De sali wol an glöben.
De het sin mihrst schiten dahn.
De het sin mihrsten gesäng sungen.
De het sin mihrsten trümpf ok utspält.
De kann sik man na't schriwgeschirr ümseihn: zum Testamentmachen.
De süll sik man kiep un lechel besorgen, dat he nah wat het.
De möt ok bald inkamen to't grot regiment, to de grot armee.
De is afschrammt, afschurrt, afrutscht, afratzt, afreist, afrackt.
De is von Scheidt, is verscheidt.
De is schüern gahn, na Schürsdörp gahn (Mi's Wörterbuch).
De is flauten gahn.
De het sik dorvon afmakt.
De het sik mank rutluert.
De het sik ut'n rok packt.
Ik dacht, mit di wiren se all affegt.
De het nich mihr toben künnt.
De het sik dat entseggt.
De het dalleggt.
De het fierabend makt.
De het sin end beslaten.
De het mit de weit afslaten.
De het sin leben hengeben müsst.
De het sinen dod dor laten müsst.
De het utdeint, utspannt, utbedt, utsungen.
Vogt: Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
195
Den sin tid is tomäten.
Sin tid un stunn is nu wol aflopen.
Min tid is her.
Ik kann nu ok affördert warden.
De makt dat bok bald to.
De ward ok bald amen seggen.
De kann sik den leiwen gott ok man befehlen.
Mit em is't ok Matthaei am letzten.
De is bi'n letzten vers.
De is ok bald b-r-e bre. Eine alte Frau erzählt dem Pastor, ihr
Mann habe sie auf dem Sterbebette gebeten, ihm noch etwas aus der Fibel
vorzulesen: b-r-a bra, säd he noch jüst mi na, b-r-e bre, flauten güng he.
De is na baben gahn.
De is in de ewigkeit gahn.
De is in de wohrheit un wi gahn noch in de lägen.
Nu is ehr seel bi gott.
Nu is he all to räkenschaft.
Nu krigt he sinen lohn.
De het't wagt.
De het't wunnen.
De het den kämpf öwerwunnen.
De het den kämpf utkämpft, wi liebben em noch vor uns.
Wenn'k man ihrst röwer wir, sagen alte Leute.
De het utleden.
De is sin last los, de is alle quai un last los.
De is väl unglück ut'n weg.
De is alles ut'n weg, wind un weder.
De is wol verwohrt.
De het von allen nog, de brukt nix mihr.
Waren in Mecklenburg.
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren
Quellen1).
Von Friedrich Vogt.
Y. Zum Scheifoentreiben.
Anlässlich meines Aufsatzes im Jahrgang 1893, S. 349 f. dieser Zeit-
schrift hat mich H. Gaidoz, der Herausgeber der Melusine, auf seine Ab-
handlung Le dieu Gaulois du soleil et le symbolisme de la roue in der Revue
archéologique 1884 p. 7 f., 136 f. 1885, S. 179 f. aufmerksam gemacht. Für
das Scheibentreiben kommt der Bericht eines Augenzeugen in Betracht,
1) Zeitschrift III, 349—372.
196
Yogt: Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
welchen Gaidoz 1884 S. 29 wiedergiebt. Danach fand am Johannisfeste
dieser Brauch in der Umgegend von Offenburg in Baden „wenigstens unter
dem patriarchalischen Regiment des alten Grossherzogs" statt. Die S. 352
Anm. 1 meiner Abhandlung zweifelnd erwähnte Ausnahme von der Regel,
dass in Westdeutschland die Scheiben nicht am Johannistage, sondern in
der Fastenzeit getrieben wurden, erhält dadurch eine Stütze. Dagegen
wird die Abhaltung der Feier im Elsass am Sonntag Invocavit durch die
aus Wangen bei Molsheim stammende Schilderung bestätigt, die Gaidoz
S. 139 mitteilt. Der Vorgang der Feier, die Beschaffenheit der Scheiben,
die Art, wie sie von den schwanken Stecken geschleudert werden, stimmt
mit den von mir erwähnten Beschreibungen überein. Die Rufe, mit denen
das Schleudern begleitet zu werden pflegt, werden bei Gaidoz nur in dem
elsässischen Berichte erwähnt: Les paroles prononcées en lançant les disques
commencent toujours par les mêmes mots „Schiwahkeliwala" ! (?) puis les voeux
et enfin les noms des personnes auxquels ces voeux s''adressent et que les disques sont
censés porter. Die jungen Burschen über 15 Jahre pflegen hier am Scheiben-
treiben selbst nicht teilzunehmen, sondern statt dessen mehr in der Nähe des
Dorfes Schüsse zu Ehren ihrer Liebsten unter Wünschen für sie abzufeuern.
Sehr bemerkenswert ist es, dass es Gaidoz nicht gelungen ist, das
Scheibentreiben irgendwo in Frankreich nachzuweisen, während sonst
Fastnachts- und Johannisfeuer dort genugsam vorkommen und bei den
Johannisfeuern das Rollen des brennenden Rades, wenn auch nur spärlich,
bezeugt ist. Das Scheibentreiben ist eben, soviel ich sehe, überhaupt
nirgends in nichtgermanischen Ländern nachweisbar.
Für die Beziehungen zwischen Feuerscheibe und Glücksrad ist die von
Gaidoz 1884 S. 26 citierte Verhandlung der Äbtissin Jolande von Bassompierre
mit dem Rate von Epinal aus dem Jahre 1565 von Interesse, nach welcher
die Äbtissin der Stadt ein Stück Wald abtritt als Ablösung für die Ver-
pflichtung, den Einwohnern jedes Jahr das Glücksrad und das zu seiner
H erstellung erforderliche Stroh zu liefern (la roue de fortune et la
paille pour la former). Zu welcher Jahreszeit das zu geschehen hatte, wird
nicht angegeben; jedenfalls kann es sich nur um ein grosses Feuerrad
handeln, wie es beim Johannisfeste gewälzt zu werden pflegt. Dass zur
Anfertigung eines solchen nach lothringischem Brauch eine nicht geringe
Menge Stroh erforderlich war, zeigt der Bericht aus dem Jahre 1822 über
das Rollen des Johannisrades bei Nieder-Konz an der Mosel (vgl. meine
Abhandlung S. 353), welchen Gaidoz S. 24 bringt. Danach war das Rad
in dem festgewickelten Stroh völlig versteckt und man sah nichts als einen
Strohcylinder, dessen Gewicht auf 4—5 Ctr. geschätzt wird. Da es ein
gutes Weinjahr bedeutet, wenn das Rad glücklich bis in die Mosel gebracht
wird, dagegen das Unterlassen des Gebrauches böse Folgen für das Yieh
der Gemeinde bringt und wer nicht Stroh zu der Feier liefert, allerlei
häusliches Unglück zu fürchten hat, so sieht man auch hier, wie leicht sich
Pichler: Tirolische Volksdichtung.
197
die Vorstellung vom Glücksrad mit dem Rollen des Feuerrades verbinden
konnte, wie ich das S. 368 f. meiner Abhandlung vom Glücksrad und dem
Scheibentreiben annahm. Für den religiösen Hintergrund dieser Feuer-
feiern ist es beachtenswert, dass es in Epinal die Äbtissin ist, welche das
Material dafür zu liefern hat. Bei dem Rollen des Johannisrades in Nieder-
konz ist nach der Erzählung bei Gaidoz der Geistliche nebst dem Bürger-
meister zugegen, und der letztere veranlasst das Anzünden des Rades; nach
einer Schilderung desselben Ortsgebrauches im Jahrbuch f. Gesch., Spr. u.
Litt. Elsass-Lothringens, hsg. vom Vogesenklub, Bd. 4, 114 vgl. 3, 130, auf
die mich Edw. Schröder aufmerksam macht, lässt der Pfarrer selbst das
Rad hinunterrollen.
Uber weitere Beziehungen zwischen dem Johannisrade und dem Glücks-
rade, die zugleich sakralen Charakter tragen, handelt Gaidoz 1884 S. 33 ff.
Über die Anwendung des Glücksrades und des Lebensrades in der Kirche
giebt er S. 143 f. interessante Nachweise aus Mittelalter und Neuzeit.
Eine ausführliche Beschreibung des Johannisfeuerfestes soll sich, wie
Gaidoz 1884 S. 23 f. mit Berufung auf Hampson, medii aevi calendarium I, 300
angiebt, bei einem écrivain anglais, der unter dem Namen Thomas Naogeorgus
geschrieben habe, in seinem Gedichte Regnum papisticum finden. Wie der
gute Thomas Kirchmair aus Hubelschmeiss bei Straubing dazu kommt, für
einen Engländer ausgegeben zu werden, das weiss ich nicht; mit der
Schilderung im Regnum papisticum aber hat es seine Richtigkeit. Nur hat
diese Schilderung neben Johannes Boemus ebenso wenig Wert, wie die des
Sebastian Franck. Hat Franck den Text des Boemus stillschweigend ins
Deutsche übersetzt, so hat Kirchmair-Naogeorgus ihn ebenso stillschweigend
in lateinische Yerse gebracht. Das einzig bemerkenswerte ist, dass Nao-
georg das Rollen des Feuerrades, welches nach Boemus zu Lätare stattfand,
unmittelbar hinter der Johannisfeier beschreibt, so dass es mit zu dieser
gezogen werden muss.
Zu den S. 360 meiner Abhandlung erwähnten Sonnenrädern auf dem
einst dem Merkurius Cisustius geweihten Brünhildenstuhl bei Dürckheim mag
Klan das Rad der keltischen Jupiterfiguren und die Altäre mit Rädern ver-
gleichen, von denen Gaidoz im 1. und 2. Abschnitt seiner Abhandlung spricht.
Breslau.
Tirolische Volksdichtung.
Von Adolf Pichler.
Auch in Tirol ist keine Zeit mehr zu verlieren, wenn man auf dem
Gebiete der Volkskunde sammeln will, weil die Neuschule mehr und mehr
nivellirt. Ist jedoch jemand so glücklich, den rechten Platz zu finden, so
mag er noch immer eine reiche Nachlese halten. Das beweisen die Sagen
198
Pichler:
ans Patznaun, die unlängst Professor Christian Hauser bei Wagner zu
Innsbruck erscheinen liess.
Die Bewohner von Tarrenz, etwa eine Stunde von Irast, gelten als sehr
abergläubisch, hier rettete sich aber auch manches von Yolkspoesie. Ich
verdanke den grössten Teil der Beiträge, die ich hier mitteile, der Tochter
des Wirtes von Tarrenz. Das ist also jedenfalls eine echte unverfälschte
Quelle. Denn nicht alles, was in neuerer Zeit auf diesem Gebiet ver-
öffentlicht wurde, verträgt das Mass einer ernsten Kritik. Darum wäre
sehr zu wünschen, dass Dr. Ludwig v. Hörmann, als berufener Sammler,
endlich mit seinen Volksliedern ausrücken möchte, damit die Wissenschaft
auch hier mit echtem Stoff versorgt würde.
Diese Beiträge sind nicht für das „gebildete Publikum", zu denen ja
die Komtessen und Pensionsfräulein als fast Ausschlag gebend gehören,
sondern für Freunde der Volkskunde. Daher brauche ich wohl nicht zu
rechtfertigen, wenn ich derbe und anzügliche Stücke mitteile.
Schnadahüpfeln und Verwandtes.
I bin nit aus Zillerthal,
I bin nit aus Dux,
Die schiach'n1) Madeln mag i nit,
Die schean sein nix nutz.
Hellblau ist boarisch
Und grüan scheissen die Gäns,
Die Tiroler sein brave Leut,
Die Boarn sein Schwänz.2)
Mei Schatz ist a Gärtner
A Gärtner muass's sein,
Er pflanzt mia a Rosi
Ins Herzel hinein.
Mei Schatz ist a Tischler,
A Tischler muass's sein,
Er macht mia a Wieg'n
Und a Poppele drein.
Mei Schatz ist a Maurer,
A Maurer Palier,
Bald singt er, bald pfeift er,
Bald leit er bei mia.3)
Mei Schatz hat an Tadl
Den sag' i nit aus:
An spannlangen Nabel
Und Warzen am Bauch.
Madele, Madele hintern Zaun,
Do han is hearn rauschen.
Madele nimm koan alten Mann,
Ma lasst di nimmer tauschen.
Am Suntag ist Kirchtag,
Ist allerhand foal:
A Madl für an Kreuzer
Und scheani a toal.4)
Der Mieminger Turn
Ist auf und a roat,
Die Mieminger Madeln
Ho'm Bleach in der Pfoat.5)
Beim Gigelewirt, beim Gagelewirt,
Do kear'n die Lumpen ein,
Sie trink'n a Glasl Branntewein
Und schiab'n Glasl ein.
1) Schiach = hässlich.
2) Dieses Trutzliedl dürfte im Jahre 1809 entstanden sein.
3) Solche Schnadahüpfel auf die verschiedenen Stände giebt es sehr viele, die hier
mitgeteilten sind unseres Wissens ungedruckt.
4) Toal = Teil.
5) Pfoat = Hemd. Eine noch ungalantere Variante sagt: Dröck. Dieses Schnada-
hüpfel ist insofern interessant, als es sich auf einen bestimmten Ort bezieht. Es gehört
eigentlich nach Barwies oder Krebsbach.
Tirolische Volksdichtung.
199
Entern Bach, drentern Bach
Bant der Bauer Huab'n,
Madl hob's Kittele auf,
Der Kaiser braucht Buab'n.1)
Droben aufm Bergl
Ist's Wögl so schmal,
Da gea i zum Diandl
Die Wochen dreimal.
Dreimal ist nit viel,
Sechsmal war no so viel,
Siebenmal kannt's a no sein,
Jaz g'heart dös Diandl mein.
Innsbruck:
Die Klosterfrau im Schneggenhaus,
Die moant, sie sei verborg'n;
Da kimmt der Pater Guardian,
Wünscht iar an guat'n Morg'n.
„Guten Morg'n Pater Guardian!" —
„Guten Morg'n Schwester Klara!"
„Ich möchte gerne beichten!" —
„Was haben Sie gethan?" —
„Ich habe einen Fisch gekauft
Und hab' ihn auf den Tisch gestellt,
Die Katz hat mir'n gfressen." —
„Was haben Sie gesagt?" —
„Du Dundersteufelskatz!" —
„Des dürfens nicht mehr sagen!
Zur heilsamen Buss,
Gebens mir einen Kuss."2).
Heiliger Antoni3), du hölzerner Kniippl,
Schau'g miar um a Mandl, i woass miar koa Mittl.
Heiliger Antoni, lass's Kindl nit falln,
Sonst müass'n mear — beim Teufl! — 's mach'n no zaln.
Überall im Innthal:
Der Peater und der Paul
Dö schlag'n anand aufs Maul,
Der Peater mit'n Schltiss'l
Schlagt'n Paulus grad a biss'l;
Der Paulus mit'n Schwert
Schlagt'n Peater, dass er plärrt.
1) Dieses Schnadahüpfel hörte ich zum ersten Male bei Neumarkt in Südtirol; an die
ersten beiden Verse schliesst sich wohl auch ein anderes Paar.
2) Von diesem Gedicht sind die ersten vier Verse schon gedruckt. Es beginnt im
Dialekt, endet hochdeutsch und ist zweifelsohne städtisches Produkt. Es ist überall so
bekannt, dass man die Schnecke mit der Klosterfrau und dem Guardian darin sogar in
Galanterieläden findet oder fand. Auch im Wetterhäuschen begegnen sich manchmal beide.
3) Der heilige Antonius von Padua steht beim weiblichen Geschlecht in hohem An-
sehen. Seine Fürbitte verschafft den Mädchen Männer, den Weibern Kinder. Daher sind
die Betstühle vor seinem Bilde nie leer, wie man in der Hofkirche zu Innsbruck sehen
kann. Er war ein Franziskaner so gottbegnadet, dass er das Christkind auf dem Arme
tragen durfte. Seine zahllosen Wunder verherrlichten die grössten Meister im Dome zu
Padua, wo er starb. Auch wer etwas verloren hat, ruft ihn an; er bringt das Verborgenste
zu Tag.
Wer Wunder und Zeichen finden will,
Bei Sankt Antoni find't er viel!
Wie sich die zwei Spottliedeln, die wir hier geben, mit der bekannten Bigotterie der
Oberinnthal er vertragen, mögen andere deuten.
200
Pichler:
V ariante.
Der Peater und der Paul
Dö schlagen anand aufs Maul,
Der Peater ist so köck
Und wirft 'n Paul in. Dröck. *)
Wia i bin lödig g'wöst,
Ist miar weil wöler g'wöst;
Weil i jatz haus'2),
Ist mei Freudenmuat aus.
Bald schrein die Kinder,
Bald schlöt (schlägt) mi der Mann,
Jatz reut's mi beim Teufl!
Dass i gheiratet han.
Rätsel.
Zwoa rag'n, (die Hörner)
Yier trag'n, (die Füsse)
Zwoa zünden, (leuchten: die Augen)
Und oaner bös'nt hinten. (Bösen = kehren, vom Besen.)
Die Kuh.
Kinderlieder.
Sie reichen wahrscheinlich in alte Zeit zurück; manchmal mag die
Überlieferung verdorben sein, so dass es kaum möglich sein wird, überall
einen authentischen Text herzustellen. Die Kinder sangen und singen sie
zum Reigen, bisweilen mit eigentümlichen Bewegungen. Bei „Wichtele,
Wachtele" hocken sie in die Knie, hüpfen so vorwärts und schlagen ab-
wechselnd die Hände über den Bauch und Rücken zusammen.
Wichtele, Wachtele, wo bist hear?
„Yon Gsix und Gsex vom Bodensea".
Was thuat die Muater? — „Wasch'n".
Wische, wasche Wein!
War mei Pudl nit zu schwar,
So kannt' is hupfen, wo i war.
„Bin i schean? Kann i gean?
Steat der Bund3) eben?" —
„Gea nur Kind, du mei Kind,
Lass die Leut röden."
1) Diese Yerse könnte man auf den aus der Bibel bekannten Streit der beiden Apostel
beziehen und an die Reformationszeit denken. Ich glaube, dass die Bilder, die den Peter
mit den Schlüsseln, den Paul mit dem Schwert darstellen, den Stoff geben.
2) Hausen = einen eigenen Haushalt haben.
3) Bund, der Leibgürtel, der den Rock um die Mitte aufbindet.
Tirolische Volksdichtung.
■201
Owi, rappla, Rawis,
Die Goas gean in Kobis1),
Die Kitz gean in d' Pflanzen3),
Die Madeln gean tanzen,
Die Buab'n gean ins Wiartshaus,
Trinken alle Glasin aus.
Bille, Bolle, Brandschu,
Die Gäns gean barfuss,
Die Gäns gean gen Opfer,
Der Messner ist a Kropfer.
Der Müller hat a alte Kua,
Schlagt's Gatter af'n zua,
Das Kalb sucht 'n Riemen,
Im Unterland ist Niemen.
Du alte Hex, du lobst so lang,
Warum lasst du mi nit löb'n?
Mei Vater ist a "Wöber,
Mei Muater ist a Kuchelfrau,
Bakt alli Tag in Facklen au3).
Engele, Engele in der Wand,
Hat a Öpfele in der Hand,
Will allweil öss'n,
Hat aber koa Mösser.
Fallt oan's vom Himmel aber (herab),
Schlagt'n Engele 's Köpf]e aber.
Wo ist's Köpfle?
Die Katz hat's gfröss'n.
Wo ist die Katz?
Der Hund hat sie zerriss'n.
Wo ist der Hund?
Der Jager hat'n derschoss'n.
Wo ist der Jager?
Im boanernen Haus.
Hat a wiechenes4) Hösl an
Und a flachsets Hemdl an.
Innsbruck.
Dort drunt'n, dort drob'n
Bei's Goaseler5) Boch,
Wo d' Sunnen aufgeat,
Der Schmalzstock steat,
Wo die Hiartlen blas'n,
Die Schafl'n gras'n,
Ist niemet dahoam
Als die Greatl alloan,
Thuat wasch'n, thuat bach'n0),
Thuat Leabin aufmach'n7).
Kimmt der Baur,
Schlot ihr ins Maul, .
Bäurin spring,
Mei Kochs) verbrinnt.
Rosenkranz hintern Bös'n (Besen),
Wo bist so lang ausgwös'n?
„Auf vierzehn Wochen
In Himmel eini kroch'n."
Wie geats droben zua?
„Die Muater Gottes thuat spinnen,
Die Engel thuan singen,
Der Gaber (Gabriel) kocht Muas,
Der Rafael will schleck'n,
Kimmt der Michel mit'n Stecken
Und haut ihm auf'n Triel,
Dass er über'n Heard abi fiel.9).
1) Kobis = Kohl.
2) Pflanzen = Setzlinge im Garten.
3) In = den, Fackeln = Ferkeln.
4) Wiechenes = Werg = Zwilch.
5) Goaseler = Ziegenhirt.
6) Bach'n = backen.
7) Leabl = Laib; aufmach'n = fertig machen.
8) Koch = Brei. Eine Variante hat Loch, das giebt aber keinen Sinn. Darauf kommt
es freilich bei diesen Liedern nicht genau an. Sie hängen Reim an Reim ohne Zusammen-
hang und geben manchmal nur Silben ohne Sinn.
9) Dieses Gedicht kenne ich mit unwesentlichen Varianten auch aus der Gegend von
Hall und dem Thale Dux.
202
Ivanoff :
Die Sitten der Türken1) in Bulgarien.
Aus dem Volke selbst gesammelt von S. Ivanoff.
1. Das Fasten.
Die Mohammedaner fangen zu fasten an, wenn sie den Vollmond
gesehen haben. Jeder Hodja2) muss persönlich den Vollmond sehen, oder
darüber telegraphische Nachrichten von seinem Vorgesetzten bekommen.
Ein Deutscher wird denken, die Mondänderungen seien in jedem Kalender
genau verzeichnet. Ja, dem ist so; aber die Türken sind gegen die
Wissenschaft misstrauisch. Sie sollen sich auf einen Astronom verlassen,
der jedenfalls kein Mohammedaner sein wird! „Nein, dass geht nicht",
sagt der gelehrte Hodja, „die Astronomie ist eine Hexerei; alles was nicht
im Koran geschrieben steht, ist nicht wahr, und der echte Sohn des Korans
muss davon nichts wissen."
Hat der Hodja den Vollmond gesehen, dann schmückt er die Djamia
(Moschee) mit vielen Laternen.3) Wenn die Rechtgläubigen dies sehen,
wissen sie, dass die Fastnacht an die Thüre klopft. Sofort gehen sie nach
Hause, den Frauen bekannt zu machen, dass die Fastnacht gekommen sei
und für das Mitternachtessen Sorge zu tragen. Das türkische Fasten besteht
hauptsächlich darin, am Tage nichts in den Mund zu ijehmen, d. h. nicht
essen, trinken und rauchen. In der Nacht ist es ihnen erlaubt, alles zu
essen, was sie wollen, also auch Fleisch. Da wird mancher denken, das
mohammedanische Fasten sei nicht schwer, man brauche nur den Tag mit
der Nacht zu vertauschen. Aber das ist nicht so einfach gemacht wie
gedacht, denn die armen Türken müssen am Tage ihr Brot verdienen
und in der Nacht ausruhen. Das Quälendste ist, dass sie am Tage nicht
Wasser trinken und Tabak rauchen dürfen.
Hierbei will ich eine kleine Geschichte erzählen, um zu zeigen, wie
fest manche Türken in der Religion sind.
Vor zwölf Jahren habe ich einen Hodja auf meinem Gute als Knecht
gehabt, der regelmässig fastete. Damals traf das Fasten in den Monat
Juli, also während der Ernte und der grössten Hitze. Ich riet ihm, das
Fasten zu unterbrechen, bis er eine leichtere Arbeit bekommen werde, aber
er antwortete mir, dass er eher sterben wolle, als das Fasten unterbrechen,
und er meinte, Allah werde ihm starken Willen und Gesundheit geben,
1) In dem Fürstentum Bulgarien mit Ostrumelien leben nach 0. Hübners Geograph,
statist. Tabellen für 1893 ungefähr 607 000 Türken neben 2 326 000 Bulgaren.
2) Hodja heisst der türkische Priester.
3) In den grossen Städten der Türkei wird die erste Fastnacht mit einigen Kanonen-
schüssen angekündigt.
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
203
um das Fasten zu Ende zu bringen. Aber sein Allall that das nicht.
Einen Tag war er vor Durst ohnmächtig geworden. Als er wieder wach
wurde, hat man ihm Wasser angeboten, aber er antwortete stolz: „Eher
wird mein Herz aufhören zu pochen, als ich zu fasten aufhöre."
Die Türken halten es für eine Ehre, sich vor ihren Glaubensgenossen
fromm zu zeigen. Ich habe oft auf der Reise Türken gesehen, die während
des Fastens vor mir am Tage assen, tranken und rauchten, aber wenn wir
in eine Stadt kamen, baten sie mich, yon nichts zu sagen. Alte Türken
haben mir gesagt, dass vor 70—80 Jahren das Fasten so streng gewesen
ist, dass die Polizei kochendes Blei demjenigen in den Mund gegossen
habe, den man an öffentlichen Orten geistige Getränke trinken sah. Noch
vor sehr kurzer Zeit wurden die Mohammedaner in der Türkei von der
Polizei eingesperrt, die öffentlich am Tage während des Fastens assen,
tranken oder rauchten. Den reichen Türken fällt das Fasten leichter, da
sie genug Zeit haben, am Tage zu schlafen. Während des Fastens stehen
alle türkischen Kaifeehäuser nachts auf. Am Tage sind die meisten zu.
^ur diejenigen sind am Tage auf, die auch von anderen Nationalitäten
besucht werden. Wenn man die türkischen Strassen während des Fastens
am Mittag passiert, sind sie ganz still. Man kann dann fast keinen Türken
sehen. Anders in der Nacht. Da trifft man Türken mit Laternen1), die
stolz in die Kaffeehäuser gehen, um ihren Glaubensgenossen zu zeigen,
dass auch sie fasten.
Auch diejenigen, die nicht fasten, besuchen nachts die Kaffees, da
nian sie sonst für Giauren halten würde.
Um die Fastenden in der Nacht zu wecken, oder ihnen anzukündigen,
dass die Esszeit gekommen sei, trommelt und singt vor jedem türkischen
Hause ein dazu bestimmter Tamburer. Er trommelt und singt zuerst leise,
und erst allmählich verstärkt er das Trommeln und Singen, um nicht die
Hausbewohner zu erschrecken. Die Lieder, die er dabei singt, sind extra
für das Fasten gedichtet. Einige von ihnen fordern die Frauen auf, auf-
zustehen, um den Tisch zu decken, da das Essen fertig sei.
Das Fasten fängt bei Sonnenaufgang an und dauert bis Sonnenunter-
gang. Es dauert 30 Tage. Bereits einen Tag vor dem Bairam2) zieht
Jung und Alt seine Festkleider an. Diese Sitte kommt den Bulgaren
1) Während der türkischen Herrschaft, in Bulgarien war es streng verboten, nachts
der Stadt ohne Laterne zu gehen. Die Strassenlaternen kannte man damals in den
kleinen Städten der Türkei noch nicht. Diejenigen "wurden von der Polizei eingesperrt,
•lie ohne Laternen nachts durch die Strassen gingen.
2) Bairam heisst auf türkisch der Festtag. Die Türken haben jährlich zwei Festtage.
Der eine heisst Kurbanbairam, der andere Ramezanbairam. Man muss dreissig Tage vor
Ramezanbairam fasten. Am Kurbanbairam schlachten die reichen Türken Hammel, deren
fleisch unter die armen Türken verschenkt wird. Es ist eine Erinnerung an Abrahams-
°pfer. Vor diesem Bairam brauchen die Türken nicht zu fasten. Wer aber freiwillig einige
Tage auch vor ihm fastet, dem soll Gott einen Teil der Sünden verzeihen.
. Zeitschrf. d. Vereins. Volkskunde. 1894- 14
204
Ivano il:
komisch vor, und sie haben ein Sprichwort von dem, der unerwartet mit
neuen Kleidern am Arbeitstage erscheint: „Er hat sich neue Kleider an-
gezogen, wie der Türke vor dem Bairam".
Der Tamburer geht einen Tag vor dem Bairam von Haus zu Haus
und trommelt und singt. In den Liedern bittet er auch, ihm seinen Lohn
für den Dienst zu geben. Er wird dreimal während des Fastens belohnt:
das erste Mal drei Tage nach dem Anfang des Fastens, das zweite Mal
fünfzehn Tage und das dritte Mal einen Tag vor dem Bairam. Die Lieder
sind im Rythmus, aber ohne Rimus. Sie haben folgenden Inhalt:
„Warum schlaft ihr, warum schlaft ihr, was findet ihr im Schlafe?
Steht auf, nehmt Abdes1) und betet, um Wohlleben in der anderen Welt
dafür zu bekommen."
Das Lied, worin um den Lohn gebeten wird, lautet: „Steht auf, steht
auf, meinen Lohn gebt mir, ihr Herren." Giebt man ihm keinen Lohn,
dann singt er: „Wer mir den Lohn nicht gegeben hat, den soll Gott ver-
fluchen und blind machen." Aber wenn man ihm den Lohn giebt, dann
singt er: „Meinen Lohn nahm ich und gehe weg, auch danke ich. Nächstes
Jahr, sollte ich gesund sein, werde ich euch wieder aufwecken."
So trommelnd und singend geht der Mann von Thür zu Thür, wo er
während des Fastens nachts getrommelt hat. Mau beschenkt ihn je nach
dem Reichtum des Bewohners. Die armen Türken geben ihm nur Hand-
tücher oder Stoff zu Kleidern. Damit die Leute sehen, dass er viele Ge-
schenke bekommen hat, nimmt er einen Freund mit sich, der eine hoho
Stange trägt. Auf der Stange werden die Tücher und Stoffe bunt durch-
einander gebunden. Es ist für einen Ausländer interessant, den Tamburer
zu dieser Zeit zu sehen. Die Stange mit den bunten Stoffen, die hinterher
laufenden Mädchen mit ihren weiten bunten Hosen2) und Röckchen, mit
rot gefärbten Nägeln und Haaren, machen ein schönes Bild.
1) Abdes heisst auf türkisch das Wasser vor dem Gebet. Die Türken dürfen die
Djamia nicht besuchen, bevor sie sich nicht gewaschen haben. Sie waschen sich dabei
die Hände, Plisse, Hals, Gesicht und Ohren. Zuletzt nehmen sie drei Schluck Wasser, um
den Mund zu spülen. Man muss die Schlucke genau zählen. Sollte man nur einen
Schluck zu viel nehmen, dann muss man das Waschen von neuem vornehmen, da das
Waschen sonst seine Weihe verliert und so die Djamia zu besuchen sündig ist. Ebenso
befiehlt der Koran den Türken, sich den Hinterteil nach jedem Abtreten zu waschen und
nach dem Beischlaf sofort ein Bad zu nehmen. Deswegen besitzt jedes türkische Haus
ein Hausbad, jeder türkische Abort eine Waschkanne. Die Besuchszimmer der Dorftürken
haben zwei bis drei solcher Kannen, die auf dem sichtbarsten Platze stehen. Es ist ein
grosser Stolz eines Türken, vor seinen Glaubensgenossen in den Abort mit der Kanne zu
gehen, weil er dadurch seine Frömmigkeit zeigt. Manche, die zu Hause keine Kanne
gebrauchen, nehmen absichtlich auswärts in den Abort die Kanne mit, um sich vor den
Leuten fromm zu zeigen. Das Waschen wird so streng geübt, dass, wenn das Waschwasser
nicht ausreicht, man das Trinkwasser dazu nimmt und lieber durstet, als ungewaschen
bleibt.
2) Die Türkinnen tragen zu Hause weite bunte Hosen.
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
205
Nim wird der Leser denken, der andere Tag sei bestimmt der Bairain;
der Tamburer hat ihn ja angekündigt, ausserdem sind schon 29 Tage um.
Aber das ist nicht immer der Fall. Die Türken wissen nicht ganz genau,
wann der Bairam ist, bis der Hodja den Yollmond nicht selbst gesehen
oder Nachricht von seinen Vorgesetzten darüber bekommen hat.
Sehr oft, wenn das Wetter wolkig ist, verspätet sich der Bairam um
ein bis zwei Tage, weil dann der Hodja den Yollmond nicht sehen kann.
Eines Jahres wurde der Bairam in einem Nachbardorfe, 3 Kilometer
von meinem Gute entfernt, einen Tag früher gefeiert, ohne dass unsere
Bauern eine Ahnung hatten, dass der Bairam an diesem Tage mit dem
Sonnenaufgang gekommen war. Erst am andern Tage, als ein Bauer vom
Nachbardorfe zu uns kam und sah, dass man hier keine Ahnung von der
Ankunft des Bairams hatte, teilte er ihnen mit, dass man den Bairam in
seinem Dorfe schon am gestrigen Tage feierte. Sofort wurde dann der
Hodja herbeigeholt, um seinen Irrtum zu bestätigen. In der That hatte
Unser Hodja sich geirrt. Jetzt gratulierte er den Bauern zu dem Bairam.
Der Dorfdiener1) teilte nun die frohe Nachricht von der Ankunft des
Bairams den Bauern mit und wir hörten ihn schreien: „Hört Nachbarn,
heut ist Bairam."
Die Türken irren sich mit dem Bairam nicht nur in den Dörfern, sondern
auch in den Städten und selbst in Konstantinopel. Ein Bekannter erzählte
uiir, dass, als er vor etwa zwanzig Jahren in Konstantiuopel gewTesen,
plötzlich die Nachricht am Mittag kam, dass an diesem Tage Bairam sei.
Sofort hat die Regierung Schutzleute geschickt, um die Läden zu schliessen
und die Feier des Festes zu befehlen.
Ein alter Türke aus Radomir hat mir auch eine komische Geschichte
von der Verspätung des Bairams erzählt. Die kleine Stadt Radomir erhielt
die Kunde von der Ankunft des Bairam vor der Telegraphenverbindung
uiit Sophia durch einen Polizisten, den der Gouverneur abschickte. Einmal
betrank sich aber der Bote und blieb unterwegs liegen, so dass die Recht-
gläubigen in Radomir das Fest erst 1 x/2 Tage später als die in Sophia
begehen konnten.
Der Ramezanbairam dauert vierzehn Tage, der Kurbanbairam drei.
Man braucht aber nur den ersten Tag zu feiern. Während der anderen
Jage ist es erlaubt zu arbeiten, wenn die Zeit rasche Arbeit fordert, z. B.
in der Ernte.
Während der Feier begriissen sich die Rechtgläubigen mit den Worten:
55Bairam bumbar olsun", dabei reichen sie sich die Hände und umarmen
sich. Bei anderer Begriissung reichen sich die Türken nie die Hände.
------------' N
1) In Bulgarien, in den Dörfern, werden die Nachrichten, die für alle Bauern wichtig
^ind, durch den Dorfdiener verbreitet, der von einigen hohen Stellen in den verschiedenen
Teilen des Dorfes zuerst „heii" schreit, uin die Leute aufmerksam zu machen und dann
die Nachricht verkündet,
14*
206
Ivanoff :
Der Jüngere muss den Älteren zuerst begrüssen. Am Bairam müssen die
Frau und die Kinder zuerst die Hand des Yaters küssen und ihm gratu-
! °
lieren. Nachher küssen die Kinder die Hand der Mutter. Bei der Hand-
reichung werden die beiden Hände grade vor den Magen gehalten. Die
Umarmung geschieht so, dass zuerst der eine die linke Hand auf die
linke Schulter des andern legt und die rechte gegen die rechte Hand des-
selben hält, während er mit der linken Backe die linke Backe des andern
berührt. Darauf geschieht die Begrüssung nach der umgekehrten Seite.
In den Kaffeehäusern versammeln sich einige Bekannte und gehen
dann von Haus zu Haus zu den Bekannten zum Besuch. Hier bekommt
jeder eine Tasse türkischen Kaifee. Die Jüngeren müssen zuerst die
Älteren besuchen. Sollte während des Besuches ein sehr alter Türke
kommen, dann müssen die Jüngeren aufstehen, ihm zum Bairam gratulieren
und die Hand küssen.
Ein am Bairamsabende erzeugtes Kind wird nach dem Glauben der
Türken glücklich.
In einigen Städten und Dörfern werden während des Bairams Ringer-
feste abgehalten.
2. Hochzeitgeforäuclie.
a) Die Wahl der Braut.
Bei den anderen Arölkern wird es dem Manne bequemer, sich die
Braut nach seinem Herzen zu wählen, weil sich die Frauen vor den
Männern sehen lassen und sehr oft mit ihnen in Gesellschaft sind. Aber
bei den Türken ist die Wahl der Braut sehr schwer, da die türkischen
Frauen sich nicht vor den Männern sehen lassen dürfen. Der Deutsche
wird denken, wenn die Türken ihre Bräute nicht sehen können, dann
müssen sie nach dem Zufall heiraten. Das ist aber nicht immer der Fall.
Manche sehen vorher ihre Bräute doch, oder sie wissen ganz genau, wie
die Braut aussieht. Das Mädchen wird von einer näheren Verwandten des
Mannes eingeladen, in deren Hause der junge Mann in eine Kommode
oder unter das Bett versteckt wird. Er muss sich auch damit begnügen,
seine zukünftige Braut durch das Schlüsselloch zu sehen. Wenn das
Wetter gut ist, dann werden die Gäste draussen im Garten unter einen
schattigen Baum eingeladen. Der Mann versteckt sich im Hause, und von
dort betrachtet er die Mädchen. Es kommt freilich auch vor, dass der
Bräutigam die Braut nie gesehen hat; dann muss er sich nur auf die Be-
schreibung seiner Verwandten verlassen. Wenn er seine Braut aus einem
weit entfernten Dorfe nimmt, und wenn er oder seine Verwandte keine
Gelegenheit haben, sie zu sehen, dann heiratet er auf gut Glück. Sollte
ihm die Braut nach der Hochzeit nicht gefallen, dann scheidet er sich
leicht von ihr. Da die Türken ihre Bräute nicht vorher sehen dürfen,
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
207
hat Mohammed erlaubt, ohne irgend welchen Grund, nur nach "Wunsch,
sich von den Frauen zu scheiden.
Manche Mütter wählen ihre Schwiegertöchter in früher Kindheit, also
zu einer Zeit, wo sie sich von den Männern sehen lassen dürfen. Dem
Sohne wird dann die Zukünftige gezeigt, und er behält ihr Gesicht im
Gedächtnis.
b) Die Yerlobung.
"Wenn der Yater eines jungen Mannes die Yerwandtscliaft mit einem
Türken schliessen will, der heiratsfähige Töchter hat, so teilt er seinen
Wunsch seinem Sohne mit. Ebenso muss der Sohn, der ein Mädchen
heiraten will, das seinem Yater sagen. Sind Yater und Sohn darüber
einig, dann wird ein älterer, gewöhnlich ein vornehmerer Türke, zum
^ater des Mädchens geschickt, um ihm mitzuteilen, dass der Yater jenes
Jungen Mannes seine Tochter für den Sohn werben will. Sollte der Yater
nicht ablehnen, so sagt er dem Gesandten, er möge nach einigen Tagen
wiederkommen (gewöhnlich nach drei Tagen). Die Antwort lautet ge-
wöhnlich so: „Yfenn wir Glück1) haben, so kommen Sie nach drei Tagen,
ich werde Ihnen dann Bescheid sagen."
Zu der bestimmten Zeit kommt der Gesandte wieder, die Antwort ist
nun: „Ich habe es bis jetzt noch nicht recht überlegt; aber wenn wir
Kasmet haben1), an dem und dem, so werde ich Ihnen Bescheid sagen."
Nach Ablauf der bestimmten Zeit kommt der Gesandte zum letzten Male.
Jetzt sagt der Yater der Braut: „Ich bin bereit, meine Tochter dem Sohne
«les X zur Frau zu geben, kommt an dem und dem Tage zur Yerlobung".2)
Am bestimmten Tage versammelt der Yater des Bräutigams einige
freunde und vornehmere Bauern und geht zum Yater der Braut; der
Bräutigam kommt nicht mit. Der Yater der Braut versammelt ebenfalls
Freunde und Yerwandte in seiner Odaja3), um den Bräutigamsvater zu
empfangen. Die Gäste werden von allen Freunden des Brautvaters vor
der Thür erwartet und begrüsst. Nachdem sie den Kaffee getrunken
haben, wird ihnen Essen vorgelegt. Inzwischen sagt der älteste oder der
vornehmste der Gäste:
„Ihr wisst, warum wir gekommen sind. Wir sind gekommen, die
Tochter des X als Braut für den Sohn des Y zu nehmen." Darauf ant-
wortet ihm der Brautvater: „Ich bin gern bereit, meine Tochter als Frau
1) Das Wort Glück (türkisch Kasmet) wird yon den Türken sehr oft gebraucht.
Wenn der Türke etwas thun will, sagt er niemals: „Ich werde es thun", sondern: „Wenn
lch Kasmet (Glück) habe, werde ich es thun."
2) Hiermit gebe ich wörtlich die Sätze, die gewöhnlich gebraucht werden. Diese
kátze kennt jeder ältere Türke auswendig.
3) Jeder bemittelte Türke hat ein Gastzimmer, Odaja genannt. Da die Türkinnen
sich vor den Männern nicht sehen lassen dürfen, so können die Männer nur die Odajas
'"buchen, wo nur Männer sind.
208
Ivan off: Die Sitten der Türken in Bulgarien.
dem Sohne des Y zu geben, aber wir müssen zuerst über den Nischan
und Nikiaf verhandeln."
Nischan nennen die Türken das Geld, welches der Bräutigam der
Braut bei der Verlobung giebt. Es wird nach kurzer Zeit der Braut von
der Mutter des Bräutigams gebracht. Nikiaf nennen die Türken das Geld,
welches der Mann der Frau bei der Scheidung von ihr mitgiebt.
Nun wird über die Mitgift der Braut gesprochen. Die Mitgift der
Braut besteht hauptsächlich in Kleidungsstücken, die sie bei der Scheidung
das Recht hat zurück zu nehmen.
Nachdem die Yerhandlung über den Nischan, Nikiaf und die Mitgift
besprochen worden ist, haben die Gäste und der Bräutigamsvater ihre
Hauptrolle beendigt. Sie werden wieder von allen Gästen des Brautvaters
bis zur Thür begleitet.
Jetzt wollen wir nach der von den Männern getrennten Gesellschaft
der Frauen sehen. Auf dem sichtbarsten Platze des Zimmers auf einem
Stuhl sitzt die Braut festlich geschmückt. Sie sitzt wie eine Statue still.
Nur wenn ältere Frauen kommen, verlässt sie ihren Stuhl, um ihnen die
Hand zu küssen. Die Gäste bekommen Kaffee und nachher Essen. Am
Abend wird getanzt. Der Tanz der Türkinnen ist meistens Zweitanz. Die
Türken tanzen nie. Die Türkinnen tanzen so: Zwei junge Mädchen stellen
sich gegenüber. Die Zuschauerinnen alle, Jung und Alt, singen, trommeln
und spielen auf den Musikinstrumenten, die sie haben. Sobald das Lied
ertönt, fangen die Mädchen zu tanzen an. Im Tanze stellen sie sich gegen-
über und machen gleichzeitig dieselben Bewegungen; wenn sie gute
Tänzerinnen sind, sieht es schön aus. Die Bewegungen bestehen haupt-
sächlich in Klatschen mit den Händen, Drehen des Körpers nach rechts
und links und abwechselnd die Beine vor und zurück stellen. Wenn das
eine Paar müde wird, ersetzt es ein anderes Paar, bis alle Mädchen, die
tanzen können, nach der Reihe getanzt, haben. Manchmal tanzen einige
Paare zusammen. Die Bewegungen sind dann dieselben, nur wird mit den
Händen nicht geklatscht, da die Mädchen sich an den Händen halten
müssen. Die Braut tanzt nicht mit.
Am Tage der Verlobung oder einige Tage später besucht die Mutter
des Bräutigams mit einigen Verwandten und Freundinnen die Braut. Die
Schwestern des Bräutigams dürfen mitkommen, wenn sie verheiratet sind,
da zu diesem Besuche kein lediges Mädchen mitkommen darf. Vor der
Thür empfängt die Braut die Bräutigamsmutter und küsst ihr die Hand.
In diesem Moment legt diese rhr eine Schnur mit einigen Münzen um den
Hals und begrüsst sie mit dem Nischan. Diese Münzen nennt man Nischan.
Das Wort Nischan bedeutet auch Verlobung. Der Bräutigamsmutter wird
Kaffee und nachher Essen vorgelegt.
Beim Abschied küsst die Braut wieder die Hand der Bräutigamsmutter
und giebt ihr ein Geschenk für den Bräutigam. Das Geschenk besteht
Kleine Mitteilungen.
209
meistens in Sachen, von der Braut selbst gefertigt und von ihr mit feinen
Stickereien geziert; hauptsächlich sind sie mit Blumen aus goldenen und
verschiedenfarbigen Zwirnen gestickt. Bs sind gewöhnlich Handtücher,
Taschentücher oder Hemden. Sollte die Heirat nicht zustande kommen,
dann werden der Nischan und die anderen Geschenke zurückgeschickt.
Der Bräutigam versammelt am Abend der Yerlobung seine Freunde
und setzt ihnen Kaffee und Essen vor. Nach dem Essen wird bis spät in
die Nacht gesungen und gespielt.
Zarewitz bei Sistowa.
(Schluss folgt.)
Kleine Mitteilungen.
Jüdisch-deutsche Erzählungen aus Lemberg.
1. Asne.
Dina, die Tochter des Erzvaters Jakob, wurde von den Fürstensöhnen der
Stadt Sch'chem entehrt und gebar ein Mädchen Namens Asne. Jakob wollte den
Schandfleck aus den Augen bannen und liess das Kind den Ismaeliten verkaufen.
Vor der Trennung gab er dem Kinde eine K'maje (Talisman) um den Hals. —
Asne wurde sodann einem Egypter als Sklavin veräussert.
Als im Laufe der Zeit Josef zum Yicekönig von Egypten erhoben wurde, fuhr
er durch die Strassen der Stadt, um sich huldigen zu lassen. Das jubelnde Volk
warf ihm Geschenke in den Wagen. Asne sah den Yicekönig vorbeifahren, und
da sie sonst nichts kostbares besass, riss sie die lange und pietätvoll gehütete
K'maje vom Halse und warf sie dem Josef zu. Letzterer erkannte in der K'maje
die Geheimzeichen seines Yaters und ruhte nicht eher, bis er die Geschenkgeberin
entdeckte. Er nahm sie zum Weibe und zeugte mit ihr Efraim und Manasse.
Es war auch dies ein Glück für ihn; denn sonst hätte er in Egypten keine Jüdin
zur Frau bekommen können.
2. Eli Nuwi.
Es war eine Hochzeit. — Kommt sich herein ein alter Mann in einer armen
Pekesche und setzt sich oben an. Niemand kennt ihn. — Gäste kommen, reich,
aufgeputzt. Sie setzen sich auch zum Tisch und schieben den fremden Greis
immer mehr hinunter, bis er bei der Thüre zu sitzen kommt. Endlich stösst ihn
der Servierer (Sarwer) ganz hinaus. Gleich darauf kommt wieder ein alter Mann
in einem seidenen „Tilep". In der Hand hält er einen grossen Stecken mit
silbernem Griff. Niemand kennt ihn. Allein Braut und Bräutigam empfangen, ihn
aufs herzlichste und nennen ihn „Yetter". — Sie setzen ihn obenan und bewirten
ihn mit Fischen, Braten und Wein. Der Greis nimmt die Fische und schüttet sie
auf seinen „Tilep" —- dann nimmt er den Braten und schüttet ihn auf den „Tilep",
und auch den Wein schüttet er auf seine Kleider aus. — „Für Mras tbät Ihr dus,
210
Bíegeleísen :
Vetterleb?" fragt ihn das betrübte Brautpaar. — „Ich werd' Euch sugen" — er-
wiederte der Alte — „früher habt Ihr mich hinausgeworfen, denn meine Pekesche
war gemein; jetzt ehrt Ihr mich, denn mein Tilep ist fein. Das ganze Essen und
Trinken gehörte also nicht mir, sondern den Kleidern und darum habe ich alles
auf den Tilep ausgegossen!" — Sagt's und verschwindet. Es ist gewesen Eli
Nuwi. Dem jungen Paar ist es aber schlecht ergangen in der Ehe, denn sie haben
zur Strafe lange Jahre keine Kinder gehabt.
Schnad dem Kugel
Leck dus Messer —
Dir is wojl,
In mir noch besser.
3. Sage aus dem Rabbinerhause Rappaport.
Es war in der ersten Osternacht. Der Rabbiner sass im Kreise der Seinigen
beim Tisch und erzählte vom Auszug aus Egypten. Ein Judenfeind schlich sich
indessen in den Hausflur des Rabbiners und warf eine Kindesleiche in den Back-
ofen. Dann eilte er zur Behörde und denunzierte, der Jude hätte ein Christenkind
geraubt, um Blut zum Osterbrod zu haben. Grosse Bangigkeit befiel die ganze
Familie, als die Kommission erschien; nur der Rabbiner selbst blieb ruhig. —
Als man das Ofenbrettel öffnete, geschah ein Wunder. Die Leiche war spurlos
verschwunden und etliche lebende Rephühner flogen heraus. Hiervon bekam der
Rabbiner den Zunamen Rappaport.
4. Sage aus dem Rabbinerhause Ornstein.
Der Lieblingssohn des Rabbiners Jakob Ornstein lag im Sterben. Um den
Todesengel (Malach hamuwes) von seinem Werke abzuhalten, lässt der Rabbiner
die Schächter kommen. Diese stellen sich mit gezückten Schächtmessern um
das Bett des Kranken. Hier und da schwingen sie die Messer und fechten „in der
Luft." — Trotzdem stirbt der Sohn. Der Rabbi öffnet das Fenster. Es ist gerade
ein herrliches Wetter und die Sonne leuchtet prächtiger, denn je. „Du schanst of
Jankers Broch?" — ruft der Rabbiner. Sofort verdunkelt sich der Himmel und es
beginnt heftig zu regnen.
5. Mythe über den Tod.
Dem Sterbenden erscheint Adam und sagt: „Mir wurde ewiges Leben zugesagt
und ich musste sterben, warum willst du nicht sterben?" Dann kommt der Malach
hamuwes und schlachtet das Opfer unter der Haut — woher das eigentümliche
Röcheln in der Agonie stammt. Der Tote hört auf zu sehen und zu fühlen; aber
er hört noch, bis man drei Schaufeln Erde auf ihn wirft. Wenn er auf der Erde
liegt — auf den drei Strohhalmen — hat er zur Rechten ein grosses Feuer und
zur Linken ein grosses Wasser. Er rührt sich nicht, denn er fürchtet hinein-
zufallen und schreit sehr laut, aber kein Mensch hört ihn. Nur die Hunde ver-
nehmen das Geschrei und darum heulen sie kläglich, wenn jemand gestorben ist.
Wenn man den Toten begraben hat, kommt zu ihm nachts der Engel Dojme und
fragt ihn um den Namen. Der Verstorbene muss nebst seinem Vornamen auch
einen Satz aus den Psalmen mit denselben Anfangs- und Endbuchstaben hersagen,
sonst wird er gepeinigt. Dann führt in der Engel unter mannigfachen Strapazen
zum ewigen Richter.
Lemberg. Dr. Biegeleisen.
Kleine Mitteilungen.
211
Die Aufführungen der Passionsspiele zu Höritz im Bölimerwald.
Im Sommer 1893 wurde zu Höritz bei Krumau am Pusse des südlichen
Böhmerwaldes das altheimische Passionsspiel in grossartiger Neubearbeitung in
einem eigens hierzu erbauten Schauspielhaus aufgeführt. Die 16 Vorstellungen
vom 25. Juni bis zum 10. September erzielten 23 000 Besucher von Nah und Fern,
ein Erfolg, der Mut für alle Zukunft giebt.
Das Passionsspiel wurde im Jahre 1816 vom Leinwebermeister Gröllhesl zu
Höritz in Prosa niedergeschrieben und seitdem alle paar Jahre bis 1887 mehrmals
hintereinander in einfacher, ländlicher Weise dargestellt. Professor Ammann in
Krumau, der sich schon lange erfolgreich mit der Volkskunde des Böhmerwaldes
beschäftigt'), hat zuerst seine Aufmerksamkeit dem Höritzer Passion zugewendet,
dessen Quelle (P. Martin Cochems Leben Jesu), dessen Geschichte und Beziehungen
zu anderen Volksschauspielen (besonders dem Passion aus Tweras im Böhmer-
wald) festgestellt und diese Ergebnisse nebst dem ganzen Text des alten Spiels
hn Jahre 1892 veröffentlicht.2) Ammann hat dadurch die Höritzer zu einer grossen
Aufführung ihres Passionsspiels angeregt und den Böhmerwaldbund für diesen
Gedanken gewonnen. Der Leiter dieses Bundes, Josef Taschek, hat dann mit Be-
geisterung und Opfermut in erstaunlich kurzer Zeit das ganze Werk der Vollendung
zugeführt. Vom Herbst 1892 bis zum Sommer 1893 mussten den vielen Mit-
wirkenden für das Stück die lebenden Bilder und die Chöre eingeübt werden; da
wurden Kostüme und Dekorationen angefertigt und das Theater erbaut. Auch das
Passionsspiel selbst durfte nicht in seinem alten schlichten Hauskleid vor eine
grosse Versammlung geführt werden; es benötigte eines neuen Festgewandes.
Auch diese Aufgabe hat Ammann mit verständnisvoller Treue für die volkstümliche
Uberlieferung sicher und trefflich bewältigt. Seine Bearbeitung ist noch nicht
gedruckt, doch konnte man sie nach der Aufführung mit der alten gedruckten
Fassung des Passionsspiels vergleichen.3)
Amman hat nun nach dem Vorgang des verwandten Tweraser Passionsspiels
eine Anrede an die Zuschauer und Chorgesänge zu den einzelnen Handlungen
hinzugedichtet. Ferner hat er (wTas seit Alters bei anderen Passionen nachweisbar
und noch in Oberammergau üblich ist) lebende Bilder eingefügt und hierzu Er-
klärungen in fünffüssigen meist reimlosen Jamben verfasst. Ammann musste auch
die Handlung des Stückes selbst strammer zusammenfassen, Verzahnungen zwischen
den einzelnen Teilen herstellen, die verborgenen dramatischen Keime stärker
herausheben, den Wortlaut von Geschmacklosigkeit säubern, überhaupt, wo es
Not that, kürzen und dem Bibelwort zu seinem Recht verhelfen. Da er schonend
vorgegangen ist, nie überflüssig tief eingegriffen und in den eigenen Zusätzen den
Volkston so gut getroffen hat, dass man wenigstens während der Aufführung die
1) Vgl. Volkssegen aus dem Bölimerwald in dieser Zeitschrift 1, 197—214, 307—314;
-■> 165—177. Hochzeitsbräuclie aus dem Böhmerwalde in Yeckenstedts Zeitschrift für
Volkskunde 2. Der Schwerttanz im südlichen Böhmen, Mitteil. d. Vereins f. Geschichte d.
deutschen in Böhmen 26, 35—42. Nachträge zum Schwerttanz, Zeitschr. f. d. Altertum
34, 178—210.
2) In den Mitteil. d. Vereins f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen 30, 181—296 (daraus
Sonderabdruck, Prag 1892). Vergi, dazu Ammann in unserer Zeitschr. 3, 208—223;
300—329.
3) Hans Lambel, dem Ammaims Handschrift vorlag, hat diesen Vergleich in allen
Einzelheiten übersichtlich durchgeführt und gewürdigt in den Mitteil. d. Vereins f. Gesch.
d- Deutschen in Böhmen 31, 194—220.
212
Kauften :
Näte nirgends merkte, so wurde durch die Neubearbeitung die Wirkungsfähigkeit
des Ganzen nur gesteigert. Auch Musikeinlagen wurden richtig verwendet, ein
altbewährter Brauch bei Yolksschauspielen. Sie wurden zum Teil neu komponiert
vom Budweiser Domkapellmeister Jungmann, zum Teil aus Händeis und Haydns
kirchlichen Werken genommen.
Eine kurze Mittagspause abgerechnet, währt die Vorstellung von V211 Uhr
vormittags bis 6 Uhr nachmittags. Der Vormittag gilt der Vorbereitung. Dar-
gestellt werden das Passionsspiel, das Schäferspiel (die Parabel vom guten Hirten)
und 23 lebende Bilder (aus dem alten Testament und der Jugend Christi), die die
Verbindung zwischen der Weltschöpfung und dem Passion herstellen. Da diese
Bilder, die natürlich in erster Linie die Schaulust befriedigen, in den Vormittag
fallen, so drücken und hemmen sie nicht die Wirkung des eigentlichen Spieles.
Ein herrlicher Abschluss wurde für den ersten Teil gewonnen durch die neu ein-
gefügte Scene: Jesu Einzug in Jerusalem. Am Nachmittag geht nun das Passions-
spiel vom Leiden und Sterben des Heilands über die Bühne. Es setzt sehr
dramatisch mit dem Abschied Christi von seiner Mutter ein und führt in fünf
deutlich gegliederten Haupthandlungen bis zur Kreuzigung, wird aber in der
Bearbeitung durch lebende Bilder bis zur Auferstehung fortgesetzt.
Die Wirkung und die Vorzüge der Darstellung sind natürlich ganz andrer
Natur als bei unserm modernen Theater. Alle dreihundert Mitwirkenden sind
durchweg (wie in Oberammergau) heimische, meist einfache Leute, Bauern, Arbeiter,
Handwerker, deren Auswahl aus den nur 1240 Einwohnern des Marktes Höritz
nicht leicht war. Die Ortszugehörigkeit schuf das begeisterte Zusammenwirken
Aller, was schon bei den ausgezeichnet gestellten lebenden Bildern zu einer Be-
dingung des Erfolges wurde. Aber auch in den dramatischen Scenen geht die
beste Wirkung von der Bewegung in der Menge aus. So in den Versammlungen
des hohen Rats und in den Volksaufläufen vor den Häusern des Pilatus oder
Herodes. Wie hier Schlag auf Schlag die gegenteiligen Meinungen leidenschaftlich
durcheinander schwirren, das lag dem Keime nach schon im Volksstück, wurde
aber durch die Bearbeitung und die Darstellung erst so prächtig herausgestaltet.
In den ruhigeren Scenen liegt der höchste Reiz im Malerischen. Abendmahl,
Kreuzweg u. s. w. sind bei dem gelassenen Spiel der schön geordneten Gruppen
eigentlich lebende Bilder in langsamer Bewegung.
Auch das Spiel der Einzelnen darf nicht mit dem Massstab des Berufsschau-
spielers gemessen werden. Der Volksschauspieler will nichts anderes, als innig
und naiv das ausdrücken, was seine eigene Seele ergreift. Er kennt die Gestalten
des neuen Testaments von Jugend auf und ist innerlich mit ihnen verwachsen, wenn
er sie spielen soll. Diese lebhafte Hingebung, diese bewusste Sicherheit wirkt bei
allen so überzeugend; auch bei den Hauptpersonen, bei Maria, einer einfachen
Magd, die ganz als betrübte Mutter fühlt und spricht, bei Jesus, den der Ober-
lehrer Bartl mit ruhiger Milde und schlichter Hoheit darstellt, unterstützt durch
eine würdige Erscheinung und eine warme klangvolle Stimme. Theaterdirektor
Deutsch, der die Regie führte, hat die Spieler eingeübt und sie (wie mir scheint
ein bischen zu viel) mit schauspielerischen Künsten vertraut gemacht. Der Volkston
kann in der Darstellung nicht achtsam genug gewahrt werden. Alle Theaterkünste
verwischen die reine Wirkung.
Gesprochen wird hochdeutsch. Freilich klingt die bairische Mundart der
Darsteller deutlich durch, was ich, insbesondere hei den volkstümlicheren Figuren,
für keinen Nachteil halte. Störender ist die gezierte und gezwungene Aussprache
des Hochdeutschen bei einzelnen Darstellern (Vatér, Leben, Siehe mit hörbarem
h und ähnliches, das leicht vermieden werden könnte.
Kleine Mitteil im gen.
213
Ein Vergleich zwischen diesem jungen Versuch und dem altberühmten Ober-
ammergauer Spiel drängt sich von selbst auf. Eine Entscheidung über das Wert-
verhältnis beider ist schon deshalb unthunlich, weil sie im Text wie in der Art
der Darstellung sehr verschieden sind. Die 0berammergauer Bühne ist ungedeckt,
durch keinen Vorhang verhüllt und hat zum Hintergrund das freie Gebirgsbild
als natürlichen Abschluss. Auf dieser Hauptbühne steht eine zweite kleine Bühne,
auf der das Passionsstück dargestellt wird und die lebenden Bilder, die messia-
nischen Verheissungen des alten Testaments, welche die Vorführung des Leidens
Christi an den betreffenden Stellen unterbrechen. Auf der grossen Bühne bewegt
sich der Chor, der in Gesängen die Bedeutung der Scenen und Bilder erklärt.
Gespielt wird bei Tageslicht mit ungeschminktem Antlitz und natürlichem Haar
und Bart. Demnach ganz anders als in Höritz, wo auf der modernen, durch
wechselnde Dekorationen völlig abgeschlossenen Bühne die chronologische Reihen-
folge der Begebenheiten eingehalten wird und die Personen mit Schminke und
Perücke bei vielfarbiger elektrischer Beleuchtung vor einem dunklen Zuschauer-
raum auftreten.
Infolge des ersten überraschenden Erfolges hat die Leitung des Böhmerwald-
bundes beschlossen, die Vorstellungen im Sommer 1894 zu wiederholen. Für die
späteren Jahre freilich müsste eine Pause oder eine Abwechslung eintreten. Prof.
Ammann birgt in seinem Pulte noch mehrere Volksschauspiele aus dem Böhmer-
wald, so ein Christkindspiel, Stücke vom ägyptischem Josef und von Moses. Leicht
bearbeitet könnten sie in den nächsten Jahren das Passionsspiel ablösen. Wir
wünschen ihnen vom Herzen eine baldige fröhliche Auferstehung. ')
Prag. A. Hauffen.
Der Bergische Blocksberg.
Von 0. Schell.
Jakob Grimm zählt in seiner Deutschen Mythologie (3. Ausg., S. 1004) eine
grosse Reihe von Hexen- oder Blocksbergen, namentlich in Deutschland, auf, be-
merkt aber dazu: Die übrigen Hexenstätten vermag ich nur unvollständig aufzu-
zählen. Wir sind nun in der Lage, die dort aufgezählten Hexenstätten, nachdem
uns der Zufall in den letzten Tagen sehr günstig war, um eine vermehren zu
können. Und zwar ist dies der Jaberg bei Hilden, ein isoliert aus der Ebene auf-
steigender Sandhügel, der viele Meilen weit die breite Rheinebene, aber auch einen
grossen Teil des Hügellandes, beherrscht. Dieser Umstand und der eigentümliche
Name, vom Volke als „Gottesberg" gedeutet, konnte die Bedeutung des Berges
bei der dortigen Bevölkerung nur erhöhen. So ist es leicht erklärlich, dass grade
dieser Berg, der wie kein zweiter im Bergischen hervortritt, zum Hexentanzplatz
wurde.
Nur spärliche Züge der Volksüberlieferungen vermochte ich nach längeren
vergeblichen Forschungen zu ermitteln, und diese sollen in treuem Anschluss an
(l'e Quelle berichtet werden.
Nach der dort umlaufenden Sage sollen sich in der Nähe des Jaberges Hünen-
gräber befinden, vor allen Dingen das „Heidenkönigsgrab'-, von dem die Berichte
1) Einen ausführlichen Bericht über die Auflührungen des Höritzer Passionsspieles
hat Prof. Lambel in dem 32. Jahrgänge der Mitteilungen des Vereins für Geschichte der
deutschen in Böhmen gegeben. In Aussicht steht eine Schrift darüber von der Leitung
des Deutschen Böhmer w al db undes.
214
Schell:
über wunderbare Funde im Sommer 1893 die ganze Gegend in die grösste Auf-
regung versetzten. Auf dem Jaberg selbst sollen die Heiden ihren Göttern Opfer
und andere Verehrungen dargebracht und ihre Befehlshaber beerdigt haben. Heut-
zutage spukt es dort. In einer bestimmten Nacht (welche, konnte ich nicht in
Erfahrung bringen) wird auf dem Berge ein Hexensabbat abgehalten. Dann
nahen die Hexen von allen Seiten, auf Besenstielen, Gabeln und anderen Geräten
hoch durch die Luft. Zu dieser Zeit ist es nicht ratsam, sich dort aufzuhalten.
Wie fest ein Teil des Volkes an dem alten Glauben hängt, beweist eine
Thatsache der neuesten Zeit. Im Winter 1874 trat das Elmsfeuer auf dem Jaberge
ungemein lebhaft auf. Da glaubte man, der Hexensabbat wäre hereingebrochen.
Auch auf die nähere Umgebung des Jaberges hat sich der Hexenglaube
erstreckt. Auf dem nahen Puchsberg (von einer Seite ausdrücklich als Blocksberg
bezeichnet) treiben ebenfalls die Hexen ihr Wesen.
Nach Prüfung des einschlägigen Materials bin ich der Überzeugung, dass dies
der einzige Berg hier zu Lande ist, der als Hexentanzplatz zu einer alljährlich
wiederkehrenden Zeit beim Volke gilt. Er dürfte darum, bis vielleicht andere
Quellen erschlossen werden, als der Blocksberg unserer Gegend zu bezeichnen
sein. Mehrere Sumpfstellen, namentlich der Holzhauser Bruch, gelten ebenfalls
als Hexentanzplätze; aber es knüpfen ganz bestimmte Sagen dort an; es sind keine
Berge und die Tänze kehren nicht jährlich wieder.
Sich drehende und blutende Steine.
In einiger Entfernung von den Anlagen bei Remscheid liegen einige grosse
Steinblöcke am Wege. Alte Leute erzählen, dieselben bewegten sich jedesmal,
wenn die Glocken geläutet würden.
Am Wege von Remscheid nach Vieringhausen liegen verschiedene Steine, von
denen die Leute behaupten, sie bluteten, wenn man mit Nadeln daran stosse. —
Eine alte Prau, welche mir dies mitteilte, hatte in ihrer Jugend mit ihren Ge-
spielinnen oft den Versuch gemacht.
In diesen beiden Volksüberlieferungen haben wir es offenbar nicht mit solchen
Steinen zu thun, welche für heilig oder heilkräftig galten, weil sie entweder Grenz-
oder Opfersteine waren (Grimm, Deutsche Myth. 3. Aull., S. 611 und Simrock,
Handb. d. Deutschen Myth. 6. Aull., S. 497). Vielmehr tritt uns der seltenere Zug
entgegen, dass den Steinen in beiden Fällen menschliche Gefühle zugeschrieben
werden. Bezüglich der Erklärung sei auf Grimm (s. o.) S. 611, 12 und FY. Schultze,
Der Fetischismus S. 178 ff. verwiesen.
Es sei noch bemerkt, dass Steinhäufungen an Mord- und Unglücksstellen hier
zu Lande unbekannt sind.
0. Schell.
Abermals der Schwur unter dem Rasen.
(Zeitschrift III, 224 f.)
Ein neues Zeugnis, dass unter den schlesischen Polen im 17. Jahrhundert in
Grenzstreitigkeiten der Schwur unter dem Rasen üblich war, ist in der Oelser
Landesordnung von 1610 bei Weingarten Pasc. div. jur. II, 174 von Dr. Wutke
(am Breslauer Staatsarchiv) gefunden und von meinem Freunde Geh. Archivrat
Dr. Grünhagen mir mitgeteilt worden. Unter der Überschrift Forma des Zeugen
Eyds in Gräntz-Saehen Liest man dort folgendes:
Kleine Mitteilungen.
215
— „Die Pauers Leute aber sollen sich bis aufs Hembde ausziehen, Wehre
und Messer von sich legen und soll zu ihrer Vereydung ein Grab Kniehes tief
gegraben werden, darinnen ein jeder Zeuge auf blossen Füssen knieende einen
Rasen auf seinem Haupte haltende den bierobgeschriebenen Eyd leisten soll."
Das Oelser Land war im 17. Jahrh. noch ganz polnisch.
K. Weinhold.
Ein alter, niederösterreicliisclier Hochzeitbraucb.
Es ist eine schon oft beobachtete, leicht erklärliche Eigentümlichkeit, dass das
Volk gerade an seinen Hochzeitbräuchen am zähesten festhält.
Dies gilt besonders yon derjenigen Gegend Nieder-Österreichs, welche den
Namen „Viertel unter dem Manhartsberg" führt und von Donau, March, Kamp und
lJulka eingeschlossen wird; in diesem Distrikte des Landes allein und zwar in den
Bezirken Korneuburg, Stoekerau, Wolkersdorf, Maken, Gross-Enzersdorf, Zisters-
dorf, Mistelbach, Laa und Feldsberg wird folgende Sitte noch heute geübt:
Zu den Hochzeiten, welche im ganzen Viertel unter dem Manhartsberg (V. U.
M. B.) nie im Gasthause, sondern immer im Hause des Bräutigams stattfinden,
werden eigene Gebäcke in Ringform, oft von bedeutender Grösse gebacken, welche
fast allgemein „Bä", im Bezirke Feldsberg „Bauch" (das „ch" sehr weich ge-
sprochen) und in Drösing an der March „Brana" genannt werden.
Den letzteren Ausdruck bin ich nicht in der Lage zu deuten; hingegen sind
die beiden ersteren Namen leicht aus der älteren deutschen Sprache zu erklären:
Ahd., mhd. bouc bedeutet etwas gebogenes oder rundes, war daher auch der
übliche Ausdruck für die altgermanischen Hand- und Armringe; das dialektische
Deminutiv von „Bä" (d. i. Baug) lautet Beigi (— mhd. böugel), ein den Wienern
Wohlbekannter Name für kleinere Gebäcke von runder Form.
Mit diesen Gebäcken hat es nun folgende Bewandnis:
Sobald der Hochzeitszug von der Kirche kommend, im Hochzeitshause an-
gelangt ist, stellt sich die Braut mit ihren „Kranzeljungfrauen" (Brautjungfern) vor
der Hausthüre auf; sodann wird der Braut der grösste, meist prächtig mit Blumen
geschmückte „Bä" überreicht, welche denselben nach einigem Hin- und Herschwingen
kopfüber unter die harrende, aus dem ganzen Dorfe zusammengeströmte Menge
wirft. Nun beginnt ein toller Kampf, da alle Zuschauer ihren Stolz dareinsetzen,
ein Stückchen des Leckerbissens zu erhaschen, der sich auch wiederholt, wenn die
Kranzeljungfern ihre meist kleineren „Bä's" unter die Leute werfen.
In diesen Fällen trägt es nun nicht wenig zur allgemeinen Erheiterung bei,
wenn, wie es häufig der Fall ist, Stricke eingebacken werden, welche verhindern,
dass die Gebäcke schnell zerkleinert werden können; auch kommt es besonders
lrn Bezirke Feldsberg vor, dass Strohbüschel ausgeworfen werden, von denen
einzelne leer sind, andere jedoch „Bä's" enthalten.
Die Thätigkeit der Braut und der Kranzeljungfrauen bezeichnet man mit dem
Ausdrucke: „Bä aufwerfa oder Bä schupfa"; hingegen sagt man von der Menge,
sie geht „Bä raffa", oder wie es in Stillfried a. d. March heisst, „Beigi reissn".
Diese Gebräuche sind so tief eingewurzelt, dass arme Leute, denen diese
Verteilung zu kostspielig käme, Semmeln auswerfen; in Hippies (Bez. Korneuburg)
lsr es Sitte, dass die Braut den Ortsburschen den „Bä" übergiebt, während die
Kranzeljungfrauen oft bis zu zwanzig Stück derselben unter die Menge werfen.
An diese Vorgänge schliessen sich meist die sogenannten „Stupfreck", das
smd drei Tanztouren, an denen Jeder teilnehmen darf und während deren Wein
nnd Brot dargeboten wird.
2.16 Frischauf:
Besondere Beachtung verdient die in Nieder-Fellabrunn (Bezirk Stockerau)
übliche Sitte, dass die Braut den „Bä" nach derjenigen Richtung werfen muss, in
welcher in diesem Jahre das Getreide angebaut ist.
Der ganze höchst merkwürdige Gebrauch, welcher, so viel mir bekannt ist, in
dem „nuces projicere" der Römer eine Analogie hat, dürfte heidnischen Ursprunges
sein; Gebäcke in Form des Mondes oder des Sonnenrades scheinen uralte Opfer-
gaben.
An Stelle der Opferung ist in unserm Falle die Verteilung unter das Volk
getreten, was durch die oben mitgeteilte Meinung aus Nieder Fellabrunn, dass
durch dieses Gebäck den Feldern Segen widerfährt, bekräftigt und bestätigt wird.
Da der Gebrauch des „Bä"-Werfens den angrenzenden Slaven unbekannt ist,
wäre es von grossem Interesse, zu erfahren, ob derselbe anderwärts in Deutschland
geübt wird.
Ich würde mich freuen, wenn durch diese Mitteilung Anlass zu weiteren
Nachforschungen nach dieser Richtung gegeben würde.
Wien. Dr. Eugen Frischauf.
Die Fussspur.
Herr Prof. Sartori verweist in seiner trefflichen Studie über den Schuh im
Volksglauben in dieser Zeitschrift IV, S. 42 auf eine bekannte auch schon in dieser
Zeitschrift citierte Sage aus dem Talmud. Das betreffende Stück liegt nun auch
in der von Winter und Wünsche veranstalteten Sammlung nachkanonischer Schriften
jüdischer Literatur (Trier 1893) vor. Ludwig Fraenkel hat diese Erzählung aus-
führlich behandelt und ihre Verbreitung beleuchtet (Zeitschr. f. vergi. Literatur-
geschichte und Renaissance-Literatur, Berlin 1890 N. F., S. 220—235). Das Stück
kommt auch in Bosnien vor (gedruckt in der Sammlung bosn. Sagen und Märchen,
hsg. von den Alumnen des Seminars in Djakovo und bei Nikola Tordinac). Auch
in der „Geschichte des Böhmischen Robinsons" ist derselbe Stoff mit Geschick
verwertet. Für den Volksglauben der Juden wäre die Sage freilich kaum von
Belang, hätten wir nicht in den halachischen Schriften andere Belege für den auf
die Fussspur bezüglichen Glauben. Von dem Arzte Rabbi Chanina, der gegen das
Ende des zweiten Jahrhunderts u. Z. lebte, wird als von einem frommen Freigeiste
berichtet, er habe eine Hexe gewähren lassen, die sich vom Orte, wo er sass,
Staub verschaffen wollte, um ihn zu verhexen (Sanh. 67 b). Er führte den Bibel-
spruch im Munde: „Es ist Keiner ausser Ihm!" (V. M. 4, 35.) Leopold Low
bemerkt hierzu (Die Lebensalter in der jüdischen Literatur. Szegedin 1875, S. 433 ff.)
nach einem Zeitungsberichte vom 28. Juni 1874 aus Banat-Weisskirchen in Ungarn:
„Vor wenigen Tagen erregte eine Bauernfrau, die den Heimweg vom Markte an-
getreten hatte, die Aufmerksamkeit vieler Vorübergehenden. Sie kam trauernden
Sinnes, den Blick zur Erde gesenkt, bis vor die Fenster des hiesigen Bezirks-
gerichtes. Hier legte sie sich der Länge nach auf die Erde, stammelte allerlei
geheimnisvolle "Worte in bald anschwellendem, bald wieder abnehmendem Tone
vor sich her, indem sie mit den Händen Sand und Steinchen zusammenscharrte
und in eine Figur formte, worin sie alle möglichen Kreise, Kreuze und ander-
weitige Hexenzeichen eindrückte. Nachdem der Sand von der wunderbaren Ein-
wirkung der Zauberformeln gesättigt und gehörig präpariert zu sein schien, fasste
ihn die Glückliche in ihr Kopftüchel, küsste die Zauberstelle, streute unter jedes
Fenster einige Körnchen des behexten Sandes und eilte dann frohen Sinnes mit
heiterem Herzen zum Staunen aller Umstehenden der Kirche zu, um Gott zu danken
Kleine Mitteilungen.
217
für das glückliche Zustandekommen des wundersamen Fabrikates. Die neugierigen
Zuschauer dieser Zauberei blieben betroffen stehen; was hat denn das Weib ge-
than? war die Frage. Worauf ein Mütterlein, das eben zum Zauberakte hinzu-
getreten, mit kunstverständiger, bedenklicher Miene meinte: „Sie hat das Bezirks-
gericht verhext." Und alle Neugierigen mieden sofort mit nachdenkendem Kopf-
schtitteln die verzauberte Stelle.
Über einschlägigen siidslavischen Glauben berichtete ich mehrfach in meinen
Büchern.
Wien. Friedrich S. Krauss.
Sammlungen der volkstümlichen Überlieferungen in Deutschland.
Die Sammlungen der Volksüberlieferungen in Mecklenburg, über die wir
hi unserer Zeitschrift Ii, S. 8G berichteten, nehmen unter der aufopfernden Leitung
^es Gymnasiallehrers Herrn R. Wossidlo in Waren, unseres Mitglieds und Mit-
arbeiters, einen sehr erfreulichen Fortgang. Herr W. hat in der Rostocker Zeitung
No. 116, vom 11. März 1894, über die letzten zwei Jahre Bericht erstattet. Freilich
hat sich der Mecklenburgische Landtag bis jetzt ablehnend verhalten, und auch
die Regierung zögert leider mit ihrer Unterstützung, auch ist der Eifer bei manchen
anfänglichen Helfern erkaltet, trotz alledem kann man die Ergebnisse, welche
fir. W. erreicht hat, mit grosser Freude begrüssen. Der Mecklenburgische Boden
1§t noch iingemein reich an wertvollen Überlieferungen.
An Rätseln, Liedern, Reimen, Sagen u. s. w. besitzt Hr. W. bereits nahezu
20 000 Varianten. Das Rätselbuch namentlich verspricht sehr bedeutend durch
alte schöne Stücke zu werden. Kinderreime sind mit 1000 Nummern in fast
H)00 Varianten verzeichnet, Erntekranzsprüche 65, Hochzeitbitterreden 50. Lieder,
Mundartliche und hochdeutsche, quollen überall, in vielen Varianten, hervor. Das
Material an Sagen, Märchen, Aberglauben wächst immer mehr über die reiche
Sammlung von K. Bartsch hinaus. Darunter sind wichtige Sagen vom Wold, vom
Mort, vom Drak; die Nachweisung einer mimischen Darstellung von Fru Goden.
^ on der von Schröer und Bartsch aus Mecklenburg aufgewiesenen Gudrunsage hat
sich aber keine Spur trotz allem Suchen entdecken lassen.
Herr Wossidlo hat sein Leben dieser Sammlung gewidmet und bringt grosse
Opfer dafür. Sehr wichtiges und bedeutendes hat er bereits gewonnen. Möge
sein treues Bemühen bei Regierung und Landtag und bei allen Mecklenburgern
(üe sehr verdiente Anerkennung finden! Das hoffen und wünschen wir.
In Baden hat Herr Bibliothekar Dr. Friedrich Pfaff in Freiburg im Breisgau,
(^er Herausgeber der von A. Birlinger gegründeten Alemannia, unter Beihilfe der
Professoren Fr. Kluge und E. H. Meyer, sich zur Sammlung der Volksüber-
^elerungen und Sitten entschlossen und einen Fragebogen ausgehn lassen, der auch
l^e Mundarten in den Bereich des zu sammelnden zieht. Je weniger im Staate
Baden, der alemannische und fränkische Bewohner hat, bisher systematisch und
•'indringlich gesammelt worden ist, urn so grösser kann das zu hoffende Ergebnis
■sein. Mögen die Erwartungen nicht getäuscht werden! Die Alemannia wird über
^en Fortgang berichten.
Ferner erhalten wir Nachricht von der Bildung einer Vereinigung in Würzburg,
Welche für das ganze Königreich Bayern die Sammlung der Volksüberlieferungen
ln die Hand nehmen will. Genaueres bleibt abzuwarten.
218
Weinliold:
Aufmerksam wollen wir bei dieser Gelegenheit auf ein kleines Heft machen,
das von dem Verein „Deutsches Haus" in Brünn angeregt und von Dr. Otto
Jiriczek, Privatdocent in Breslau, ausgearbeitet worden ist: Anleitung zur
Mitarbeit an volkskundlichen Sammlungen, Brünn 1894. 30 S. Kl. 8°.
Dasselbe geht freilich nicht so genau in die Fragestellung ein, als das vortreffliche
Handbook of Folklore von G. L. Gomme (London 1890) oder der Questionnaire
de Folklore von E. Monseur, Liège 1890, und das Vraagboek tot het zamelen van
Vlaamsche Folklore of Volkskunde (Gand 1888), sowie die Instructions et Question-
naires von P. Sébillot (Paris 1887); indessen wird es immerhin gute Dienste
leisten können.
Anfrage und Bitte.
Mit einer Arbeit über die verschiedenen Fassungen und Behandlungen des
Lenorestoffs in Sage und Lied beschäftigt, bitte ich um freundliche Mitteilung von
ungedruckten oder versteckten Varianten und einschlägigen Notizen.
Bibliografia delle Tradizioni popolari d'Italia compilata da Giuseppe
Pitrè con tre indici speciali. Torino-Palermo, Carlo Clausen. 1894.
S. XX, 603. 4o.
Der hochverdiente sizilianische Gelehrte, Dr. Giuseppe Pitrè, der Gründer und
Leiter der ältesten volkskundlichen Zeitschrift, des Archivio delle Tradizioni popolari,
hat der italienischen, ja der Weltliteratur in dem hier angezeigten grossen Werke
die EYucht einer angestrengten zwölfjährigen Arbeit geschenkt Über Anlage, Aus-
führung und die Ziele hat Dr. P. in der Vorrede gesprochen und darin bekannt,
dass er die Grösse und Schwierigkeit seines Unternehmens beim Beginn desselben
in den letzten Monaten 1881 noch nicht zu übersehen vermochte; ist doch seitdem
das Studium der Volksüberlieferungen erst in die Höhe geschossen und damit
dieser Litteraturzweig zu einer ungeahnten Entwicklung gekommen. In rastloser
Thätigkeit, von vielen zwar unterstützt und durch seine Stellung als Herausgeber
des Archivio begünstigt, aber doch auf sich selbst eigentlich angewiesen, wie das
immer geht, hat nun G. P. diese wahrhaft überraschende Bibliographie der Traditioni
popolari Italiens vollendet. Sie zerfällt in sechs Teile: 1. Novelline, Racconti,
Leggende, Facezie, 2. Canti e Melodie, 3. Giuochi e Canzonette infantili, 4. Indo-
vinelli, Forinole, Voci. Gerghi, 5. Proverbi, 6. Usi, Costumi, Credenze, Pregiudizi.
Eine sehr wertvolle, sorgfälig gearbeitete Beigabe bilden die drei Indici: der erste
giebt die Namen der Verfasser, die Pseudonymen, die Anagramme und Anfangs-
worte der anonymen Schriften; der zweite die Orte, in denen und für die Samm-
K. Weinhold.
München, April 1894.
Liebigstrasse 1V2,
Dr. Ludwig Frankel,
Privatdocent an der Techn. Hochschule in Stuttgart.
Bticheranzeigen.
Büch or an 7, eigen.
219
lungen erschienen sind; der dritte führt die Materie seihst in alphabetischer Folge
auf. Durch diese Register ist das Werk ungemein nutzbar geworden. Wir können
Italien zu dieser Bibliographie seiner reichen volkstümlichen Litteratur mit einem
gewissen Neide Glück wünschen, wir Deutschen besitzen so wenig als andere
Völker ein solches Werk; nur kleine Anläufe zur Verzeichnung sind gemacht, ohne
fien Versuch der bibliographischen Genauigkeit Pitres. Dem Verfasser selbst, der
unter schweren Schicksalsschlägen seine Arbeit vollbracht hat, sprechen wir von
ganzem Herzen die höchste Anerkennung aus. Möchte er sich entscbliessen, den
^erzieht auf den schönen Plan einer Geschichte der Volkskunde in Italien zurück-
zunehmen. Kein anderer als Er könnte diese interessante Monographie schreiben.
K. Weinhold.
Legends of tlie Micmacs. By the Rev. Silas Tertius Rand. Wellesley
Philological publications. New York and London: Longmans, Green
& Co. 1894. S. XLVI. 452. 8°. (Mit Rands Bildnis.)
Die Sagen der Micmacs, eines halbwilden Indianerstammes in Neuschottland
und auf den Prinz Edward-Inseln, sind von dem ehrwürdigen S. T. Rand gesammelt
u*id aufgezeichnet, der von 1846 bis zu seinem Tode (Oktober 1889) als Baptisten-
Missionar unter diesen Indianern gewirkt hat. Rev. Rand hat die ganze Bibel in
das Micmac übersetzt und ein Micmac Dictionar von mehr als 40 000 Worten zu-
sammengetragen. Er schrieb die ihm in Micmac erzählten Geschichten englisch
aus dem Gedächtnis nieder, mit Hilfe unmittelbar gemachter Notizen. Nach seinem
Tode wurden diese Sagen mit andern wertvollen Micmacmanuskripten Rands für
die amerikanisch-linguistische Bibliothek des AVellesley-College angekauft und das
Departement of Comparative Philology mit der Veröffentlichung beauftragt, die nun
durch Miss Helen L. Webster ausgeführt ward, unter Beigabe einer guten Ein-
leitung.
Es sind 87 Geschichten, von denen nur ein kleiner Teil vorher an ver-
schiedenen Orten bekannt gemacht ist (S. VII f.). Sie sind nur zum Teil rein
indianisch; eine Gruppe weist auf die Berührung mit den Weissen hin und verrät
deren Einfluss auf Anschauung und Sitten der Micmacs; eine dritte endlich wird
aui europäischen Ursprung zurückzuführen sein. Rev. Rand war selbst schon
darauf aufmerksam geworden, ebenso wie der Herausgeber der Algonquin Legends
of New-England, Mr. Ch. G. Leland, der übrigens Rands handschriftliche Sammlung
benutzte, auf die Vermutung einer Verwandtschaft norwegischer Sagen mit denen
der Wabanaki oder der nordöstlichen Algonquins, zu denen die Micmacs ge-
hören, kam.
Für vergleichende Sagen- und Sittenkunde sind alle diese Micmacgeschichten
A °u hohem Werte. Besonders interessant sind aber die rein indianischen.
In den Überlieferungen der Micmacs tritt ein mythisches Wesen hervor, das
sie Glooscaap nennen. Glooscap lebte wie die Menschen, ass, trank, schlief, rauchte
üud tanzte wie sie, aber er alterte und starb nicht. Er lebte in einem grossen
W igwam in Neuschottland, bis er den Weissen weichen musste, die ihn gern ge-
fangen hätten. Er war nicht verheiratet; ein altes Weib hielt ihm Haus und ein
kleiner Bursche, Abistanäooch' geheissen, bediente ihn. Er war sehr gastfrei und
das kostete ihm nicht viel. Wenn hungrige Wanderer kamen, brauchte er kein
Elentier zu schlachten. Die alte Frau nahm einen alten Bieberknochen, schabte
'hn in den Kessel voll Wasser, der Bursch machte Feuer darunter und sofort
Zeitschr, d, Vereins f. Vplkskutide. 1894 15
220
"Weinhold:
schwamm der Kessel voll Fleisch. Das kleinste Stück davon sättigte den hungrigsten
Gast, lind ausserdem ersetzte sich jedes herausgenomine Fleischbröckchen sogleich
wieder.
Glooscap hatte Macht über die Elemente. Er konnte eine solche Kälte machen,
dass die Feuer seiner Feinde erloschen und sie wie starre Leichen da lagen. Er
war aber ein wohlgesinnter Herr und missbrauchte seine Gewalt nicht. Die
Micmacs glauben, dass er noch lebe, aber sie wissen nicht wo.
Rev. Rand hat die Geschichten nicht schlicht aus dem Micmac ins Englische
übersetzt, was bei der Grundverschiedenheit der beiden Sprachen unmöglich gewesen
wäre. Er erzählte sie also in his own way wie er sich ausdrückt, und dabei kam
er auf poetische Umschreibungen (er hatte dichteriches Talent) und legte Deutungen
ein, die freilich gegen die Forderung treuer Wiedergabe der Volkstexte Verstössen.
So erheben sich gegründete Bedenken, aber sie betreffen nur die Form. Das Tat-
sächliche der Erzählungen ist echt imd darum bleiben sie eine wertvolle Quelle.
K. Weinhold.
Germauische Werbungssagen. I. Hugdietrich. Jarl Apollonius. Yon
Dr. Karl Wolfskehl. Darmstadt, Bergsträsser, 1893. S. 33. 8o.
„Äussere Gründe veranlassen mich, aus einem grösseren Werk ,Germanische
Werbungssagen' die beiden nachfolgenden Abhandlungen vorläufig zu veröffentlichen.
In der vorliegenden Gestalt bieten sie zwei völlig unabhängige Bearbeitungen;
ihre Stellung zu einander, sowie die ihnen im Kreis einschlägiger Sagengestaltungen
zukommende Bedeutung wird erst im Rahmen der umfassenderen Arbeit zu Tage
treten." So leitet der Verfasser sein Schriftchen, das den Anstrich einer Doktor-
dissertation hat, ein. Ich darf mich also wrohl kurz fassen und das grössere Werk
abwarten, bemerke daher nur folgendes. Wolfskehl hält die taciteischen Alci (oder
Alces, wie er sagt) für die Zwillingssöhne der Rindr-Rinda, die Odin mit ihr
erzeugt habe, als er sie in Weiberkleidung bezwang. Diese Verkleidung hat sich
erst aus dem Weiberhaar entwickelt, das Odin als Sturmgott zukam, wie „die
seltene, bis ins kleinste gehende Ähnlichkeit zwischen Vasolt und dem germanischen
Sturmgott" be weisen soll. Ich gestehe, sie nicht finden zu können. In dem langen
Haar liegt nach Wolfskehl — wer dächte nicht an Simson? — Vasolts und 0<Xins
Stärke und geht mit ihm dahin. Odin ist der eigentliche Hazditigaz oder Härtung.
Da nun aber das lange Weiberhaar nach des Verfassers Geständnis „in der Er-
scheinung Vasolts gerade das einzige Element bildet, das bei Odin nicht auf-
zufinden wTar" ; da er es ferner als möglich zugiebt, dass die Verkleidung in dem
Odinsmythus ursprünglich sei, so scheint er mir seinen Aufstellungen selbst den
Boden wieder zu entziehen. — Das zweite Stück der Schrift beruht auf dem
hübschen Fund, dass eine Episode in der Sage von Apollonius und Herburg, die
Verkleidung des Jarls in ein Spielweib und das so stattfindende Zusammentreffen
mit seiner Geliebten, ihr Widerspiel in dem niederländischen Liede vom Werelt-
schen wijf hat. Aber damit wird doch noch nicht bewiesen, wie Wolfskehl wähnt,
dass die Scene der Erzählung von Apollonius schon ursprünglich angehört habe!
Man kann sie im Gegenteil nun erst recht für ein hineingezogenes, einst selbst-
ständiges Geschichtchen erachten. Die Bemerkungen über die Züge der Verfolgung
sind recht haltlos und verkennen ganz den Ton des Volksliedes. Der Verfasser
macht aber anderwärts auch gute Bemerkungen und ist wohlbelesen. Die fremd-
sprachigen Citate hätte er genauer korrigieren sollen.
Berlin. Max Roed iger.
Bü eh era nz eigen.
221
Zur Geschichte des Märchens vom Dornröschen. Yon Dr. Reinhold
Spiller. Beilage zum Programm der Thurgauischen Kailtonsschule
zu Fraueufeld für 1892/93. 4. 37 S. und eine Stammbaumtafel.
Für diese Abhandlung- möchte ich die Fachgenossen um Kenntnis- und Rücksicht-
nahme freundlichst bitten. Wir verdanken — man verzeihe das Einstreuen von
Personalien, wo der Verfasser in der kurzen Geleitnotiz seine Absperrung von
nötigen Hilfsmitteln schmerzlich beklagt — sie einem Schweizer Gymnasiallehrer,
dem, nach dieser Probe zu urteilen, für die Theorie der Märchenkunde wertvolle
Bereicherungen zu spenden die Fähigkeit eignet. Leider sitzt er eben abseits von
den rettenden Engeln, die dem Wahrheit suchenden Pfadfinder unter die Arme
greifen, sobald er Stützen für seine Entdeckungen braucht.
Über das sinnige Problem vom Dornröschen, das uralten Zaubers Geheimnisse
erfüllen, spukt viel haltlose, sogar unsinnige Anschauung, trotzdem Männer wie
J. Grimm, Uhland, Benfey, Liebrecht, jeder nach seiner verschiedenen Weise, es
zu lösen oder wenigstens zu erklären versuchten. Spiller ist es unter grosser
Mühe gelungen, sich die Auseinandersetzungen der bisherigen Forschung zugänglich
zu machen. Er hat unvoreingenommen studiert und mit allem Freimute ehrlicher
Überzeugung den Stab darüber gebrochen, wo er sich berufen fühlte, über sie
hinauszuschreiten. Er darf es; beendigt doch jene bescheidene Einführung das
Bekenntnis „den Mut des Fehlens, den Jakob Grimm im Namen der Wissenschaft
verlangt, besitze ich — vielleicht nur zu sehr". Ausserdem kommt ihm aber eine
ausserordentliche Anteilnahme des Gemüts, eine wahrhafte Herzenshingabe zu
statten. Der leider gedrängte allgemeine Erguss zur Psychologie des Märchens,
d. h. des goldechten, des Volksmärchens jauchzt förmlich von warmer Lust an
dem Genüsse, den dieser ewig sprudelnde Jungbronnen dem lauterer Absicht voll
sich Nahenden gewährt. Im Geschwindfluge überschauen diese ersten Seiten aus
der Vogelperspektive das Aufkeimen des modernen Märcheninteresses seit dem
Eateinbanne des Frühmittelalters bis 1812, als der Grimmsche Anfangsband, „die
erste Mustersammlung", hervortrat. Des Pariser Akademikers Charles Perrault „Contes
de ma mie Oye", die 1697 zuerst trotz des Hohns und Gelächters der auf'Boileaus
Rezepte schwörenden geziert-raffinierten Hofclique des „siècle de Louis quatorze"
bewusst Propaganda für die ideale Sache der.Volksmäre trieben, enthalten „La
belle au bois dormant" ebenso wie der Brüder Grimm anmutiger Reigen unver-
gesslicher Gestalten, zu dem Sneewitchen, Rotkäppchen u. s. w. zählen, das Dorn-
röschen.
Nett verbindet alle diese Zweige der Pflege, die man dem traumversunkenen
Königskinde angedeihen liess, Ludwig Uhland in seiner Person. Ich schalte diese
Beobachtung hier ein, nicht deshalb, weil sie der streng sachlich und in der Dar-
stellung scharf methodisch verfahrende Spiller nicht nutzbar machte oder gar
etwa, weil sie mir besonders nahe liegt, sondern weil sie wirklich die Thatsache,
wie all diese Fäden doch nur einem Gewebe angehören, recht beleuchtet. Auf
5—8 treten Uhlands fein erwogene Feststellungen über das Wachstum des
Stoffes vor uns hin, die aus drei scharf abgegrenzten Gründen die Annahme eines
Zusammenhangs mit oder gar einer Abhängigkeit von altnordischen Quellen zurück-
weisen lassen. Uhlands herrliche Rhapsodie „Märchen", die 1812 entstandene und
teilweise aus Zeitereignissen erklärbare Schlussnummer der ersten Sammlung seiner
jjGedichte", hätte eine hübsche Stütze für Uhlands Auffassung und Bevorzugung
dieses Problems dargeboten; auf die Erläuterungen in meiner kritischen Uhland-
Aasgabe (1893) I S. 277 ff. und S. 512, sowie auf die an letzterer Stelle angezogene
15*
222
Frankel :
Abhandlung yon A. Sulzbach in den „Berichten des Freien Deutschen Hochstifts
zu Frankfurt a. M." N. F. VIII (besonders S. 352—354) möge verwiesen sein.
Ingleichen findet man in dieser Ausgabe I S. 510 die Angaben (auch die Ehlands)
zu der von Spiller S. 6 angeführten Parallele der Toten von Lustnau citiert.
Auch sonst Hessen sich noch einzelne kleine Ergänzungen beibringen. Der
im indischen Märchen (Mahâbhârata III 13 145 ff.) vorkommende Zug, dass ein
Mitglied der Froschkönigsfamilie nicht ans Wasser, die Heimat, erinnert werden
darf (S. 8, Anm. 3), findet sich auch deutsch. Zu S. 11, wo des Sacristain de Cluni
,Usage est en Normandie' verwendet wird, vgl. Fränkel, Archiv f. d. Stud. d. neuer.
Sprachen 80, G2 und Uhland-Ausgabe II, 295, auch A. von Keller, Uhland als
Dramatiker S. 311 f. Auf S. 18 sind in Anm. 1, wie der Verfasser mir mitteilte,
die Notizen „Dem goldenen Esel" und „oder den darauf beruhenden Metamor-
phosen des Apuleius" zu streichen. Zu der Volksetymologie Säufritz aus Sie(g)frid
über die Brücke Sewfried sehe man Fr. Zarnckes authentischen Nachweis in der
Einleitung zum Nibelungenlied1). Fiordispina schlage man S. 16 nach.
Das Märchen „Der Weber des Wischnu" (Pantschatantra I, no. 5) erinnert (S. 23)
anlässlich des Luftbesuchs, den der Held der Königstochter abstattet, an H. Chr.
Andersens „Der fliegende Koffer" und an den Weg der Liebe, den der Doktor
Faust der Sage wählt, um zu den Haremsdamen des Sultans zu gelangen. Ge-
legentlich der Fussnote S. 27, Anm. 3 „Die Katze spielt überhaupt im Volksglauben
die Rolle eines lichtscheuen Dämons" füge ich, da sie sich auf ein indisches
Märchen (in Mrs. Frere „Old Deccan Days or Hindoo Fairy Tales", 3. ed.,
London 1881) bezieht, aus der seltenen — ,one hundred copies privately printed'
— Sammlung von Miss Stokes, Indian Fairy Tales (Calcutta 1879) vergleichs-
halber die Seitenziffern 15 (cat aunt to tiger), 18, 19, 255 an. Zur Stellung des
Adlers in der Mythologie (S. 29 f.) vgl. mein „Shakespeare und das Tagelied"
S. 86 f. Anm. In Anmerkung auf S. 30 scheinen mir zwei märchenmässige Motive
vermischt oder wenigstens nicht ganz sauber getrennt: einmal die Neubelebung
(gewaltsam) Gestorbener durch irgendwelche seltsame Mittelstufe, andererseits die
mehrfache Verwandlung durch eine Reihe absonderlicher Medien in der Art des
homerischen Proteus (vgl. dazu meine Nachträge German. 36, 308 f.); ja, man
könnte sogar noch eine dritte Gruppe ausscheiden, die Wiedergeburt von Menschen
aus den Leichen der Tiere, die sie verschlucken nach dem Stile der alttestament-
lichen Jonas-Legende. Übrigens dünkt mich der daselbst von Spiller angenommene
(oder Liebrecht geglaubte) Übertritt der Idee eines Sanskritstücks ins Hotten-
tottische unwahrscheinlich. Vermisst habe ich S. 13, Anm. 1 die Bezugnahme auf
Pöschels ausgezeichnete und fast lückenlose Literaturgeschichte des Schlaraffenlandes
in Paul und Braunes „Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Lite-
ratur" Band V (vgl. auch Fränkel i. d. German. 36, 185-)); S. 14, Anm. 2 bei den
von Land zu Land gemodelten Spenden des „Tischlein decke dich" die ganz
parallele Umnennung des Harlekins nach den provinziellen Lieblingsspeisen. Behufs
näheren Verständnisses des S. 19 verwerteten westfranzösichen Volksliedes, wo ein
Mädchen vom Vater in den Wald geschickt wird ,pour cueillir la nouzille [= noi-
sette, Haselnuss]', sich einen grünen Dorn in den Finger sticht, einschläft und
durch den ersten von drei Reitern erblickt wird, worauf der zweite sagt „sie ist
1) LXXXYI4. A. Richter, Deutsche Heldensagen des Mittelalters I, 257. Fränkel,
Germ. 36, 183. Bruimhol'er, Kulturwandel und Völkerverkehr S. 147. Jeep, Hans von
Schönberg, Verf. d. Schildbürgerbuchs S. 39.
2) Hauffen, Kaspar Scheidt, S. 25, Strauch, Anzeiger f. dtsch. Altert. 18, 361. Liebrecht,
Zur Volkskunde S. 120.
ftiicheran zeigen.
m
eingeschlafen", der dritte „sie soll mein Lieb sein" dürfte erstlich an die erotische
Bedeutung des Haselstrauchs in der Volkspoesie, besonders der deutschen, sodann
aber auch an das, in „Der Wirtin Töchterlein" am besten "verkörperte übliche
Terzett der drei in Liebe entbrennenden Burschen gemahnt werden.
Sämtliche vorstehenden Glossen wollen dem überaus kenntnisreichen und
scharfsinnigen Verfasser nur beweisen, wie lebhafte Teilnahme seine knapp um-
i'issenen Auseinandersetzungen in uns erregen. Ohne jeder Silbe seines übersichtlich
angelegten Gefüges beistimmen zu können, begrüssen wir dennoch diese Arbeit,
deren ungemeine Reichhaltigkeit angesichts der örtlichen Vereinsamung Spillers
ganz besonders bewundernswert ist, mit nachdrücklichstem Beifall. Sie fördert die
begriffliche Einsicht in ein vielfach zerschlissenes Sagenproblem von hoher Wichtig-
keit aufs beste und stellt zudem eine wohlgelungene Verschmelzung mythologischer
Studien mit volkskundlichen rein literarischen Bodens dar, was heutzutage, wo
leider gerade auf diesem schlüpfrigen und schmalen Grenzraine so oft ausgeglitten
^vird, warm anerkannt sei. Möge er auf diesem Felde recht bald wieder reife
Frucht pflücken!
München. Ludwig Frankel.
À Dictionary of British Folk-lore, edited by G. Laurence Gomme.
Part. I. The traditional Games of England, Scotland und Ireland
with Tunes, Singing-rhymes, and Methods of playing according to the
variants extant and recorded in different parts of the kingdom, collected
and annotated by Alice Bertha Gomme. Vol. I. Accroshay-Nuts
in May. London, David JSTutt. 1894. S. XIX. 433. gr. 8°.
Der Präsident der Englischen Folklore-Society G. Laurence Gomme und seine
Gattin, Mrs. A. B. Gomme beginnen mit diesem Bande ein Dictionary of British
Folk-lore, für das sie seit 15 Jahren reichen Stoff gesammelt haben. Den Anfang
macht ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis der volkstümlichen Kinderspiele,
das Mrs. Gomme bearbeitet hat. Der vorliegende erste Band reicht von dem
Accroshay genannten Spiel bis zu den von Gesang begleiteten Nuts in May. Der
zweite wird ausser dem Abschluss eine Abhandlung über die Themen (incidents)
bringen, welche in den Spielen sich ünden und eine Geschichte ihres Ursprungs
und ihrer Entwicklung unter Vergleichung der Kinderspiele anderer Länder ent-
werfen. Die einzelnen Artikel dieses ersten Bandes enthalten eine kurze Be-
sehreibung des Spiels, teilen die Lieder, zum Teil mit ihren Weisen mit, erläutern
^ie zuweilen durch bildliche Darstellungen und geben auch kurze Ausführungen.
Wenn der Erfolg des Unternehmens Verfasser und Verleger zur Fortsetzung er-
mutigt, soll im nächsten Jahre das Dictionary die Hochzeitgebräuche der Britischen
Inseln vorführen.
Mrs. Gomme hat auch eine Auswahl von Spielliedern für Kinderstube und
Schule veranstaltet, mit Bildern von Miss Winiired Smith, die zu Ostern d. J.
erscheinen sollte. Wir begleiten alle diese Bücher mit unseren besten Wünschen.
K. W.
224
Brückner:
Allgemeine Sammlung niederdeutscher Rätsel. Nebst einigen anderen
mundartlichen Rätselaufgaben und Auflösungen. Herausgegeben yon
Rudolf Eckart. Leipzig, Adolf Weigel 1894. S. VIII. 136. 8°.
Der Titel dieses Büchleins könnte Herrn Wustinann ein hübsches Beispiel für
eines seiner Kapitel abgeben, er dient aber auch als Kennzeichen für den Verf.,
der ein recht eifriger Niederdeutscher ist, dem aber zu raten wäre, dass er vor
der weiteren Entwickelung seiner literarischen Thätigkeit sich klar machte, was
alles dazu gehört. — Die Rätsel gehen bunt durcheinander, sie wiederholen sich
daher auch; unter die niederdeutschen sind mittel- und oberdeutsche hineingemischt,
statt dass diese einen Anhang für sich bildeten; und kunterbunt durcheinander,
ohne alle bibliographische Genauigkeit führt der Verf. des Lexikons der nieder-
sächsischen Schriftsteller zum Schluss die Niederdeutsche Rätselliteratur auf, in
der es an Lücken nicht fehlt. Ich würde dies nicht so scharf hervorheben, wenn
Hr. R. E. sich in der Vorrede nicht als richtiger Dilettant über Leute, die ihre
Bücher methodisch anlegen und genau ausführen, hochmütig erhöbe: er nennt sie
Forscher, die in ihren Untersuchungen gern prunken. Und noch eins: "Wenn er
seine Sammlung zu einem Volksbuch machen möchte, das „den weitesten Volks-
schichten zur unterhaltenden Lektüre" dienen soll, wird ihm zu raten sein, die in
ihrer Passung grob zotigen Rätsel wegzulassen, die wohl in Zeitschriften und
Bücher aufgenommen werden müssen, welche sich die Sammlung der Volksüber-
lieferungen überhaupt vorsetzen, nicht aber in Unterhaltungsbücher für das
ganze Volk. K. W.
Cesliy Lid (Böhmisches Volk). Band III, Heft 2 u. 3, S. 97—288. Prag.
Die Trennung des Inhaltes in einen kulturhistorisch-ethnographischen und
einen anthropologisch-archäologischen Teil ist beibehalten, wir berücksichtigen
hier nur ersteren. Hochzeitbräuche, Beschreibung und Abbildung von Hochzeit-
bannern u. dgl.; Festbräuche (Waldteufel zu Weihnachten, Nachricht darüber vom
J. 1777; das Herumgehen der vermummten „Lucien" u. a.); allerlei Aberglauben,
z. B. über die „Macht" der Klapper- oder Pimpernuss vom J. 1560; eine alte
Anweisung für Goldsucher im Riesengebirge — die älteste der Art teilte Joan.
Dlugosz in seinem Liber beneficiorum der Krakauer Diöcese (circa 1450) im poln.
Original mit; alte Pferdenamen, alte Rätsel und Scherzfragen, auch aus der Bibel;
Ortsnamenspiele u. s. w. wechseln in bunter Reihe mit längeren und öfters mit
guten und zahlreichen Illustrationen versehenen Artikeln ab. Von solchen nennen
wir den Artikel über Hüttenbemalung im südlichen Mähren, von J. Koula; über den
Bauernhof im böhmischen Schlesien (im Troppauischen), von V. Hauer; 0. Hos-
tin sky setzt seine Studien über das böhm. Volkslied fort und erweist, dass die
pessimistische Anschaung, als sei dieses fast schon ausgestorben, noch durchaus
ungerechtfertigt ist; das Material ist auch mit Erbens grosser Sammlung nicht
erschöpft, neue Melodien und Texte sind vielfach, zumal in Gegenden, die
vom grossen Verkehr, Industriecentren u. s. w. fernab liegen, aufzufinden. Ein-
gehend schildert auf Grund von Urbarien O. G. Paroubek die Lage des hörigen
Volkes in der Podiebrader Herrschaft im vorigen Jahrhundert, als Einleitung
zum Abdrucke von Gedichten eines Zeitgenossen, die den Klagen des Volkes über
die unsägliche Mühsal der Robott beredten Ausdruck verleihen.
Neben der Zeitschrift selbst sei erwähnt die Fortsetzung des von C. Zibrt be-
gonnenen Werkes über böhmische Trachtengeschichte: Dr. Zikm, Winter führt
Protokolle.
225
dieselbe vom Anfange des XV. Jahrb. bis zur Schlacht am Weissen Berge fort
(Heft 1 und 2, 300 S., 174 Illustrationen). In der Bibliothek (Knihovna) des
Cesky Lid ist als 3. Heft die Studie von J. Cerny, Beiträge zur böhmischen
Volksetymologie (Prispevky u. s. w., 1894) erschienen.
A. Brückner.
X —-7-
Zytje i si Ovo. Yistnyk literatury, istorii i folklori! vydaje Olga Franko
(Leben und Wort, Bote für Literatur, Geschichte und Folklore, her-
ausgegeben von 0. F.) I. Jahrgang, Heft 1 und 2 (S. 1—320, 8°),
Lemberg 1894. rt ■
Da den Kleinrussen (Ruthenen) in Russland der Gebrauch ihrer Sprache im
Druck seit 1878 nahezu vollständig verwehrt ist, so ist nur der kleinere, öster-
reichische Teil des Stammes in der Lage, Litteratur und Volkstum ungehinderter
zu pflegen. Namentlich in den letztverilossenen Jahren bethätigte er sein erstarktes
Selbstbewustsein und die Pflege nationaler Geschichte und Kultur in einer Reihe
litterarischer und wissenschaftlicher Unternehmungen, als deren jüngste wir die
oben genannte Monatsschrift begrüssen. Den Luxus einer ausschliesslich folk-
'oristischen Zeitschrift können sich die Kleinrussen noch nicht gestatten; im Zytjc
ist daher auch Belletristik, in Prosa und Vers, vertreten; dann litterarische Studien,
Beiträge zur Biographie und Charakteristik kleinrussischer Schriftsteller u. dgl.:
Abhandlungen allgemeineren Inhaltes, in denen namentlich vergleichende Religions-
geschichte vertreten ist (eine Studie über Budha; über neue Richtungen auf dem
Gebiete der Mythologie); aber schon im bibliographischen Teil überwiegen Be-
sprechungen folkloristischer Publikationen; es werden mitgeteilt- moderne Lieder
11 • dergl. aus dem Munde des Volkes, Beiträge zur Geschichte der alten historischen
Lieder (dumy), Apokryphe und Legenden aus Handschriften u. s. w.
Auf kleinrussischem Boden treffen zwei Kulturgebiete zusammen: auf ost-
europäischem (slavischbyzantinischen) Hintergrunde machen sich nämlich west-
europäische Einflüsse bemerkbar, daher kann die Wissenschaft jedes auf Erforschung
dieses Volkstumes gerichtete Bestreben nur mit Freuden begrüssen; so sei uns
iluch die neue Zeitschrift willkommen. A. Brückner.
Aus den
Sitzimgs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 23. Februar 1894. Herr Prof. Dr. Karl Müllenhoff machte
^eitere Mitteilungen über naturwissenschaftliche Volksanschanungen, an seinen
Vortrag vom 27. Nov. 1891 anknüpfend (vgl. diese Zeitschrift 1, 459 f.). Es kam
darauf an nachzuweisen, dass die Naturanschauung des Volkes häufig selbst
schwierige Erscheinungen richtig aufgefasst hat und ihrer Erklärung durch die
I issenschaft vorausgeeilt ist. So bei der Behauptung, der Schnee dünge; bei dem
Rauben, dass die das Getreide bewegende Roggenmuhme Fruchtbarkeit bringe.
le Erzählung von Wieland dem Schmied in der Thidrekssage enthält die richtige
226
Roediger: Protokolle.
Beobachtung, dass die Vögel gegen den Wind aufsteigen und sich herablassen.
Auch Pflanzensagen wurden berührt (Verwandtschaft von Stiefmütterchen und
Veilchen, singende Bäume u. s. w.). Freilich sind auch irrtümliche und aber-
gläubische Erklärungen nicht ausgeschlossen, z. B. benennt der Bergmann Gesteine,
die über ihren Gehalt täuschen, nach dem vermeintlich ihn neckenden Berggeist
Kobalt und Nickel, und behauptet das Volk, die Vögel folgten bei ihren Wande-
rungen der Milchstrasse. — Darauf besprach Herr Prof. Dr. Brückner die Anfänge
des Dramas. Nicht unter griechischem Himmel allein hat es sich ausgebildet,
sondern ist bei den verschiedensten Völkern vorhanden, ohne dass Zusammenhang
mit dem griechischen Drama wahrscheinlich oder möglich wäre. Der Vortragende
berichtet nach Gondáki über die Festspiele der Mausen, die an den nordwestlichen
Zuflüssen des Ob hausen und mit den Ungarn verwandt sind. Die Aufführungen
finden nach glücklichen Bärenjagden statt und sind mit mehrtägigen, kostspieligen
Schmausereien und Gelagen verbunden, die der Erleger des heiligen Tieres den
von nah und fern herbeiziehenden Gästen veranstalten muss. Dabei wird nicht nur
die Bärenjagd schauspielerisch dargestellt, sondern auch Vorgänge des täglichen
Lebens, namentlich soweit, als sie zu Verspottungen Anlass geben. Sogar das
Ehebruchsdrama fehlt nicht. Brückner ist der Ansicht, dass fröhliche Gelage
überall den Anstoss zu Nachahmung und Spott geben und gegeben haben, auch
bei den Griechen.
Freitag, den 80. März 1894 sprach Herr Dr. Seier über Glauben und
Aberglauben im alten Mexiko, bildliche Darstellungen dabei vorlegend. Hauptquelie
sind die Aufzeichnungen des Paters Bernardino de Sahagun, die auf sorgsam
kontrolierten Berichten von Eingebornen beruhen und bald nach der Eroberung
des Landes gemacht wurden. Erörtert ward die Sage von der Herkunft der Mexi-
kaner aus Aztlan, dem glücklichen Reiche der Unsterblichen im Norden. Ihr
Führer war Uitzilopochtli, der „junge Feuerkolibri", der mit dem Feuer oder der
Sonne in Zusammenhang steht. Sie wurde als Stammvater, die Erde als Stamm-
mutter betrachtet. Genaue Kunde über die Urheimat brachte eine Gesandtschaft,
die der erste Motecuhzoma dorthin geschickt hatte. Eine andere Sage handelt von
der Schöpfung der Sonne und des Mondes durch die Götter. In den Mondflecken
erblickte man ein hinauf geschleudertes Kaninchen. Schwierig und mit mancherlei
Fährlichkeiten verknüpft war der Weg ins Totenland (ebenfalls im Norden) für
die Seele. Zusammenstossende Berge, Tiere, Wüsten, Wirbelstürme u. s. w. drohten
ihr, endlich ein neunarmiger Strom. Der Glaube an Vorzeichen und Gespenster
erfüllte den Mexikaner z. T. mit den Schauern der Wildnis und den Menschen-
opfern zusammenhängend. Prof. Roediger deutete auf Verwandtes und Aehnliches
bei andern Völkern hin, woran es trotz aller Eigenart des mexikanischen Glaubens
nicht mangelt. — Herr Generaldisponent Waiden erweiterte, unter Vorlage von
Zeichnungen, seine Bemerkungen über die Köhlerhütten (oben S. 106), indem er auf
primitive Bauten in der Lombardei und die finnische Hota hinwies. Der Name
begegnet uns nicht nur in Sibirien wieder, sondern auch in allen germanischen
Sprachen (Kote, Köte, Kate). Es handelt sich dabei um eine uralte, höchst einfache
Form der AVohnung. Herr Geheimrat Meitzen knüpfte' daran Bemerkungen, die
er bei reichlicherer Zeit vertiefen will.
Max Roediger.
Das Ei als kosniogonisclie Vorstellung.
Yon Dr. Franz Lukas.
Eines der interessantesten Capitel aus der Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Geistes bilden die Vorstellungen, die sich die Völker schon
von Urbeginn an über die Entstehung der Welt gemacht haben. Wer
einen genaueren Blick auf dieses Gebiet wirft, wird überrascht von der
Fülle und Mannigfaltigkeit der kosmogonischen Gedanken, die ihm schon
m den ältesten Schriftdenkmälern, die wir überhaupt besitzen, wie in den
Keilinschriften der Babylonier, den Hieroglyphen der Ägypter, dem Teda
der Inder, dem Avesta der Eranier u. a., entgegentreten. Unter ihnen
wieder ist eine der interessantesten kosmogonischen Vorstellungen die vom
Weltei.
Der Entstehung dieser Vorstellung liegen drei Gedanken zugrunde:
1- Das Weltall in seiner gegenwärtigen Gestalt, insbesondere das feste
Himmelsgewölbe gleicht einem Ei — es hatte ursprünglich schon die
Gestalt eines Eies, aus dessen Teilen die einzelnen Teile der Welt ent-
standen. 2. Der am fernen Horizonte alitaglieli scheinbar aus dem
Meere auftauchende Sonnenball gleicht einem grossen Ei — so kam auch
am ersten Weltmorgen aus dem Urmeere ein Ei zum Aorschein, dem
•1er Sonnengott, die Ursache alles Lebens auf der Erde, entstieg. 3. Das
Leben in der organischen Natur entwickelt sich aus einer Knospe,
einem Ei oder infolge des geschlechtlichen Zeugungsaktes — so ist auch
die Welt entstanden.
Diese Grundgedanken treten in den einzelnen Kosmogonien entweder
isoliert und in verschiedener Weise combiniert aui und sind entsprechend
der Verschiedenheit bezüglich der Ansichten vom Bau des Weltganzen und
der geographischen Verhältnisse des Wohnortes bei verschiedenen Völkern
auch verschieden ausgestaltet worden. Dies soll nun im Einzelnen gezeigt
Werden. Wir besprechen zuerst die Kosmogonien der alten Völker und
teilen sie entsprechend jenen drei Grundgedanken in drei Gruppen; sodann
ziehen wir zum Vergleiche und um zu zeigen, dass dieselben kosmo-
gonischen Vorstellungen über das Weltei wie in den ältesten Zeiten auch
Zeitsehr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894 lb
228
Lukas :
gegenwärtig noch fortleben, einige Weltentstehungssagen bei jetzt lebenden
Yölkern heran.
Wir erwähnen zunächst eine Stelle ans dem Minokhired, einer Schrift
der Parsen, die nach Spiegel der Zeit der Sassaniden angehört.1) Hier
heisst es: Himmel und Erde und Wasser und alles andere unter dem
Himmel ist so geformt, wie das Ei der Yögel. Der Himmel ist über der
Erde und unter der Erde einem Ei ähnlich, durch das Handwerk des
Schöpfers Airara geformt; die Erde innerhalb des Himmels ähnlich wie
das Gelbe im Ei.z) — Hier haben wir den ersten der obgenannten Grund-
gedanken noch ohne jede Beziehung zur Kosmogonie: das fertige Weltall
Avird mit einem Ei verglichen.
Damit vergleichen wir nun einige Kosmogonien der Inder, zunächst die
im Chandogya-Brahmana Y, 19: Die Sonne ist das brahman, so ist die
Lehre; dies ihre Erklärung: Im Anfange war dieses All nicht seiend, Tad
war seiend, es veränderte sich, ward ein Ei, dieses lag ein Jahr, es spaltete
sich, die beiden Schalen waren Silber und Gold, das Silber ist die Erde,
das Gold ist der Himmel, die Bärmutter sind die Berge, die Hülle die
Wolken, der Thau, die Aderröhren sind die Ströme, das Bauchwasser ist
das Meer: Was da geboren ward, ist die Sonne.3) — Die oberste Stufe
dieser Kosmogonie nimmt das Tad ein, d. i. nach dem Rigveda X, 129 das
höchste und erste, räum- und zeitlose, unkörperliche und unbewegte einzige
Existierende, dem blos die eine Eigenschaft zukommt, dass es belebt ist.
Die zweite Stufe der Kosmogonie nimmt das Ei ein, das als Mikrokosmos
alle Teile der AVeit enthält. Auf der dritten Stufe entstehen aus den
Teilen des Eies die entsprechenden Teile der W'elt; auf der vierten endlich
entsteht (ob aus dem Ei oder aus dem Meere, bleibt unklar) die Sonne.
Auch hier ist wie im Minokhired die Beziehung der Gestalt des Eies zur
Gestalt des Weltalls, also der Ursprung der Vorstellung vom Weltei aus
dem bildlichen Vergleiche klar; aber das Ei dient nicht mehr blos zum
Vergleiche, sondern bildet eine Entwicklungsstufe in der allmählichen Ent-
stehung der Welt, es ist also schon übertragen worden auf das kosmo-
gonische Gebiet. Auch in der Deutung der einzelnen Teile des Eies finden
wir einen bedeutenden Unterschied gegenüber dem Minokhired. Im letzteren
wird die ganze Eischale mit dem Firmament und der Dotter mit der im
Mittelpunkte des Weltalls schwebenden Erde verglichen, bei den Indern
hingegen bildet die eine Schalenhälfte, nämlich die obere den Himmel,
die untere die Erde. Dieser Unterschied entspricht der verschiedenen
Ansicht der Eranier und Inder vom Bau des Weltganzen. Die Eranier
dachten sich die Welt eingeschlossen von dem kugelförmigen Himmels-
1) Spiegel, Die traditionelle Literatur der Parsen, S. 137.
2) Windischmann, Zoroastrische Studien, S. 284.
3) Weber, Indische Studien I, S. 2G1.
Das Ei als kosmogonische Vorstellung.
229
gewölbe, im Mittelpunkte desselben die Erde schwebend; die Inder aber
dachten sich die bergartig gewölbte, also einer halben Eischale gleichende
Erde auf dem Meere schwimmend, über der Erde den Luftraum und
endlich über diesem das halbkugelige, also der anderen halben Eischale
gleichende Himmelsgewölbe.1) Wir sehen, wie sich die Verschiedenheit
bezüglich der Ansicht vom Bau des Weltganzen in der Kosmogonie und
speciell in der Verwendung der Teile des Eies bei der Weltentstehung
ausdrückt: Die Vorstellung vom Bau des Weltalls, ferner die Vorstellung
von der Entstehung der Welt und endlich die Rolle des Welteies und
seiner Teile bei der Entstehung der Welt stehen in innigstem Zusammen-
hange.
In ähnlicher Weise wie im Chandogya-Brahmana kommt das Weltei
in einigen späteren Kosmogonien der Inder vor. Wir erwähnen nur kurz
die Kosmogonie im Gesetzbuche des Manu 1, 5 f.: Der uranfängliehe Gott
entwickelte sich zu einem goldenen Ei, das glänzend war wie die Sonne,
und in welchem er selbst als Brahma, der Urvater aller Welten, geboren
Wurde. Dieser ruhte ein Jahr in dem Ei und teilte es sodann durch sein
blosses Wort in zwei Teile. Aus den zwei Schalen formte er Himmel und
Erde; in die Mitte stellte er den Luftraum, die acht W^eltgegenden und
die ewige Wohnung der Wasser.2) -— Auch hier hat das Ei kosmogonische
Bedeutung. Wir sehen zunächst den dritten der eingangs erwähnten drei
kosmogonischen Grundgedanken schärfer als in der vorigen Kosmogonie
hervortreten: Das Ei ist Entwicklungs-, gleichsam Embryonalzustand für
den persönlichen Weltbildner Brahma; dann aber ist auch der erste jener
Grundgedanken, nämlich die Beziehung der Gestalt des Eies zur Gestalt
des Weltganzen und seiner entsprechenden Teile und endlich auch die
der Kosmogonie zugrunde liegende Ansicht der Inder von der auf dem
Ermeere schwimmenden als bergartigen Hochbau (Berg Meru) gedachten
Erde und dem darüber gewölbten den Luftraum allseitig einschliessenden
festen Himmel unzweideutig zu erkennen.
Eine Andeutung dieser Kosmogonie kommt schon im Veda, der ältesten
Schriftensammlung der Inder, und zwar im Rigveda X, 121 vor. Hier
wird Hiranyagarbha als der zuerst Entstandene bezeichnet. Hiranyagarbha
ist aber nichts anderes als ein Beiname eines unbekannten Gottes, welcher
®>rajapati, Herr der Geschöpfe genannt wird, und bedeutet soviel als der
^oldentsprossene, d. h. der aus dem goldenen Ei Hervorgegangene.3)
1) Diese Vorstellung vom Bau des Weltalls haben die Inder mit den Babyloniern
gemeinsam. Auch diese stellten sich nach Jensen, die Kosmologie der Babylonier S. 253
die Erde als eine auf dem Weltmeere ruhende Hohlkugel vor. Diodor II, 31 hat demnach
1-echt, wenn er erklärt, dass sich die Chaldäer die Erde in der Gestalt eines umgestülpten
Bootes vorgestellt haben. — Die Vorstellung vom Weltei jedoch finden wir in der bisher
bekannten Kosmogonie der Babylonier nicht.
2) Nach Muir, Original Sanskrit Texts IV, p. 26.
3) Muir, O. S. T. IV, p. 31.
IG*
230
Lukas:
Wir wenden uns nun zu einer Kosmog'onie der Phönizier und zwar
zu jener des Mochos, die uns der Neuplatoniker Damascius (quaestiones
de primis principiis c. 125, ed. Kopp p. 385, ed. Ruelle p. 323) überliefert
hat. — Die Kosmogonie nennt zuerst zwei materielle Grundwesen, den
Äther, d. i. die helle Luft der Höhe, und den Aër, die tiefer liegende
dichte Luft. Dazu kommt der Wind als das bewegende Prinzip, ferner
Ulomos (= Zeugungstrieb empfinden) in der Bedeutung als Trieb, Verlangen
nach der Entstehung der AVeit. Aus ihm ging Chusoros und das Ei hervor.
Chusoros (= Künstler;, Eröffner) brach das Ei entzwei, aus dessen beiden
Hälften nun Himmel und Erde entstanden. — Hier steht das Ei auf einer
viel späteren kosmogonischen Stufe als in der indischen Kosmogonie. Ein
weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass der Eröffner des Eies
nicht in diesem wie Brahma, sondern unabhängig von ihm und früher
entsteht. Der dritte der oben erwähnten drei kosmogonischen Grund-
gedanken (Ei = Embryonalzustand) tritt hier bedeutend weniger hervor als
in der Kosmogonie nach Manu. Doch gleichen sich die Kosmogonien
darin, dass auch hier aus den Schalenhälften Himmel und Erde entstehen
und somit die Beziehung der Gestalt des Eies und die kosmogonische Ver-
wendung seiner Teile zur Gestalt des Weltganzen deutlich erkennbar ist.
Endlich ziehen wir noch eine griechische Kosmogonie zum Vergleich
heran, die uns der im 2. Jahrh. unserer Zeitrechnung lebende Apologet
Athenagoras (XVIII, p. 18, Gall. XV, 64 ed. Dechairr) als eine dem orphischen
Kosmogonienkreise angehörende überliefert hat. Das Erste von allem ist
Wasser; aus ihm entsteht ein Drache mit dem Kopfe eines Löwen und
Stieres und dem in der Mitte zwischen beiden sicli befindenden Antlitze
eines Gottes. Dieses Wesen, welches den Namen Herakles und Chronos
hatte, erzeugte ein Ei, das in zwei Hälften zerriss; aus der oberen Hälfte
wurde der Himmel, aus der unteren die Erde. — Diese Kosmogonie er-
innert, was die Stellung des Welteies betrifft, mehr an die Kosmogonie
der Phönizier als an die der Inder, insofern nämlich auch bei ihr die
embryonale Bedeutung des Eies weniger hervortritt als in der indischen.
Mit der Kosmogonie der Inder und Phönizier hat sie das gemeinsam, dass
aus der einen Schalenhälfte der Himmel, aus der anderen die Erde
entstand.
Vergleichen wir nun die bisher erwähnten Kosmogonien der Inder,
Phönizier und Griechen, so zeigen sie, so sehr sie auch in Bezug auf Zeit
und Art des Entstehens und in ihrem speciellen Ausbau verschieden sind,
doch in Bezug auf die Vorstellung vom kosmogonischen Ei eine grosse
Ähnlichkeit. In allen diesen Kosmogonien entspringt die Vorstellung vom
Weltei dem Vergleiche der Gestalt des Eies mit der Gestalt des Welt-
ganzen oder genauer gesagt mit der Gestalt des einer halben Eischale
ähnlichen festen Himmelsgewölbes und der auf dem Wasser ruhenden
bergartig gewölbten Erde. Dieser Ursprung der Vorstellung vom Weltei
Das Ei als kosmogonischc Vorstellung.
231
ist aus der Kosmogonie selbst daraus zu erkennen, dass aus den Teilen
des Eies die in Bezug auf Lage und Form entsprechenden Teile des Welt-
ganzen entstehen: aus der oberen Schale der über uns sich wölbende
Himmel, aus der unteren Schale die unter dem Himmel auf dem Meere
ruhende Erde. Allen diesen Kosmogonien liegt daher die gleiche (jedoch
von der eranischen verschiedene) Ansicht vom Bau der Welt zu Grunde,
nämlich die Ansicht, dass die auf dem Weltmeere schwimmende Erde und
der über ihr sich ausdehnende Luftraum von dem einer halben Eischale
ähnlichen festen Himmelsgewölbe überspannt ist. Die Vorstellung vom
Weltei und von der Verwendung seiner Teile bei der Weltentstehung ent-
spricht der Vorstellung vom fertigen Weltganzen, was ja auch gar nicht
anders möglich ist, da eben das fertige Weltganze aus den Teilen des
Eies entstand.
Wir wenden uns nun zu einer anderen Gruppe von Kosmogonien, in
denen der Abstellung vom Weltei der zweite der oben erwähnten Grund-
gedanken, nämlich der Vergleich der aufgehenden Sonne mit einem Ei
zugrunde liegt. Nach dem Rigveda X, 72 wird die Sonne von den Adityas,
d. i. den aus der Urgöttin Aditi (= dem noch ungeteilten, einheitlichen
All) hervorgegangenen Göttern, aus dem Urmeere emporgehoben und hierauf
von Aditi (die auch die specielle Bedeutung einer Lichtgöttin hat) an
den Himmel versetzt. Die Sonne hat aber hier den Beinamen Martanda,
d. i. des Eies Sohn.1) Das deutet auf die Vorstellung hin, dass die Sonne
ursprünglich in Gestalt eines Eies im Urmeere verborgen war und erst
nachdem die Götter das Ei aus dem Meere emporgehoben hatten, ihre
Eihiille verliess. Den Ursprung dieser Arorstellung zu deuten, ist nicht
schwer: Das Bild von der täglich scheinbar aus dem Meere auftauchenden
Sonne wurde auf den ersten Weltmorgeu, also auf das kosmogonische
Gebiet übertragen und dabei die Gestalt des Sonnenballes mit der eines
Eies verglichen.
Dieselbe Vorstellung, jedoch klarer und in bestimmterer Form ent-
wickelt finden wir in der Kosmogonie der Ägypter: Am Anfange war weder
Himmel noch Erde. Von dichter Finsternis umgeben erfüllte den Weltraum
ein grenzenloses Urwasser, welches die männlichen und weiblichen Keime
der künftigen Welt in sich barg. Von Anfang an wohnte im Urstoff die
göttliche Kraft, der Urgeist, und durchdrang alle seine noch nicht diffe-
renzierten Teile so innig und unzertrennlich, dass er mit ihm geradezu
identisch war. Der göttliche Urgeist fühlte Verlangen nach schöpferischer
Thätigkeit und sein Wille, personifiziert als Gott Thot, erweckte die Welt,
deren Gestalt und formenreiche Gebilde sich in seinem Auge vorher ab-
gebildet hatten, zum Leben. Das Wort des Urgeistes (Thot) brachte
dämlich beseelte und einsichtsvolle, gesetzmässig verlaufende Bewegung in
1) Ludwig, Der Rigveda II, S. 576; Grassmami, Der Rigveda II, S. 358.
Lukas.'
den gebundenen Urstoff. Derselbe fing an, sich zu ordnen, indem zunächst
seine Eigenschaften in Gestalt von vier Götterpaaren in Erscheinung traten
— die kosmogonische Achtheit: Nun und Nunet, die zeugende und ge-
bärende Urmaterie, Heh und Hehet, der ägyptische Aion-Eros-Pneuma,
Kek und Keket, der finstere Raum, Nenu und Nenut, die Ruhe. Sie
bilden die Anfänge, die Yäter und Mütter der Dinge, welche der unsicht-
bare göttliche Gedanke in ein harmonisch gebildetes sichtbares Ganze um-
wandelt. Der erste Schöpfungsakt begann mit der Bildung eines grossen
Eies, welches von den Händen des Götterpaares der unendlichen Zeit
(Hell und Hehet) getragen aus dem Urmeere emportaucht. Aus dem Ei
entsprang der Licht- und Sonnengott Ra, die unmittelbare Ursache des
Lebens im Bereiche der irdischen Welt. Nuu begann die Bildung der
Welt, nach ägyptischer Auffassung des Leibes und der Wohnung Gottes.x)
— Das Emporheben des Sonneneies aus dem Urrneere durch das Götter-
paar der unendlichen Zeit und der damit zusammenfallende Beginn des
Lebens auf der Erde lässt uns den Ursprung dieser Vorstellung aus der
Übertragung der Beobachtungen beim täglichen Sonnenaufgang auf den
ersten Weltmorgen besonders deutlich erkennen: Der am äussersten Rande
des Meeres scheinbar aus demselben emportauchende, einem Ei ähnliche
Sonnenball erweckt die Erde aus der Ruhe der finsteren Nacht zu neuem
Leben Tag für Tag seit undenklichen Zeiten, also auch am ersten Welt-
morgen bei der Entstehung der Welt.2)
Endlich vergleichen wir mit den beiden zuletzt erwähnten Kosmogonien
der Inder und Ägypter noch eine Kosmogonie der Griechen und zwar die
sogenannte rhapsodische Kosmogonie der Orphiker, die uns Damascius
(quest, d. pr. princ. c. 123 ed. Kopp p. 380, ed. Ruelle p. 316 f.) mitteilt.
An der Spitze derselben steht Chronos, die Urzeit, als dasjenige Prinzip,
von dem nicht mehr abstrahiert werden kann, als die nothwendige Vor-
aussetzung für die Entwicklung der Welt. Sodann folgen der Äther und
das Chaos; letzteres ist der unermessliche Raum, in welchem die Welt
entsteht, ersterer ist die lichte Urmaterie, die den unermesslichen Raum
erfüllt. Aus dem Äther entsteht im Urraume ein Ei, aus welchem, nachdem
es befruchtet worden, Phanes, Erikapaios und Metis hervorgehen, das sind
Personificationen des innerweltlichen Lichtes, der lebenspendenden schöpfe-
rischen Kraft und der Einsicht. Phanes bringt Sonne und Mond, sowie
Tag und Nacht hervor. Mit der Nacht zeugt er Uranos und Gaia, die
Nacht allein gebiert die Titanen, die unter des Kronos Führung den Uranos
besiegen. Kronos vermählt sich mit der Rliea und zeugt mit ihr den Zeus.
Dieser verschlingt den Phanes und wird dadurch befähigt, das All aus sich
1) Nach Brugsch, Die neue Weltorclnung nacli Vernichtung des sündigen Menschen-
geschlechtes S. 35; Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter S. Till u. 101 f.;
Brugsch, Die Ägyptologie, S. 25, 169 f.
2) Vgl. Brugsch, Rei. u. Mythol der alten Ägypter, S. 102.
p
jDas Éi als kosmogonische Vorstellung, 233
hervorzubringen.1) — Hier ist das Ei Lichtei im vollsten Sinne des
Wortes, es entstellt aus der lichten Urmaterie und aus ihm geht das
schöpferische innerweltliche Licht hervor. Daneben tritt aber auch der
dritte der eingangs erwähnten für die Übertragung des Eies auf das kos-
niogonische Gebiet massgebenden Grundgedanken stärker hervor als in den
beiden vorher erwähnten gleichfalls das Lichtei enthaltenden Ivosmogonien
der Inder und Ägypter; denn vom Ei wird hier ausdrücklich gesagt, dass
es befruchtet und dadurch befähigt wird, den dreigestaltigen Gott Phanes-
Eiikapaios-Metis hervorzubringen. Das Ei ist also für diesen Embryonal-
zustand.
Diese drei Kosmogonien der Inder, Ägypter und Griechen, die wir
zuletzt besprochen haben, bilden eine zweite Gruppe, die sich von der
erster, dadurch unterscheidet, dass das Ei in specieller Bedeutung Lichtei
ist; ihm entspringt das innerweltliche Licht, personifiziert als Martanda,
Ha und Phanes, und von diesem erst geht die weitere Entwicklung der
Welt aus. In den Kosmogonien der ersten Gruppe hingegen ist das Ei
Weltei in weiterem Sinne, indem nämlich aus den Teilen des Eies die
entsprechgnden Teile der Welt entstehen; das Ei ist präformierter
Weltbildungsstoff. Darin, dass für die Entstehung der Vorstellung vom
Lichtei der Vergleich der Gestalt der Sonne mit der eines Eies mass-
gebend ist, berührt sich diese zweite Gruppe von Kosmogonien mit der
ersten. Dadurch aber, dass das Lichtei zugleich Embryonalzustand fin-
den persönlich gedachten Licht- oder Sonnengott als der Ursache des
irdischen Lebens ist, stellt die zweite Gruppe den Ubergang zu der nun
zu besprechenden dritten Gruppe von Kosmogonien dar, in denen für die
Übertragung des Eies auf das kosmogonische Gebiet der dritte der oben
erwähnten Grundgedanken ausschlaggebend gewesen ist.
Wir wenden uns wie in den vorigen zwei Gruppen zunächst zu den
Kosmogonien der Inder. Eine Andeutung des Eies als Embryonalzustand
für die Entwicklung der Welt finden wir wie für das kosmogonische Ei
ln- den schon erwähnten zwei Formen auch hier schon in der ältesten
^chriftensammlung der Inder, dem Veda, und zwar im Atharva-Veda IV, 2, 8:
Die Wasser, ein Kind erzeugend, liessen im Anfange einen Embryo ent-
stehen, und dieser erhielt, als er geboren ward, eine goldene Hülle —
*'• h. der Embryo, den das Urwasser hervorbrachte, befand sich in einem
goldenen Ei. Vollständiger ausgeführt finden wir diese Vorstellung in den
Brahmanas. So heisst es im Çatapatha-Br. XI, 1, 6, If.: Im Anfange war
das All nichts als Wasser. In diesem entstand der Wunsch zu schaffen
und infolge dessen ein goldenes Ei, welches ein Jahr lang im Wasser
schwamm, worauf aus ihm Prajapati geboren wurde. Dieser brachte durch
sein blosses Wort Himmel und Erde und den Luitraum zwischen beiden
1) Vgl. Lobeck, Aglaophamus I, S. 496 f.
•234
Lukas :
zum Vorscheine.1) — Vergleichen wir diese Kosmogonie mit der oben
schon erwähnten des Mann; in beiden entsteht aus dem Ei der persönliche
Weltbildner, in beiden also ist das Ei Embryonalzustand für diesen. Aber
in der Kosmogonie des Manu bildet Brahma aus den Schalen des Eies
Himmel und Erde, während in der zuletzt angeführten Kosmogonie das
Ei keine weitere Rolle spielt, es ist blos Entwicklungszustand für Prajapati.
Hier also tritt der dritte der oben erwähnten für die Entstehung der Vor-
stellung vorn kosmogonischen Ei massgebende Gedanke allein hervor.
Ahnliche Kosmogonien finden wir noch in einer Reihe anderer (jüngerer)
Schriften der Inder. Wir erwähnen nur noch die im Vishnu-Purana I,
2, 45 f. : Ursprünglich waren die Elemente von einander getrennt and
deshalb nicht imstande, lebende Wesen hervorzubringen. Als sie aber in
eine andere gegenseitige Lagerung kamen, vereinigten sie sich und es
entstand ein Ei. Dieses Ei, eigentlich nichts anderes als eine grosse
Wasserblase, war, gleichwie der Samen der Kokosnuss von den verschiedenen
äusseren Samenhüllen umgeben ist, umhüllt von den materiellen Elementen,
zu innerst von Wasser, Feuer, Luft und Äther, dann von dem gemein-
schaftlichen Prinzip dieser vier Elemente, hierauf folgt der (materiell)
gedachte Verstand und zu äusserst endlich die noch ungetrennte Materie.
Im Innern des Eies, in dem sich Vishnu in der Gestalt des Brahma befand,
war die ganze Welt mit allen ihren Bergen, Continenten, Meeren, Ge-
stirnen, Göttern und Menschen enthalten.2) — Hier finden wir das Eigen-
tümliche, dass das Ei, nachdem es als ein den natürlichen Entwicklungs-
vorgängen analoger Entwicklungszustand der Welt auf das kosmogonische
Gebiet übertragen worden war, zur Erläuterung verglichen wird mit einem
anderen natürlichen, aber dem Pflanzenreiche entnommenen Entwicklungs-
zustand — ein Vorgang, der den Ursprung dieser Form des kosmogonischen
Eies aus der Beobachtung der Natur mit potenzierter Deutlichkeit er-
kennen lässt.
Dieser Ursprung des kosmogonischen Eies aus der Naturbeobachtung
macht es uns begreiflich, dass an Stelle des Eies auch andere Entstehungs-
arten des organischen Lebens in die Kosmogonie aufgenommen worden
sind. Da ist zunächst die Weltentstehung aus der Lotosknospe. Nach
dem Bhagavata-Purana II, G, 15 f. u. X, 33, 7 f. erhebt sich aus dem Ur-
wasser die goldene Lotosblume; aus ihrer Knospe geht Brahma hervor
und dieser bildet nun aus den einzelnen Blättern der Blume die Teile der
Welt. Die Ähnlichkeit dieser Kosmogonie mit der nach Manu ist in die
Augen springend. Dieselbe Rolle wie dort das Ei spielt hier der Lotos:
Hier ist die Knospe, dort das Ei Embryonalzustand für Brahma, hier bildet
Brahma aus den Blättern der Lotosblume, dort aus den Schalen des Eies
1) Muir, Sausier. Texts IV, p. 21.
2) Muir a. a. O. IV, p. 35.
Das Ëi als kosmogonische Vorstellung.
235
die Welt. Wie die Vorstellung vom kosmogonischen Ei, so ist auch die
vom kosmogonischen Lotos der Naturanschauung entnommen: Bo wie die
Lotosknospe sich aus dem Wasser erhebt, sich entfaltet und ihre Blätter
ausbreitet, breitete auch der dem Urwasser entstiegene Brahma die Länder
der Erde auf dem Meere aus. Im Bhag.-Pur. III, 20, 12 f. finden wir sogar
Ei und Lotos in derselben Kosmogonie vereinigt: Die ursprünglich von
einander getrennten materiellen Elemente der Welt wurden durch die
Macht des Schicksals vereinigt und bildeten ein Ei. Dieses lag leblos und
unbeweglich im Urwasser und in ihm verweilte der uranfängliche Gott
tausend Jahre. Aus seinem Nabel entsprang eine Lotosknospe, glänzend
wie tausend Sonnen, aus welcher, durchdrungen von dem im Ei ruhenden
göttlichen Wesen, Brahma geboren wurde. Dieser errichtete nun die Welt
aus seinem eigenen Leibe.x) — Der Unterschied von der vorher erwähnten
Kosmogonie bezüglich der kosmogonischen Rolle des Lotos besteht darin,
dass der letztere hier blos Entwicklungszustand ist und nicht zugleich
auch den Stoff zur Bildung der Erde darbietet. Wie in den Kosmogonien
der späteren indischen Literatur überhaupt die einfachen kosmogonischen
Grundgedanken der älteren Schriften immer mehr combiniert werden, so
sehen wir auch hier das Ei, den Lotos und die Weltentstehung aus dem
Körper Brahmas in derselben Kosmogonie vereinigt.
Auch in der ägyptischen Kosmogonie finden wir die Lotosknospe. In
einer der Inschriften von Denderah überreicht ein Pharao dem Sonnengotte
Horsamtaui, „dem aus der Lotosblume aufleuchtenden herrlichen Knaben"
eine Lotosblume mit den Worten: „Ich reiche dir die Blume, welche im
Anfange entstand, die herrliche Lilie auf dem grossen See. Du tratest
heraus in der Stadt Chmum aus der Mitte ihrer Blätter und du erleuchtetest
die Erde, welche noch in Finsternis gehüllt war."2) In. den Inschriften
der Tetapyramide wird auch Ra der Knospende genannt: O Ra, o Knospender,
knospe! O Blühender, blühe auf!"3) Ausdrücke, welche beweisen, dass
wicht die Blume, sondern die Knospe als Entwicklungszustand, aus dem
sich die Blume erst entfaltet, Anlass gegeben hat, den Lotos in die Kos-
mogonie aufzunehmen. Ei und Lotos entsprechen einander vollständig.
Iu der indischen Kosmogonie geht aus dem Ei der persönliche Weltbildner
hervor, desgleichen aus dem Lotos, aus den Teilen des Eies entstehen die
Teile der Welt, aus den Blättern des Lotos die Länder der Erde. In der
'^Syptischen Kosmogonie spielt das Ei eine andere Rolle als in der indischen,
m Übereinstimmung damit auch der Lotos. Sowie nämlich aus dem Ei
uicht der Weltbildner, sondern das inn er weltliche Licht hervorgeht, so
aUch aus dem Lotos.
1) Muir a. a. O. IV, p. 37.
2) Mariette Denderah I, 55 a, Brugsch, Rei. u. Myth. d. alt. Ägypter, S. 121 f.
3) Strauss, Die altägyptischen Götter und Göttersagen, S. 249.
236
Lukas :
Aber nicht blos die Entwicklung des Lebens im Tier- und Pflanzen-
reich, sondern auch der menschliche Zeugungsakt wurde auf das kosmo-
gonische Gebiet übertragen. Schon im Rigveda X, 61, 7 heisst es: Als der
Gott seine eigene Tochter begattete und dabei den Samen über die ganze
Erde ergoss, da schufen die vorsehenden Götter das Brahma, Yastoshpati,
die Hüter der heiligen Werke. Der hier nur angedeutete Yorgang ist
ausführlicher erklärt im Çatapatha-Brahmana 1, 7, 4, If.: Prajapati warf
die Augen auf seine eigene Tochter und wohnte ihr bei. Das war in den
Augen der Götter ein Verbrechen. Rudra eilte herbei und durchbohrte
Prajapati (während des Aktes). Dabei fiel die Hälfte des Samens auf die
Erde.1) — Auch in anderen indischen Literaturwerken spielt dieser Yorgang
eine kosinogonische Eolle. Bekannt sind ja auch die Götterzeugungen in
den griechischen Kosmogonien, insbesondere bei Hesiod und den Orphikern.
— Ob die Welt aus dem Ei, oder aus der Knospe, oder als das Produkt
des menschlichen Zeugungsaktes entsteht, das Bild ist verschieden, aber
der Grundgedanke ist derselbe: Die Welt entsteht auf dieselbe Weise wie
das lebende Wesen (Pflanze, Tier, Mensch) in der Natur.
Auch in der griechischen Kosmogonie finden wir das Ei als embryonalen
Entwicklungszustand. Der rhapsodischen Kosmogonie der Orphiker bei
Damascius haben wir schon erwähnt und gehört, dass das Ei zwar Lichtei
wie bei den Ägyptern ist, dass aber Phanes aus dem Ei erst entsteht,
nachdem dieses befruchtet worden war. Das Ei ist also Embryonalzustand
für Phanes ganz nach Analogie des Entstehens in der Natur. Diese Rolle
des kosmogonischen Eies tritt noch in einer anderen Kosmogonie der
Orphiker deutlich hervor, die uns gleichfalls Damascius (qu. d. pr. princ.
c. 123 ed. Kopp p. 380, ed. Ruelle p. 316) mitteilt und als die Kosmogonie
nach Hieronymus und Hellanicus bezeichnet. An der Spitze derselben
stehen als materielle Grundwesen Wasser und Erde, daraus geht Chronos,
die mit Notwendigkeit und unabwendbarer Macht wirkende Zeit hervor,
die den feuchten Äther, das unermessliche Chaos und den nebeligen Erebos
erzeugt. Im Urraume bringt nun Chronos ein Ei hervor, dass die Samen
(die Keime) der künftigen sinnlichen Welt in sich birgt. Den Schluss der
Kosmogonie bildet Zeus (-Protogonos-Pan), der Ordner des Alls und der
gesamten Welt. — Auch hier ist das Ei Entwicklungszustand, aber es
unterscheidet sich vom Ei der rhapsodischen Kosmogonie dadurch, dass es
nicht blos Entwicklungszustand für den Lichtgott, sondern in viel allge-
meinerer Bedeutung Entwicklungszustand für die gesamte sinnliche Welt
und wahrscheinlich auch — der Wortlaut des Textes lässt hierüber keine
sichere Entscheidung zu — für Zeus, den persönlichen Weltbildner ist.
Es ist Weltei im allgemeinsten Sinne.
1) Muir a. a. 0. lY, S. 38.
I)as Ei als kosinogonische Vorstellung".
237
Mehr Ähnlichkeit mit der rhapsodischen zeigt die Kosmogonie nach
Clemens Rom. Recogn. X, 7, 316. Aus dem unbestimmten Urstoff entstellt
ein Ei, aus dem wie in der rhapsodischen Kosmogonie Phanes hervorgeht.
Unter den weiteren bei Clemens Rom. aufgezählten kosmogonischen
Paktoren: substantia, prudentia, motus, coitus, ex his factum coelum et
terra, erscheint wie in der indischen Kosmogonie auch der geschlechtliche
Zeugungsakt.
Die kosinogonische Rolle des Eies bei Epimenides ist zu unklar, als
dass wir uns länger dabei aufhalten sollten.
Aristophanes (Vögel 693 f.) setzt als das Erste das Chaos, die Nacht,
den Erebos und Tartaros. Hierauf gebiert die Nacht ein Windei, aus dem
Eros hervorgeht. Dieser mischt alles durcheinander, worauf der Himmel,
das Meer, die Erde und die Götter zum Yorschein kommen. — Auch hier
ist das Ei Embryonalzustand und zwar für Eros; interessant ist es, dass
das Ei als Windei, d. i. als ein oline geschlechtliche Zeugung befruchtetes
Ei bezeichnet wird, womit wohl in ausdrücklicher Betonung hervorgehoben
Werden soll, dass Eros, als der erste der Götter, überhaupt als das erste
lebende Wesen nicht die Frucht einer geschlechtlichen Zeugung sein kann.
Zwei Erwähnungen des Welteies bei den Phöniziern, nämlich in der
Kosmogonie des Sanchuniathon (vgl. Orelli San eh. Fragni. 8 f.) und in der
Kosmogonie der Sidonier, die Damascius (a. a. O. c. 125 ed. Kopp p. 385,
ed. Ruelle p. 323) nach Euclemus mitteilt, können wir übergehen, da bei
jener die kosmogonische Rolle des Eies, bei dieser der Text unsicher ist.
Hiermit haben wir die Kosmogonien der alten Yölker, in denen das
Ei als kosmogonische Vorstellung vorkommt, erschöpft. Wir haben die-
selben in drei Gruppen eingeteilt. In der ersten Gruppe hat die Über-
tragung des Eies auf das kosmogonische Gebiet ihren Grund in dem Ver-
gleiche der Gestalt des Weltganzen mit der eines Eies. Aus den Teilen
des Welteies entstehen die entsprechenden Teile der Welt, aus der oberen
Schalenhälfte der Himmel, aus der unteren die mit einer umgestülpten
Eischale verglichene Erde. Hier ist das Ei Weltei in morphologischem
Ulid substanziellem Sinne, es ist präformierter Weltbildungsstoff. In diese
Gruppe gehören die Kosmogonien der Inder im Chandogya-Brahmana, im
G^esetzbuche des Manu (und einigen anderen späteren Schriften), und eine
Andeutung dieser Form des Welteies im Rigveda X, 129; ferner die
Phönizische Kosmogonie nach Mochos und endlich die orphische Kosmogonie
nach Athenagoras. In den Kosmogonien der zweiten Gruppe entspringt
die Vorstellung vom kosmogonischen Ei der täglichen Beobachtung des
scheinbar aus dem Meere emporsteigenden Sonnenballes und dem Vergleiche
desselben mit einem Ei. Aus dem Ei entsteht nicht direkt die Welt wie
den Kosmogonien der ersten Gruppe, sondern der Licht- resp. Sonnen-
gott. Hier ist das Ei Lichtei. In diese Gruppe gehören die indische
Kosmogonie im Rigveda X, 129, die Kosmogonie der Ägypter und die
238
Lukas :
rhapsodische Kosmogonie der Orphiker. In den Kosmogonien der dritten
Gruppe endlich hat die Aufnahme des Eies in die Kosmogonie ihren Grund
in der Vorstellung, dass sich die Welt ähnlich entwickelt habe, wie das
organische Leben in der Natur. Hier ist das Ei Embryonalzustand für
den Weltschöpfer (Brahma, Prajapati, Yishnu, Phanes, Eros), oder es ent-
hält die Keime der künftigen Welt in sich. Zu dieser Gruppe gehören
die indischen Kosmogonien im Atliarva-Yeda, im Çatapatha-Brahmana, bei
Manu, im Vishnu-Purana und anderen jüngeren Schriften, ferner bei den
Griechen die rhapsodische Kosmogonie, die nach Hieronymus und Hellanicus,
die bei Clemens Rom., und endlich die bei Aristophanes.
Bevor wir uns zu den Kosmogonien jetzt lebender Völker wenden,
wollen wir nur kurz die Frage nach der Wanderung der Vorstellung vom
Weltei erwähnen. Wir finden diese Vorstellung bei den Indern, Ägyptern,
Phöniziern und Griechen, also Völkern, die in vielfache Boriihrung mit
einander gekommen sind und sicher nicht blos ihre Waren, sondern auch
ihr Wissen ausgetauscht haben. Es kann daher die Möglichkeit, dass
auch die Vorstellung vom Weltei von einem Volke zum anderen über-
gegangen sei, nicht schlechtweg bestritten werden. Fragen wir uns aber,
ob es notwendig ist, zur Erklärung des Vorhandenseins dieser Vorstellung
bei irgend einem Volke ohne einen zwingenden Grund, wie es etwa ein
historischer Nachweis aus der uns bekannten glaubwürdigen Literatur wäre,
eine Entlehnung anzunehmen, so lautet die Antwort: nein. Die Erklärung
des Werdens der Welt und ihrer Teile bildet den Hauptzweck in allen
jenen Kosmogonien, in denen, die Welt nicht direkt als das Werk eines
persönlichen Schöpfers oder Weltbildners betrachtet wird. Da aber dieses
Werden kein anderes sein kann, als das Werden in der Natur überhaupt,
so ist es ja ganz natürlich, dass die Beobachtungen über das Entstehen
der Dinge in der Natur, der Pflanzen, Tiere und Menschen, auf das kos-
mogonische Gebiet übertragen wurden und dass somit die Aufnahme der
natürlichen Fortpflanzungs- und Entstehungsvorgänge aus der Knospe, dem
Ei und durch den geschlechtlichen Zeugungsakt jedem Volke von selbst
sich aufdrängte und nicht erst von einem anderen entlehnt zu werden
brauchte. Der sicherste Beweis dafür, dass sich das Vorhandensein der
Vorstellung vom Weltei in so vielen Kosmogonien durch natürliche und
sich von selbst darbietende Denkvorgänge viel einfacher und sicherer
erklären lässt als durch die unbewiesene Annahme einer Entlehnung, liegt
darin, dass sich ganz ähnliche Vorstellungen vom Weltei, wie wir sie eben
in den Kosmogonien der alten Völker kennen gelernt haben, auch in den
Weltentstehungssagen gegenwärtig lebender Völker finden.
Wir erwähnen zunächst eine Kosmogonie der Letten nach Arecken-
stedt: Dem Munde des uranfänglichen Gottes entströmte das Wort als
Windhauch. Aus diesem ward ein Adler. Nachdem Gott Finsternis und
Licht geschieden hatte, wies er dem Adler den finsteren Raum zum Auf-
Das Ei als kosmogonische Vorstellung.
239
enthalte an. Der Adler jedoch beschloss, sich in den lichten Kaum zu
Gott zu begeben. Deshalb entstand zwischen beiden ein Kampf, in welchem
Gott siegte und den Adler zerriss. Aus dessen Blut entstand das blaue
Meer, sein Leichnam löste sich darin zu Schlamm auf. In seinem Innern
barg er ein grosses Ei, das Gott zerschlug und in zwei Hälften teilte; in
der einen war eine schwarze, in der anderen eine weisse klebrige Masse.
Gott warf die beiden Eischalen von sich; die eine flog nach oben und
bildete das Gewölbe des Himmels, die andere fiel in das Meer. Der vom
Leichnam des Adlers herrührende Schlamm sammelte sich darin und ward
zur Erde. Aus der weissen Masse bildete Gott gute Geister oder Engel,
aus der schwarzen aber böse Geister oder Teufel.*) — In dieser Kosmo-
g'onie ist unzweideutig gesagt, wie das Ei entstand und welche Rolle es
bei der Entstehung der Welt spielte: Es entstand im Leibe eines Yogels
und aus seinen Teilen entstehen die entsprechenden Teile der Welt, aus
der oberen Schale der Himmel wie in anderen Kosmogonien, aus der
unteren Schale — in ganz origineller Weise abweichend von allen übrigen
Kosmogonien — nicht die Erde selbst, sondern das Behältnis, in dem sich
nun der Schlamm unbehindert von der auflösenden Wirkung des Meeres
zur festen Erde verdichten konnte. Diese Abweichung bezüglich der Ver-
wendung der unteren Schalenhälfte von anderen Kosmogonien hat darin
ihren Grund, dass die Letten in einem vorwaltend ebenen Lande wohnen
und sich also bei ihnen nicht wie bei den Indern die Vorstellung von
einem bergartigen Aufbau der Erde bilden konnte; es musste daher
auch die untere Schalenhälfte eine andere Verwendung finden — ein
interessantes Beispiel, wie die geographischen Verhältnisse des Wohnortes
bei der Entstehung der Kosmogonien mitwirken. Für die Entstehung und
die kosmogonische Rolle des Welteies finden wir von den eingangs er-
mähnten drei Grundgedanken den dritten, der sich im Ursprung des Eies
aus dem Vogel, und den ersten, der sich in der Verwendung des Eies
resp. der oberen Schalenhälfte bei der Entstehung der Welt ausdrückt.
Sehr interessant sind die kosmogonischen Vorstellungen der Zamaiten
(Lithauer): „Anfangs war keine Erde da, sondern eine Masse von un-
geheurer Grösse; dieselbe glich einem Ei. Nachdem sich die Sonne Jahr-
hunderte hindurch um diese Masse bewegt hatte, zerplatzte diese Hülle
unter dem Einflüsse ihrer erwärmenden Strahlen und die Erde kam zum
Vorschein."2) — Das Ei ist beschränkt auf die Entstehung der Erde, es
ist nicht Welt-, sondern Er dei. Der Ursprung dieser Vorstellung aus der
Übertragung natürlicher Entwicklungsvorgänge auf das kosmogonische
Gebiet verrät die Vorstellung von der Bebrütung des Eies durch die Sonne,
^och in einer anderen Beziehung ist die Kosmogonie der Zamaiten
1) Vgl. Zeitschr. f. Volkskunde von Veckenstedt, Bd. II, S. 3.
2) Veckenstedt, Die Mythen, Sagen und Legenden der Zamaiten (Lithauer), I. Abt.,
S- 216.
240
Lukas :
interessant. Wir haben früher schon gezeigt, class nicht bloss die Ent-
stehung aus dem Ei, sondern auch andere natürliche Entwicklungs-
vorgänge in die Kosmogonie aufgenommen wurden, so namentlich die
Entstehung aus der Knospe des Lotos. Auch bei den Zamaiten finden
wir die Knospe als kosmogonische Vorstellung, aber beschränkt auf die
Entstehung der Tiere und Menschen: Infolge des belebenden Einflusses
der Sonne sprossten aus der Erde Kräuter aller Art hervor und nach
mehreren Jahrhunderten bildeten sich Knospen an den Pflanzen, aus denen
mit der Zeit Tiere hervorgingen, und da die Knospen von verschiedener
Art und Grösse waren, so sind auch die Tiere, welche daraus entstanden,
verschiedene. Auch der Mensch entsteht aus der Knospe: „Gott sandte
Engel zur Erde nieder, damit diese ihm Stoff von derselben (zur Bildung
des Menschen) holten. Die Engel wussten nicht, welchen Stoff sie nehmen
sollten. Endlich kamen sie auf den Gedanken und pflückten die Knospen
ab, aus welchen die Tiere entstanden waren. Aus diesen Knospen formte
Gott den Menschen." x) — Anthropogonien aus der Pflanze finden wir auch
bei andern Yölkern, z. B. bei den Eraniern im Bundehesh;2) hier entsteht
der Mensch aus der Reivapflanze. Aber während da das morphologische
Element ausschlaggebend ist, indem die Reivapflanze allmählich zur Ge-
stalt eines Menschen heranwächst, tritt bei den Zamaiten das entwick-
luugsgeschichtliche Moment in den Vordergrund, der Mensch entwickelt
sich aus der Knospe wie der Zweig der Pflanze. Der erste und dritte
der eingangs erwähnten drei Grundgedanken bezieht sich also nicht blos
auf die Übertragung des Eies auf das kosmogonische Gebiet, sondern auch
auf die der Pflanze. Wir sehen, wie sich dieselben Grundgedanken in
verschiedener specieller Ausbildung bei verschiedenen Völkern und in weit
von einander abstehenden Zeiten herausgebildet haben; ein Beweis, dass
die kosmogoniebildenden Faktoren zu allen Zeiten und bei allen Völkern
dieselben gewesen sind.
Das wird noch klarer, wenn wir uns zum Schlüsse nun noch zu einigen
jetzt lebenden Naturvölkern wenden. Nach der Aussage der Peruaner
schuf der Weltschöpfer Ataguju zuerst zwei Götter, die einen weiteren
Gott namens Guamansuri auf die Erde schickten. Dessen aus einem Ei
geborener Sohn ging auf Befehl Atagujus mit einer goldenen Hacke aus,
schlug dieselbe in die Erde und rief dadurch die dortige Bevölkerung ins
Leben.3) — Hier ist das Ei Embryonalzustand.
Eine grosse Mannigfaltigkeit von Weltentstehungssagen findet man
bei den Bewohnern der Inselwelt im Stillen Ozean. Der höchste Gott der
Polynesier ist Tangaloa. Er ist unerschaffen aus der Urnacht aufgetaucht
und hat alle Dinge hervorgebracht. Nach der Sage auf der Insel Raiatea
1) Yeckenstedt a. e. 0. I, S. 216.
2) Windischmann. Zoroastr. Studien, S. 56 ff.
3) Waitz, Anthropologie, Bd. iy, S. 451.,
Das Ei als kosmogonische Vorstellung.
241
(Gesellschaftsinseln), befand sich Tangaloa in einem Ei, das vom Himmel
herabhing, bis er es zersclilng und verliess. Aus den Stücken entstanden
die Inseln.1) — Das Ei ist Embryonalzustand für den Weltschöpfer; die
weitere Verwendung desselben erstreckt sich nicht auf die Entstehung der
ganzen Welt, sondern nur auf die der Erde, d. h. entsprechend den geo-
graphischen Kenntnissen der Polynesier auf die Entstehung der Inseln —
wieder ein Beweis, wie sich die Vorstellungen an den geographischen Ver-
hältnissen des Wohnortes in der Kosmogonie wiederspiegeln.
Nach der Sage auf der Insel Hawai legt ein Riesenvogel (— Tangaloa,
der auch auf Tahiti als Vogel gedacht wurde) ein ungeheures Ei auf das
Mrasser des Meeres; das Ei zerfiel und aus den Stücken bildeten sich die
Inseln des Archipels.2) — Vergleichen wir diese Sage mit der vorigen, so
sehen wir das Verhältnis zwischen Tangaloa und dem Ei umgekehrt: dort
entsteht Tangaloa aus dem Ei, hier das Ei aus Tangoloa. Die Vorstellung
des letzteren als Riesenvogel zeigt uns den Ursprung der Vorstellung vom
kosmogonischen Ei aus der Naturbeobachtung. Wie in der vorigen Sage
hat auch in dieser das Ei beschränkte geogonische Bedeutung. Aber auch
in noch engerer Bedeutung finden wir das Ei, nämlich als Entwicklungs-
zustand blos für die Entstehung des Menschen. Auf Neuseeland stammen
die Menschen aus einem Ei, das ein Riesenvogel auf das Wasser legt.3)
Und nach der Sage auf den Fidschi-Inseln brütet Ndengei, der oberste
der Götter, der in einer Höhle auf der Insel Vitilevu wohnt, die ersten
Menschen aus den Eiern einer Habichtsart aus, die in jener Höhle häufig
Vorkommt.4) Hier sehen wir die embryonale Bedeutung des Eies und zu-
gleich den Ursprung dieser Form des kosmogonischen (resp. anthro-
pogonischen) Eies aus der Übertragung natürlicher Entwickelungsvorgänge
auf das kosmogonisehe Gebiet besonders deutlich hervortreten. Interessant
ist auch die Anknüpfung der anthropogonischen Darstellungen an ganz
lokale Verhältnisse und die Nennung einer bestimmten Vogelart.
Endlich fehlt auch die Beziehung des kosmogonischen Eies zur Sonne
dem Sagenkreise dieser Naturvölker nicht. Nach der Sage auf Samoa ist
die Morgensonne der Sohn der unter der Gestalt eines Vogels gedachten
Göttin Turi5), und auch bei anderen Polynesiern wurde nach Waitz schon
frühzeitig mit der Vorstellung des Welteies der Gedanke an die Sonne
Verknüpft.6)
Vergleichen wir diese kurzen Mitteilungen von Sagen gegenwärtig
lebender Völker mit einander, so sehen wir, dass die Vorstellung vom
1) Waitz, Anthropologie, VI, S. 234.
2) Waitz, Anthropologie, VI, S. 236.
3) Waitz, Anthropologie, VI, S. 237.
4) Waitz, Anthropologie, VI, S. 664.
5) Waitz, Anthropologie, V, S. 210.
6) Waitz, Anthropologie, VI, S. 241.
242
Lukas: Das Éi als kosraogonische Vorstellung.
kosmogonischen Ei in nicht geringerer Mannigfaltigkeit der speciellen Aus-
bildung vorkommt als in den Kosmogonien der alten Völker: Es ist
Embryonalzustand für den höchsten Gott, für die Erde, für die Menschen;
aus den Teilen des Eies entstehen die Hauptteile der Welt, Himmel und
Erde; es wird auch zur Entstehung der Sonne in Beziehung gebracht.
Wir haben ferner gesehen, dass sich mit der Vorstellung vom WTeltei und
seiner Rolle in der Kosmogonie auch die Vorstellung vom Weltbau und
den geographischen Verhältnissen des Wohnortes verbindet. Endlich finden
wir wie in den Kosmogonien der alten Völker so auch in der gegen-
wärtig lebenden Weltentstehungssage nebst dem Ei auch noch andere
natürliche Entwicklungsvorgänge in die Kosmogonie aufgenommen: für
die Tiere und Menschen die Entstehung aus der Knospe, wie wir oben bei
der Sage der Zamaiten gehört haben; für die Entstehung der Clötter und
Menschen den geschlechtlichen Zeugungsakt, so z. B. zeugt Tangaloa mit
seinem Weibe o-te-Papa (einem Felsen) alle Götter1), und nach der Sage
auf den Marianen zeugt der höchste der Götter Puntan mit seiner Schwester
die Menschen.2) Ja wir finden für die Entstehung des Menschen nicht
blos die Knospe, das Ei und den geschlechtlichen Zeugungsakt, sondern
auch noch andere Entstehungsarten des tierischen Lebens auf das kosmo-
gonische resp. anthropogonische Gebiet übertragen. Auch dafür geben wir
ein Beispiel. Nach der Sage auf Samoa schleuderte Tangaloa vom Himmel
zwei Felsen herab, welche das erste Festland bildeten. Um dieses zu be-
völkern, sandte Tangaloa seine Tochter Turi in Gestalt einer Schnepfe
aus. Wo diese das Land betrat, wurde es grösser und grösser und der
nackte Boden bedeckte sich mit Erde und einer kriechenden Pflanze.
Diese welkte und aus den faulenden Stengeln entwickelten sich Würmer
und aus diesen endlich kamen, als sie Turi mit ihrem Schnabel entzwei
pickte, die Menschen zum Vorschein.3) Die auch bei uns noch volks-
tümliche Meinung von der Entstehung niederer Tiere, wie Insekten,
Würmer u. a. aus verwesenden Pflanzen, finden wir auf Samoa zur Er-
klärung für die Entstehung des Menschen verwendet — ein weiteres
originelles Beispiel für die Übertragung natürlicher Entwicklungsvorgänge
auf das kosmogonische Gebiet.
Wir haben im Vorstehenden eine Reihe von Kosmogonien mitgeteilt,
in denen die Vorstellung vom kosmogonischen Ei vorkommt und glauben
den Ursprung dieser Vorstellung aus den eingangs erwähnten drei kosmo-
gonischen Grundgedanken hinreichend klar gemacht und zugleich gezeigt
zu haben, dass die Vorstellung vom Weltei sowohl ihrer speciellen Aus-
bildung, als auch ihrer Beziehung zu den Anschauungen über den Bau
1) Waitz, Anthropologie, Vi", S. 234.
2) Waitz, Anthropologie, V, S. 135.
3) Waitz, Anthropologie, YI, S. 239.
Feilberg: Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
243
der Welt und zu den geographischen Kenntnissen vom Wohnorte, sowie
endlich ihrem Ursprünge nach in den ältesten Kosmogonien keine andere
Bedeutung hat, als in den Sagen gegenwärtig lebender Völker — ein Be-
weis für die durch lange Zeiten und über weite liäume sich erstreckende
Constanz und Conformität des menschlichen Denkens.
Wien.
Die Zahlen im dänischen Branch und Volksglauben.
Yon H. F. Feilberg.1)
Als allgemein bekannt darf es, wenigstens unter germanischen Philo-
logen, vorausgesetzt werden, dass wir in Dänemark von 50 an nach Stiegen
zählen, also zweieinhalb Stieg (50), drei Stiege (60), dreieinhalb Stieg (70),
vier Stiege (80), viereinhalb Stieg (90), darnach „hundrede" ; eine Zählungsart,
die wir wohl mit den Franzosen gemein haben. Unter alten Leuten auf
dem Lande hört man noch im Gespräche zum Beispiel: „Mir fehlen 4 Jahre
zu 4 Stiegen", oder: „Ich habe die 3 Stiege voll und noch dazu 2 Jahre".
In alten jütländischen Urkunden werden schon im 16. Jahrhundert die
Zahlen 50—90 nach Stiegen benannt und nach Mehrheiten von 20 gezählt:
„sexsynnetywe" (6x20); „sywsynnetywe" (7X20); „2 mynne end nysyn-
netywe" (2 weniger als 9x20= 178), alle vom Jahre 1503. Yon einem
unserer Gelehrten2) ist die Vermutung ausgesprochen, dass die jütländischen
Formen in die ostdänischen Dialekte eingedrungen seien, denn im
schonischen und seeländischen Kirchenrechte wird nach Zehnern gezählt,
dort werden „siu tiughge" (7x10 = 70), „syvfci" wie die Schweden und
Norweger jetzt sagen und schreiben, gefunden. Was weniger bekannt sein
dürfte und was die Ursprünglichkeit der Stiegzählung in Jütland erhärtet,
ist dass noch heutzutage in einzelnen Gegenden unter den Fischern die
Zählung nach Stiegen derart eingewurzelt und alte Sitte ist, dass die Kinder
sich nur mit grosser Mühe, wie die Lehrer klagen, die gewöhnliche
¿ählungsweise aneignen, So ist es unter den Fischern am Limfjord in
Sailing der Fall, und dort ist diese Zählung durchgeführt; sie zählen also:
1) Herr Pastor Feilberg hat denselben Gegenstand gleichzeitig dänisch behandelt:
I'iese Bearbeitung ist unter dem Titel: Tallene i Folkets bru g o g tro in der Dania,
ïidskrift for Folkemâl og Folkeminder udgivet af O. Jespersen ogKr. Nyrop, III, 185—220
Kreits erschienen. In der Hauptsache ist der Stoff derselbe; in Einzelheiten aber sind
beiden Aufsätze verschieden. K. W.
2) Dr. 0. Nielsen s. Gl. Jydske Tingsvidner ( 1882), S. XXíIf.
Zeìtschr. d. Vereins f. Volkskunde. 189). 17
244
Peilberg:
9 u. 20, 10 u. 20, 11 u. 20 . . . 19 u. 20, „fyrretyw'", darnach: ... 19 n. 40,
„tresindstyw'" u. s. w.
Noch muss bemerkt werden, dass in Mittelschleswig, wo Schreiber
dieses bis 1864 als Prediger angestellt war, in sonst rein dänisch sprechenden
Gegenden wie z. B. Wallsbiill, die plattdeutschen Zahlen: vertig, vöftig,
söstig, söwentig, tachentig, negentig überall eingedrungen waren; dasselbe
ist mir aus Nordangeln erinnerlich, ohne dass ich imstande wäre, eine
völlig genügende Erklärung dieser Thatsche zu geben. Man zählte also:
„ti" (10), „tyw" (20), „trörre" (30), „vertig" (40), aber dann weiter sehr
oft: „to â vertig (42), „fem â vertig" (45) . . . „ni â vertig" (49). Nach
„ni â negentig" wurde dänisch „hunder" (mit moullirtem n =■ n) gezählt,
„liunder â tyw"" (120) . . . „liunder â vertig" (140) u. s. f. Mir ist es
wahrscheinlich, dass diese Zählungsweise in irgend einer Verbindung mit
dem Viehhandel und den Märkten in Husum stehen möge. Ein Freund,
Dr. P. K. Thorsen, teilt mir die Vermutung mit, dass der Ursprung dieser
Sitte aus der Schwierigkeit herstammen dürfe, Handelsleuten, die mit zehn
als Einheit zählen, verständlich zu werden, wenn man zwanzig als Einheit
benutzt. Geschäftsleute, die mit Schweden verkehren, lernen augenblicklich
die schwedische Zählungsweise nach Zehnern, wogegen die Schweden nur
mit einiger Schwierigkeit die unsere verstehen. Ähnliche Bedürfnisse
rufen ähnliche Aushülfe hervor, und es dürfte wohl nicht unwahrscheinlich
sein, dass ähnliche Verhältnisse der plattdeutschen Zählung den Weg
bereiteten.
An einer Thür in der Dreschtenne, am Balken im Wohnzimmer
wurden manchmal Rechnungen allerlei Art verzeichnet, und man schrieb
in älterer Zeit oft = 5, als h+í fw hh = 15, oder man half sich auf eine
andere Weise : v 10, x = 11, -§■ = 12 . . . 9 = 19, das wurde alles leichter
verstanden, als die neumodische Schreibweise der Schulen und Schulmeister.
Mit dem Stieg, wir sagen „snes", hat es nun eine eigene Bewandnis.
Isländisch sneis ist ein Stock und die Zahlbedeutung des Worts rührt
wohl daher, dass gewisse Stück einer Wraare an einem Stocke festgemacht
auf einmal verkauft worden sind. Ebenso verhält es sich mit dem anderen
Ausdruck für eine Mehrheit: „ol" (80 Stück) dial, „vol", schwedisch „ol"
oder „val", isl. völr, welches auch Stock bedeutet. Der Stieg hat aber
nicht immer 20 Stück, im Handel haben sich besondere Gewohnheiten
eingenistet, so werden meines Wissens noch heutzutage auf dem Grün-
markte in Kopenhagen 28 Stück Weisskohlköpfe als ein Stieg verkauft,
mit Sellerie, Porree, Gurken verhält es sich auf ähnliche Weise; von
ihnen gehören 22 Stück zum Stiege. — Eine uralte Industrie, die Ver-
fertigung der schwarzgebrannten irdenen Kochtöpfe, ist beinahe jetzt er-
loschen. Sie waren früher in jedem Hause auf dem Lande, seiner Zeit
auch wohl in den Städten, ein notwendiger Artikel, sie wurden weithin
von den „Pottekrämmere", wohl gar bis Berlin, verschleppt; jetzt sieht man
Die Zahlen im dänischen Branch und "Volksglauben. 245
sie nur selten mehr. Im Handel mit ihnen rechnete man nach zwei
„Zahlen". Die „Hjertingzahl" hatte 20 Stück zum Stiege. Hjerting ist ein
Dörfchen in der Wardegegend, von wo aus etwas Schiffahrt früher be-
trieben wurde. Die andere Berechnungsweise wurde die „Dorfzahl",
„Bytallet", genannt, und war weit grösser als die erstere. Während zu
der „Hjertingtal" 20 Stück von Töpfen einer gewissen Grösse gerechnet
Wurden, gehörte zu der „Bytal" von derselben Art Töpfe 28 Stück und
Uocli dazu 28 Stück kleinere. Yon sogenannten „Einzahl"-Töpfen ge-
hörten nur 20 zum Stiege, grössere Töpfe machten je eine „Zahl" aus,
also von ihnen machten 10 den Stieg voll; wiederum kleinere wurden
„anderthalbzählige" genannt, von ihnen gehörten 30 zum Stiege und von
noch kleineren 40. Die Rechnung war nicht ganz leicht für den Kauf-
mann, wenn er einen oder mehrere Puder „schwarze Töpfe" kaufen wollte.
Noch darf ich nicht übergehen, ehe ich diese Bemerkungen verlasse,
das s die mehr altmodischen Männer oder Frauen in Westjiitland nimmer
einen Stieg verkaufen, sei es von Eiern, Fischen oder anderen Sachen,
die stückweise verhandelt werden, ohne dass ein oder mehrere Stück als
Zugabe, als „Talagg" (Zahleier), „Talfisk" (Zahlfische) u. s. w. mitgegeben
werden. Die alte Bauernfrau würde sagen: „nur 20 Eier als einen Stieg
zu verkaufen, nein so knickerig bin ich doch nicht!" und dann würde sie
noch eins oder zwei hinzulegen. So ist es die Sitte, und es würde sich
nicht ü'eziemen anders zu verfahren.
In abseits liegenden Orten kann man hin und wieder sonderbare Ver-
hältnisse, wenn man sonst etwas Glück hat, auffinden. So hat der un-
ermüdliche Sammler, der frühere Volksschullehrer E. T. Kristensen, ent-
deckt, dass in einem Winkel unseres Landes unter dem Fischervolk eine
Heihe Umschreibungen der Zahlen sich wohl im lebendigen Brauche vor-
finden; es sind diese Namen aus derselbigen Gegend von Sailing, aus
welcher ich die alte Zählungsweise nach Stiegen anführte. Es kann ge-
schehen, wenn in Risgaard Bredning, einer Erweiterung des Limfjordes,
gefischt wird, dass zwei Genossenschaften von Fischern einander so nahe
in den Booten liegen, dass sie sich gegenseitig durch Rufen verständlich
machen können. Werden die Garne gezogen, so sind die Nachbarn neu-
gierig und fragen: „Wie viel habt Ihr erhalten?" Lautet die Antwort: „Wir
kriegten den Mann mit dem gelben Südwest", oder „Bommerskrald"*) so
haben sie nichts gefangen. Auch mögen sie sagen: „sie sind bald gezählt"
°der endlich: „Niels bei Christensen", nach einem alten Fischer Niels, der
ininier ärgerlich, wenn er keinen Fang that, mit einem Eide ausrief: „Ich
sah ihn nicht!" 1 wird „Niels Pus" genannt; 2 „paar"; 3 „genug" oder
55viele" oder „der Mann mit dem Kalbsfell auf dem Nacken"; 4 „frisch
auf"; 5 „Peter Riis"; 6 „Maren Rundsei" oder „Flachs und Ilede";
1) Ein Ausdruck vom Kegelspiel, wenn keine lallen.
17 *
246 Peilborg:
7 „Klaus Klompraejer"; 8 „was du so gerne hättest"; 9 „Jesper"; 10 „eine
halbe Hocke"; 11 „die Kamelen aus Thisted" oder „Jesper und sein Hund
und Maren Dorfhuhn"; 12 „ein Zwölfter"; 13 „Jeppes Stubenuhr", die-
selbe sehlug nämlich 13 für 12; 14 „die dumme Zahl, die ich nicht aus-
sprechen kann", nach einem Manne, der 14 nicht aussprechen konnte;
15 „Jeppes halber Schoppen"; 16 „der Schmied aus Lomborg"; 17 —?—;
18 — ? —; 19 „ein kleiner Stieg" oder „der Yejlby Stieg"; 20 „Olaf
Koli"; 21 „Olaf Koli und sein kleiner Sohn" ....
Einige von diesen sind zu grob um mitgeteilt zu werden, etliche un-
verständlich, andere blosse Personennamen, der ganze Gebrauch hat aber
Interesse, wenn man ihn mit gleichartigen Sitten anderswo zusammenstellt.
Diese Namen gehören in den Bereich der altnordischen Kenningar, die
bildliche Bezeichnungen sind, aus denen „das Gerippe der altnordischen
Poesie" gebildet ist. Die Sache, in casu die Zahl, wird nicht mit ihrem
eigentlichen Namen bezeichnet, sondern Umschreibungen gesucht^ die von
ihrer Geschichte genommen werden. Die altnordischen Kenninge für die
Zahlen verzeichne ich nach Grimms Rechtsaltertümer S. 207 Anm. (Sn. E.
I. 532.)
Madr heitir 1 hverr; tá ef 2 eru; porp ef 3 eru; 4 eru föruneyti;
flokkr 5 menn; sveit ef 6 eru; 7 fylla sögn; 8 bera ámailisskor;
nautar eru 9; tigir ef 10 eru; asrir eru 11; 12 eru toglöd; pyss eru 13;
ferd eru 14; fundr er pat er 15 hittaz; seta eru 16; sókn eru 17;
rem ir pykkja ovinir peim 18 mœtir; neyti hefir sá er 19 fylgir; drótt
eru 20 .... u. s. w.
Noch ist vielleicht ein Überbleibsel von diesen Kenningen zu finden;
denn Kinder mögen im Ernste, Erwachsene scherzend, sagen, wenn nach
irgend etwas gefragt wird, das gezählt werden kann: „viele, das sind 7;
einige 3, 4 sind ein kleiner Flock", oder: „einige, das sind 7, viele 14",
oder aber: „2 sind einige, 3 sind mehrere, 4 sind viele, 5 sind sehr
viele"; Ausdrücke, die überallhin unserem Lande bekannt sind. Und
nicht allein uns sind sie eigen, ich habe von Schotten gehört:
Ane is nane,
twa is some,
three is a birn [burden],
four is a horse laid. ')
So weit über die allgemeinen Benennungen der Zahlen. Bei gemein-
schaftlicher, einfacher Arbeit kann es, um viele unter einem Kommando
zu erhalten, damit ihre gesammelte Kraft auf einmal wirke, von grosser
Bedeutung sein, dass bei der Arbeit gezählt wird. So finden sich wohl
überall die Rammerlieder:
1) W. Gregor, The Folklore of the N. East of Scoti. (1881), S. 24, cfr. Halliwell,
Nursery Rhymes. S. 15. 35.
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
247
Unse alte Schwiegermutter
ist eine alte Donner,
sieben Jahr' im Himmel west,
nun will sie werrer 'runner!
Als Beispiel führe ich ein solches aus dem Korrespondenzblatt des
Vereins für niederdeutsche Sprachforschung (VII, 75) an:
Hoch' op, een! een, twe,
een, twe, dre!
hoch op, ver; fif, een mehr!
hoch op, söss; wiss op, söben,
hoch op acht,
dat wêr en mit macht!
Wiss op, negen;
den hett he kregen;
hoch op, tein,
de gait fein!
wiss op, elf,
en dutz is twölf,
hoch op den pahl,
von haben hendal,
so trecket he dal
bi de aal!
In den alten Tagen gehörte unter die gemeinschaftlichen Arbeiten
der nachbarlichen Genossenschaft auch das Graben von Brunnen. Musste
ein Bauer sich eine neue Wohnung bauen, so ward es vor allem notwendig,
zuerst das Wasser zu suchen; in wasserarmeren Gegenden wurde ein
„Rutenkundiger" um Hilfe angegangen, und wo er den Platz anwies,
Wurde gegraben. Die Genossenschaft wurde eingeladen, ein Gestelle er-
richtet, und jetzt ging es mit der Arbeit los. Der „Brunnengesang" wurde
angestimmt, sobald es notwendig wurde, die Eimer voll von Sand oder
Gries aufzuhissen und immer wurde in Stiegen gezählt:
Der gik en,
hurra for en,
en er der gaaet,
ja, fiere til bekoin;
hiv en op med sang,
for vort hundred er saa lang!
Da ging eins,
hurra für eins,
eins ist gegangen,
ja, noch mehr werden kommen;
eins mit Gesang
aufgezogen, unser Hundert ist so lang.
Auf dieselbe Weise wurde fortgesetzt:
,Da gingen zwei'
,da gingen
drei" u. s. w. bis zwanzig. Sobald diese Zahl erreicht wurde, hiess es:
Der gik tallien,
hurra for tallien,
tallien, den er gäet,
ja, mere til bekom;
hiv den op med sang,
for vort hundred er saa langt,
o — oja, arbejd' maa vi da;
liflig er vor datter,
vor mo'r hun bo'r i nord.
Da ging die Tallie (Hebetau),
hurrah für die Tallie,
die Tallie ist gegangen,
und noch mehr werden kommen,
mit Gesang sei sie aufgezogen,
unser Hundert ist so lang,
o — :oja, arbeiten müssen wir dann
anmutig ist unsere Tochter,
die Mutter, sie wohnt im Norden.
Darnach wurde wiederum rückwärts gesungen: „Da gingen neunzehn,
achtzehn ..." u. s. w.; hatte man wiederum eins erreicht, so wrar die
doppelte „Tallie" fertig. Sobald hundert Eimer aufgehisst waren, wurde
^negehalten, den Arbeitern wurde geschenkt Bier und Branntwein in Fülle,
darnach ging es von vorn wieder los. War der Brunnen endlich fertig.
m
Feilberg:
so fuhr der „Brunnenmeister" durch das Dorf auf einem Karren, und die
ganze Mannschaft begleitete ihn singend.
Sonst lautet das gewöhliche Rammerlied, wie es unter Handwerkern
bräuchlich ist:
Und so wird mit 2, 3 u. s. w. fortgesetzt, und jedesmal, wenn 5 Schläge
fertig auf die Weise waren, wurde innegehalten und der Mannschaft ein
bischen Ruhe gegönnt.
Es ist nicht allein bei der schweren Handarbeit, wo vieler Menschen
Kräfte auf einmal benutzt werden sollen, dass solche Zahllieder hergesagt
werden. Sie kamen auch vor bei einer feinen zierlichen Handarbeit, die
jetzt kaum mehr als eine Sage ist, bei der Arbeit der Spitzenmacherinnen
in Nordschleswig. Yor ein paar Menschenaltern war in gewissen Gegenden
südlich von Ribe diese Industrie sehr verbreitet und verschaffte vielen
Familien ein Auskommen. Jetzt muss mau suchen und fragen, bis man
eine ältere Frau findet, die noch an ihrer Klöppellade arbeitet; auch hier
haben die Maschinen die häusliche Arbeit zerstört. Etwas, das ich von
alten Leuten erfragt habe, verzeichne ich hier. Damit die Kinder tüchtige
Spitzenmacherinnen würden, mussten sie früh lernen, und hin und wieder
in den Kirchspielen hielten alte geübte Arbeiterinnen Schule, „Knipleskole",
Klöppelschule, für die Mädchen. Wenn sie in der Volksschule fertig waren,
versammelten sich die Kleinen in der anderen Schule, eine jede mit ihrem
„Storkerede", Storchnest, oder „Pindeskrin", Stäbchenlade, einer kleineren
und leichteren Arbeitslade, als, die der Erwachsenen. In der Dämmerung
wurde ein hölzernes Kreuz aufgehangen, an einem Kreuzarm war eine von
den alten kleinen Thranlampen befestigt, an den drei anderen gläserne
mit Wasser gefüllte Kugeln, wie die Schuster sie gebrauchen. An jedem
Tischlein konnten drei Klöpplerinnen Platz erhalten. Wie begierig die
Kinder auch anfänglich gewesen sein mögen, die Arbeit zu erlernen, so
war die nötige Sorgfalt immer eine schwierige Aufgabe; die Kleinen
wurden müde und mussten durch Spiel ermuntert werden. Dann schlug'
ihnen die alte freundliche Lehrerin vor: „Aa lœv se by om", d. h. der
Lauf um das Dorf. Es geschah auf die Weise, dass man an einem Ende
des Dorfes begann und gewisse „Schläge" für den Mann, ebensoviel für
die Frau, sagen wir, der südlichsten Hufe des Dorfes schlug, und-so wurden
Hufen, Katen, alle Familien des ganzen Dorfes durchgemacht, die Kinder
wurden interessirt, und die Arbeit ging von statten.
Ein anderes Spiel wurde genannt: „Aa Isev om", das Umlaufen. Ich
schildere es, so wie ich es aufgefasst habe. Die Klöpplerin arbeitet fleissig
Og der kom en,
höjt op med én,
nâr én er vsek,
Und da kam eins,
hoch auf mit einem,
wenn eins ist hin,
dann ziehen wir alle Mann,
so haben wir eins gewonnen.
sä hiver vi alle mand,
sä har vi én i land!
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
249
und hat, sagen wir 10 „Schläge" gemacht, 10 Nadeln am Muster fest-
gemacht, dann bricht sie die Stille:
„iE nâl se sät, Die Nadel ist gesetzt,
se gaf se lât, das Loch ist geschlossen,
gi m se!" gieb mir!
Eine von den Arbeiterinnen antwortet: „Ich habe acht." Nun nimmt die
„Urnläuferin" die aufgegebene Zahl als Ausgangspunkt, arbeitet und zählt
9, 10 ... . bis 20. Hat eine von den anderen Arbeiterinnen mehr als 10
zu melden, wird sie „Urnläuferin"; giebts eine, die gar nichts zu melden
hat, wird sie „Münk", Mönch gescholten, hatte jemand nur 1 zu melden, so
wurde sie „Kokke-jenn-y" genannt, was wohl als „einäugiger Hahn" über-
tragen werden könnte. Weiter wurde nach der Anzahl von „Schlägen",
2 „Kokke-j enn-y", 3 „Kokke-jenn-y" u. s.w. gezählt; erreichte das Mädchen
6, so wurde sie „Dienstmagd", 11 „Dannekone" (ehrbares Weib), 16 „Frau
Pastorin", 20 „Frau Pröbstin" u. s. w.
Wenn man in der Arbeit wetteiferte, so hielt man durch folgende
Tabelle Rechnung. Angefangen wurde: „Fjerde part én" (viertel eins),
dann wurde eine Nadel gesetzt; die nächste Zahl war: „halv én" (halb
eins), wiederum eine Nadel; darnach „én naer én" (eins nahe einem = eins
fehlt in einem) — eine neue Nadel; „én fuld én" (eins, volles eins); „betalt
for én" (bezahlt für eins); so dass im ganzen 5 Nadel „Schläge" gesetzt
waren. Für 2 würde die Tabelle also seinr
Fjerde part 2 1 Nadel
halv 2 1 „
to naer 2 1 „ 5 Nadeln
fuld 2 1 „
betalt for 2 1 „
Auf diese Weise wurde bis 20 gezählt, alsdann waren 100 Nadeln gesetzt.
Eine andere Rechnungsweise wurde „die der Faullenzer" genannt, da
zählte man nur im ganzen 60 und zwar auf folgende Weise:
„Skynder ae mae" (spute ich mich) 1 Nadel
„sä fser se jen" (so erhalte ich einen) 1 „
„no har ae jen" (jetzt habe ich einen) 1 „
so wurde also fortgesetzt: „Skynder ae mae", sä fasr se to", „no har as to",
wiederum 3 Nadeln gesetzt und so wurde bis 20 gezält, dann hatten sie
im ganzen 60 Nadeln.
Man errät leicht, dass solche Arbeitsbräuche nicht blos an einzelnen
Orten vorkommen. In den Strickstuben in Jiitland, wo Männer und Frauen
während der langen Winterabende bis Mitternacht arbeiteten, den Strick-
strumpf in der Hand, alle Garnenden über einem Haken in der Diele,
Wurde auch „das Dorf umgelaufen" und ein Umgang für jedes Haus im
I)orfe gestrickt. Ich habe auch anderswo in der Litteratur Spuren einer
250
Feilberg':
solchen Arbeitsweise vorgefunden. Im Korrespondenzblatt des Vereins für
niederdeutsche Sprachforschung, IY, 64, 3, wird ein solcher Reim der
Klöpplerinnen aus Wismar angeführt. Looten und Feys, Chants popul.
Flamands, haben eine ganze Reihe solcher „Teilingen", die benutzt wurden,
um die Zahl der Maschen zu kontrolieren. Eine gewisse Art yon Spitzen
wurde „Annouissel" genannt und waren vielfach in Gebrauch am Schlüsse
des vorigen und am Anfange dieses Jahrhunderts. Während jedes Yerschen
hergesagt wurde, machte die Klöpplerin eine Masche fertig, die mit einer
Nadel festgemacht wurde; die Anzahl der Verse gab die der Maschen.
Diese „Teilingen" wurden ebenso in den Klöpplerinnenschulen gesungen,
„pour régler sans doute les divers mouvements du rouet". In den Näh-
und S trick s cimi en wurden sie als Zerstreuung gesungen. In Firmenichs
Völkerstimmen, HL 163 finden sich ebenfalls solche Reime: Ellermann
... '
Bellermann . . . Auch in Frankreich sind Lieder der Art zu finden. In
den Dörfern des Ille et Vilaine übernehmen meistens alte fromme Damen
die nicht unschwierige Aufgabe, Kindern das Stricken zu lehren. Sie
plazieren alsdann die Kleinen in die Runde, und um die Arbeit zu be-
schleunigen, lassen sie die Kinder, wenn ein Umgang fertig ist, hersagen:
Une, le père und setzen mit jedem folgenden Umgange fort:
Deux, le fils — trois, le Saint-Esprit — quatre évangélistes —
cinq plaies de Notre-Seigneur — six commandements de l'Eglise—-sept
sacraments — huit béatidudes — neuf chœurs des anges — dix comman-
dements de Dieu — onze mille vierges — douze apôtres — treize,
Judas — quatorze allégresses — quinze mystères du rosaire — seize,
Jésus est dans la crèche — dix-sept, Jésus reçoit un soufflet — dix-
neuf, Jésus est dans un tombeau neuf — vingt, Jésus est parmi les
saints.*)
Das sind nur Beispiele, es würde sich gewiss viel mehr der Art auf-
finden lassen, wenn ernstlich nachgesucht würde. In Kopenhagen wird in
Familien eine kleine Ansprache an die Nähnadel für Kindlein, die das
Nähen lernen sollen, gebraucht; in Frankreich scheinen hin und wieder
Kinder nach Noten gegeiselt zu werden, anders kann ich wenigstens das
untenstehende Verschen nicht deuten:
Un, deux, trois, — la culotte en bas; — quatre, cinq, six, — levez
la chemise; — sept, huit, neuf, — tapez sur le bœuf; — dix, onze, douze,
— il a les fesses toutes rouges.2)
Dieses bringt eine alte Geschichte in meine Erinnerung zurück. Vor
vielen Jahren verlebte ich in den Hochlanden Schottlands einen sehr an-
genehmen Abend im Hause eines Kaufmannes. Unter den Anwesenden
war ein junger Mensch, der seinen Schulunterricht in Amerika erhalten
1) Mélusine III, 14
2) Mélusine I, 78.
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
251
hatte, und welcher gelegentlich von seinem alten wunderlichen Lehrer
dort erzählte, dass er, wenn er seine Schulkinder kennen gelernt hatte,
einem jeden derselben in den verschiedenen Unterrichtsfächern einen
Hauptzahlcharakter gab. Jeden Abend wurden die Kinder zur Musterung
einberufen, und so wurde z. B. der Erste gefragt: „Was hast du in der
Geographie heute erhalten?" — Zagende Antwort: „Sechs"! — „Was ist
deine Pflichtzahl?" — „Acht!" — „Sechs von acht?" — „Zwei!" — „Den
Rücken her! eins, zwei!íír Auf die Weise wurde für jedes Kind alle Abende
die Rechenschaft des Tages entschieden; die, welche die Pflichtzahl er-
reichten, gingen frei, hatte eins mehr als diese Zahl erreicht, so wurde es
gelobt.
Es giebt ein sehr bekanntes Zahllied: „Die heiligen zwölf Zahlen",
die Italiener sagen: Le dodici parole della verità. Das Lied hat sein
Interesse: ich fange mit einer meines Wissens ungedruckten lateinischen
Variante nach dänischen Quellen an:
Adam est primus homo — duo sunt testamenta — tres sunt patriarches
— quatuor elementa — quinqué libri Moyses — sex alas habent cherubim —
Septem voces musicales — octo partes orationis — novem chori angelorum
- decern instrumenta Davidis — undecim discipuli — modi sunt duo-
decim. — Euouse, laudate pueri dominum, laudate nomen domini, magnificat
anima mea dominum.x)
Das Lied ist noch heutzutage in unserem Lande sehr verbreitet und
die Varianten stimmen im ganzen mit den von Prof. S. Grundtvig in Gl.
danske Minder II, 68 und Thiele, Danske Sagn1 III, 146 mitgeteilten.2) Der
unvergessliclie Reinh. Köhler mag Recht haben, wenn er in Benfeys Orient
II, 558 auf dies Lied als ein wahrscheinlich ursprüngliches jüdisches Oster-
lied verweist, das ein Original für zahlreiche andere ganz ähnliche, aber
christlich umgedichtete Lieder sei. Seitdem er schrieb, sind vielfache
Varianten veröffentlicht. Nach Pitrès Archivio II, 2*26 hat Hasdeu in
Cartilene poporane aie românitor (1880) S. 567—606 das Lied studiert; er
hat eine rumänische Variante, zwei provençalische, eine katalonische, eine
1) Zusammengestückelt aus Hans Mikkelsen Kavns, Heptachord. Dan. (1646), pag. 41
his 70, cfr. die andern beiden lat, bei Coussemaker, p. 32 und Pitrè Archivio I, 419.
2) Cfr. auch Nyerup und Rasmussen, Udv. af Dslce Yiser fra Midten af det 16 Aarli.
(1821) II, no. 77, Höjsgaard, 2<ien pr0Ye af dsk Orthographie S. 19 Anm. (1743).
Eine augenscheinlich neue Bearbeitung des Themas von der heiligen Zwölfzahl findet
sich bei E. T. Kristensen, Jyske Folkeminder XI, 201,74; zum Vergleiche setze ich einen
Vers her:
Syv ord monne Jesus tale, Sieben Worte Jesus redete,
syv bönner i Fadervor, sieben Grebete im Vaterunser,
syv dage i uger alle, sieben Tage in Wochen allen,
syv Verdens undere stor, sieben grosse^ Wunder der Welt,
syv fulde aks oprandt, sieben volle Ähren sprossen auf,
syv ár pá templet bygdes, sieben Jahre wurde am Tempel gearbeitet.
syv h y basuners klang. sieben neue Posaunen tönten.
252
Peilberg.
französische, verschiedene portugiesische, eine lateinische, eine hebräische,
ausser slavischen Varianten.1) Er sucht im Orient die Quelle, welche,
durch Rumänien geleitet, die slavischen Yölker erreichte. Wesselovsky in
seinen „Ricerche nelP ambito dei canti popolari del popolo Russo", Fase. IV,
p. 78—79, 432—33 fügt noch andere hinzu. Gaster teilt einige rumänische
Varianten mit in Literatura popolara Romana, S. 468—471. T. Cannizoro
führt im Archivio I, 416 an, dass „die zwölf Worte der Wahrheit" in einer
Sammlung von mittelalterlichen bretonischen Liedern, gedruckt 1650, von
Tanguy Guéguen sich finden, und dass sie noch vor nicht vielen Jahren
auf dem Seminar in Quimper gesungen wurden; sie sind auch nach Sicilien
gewandert, dort wird das Gespräch zwischen S. Niccolo di Bari und Satan
gehalten. Er fügt hinzu, dass man vielleicht darauf schliessen dürfe, dass
das sicilianische Lied aus dem XL Jahrhundert stamme, weil damals der
Kult von S. Niccolo eingeführt wurde. Ob es sich so verhalte, bleibt
doch wohl fraglich.
Zu den schon angeführten Varianten füge ich noch einige, die ich
angetroffen, hinzu: Schwedische: Dybek, Svenska Visor, II. Heft, S. 8
(Stockholm 1847), Pitrè, Archivio III, 61; spanische, Pitrè, Archivio li,
104 f., 142; sicilianische, Pitrè 1. c. I, 422, II, 98; italienische, VII, 498,
501; portugiesische, II, 102; cfr. noch Tylor, Anfänge der Cultur, I, 87 f.
und Newells „Carol of the twelve Numbers" Journ. of American Folk-
lore IV, 215.
Noch bemerke ich, dass nach Hasdeu2) diese Katechismusfragen noch
in Gebrauch sind unter den Rumäniern, Polakken, Ruthenen als „Canto
di natale", unter den Ebräern als „Cantilena di pascha", unter den
Franzosen in Canada aber als „Ronde religieuse". Die Tanzenden zählen
laut, damit jedes eine Nummer erhalte; dann fängt der Gesang an, „La
chaine se met à tourner" und nun wird gefragt:
Dis moi, pourquoi un?
Il-n'y-a qu'un seul dieu.
Dis moi, pourquoi deux?
Il-y-a deux testamens, il-n'y-a qu'un seul dieu......
Dis moi, pour quoi six?
Six urn's de vin, rempli's á Cana en Galilée......
Bald dreht sich die Kette links um, bald rechts; wenn aber die sechste
Strophe erreicht ist und wenn gesungen wird:
Six urn's de vin ....
stehen alle still, und die Tanzenden, die eine gerade Nummer haben,
1) Es ist nun auch herbeizuziehen der saggio critico von Stanisi. Prato: Le dodici
parole della verità, novellina-cantilena popolare considerata nelle varie redazioni italiene e
straniere, im Archivio per lo studio delle tradiz. popol. X, 499—518, XI, 265—275, 305
bis 322, XII, 38—53, 422—434 (noch nicht beendet). K. W.
2) L. c. Pitrè.
Dio Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
253
drehen sich erst rechts dann links, sich tief gegen ihre Mittänzer verneigend.
In umgekehrter Ordnung machen dann die ungeraden Nummern ihre Ver-
beugimg und wenn gesungen wird:
rempli's á Cana en Galilée ....
fängt der Tanz von neuem an.1)
Diese Zahllieder kommen aber nicht nur vor als einzelstehende Fragen
und Antworten, sie werden auch in Novellenrahmen eingefasst. Die schon
angeführten, oder wenn man annehmen darf, dass das hebräische Osterlied
älter ist, als alle die Nachahmungen, das hebräische Osterlied findet sich in
den Novellen durch neuere Bildungen mannigfach umgestaltet. Die erste
Erzählung dieser Art, die ich hier anführe, ist die türkische Variante,
Pitre Arch. II, 228. Ein reicher Mann schenkt einem Armen einen Ochsen,
er fügt aber die Bedingung hinzu, dass der Annehmer dem Geber den
siebenfachen Wert des Tieres zahlen soll, falls er nicht nach drei Tagen
sieben Fragen beantworten könne. Ein Freund des armen Mannes über-
nimmt die Rolle des Respondenten und jetzt fängt die Unterredung an
(ich benutze den italienischen Text):
Che cosa è: una e non due?
Iddio è uno.
Che cosa sono: due e non tre?
Il giorno e la notte (oder il sole e la luna).
.....tre e non quattro?
Tre divorzi colla moglie.
.....quattro e non cinque?
Quattro libri divini mandati da dio: gli Evangeli, la Bibbia, il Salterio
ed il Corano.
.....cinque, non sei?
Cinque condizioni dell' Islam.
.....sei e non sette?
Sei regole nell' compiere il Nizam.
.....sette e non otto?
Sette ciele fino al trono di Dio (oder sette terre e sette inferni)
Hier mag eine ungedruckte dänische Variante eingeschaltet werden.
Ein Soldat in Kopenhagen ging einst in die Kirche; er suchte sich
einen Platz mitten in der Gemeinde auf, zog ein Spiel Karten aus seiner
Tasche hervor und fing eifrig an dasselbe zu durchblättern. Ein Feld-
webel, der in der Nähe sass, befahl ihm flüsternd augenblicklich die Karten
wieder in die Tasche zu stecken; der Soldat that, als ob er ihn nicht ver-
stünde und blätterte noch emsiger in seinem Spiele. Sobald der Gottes-
dienst vorüber war, wartete der Feldwebel auf den Soldaten ausserhalb
der Kirche und führte ihn zum Hauptmann, dem er sein unziemendes
1) Ofr. Les Yêpres de Cornouaille, Soniou Breiz-Izel par F. M. Luzel (1890), I, 89.
254
Feilberg:
Betragen in der Kirche vortrug. Der Soldat sagte entschuldigend: „Ich
habe durch mein Kartenspiel weder Gott noch Menschen erzürnet". —
„Alle Ausflüchte werden Dir nicht helfen", fuhr ihn der Hauptmann an,
„willst Du einer schweren Strafe entgehen, musst Du erklären, warum
Du dies alles gethan hast." Da antwortete der Soldat gar ernstlich: „Lesen
kann ich nicht, ein Gesangbuch würde mir nichts nützen, darum habe ich
mir ein Spiel Karten gekauft. Betrachte ich mir das Ass, die Karte, die
alle andern regiert, dann sage ich mir selber: Es giebt nur einen Gott,
welcher Himmel und Erde erschaffen hat. Der Zweier predigt mir von
der doppelten Natur, der göttlichen und menschlichen unseres lieben
Heilandes. Der Dreier redet von den drei Personen in der Gottheit,
Yater, Sohn und heiligem Geist. Der Yierer deutet auf die vier Evangelisten,
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Der Fünfer bringt mir ins Ge-
dächtnis die fünf heiligen Wunden meines Erlösers. Die Sech s e sagt
mir, dass es sechs Arbeitstage in der Woche giebt, die Sieben, dass der
siebente Tag soll heilig gehalten werden. Die Acht redet von den acht
Seelen die in der Arche Noahs aus der Sündflut gerettet wurden. Die
Neune von den neun undankbaren Aussätzigen, als ihrer zehn gereinigt
wurden. Der Z ehner bedeutet die zehn Gebote Gottes, die auf dem
Berge Sinai Moses gegeben wurden." Als der Soldat soweit gekommen
war, nahm er Pikbube beiseite, für ihn habe er augenblicklich keinen
Gebrauch, darnach fuhr er fort: „Die drei Buben stellen die drei Henkers-
knechte vor, die Jesum kreuzigten. Yon den vier Damen ist mir die
eine die heilige Jungfrau Maria, die drei andern ihre Begleiterinnen am
Ostermorgen zum Grabe des Herrn. Der eine von den vier Königen
ist Herodes, die drei übrigen die heiligen drei Könige, die aus dem fernen
Osten kamen, das liebe Christkind anzubeten. So ist mir das Kartenspiel
nicht nur ein Gebetbuch, sondern auch mein Kalender. Wie es zwölf
Bilderkarten im Spiele giebt, giebt es zwölf Monate im Jahre, zählen wir
aber nach Wochen dreizehn, wie es dreizehn Karten jeder Art im Spiele
giebt, und die Wochen im Jahre sind zwei und fünfzig, wie die Zahl
der Karten im Spiele. Wir haben vier Arten von Karten im Spiele und
ebensoviele Jahreszeiten, ausserdem hat jede Art ihre eigene Bedeutung.
Treff ist das Kreuz Jesu, Spaten sein Grab; Rauten bedeutet, dass die
Kirche viereckig ist; Herzen, dass wir mit herzlicher Andacht und Freude
zur Kirche gehen sollen. Hier haben Sie meine Erklärung, Herr Haupt-
mann!" schloss der Soldat seine lange Rede. Der Hauptmann aber ent-
gegnete: „Noch hast Du mir nichts von Pikbube gesagt, der muss ja doch
wohl auch, sowie alle die übrigen, etwas zu bedeuten haben. Lass hören,
was er spricht!" „Ja, natürlich werde ich es thun, wenn der Herr Haupt-
mann mich frei und ohne Strafe gehen lassen wollen." „Gewiss." „Der
Pikbube ist der arge Schalk Judas, der Jesum unschuldig verriet, wie der
Feldwebel mich Unschuldigen an den Hauptmann verraten hat." Der
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
255
Feldwebel hatte kein Wort zu sagen, schlich sich beschämt von dannen,
aber der Hauptmann gab dem Soldaten 10 Kronen wegen seiner gottes-
fürchtigen Erklärung.x)
Hiervon ist der Übergang zu der kleinrussischen Erzählung (Pitre,
Archivio II, 228) nicht weit. Ein armer Mann geht aus, Brot zu kaufen. Der
Teufel tritt ihm entgegen, ihm sechs Schweine und Reichtum anbietend,
wenn er einen Pakt mit ihm schliessen wolle. Der arme Mann schlägt
ein, verkauft die fünf Schweine, isst das sechste und wird reich; als aber
drei Jahre vergangen sind, und er in grösster Verlegenheit den Teufel
erwartet, klopft ein alter Mann am letzten Abende an seine Thiire an, er
wird eingelassen, spricht dem angstvollen Mut ein und verspricht für ihn
antworten zu wollen. In der Mitternachtsstunde erscheint der Teufel und
ruft (ich benutze wiederum den Italienischen Text):
Chi è in casa? — Uno, ed uno non si è (denn es sind zwei?).
E due? — E bene battere il biado in due.
E tre? — E bene viaggiare in tre.
E quattro? — Quando uno ha quattro ruote, ha una carretta.
E cinque? — Qui ha cinque figluoli, ha semper società.
E sei? — Sei porci ebbe il Diavolo, li diede al povero e li perdotte
per sempre.
Voller Wut riss der Teufel das Dach vom Hause und fuhr seines
We ges. Es sind wohl diese „novelle popolari", die in Pitrè's Archivio II,
226 als Varianten von „le dodici parole della verità" genannt werden :
2 rumänische, 1 aus Schlesw. Holstein (ist wohl aus Ditmarschen s. Müllen-
hoffs Sagen S. 303 u. 415), 1 von den Siebenbürger Sachsen, dazu kommen
noch 1 in Pelvi und 1 von den Kirgisen.
An diese nun reihen sich auch nordische Variauten an. Ein armer
Bauer hat Geld vom Teufel erhalten auf die Bedingung, dass er ihm nach
sieben Jahren sieben Fragen beantworten solle. Am letzten Abende giebt
er einem norwegischen Bettler Quartier und dieser hilft ihm aus. Eben
in der Mitternachtsstunde, als die Uhr zu schlagen anfing, erscholl ein
Getöse, als ob das Haus einstürzen sollte. Es war „Er selbst", der er-
schien, Der Norweger, der Soldat gewesen war, rief wie im Dienste:
55Wer da?" „Ich bins!" war die Antwort. „Bist Du der leidige Teufel
selber?" — „Ja wohl" und nun ging das Fragen an. „Was ist eins?"
Ein Rad an der Schubkarre." „Zwei?" „Zwei Augen in Deinem ver-
maledeiten Kopfe!" „Drei?" „Drei Fiisse an einem irdenen Topfe."
55Vier?" „Vier Räder unter dem Wagen." „Fünf?" „Fünf Finger an
deiner vermaledeiten Diebeshand." „Sechs?" „Sechs Werkeltage in der
^roche." „Sieben?" „Das Siebengestirn am Himmel, und das sitzt, hol
1) Deutsch kenne ich keine Varianten; eine dänische ist früher bei Grundtvig Gamie
('anske Minder i Folkemunde IT, 309 gedruckt: Cliapbook in England s. Folklore Journal,
315.
256
Maurer :
mich der Teufel, sowohl Dir als mir zu hoch!" Der Teufel verschwand
mit einem furchtbaren Getöse und der Mann war gerettet.1) Dem entspricht
die schwedische Variante bei E. Wigström, Folkdiktning (.1881) II, 232.
Auf das neugriechische Zahllied bei Liebrecht (Zur Yolkskunde, S. 164)
verweise ich bloss und bemerke, dass dort nur zwei von den religiösen
Antworten beibehalten sind: einen Gott nur giebt es, und eine heilige
Dreieinigkeit.
Askov bei Yejen in Jütland.
(Schluss folgt.)
Die Hölle auf Island.
Yon Konracl Maurer.
Yor längerer Zeit habe ich schon daraufhingewiesen"), dass man heut-
zutage auf Island weder von einer heissen noch von einer kalten Pein zu
erzählen wisse, so sehr auch die zahlreichen Feuerberge der Insel und ihre
ausgedehnten Ferner zu solchen Erzählungen Anlass geben könnten; dass sich
ferner auf der Insel zwar einzelne Ortlichkeiten finden, welche nach dem
Paradiese oder nach der Hölle benannt sind, dass sich aber an diese Namen
keine sie erklärende Sagen knüpfen. Gleichzeitig habe ich aber anderer-
seits auch hervorgehoben, dass im Auslande schon frühzeitig der Glaube auf-
kam, dass auf Island sowohl eine kalte als eine heisse Pein bestehe, und dass
insbesondere die Hekla in ihrem Innern wenn nicht eine Hölle, so doch
ein Fegefeuer berge. Bezüglich des ersteren Punktes kann ich heute
bemerken, dass Jon Arnason3) inzwischen die Namen Paradis und
Paradisarhellir, dann Viti und Yitishellir noch weiter bezeugt
und überdies auch noch einen Odáinsakur nachgewiesen hat, ohne dass
es ihm indessen besser als mir gelungen wäre, irgend welche auf die
ersteren Ortsnamen bezügliche Sagen aufzutreiben. Bezüglich des zweiten
Punktes dagegen möchte ich hier einige weitere Erörterungen mir erlauben,
ohne übrigens im Entferntesten auf Vollständigkeit der beizubringenden
Belege Anspruch erheben zu wollen.
Saxo Grammaticus zunächst sagt in der Vorrede zu seinem Geschichts-
werke4), von der Glacialis insula, also Island, sprechend: „Huic eciam
1) Danske Folkeseventyr, opt. af Folkemindesamfunds Medleinmer ved E. T. Kristensen
(1888), S. 306.
2) Isländische Volkssagen der Gegenwart (1860), S. 56 und 198,
8) íslenzkar pjodsögur og sefintyri, Bd, II, S. 32—34 (1864),
4) Gesta Dan o rum, S, 7 (ed. Holder),
Dip Hölle auf Island.
257
insule certis statutisque temporibus infinita glaciei aduoluitur moles: que
cuín aduentans scabris primum cautibus illidi ceperit, perinde ac rerau-
gientibus scopulis fragose ex alto uoces ac uarii inusitate conclamacionis
strepitus audiuntur. Quamobrem animas ob nocentis uite culpam suppliciis
addictas illic algoris magnitudine delictorum pendere penas existimatum
est." Er bezeugt also, dass man in dem Geräusch, welches das Anschlagen
des Treibeises an den Strandfelsen verursacht, die klagenden Stimmen der
armen Seelen zu erkennen meinte, welche in diesem Eise ihre Sünden
abzubtissen hätten. Gegen das Ende des 12. Jalirh. glaubte man also in
Dänemark bereits au das Vorhandensein einer kalten Pein auf Island, oder
doch in dessen nächster Nähe.
Nur wenig später bemerkt der Verfasser des Königspiegels1), dass
schon der heil. Gregorius in seinem Dialogus von Höllenstrafen auf Sicilien
spreche und fügt bei, dass mit grösserer Wahrscheinlichkeit das Bestehen
einer heissen Pein auf Island angenommen werde, was er sofort aus der
angeblichen Eigenschaft des isländischen Erdfeuers, Holz und Erde nicht
zu verbrennen, beweisen will. Ausserdem nimmt er aber auch noch das
Bestehen einer weiteren Pein in den Fernern der Insel an, und muss man
demnach im 13. Jahrh. in Norwegen bereits sowohl von einer heissen als
"von einer kalten Pein auf Island gesprochen haben. Ich will übrigens
nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu inachen, dass in der altnordischen
Übersetzung der Dialogi Gregors, und zwar in dem vierten Buche, wirklich
die in Bezug genommene Angabe zu finden ist2); einmal nämlich wird
hier berichtet, wie K. Theodorich nach seinem Tode an einen Ort in
Sicilien geworfen worden sei, an welchem Feuer aus dem Boden schlage,
sodann aber wird erzählt, wie ein Sterbender seinen Freund einladen lässt,
mit ihm nach Sicilien zu fahren und dabei bemerkt, dass sich hier an
einem Orte, an welchem Feuer aus dem Berge hervorbreche, mehrfache
Qualstätten (pislarstadir) befänden. Da unsere Haupthandschrift dieser
Übersetzung spätestens aus dem Anfange des 13. Jahrh. stammt und die
Abschrift eines älteren Originales zu sein scheint3), konnte der Verfasser
des Königsspiegels die Übersetzung recht wohl kennen und somit sein
Citat aus ihr entnehmen, wenn er etwa nicht genug Latein verstand, um
den Urtext selbst benützen zu können.
Um die Mitte des 13. Jahrh. bringt ferner der Mönch Alb eri eh des
Cistercienserklosters zu Troisfontaines in seiner Chronica aus Anlass der
Schlacht bei Fotvig (1134) einen weiteren hierher gehörigen Bericht.4)
1) Speculum regale, S. 30—33 (ed. O. Brenner).
2) Heilagra manna sögur (ed. Unger), I, S. 245, 248—49.
•5) Vgl. porvaldur Bjarnarson, Leifar fornra kristinna frœcta íslenzkra,
s. xrn-xrv.
4j Script, rer. German. XXIII, S. 829-30.
258
Maurer :
Er sagt: „De hac autem congressione et morte Magni fili i regis Nicolay et
quinqué episcoporum et relique multitudinis dicitur a quodam abbate ordinis
Cisterciensis de Suecia1), quod ipsa die, qua mutuo se interfecerunt, vise sunt
a pastoribus in Hysselandia anime eorum avolantes in similitudine nigrorum
corvorum et aliarum avium diversi generis et clamantes: Ve, ve, nobis,
quid est quod fecimus? ve, ve nobis, quid nobis contigit? Et alie immanissime
aves quasi griphes istas inpellebant, et ipsis pastoribus videntibus omnes in
infernumHysselandie ceciderunt; et unus ex illis qui vidit fuit postea monachus
Cisterciensis ordinis, qui omnia que vidit per ordinem sepissime referebat.
Sed et abbates de Dacia in generali capitulo apud Cistercium per omnia
vera esse protestati sunt." Hierauf folgt noch „de eodem inferno Hysse-
landie sito in monte qui vocatur Eclafeld" eine „narratio domni Herberti
in libro miraculorum Claravallis"2), welche ausführlich das Feuerspeien
und die Lavaergüsse des Berges schildert, „sub quo et in quo homines
loci maximum arbitrantur esse infernum", mit dem Beifügen, dass dem
gegenüber „illa famosissima olla Vulcani de Siciliaque gehenne spiraculum
dicitur et ad quam inorientium anime damnatorum ad comburendum, ut sepe
probatura est, cotidie protrahuntur", nur als eine Kleinigkeit gelten könne.
Später wird dann3) gelegentlich der Besprechung des „purgatorium sancti
Patricii" in Irland noch einmal auf jene Erzählung „de inferno Hisselandie"
und auf die „olla Vulcani et Ethna de Sicilia" Bezug genommen. Ich
lasse dahingestellt, ob, wie Dahlmann vermutet4), auch schon in den
Worten, welche Saxo's Zeitgenosse, S ve inn Akason, gelegentlich der-
selben Schlacht bei Fotvig von den schonischen Bauern braucht5): „mitoque
congressu, Magnum Regis fìlium, jam dicti sceleris autoreni, cum duobus
praesulibus, ad tartara trucidantes transmiserunt", dieselbe Sage angedeutet
werden wolle. Jedenfalls ist aus Alberichs Bericht zu ersehen, dass der
Glaube an eine auf Island und zwar im Innern des Berges Hekla bestehende
heisse Pein in der ersten Hälfte des 13. Jahrh. in den klerikalen Kreisen
Dänemarks und Schwedens verbreitet war, wenn auch vielleicht, worauf
ich später zurückkommen werde, die Berufung auf die Aussage isländischer
Hirten und auf den isländischen Volksglauben nicht glaubwürdig erscheinen
sollte. Will man Sveinn Akasons Worte ebenfalls hierher beziehen, so
würde damit für Dänemark dieselbe , orstellung schon um ein halbes
Jahrhundert früher bezeugt sein.
1) Die beiden ältesten Cistercienserklöster in Schweden, Alwastra und Nydal, wurden
schon im Jahre 1144 gestiftet; vgl. Keuterdahl, Svenska kyrkans historia I, S. 490
bis 493 und Montelius, Sveriges Historia I, S. 379.
2) Ygl. über diese Schrift das von dem Herausgeber Alberichs, Scheffer-Boichorst, in
dem genannten Bande der Monumenta, S. 667, not. 72 angeführte,
3) Anff. 0. S. 836.
4) Geschichte von Dännemark, I, S. 236, Anm. 2,
5) Langebek, Script, rej-, Danic., I, S. 60.
Die Hölle auf Island.
259
Um ein Jahrhundert später erwähnt das Chronicon de Lanercost,
auf welches Dr. por val dur Thoroddsen hingewiesen hat1), der vulkanischen
Ausbrüche auf Island und fügt bei, dass man deutlich das Jammern der
Seelen höre, welche in diesem Feuer gepeinigt würden. (Quodque
mirabilius est, dixit, quod audiri possunt in ilio igne sensibiles vagitus
animarum ibidem tortarum.) Der Chronist beruft sich dabei auf das
Zeugnis des Bischofs Wilhelm von den Orkneys, welcher im Jahre 1275
in Hartlepool hiervon erzählt habe; da dieser indessen erst im Jahre 1310
zum Bischof der Inseln geweiht wurde, muss dabei ein Irrtum vorliegen,
etwa insofern, als ihm vielleicht der Bischofstitel verfrüht beigelegt wurde.
Wieder etwas später bemerken die Annalen von Flatey, deren betreffender
Teil in den Jahren 1388—90 geschrieben ista), zum Jahre 1341, ge-
legentlich eines heftigen Ausbruches der Hekla, dass die Leute meinten,
in dem Feuer grosse und kleine Yögel mit allerlei Geschrei herumfliegen zu
sehen, und dass sie diese für Seelen hielten.3)
In der folgenden Zeit knüpfen aber einerseits die Engländer und
andererseits die Hansastädte Handelsbeziehungen mit Island an, infolge
deren manche abenteuerliche Erzählungen über die entfernte Insel nach
dem Auslande gelangten; überdies beginnt allmählich auch eine gelehrte
Beschäftigung mit der Geographie, deren Vertreter freilich zunächst ziemlich
kritiklos ältere literarische Überlieferungen mit neueren Erzählungen der
eben erwähnten Art zu mischen pflegen. Die älteren Vorstellungen von
einer heissen und allenfalls auch von einer kalten Pein auf Island, und
zumal von einer Hölle, oder auch einem Fegefeuer im Berge Hekla er-
halten sich in dieser Zeit und nehmen zum Teil einen ziemlich volks-
tümlichen Charakter an. Arngrímur Jónsson4), Thomas Bartholin5), Jakob
Grimm6), zumal aber por val diu' Thoroddsen in seinem bereits angeführten
Werke über die Erdkunde Islands haben bereits zahlreiche Belege hierfür
beigebracht, und zumal ihren Werken entnehme ich die folgenden Angaben.
Es spricht aber zunächst Jakob Ziegler in seiner Schondia (1532) von
der heissen Pein, welche sich in den feuerspeienden Bergen Islands befinde7),
und wenig später erwähnt Sebastian Münster in seiner Kosmographey
(1543), allerdings abweisend, die Berichte über die klagenden Stimmen,
1) Landafrsedissaga islands, I, S. 70—71 (1892), vorher schon in dessen Oversigt
°ver de Islandske Yulkaners Historie, S. 131 (1882).
2) G. Storm, Islandske Annaler, S. XXXIY.
3) Ebenda, S. 401.
4) Brevis Commentarius de Islandia, fol. 19b—31a (1593).
5) Antiquitates Danicse, S. 356 —61 (1689).
6) Deutsche Mythologie, II, S. 836 —37 und III,.S. 295 (ed. 4). Manches Ein-
schlägige und zumal sehr sorgsame Literaturnachweise giebt auch Ólafur Davídsson
Tímarit hins íslenzka bókmentafjelags, "VIII, S. 100—173 (1887) und XIV,
8.136-204 (1893).
7) Thoroddsen, I, S. 131—32.
^eitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 18
260
Maurer:
welche man im Bise zu hören und in welchen man das Jammern der armen
Seelen im Fegefeuer zu erkennen glaube, sowie die Erzählungen yon Ge-
spenstern, welche im Krater der Hekla aus- und eingehen sollen1).
Gemma Frisius (f 1555) scheint ihm einfach zu folgen2); um dieselbe
Zeit erwähnt aber auch Petrus Palladius, der bekannte evangelische
Bischof von Seeland, in einem Briefe den Glauben an die Hölle in der
Hekla.3) Yon grösserer Bedeutung ist, was der schwedische Erzbischof
Olaus Magnus über die Sache beizubringen weiss, da auf seinen Angaben
die spätere Literatur hauptsächlich zu fussen pflegt. Schon in dem
Kommentar zu der Karte des Nordens, welche er im Jahre 1539 ver-
öffentlichte und welche 0. Brenner neuerdings wieder aufgefunden und
herausgegeben hat, findet sich die Bemerkung4): „Glacies miserabilem
humane vocis gemitum indicans fidem facit ibi hominum animas tormentan",
und die Bearbeitung dieses Kommentares, welche noch in demselben
Jahre in italienischer und deutscher Sprache erschien uud später in
lateinischer Umgestaltung der Baseler Ausgabe seines Geschichtswerkes
vom Jahre 1567 beigegeben wurde, enthält noch die weiteren Einträge:
„Möns Hecla, ualde horribilis igne, fumo et profunditate, destinatus locus
(D. August, lib. 21 de Ciuit. Dei) Dei iudicio, ad tormentandum defunc-
toruni animas", und wieder: „Duo etiam mirabilia, quorum primum ignis
sua ex natura mixtus sulphure aquam depascit et consumit stuppœ minime
nocens. Alteram immensa profunditas prope praedictum Heclam montem,
quae inuestiganda non est, nec oculorum acies eo peruenire potest, ut loci
basini illic esse dicere possit. Circa hunc locum saepius homines submersi
reperiuntur, non mutato colore, uiui a plerisque aestimantur, a suis uero
domum redeant, rogati, suspirijs emissis ad Heclam properandum respondent,
subitoque evanescunt." In seinem vielbenutzten historischen Werke aber,
welches Olaus unter dem Titel: „Historia de gentibus septentrionalibus"
im Jahre 1555 in Rom erscheinen liess5), spricht er II, cap. 3 von einem
feuerspeienden Berge auf Island, mit dem Beifügen: „Ibique locus esse
creditur poenae expiationisque sordidarum animarum." Schon etwas
früher hatte der spanische Priester Francesco Lopez von Gomera
unter Berufung auf Olaus Magnus in seiner Geschichte von Indien (1553)
der kalten Pein und der feuerspeienden Berge auf Island gedacht.6)
Nathan Chytrœus (f 1598) erwähnt in seinen „Yariorum in Europa
1) Thoroddsen, I, S. 132-34.
2) Arngrimur, fol. 17 b, 18 a u. 25 b.
3) Finnur Jónsson, Hist, eccles. Island., II, S. 694, Anm. b.
4) Siehe 0. Brenner in den Forhandlinger i Videnskabs-Selskabet i
Christiania, 1886, S. 6.
5) Ich benutze die oben angeführte Baseler Ausgabe.
6) Siehe G. Storm in der (norwegischen) Historisk Tidsskrift, II. Reihe, Bd. V,
S. 3S6—87; Thoroddsen, S. 143.
Die Hölle auf Island.
261
itinerum deliciae" (1606) wenigstens die auf der Insel umgehenden Geister1),
und Abraham Ortelius sagt in seinem Theatrum orbis terrarum, welches
zuerst im Jahre 1570 erschien, dann aber wiederholt aufgelegt wurde, dass
allgemeinem Volksglauben nach die Seelen der Yerstorbenen nach Island
gebracht würden2); Kaspar Peucer aber, der Schwiegersohn Melanchthons,
berichtet in seinem „Commentarius de praecipuis divinationum generibus"
(1553)3): „Est in Islandia mons Hecla, qui imtnanis barathri, vel inferni
potius profunditate terribilis, ejulantium miserabili et lamentabili ploratu
personat, ut voces plorantium circumquaque, ad intervallum magni milliaris,
audiantur. Circumvolitant hunc corvorum et vulturum nigerrima agmina,
quae nidulari ibidem ab incolis existimantnr. Yulgus incolarum descensum
esse per voraginem ilium ad inferos persvasum habet: Inde cum proelia
committimtur alibi, in quacumque parte orbis terrarum aut caedes fiunt
cruentae, commoveri horrendos circumcirca tumultus, et excitari clamores,
atque ejulatus ingentes longa experientia didicerunt." Auch Hieronymus
Cardanus kennt derartige Erzählungen, will sie aber natürlich erklärt
wissen; er sagt in sememWerke ,.De subtilitate libri XXI" (1550)4), nachdem
er von angeblichen Gespenstererscheinungen auf Island gesprochen und
diese natürlich zu erklären gesucht hat: „Est Hecla mons in Islandia,
ardetque non aliter ac Aethna in Sicilia per intervalla, ideoque pervasione
longa (vulgi) concepta, quod ibi expientur animae; Alii, ne vani sint, affin-
gunt inania fabulae, ut consona videantur", womit doch wohl auf die kurz
Vorher mitgeteilte Angabe zurückgewiesen werden will, dass jene Gespenster
erklären sollen, nach der Hekla zu wollen. Arngrímur Jónsson aber
erzählt, obwohl er alle jene Berichte unmutig als leere Fabeleien zurück-
weist, doch selbst (fol. 20 b) als ein Beispiel von solchen, ohne seine Quelle
anzugeben, folgendes Geschichtchen: „Nempe cuidam extr.aneorum navi,
Islandiam relinquenti, et turgidis velis, citissimo cursu, iter suum recta
Agenti, factain obviam alteram, similiter impigro cursu, sed contra vim
tenipestatum, velis et remis nitentem, cujus praefectus rogatus, quinam
essent? respondisse fertur: De Bischop van Bremen. Iterum rogatus quo
tenderent? ait: Thom Heckelfeldt tho, Thom Heckelfeldt tho." Schon die
plattdeutsche Sprache zeigt, dass die Erzählung dem Munde deutscher
Schiffer entnommen sein muss, und sie stellt sich damit auf eine Linie
mit dein Berichte, welchen Gories Peerse in seinem Gedichte „Van
Island" giebt (1561)5); er sagt V. 11—14:
1) Thoroddsen, S. 155.
2) Ebenda, S. 158; nach der Ausgabe von 1595.
B) Arngrímur, fol. 21 a u. b; vgl. Thoroddsen, S. 154, der eine Atisgabe von
^576 benutzt hat.
4) Arngrímur, fol. 26b; Thoroddsen, S. 152—53, der die Ausgabe von 1611
^euutzt hat.
5) Herausgegeben von W. Seelmann, im Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche
Sprachforschung, Jahrg. 1883, S. 116. Ygl. auch, was J. W. Wolf, Deutsche Märchen und
^agen (Leipzig 1845), S. 505 erzählt.
262
Maurer :
„Noch ys dar ein Berch, heth Hekelvelle,
Den holden dar de Buren vor de helle,
Dat maltet, dat darut kumpt vaken
Ynrflammen, syn rokent ys stedes ane maten."
Weit schlimmeren Schlages ist das Büchlein des Dithmar Blefken,
welches unter dem Titel: „Islandia, sive populorum et mirabilium quae in
ea insula reperiuntur accurata descriptio" im Jahre 1607 in Leiden
herauskam1). Der Verfasser, welcher in den Jahren 1563—65 auf der
Insel gewesen zu sein fälschlich behauptet, erzählt die wunderlichsten
Dinge von dieser, so von den Hausgeistern der Leute, welche ihrem Herrn
beim Fischfang helfen (S. 31), von den Zauberkünsten der Isländer (S. 32),
von den roten Tauchervögeln, welche sich in den heissen Quellen sehen
lassen, aber verschwinden, wenn man an sie herankommt (S. 39), also der
„hverafuglar", von denen man noch heutigen Tages auf der Insel erzählt;
insbesondere aber berichtet er auch über die Iiekla, die er freilich ganz
verkehrt in das Nordland setzt, und deren Ausbrüche, wobei er (S. 42—43)
bemerkt: „Damnatorum animas hic torqueri viilgus credit: varia et horrenda
in hoc monte et circum spectra observari certuni est; nam si alieubi sit
proelium commissum, Mandici, praesertim ij qui in mari vicino Heclae
navigant et piscantur, proelij commissi diem sciunt etiam si ignorent, ubi sit
factum: vident enim (ut ipsi referunt) Cacodaemones exeuntes et revertentes,
umbrasque adducentes. Et circumfertur historia talis in Islandia: Piscator
juxta Heclam navigans aliam navem obviam habuit uterque secundo utebatur
vento, cumque more nautarum ecquis esset, et unde, quaesitus, Bremensem
Episcopum se in navi habere respondit, quem ad Heclam deducere vellet:
et compertum est eo ipso die Episcopum e vita discessisse. Quod tamen
ego pro vero ponere nolim. Si qui fluctibus aut alioqui perierint aut mortui
fuerint, interdum suis relictis amicis et notis tristes apparent, quaesiti
quo et unde, ad.Heclam sub inclementi praedagogo Daemone deduci se
respondent, evanescuntque. Sicque a Sathana fascinati sunt, ut animas
demortuoruin esse credant." Hinterher erzählt er auch noch (S. 46—47),
von dem Treibeise sprechend: „Sed quia ego omnia diligenter perquirere
statueram, non sine horrore ad hanc glaciem navigavi, et animadverti
vi ventorum liane glaciem ad scopulos torqueri, et ita lugubrius quiddani
sonare a longe, quasi exaudirentur ibi miserandi ejulatus. Hinc Islandici
danmatorum animas j in ista glacie torqueri putant." Beide Stellen nahm
der gelehrte Prediger David Fabricius in seine Schrift „Van Isslandt",
cap. 10 auf, welche zuerst im Jahre 1616 erschienen ist2); doch hat er sie
gekürzt und wohl auch teilweise missverstanden. Insbesondere hat er die
1) Ygl. Thorodclsen, S. 178—91.
2) Ich benutze die Ausgabe von Tannen, 1890, welche auf S. 24—25 die hierher
gehörigen Worte bringt.
Die Hölle auf Island.
263
Erzählung von dem Bischof von Bremen weggelassen, welche dagegen eine
Parallele in einem Berichte findet, den Jon Egilsson in seinen um das
Jahr 1605 geschriebenen „Biskupa-annálar" giebt.1) Er erzählt, nachdem
er von dem grossen Ausbruche der Hekla im Sommer 1510 gesprochen
hat: „So haben sehr viele Leute gesagt, dass an eben diesem Abende des
Jakobus-Tages (*25. Juli), an welchem das Feuer in der Hekla ausbrach,
zur selben Stunde König Hans in Dänemark gestorben sei, und man sprach
allgemein davon, dass drei Leute in der Lohe eine Art Königskrone
gesehen haben sollten." Der Yerfasser führt einen der drei Männer
namentlich an, und noch Eggert Olafsson (f 1768) gedenkt in der 5. Strophe
seiner „Ferda-rolla" neben manchen anderen Wundern der Hekla auch
dieser Erscheinung der Königskronea) ; aber freilich starb König Hans
erst am 20. Februar 1513, also nahezu 3 Jahre nach jenem Ausbruche der
Hekla.
Auch in der späteren Zeit wird bei ausländischen Schriftstellern die
Hekla noch oft genug als Hölle oder Fegefeuer, oder doch als Eingang zu
ihnen, dann allenfalls auch als Versammlungsort der bösen Geister oder
der Hexen erwähnt, porvaldur Thoroddsen führt derartige Angaben des
italienischen Jesuiten Julius Caesar Re cup i ti us „De vesuviano incendio
iiuntius" (1633) und des deutschen Theologen Thomas Ittig, „Lucubra-
tiones academicae de montium incendiis" (1671) an3); Olafur Davidsson
Weist aus der ursprünglich polnisch abgefassten Beschreibung Islands des
Daniel Streyc oder Yetterus (1638)4), sowie aus des Buchhändlers
Jens Lauritzsön Wolff dänisch geschriebener „Norrigia illustrata"
(1651)5) Ähnliches nach, wobei aber nur von mancherlei anderem Aber-
glauben, jedoch nicht von einer heissen oder kalten Pein die Rede ist.
Der von ihm gleichfalls erwähnte Isac de La Peyrere bespricht in seinen
«Relations de l'Islande" (1644), cap. 10, unter Berufung auf Blefken sowohl
die heisse Pein in der Hekla als die kalte im Treibeis6), und ebenso
Verhält sich Martini ere in seiner „Neuen Reise in die nordischen Land-
schaften" (1675).7) Es begreift sich aber, dass in der Literatur derartige
Angaben sich nach und nach verlieren mussten, da die allmähliche Er-
starkung der Naturkunde und geläutertere religiöse Vorstellungen ihre
^Stichhaltigkeit immer mehr erkennen liessen, und überdies gelehrte
1) Safn til sögu islands, I, S. 45.
2) Kvaedi Eggerts Ólafssonar (1832), S. 86.
3) Oversigt over de Islandske Vulkaners Historie (1882), S. 3.
4) Tímarit, VIII, S. 156.
5) Ebenda, S. 160—61.
6) Ich benutze die Ausgabe im Recueil de Voyages au Nord, I, (1731), wo die
Stelle auf S. 10 —11 sich findet.
T) Tímarit, VIII, S. 166. Das Werk war ursprünglich in englischer Sprache
^schienen, unter dem Titel: A new Voyage to the Northern Countries, London,
Î674.
264
Maurer:
Isländer wie zumal Arn grim ur Jónsson1) und der spätere Bischof
pórctur porláksson (Theodorus Thorlacius)2) jenen Fabeleieil selir nach-
drücklich entgegentraten. So weiss denn auch selbst der Hamburger
Bürgermeister Johann Anderson3), so viele Fabeln er auch sonst über
die Insel auftischt, nichts mehr von einer Hölle in der Hekla zu berichten,
obwohl er auf sie ebensowohl als auf andere feuerspeiende Berge Islands
zu sprechen kommt. Dagegen erhält sich der Volksglaube an eine Hölle
in der Hekla, zumal im Norden, noch bis in die jüngste Zeit herunter.
Bei J. Grimm wird der niedersächsische Ausdruck „na Hekelvelde varen"
im Sinne von „zum Teufel gehen" schon aus Sam. Meiger nachgewiesen4),
und Bischof Finnur Jónsson weist aus einem dänischen Liederbuche
vom Jahre 1677 den Ausdruck „til Heckenfeld, til Hecken, til Hecken,
til Heckenfeld" in gleichem Sinne gebraucht nach5), ja noch Hans
Christian Ljngbye übersetzt (1822) in einem faeröischen Liecle die
Worte: „Fear tu. teâr tiil Majnvittis" durch: „0 gaar du dig til Haekken-
feldt".6) In der schwedischen Landschaft Wärend spielt der Heckenfjäll
neben der Bläkulla die Rolle unseres Blocksberges als Versammlungsort
der Hexen7), und wenn ich zwar dahingestellt lassen muss, ob die von
Gudbrandur Vigfússon8) in Bezug genommene Redensart: „Begone to
John Hacklebirnie's house", und der von ihm wie von J. Grimm9) hierher-
gestellte Hackelberg wirklich hierher gehören, so steht doch fest, dass die
dänische Volkssage bis in die neuere Zeit herab noch manche einschlägige
Erzählung festgehalten hat. So erzählt z. B. J. M. Thiele von Peer Ibs,
dem Besitzer von Palsgaard in Jütland, dass ihn, nachdem er vielerlei
Übelthaten begangen hatte, endlich der Teufel gehöhlt und durch die Luft
entführt habe. Die Reise ging über die See, und da der Teufel müde
wurde, setzte er sich unterwegs auf den Mast eines Schiffes; von dem
Schiffer befragt, wohin die Fahrt gehe, antwortete er: „Til Holls! til Holls!
til Hekkenfiaelds, med Peer Ibs! med Peer Ibs! den grove Synder, den
grovselig Herr!"10) Derselbe Gewährsmann erzählt ferner, wie ein Schiff
das Westland der Insel Möen anlief und hier vor Anker ging. Es war
1) Neben seinem schon angeführten Brevis Coinmentarius kommt zumal noch
seine Anatome Blefkeniana (1612), deren S. Gl hierher gehört, und seine Epistola
pro patria defensoria (161S) in Betracht, welche letztere gegen Fabricrus gerichtet ist.
2) Dissertatio chorographico - histórica de Islandia (Wittenberg 1666):
hierher gehört zumal fol. D.
3) Nachrichten von Island (1746), S. 12.
4) Doch wohl aus dessen Schrift „De panurgia Lamiarum", 1587.
5) Hist, e cel. Isl., II, S. 694-95, Note b.
6) Faeröiske Qvaeder, S. 548—49.
7) Hyltén-Cavállius, Wärend och Wirderne, I, S. 182 u. 225.
8) Icelandic — English Dictionary, S. 253, s. v. hekla.
9) Deutsche Mythologie, II, S. 767—70 u. 836—37.
10) Danmarks Folkesagn, I, S. 316—17 (1S4.T.
Die Hölle auf Island.
265
wunderlich anzusehen, glich keinem anderen Schiffe und führte kohlschwarze
Segel. Man machte sich allerhand Gedanken darüber, und zuletzt fand
sich ein Wagehals, der hinüber ruderte. Der sah sofort, dass die ganze
Mannschaft ohne Kopf war; doch thaten die Leute ihren Dienst ganz wie
andere Seeleute. Nun frag sie der Mann, was sie wollten, und erhielt zur
Antwort: „Hente Bager Herman til Hekkenfield!" Und in derselben Nacht
starb der Bäcker Herman.1) Ganz neuerlich aber erzählt Evald Tang
KriStensen in seiner reichhaltigen Sammlung folgende Sage.2) Yor
vielen Jahren segelte ein Schiff gegen die Küste Islands auf. Da sali das
Schiffsvolk an Bord drei dunkle Gestalten über sich herfahren, dem feuer-
speienden Berge Hekla zu. Als das Schiff nach einiger Zeit heimkam,
erfuhr man, dass dort drei hochstehende Herrn zu derselben Zeit gestorben
waren, in welcher die Erscheinung vom Schiff aus gesehen worden war.
Derselbe Grundgedanke kehrt also auch hier wieder, wie er bereits bei
Arngrímur Jónsson und Dithmar Blefken, ja schon um Jahrhunderte früher
bei dem Mönche Alberich uns entgegengetreten war.
Uberblickt man nun aber diese lange Reihe von Zeugnissen, deren
Zahl sich bei weiterem Herumsuchen sicherlich noch erheblich vermehren
liesse, so fällt sofort auf, dass sie mit Ausnahme von zweien, des Annalen-
eintrages vom Jahre 1341 nämlich und der Angabe Jon Egilsson's zum
Jahre 1510, samt und sonders nicht der Insel selbst, sondern dem Auslande
angehören. In den älteren Quellen zunächst findet sich dort keine Spur von
dem Glauben an eine heisse oder kalte Pein auf Island. Die Historia
Norvegiae, welche ich wegen ihres Zusammenhanges mit der Olafssaga
Tryggvasonar des isländischen Mönches Oddr Snorrason in diesem Zusammen-
hange erwähne, kennt zwar die vulkanischen Erscheinungen der Insel sehr
wohl und vergleicht zumal die Ausbrüche des „mons casulae", d. h. der
Hekla, mit denen des Ätna3); aber sie weist ausdrücklich jede über-
natürliche Deutung derselben ab. Sie erwähnt dabei allerdings, dass
Manche in diesen Erscheinungen mit Unrecht etwas Wunderbares erkennen
wollen; aber nicht mit der Hölle oder dem Fegefeuer wollen diese das
Feuerspeien der Hekla in Verbindung bringen, sondern vielmehr in ihm
ein Vorzeichen des nahe bevorstehenden Weltunterganges erblicken, was
denn doch auf einen ganz anderen Vorstellungskreis hinweist. Ebenso
kennt der Abt Arngrímur von pingeyrar im Prologe zu seiner Be-
arbeitung der GuSmundar biskups saga4) zwar sehr gut sowohl die Eismassen
Und die Ferner, als die feuerspeienden Berge Islands, seine heissen Quellen und
seine Schwefelgruben; aber von einer heissen oder kalten Pein auf der
Insel weiss er nichts zu berichten, obwohl er ein sehr wund ergläubiger
1) Danmarks Folkesagn, S. 174.
2) Dartske Sagn, som de har lydt i Folkemunde, II, S. 481—85.
3) Bei G. Storm, Monumenta histórica Norvegiae, S. 93- 96.
4) Biskupa sögur, II, S. 5—6.
266
Maurer:
Mann ist und gegen die Mitte des 14. Jahrh. schreibt, also ziemlich um
dieselbe Zeit, auf welche sich der oben erwähnte Annaleneintrag bezieht.
Ebensowenig findet sich etwas hierher Bezügliches in den zahlreichen
Wundergeschichten, welche in den Bischofssagen mitgeteilt werden, so
fleissig diese auch von den Ausbrüchen der Hekla und dem schweren
Schaden berichten, welche diese dem Lande thaten; vielmehr weist selbst
die Rannveigarleiäsla in der älteren Gudmundar biskups saga, cap. 281),
an welche man zunächst denken könnte, keineswegs auf eine im Lande
bestehende Pein hin. Es wird hier von einer Vision erzählt, welche die
Zuhälterin eines Priesters, Rannveig, um das Jahr 1198 gehabt haben
wollte. Sie wurde nach ihrer eigenen Aussage von Teufeln an einen von
Lava und rauhem Gestein bedeckten Ort geführt und gelangte schliesslich
zu einem grossen Pfuhl oder Kessel, welcher mit siedendem Pech gefüllt
und rings von Feuer umgeben war; in ihm sah sie viele Leute, lebende
und verstorbene, darunter zumal fast alle Herren weltlichen Standes,
welche damals das Land regierten. Die Teufel wollten sie um ihrer
Sünden willen selbst in den Pfuhl hineinwerfen, und wirklich wurde sie
von dem aufwallenden Pech schon bespritzt und verbrannt; da rief sie die
Jungfrau Maria und den Apostel Petrus, dazu den heiligen Olaf, Magnus und
Hallvard an, und wirklich kommen ihr die drei letzteren zu Hülfe, sodass
die Teufel sie fahren lassen müssen, nachdem sie ihr noch einen Schlag
mit einer glühenden Peitsche versetzt haben. Dann erscheinen ihr noch
Maria und Petrus und zeigen ihr die Wohnung der Seeligen, wobei sie
ihr als die heiligsten Isländer unter den Verstorbenen die Bischöfe Jon
Ögmundarson und porlák pórhallason, unter den Lebenden aber den
Einsiedler Björn zu pingeyrar und den späteren Bischof Gudmund Arason
nennen. Es ist klar, dass für diese Yision lediglich die Duggalsleidsla als
Yorbild gedient hat, die nach ihrer gereimten Yorrede K. Hákon aus dem
Lateinischen hatte ins Nordische übersetzen lassen, wobei nur K. Hakon
hinn gamli gemeint sein kann2). Ist der betreifende Teil der Gudmundar
saga wirklich, wie Gudbrandur Yigfiisson annimmt8), in den Jahren 1312
bis 1320 geschrieben, so kann diese Ubersetzung freilich nicht von deren
Yerfasser benutzt worden sein, wohl aber der lateinische Text, der doch
jedenfalls in klerikalen Kreisen schon längst verbreitet gewesen sein wird,
ehe der König daran dachte, ihn übersetzen zu lassen. Jedenfalls aber hat
diese Yision mit dem Glauben an das Bestehen einer Hölle auf Island
und insbesondere in der Hekla nicht das Mindeste zu thun; mit keinem
Worte ist angedeutet, dass die Örtlichkeiten, nach denen Rannveig entrückt
1) Biskupa sögur, I, S. 451—54; vgl. auch cap. 40, S. 471; Arngríms Bearbeitung,
cap. 4, ebenda, II, S. 8—11.
2) Heilagra manna sögur, I, S. 329; vgl. das Vorwort Ungers, S. XII.
3) Biskupa sögur, I, S. LXI.
Die Hölle auf Island.
267
wird, gerade liier sich befunden haben, und die Züge, mit welchen ihre
Vision ausgestattet wird, weisen durchaus nur auf klerikale Quellen hin,
nicht auf volkstümliche, wie diese denn auch sichtlich nur darauf berechnet
ist, der hierarchischen Strömung Yor s chub zu thuu, welche damals innerhalb
des isländischen Klerus sich sehr mächtig bemerkbar machte.x) Dass in
der späteren Zeit isländische Schriftsteller wie Arngrímur Jónsson und
pórSur porláksson den Erzählungen auswärtiger Männer über die
angeblich auf der Insel bestehende Hölle mit aller Entschiedenheit ent-
gegentraten, und das Bestehen eines entsprechenden Volksglaubens in ihrer
Heimat mit aller Bestimmtheit bestritten, ist bereits erwähnt und nicht
minder auch bemerkt worden, dass es trotz aller aufgewandten Mühe weder
Jon Arnason noch mir gelungen ist, die geringste Spur eines solchen auf
der Insel zu entdecken. Allerdings stehen dem die Angaben mehrfacher
auswärtiger Schriftsteller gegenüber, welche sich, wie dies bereits der
Mönch Alberich gethan hatte, ausdrücklich auf das Zeugnis yon Isländern,
oder doch, wie Ortelius, Peucer, Gories Peerse, Dithmar Blefken u. s. w.
auf den allgemeinen Glauben im Lande berufen, und überdies kommen
auch noch die beiden Angaben über die Ausbrüche der Hekla in den
Jahren 1341 und 1510 in Betracht. Indessen möchte ich doch den Be-
rufungen Fremder auf isländischen Volksglauben keinen erheblichen Wert
beilegen, da bei ihnen eine Verwechslung dieses isländischen Volksglaubens
mit dem Aberglauben, welcher im Auslande in Bezug auf die Insel ver-
breitet war, sich gar leicht ergeben konnte. Ausländern, welchen die
feuerspeienden Berge Islands etwas neues und unerhörtes waren, mochte
es in der That weit näher liegen, diese mit ihren Vorstellungen von der
Hölle in Verbindung zu bringen, als den Isländern selbst, welche mit
solchen Erscheinungen von Jugend auf vertraut waren, und zumal in
gelehrten und kirchlichen Kreisen konnten derartige Vorstellungen sich
um so leichter einbürgern, als ihnen ein ähnlicher Glaube in Bezug auf
den Ätna längst geläufig war, in welchen ja ausser K. Theodorich auch
Kaiser Friedrich II. gestürzt worden sein sollte. Gerade kirchlichen Kreisen
entstammt aber auch das Zeugnis, auf welches sich Alberich beruft, der
Eintrag der Annalen von Flatey und die Angabe Jon Egilssons.
Zu einem ganz anderen Ergebnisse müsste man freilich gelangen,
wenn man, wie dies schon Thomas Bartholin gethan hat2), den Glauben
an eine Hölle in der Hekla mit dem zur heidnischen Zeit auf Island weit
verbreiteten Glauben an das Versterben der Angehörigen bestimmter
Familien in bestimmte Hügel oder Berge in Verbindung bringen zu sollen
nieinte. Bartholin beruft sich dieserhalb auf die Landnáma, welche be-
richtet, dass die Angehörigen des pórólfr Mostrarskegg glaubten, allesamt
1) Ygl. meine Schrift: Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Unter-
gange des Freistaats, S. 111—112.
2) Ang. O., S. 854—56 u. 360-61.
268
Maurer: Die Hölle auf Island.
nach ihrem Tod in den Berg Helgafell, d. Ii. Heiligenberg zu gelangen,
und ausserdem erzählt, dass die ins Heidentum zurückverfallenen Nach-
kommen der christlichen Einwandrerinn Audr djiipaudga glaubten, in
Hügel zu versterben, an welchen diese ihr Gebet verrichtet und Kreuze
aufgestellt hatte, und welche darum Krosshólar, d. h. Kreuzhügel genannt
wurden.1) Er meint, man habe des ähnlichen Klanges wegen die Namen
Helgafell und Heklufjall verwechselt und nun unter Heranziehung der christ-
lichen Vorstellung vom Höllenfeuer aus der heidnischen Totenwohnung
eine christliche Hölle gemacht. Ich halte indessen diese Auffassung für
eine gänzlich unzulässige. Richtig ist allerdings, dass der Glaube an das
Versterben in einen Berg auf Island im Heidentum weit verbreitet war.
Über den Berg Helgafell zunächst bringt die Eyrbyggja nicht nur ganz
denselben Bericht wie die Landnáma, sondern sie erzählt überdies noch,
wie porsteinn porskabitr, der Sohn jenes pórólfr Mostrarskegg, auf dem
Fischfang verunglückte, und wie ein Schafhirt desselben gleichzeitig den
Berg sich aufthun sah; grosse Feuer sah er darin brennen und hörte
gewaltigen Lärm und Hörnerschall, wobei er zugleich zu vernehmen glaubte,
wie porsteinn porskabitr samt seinen Genossen begrüsst und eingeladen
wurde, im Hochsitze seinem Vater gegenüber Platz zu nehmen.2) Weiterhin
erzählt die Landnáma noch, dass Selpórir und seine ganze Verwandtschaft
während der heidnischen Zeit glaubten, in die porisbjörg zu versterben8),
und dass Kráku-Hreidarr in den Berg Maslifell zu versterben wählte.4)
Aus der Njála endlich erfahren wir, wie der zauberkundige Svanr in einem
schweren Sturme mit seinem Fischerboote untergeht, und wie man gleich-
zeitig auf dem Hofe Kaldbakr zu sehen glaubte, dass er in den Berg
Kaldbakshorn eingehe und dort freundlich begrüsst werde.5) Aber keiner
dieser Berge gehört zu den Feuerspeiern; das Eingehen in sie hat in alle
Weise nicht den Charakter einer Strafe, vielmehr setzt sich in ihnen das
Leben dieser Welt im Kreise der verstorbenen Angehörigen einfach fort,
wie denn auch jedes Geschlecht seinen eigenen Berg in der Nähe seines
eigenen Wohnortes für die Zeit nach dem Tode sich angewiesen glaubt;
wenn endlich eine Einladung dem Eingehen in den Berg vorhergeht, wie
etwa in dem Traume des Flosi pórdarson6), so ist es ein Bergriese, welcher
die dem Tode Verfallenen zu sich in den Berg abruft. Einen Anknüpfungs-
punkt an den Glauben, welcher später, sei es nun die Hölle oder das
Fegefeuer, in die Hekla versetzen will, kann ich demnach in jenen alt-
heidnischen Vorstellungen nicht finden, und da jene ersteren überdies
1) Landnáma, II, cap. 12 und cap. 16.
2) Eyrbyggja, cap. 4 und 11.
3) Landnáma, Ii, cap. 5.
4) Ebenda, III, cap. 7.
5) Njála, cap. 14.
fi) Ebenda, cap. 133.
Ivanoff: Die Sitten der Türken in Bulgarien.
269
nur ganz vereinzelt in isländischen Berichten auftreten, während zugleich
ein ganz ähnlicher Aberglaube sich schon in weit früherer Zeit an aus-
wärtige feuerspeiende Berge, wie zumal den Ätna, knüpft, glaube ich jeden
Zusammenhang der Heklasagen mit jenem altheidnischen Bergglauben
bestreiten zu müssen. Einer weiteren Untersuchung dürfte dagegen der
Glaube an eine auf Island bestehende kalte Pein bedürfen; mir scheint
das für sie zu Gebote stehende Material indessen zu dürftig, als dass ich
mich an sie wagen möchte.
München.
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
Aus dem Volke selbst gesammelt von S. Ivanoif.
(Fortsetzung von S. 209.)
c) Die Hochzeit.
Die Hochzeit bei den reichen Türken dauert eine Woche. Sie fängt
am Freitag an und dauert bis zum nächsten Freitag. Sie wird wieder,
die Männer von den Frauen getrennt, gefeiert. Die Frauen versammeln
sich im Hause der Braut.
Während der Feierwoche veranstaltet der Bräutigamsvater ein Ringer-
und Rennfest zum Vergnügen der Männer.
Am Mittwoch geht die Braut baden. Sie ladet dazu einige Freundinnen
und ältere Frauen ein. Jetzt werden ihr die Haare vom Geschlechtsgliede
abgenommen, so dass kein einziges Haar bleibt. Die Enthaarung wird
durch Calciumsulphat bewirkt. Damit werden die mit warmem Wasser
befeuchteten Haare eingeschmiert und nach kurzer Zeit fallen sie aus.
Dann färben sich die Begleiterinnen und die Braut selbst die Hand- und
Fussnägel mit roter Farbe, Kana genannt. Von nun an muss die Braut
dafür sorgen, dass ihre Scham ohne Haare bleibt und muss die Nägel
immer rot gefärbt halten.
Der Bräutigam nimmt mit den eingeladenen Freunden am Mittwoch
auch ein warmes Bad.1) An diesem Tage rasiert er sich die Haare vom
1) Die Bäder im Orient sind nicht in Kammern, wie in Westeuropa, geteilt. Sie
haben nur ein grosses Badezimmer mit vielen Röhren mit warmem und kaltem Wasser.
Vor je zwei Röhren steht ein steinerner Kessel zu warmem und einer zu kaltem Wasser,
woraus man sich das Badewasser zurecht macht. Von hier nimmt man Wasser zum
Begiesscn des Körpers. Wannen existiren im Orient nicht. Um die Scham zu verhüllen,
270
Ivanoff:
Geschlechtsgliede ab. Den Türken gilt als sündig, den Geschlechtsakt zu
vollziehen, wenn die Schamhaare nicht abgenommen sind.
Am Donnerstag wird die Braut von ihrem Vaterhause zum Bräutigam
geführt. Sie ist sehr festlich gekleidet und nimmt den sichtbarsten Platz
ein. Jeder Besucherin küsst sie die Hand, ob sie jung oder alt, reich
oder arm ist. Auch den kleinen Kindern von einigen Wochen muss sie
die Hand küssen. Zu dieser Feierlichkeit steht die Braut auch still oder
sitzt am Tische zu essen. Ihr Anzug besteht aus weiten Hosen und einem
kurzen Rock, der bis zum Kreuze reicht. Der Rock ist mit verschiedenen
Stickereien geschmückt. Aber komisch ist, dass sie auch das Gesicht der
Braut bunt schmücken. Es wird mit kleinen runden Schuppen beklebt;
sie haben goldenen oder silbernen Metallglanz. Mit ihnen werden "Wangen
uud Stirn beklebt.
Wenn der Bräutigam von einem anderen Dorfe ist, dann holen seine
Mutter, Verwandte und Bekannte mit Wagen die Braut ab. Bei dieser
Gelegenheit kommen auch die Frauen und die Männer mit; aber die
Frauen fahren in gut gedeckten Wagen. Die Wagen werden von den
Männern in der Reihe geführt, so dass sie einen ziemlich grossen Zug
bilden. Der Bräutigam kommt jetzt noch nicht mit. Der Zug wird von
einigen Klarinettenspielern, Tamburern und Reitern begleitet. Die Musi-
kanten gehen gewöhnlich vor dem Zuge. Die Reiter tragen Waffen und
schiessen unterwegs. Einige von ihnen nehmen etwas vom Kopfe eines
anderen Reiters, der ihnen nachsetzt, um das Zeug zurück zu bekommen.
Andere, um ihre Kräfte und Reitfertigkeit zu messen, suchen sich vom
Rosse zu stossen, und derjenige, der vom Pferde fällt, gilt als besiegt. Von
weitem macht der Zug ein schönes Bild. Die Musikanten spielen, hin
und wieder ertönt ein Schuss, die Reiter verfolgen sich oder Wettrennen.
Wenn man sich dem Dorfe genähert hat, wo die Braut wohnt, lassen
auf ein gegebenes Zeichen einige Reiter mit schnellen Pferden diese
rennen, um zu verkünden, dass die Wagen kommen. Derjenige, der
zuerst anlangt, erhält ein Hemd zum Geschenk.
In einigen Bezirken schenkt man ihm ein Kopfkissen, das mit einem
neuen Anzug, einem Hemd und einem Handtuch gefüllt ist. Manchmal
legt man Geld in die Taschen des Anzugs, oder bindet Geld in das
Taschentuch.
Vor dem Hause der Braut sind die Männer versammelt, um die Gäste
zu begrüssen und die Verwandten und Bekannten zum Essen einzuladen.
Alle Wagen fahren zu den Häusern der Bekannten, nur ein Wagen zieht
ins Haus der Braut, in dem die Mutter des Bräutigams sitzt. Vor der
Pforte des Brauthauses spielen eine Weile die Musikanten.
trägt man ein langes Badetuch, welches um das Kreuz herum befestigt wird. Zum Aus-
und Ankleiden giebt es andere Zimmer. Für Hochzeiten werden die Frauen- und Männer-
bäder gemietet.
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
271
Sie werden nachher von den jungen Leuten angenommen, um ihnen
zu spielen, und diese lassen sie nicht zu der Hochzeit, bis man ihnen nicht
Lösegeld für sie giebt.
Nach dem Essen zieht der Zug mit der Braut zurück. Yor der Pforte
der Braut, kurz vor dem Abgang, spielen die Musikanten. Beim Abschied
vom väterlichen Hause weint die Braut. Dem Kutscher, der den Wagen
führt, in welchem die Braut ist, schenkt man ein Hemd, und jedes von
den Tieren, welches den Wagen zieht, bekommt ein Tuch. Nach dem
Wagen mit der Braut folgt der Wagen mit den Kleidungsstücken, auf dem
nur ein kleiner Knabe sitzt. Dass der Knabe in diesem Wagen allein sitzt,
soll andeuten, dass die Tiere die Ausstattung kaum ziehen können. Die Braut
sitzt in dem Wagen mit einigen Mädchen oder jungen Frauen zusammen.
Yon ihren Yerwandten darf jemand männlicher- oder weiblicherseits mit-
fahren. Man hat sich früher den Spass gemacht, dem männlichen Ver-
wandten der Braut, der sie bis zum Dorf des Bräutigams begleitet, einen
Eselssattel auf den Rücken zu setzen, d. h. man hat ihn zum Esel
gemacht.
Wie bei dem Abmarsch vom Brautdorfe, ebenso gehen bei dem Eintritt
in das Bräutigamsdorf die Musikanten vor den Wagen. Unterwegs wird,
wie beim Hingehen, geschossen und gerannt. Die Braut, am Hause des
Bräutigams angelangt, wird von den Schwestern des Bräutigams vom
Wagen heruntergehoben, unter den Arm gefasst und so ins Zimmer geführt.
Im Augenblicke, wenn sie den Boden betritt, wirft man im Hofe Zucker
mit Gerste gemischt aus. Die Gerste soll Fruchtbarkeit bedeuten. Die
Braut geht sehr langsam nach dem Zimmer, sie tritt Schritt für Schritt.
Yor der Thür begiesst. man ihr die Füsse mit Wasser und bestreicht die-
selben mit Honig. Dann giebt man ihr in die linke Hand einen Teller
mit Honig. Damit bestreicht sie beim Eintritt ins Zimmer mit der rechten
Hand die Oberschwelle des Zimmers. Der Honig soll Friede und Liebe
bedeuten.
An diesem (Donnerstag) Abende versammelt der Vater einige vor-
nehmere Türken und die Yerwandten mit dem Priester, dem sogenannten
Hatig.1) Der Bräutigam muss diesen Abend jedem älteren Türken die
Hand küssen, der beim Abendessen ist und dem Trauungsakt beiwohnt.
Nach dem Essen kniet der Bräutigam zur Trauung nieder. Der Hatig
spricht das Trauunggebet, welches nicht lang ist. Die Braut ist nicht
dabei, sondern sie bleibt in ihrem Zimmer. Nach der Trauung begleiten
1) Die Hatige sollen vom Mahomeclsgescklcchte abstammen. Ihr Priesterrecht erbt
von Yater auf Sohn. Sollten sie vom Mahomedgeschlechte nicht abstammen, dann wird
ihnen das Recht, Hatig zu sein, durch Sultansordre verliehen. Die Hatige haben keinen
anderen Priesterdienst, als zu trauen. Sollten sie nicht lesen können, dann bevollmächtigen
sie einen Hodja. Der Hodja darf keine Trauung vornehmen, wenn er nicht vom Hatig
bevollmächtigt ist.
272
Ivanoff:
den Bräutigam drei ältere Türken bis zur Thür des Zimmers, worin die
Braut ist. Bevor die Alten den Bräutigam zu der Braut einlassen, ver-
langen sie von dieser dafür ein Geschenk. Die gewöhnliche Redensart ist:
„Wir haben dir deinen Mann hergebracht, wenn du uns etwas schenkst,
werden wir ihn zu dir herein lassen." Die Braut giebt ihnen etwas von
ihrem Nischan. Das Geschenk, welches nur in Geld besteht, gehört aber
nicht den Alten, sondern dem Bräutigam. Bei der Scheidung kann er das
an diesem Abend von ihr versprochene Geld für sich behalten.
Beim Eintritt ins Zimmer beeilt sich die Braut, dem Bräutigam die
Hand zu küssen, dabei sucht sie ihm auf den Fuss zu treten. Der Volks-
glaube sagt, dass derjenige von den Beiden, der an diesem Abend zuerst
auf den Fuss des Anderen tritt, die Herrschaft im Hause haben werde.
Nachher setzt sich der Bräutigam auf die rechte, die Frau auf die linke
Matratze nieder.1) Einige Zeit unterhält er sie, bis man ihnen mitteilt,
dass das Essen für sie fertig sei. Die Frau bringt die Waschschüssel und
die Kanne, bedient ihn beim Waschen und reicht ihm das Handtuch, um
die Hände abzutrocknen. Dann bringt sie den Esstisch.2) An diesem
Abend essen die neu Verheirateten allein. Am Tische sitzt die Braut an der
linken Seite des Bräutigams. Sie nimmt sich die Speise von der Schüssel,
aber der Bräutigam giebt ihr die Bissen in den Mund. Sie isst an diesem
Abend nur so viele Bissen, als ihr der Bräutigam giebt. Nach dem Essen
bedient ihn die Braut wieder beim Händewaschen und Abtrocknen.
Wenn der Hodja die Mohammedaner zum fünften, letzten Gebet, zwei
Stunden nach dem Sonnenuntergang gerufen hat, beten die junge Frau
und der junge Mann im Zimmer zusammen.
Nach dem Beten darf das junge Paar das Brautbett besteigen. Eine
alte Frau, eine Nachbarin, hat dasselbe zurecht gemacht und führt die
Braut an der Hand dem Bräutigam zu. Der Bräutigam inuss jene wie eine
Mutter ehren.
Am andern Morgen wird das Betttuch nachgesehen. Sollte es Blut-
flecken haben, dann sind die Verwandten sicher, dass die Braut Jungfrau
gewesen ist, sollte es aber nicht sein, dann forscht man, wer daran schuldig
sei, dass das Mädchen nicht Jungfrau war. Hat sie mit einem anderen
Manne vorher gesündigt, so hat der Bräutigam das Recht, sie sogleich
ihren Eltern zurückzuschicken. Er ist dann nicht verpflichtet, ihr den
Nischan, den Nikiaf und die Mitgift herauszugeben.
An dem ersten Morgen steckt der jung verheiratete Mann ein Taschen-
tuch in den Gurt ein; derjenige, der ihn begegnet, hat das Recht, es zu
nehmen. An diesem (Freitags-) Morgen ist die Hochzeit zu Ende.
1) Die türkischen Hänser haben keine Betten. Die vornehmeren Türken haben um
die Wände herum zusammenhängende Bänke, die kaum 3/4 m breit Und 20—30 cm hoch
sind. Reich und Arm schläft auf dem Fussboden, der mit Matratzen bedeckt ist.
2) Der türkische Esstisch ist rnnd und niedrig, 15—20 cm hoch. Er wird nur zum
Essen ins Zimmer gebracht. Die Leute sitzen auf dem Fussboden um ihn herum.
Dio Sitten der Türken in Bulgarien.
273
3. Das türkische Ringen und Rennen.
Die Türken haben die Gewohnheit, an grossen Festen, z. B. bei Hoch-
zeiten, bei dem Beschneidungsfest u. s. w. Ringkämpfe und Rennen zu
veranstalten. Der Festgeber schickt Boten einige Tage vor dem Feste
nach den verschiedenen Dörfern und Städten, um die Ringer, die Besitzer
von Rennpferden, die Musikanten und Gäste einzuladen. Die vornehmeren
Türken kommen nicht uneingeladen.
Die Feste werden meistens im Frühjahr oder Herbst gefeiert, da es
zu dieser Zeit weniger Arbeit giebt. Einen Tag vor dem Feste spielen
die Musikanten im Odaja des Festgebers. An diesem Tage machen die
Ringer Yoriibungen, um ihre Kräfte zu messen, damit am anderen
Tage gleichkräftige Ringer auf dem Schauplatze sich gegenüber stellen
können.
Das Fest beginnt schon mit Sonnenaufgang. Die Musikanten spielen
dann zuerst vor dem Odaja des Festgebers. Jeder von den eingeladenen
Gästen inuss demselben ein Geschenk mitbringen; gewöhnlich sind es
Hämmel, Lämmer, oder ein Stück Leinwand, je nach dem Reichtum des
Gastes. Dem Hammel wird die Stirn mit roter Farbe gefärbt, die Horner
werden mit Goldschauni (Goldblätter) beklebt, und auf jedes Horn wird
ein Apfel gespiesst, der auch mit Goldschauni verziert wird. Die Leinwand
ist an eine hohe Stange gebunden, die hoch getragen wird. Die Musikanten
empfangen mit Spiel jeden mit einem Geschenk kommenden Gast und
begleiten ihn nach dem Odaja, wo den Gästen Kaffee gereicht wird. Sie
bekommen von jedem Gaste ein Trinkgeld, das nicht in die Hand gegeben,
sondern auf das Trommelfell geworfen wird. Das Dorf hat an diesem
Tage ein festliches Aussehen. Jung und Alt zieht seine neuen Kleider
an. Die Strassen werden voll Menschen, da jeder die Arbeit verlässt, um
die Ringer und das Rennen zu sehen, und man Gäste von 50—60 km
entfernten Dörfern und auch 70 —80 jährige Greise sehen kann.
Am Morgen erblickt man die Hügel voll herankommender Menschen,
welche die Tücher hoch als Fahnen schwingen und singend ins Dorf ein-
ziehen. Andere kommen nicht ins Dorf hinein, besonders diejenigen, die
keine Geschenke mitbringen. Sie bleiben auf einem Hügel, bis das Rennen
und Ringen anfängt. Dort machen sie ein grosses Feuer und sitzen um
dasselbe herum und unterhalten sich.
Diejenigen, die Verwandte im Dorfe haben, gehen zu ihnen. Sie
bekommen Frühstück und werden dann vom Hausherrn nach dem Schau-
platze geführt.
Das Gespräch an diesem Tage geht hauptsächlich über die Rennpferde
und Ringer. Jeder frägt, welche Ringer und Rennpferde da seien. Die
Väter der Ringer gehen durch das Dorf, stolz, dass sie so starke Söhne
274
Ivanoff:
erzogen haben. Die Ringer werden bei uns von den Türken sehr geachtet.
Es ist jedem jungen Türken ein Ideal, Ringer zu werden.
Nicht nur seine Familie ist auf ihn stolz, sogar sein ganzes Dorf.
Der Name des grössten Ringers ist fast im ganzen Orient bekannt. Jeder
preist seine Kräfte und Ringkünste. Es wird in der türkischen Gesellschaft
kaum ein Tag vergehen, dass man von ihm nicht spräche. Wenn man
einen türkischen Knaben liebkost, sagt man zu ihm „Pechliwan" (Ringer).
Das Hauptspiel der türkischen Knaben ist das Ringen. Die Angehörigen
des Ringers lassen ihn gar nichts arbeiten, damit er nicht an Kräften
abnehme und Zeit für Übung im Ringen habe. Die Yäter sind so sehr
um ihre Ringersöhne besorgt, dass sie ihre Ochsen verkaufen, um den
Söhnen Ringhosen zu kaufen. Sehr oft schlachten sie ein Kalb, um ihn
satt essen zu lassen. Ein Bauer von meinem Dorfe schlachtete das einzige
Kalb für seinen Ringersohn. Yom Fleische ass nur dieser allein, sonst
keiner im Hause. Auch das schöne Geschlecht schwärmt sehr für die
Ringer. Die Frau ist stolz, die einen Ringer geheiratet hat. Es kommt
sehr oft vor, dass ein armer Mann von niedriger Herkunft, wenn er ein
berühmter Ringer geworden, ein reiches vornehmes Mädchen heiratet.
Der Ringer heisst auf türkisch Pechliwan. Den grossen Ringern bleibt
dieser Name bis zum Tode. Jeder redet ihn mit diesem Titel an. Dieser
Titel ist im Auge eines ungebildeten Türken grösser als Excellenz. Sollte
man ihn ohne Pechliwan anreden, dann beleidigt man ihn. Der Titel
wird hinter den Namen gesetzt, z. B. Ali-Pechliwan.
Wenn die Zeit zum Anfangen des Schauspieles kommt, sammeln sich
die grösseren Ringer, der Festgeber und einige vornehmere Gäste, und
mit den Musikanten an der Spitze, die unterwegs laut spielen, gehen sie
aus dem Dorfe auf das freie Feld hinaus, wo der Ringplatz ist.
Zuerst wird das Rennen begonnen. Das türkische Rennen ist nicht
so, wie das westeuropäische. Sie haben entweder Reitbahnen oder künst-
liche Hindernisse. Die Rennpferde werden in einige Klassen geteilt, je
nach der Rennfähigkeit. Die beste Klasse rennt auf eine Entfernung von
2—3 Stunden, die anderen Rennpferde stufenweise auf kleinere Ent-
fernungen. Die Pferde rennen ganz nackt, ohne Sättel oder Decken und
nur mit einer einfachen türkischen Trense gezäunt. Auf das Pferd wird
ein 12—15 jähriger leichter Knabe gesetzt, der gut reiten kann. Seine
Oberschenkel sind mit Riemen auf das Pferd festgeschnallt, so dass der
Knabe nicht von ihm fallen kann. Die Pferde werden am Morgen früh
langsam auf den Platz geführt, von wo aus sie zu rennen anfangen sollen.
Dort steht ein alter Türke, um zu kontrolieren, dass die Pferde zu gleicher
Zeit zu rennen anfangen. Die Knaben lassen die Pferde auf ein gegebenes
„Los" rennen. Diesen Befehl zum Anfange des Rennens hat der Alte zu
geben. Er sorgt, dass alle Pferde auf einer geraden Linie stehen und
alle zu gleicher Zeit zu rennen beginnen. Die Pferde sind auf das Rennen
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
275
sehr hitzig.1) Sie rennen los, sobald man nur die Zügel frei lässt. Die
Knaben haben Peitschen, aber keine Sporen.
Die Pferde rennen auf einem Feldwege. Sollten auf dem Wege
Hindernisse vorkommen, als kleine Bäche u. s. w., so müssen sie dieselben
im Laufe überspringen. Selbstverständlich kommt es vor, dass das Pferd
stürzt und sich die Beine bricht, oder auf der Stelle tot bleibt. Es ist
vorgekommen, dass auch die Kinder, die sie reiten, tot geblieben sind.
Das Pferd, welches zuerst atigekommen ist, erhält als Preis eine Büffelkuh,
ein Rind, oder einen Hammel. Die anderen Rennpferde, je nach der
Folge, bekommen: Hammel, Lämmer, oder ein Stück Leinwand. Als
Hauptsieger gilt das Pferd, welches auch nur um einige Centimeter am
Ziele voran ist. Die Schiedsrichter sind der Festgeber und einige alte
Türken, die früher Rennpferde besessen haben. Die Pferde kommen so
ermattet an, dass sie kaum noch laufen können. Ihr ganzer Körper ist
mit Schweiss bedeckt. Sofort, wenn sie ankommen, zieht man ihnen die
Ohren, dass sie sich abschütteln; dann legt man sogleich die Decke auf sie
und setzt die Knaben wieder auf, um sie herumzureiten. Das Pferd wird
nach dem Rennen 30—45 Minuten Trab und dann etwa 1 Stunde Schritt
herumgeritten, auf dass seine Beine nicht krank werden. Sehr oft kommt
es vor, dass das Pferd von sehr schnellem Rennen stirbt.
Die Rennpferdebesitzer, besonders die, deren Pferde die Wette ge-
wonnen haben, sind stolz und besuchen sie oft, damit man sehe, dass sie
gute Rennpferde besitzen. Um den Besitzer des Pferdes zu ärgern, der
die Prätension gehabt hat, dass sein Pferd der Hauptsieger werde, aber
der nicht siegte, führt man den Hammel durch das Dorf herum, welchen
er für das Rennen als Preis bekommen hat, Die Musikanten gehen vor
ihm laut spielend her. Man fragt, wem der Hammel gehöre. Die Antwort
darauf ist: „Der Hammel gehört dem X, dessen Pferd Hauptsieger ge-
wesen ist", aber jeder weiss, dass das Spass ist.
Jetzt will ich das Dressieren der Rennpferde bei uns kurz beschreiben.
Das Trainieren ist bei uns nicht ganz so wie in Westeuropa. Das Pferd
rennt täglich, und dabei schnallt man ihm den Bauch immer fester und
fester, entzieht ihm eine Portion vom Futter allmählich mehr und mehr,
so dass man einen Tag vor dem Rennen ihm sehr wenig zu fressen giebt,
und am Morgen, an welchem es rennen soll, giebt man ihm garnichts zu
fressen oder zu trinken. Die Rennbahn wird allmählich vergrössert, so
dass das Pferd die letzten Tage einen sehr grossen Raum zurücklegt.
Nach dem Rennen beginnt das Ringen. Der Platz, wo gerungen
wird, ist vorher sorgfältig gekehrt. Man wählt ihn auf einem ebenen
Orte, wo keine Bäume oder Sträucher stehen. Die Zuschauer sitzen auf
1) Überhaupt sind die bulgarischen Pferde alle hitziger als die westeuropäischen,
liei uns gebrauchen die Reiter sehr selten die Reitpeitsche oder die Sporen.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 19
276
Ivanoff:
der Erde und bilden einen Kreis um den Platz herum. Die zuletzt
kommenden Gäste bleiben stehen, um besser sehen zu können. An der
Spitze sitzt der Festgeber. Sollte in der Nähe ein schattiger Baum sein,
dann nimmt er den Platz in dem Schatten ein. Man erkennt ihn an den
neuen Kleidern, ausserdem sitzt er nicht wie die Anderen auf der nackten
Erde, sondern auf einem Teppich. Um ihn herum sitzen die vornehmeren
Gäste. Am Schauplatze müssen auch die Musikanten sein, die während
des Ringens spielen. Auch einige Krüge mit Wasser sind vorrätig. Alle
Zuschauer erwarten mit grösster Neugierde das Beginnen des Ringens, und
manche fangen Lärm an, wenn der Anfang sich verzögert. Den Türkinnen
ist es verboten, das Ringen anzusehen.
Endlich, auf den Befehl des Festgebers, fängt das Ringen an. Aber
was sehen wir zuerst? Nur 4—5 jährige Knaben ringen auf dem Schau-
platze. Die Türken machen Spass mit den kleinen Simsons. Es kommt
vor, dass der Eine zornig wird, dass er seinem Gegner eine Ohrfeige
giebt, oder ihn auf türkische Manier ausschimpft. Den Alten macht das
Zürnen und Schimpfen der Kinder Spass. Selbstverständlich kommt es
vor, dass die Kinder vor Zorn oder Weh weinen, aber die Alten lassen
sie nicht weinen und sagen ihnen, dass Weinen einem Ringer nicht
gebühre.
Die Yäter, deren Söhne Sieger gewesen sind, sind nicht wenig darauf
stolz. Sie erzählen die Heldenthat ihrer Kleinen ihren Frauen, und einige
Wochen hindurch spricht er vom Siege seines kleinen Sohnes. Er ist'
stolz, dass der Sohn Aussicht hat, ein grosser Ringer zu werden.
Nach den Kindern ringen die unbedeutendsten Ringer, nach ihnen die
mittleren, und das geht so stufenweise, bis zuletzt die Reihe an die grössten
Ringer kommt. Die mittlere und grössere Stufe wird in zwei Teile
geteilt: die erste in eine kleinere und eine grössere Hälfte, die zweite in
die grossen und die grössten Ringer. Die Ringer ölen sich den Tag
vorher den Oberkörper bis zum Kreuze und die Beine vom Unterschenkel
an. Sie thun es, weil das Ol die Knochen weich macht und sie dadurch
nicht so grossen Schmerz nach dem Ringen empfinden. Es ist bei uns
Sitte, dass die Ringer nicht in Blousen1), sondern nur mit einer ledernen
Hose, Kaspet genannt, ringen. Der Körper vom Kreuze an und die Beine
bleiben beim Ringen nackt. Der Kaspet ist ganz aus Leder gefertigt und
sehr fest genäht. Der Ringer bindet ihn am Kreuze und den Beinen fest
an, so dass sein Gegner die Hand nicht dazwischen durchstecken kann.
Auf einem Ringerfeste bin ich gewesen, wo die grössten Ringer
Bulgariens rangen. Die beiden Ringer waren an Kräften und Geschicklich-
keit ziemlich gleich. Der grösste Ringer Bulgariens gewann dadurch, dass
er seinen Gegner auf die Erde mit dem Gesicht nach unten warf, die
1) In Deutschland und Prankreich habe ich Athleten gesehen, die mit Blousen und
Strümpfen rangen.
Die Sitten der Türken in Bulgarien.
277
Jinke Hand in seinem Kaspet durchsteckte und mit der rechten Hand ihn
am Halse anpackte und ihm den Kopf nach unten drückte.
So konnte sich der Gegner nicht bewegen, aber er konnte in dieser
Stellung doch stundenlang verharren. Sein Gegner schlug ihm vor, sich
für besiegt zu erklären, aber er wollte es nicht. Dann zwang er ihn
dadurch, dass er ihm mit der Hand den Kaspet am Kreuze so hoch hinauf
zog, dass er seinen Bauch sehr drückte. Das machte ihm grossen Schmerz,
und er konnte nicht gut athmen. Yom Schmerz und dem Ersticken ward
er röter und röter, und als er merkte, dass er ersticken würde, hat er sich
endlich als besiegt erklärt.
Die Ringer sind sehr grosse und starke Leute. Sie erinnern uns an
die Gladiatoren. Auch sterben sie manchmal auf dem Schauplatze. Der
Unterschied ist, dass sie nicht um Geldes wegen, sondern Ruhmes wegen
kämpfen.
Dass das Ringen von den Türken sehr geliebt wird, kann man auch
am türkischen Hofe sehen. Der Sultan hält bei sich Pechliwane, die er
jeden Freitag oder an grossen Festtagen vor sich ringen lässt. Seine
Ringer tragen sehr schone Uniform. Ebenso halten die andern vornehmen
Türken in Häusern Ringer, die sie ringen lassen, wenn sie dazu Lust
haben.
Die Bedingungen beim Ringen sind folgende: Derjenige ist besiegt,
der auf den Rücken fällt. Man darf dem Gegner nicht an die Geschlechts-
teile greifen und nicht ihn ohrfeigen. Wenn der Gegner sich selbst als
besiegt erklärt, dann muss er sofort frei gelassen werden.
Auf dem Platze ringen drei bis vier Paar auf einmal.
Das Ringen fängt so an: Der eine Ringer zeigt sich auf dem Schauplatze
und spaziert umher bis sein Gegner sich ausgekleidet hat. Wenn derselbe
dann erscheint, gehen sie eine Weile herum, ohne sich anzugreifen. Dann
legen sie einige Male eine Hand auf die Schulter des andern und lassen
die andere hangen. Darauf fassen sie mit dieser den Gegner, lassen aber
bald wieder los. Yor jedem Angriff gehen sie einige Schritte herum oder
zurück, dann, nach einigem Klatschen mit den Händen, greifen sie sich
wieder. Ebenso nach dem Nachlassen klatschen sie mit den Händen.
Einmal ernstlich angefasst, ringen sie, bis einer Sieger wird; aber es
wird nicht, wie in Deutschland, die Ringezeit bestimmt. Die bulgarischen
Ringer ringen so lange, bis der Eine besiegt ist. Das Ringen in Bulgarien
macht einem gebildeten Zuschauer kein Yergnügen, sondern Abscheu. Die
Ringer sind fast alle von niederer Herkunft.
Trotzdem das Schlagen verboten ist, ohrfeigen sich die erzürnten
Ringer doch so, dass kaum einige Hundert Stimmen sie zum Nachlassen
zwingen können. Manchmal fallen sie auf die Erde so, dass sie auf der
Stelle tot bleiben, oder sich etwas verrenken. Auf einem Fest habe ich
gesehen, dass ein Ringer ohnmächtig von seinem Gegner gemacht wurde.
19*
278
Ivan off: Die Sitten der Türken in Bulgarien.
Der Gegner warf ihn nämlich auf die Erde mit dem Gesicht nach unten.
Er bemühte sich, ihn auf den Rücken zu wenden, aber konnte es nicht;
dann schlug er ihm vor, sich als besiegt zu erklären; der wollte aber nicht.
Nach einigen Griffen gab ihm dann der Gegner einen so kräftigen Hieb auf
den Hals, dass er bewusstlos wurde und man ihn vom Platze wegtragen
musste.
Sehr oft zerschlagen sie sich die Nase, oder zerkratzen sich den
Körper. Wenn sie in der Hitze ringen, werden sie mit Wasser begossen,
und man bringt ihnen von Zeit zu Zeit Wasser zum Trinken. Manche
unterbrechen auf einige Minuteri das Ringen, um sich das Gesicht zu
waschen und sich zu erkühlen; aber nachher nehmen sie dieselbe Stellung
ein, die sie vorher gehabt haben. Einige von ihnen wälzen sich einige
Stunden auf der Erde; aber sie geben dem Gegner nicht evalla.1) Erst
wenn sie ganz matt werden, sagen sie evalla.
Und wissen Sie, wie viel man ihnen für diese Quälerei giebt? Nur
2—3 m Leinwand und etwa 2—3 Mark. Nach dem Ende des Ringens
heben sich die Ringer in die Höhe, indem der Eine den Anderen oben
am Bein fasst und ihn einige Zoll von der Erde hebt; nachher macht
der Andere dasselbe mit ihm. Dann gehen sie zum Festgeber, der dem
besiegten Ringer 2—3 m Tuch schenkt und den Beiden einige Pfennige
Trinkgeld giebt. Dann gehen sie herum, von den Zuschauern ein Trink-
geld zu erbitten» Die Zuschauer geben dem Ringer gewöhlich 2 Pfennige;
aber nicht jedes Mal, nur dann und wann. Die meisten Zuschauer geben
garnichts. Der Sieger wird nachher wieder mit einem Anderen ringen.
Er bekommt nach jedesmaligem Ringen Trinkgeld und ringt so oft, bis
man ihn besiegt hat, oder bis kein Ringer von seinem Range mehr da ist.
Zum letzten Male bekommt auch er vom Festgeber ein Stück Leinwand
oder einen Hammel.
Ich will noch einiges erwähnen.
Wenn die grössten Ringer auf dem Platze erscheinen, stellen sie sich
in der Mitte desselben in einer Reihe auf. Hier knieen sie alle mit dem
Gesicht gegen den Festgeber auf ein Knie nieder und senken den Kopf.
Ein alter Türke tritt hinter sie und legt die eine Hand auf den grössten
Ringer, die andere auf seinen Nachbar und spricht ein rythmisches aber
reimloses Gedicht, in dem er die Ringerkunst preist: die Ringer seien
von Gott gesegnet, da auch Simson ein Ringer war. Zuletzt sagt er, unter
den Anwesenden sei der grösste Ringer und nennt den Namen. Wer von
den Zuschauern wolle, solle mit ihm ringen, es sei keine Schande, von
ihm besiegt zu werden. Wenn das Gedicht zu Ende ist, stösst der Alte
die Ringer vorwärts. Sie stehen auf, klatschen dreimal in die Hände und
1) Evalla heisst in diesem Sinne pardon. Wer das Wort sagt, gilt als besiegt und
wird sofort frei gelassen.
llwof: Haus- und. Hofmarken.
279
gehen auf den Festgeber zu. Nach drei Schritten knieen sie nieder und
begrüssen den Festgeber, indem sie die Hand auf das Herz, dann auf den
Mund und zuletzt auf die Stirn legen. Das wiederholt sich dreimal.
Darauf treten sie zu ihm, und er giebt ihnen ein Trinkgeld. Dann fangen
sie zu ringen an und zwar zuerst jeder Meister mit den Lehrlingen des
andern Meisters. Dann ringen die Meister mit einander und der hier
unbesiegt bleibt, ringt mit dem grössten Ringer. Das geschieht aber selten
ernstlich, da man glaubt, dass er sehr schwer zu besiegen ist. So erklärt
sich der Andere nach einiger Zeit als besiegt und küsst dem grössten
Ringer die Hand. Dann schliesst der Kampf.
Der erste Ringer von Bulgarien behauptet oft 12—15 Jahre seinen
Rang. Wird er besiegt, so ringt er nie mehr in seinem Leben.
Nach dem Ende des Ringens gehen die Meisterringer nackt bis auf die
Lederhose in das Gastzimmer des Festgebers, die Musik voran, das Volk
hinter ihnen. Sie erhalten hier Essen; vorher assen sie an diesem Tage
nichts.
Am Abend spielt die Musik, und Tänzer tanzen, um das Yolk zu
belustigen.
Die Ringer, die ein Stück Leinwand bekommen haben, binden es an
ihren Gfurt. So weiss jeder, der es sieht, dass jene gerungen haben.
Die Fremden, die zu dem Feste gekommen waren, werden abends
in die Häuser des Dorfes verteilt, wo sie Herberge und Kost umsonst
bekommen, da es im Orient Sitte ist, von keinem Gaste dafür etwas zu
nehmen, aber ihm das Beste vorzulegen, was man hat, damit er zufrieden
bleibe.
Hasan-Tersie bei Razgrad in Bulgarien.
Haus- und Hofmarken.
Von Franz llwof.
(Hierzu Tafel II.)
Haus- und Hofmarken sind die an einem Grundstücke oder Hause
und zugleich an den dazu gehörigen. Sachen haftenden Zeichen ; ihre
rechtliche Bedeutung liegt darin, dass sie als trotz allem Wechsel der
Besitzer stets an das bewegliche Eigentum gebundene, gleich bleibende
Zeichen auch das Chirographum, das Handzeichen des jeweiligen Besitzers
des betreffenden Grundstückes sind. Auf diesen eigentümlichen Gebrauch
280
Ilwof:
machten zuerst Homeyer1) und Michelsen3) aufmerksam; infolge Auf-
forderungen von Seite des ersteren8) erschienen ziemlich zahlreiche Ver-
öffentlichungen von Hausmarken aus den meisten deutschen Ländern, vor-
nämlich in Yereinsschriften. Das meiste, was von Homeyer und anderen
auf diesem Gebiete bis 1870 erforscht, gesammelt und publiziert worden
war, verarbeitete er sodann in dem umfassenden, grundlegenden und zum
guten Teile auch erschöpfenden Werke: „Die Haus- und Hofmarken von
Dr. C. G. Homeyer, Berlin 1870". In diesem werden die Vorstufen der
Hausmarken, ihr Erscheinen nach örtlicher Ordnung, in der Volkssitte, in
der Rechtsordnung und ihr Zurücksinken eingehend dargestellt. Im zweiten
Buche (die Hausmarken nach örtlicher Ordnung) weist er ihr Vorkommen
in Island, Skandinavien, Dänemark, Grossbritanien und Irland, Belgien und
den Niederlanden, in fast allen Gebieten des deutschen Reiches, in Steier-
mark, Tirol, der Schweiz, in Italien, Frankreich und Attika nach.
Nachträge hierzu lieferte der Verfasser dieses Aufsatzes in der Ab-
handlung „Über Haus- und Hofmarken, insbesondere in den österreichischen
Alpenländern"4), gab weitere Belege über Vorkommen dieser merkwürdigen
Zeichen in Lappland, in den Herzogtümern Bremen und Verden, auf der
Insel Fehmarn, in Schleswig, Holstein und Lauenburg, in Lübeck, in
Mecklenburg, in Pommern, in Liv-, Esth- und Kurland, in Böhmen,
Schlesien, Baden, im Elsass, in Württemberg, Bayern, in der Schweiz, in
Italien und auf Korsika und brachte neu sechsundzwanzig Stück Haus-
marken aus Kärnten, Nieder-Osterreicli und Steiermark bei.
Seither wurde in der Erforschung dieser Spezialität eifrig weiter
gearbeitet; in der Anmerkung zitiere ich, was mir darüber besonders
bemerkenswertes aufgestossen ist.5)
1) Uber die Heimat nach altdeutschem Recht, insbesondere über das Hantgemal.
(Abhandl. d. K. Akademie, Berlin 1852, S. 17 ff., besonders S. 85—96.)
2) Die Hausmarke. Eine germanistische Abhandlung. Jena 1853.
3) Im Korrespondenzblatt der deutschen Geschichts- uud Altertumsvereine, 1853,
No. 6; in Wolfs Zeitschricht für deutsche Mythologie und Sittenkunde. Göttingen, 1853,
I, 185—189, auch als fliegendes Blatt gedruckt und vielfach versendet; sodann in einem
zweiten fliegenden Blatt: Die Haus- und Hofmarken. Berlin, den 21. Dezember 1857.
4) In den „Mitteilungen der K. K. Centrai-Kommission für Erforschung und Erhaltung
der Kunst- und historischen Baudenkmale", Wien 1874, XIX, S. 119—123.
5) Friedländer, Westfälische Hausmarken und verwandte Zeichen. (Zeitschrift für
die vaterländische Geschichte und Altertumskunde Westfalens. Münster 1872, 3. Folge,
10. Bd., S. 238—262 u. eine Tafel mit 600 Hausmarken).
Friedländer, Ostfriesische Hausmarken mit 16 Tafeln Hausmarken. (Jahrbuch der
Gesellschaft für bildende Künste und vaterländische Altertümer zu Emden, 1873, II. Heft;
1874, III. Heft.
Klemm, Württembergische Baumeister bis ums Jahr 1600, ihre Werke und Zeichen.
(In den Schriften des württembergischen Altertumsvereins, 1875, II. Bd., 2. Heft, S. 5—34.)
Liebenau, Vererbung von Hausmarken. (Anzeiger für Schweizerische Altertums-
kunde, 1878, 11. Jahrgang, No. 4.)
Jaennicke, Marken und Monogramme auf Fayence, Porzellan, Steingut und sonstigen
keramischen Erzeugnissen. Stuttgart 1878.
Haus- und Hofmarkeii.
281
Und nun mögen das Verzeichnis und auf beiliegender Tafel die
Kopien von Hausmarken folgen, welche im Laufe der jüngstverflossenen
Jahre yon mir gesammelt und die meines Wissens noch nicht veröffentlicht
wurden.
1. Auf dem Grabstein des Ignaz Anton Maldoner (gestorben 1810),
Ratsbürgers und Kaufmanns zu Breitenwang bei Reutte im nördlichen Tirol.
2. An dem Hause No. 88 ebenda.
3. Am Schlüsse einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, enthaltend
die Legende der Erbauung der St. Leonhardskirche bei Tamsweg im salz-
burgischen Lungau, daselbst befindlich.
4. An dem Hause No. 5 auf dem Marktplatze zu Ghnunden in Ober-
Österreich.
5. Auf dem Grabstein des Anton Platzer, Bürgers und Handelsmannes
zu Cilli, in Steiermark, gestorben 1641, an der westlichen Aussenseite der
Pfarrkirche dortselbst.
6. Auf dem Grabstein des Wolf Pauernfeindt, Bürgers und Handels-
mannes zu Cilli, auf der östlichen Aussenseite der Pfarrkirche dortselbst.
7. Auf einem Grabsteine yon 1516, Name unleserlich, auf der nörd-
lichen Aussenseite der Pfarrkirche zu Cilli.
8. Auf dem Weihwasserkessel der Pfarrkirche zu Wildon, südlich von
Graz in Steiermark.
9. Auf dem Grabsteine des Pfarrers Jakob Gerold in der Gruft der
Kirche der Kapuziner zu Knittelfeld in der oberen Steiermark.
10. An dem Hause No. 55 auf dem Hauptplatze zu Stainz in der
westlichen Steiermark.
11. Auf dem Grabsteine des Georg Willenrainer, gestorben 1586, an
der Südseite der Kirche zu Wurmberg an 4er Drau in der südlichen
Steiermark.
12. In der Domkirche zu Marburg an der Drau in Steiermark, links
von der Kanzel.
13.' An dem nunmehr niedergerissenen Pirch an sehen Hause zu Marburg
an der Drau.
14. Auf einem sonst unkenntlichen Grabsteine an der südlichen
Aussenseite der Domkirche zu Marburg an der Drau.
15. An dem Hause No. 84. auf dem Platze zu Friesach in Kärnten;
darüber: Larentz Twenger f 1466.
16. An dem Hause No. 94 zu Feistritz in der Wochein in Kram.
Schultz, Alwin, Zur Geschichte der Hausmarken. (Anzeiger für Kunde der deutschen
Vorzeit, 1879, Sp. 204.)
Klemm, Die Steinmetzzeichen des Münsters zu Ulmv im Verein mit Max Bach,
Maler, gesammelt. (Münster-Blätter, herausgegeben von Pressel. Ulm 1880, II. Heft,
S. 33—60.)
282
Sartori :
17. Auf dem Wappen der polnischen Grafen Karnicki, auf dem Hause
der Baronin Buol-Bernburg, geb. Gräfin Karnicka, in der Leechgasse
zu Graz.
18. Auf dem Thurme der Kirche des Dorfes Stiwoll in der westlichen
Steiermark. Der Mittelstrich mit dem Halbkreise ist vielleicht nur die
Yerbindung der Buchstaben L und J, kann aber auch mit den beiden
senkrechten Strichen rechts und links eine Hausmarke sein.
Hierzu möchte ich nur noch folgendes bemerken: Es ist gewiss be-
achtenswert, dass Hausmarken, diese doch wesentlich deutsche Sitte, hiermit
auch mitten in slavischen Gebieten, No. 11 in Wurmberg, No. 16 in der
Wochein in Krain nachgewiesen sind; dass sie mehrfach in Cilli (No. 5, 6, 7)
und Marburg (No. 12, 13, 14) erscheinen, beweist eben nur, dass diese
Städte das, was sie heute noch sind, deutsche Enklaven im slovenischen
Lande, damals schon waren, wie auch die Namen dieser Markenträger
deutschen Klanges sind. Zu No. 17 sei erwähnt, dass Horn e y er (a. a. O.
S. 403—404) zahlreiche Hausmarken auf Wappen des polnischen Adels
verzeichnet.
Wie alt die Sitte der Markenbezeichnung ist und in wie fernen Ländern
sie vorkommt, wird dadurch bewiesen, dass bereits auf den Steinbildwerken
im alten Egypten das Herdenvieh auf der Haut das eingebrannte Zeichen
des Eigentümers trägt1) und wie tief sie im Sinne des Yolkes eingedrungen,
bezeugt das Wort der Wildschützen in Yorarlberg, die, um ihr bedenkliches
Treiben zu rechtfertigen, sagen: „Die Gemse hat keine Marke am Ohr",
d. h. sie ist niemands Eigentum.
Graz in Steiermark.
Der Schuh im Volksglauben.
Von Paul Sartori.
(Fortsetzung von S. 180.)
C. Der Scliuli als Symbol der Wolke.
Eine pfälzische Sage (vgl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte, II, S. 93)
erzählt: „Jemand war unterwegs, da kam die Windsbraut daher. Er ward
zornig und rief: „Komm nur wieder, du Hexe", und warf sein Messer
hinein. Da nahm ihn der Wind mit und führte ihn 200 Stunden weit.
Hier harrte seiner im Wirtshause ein Mann mit einem Auge; der zeigte
1) Peschel, Völkerkunde, 2. Aufl., S. 523.
Der Schuh im Volksglauben.
283
ihm sein Messer und sagte: „Schau, das zweite Auge hast du mir aus-
gestochen!" Er warnte ihn für die Zukunft und liess eine Windsbraut
kommen, die ihn wieder heimführte."
Ahnliches wird besonders von den Yenedigern erzählt (Laistner,
Nebelsagen, S. 193), wobei an die Stelle der Windsbraut oft die eilende
Wolke tritt. In anderen Sagen, namentlich in der Gruppe, die Müller
(Niedersächs. Sagen, S. 389 ff.) unter dem Titel „Die Fahrt nach dem
Osten" behandelt hat, sind es Tiere, ein Löwe, ein Ross, oder leblose
Gegenstände, die den Helden durch die Luft mit zauberhafter Geschwindig-
keit an einen weit entfernten Ort entführen. In einer Tiroler Erzählung
ein weisses Tuch, „das sich wie eine weiche Wolke ausbreitet"
(Laistner a. a. 0.). Hadding wird in Odins Mantel auf dessen Ross über
Wind und Wolken in seine Heimat gebracht: Simrock, D. M., S. 198,
Richard I. in der normannischen Sage auf einem vielfarbigen Tuch (ebda.,
S. 199), andere auf einer Lederdecke, einer Ochsenhaut: Laistner a. a. 0.,
S. 251. Wrolf, Beitr. I, S. 3 ff.
Es kann kein Zweifel sein, dass wir in allen diesen Gegenständen
Symbole der im Sturm dahinjagenden Wolke zu erblicken haben. Ygl.
ausser den angeführten Stellen noch Laistner, S. 302 f. Schwartz, Urspr.
d. Myth. S. 6 u. a. Mannhardt, German. Myth. S. 37 f. Anni. 6. Rochholz,
Aargaus. II, S. 181 f., 216 f.
Besonders häufig ist es der Schuh, der Götter, dämonische Wesen
und auch Menschen mit übernatürlicher Geschwindigkeit über Länder und
Meere daliinführt. Auch in ihm also erkennen wir ein Symbol der Wolke.1)
Hermes trägt ihn in der Ilias 24, 340ff.; vgl. Od. 5, 44ff. Roscher, Hermes,
der Windgott, S. 19 f. Auch Athene, ursprünglich eine Repräsentantin der
W'etterwolke (Roscher, Mytli. Lex., S. 675 if.), wird Od. 1, 96 ff, yon ihren
Sandalen mit zauberhafter Schnelligkeit nach Ithaka getragen. In den
hohen Stiefeln des Boreas und der Boreaden (Roscher a. a. O., S. 778; vgl.
S. 803) haben wir vielleicht ebenfalls ursprüngliche Wolkensymbole zu
sehen. Perseus erhält Hadeskappe, Schuhe und Tasche (lauter Wolken-
1) In germanischer Mythe mögen auch etymologische Anlehnungen stattgefunden
haben: Laistner, Nebelsagen, S. 290ff. Wie auch noch modernen Dichtern das Bild
geläufig ist, zeigt z. B. Gerok in seinem Gedicht „Zwei Berge Schwabens", wo es von den
über die schwäbische Alp wallenden Geistern der Staufenkaiser heisst:
„Die Nebelmäntel schleiften Langhin am Bergessaum,
Die Wolkenschuhe streiften Der Wälder Wipfel kaum."
Dagegen werden wir in dem spanischen Wiegenliedchen bei Caballero (Ausgew. Werke XVI,
S. 116):
„An der Himmelspforte Schuh' zum Kaufe stehn
Für die kleinen Engel, Welche barfuss gehn,"
hi den Schuhen die scheinbar still stehenden, zarten Lämmerwölkchen erkennen dürfen.
Vgl. Rochholz, Alemann. Kinderlied etc, S. 812:
„Im Himmel all Engeli Hänt Überstrümpf a,
Und ich und uns Schätzeli Wends au ne so ha."
284
Sartori:
symbole) yon den Nymphen, den Geistern des „schwebenden, bergenden
und umhüllenden Gewölkes" : Preller, Griecli. Myth. II, S. 46.
Auch germanische Gottheiten tragen den Schuh als Wolkensymbol.
Wenn Loki schon durch die Benennung Loptr als Luftwesen gekennzeichnet
wird, so geschieht dies noch mehr durch seine Schuhe, mit denen er durch
Luft und Wasser schreiten kann: Weinhold in Haupts Ztschr. f. d. A. "VII,
S. 20. Ullr heisst von seinen Schneeschuhen Önduräs: Simrock, D. M.,
S. 320 f. E. H. Meyer, Germ. Mythol., S. 258. Er ging mit ihnen sogar
auf dem Wasser: Bachlechner in Haupts Ztschr. VIII, S. 206. Vgl. Laistner,
Nebelsagen, S. 275. IJllrs weibliches Gegenbild, Skadhi, führt den Bei-
namen Ondurdis: Simrock a. a. 0. Vgl. Laistner a. a. 0., S. 286 ff., nach
welchem in ihr die Schneewolken und die Wolken Schnees, die über die
Firnfelder dahinstürmen, dargestellt sind. Der Schuh Vidhars dagegen,
den er dem Fenriswolf in den Hachen setzt, muss hier beiseite bleiben.
Man könnte freilich daran denken auch ihn als Wolkensymbol aufzufassen,
das den Nebel- oder Sturmwolf bezwingt (vgl. unten den in die Wolke
geworfenen Schuh, welcher die darin einherfahrende Hexe unschädlich
macht), doch hat E. H. Meyer, Völuspa, S. 201 ff. nachgewiesen, dass der
ganze Bericht von Vidharr zurückzuführen ist auf christliche Ideen,
namentlich auf den rächenden Tritt Christi, welcher selbst mit einem
besonderen Schuh gedacht wurde.
Betrachten wir nun die verschiedenen Sagengruppen.
I. Die Siebenmeilenstiefel.
Der mit Zaubergeschwindigkeit dahintragende Schuh kommt in den
Märchen verschiedener Völker vor, und es ist nicht schwer, in ihm ein
Symbol der Wolke zu erkennen. Schon in der Märchensammlung des
Somadeva aus Kaschmir (übers, v. Brockhaus, S. 19 f. ; vgl. Rochholz,
Deutscher Glaube etc. I, S. 25) fliegt der König Putraka in solchen Pan-
toffeln zu den Wolken einpor. In dem hessischen Märchen „Der liebste
Roland" (Grimm, K. H. M. No. 56) benutzt die alte Hexe, welche den
entflohenen Kindern nachsetzt, wie der Menschenfresser im Däumlings-
märchen, Meilenstiefel. In einer Variante (Grimm, III, S. 99) sind es
Schlittschuhe1). Dagegen verwandeln sich in dem parallelen sicilischen
Märchen „Von der schönen Nzentola" (Gonzenbach, I, No. 14, S. 89) der
verfolgende Menschenfresser und seine Frau in eine rot und weisse Wolke.
In einem waldeckschen Märchen machen die Zauberschuhe mit jedem
Schritte zwei und drei Meilen: Firmenich, German. Völkerstimmen, I,
S. 330 f. Andere Beispiele : Rochholz, Aargausagen, II, S. XLIV. Grimm,
D. M.* III, S. 156. In einem finnischen Märchen (Jahrbuch f. roman, u.
1) Diese Schlittschuhe deuten darauf hin, dass der Weg des Verfolgers übers Eis
geht. Das Eis ist aber ein mythisches Bild für Luft und Wolken.
Der Schuh im Volksglauben.
285
engl. Literatur, YII, S. 6 f.) erhält ein durch seinen Bruder geblendeter
Kaufmannssohn auf einer Insel von einem Unbekannten Schneeschuhe, die
jeden dahin tragen, wohin er wünscht. Im isländischen Märchen zieht
sich das Mädchen die Haut ihrer Fusssohlen ab und verfertigt davon
Schuhe, mit welchen sie über Land und See fahren kann: Am Ur-Quell,
III, S. 91. Panzer, Beitr., I, S. 191 ff. erzählt folgendes Märchen: Einem
Kaufmannssohn misslingt in einem alten Schlosse die Erlösung von drei
schwarzen Jungfrauen, und zur Strafe verwünschen ihn diese auf einen
Felsen mitten im Meer. Hier war ein Bär, der ein Tischtuch-deck-dich,
ein unsichtbar machendes Hütchen und ein Paar Stiefel, mit denen man
300 Meilen in einem Schritt zurücklegen konnte, besass. Der Bär hatte
auch eine goldene Kugel, mit der er spielte. Diese berührte der Kauf-
mannssohn, worauf sie den Berg hinab ins Wasser rollte. Der Bär sprang
nach, und diese Gelegenheit benutzte der Kaufmannssohn, jene drei Dinge
zu rauben. Mit ihnen erlöst er die drei Jungfrauen. *) Ebda., II, S. 120
wird aus Hirschau in der Oberpfalz erzählt: Ein Prinz, der bei einer Hexe
auf dem Glasberge wohnt, liebt eine verwünschte Jungfrau. Die Hexe
giebt ihm nach der Reihe Schuhe, die mit jedem Schritte 1/v 1/2 und
1 Stunde zurücklegen. Mit dem letzten holt er die Jungfrau ein und
nimmt sie mit sich auf den Glasberg.2) In seinem Anfange ähnlich ist
das von Panzer, II, S. 122 f. citierte Märchen, in welchem ein Förster seine
auf den Glasberg entflohene Frau, eine Wasserjungfer, sucht. Ein Hexen-
meister giebt ihm zwei riesige Zauberstiefel, die ihn schnell zum Ziele
führen. Kaum hat er sie ausgezogen und vor sich hingestellt, so hat er
sie auch zum letzen Male gesehen. In dem dänischen Märchen „Wolf
Königssohn" (Grundtvig, übers, von Leo, I, S. 264) lässt sich ein Mädchen,
das über den Glasberg will, ein Paar Eisenschuhe3) machen, auf den Rat
eines alten Mannes, der ihr dazu noch einen Krug mit Salbe giebt, die sie
braucht, um ihre Füsse wieder zu heilen, wenn sie über den Berg ge-
1) Jeder der beiden Teile dieses Märchens scheint die mythische Darstellung' eines
6ewitter v or gan ge s zu enthalten, a) Die Erlösung der drei schwarzen Frauen; vgl. darüber
Mannhardt, Germ. Myth., S. 647 ff., 651 ff. b) Die Gewinnung der Wunschdinge. Über
den Bären als Gewitterdämon s. Gubernatis, Die Tiere in der indogerm. Myth., S. 423.
Löwe zu Kreutzwalds Esthn. Märchen, S. 123. Der nackte Fels im Meere ist der Ge-
witterberg im Wolkenmeere (Mannhardt, Germ. M., S. 182 f.). Die goldene Kugel ist der
den Wolkenberg hinunterschiessende Blitz: Vgl. Wolf, Beitr., I, S. 100. Schwartz, Urspr.
d. Myth., S. 136, 239; dagegen Mannhardt, W. F. K., II, S. 99, 157. Die Wunschdinge sind
alle drei Symbole der Wolke. Zu dem Hut vgl. Rochholz, Aargausagen, I, S. 123ff.,
Naturmythen, S. 205ff.; zu dem Tuch Laistner, Nebelsagen, S. 110f., 193. Wenn es die
Kraft hat, alle Speisen hervorzubringen, so gründet sich dies auf die befruchtende Kraft
der Wetterwolke. Ygl. Mannhardt, German. Myth., S. 399. Laistner, Nebelsagen, S. 233 f.
2) Zu dem Glasberg-Himmel vgl. Grimm, D. M.4, II, S. 685, III, S. 243. Müller,
Myth. d. deutschen Heldensage, S. 108. Mannhardt, Germ. M., Register.
3) Über das Verhältnis des Eisens zu Glanz, Nebel, Sturm, Wolken s. Laistner,
Nebelsagen, S. 282, 287. Ztschr. f. dtsche Myth., II, S. 317. Schwartz, Urspr. d. Myth.,
S. 235 f.
286
Sartori :
kommen ist. Salbung der Füsse kommt auch in einem Schweizer Märchen
bei Henne-Am Rliyn, Die deutsche Yolkssage, S. 471 ff. vor. Eine Hexe
giebt ihrem Sohn, der zum gläsernen Berge will, eine Kugel, womit er
seine Fusssohle salben soll, um in einem Schritt meilenweit zu gelangen.
Er salbt aber aus Yorsicht nur seine Schuhsohle. In einem albanischen
Märchen (vgl. Archiv f. Literaturgesch. XII, S. 122) hat einer der „sieben
Brüder mit den Wundergaben" die Eigenschaft, dass er einen Schuh bis
ans Ende der Welt wirft. Ygl. auch noch die „gefrorenen" Schuhe der
Schweizer: Rochholz, Naturmythen, S. 52. Ztschr. f. d. Myth. IY, S. 202.
Sogar in den Sagen der Indianer finden wir die Meilenstiefel wieder.
Bei Knortz, Märchen u. Sagen d. nordamerik. Indianer, S. 48 erhält eine
Frau, die ihr geraubtes Kind sucht, von alten Weibern flüchtige Mokassins,
mit denen sie dreimal so schnell laufen kann. An ihrem nächsten Ziel
angekommen, findet sie neue Mokassins, die noch flüchtiger sind. Ihre
alten stellt sie mit den Zehen rückwärts vor die Thür, und sogleich treten
sie ihren Heimweg allein an Ebda. S. 93 benutzt ein Magier schnell-
laufende Mokassins. S. 210 lässt einer seine „medizinernen" Mokassins
allein bis ans Ende der Welt laufen, um durch die Spuren einen Feind
zu täuschen. S. 274 zieht ein Mädchen, das auf Reisen ist, jeden Abend
ihre Fussbekleidung ab und lässt sie zu ihrer Grossmutter zurückgehen,
damit sie derselben ihre Erlebnisse erzählen.
Ein häufiger Märchenzug ist es, dass sich zwei oder drei Personen
um einige, meist ererbte Wunschdinge streiten. Ein Dritter kommt
hinzu und bemächtigt sich durch List dieser Gegenstände. Ygl. Grimm,
K. H. M., III, 405. Wackernagel in Haupts Ztschr. f. d. A., II, S. 543 ff.
Simrock, D. M., S. 202 f. Köhler zu Kreutzwalds Esthnischen Märchen,
S. 359 f. und im Jahrb. f. roman, u. engl. Literatur, YII, S. 147 f. Gubernatis,
Die Tiere etc., S. 95 f. Bereits bei dem schon erwähnten Somadeva (übers,
v. Brockhaus, S. 19 f.) trifft der König Putraka zwei Brüder, die sich um
ihr Erbe, Schale, Stab und Pantoffeln streiten. Wer die letzteren anlegt,
vermag zu fliegen, was mit dem Stabe gezeichnet wird, entsteht sofort,
und was an Speisen in die Schale hineingewünscht wird, ist alsbald darin.
Im Tuti-Nameh (übers, von Rosen, II, 28) bestehen die Wunschdinge aus
den Sandalen, einem Beutel, aus dem man beliebig Geld nehmen kann,
einem Napf, der alle Speisen und Getränke liefert, die man begehrt, und
einem Schwert, welches die Eigentümlichkeit hat, dass, wenn man es nach
Sonnenaufgang in einer Einöde auszieht, sich sofort daselbst eine grosse
Stadt mit allerlei Bazaren und Kaufläden bildet, dass aber, sobald man es
sich um die Hüften schnallt, das Ganze wieder verschwindet. Die Streitenden
sind zwei Brüder. Im elften esthnischen Märchen bei Kreutzwald (übers,
v. Löwe, S. 141 ff.) streiten drei Zwerge um ihr Erbteil, einen aus mensch-
lichen Nägelschnitzeln verfertigten Hut, dessen Träger alles in der Welt
sieht, ein Paar Bastschuhe, die augenblicklich überall hintragen, und einen
Der Schuh im "Volksglauben.
287
Stock, vor dem, wenn man damit durch die Luft schlägt, alles schmelzen
muss, selbst Felsen und böse Geister, denn der Stock ist noch mächtiger
als der Donnerkeil. Zwerge sind auch im Nibelungenliede (Str. 88 ff.) die
streitenden Erben, denen Siegfried Schatz und Schwert abgewinnt, zu
denen in der Folge die Tarnkappe hinzukommt. Im Grimmschen Märchen
No. 92 (Der König vom goldenen Berge) erwirbt der Held von drei Riesen,
die sich ihres Yaters Erbe teilen, ausser den Stiefeln und einem unsichtbar
machenden Mantel noch einen Degen, der bei den Worten „Köpf' alle
'runter, nur meiner nicht" alles köpft. In Grundtvigs dänischem Märchen
„Jungfer Lene von Söndervand" (übers, von Strodtmann, II, S. 37 ff.)
gewinnt Esbeen, der Dumme, nach einander von je zwei um ihr Erbe
streitenden Waldkobolden Hut, Stiefel und Taschenmesser, das töten und
wieder lebendig machen kann. Im lappländischen Märchen (Poestion,
Lappländ. Märchen, S. 234 f.) streiten sich zwei Brüder um Kleid, Tuch-
deck-dich, Schuhe und Stab, mit dessen einem Ende man Menschen er-
schlagen, mit dessen anderem man sie wieder lebendig machen kann. Ygl.
ebda. S. 241, 251 f. Ebenso erhält bei Toppen, Abergl. a. Masuren, S. 141
der Dumme von je zwei Riesen (ebenfalls Erben) Stiefel, unsichtbar
machenden Mantel und einen lebendig machenden Säbel.
In anderen Märchen sind die Wunschdinge nicht ererbt, sondern
gefunden, und die Stiefel sind mitunter durch andere Gegenstände ersetzt:
Grimm, K. H. M., III, S. 172 f. citiert ein tatarisches Märchen, in welchem
der Chansohn eine unsichtbar machende Kappe (von „Kleinen") und ein
Paar überall hintragende Stiefel (von bösen Geistern) erhält, die im Walde
gefunden sind. In einer aus dem Chinesischen übersetzten indischen
Erzählung (s. Liebrecht, Zur Yolkskunde, S. 117) besitzen zwei Piçâtschas
(Dämonen) jeder einen wunderbaren Koffer, Stab und Schuh, doch will
jeder die des andern haben. Ein Yorübergehender, zum Schiedsrichter
angerufen, macht sich mit sämtlichen Gegenständen davon. In einem
venetianischen Märchen „Der arme Fischerknabe" (Jahrb. f. roman, u.
engl. Literatur, YII, S. 143) erhält dieser von drei sich zankenden Männern
im Gebirge Mantel, Geldbeutel and Schuhe. Ähnlich bemächtigt sich im
italienischen Yolksbuch von Liombruno dieser eines unsichtbar machenden
Mantels und eines Paares Stiefeln, in denen man rascher als der Wind
gehen kann, von drei sich darum streitenden Räubern: Ebda. S. 146. Bei
Knoop, Yolkssagen a. d. östl. Hinterpommern, S. 221 f. gewinnt der Held von
zwei Riesen Mantel und Hundertmeilenstiefel. In Grimms Märchen íío. 93
(Die Rabe) sind die drei von Räubern gefundenen Wunschdinge ein Stock,
vor dem jede Thür aufspringt, ein unsichtbar machender Mantel und ein
Ross, auf dem man überallhin, auch auf den gläsernen Berg reiten kann.1)
1) Aus diesem Ross ist bei Panzer, Beitr., II, S. 127 ein Sattel geworden, den ein
Förster zwei darum streitenden Knaben entwendet, und auf dem er den Glasberg erreicht.
288 Sartori:
In einem russischen Märchen endlich (Gubernatis a. a. 0., S. 158, Anm. 6)
nimmt der Jüngstgeborene, Hänschen, streitenden Bauern durch List erst
einen wunderbaren Bogen weg, dann einen Hut, der den Träger unsichtbar
macht, und endlich einen Zaubermantel, der von selbst fliegt. Der Streit
fehlt und durch blosse List entwendet der Jüngling Räubern einen Rock,
der unsichtbar macht, und ein Paar Meilenstiefel bei Krauss, Sagen und
Märchen der Südslaven, I, S. 372. Tiere (Löwe und Fuchs) sind die
Streitenden (um Mantel und Stiefel) in einer paderbornischen Erzählung:
Grimm, K. H. M., III, S. 225, vgl. S. 172.
Auch dieser Märchengruppe liegt, wie es scheint, ein meteorischer
Vorgang zu Grunde. Das Gewitter wird oft mythisch als ein Kampf zweier
feindlichen Wesen aufgefasst. Thôr verfolgt und bekämpft im Gewitter
die Riesen. In der Neumark heisst es, Gott verfolge den Teufel: Kuhn,
Westfäl. Sagen, II, S. 24. Um Altbunzlau sagt man, wenn ein starkes
Gewitter tobt und die Winde gegen einander wehen, die bösen Geister
streiten wider einander: Mannhardt, W. F. K., II, S. 97.*) Auch scheltende,
drohende Worte vernahm man im Donner. „Der Himmelsvaterle balgt"
(d. i. zankt, schilt) hört man in Schwaben (Meier, Schwäb. Sagen, S. 259),
„der Alte schilt" bei den Letten (Schwende, Mythol. d. Slaven, S. 55).
Die Streitenden sind meist Riesen oder Zwerge, deren Gewitter- und
Wolkennatur später noch weiter hervortreten wird.
Was die einzelnen Wunschdinge anlangt, so erkennen wir auch in
ihnen • unschwer ursprüngliche Wolken- und Gewittersymbole. Der un-
sichtbar machende Hut oder Mantel bezeichnet das allverhüllende, wie die
Zauberschuhe das schnell dahinjagende Gewölk. Die Speisen schaffende
Schale, den unerschöpflichen Beutel dürfen wir wohl mit dem schon er-
wähnten Tischlein-deck-dich zusammenstellen und auch in diesen beiden
ein Symbol der befruchtenden, Segen und Reichtum spendenden Wolke
erblicken.2) Der Degen, der alles köpft, der Stock, vor dem alles schmilzt
oder doch jede Thür aufspringt, das Messer, das jeden tötet, sie alle weisen
deutlich auf den Blitz.3) Auch der wunderbare Bogen des russischen Märchens
findet hier seine Stelle. Vgl. Meyer, Indog. Myth., I, S. 155 f., 204 f.
Wenn sich in einem Märchen aus dem Havelland (Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen, S. 350)
ein Mädchen, um auf den Glasberg zu kommen, an Händen und Knieen in einer Schmiede
beschlagen lässt, so sehen wir darin ebenfalls einen Rest des Wolkenrosses, das sie
ursprünglich hinauftrug.
1) So auch bei aussereuropäischen Völkern. Bei nordamerikanischen Indianern
bekämpft der Donner Riesen und Ungeheuer: Müller, Amerikan. Urrelig., S. 56 f. Die
Araukaner sehen im Gewitter die Schlachten von Geistern: Ebda. S. 288. In einigen
Gegenden Perus herrscht der Glaube, dass das Unwetter durch einen Kampf zwischen
Santiago und dem Satan verursacht wird: Globus, 41, S. 92.
2) Über die Wolke als Schale, Krug, Unie s. Schwartz, Urspr. d. M., S. 186f., als
Schlauch oder Sack: Ebda. S. 232 f.
3) Der Blitz als Schwert: Schwartz a. a. 0., S. 103, 269, 282 f.; als Stab oder Stockj:
Mannhardt, Germ. Myth., S. 35, Anm. 4, S. 62, 201 ff, Wenn es bei Somadeva von dem
Der Schuh im Volksglauben. 289
Am deutlichsten tritt die ursprüngliche Bedeutung des besprochenen
Märchenzuges wohl in der esthnischen Erzählung zu Tage. Die Streitenden
sind Zwerge. Die Wunschdinge dürfen nicht getrennt werden, weil sie eben
zusammen den Gewittervorgang versinnbildlichen.1) Der Stock, vor dem
alles schmilzt, ist noch mächtiger als der Donnerkeil (es ist der Donnerkeil
selbst, sagt schon Gubernatis, Die Tiere etc., S. 125). An Stelle der
Zwerge, die durch den Knittel weggefegt werden, sieht man ebenso viele
Wassertropfen; das weist auf den Gewitterregen. Selbst in der sich an-
schliessenden Hochzeit kann man eine weit verbreitete indogermanische
Auffassung insbesondere des eigentümlichen Wetterzustandes, in welchem
Regen und Sonne mit einander wechseln, als einer Hochzeit oder sonst
einer lauten Festlichkeit wiederfinden. Ygl. Meyer, Indog. Myth., I, S. 198.
II. Das wilde Heer.
Uber den wilden Jäger, seine Variationen und seine Beziehung zu
Sturm und Ungewitter, Nebel und Gewölk s. u. a. Rochholz, Naturmythen,
S. 34 ff., 46 iï. Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen, S. 420 ff. Simrock,
D. M., S. 216 ff Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 5 ff. (vgl. Register). Mann-
hardt, W. F. K., I, S. 82 ff. (vgl. Register). Laistner, Nebelsagen, S. 302 f.
E. H. Meyer, German. Myth., S. 236 ff. Uns kommt es hier nur darauf an,
auch in seinem ausgedehnten Sagenkreise den Schuh als W7olkensymbol
nachzuweisen. Mehrere Beispiele bringt Laistner a. a. O., S. 291 f. : „Im
Vintschgau kennt man die wilde Fahrt; an der Spitze des höllischen
Wirrwarrs kehrt ein stumpfer Besen von selbst den Weg und hinter ihm
her trappen zwei leere Schuhe. Ebenso berichtet Alpenburg, es ziehe der
wilden Fahrt voran ein zierlich geputzter Schuh; wenn derselbe ruhig
stand und jemand hineinstieg, der wurde allsogleich unaufhaltsam fort-
gerissen und weithin an Felsen und Berge getragen. Ja, selbst losgelöst
von der wilden Fahrt zeigt sich der Schuh oft am Wege, die Menschen
anlockend und, sobald sie dareintreten, weit entführend."
Auch an dem wilden Jäger selbst werden die Schuhe hervorgehoben.
Wenn er zieht, so kann man ihn weithin hören, so gewaltig klappert er
mit den Schuhen: Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen, No. 99, 4. Ähnlich
Stock heisst, dass alles gleich entsteht, was mit ihm gezeichnet wird, und im Tuti-Nameh,
dass, wo man das Schwert ausziehe, eine grosse Stadt sich bilde, so erkennen wir in
letzterer die Gewitterstadt (vgl. Schwartz a. a. O , S. 263 ff., Laistner, Nebelsagen, S. 283 f.),
deren Umrisse deutlich sichtbar werden, wenn der Blitz durch die Wolkenmassen hindurch-
funkelt. In Betreff des lebendig machenden Säbels ist zu verweisen auf Mannhardt,
Germ. Myth., S. 42, 57 ff., 62.
1) Auch den Nägelschnitzeln, aus denen der Hut verfertigt ist, lässt sich vielleicht
eine meteorologische Bedeutung nachweisen. Wenigstens werden die Nägel mitunter an
Wesen hervorgehoben, deren Wolken- und Nebelnatur sicher ist. Die schatzhütende weisse
Frau auf dem Schlosse zu Thurnberg trägt lange Fingernägel. Auch die Nixen haben
mitunter Krallen, sowie die nordische Skôgsra: Mannhardt, Germ. Myth., S. 626. Yon
Riesen mit eisenbeschlagenen Fingernägeln erzählt Rochholz, Aargausagen, II, S. 223.
290
Sartori:
hört man den Besenreis-Antoii, wenn er ins Haus eindringt, mit seinen
mit Eisennägeln beschlagenen Holzschuhen auf dem Boden knirschen, als
ob es über Felsklippen ginge: Rochholz, Natur my th., S. 50. So bezieht
sich auch wohl der Name Schiorfhacker, den Hackelberg in Polle an der
Weser führt (Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen, No. 265, 5) nicht, wie es
in der Anmerkung z. d. St. heisst, auf das lange, schleppende Gewand,
sondern auf die Schlappschuhe des Gespenstes. Ygl. Rochholz, Aargaus.,
I, S. 377, II, S. XXXVIII.
Der aargauische Schimmelreiter sprengt mit gewaltig grossen, sporen-
klirrenden Stiefeln feuerspeiend daher: Rochholz a. a. 0., II, S. 110 f.,
I, S. 301 f. Auch der Schwarzwälder Bläseli führt den Beinamen Stifeli
(ebda. I, S. 298 f.) und reitet in grossmächtigen Stiefeln einher (I, S. 377).
Im Dresdener AYalde trifft man ebenfalls einen Stiefelreiter: Grimm, Dtsche
Sagen, No. 309. Rochholz a. a. O., I, S. 377. Auch im Kusterdinger
Walde bei Tübingen reitet auf einem hohen Schimmel ein gespenstischer
Mann, der ist immer barfuss an einem Fuss und trägt an dem andern einen
Pantoffel; deshalb wird er der „Eintöffler" genannt: Meier, Dtsche Sagen
a. Schwaben, No. 105.
Nur eine andere Form der wilden Jagd stellen die zahlreichen Sagen
von den Gespensterkutschen dar. Ygl. Kuhn, Westfäl. Sagen, I, S. 183 f.
Rochholz, Aargausagen, I, S. 215 ff. Henne-Am Rhyn, Die dtsche Volks-
sage, S. 389 ff. Wolf, Beitr., II, S. 133 ff., 158. In Warendorf muss der
Brigadier von Corvey an seinem Sterbetage von abends bis morgens mit
feurigen Wagen und Pferden durch die Stadt und über alle seine weit-
läufigen Besitzungen fahren, wobei böse Geister ihn ächzend und stöhnend
umgeben. Sein Degen und seine Stiefel, die noch zu Warendorf verwahrt
werden, fangen alsdann an erschrecklich zu poltern und liegen nicht eher
still, als bis die Fahrt ihres alten Herrn zu Ende ist: Hartmann u. Weddigen,
Der Sagenschatz Westfalens, S. 278 f.
Wieder eine andere Erscheinungsform des wilden Heeres ist der
nächtliche Leichenzug. Ygl. Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen, No. 231.
Henne-Am Rhyn a. a. 0., S. 431 ff. Vernaleken, Mythen etc. in Österreich,
S. 347. Zingerle, Sitten etc. des Tiroler Yolkes, S. 47 f. In dem Leichen-
zug, der sich bei Seon zeigt, ist der Sarg mit einem roten Tuche bedeckt;
vier grosse Männer in roten Strümpfen, schneeweissen Überröcken und
Spitzhüten tragen ihn: Rochholz, Aargausagen, I, No. 100.1)
Nicht selten findet sich der Zug, dass der wilde Jäger im Yorüber-
sausen eine Menschenlende oder ein Bein herabwirft, an dem noch ein
Schuh oder Strumpf sitzt. Zu Zirtow war mal einer, der stimmte, als Fru
1) Über die rote Tracht des wilden Jägers vgl. Rochholz a. a. 0., I, S. 212 f. Über
die rote Farbe von Nebel- und Wolkensymbolen: Laistner, Nebelsagen, S. 231, 295 f.
Einst sah jemand das Mutesheer über das Hexenbäumle bei Obernhaiin hinziehen und sab
darunter viele rote Strümpfe und Weiberfüsse: Meier, Schwab. Sagen, No. 21'.).
Der Schuh im Volksglauben.
291
Gode über sein Haus fortzog, mit ein in das Gejuch, da flog plötzlich zum
Fenster ein Bein herein, an dem sogar noch der Strumpf sass, und eine
Stimme rief: „Heste met jûcht, mütste ôk met frêten!": Kuhn u. Schwartz,
Nordd. Sagen, No. 2, 4. In Camern schreit einmal einer dem wilden Jäger
nach, da wirfts ihm eine Menschenlende herunter auf den Wagen, an
welcher noch ein grüner Schuh sitzt: Ebda. S. 478. Ein Bauer hört in
der Gegend von Prenden den wilden Jäger (General Sparr) und stimmt
übermütig mit in das Hailoh ein. Sogleich fliegt ihm eine Menschenlende
auf den Rücken, an deren Fuss noch ein Schuh mit einer Schnalle sass,
auf welcher der Name dessen, dem sie gehörte, zu lesen war: Kuhn und
Schwartz a. a. O., No. 76. Wir haben in diesem Schuh wohl ein Symbol
des aus der Wolke fahrenden Blitzes zu sehen. Ygl. Schwartz, Urspr. d.
Myth., S. 5; dagegen Mannhardt, German. Myth., S. 478.
Mitunter finden wir Schuhe auch an den Wesen hervorgehoben, welche
vom wilden Jäger verfolgt werden. So erzählt Montanus, Yorzeit d. Länder
Cleve-Mark etc., I, S. 225 nach Caesarius von Heisterbach, wie die Zu-
hälterin eines Geistlichen in der Nacht nach ihrer Beerdigung von einem
Jäger betroffen wird, bloss mit einem Hemd und Schuhen bekleidet, die
man ihr auf ihre Bitte mit ins Grab gegeben hat, verfolgt vom wilden
Jäger, der sie auch einholt. (Ygl. über die Pfaffenkellnerinnen und ihre
Sturmnatur Mannhardt, W. F. K., II, S. 95 f., Laistner, Nebelsagen, S. 272).
Im Riesengebirge wird die hl. Walpurgis von wilden Geistern verfolgt.
Einem Bauern begegnete sie einst im Walde mit feurigen Schuhen, langen,
wallenden Haaren, eine goldene Krone auf dem Haupte und in den Händen
einen dreieckigen Spiegel und eine Spindel, verfolgt von einem Trupp
Reiter auf weissen Rossen: Grohmann, Sagen aus Böhmen, S. 45. Ygl.
Simrock, D. M., S. 396. Mannhardt, W. F. K., I, S. 122.
Yon dem nordböhmischen Banadietrich endlich erzählt Yernaleken,
Myth. etc. in Österreich, S. 41 ff. folgendes: Er war so fromm und tugend-
haft, dass ihm der Wind den Mantel trug. Wegen eines geringen Ver-
gehens in der Kirche zog er sich aber das Missfallen Gottes zu und wurde
darüber so erbittert, dass er beschloss, die grösste Sünde zu begehen,
Brot in seine Schuhe legte und so die Gottesgabe absichtlich mit Füssen
trat. Seitdem muss er bis zum jüngsten Tage jagen. Laistner, Nebelsagen,
S. 302 f. (vgl. Rochholz, Naturmythen, S. 58 f.) macht auf die vielfachen
Nebel- und Wolkensymbole in dieser Geschichte aufmerksam (zu denen
eben auch der Schuh mit dem Brot gehört) und nimmt wohl mit Recht
an, dass sie erklären soll, „wie ein Schönwetterwesen zum Sturmwesen
geworden sei, wie auf die lichten Sonnenwölkchen der Herbstbrodem und
das wölfische Sturmgewölk folge."1)
1) Über die meteorische Bedeutung des Brotes s. Laistner a. a. O., S. 246 ff. Auch
den Sagen, in denen Kinder mit Brot gereinigt werden, giebt Laistner a. a. O., S. 159
(vgl. S. 803) eine meteorische Deutung. Dann werden auch die, in denen verstorbenen
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894 20
292
Sartori:
Ob wir ähnlich auch den Zug in der Stiefelisage deuten dürfen (der
auch sonst sehr verbreitet ist, vgl. Rochholz, Aargausagen, II, S. LUI f. u.
S. 377), dass der Reiter deshalb verdammt ist, weil er Erde seines Besitz-
tums in den Schuh that und dann anderswo schwur, er stehe auf seinem
Grund und Boden, muss einstweilen dahingestellt bleiben.
III. D er ewige Jude.
Dass auf den ewigen Juden mancherlei Züge aus der wilden Jagd
übergegangen sind, ist längst erkannt; vgl. Simrock, Dtsehe Myth., S. 225 f.
Ztschr. f. d. Myth., I, S. 432 ff. Pröhle, Unterharz. Sagen, S. 205. Kuhn,
Westfäl. Sagen, II, S. 32 f. Im badischen Schwarzwald behauptet man
geradezu, der ewige Jude und der ewige Jäger seien ein und dieselbe
Person: E. Meier, Schwäb. Sagen, No. 126, 4. Beide kommen alle sieben
Jahre „einmal herum": Schambach-Müller, Niedersächs. Sagen, No. 257.
Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen, No. 265 u. Anm. In der Picardie und
Bretagne sagt man, wenn Sturmwinde dahinsausen: Der ewige Jude zieht
vorüber: Neubaur, Die Sage vom E. J., S. 127. Bei Rochholz, Aargaus.,
II, S. 306 ist er identifiziert mit Pilatus, über dessen Wolken- und Nebel-
natur s. Laistner, Nebelsagen, S. 214 ff. u. Reg. In dem ältesten nach-
weisbaren Bericht (des Mönches Roger von Wendower, f 1237) ist der
ewige Jude zwar nicht Schuster, sondern unter dem Namen Cartaphilus
Thürhüter des Prätoriunis und des Pilatus (Neubaur a. a. O., S. 7 f.), wird
auch gerade in älteren Drucken nicht selten als barfüssig beschrieben und
abgebildet: Neubaur, S. 15, 54, 80; vgl. Birlinger, Volkst. a. Schwaben, I,
No. 322. Doch ist der Schuh als Wolkensymbol auch auf ihn übertragen.
Ygl. z. B. Laistner a. a. 0., S. 291; dagegen Cassel, Ahasvérus, S. 58 ff.
Die Schuhe des ewigen Juden werden noch in Ulm und Bern gezeigt:
Birlinger, Aus Schwaben, I, S. 78, Anni. Rochholz, Aargaus., II, S. 307.
Von denen in Bern schreibt der Züricher Pfarrer Ulrich, sie seien „ungemein
gross und von hundert Bietzen zusammengesetzet, ein Meisterstück von
einem Schuhmacher, weil sie mit vieler Mühe, Fleiss und Geschicklichkeit
aus gar vielen ledernen Teilen zusammengeflickt worden". Diese zusammen-
geflickten Schuhe sind ein deutliches, auch später noch vorkommendes
Wolkensymbol.
IY. Riesen. Teufel.
Uber die Sturm-, Wolken- und Nebelnatur der Riesen s. Mannhardt,
Germ. Myth., Reg., S. 748. Laistner, Nebelsagen, Reg., u. bes. S. 18, 153 f.
E. H. Meyer, German. Mythol., S. 141 ff. Wir sahen schon, dass Riesen
Kindern Schuhe von Brot angelegt werden (z. B. Grimm, Dtsehe Sagen, I, No. 238; vgl.
No. 23fi) hierher gehören.
Der Schuh im Volksglauben.
293
vornehmlich im Besitz der Meilenstiefel sind. Auch von ihnen werden an
manchen Orten Schuhe aufbewahrt und gezeigt, wie die des Menschen-
fressers Erkinger in der „Riesenkapelle" zu Hirschau: Henne-Am Rhyn,
Die deutsche Volkssage, S. 230.x)
In einer weit verbreiteten Gruppe von Sagen wird die Herkunft von
Bergen oder Hügeln oder einzeln liegenden grossen Steinen darauf zurück-
geführt, dass ein Riese Sand oder ein Steinchen, weil es ihn drückte, aus
seinem Schuh schüttete. Vgl. Kuhn, Westfäl. Sagen, I, S. 15. Schambach-
Müller, Niedersächsische Sagen, No. 161. Zeitschr. f. d. Myth., II, S. 108.
Montanus, Vorzeit d. L. Cleve-Mark, I, S. 64. Firmenich, Germaniens
Völkerst., I, S. 274. Weddigen u. Hartmann, Dtscher Sagenschatz West-
falens, S. 302. Seifart, Sagen a. Hildesheim, II, S. 10. Kuhn u. Schwartz,
Nordd. Sagen, No. 167, 1; 188; 226, 1; 226, 3; 274; 290, 1. Laistner, Nebel-
sagen, S. 150. Pröhle, Harzsagen, S. 56, 236, 25 (hier schüttet der Riese
eine Erbse aus). Lynker, Hess. Sagen, S. 29, 30. Grimm, D. M.4, I,
S. 448, III, S. 157.
Statt der Riesen werden mitunter andere genannt: Der Teufel, Ver-
naleken, Mythen etc. in Österreich, S. 359; Der Calbesche Roland, Kuhn
u. Schwartz, Nordd. Sagen, No. 162; Frau Holle, Lynker, Hess. Sag., S. 19;
Hackelberg, Kuhn u. Schwartz, a. a. O., No. 203, 5; Der ewige Jude (Jaunais,
Unter-Loire), Cassel, Ahasvérus, S. 58. Bei Grimm, D. M.4, I, S. 448 sind
westfälische Sauerländer die Urheber, bei Pröhle, Harzsagen, S. 196 die
Frau von Scharzfels.
Ein anderes Motiv finden wir in einer ungarischen Sage: Ztschr. f.
dtsche Myth., II, S. 255 f. Der Teufel wirbt vergeblich um die Tochter
einer alten Hexe. In seiner Wut schleuderte er einen seiner Stiefel nach
Beremend, den andern gegen Siklós zu, und aus dem herausgeschütteten
Sand entstanden die zwei Berge bei Beremend und Siklós.
Die Stiefel werden mitunter durch andere Attribute vertreten. Ein
Jettenmädchen schleudert einen Stein in ihrem Strumpfband von Fünen
fort: Grimm, D. M.4, I, S. 453. Ebda. S. 445 ist der Sand durch einen
Riesenhandschuh gelaufen. Besonders häufig sind solche Hügel von Riesen-
mädchen in der Schürze an ihren Ort getragen.
Die Erklärung dieses Sagenzuges hat bereits Laistner, Nebelsagen,
S. 152 angedeutet. Wir erkennen in dem Riesen den Sturmwind, der in
Wolken daherfahrend oft Sand und Steine von bedeutender Grösse mit
sich fortführt.
Nur von der äusseren Ähnlichkeit hergenommen ist es natürlich, wenn
erzählt wird, das Mittelstück der Insel Sylt sei die Schuhsohle eines Riesen,
1) In den mongolischen Legenden wird von einem riesenhaften Schmied erzählt, der
sitzend noch einen platten Felsgipfel des Arbus-ula im Ordos überragte, welcher ihm als
Ambos diente, auf dem er die Hufeisen für Dschengis-Chans Pferd schmiedete: Andree,
Ethnogr. Parallel., S. 158 (nach Prschewalski).
20*
294
Sartori :
der von clem Schiffe Mannigfuald aus über das Meer nach Deutschland
hinüberschreitend dieselbe verlor: Jensen, Die nordfries. Inseln, S. 31. So
sollen auch die Griechen die Insel Sardinien früher :lyvovoa genannt haben,
on to oyfijjxi rfj vrjarp xax l'yvoç juáhorá èonv âvOoo'mov : Pausan. 10, 17, 1.
Sie hiess auch Zavôahwnç: Plin. 3, 7, 13. Vgl. die 2avòaM(X)v vrjooi bei
Lesbos (Plin. 5, 31, 39) und die Insel Zavòàhov bei Mykale.
Eine andere hierher gehörende Gruppe von Sagen spricht davon, wie
der Teufel (oder sonst ein dämonisches Wesen), im Begriff, eine Kirche
zu zerschmettern, unterwegs einen Begegnenden fragt, wie weit er noch
bis zu seinem Ziele habe. Der Gefragte antwortet, auf seine zerrissenen
Schuhe (mitunter ein ganzes Bündel) zeigend, diese habe er auf dem Wege
dorther verbraucht. Bei Panzer, Beitr., II, S. 57 begegnet so der Teufel
einem alten Weibe, ebenso in einer Yersion aus Aachen (Wolf, Dtsche
Märchen und Sagen, S. 558); bei Malmedy vertritt der hl. Remaclus die
Stelle der Alten: Schmitz, Sitten u. Sagen d. Eifler Volkes, II, S. 113.
Laistner, Nebelsagen, S. 253. Yom finnischen Kalevampoika wird ähnliches
o
bei Abo erzählt: Grimm, D. M.4, III, S. 159. In einer Sage vom Harken-
stein bei Hattingen a. Ruhr trägt der Teufel einen Felsblock herbei, um
die Kirche in Wenigem zu zerschmettern. Da „kwam em en Pandeljude
integgen, dä draug'n Kiepe met ollen Schauhwerk on Schloffen" (Schlarfen).
Der Teufel fragt, wie weit er noch habe. Der Jude entgegnet, er habe
alle diese Schuhe von dorther aufgetragen: Firmenich, German. Völkerst.,
I, S. 366 f. Möglicherweise hat auf diese Figur der ewige Jude Einfluss
gehabt. Zu vergleichen ist auch Ragnar Lodbrocks Saga (übersetzt von
v. d. Hagen-Edzardi, III, 301), wo ein Alter den Söhnen Ragnars, die ihn
nach dem Wege nach Rom fragen, antwortet, seine Eisenschuhe habe er
von dorther abgelaufen. Dieser Alte wird als ein freundlicher Greis ge-
schildert. In Nornagests Saga (ebda. III, 390) heisst er Sones.
Auch zu dieser Sagengruppe hat Laistner (Nebelsagen, S. 252 f.) bereits
den Schlüssel gefunden. Es handelt sich hier um den Ausbruch eines
Gewitters, das Niederstürzen der Wolkenlast im Platzregen. In dem alten
Weibe (und ihren Stellvertretern) sehen wir eine Gutwetterherrin, die mit
dünnen, sonnigen Wolken dem Gewitterriesen begegnet, welcher den
schweren Stein der Wetterwolke heranschleppt.
In anderem Zusammenhange finden wir die zerrissenen Schuhe in
Sagen, in denen jemand zur Büssung eines Yergehens so lauge wandern
muss, bis er eine bestimmte Anzahl (eiserner) Schuhe zergangen hat.
Namentlich kommt dieser Zug in einigen Versionen der Psychesage vor.
So in dem Märchen Lo tuzzo d'oro im Pentamerone des Basile; vgl. Grimm,
K. H. M., III, S. 360. Im sizilischen Märchen vom Re Porco (Gonzenbach,
I, S. 288 f.) muss die junge Frau zur Strafe 7 Jahre, 7 Monate und 7 Tage
wandern und 7 Paar eiserne Schuhe durchlaufen. Sie verläuft davon drei
Paar über und drei Paar unter der Erde. Ygl. noch Jahrb. f. roman, u.
Der Schuh im Volksglauben.
295
engl. Literatur, YII, S. 249 ff. und Köhlers Anni., S. 254 f. Karadschitsch,
Volksmärchen d. Serben, S. 84; Armenische Bibl. IY, S. XXIY undXXXYI.
Krauss, Sagen u. Märchen d. Südslaven, I, S. 178 ff., 185, 294 ff., II, S. 91 ff.
Grimm, K. H. M., II, S. 132; Laistner, Das Rätsel der Sphinx, I, S- 245 f.,
S. 250.*)
Yerschiedene Andeutungen in diesen Märchen, wie z.B. die Wanderung
zu Mond, Sonne und Wind im serbischen, weisen darauf hin, dass dieselben
zum Teil einen meteorischen Ursprung haben, und dass wir auch in ihnen
die Schuhe als Wolkensymbole betrachten dürfen.
In diesen Zusammenhang gehört auch wohl das von Menzel, Odin,
S. 176 fälschlich auf die 12 Monate des abgelaufenen Jahres gedeutete
Märchen „Die zertanzten Schuhe" bei Grimm, K. H. M., II, S. 225 ff.;
Tgl. III, S. 224 ff. Die Schuhe von zwölf Königstöchtern findet man jeden
Morgen zertanzt. Ein Soldat erbietet sich den Grund dafür ausfindig zu
machen. Es gelingt ihm, nachdem ihm eine alte Frau einen guten Rat
und ein unsichtbar machendes Mäntelchen gegeben hat. Jene tanzen
nämlich mit zwölf verwünschten Prinzen in einem unterirdischen Schlosse
(eine Variante s- bei Stier, Ungarische Märchen u. Sagen, S. 51 ff.). Die
Schuhe, das Mäntelchen, das unterirdische Schloss scheinen darauf hin-
zudeuten, dass der Ursprung auch dieses Märchens in der Wolkenregion
zu suchen ist. Uber die tanzenden Nebel- und Wolkenwesen s. Laistner,
Nebelsagen, S. 136, 144 ff. Zu vergleichen ist noch eine angeblich
Harzer Sage bei Grässe, Sagenbuch d. preuss. Staates, I, S. 498 ff., in welcher
Pistolen, Degen und Pantoffeln eines Herrn, der auf einem Schlosse zu
Besuch ist, eines Nachts im Schlafzimmer herumzutanzen beginnen.
Y. Zwerge.
Über ihre Wolken- und Nebelnatur s. Mannhardt, Germ. Myth,, Reg.,
Laistner, Nebelsagen, S. 290 f. u. Reg. Über ihren Zusammenhang mit
dem Gewitter: Wolf, Beitr., II, S. 324 f. Laistner a. a. O., S. 157 f., 296.
E. H. Meyer, Germ. Myth., S. 127 ff.
Sehr häufig werden uns die Zwerge als Schuster vorgeführt. In Glarus
führen alle Berggeister den dreifachen Namen Fäijer, Füchse und Schuh-
macher: Rochholz, Aargausagen, I, S. 378.2) Im scliwyzerischen Wäggithal
erblickt man am Guggelberge eine Felsenhöhle, das Schuhmacherloch
1) Im Siddhikür befiehlt der mongolische König, dass ein Aufseher nicht eher zurück-
kehren dürfe, bis er steinerne Schuhe durchlaufen habe: Cassel, Ahasvérus, S. 58. In einer
isländischen Sage soll ein Knecht so lange bei einem Bauern bleiben, bis er ein Paar
Schuhe durchgelaufen hat. Er kann es aber nicht, denn sie sind von Menschenhaut: Am
Ur-Quell, III, S. 91.
2) Ebda. S. 382 vergleicht R. den Kamen der Bergmännchen im Prättigäu (Wald-
fänken) und in Vorarlberg (Rutscbifenggen) u. a. mit dem schweizerischen Finken, dem
aus farbigen Tuchenden geflochtenen Fleckenschuh.
296
Sartori :
genannt, weil darin ein Schumacher hämmern soll, der mit Steinen wirft.
Im Wetterwinkel oder Schusterloch hauste der rote Lochschuster; noch
schauen die Wessobrunner nach dem Schusterloch, wo die Wetterwolke
steckt: Laistner a. a. 0., S. 291.x) Im Steyrthal befindet sich der sogen.
24 Schusterstein. Dort sieht man zuweilen um 12 Uhr nachts 24 Schuster
des Weges ziehen. Sie gehen in langer Reihe einer nach dem andern,
jeder trägt in einem „Kistl" sein Werkzeug nebst einer Trage Leisten:
Baumgarten im Progr. d. Gymnas. zu Kremsmünster, 1860, S. 22, Anm. 1.
Auf dem Schusterplatz bei Schönwalde im Samland sass früher stets ein Geist
und schusterte. Eine Frau sah einst, dass er in der Mittagshitze ganz nackt
auf dem Rasen lag, mit den Füssen aber auf einen Strauchzaun umzech
hinaufschlug: Reusch, Sagen d. preussischen Samlandes, S. 4. Unter den
„Wichterchen" von Bleialff und Umgegend waren Schneider und Schuster:
Schmitz, Sitten und Sagen des Eifler Yolkes, II, S. 15. Auf einer Heide
zwischen Falsterbro und Skanör in Schonen wohnen kleine Leutchen, eine
Schuhmacherfamilie, unter einem Apfelbaum. Oft sieht man sie ihre Wäsche
trocknen, auch führen sie die Leute irre: Mannhardt, W. F. K., I, S. 61.
Schuhmacher ist auch der irische Cluricaun: Grimm, Irische Elfenmärchen,
S. XY, LXXXYIII. Eine Frau hört zwischen einer Reihe Bohnen ein
Geräusch, wie wenn ein Schuster den Absatz an einen Schuh anschlägt.
Sie findet ein altes Männchen, das aus einem Pfeifenstümpfchen beständig
raucht, mit erbsenfarbenem Rock und Schuhen mit grossen silbernen
Schnallen.2) Er entschlüpft ihr aus der Hand, „wie ein Nebel oder Rauch":
Grimm a. a. 0., S. 94 ff. In dem Märchen „Das Feld mit Hagebuchen"
(ebda. S. 108 ff.) arbeitet ein Männchen in ledernem Schürzchen in einer
Hecke an Schuhen und braut Bier aus Heide.3) In allen diesen Beispielen
sehen wir also wieder den Schuh in engster Verbindung mit unzweifel-
haften Nebel- und W'olkenwesen, welche wie Laistner, Nebelsagen, S. 291
(ygl. aber Rätsel der Sphinx, II, S. 69 f.) richtig bemerkt, eben deshalb
Schuhmacher genannt werden, weil sie scu, d. i. Nebel und Wolken machen.
Häufig finden wir die Zwerge in ihrem Schusterhandwerk auch inner-
halb der Häuser beschäftigt, und sie berühren sich hier mit den gleich zu
besprechenden Hausgeistern. In dem Märchen „Die kleinen Schuhe"
1) An den Felswänden des Rigi bei Gersau heisst eine Stelle zum roten Schuh:
Rochholz, Naturmythen, S. 15. Ähnliche Benennungen s. bei Rochholz, Aargausagen, I,
S. 378; II, S. LIY. Panzer, Beitr., I, S. 83 f.
2) Über die tabackrauchenden Nebelwesen s. Rochholz, Naturmythen, S. 186f.,
Laistner, Nebelsagen, S. 18. — Die glänzende Schuhschnalle, die beim Cluricaun öfters
erwähnt wird (Grimm, S. 93, 97, 99, XY) kommt auch bei andern, später noch zu be-
sprechenden Nebelwesen vor. Ygl. Rochholz, Naturmythen, S. 119. Aargausagen, I,
S. 210 f., 261. Schmitz a. a. 0., II, S. 23. Man wird dabei wohl an Glanzerscheinungen
im Nebel zu denken haben. Doch mögen mitunter auch Gewittervorgänge hineinspielen.
3) Über das Leder als Wolken- und Nebelsymbol s. Laistner, Nebelsagen, S. 251.
Über das Brauen der Nebelwesen: Laistner, S. 18. Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 223.
Der Schuh im Volksglauben.
297
(Grimm a. a. 0., S. 113 f.) hämmert der Cluricaun mit Schurzfell und roter
Nachtmütze im Stalle Schuhe und pfeift dabei.1) Ygl. noch Kuhn, Westf.
Sagen, I, No. 163. Lynker, Hess. Sagen, S. 53 f. .Rochholz, Naturmythen,
S. 113. Grimm, K. H. M., I, S. 202 f. Birlinger, Volkst. a. Schwaben, I,
S. 40. Schambach-Müller, Niedersächsische Yolkssagen, S. 139 f. Einem
Schuster zu Waldangelloch helfen vier unbekannte Männer bei der Arbeit.
Als Leute ins Zimmer dringen, finden sie statt der Männer nichts als vier
Mücken unter vier Fingerhüten: Baader, Neuges. Yolkssagen a. d. Lande
Baden, No. 134. Hier erscheinen also die elbischen Wesen wie öfters in
Insektengestalt. Ygl. den holsteinischen Kinderreim: „schömaker sett dì,
schast ok speck un brot hebben", den Miillenhoff, Schlesw.-Holst. Sagen,
S. 509 und Mannhardt in der Ztschr. f. d. Myth., III, S. 243 mit Recht auf
die Libelle beziehen. Im Bremischen heisst eine gewisse Gattung lang-
beiniger Spinnen Schoster: Versuch e. [bremisch-niedersäclis. Wörterbuchs,
Bremen 1770, IY, S. 666.
Die Schuhe werden überhaupt an zwerghaften Elementargeistern, die
sich deutlich als Wolken- und Nebelwesen kennzeichnen, nicht selten
besonders hervorgehoben. Zwerglein, die auf den Meulen oder Pantoffeln
herschlappen, kommen bereits in Fischarts Gargantua vor: Grimm, Deutsch.
Wörterbuch, YI, 1802. Auf dem Berge Graneckle sieht eine Frau einen
Zwerg im grauen Mäntelchen, mit einer mit Rosshaaren besetzten Soldaten-
mütze auf dem Kopf, mit blechernen2) Stiefeln und einem dreieckigen
Stern auf der Brust: Birlinger, Yolkst. a. Schwaben, I, No. 52. Die kleinen
„Erdweible", die im „grossen Loch" wohnen und manchmal in die Licht-
stuben nach Loffenau kommen, um zu spinnen, tragen breite Pantoffeln:
Meier, Sagen aus Schwaben, S. 45. Bei Rochliolz, Naturmythen, S. 115
besitzen die Erdmännchen Schuhe, von denen sie über den Rhein getragen
werden. Dazu bemerkt Laistner, Nebelsagen, S. 275: „Wer an einem
Spätherbsttage die huschenden Dampfwölkchen gesehen hat, welche bei
1) Über rote Nebelsymbole: Laistner, S. 231, 295 f., 320. Über das Flöten der Zwerge
ebda. S. 311.
2) Nebel und Wolken erscheinen nicht selten in den Sagen in Form von Blech, Blei,
Eisen u. dgl. In der Rheinprovinz heisst der wilde Jäger auch der blecherne Jäger; er
hat einen eisernen Hut auf und ist mit einem blechernen Stocke versehen: Zeitschr f. d.
Myth., III, S. 53. Gespenst eines Grenzwächters mit bleiernem Mantel bei Firmenich,
German. Völkerst., I, S. 537 (Grevenmachern a. d. Mosel). Die Marzebilla (ein Nebelgeist)
trägt einen blechernen Handschuh an der linken Hand: Grohmann, Sagen aus Böhmen,
S. 114. Geist mit Bleimantel: Montanus, Vorzeit der Länder Cleve-Mark etc., I, S. 5.
Geister mit blechernen Stiefeln, ebda., I, S. 233, 234. Eiserne Pantoffeln auf dem Rach-
elsee: Panzer, Beitr., I, S. 84. Eiserne Schuhe der Pfaffenkellnerin: Henne-Am Rhyn, Die
dtsche Volkss., S. 239. Der wilde Jäger „gedrückt von einem bleiernen Mantel": Schmitz,
Sitten u. Sagen des Eitler Volkes, II, S. 7. In dem Schlosse zu Föhren spukt ein Geist,
der unter dem Namen des „Bleimichel" bekannt ist. Derselbe trägt einen bleiernen Mantel,
und unter demselben sieht es gar feurig und glühend aus: Ebda,, II, S. 26. — Von eisernen
Schuhen ist früher schon öfter die Rede gewesen.
298
Sartori:
Nordwind über den Gebirgsstrom dahingleiten, der seine Sommerwärme
noch nicht ganz eingebüsst hat, erkennt die Urbedeutung der wasser-
wandelnden Zwerge." In Klein-Döttingen am linken Aarufer tragen Zwerge
statt der Schuhe hölzerne Brettchen: Rochholz, Aargausagen, I, S. 313. In
einer hessischen Sage verschwindet ein Heinzelmännchen mit Zurücklassung
seines rotsammtenen Röckchens und seiner Perlstiefel: Wolf, Hess. Sagen,
No. 75. In eigentümlich sympathetischer Beziehung zum Schuh steht ein
Zwergwesen in folgender polnisch-jüdischen Sage: Ein Schuster sah nachts
vor seinem Fenster einen Lez (Kobold, der sich in jede Gestalt verwandeln
und dann seine Körperteile beliebig verändern kann), der seine Zunge
ellenlang in die Stube hineinsteckte. Der Schuster ergriff schnell sein
Messer und schnitt die Zunge ab. Der Lez steckte jedoch gleich wieder
eine Zunge durch das Fenster. Der Schuster schnitt auch diese ab. So
wiederholte es sich zehnmal. Dann ging der Schuster in die Synagoge.
Als er jedoch zurückkam und sich an die Arbeit machen wollte, bemerkte
er, dass von den fünf Paar Stiefeln, die in seiner Werkstatt standen, die
Spitzen fehlten: Am Urdsbrunnen IY, S. 58. In anderer Weise ist diese
Beziehung ausgedrückt in einer Sage bei Rochholz, Naturmyth., S. 112 f.:
Ein reicher Oberflachser hatte sich Brotkuchen gebacken, und als Erd-
männchen auf Besuch zu ihm kamen, schob der Nimmersatt die noch nicht
aufgegessenen Stücke schnell unter die Decke des Bettes. Als er nach
dem Fortgang der Kleinen wieder nachsah, fand er an der Stelle seiner
Kuchen blos alte Schuhsohlen und Lederschnitzel.
Der Verlust ihrer Schuhe ist für die Zwerge das grösste Unglück.
Sie können nicht eher schlafen, als bis sie das Verlorene wieder herbei-
gebracht haben: Temme, Yolkssagen aus Pommern, No. 223. Oder sie
müssen so lange auf der Oberwelt bleiben: Jahn, Volkssagen a. Pommern,
No. 115, und dienen: Ebda., No. 70. Ein Bauer auf Rügen entwendete
einem Zwerge seinen gläsernen Schuh, den ihm dieser dann für vieles Geld
wieder abkaufen musste: Ebda., No. 71. Ein verfolgtes Wichterchen ver-
liert einen Schuh, und dieser ist von Silber: Schmitz, Sitten u. Sagen d
Eifler Volkes, II, S. 16. In Dänemark heisst es: Wer bei den Zwergen
einen Goldschuh mit fortnimmt, dem brennt das Haus ab : Rochholz, Aar-
gausagen, I, S. 377. Der irische Cluricaun lässt dagegen mitunter freiwillig
einen Schuh zurück oder giebt sich wenigstens keine Mühe einen zurück-
gelassenen wieder zu erlangen: Grimm, Irische Elfenmärchen, S. 113 f.,
S. 218 f.
Nicht selten finden wir, wie der folgende Abschnitt zeigt, dass elbische
Hausgeister Schuhe zur Belohnung ihrer Dienste annehmen und zu diesen
dadurch aufgemuntert werden. Andererseits erfahren wir ebenso häufig,
dass dienende Zwerge gerade deshalb ihren Dienst verlassen, weil sie zum
Danke mit Kleidungsstücken oder Schuhen beschenkt sind. Vgl. Kuhn,
Westfäl. Sagen, I, No. 163, Anm. Der angebotenen Schuhe wegen gehen
Der Schuh im Volksglauben.
299
die Zwerge z. B. bei Prölile, Unterharz. Sagen, No. 30, 44. Zeitsclir. f.
dtsclie Myth., I, S. 267. Kochholz, Aargansagen, I, S. 355. Börner, Volks-
sagen a. d. Orlagau, S. 242. Man könnte erklären: wie die Zwerge durch
den Verlust der zu ihrem Wesen gehörenden Schuhe in die Knechtschaft
der Menschen geraten, so halten sie sich umgekehrt durch Empfang von
Schuhen für entlassen und sind wieder in ihre eigentliche Nebel- und
Wolkennatur entrückt. Vielleicht aber haben wir hier nur eine einfache
Yariation der nun einmal vorhandenen Beziehung des Schuhes zu den
Zwergen (anders Mannhardt, W. F. K., S. 80 f., Anni. 2.). Auch an die
früher besprochene Redensart: einem ein Paar Schuhe geben = einem den
Laufpass geben, ist zu erinnern.
Mehr bedeutet auch wohl die mehrfach vorkommende Wendung nicht,
dass elbische Wechselbälge durch Kochen von Schuhsohlen zum Abzug
gebracht werden. Bei Jahn, Volkssagen aus Pommern, No. 89 verspricht
ein Wechselbalg einer Bäuerin zu verschwinden, wenn sie ihm Schuh-
schlarren kocht, und tliut dies auch. Vgl. Kuhn u. Schwartz, Norddtsche
Sagen, No. 36, 1, 2. Lemke, Volkstüml. in Ostpreussen, I, S. 63. Vgl.
auch den später zu besprechenden abwehrenden Einfluss von Schuhen auf
Hexen und Mahren.
VI. Hausgeister.
Auch die Hausgeister sind wie alle elbischen Wesen Elenientargeister,
wolkenreitende Sturmdämonen und Gewitterwesen (Mannhardt, German.
Myth., S. 47, 719 if. E. H. Meyer, German. Myth., S. 132 f.), wenn auch
ihre Natur hiermit nicht erschöpft ist. Sie äussern ihr Dasein in Wind,
Sturm und Wolken, wofür der erste Teil von Mannhardts Wald- u. Feld-
kulten Beispiele genug bietet. Auch bei ihnen finden wir infolgedessen
nicht selten den Nebel- und Wolkenschuh als Attribut. Schon die
schusternden Zwerge des vorigen Abschnitts gehören hierher. Auch der
schleswig-holsteinische Nisspuck hat seine Freude an Pantoffeln. Wenn
er es recht gut hat, so kann man ihn nachts darin auf dem Boden flink
herumschlurren hören: Müllenhoff, Schlesw.-Holst. Sagen, S. 319, 333.x)
Ein beleidigter Niss zeigt durch Annahme eines Paares weicher Pantoffeln,
dass er versöhnt ist: Ebda. S. 334.a) Auch der Klabautermann trägt gelbe
1) Ein Hausgeist in Gmünd heisst der Schlurkerle von seinem Dahinschlürfen : Bir-
iinger, Volkst. a. Schwaben, I, S. 57.
2) Burchard von Worms gedenkt des abergläubischen Brauches, den Hausgeistern in
Keller und Scheune Spielsachen, Schuhe, Bogen und Pfeile hinzulegen: Grimm, D. M.4,
I) S. 398. Nach dem Gewissensspiegel des Predigers Martin von Amberg versündigen sich
diejenigen, dy der Per cht speizz opfernt, und dem schretlein und der trat rotte schuechel:
Rochholz, Aargausagen, I, S. 378. Im Thälchcn bei Bex lockte man die Feen durch hübsch
bebänderte Schuhe an: Ders., Naturmythen, S. 133. In Schweden setzt man auch den
Seelen mitunter eine Schale weisser Grütze und ein Paar neue Schuhe hin: E. H. Meyer,
German. Myth., S. 73. Vgl. S. 138 f.
300
Sartori :
Kniehosen und Reiterstiefel: Kuhn und Schwartz, Nordd. Sagen, S. 423.
Doch heisst es auch wieder, dass man sich hüten soll, den Klabauter-
männchen oder Puksen einen Rock oder ein Paar Schuhe hinzulegen, denn
dann verlassen sie augenblicklich ihren Aufenthalt: Ebda., No. 17. Ein
rotsammtnes Röckchen und Perlenstiefelchen, die es bei seinem Verschwinden
zurücklässt, trägt auch das lange auf einem hessischen Schloss wohnende
Heinzelmännchen bei Wolf, Hess. Sagen, No. 75.
Mitunter erscheinen solche Geister auch selbst als Stiefel. Auf dem
Rathause zu Halter spukt ein Schuster, der sich selbst verflucht hat, in
Gestalt eines Stiefels: Wolf, Dtsche Märchen u. Sagen, No. 125. Der Name
Stiefel kommt öfter für Hausgeister vor: Grimm, Dtsche Sagen, I, No. 78.
Simrock, D. M., S. 474. Auch der Kobold Stiefeli, dem Rochholz, Aargau-
sagen, II, eine besondere Abhandlung gewidmet hat, tritt als Hausgeist auf.
Hierher gehört ferner der gestiefelte Kater des deutschen Märchens:
Grimm, K. H. M., III, S. 258 f. Varianten bei Köhler zu Gonzenbach,
Sicil. Märchen, II, S. 242 ff. ; vgl. auch Laistner, Das Rätsel der Sphinx, I,
S. 13 ff-, 26 ff. Grimm, D. M4, I, S. 421 führt auch den Namen Stiefelkater
für einen Hausgeist an. Für die Katze als Hausgeist genüge es, auf
Mannhardt, W. F. K., II, S. 172 ff., Anm. 3 zu verweisen.
Im Aargau scheint auch der Storch die Rolle eines Hausgeistes zu
übernehmen. Die Kinder singen von ihm:
w Store-Store-Stigelibei,
setz mi ûf ne Hauestei,
setz mi ûf nes Stüehli,
mach me schöni Schüehli
mit schöne Ringgli und Masche,
oder —: gib der ä Tasche!"
Ein Bauer in Schöftland hing seinem Neststorchen ein Zettelchen an und
hatte darauf geschrieben, man möchte ihm im fremden Lande darauf den
Ort verzeichnen, an welchem das Tier zu überwintern pflege. Als der
Storch wiederkehrte, stand auf dem Zettel:
„Ei, ei, du Gwundersmâ,
in Ostindia
ûf eme Schuehmachershûs!"
Rochholz, Alemann. Kinderlied etc., S. 84, Aargausagen, II, S. 40. Be-
merkenswert ist, dass auch die Katze als Kinderbringerin Schuhe anlegt.
Die Kinder singen:
„Hop, hop, Edelmann,
Die Katz legt die Stiefeln an,
Springt in den Brunnen,
Hat ein Kindlein funden.
Oder: Unse Katz hat Stiefeln an,
Reit damit nach Hollabrunn,
Findt ein Kindl in der Sunn.
Wolf, Beitr. z. d. M., II, S. 185 f.
Der Schuh im Volksglauben.
301
YII. Wassergeister.
Uber die Nebelnatur derselben siehe besonders Laistner, Nebelsagen,
S. 77 f., 258. E. H. Meyer, Germ. Myth., S. 130 f.1) Auch sie treffen wir
als Schulimacher an. Ein Mann sah spät abends am Ufer der March einen
ganz kleinen, grün gekleideten Mann mit einer kleinen Schusterwerkstätte
sehr beschäftigt. Er warf einen Rosenkranz darauf, und der ganze Spuk
flog in die Höhe und verschwand in den Fluten der March. An jener
Stelle aber blieb ein Stiefel zurück, den der Mann mitnahm und sich später
mit ins Grab geben liess: Yernaleken, Mythen a. Österreich, S. 189 f.; vgl.
S. 195. Der Wassermann in einem Teiche bei Hochlibin flickt Stiefel:
Grohmann, Sagen aus Böhmen, S. 153, ebenso der Badenix bei Strehla an
der Elbe: Rocliholz, Aargausagen, II, S. 308. Der Nix bei Lapanks Bank
flickte sich seine Lumpen oder Schuhe: Schulenburg, Wend. Yolkssagen,
S. 128. Der Topicli in Masuren, ein männlicher Wassergeist, hängt, um
die Leute anzulocken, oft etwas an einen Baum oder Strauch, der am
Wasser steht, z. B. eine Mütze, einen Stiefel oder sonst etwas Lockendes
und zieht diejenigen nach sich, welche danach greifen: Toppen, Abergl. a.
Masuren, S. 33. In Röhlingen bei Ellwangen kommt zu gewissen Zeiten
um Mitternacht ein Weiblein, ganz klein mit gewaltigen Holzschuhen, mit
denen es poltert und schlurket, dass mans im Orte deutlich hören kann;
es wäscht eifrig am Brunnen: Birlinger, Yolkst. aus Schwaben, I, No. 91.
Wie die dienenden Zwerge verschwinden auch solche Waschweibchen, die
in einem Hause gearbeitet haben, wenn man ihnen Schuhe verabreicht:
Yernaleken a. a. 0., S. 199; vgl. Grohmann a. a. 0., S. 142. Henne-Am
Rhyn, Die dtsche Yolkssage, S. 121. Im Dorfe Tellheim kommen fünf
Nixen in grünseidenen Schuhen zum Tanz: Panzer, Beitr., I, S. 168. In
einem Märchen bei Hocker, Stammsagen der Hohenzollern und Weifen,
S. 103 f. fängt ein Prinz die Nixe eines Sees. Sie entwindet sich ihm aber
und lässt ihm nur ihren goldenen Schuh zurück. Einen rotstrümpflgen
Wassermann sieht Rocliholz, Alem. Kinderl. etc., S. 182 f. in dem Pfeifen-
liedchen :
„Zapf, zapf, Pfeife!
Auf dem Mühlendeiche
Da steht ein Mann,
Der heisst Johann,
Der hat so rote Strümpfe an."
Vgl. Grimm, D. M.4, II, S. 1038. Rote Strümpfe tragen auch der Wasser-
mann und die Wasserfrau in der Lausitz: Haupt, Sagenbuch d. Lausitz, I,
S. 46, 50. Der Geist eines heiligen Baches bei den Esthen trägt blauen
und gelben Strumpf: Grimm a. a. O., I, S. 498. Eiserne Schuhe des Wasser-
1) In Norwegen pflegt, wenn Sturm und Gewitter aufsteigen, ein grosses Pferd mit
ungeheuren Hufen auf dem Wasser zu erscheinen: Grimm, D. M.4, I, S. 40G.
302
Sax-tori:
wesens finden wir in folgender Sage: Ein verwunschenes Fräulein im
Rachelsee in Mederbaiern hat eine Magd mit Pantoffeln erschlagen und
legt am Jahrestage dieser That um die Mittagsstunde, auf dem See daher-
schwimmend, zwei eiserne Pantoffeln auf einen in der Nähe des Sees be-
findlichen schwarzen Granitstein. Dies geschieht in jedem Jahre am Sun-
wendtage: Panzer, Beitr., I, S. 84. Es ist möglich, dass auf dem Wasser
des Sees einherliuschende Ncbelwölkchen zur irdischen Lokalisierung dieser
Sage beigetragen haben. Ihre Entstehung ist aber wohl mit Mannhardt,
German. Myth., S. 642, 647 ff., 651 ff. in der Luftregion zu suchen.
Till. Hexen. Mährten.
Die Hexen gelten als Wetter- und Wolkenmacherinnen. Ygl. Laistner,
Nebelsagen, Reg., S. 358. E. IL Meyer, German. Mythol., S. 135 f. In
Hansens Sagen und Erzählungen d. Sylter Friesen, S. 140 erregt ein altes
Weib mit Pantoffeln Stürme. Mitunter erscheint der Schuh als ein spezielles
Attribut der Hexen. Es ist ein böses Omen für die auf dem Brocken
tanzende Hexe, wenn sie dabei ihren Schuh verliert. Das bedeutet, dass
sie noch im selbigen Jahr verbrannt wird: Heine, Sämtl. Werke, YII, S. 17.
Häufig heisst es in Hexenprozessakten, eine der versammelten Frauen trage
den güldenen Schuh am rechten Fuss. Grimm, D. M.4, II, S. 896. Roch-
holz, Dtscher Glaube etc., II, S. 283. Könnte hier der Schuh als einfaches
Würdezeichen gemeint sein, so fehlen auch andere Beispiele eines engeren
Zusammenhanges nicht. In Mederösterreich heisst es: Hexen haben immer
zweierlei Fussbekleidung, entweder einen Tuch- und einen Lederschuh,
oder einen Leder- und Filz-(Fleckerl-)scliuh: Landsteiner im Gymnasial-
progr. von Krems, 1869, S. 48, Anm. 4. In Tirol sagt man: Wenn ein
Weib rote Strümpfe hat, ist es eine Hexe: Zingerle, Sitten etc. d. Tiroler
Yolkes, S. 60. In Klein-Russland denkt man sich die Cholera als ein
grauenerregendes altes Weib, mit roten Schuhen bekleidet: Globus, 57,
S. 286. Rote Schuhe werden der Hexe mitunter als Lohn verehrt. Das
alte Weib in Hans Sachs' Fastnachtsspiel „Der Teufel mit dem alten
Weib" (in Kellers Ausgabe IX, S. 35 ff.), das als rechte Hexe Unfrieden
zwischen Eheleuten stiften soll1), wird vom Teufel mit den Worten be-
stochen: Mit einer schenk ich dich verehr, Mit einem schön newen par
schuch.2) In einer besonderen sympathetischen Beziehung zur Hexe stehen
die Schuhe auch noch in einem tirolischen Aberglauben, wonach eine Hexe
auf einen Mann so einwirken kann, dass er zu ihr kommen muss, so oft
1) Ihre Hexennatur erweist an einem Zuge Grimm, D. M.4, II, S. 908. Ygl. S. 868,
Anm. 1.
2) Derselbe Stoff mit tragischem Ausgang bei Bartsch, Mecklenb. Sagen, I, S. 515.
Ähnlich (nur der Schuh fehlt) bei Sébillot, Coutumes popul. de la Haute-Bretagne, S. 70 f.
Im russischen Märchen tötet die Schwester ihren Bruder, um selbst seine roten Erdbeeren
und seine roten Schuhe zu besitzen: Gubernatis, Die Tiere etc., S. 151.
Der Schuh im Volksglauben.
303
sie will; zieht er aber die Schuhe aus, so laufen diese allein zu ihr:
Zingerle a. a. 0., S. 67. Doch liegt hier wohl mehr die erotische Kraft
des Schuhes zu Grunde.
Nicht selten finden wir, dass eine in einer Wetterwolke daherfahrende
oder „tanzende" Hexe durch einen hineingeworfenen Schuh sichtbar oder
unschädlich gemacht wird: Kuhn, Westfäl. Sagen, I, No. 110. Meier,
Schwab. Sagen, No. 286. *) Ebenso muss sich auch der Teufel zeigen,
wenn man ein Messer mit einem Kreuz oder einen Holzpantoffel rücklings
in den Wirbel hineinwirft: Jahn, Yolkssagen aus Pommern, S. 41. Die
Stelle der Wetterwolke vertritt eine Herde Katzen bei Wolf, Niederländ.
Sagen, No. 396. Bei Btterbrügge in einem Pfarrdorfe sah der Pastor in
der Nacht eine Menge schwarzer Katzen, die vor seinem Hause tanzten
und sprangen und ein freudiges Gemauze anstimmten. Er nahm einen
seiner Schuhe, auf dem noch eine silberne Schnalle war, und warf den
mitten in das Katzenvolk hinein. Zur Stunde verschwanden alle; als er
aber hinunterkam und die Thür öffnete, um seinen Schuh wiederzuholen,
da war der auch verschwunden.2)
Statt des Schuhes werden häufig auch Messer, Hut oder Mütze in die
Wetterwolke geworfen, und Mannhardt, W. F. K., II, S. 85 meint, hierbei
solle der Hut, Oberherrschaft über den Dämon begründen, das Messer den-
selben verwunden. Es ist möglich, dass solche Gedanken bei Bildung
dieses Aberglaubens mitgewirkt haben. Vielleicht sind aber doch jene
Gegenstände als ursprüngliche Elementarsymbole zu fassen, und zwar das
Messer als das des Blitzes, Hut und Schuh als solche der Wolke. Wir
würden dann einen in Sage und Aberglauben weit verbreiteten Zug auch
hier wiederfinden, dass nämlich durch Ähnliches auf Ähnliches irgendwie
eingewirkt werden kann, wie z. B. der Donnerkeil auf dem Herde gegen
den Blitz hilft, similia similibus, wie Mannhardt, W. F. K., I, S. 536 sagt.
Mitgewirkt haben mag immerhin auch die früher besprochene heilbringende
Wirkung des Schuhes im allgemeinen. Jedenfalls finden wir den Schuh
so allgemein als Schutzmittel gegen Hexen angewandt, dass wir doch an
eine besondere sympathetische Beziehung zwischen beiden zu denken ge-
1) Zu den tanzenden Wolkenwesen vgl. Laistner, Nebelsagen, S. 136, 144 ff. und das
oben besprochene Märchen „Die zertanzten Schuhe'- bei Grimm, No. 133. Hierher darf
auch wohl folgende Sage gestellt werden, die P. Zingerle aus dem Syrischen in der Ztschr.
f- d. M., I, S. 319 mitteilt: Salome, Herodias' Tochter, ging einmal an einem sehr kalten
Wintertage auf einen hartgefrorenen See, um dort auf dem Eise herumzutanzen. Sie war
sehr schön geputzt, besonders schön waren ihre Schuhe anzusehen. Sie sinkt in das Eis
ein. — In deutschen Sagen sitzt Herodias oder ihre Tochter im Wirbelwind oder führt
das wütende Heer: Mannhardt, Germ. Myth., S. 286 f., 294 ff., 715. Simrock, D. M. 'S. 386.
Das Eis in der angeführten Sage bedeutet wohl Luft und Wolken, wie auch der See.
2) Die Hexen erscheinen oft als Katzen, und diese selbst, besonders wenn sie in
grossen Scharen in der Sage auftreten, sind oft Gewitter- und Wolkensymbole. Vgl.
Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 230 f. Laistner, Nebelsagen, S. 82, 297.
304
Sartori: Der Schuh im Volksglauben.
zwungen sind. Keine Hexe kann einem Schlafenden beikommen, wenn
die Schuhe mit der Spitze gegen das Bett gerichtet sind: Meier, Schwab.
Sagen, I, No. 195, 13. Mtillenhoff, Schlesw.-Holst. Sagen, S. 558. Ausland,
47, S. 512 (Brabant). Bei den Serben wird abends das Bett des neu-
geborenen Kindes mit dem Rauch von alten Schuhen eingeräuchert; man
glaubt, dass diesen Rauch keine Hexe vertragen kann: Ausland, 49, S. 516.
Wer am Georgitag vor Sonnenaufgang ungekreuzt und ungewaschen mit
einem Schuh, ohne ein Wort zu sprechen, aufs Feld geht, sieht die
Hexen: Baumgarten, im Progr. d. Gymn. zu Kremsmünster, 1860, S. 24.
Man kann auch Hexen erkennen, wenn man einen Besen oder Schuh über
den Weg legt. Was darüber geht, ist keine Hexe, was herumgeht, ist eine:
Schulenburg, Wend. Yolkssagen a. d. Spreewald, S. 157. Birlinger, Aus
Schwaben, I, S. 367 berichtet von kleinen, aus Holz geschnitzten Pan-
töffelchen, die man zum Schutz gegen Hexen einpflöckt. In der Neumark
machen sich die Kinder am Walpurgistage mit Kreide drei Kreuze auf
die Schuhspitzen: Ztschr. d. Vereins f. Volkskunde, I, S. 181. Endlich ist
es hessischer Aberglaube, dass einem die Hexen nichts anhaben können,
wenn man einen Strumpf links anzieht, oder wenn man zweierlei Schuhe
anzieht: Wolf, Beitr., I, S. 226.
Häufiger als von den Hexen wird uns von den Mahren berichtet, dass
sich Schlafende gegen sie durch Schuhe schützen. Auch die Mahren sind
Wind- und Sturmgeister: Schwartz, Die poet. Naturansch., I, S. 73 ff.
Mannhardt, German. Myth., S. 44 ff., 712 ff. E. H. Meyer, German. Myth.,
S. 118 ff. Der Fuss der Mahr ist breit: E. H. Meyer a. a. O., S. 78. In
einem Falle finden wir sie selbst in der Gestalt eines Schuhes. Wolf,
Hess. Sagen, No. 91 erzählt von einem Manne, der nachts, als er von der
Mahr geplagt wird, in der Bettdecke einen Pantoffel fasst. Er nagelt ihn
an die Thür; am Morgen findet er seine Frau daran. Ygl. auch Laistner,
Das Rätsel der Sphinx, I, S. 56, 109. Bei Schulenburg, Wend. Volkssagen
etc., S. 150 heisst es: Die Mürawa latscht, als wenn einer mit Filzschuhen
ginge. Man schützt sich nun gegen die Mahr, indem man die Schuhe
verkehrt zu Häupten des Bettes steckt (Grimm, D. M.4, III, S. 449, No. 457),
oder so, dass sich ihre Spitzen berühren (Mark Brandenburg; Zeitschr. d.
Vereins f. Volkskunde, I, S. 190), oder mit der Spitze vom Bette abgekehrt
vor dasselbe. Vgl. Bartsch, Sagen aus Mecklenburg, II, S. 3. Kuhn und
Schwartz, Nordd. Sagen, S. 420. Rocliholz, Aargausagen, II, S. LV. Ver-
naleken, Mythen etc. in Österreich, S. 271. Montanus, Vorzeit der Länder
Cleve-Mark, I, S. 130. Woeste, Volksiiberl. in der Grfsch. Mark, S. 48. *)
Ztschr. d. Vereins für Volkskunde, I, S. 79 (Jamund bei Köslin). Mtillen-
hoff, Schl.-Holst. Sagen, S. 561, Anm. Strackerjan, Abergl. etc. a. Olden-
1) Hier die Bemerkung, dass die Bewegung der Mahr sich anhöre, -as of bai'n naten
sack iiöwer de ärde sliepede. Vgl. zu diesem Ausdruck Laistner, Nebelsagen, S. 51.
Herrmann: Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
305
burg, I, S. 384, 387. Schulenburg, Wend. Yolkssagen a. d. Spreewald,
S. 150f. Lemke, Volkst. in Ostpreussen, I, S. 67. In der Gregend von
Matsch in Tirol hängt man einen hölzernen Stiefel über das Bett zum
Schutz wider die Drut: Laistner, Das Rätsel der Sphinx, II, S. 208.
Es scheint also, als werde nicht so sehr von der Stellung und Richtung
des Schuhes, als vielmehr vom Schuh selbst eine sympathetische Einwirkung
auf die Mahr erwartet. Im bosnischen Say eland findet eine ähnliche Ver-
wendung des Schuhes gegen den Vampyrbesuch statt: Krauss im Globus,
61, S. 326.
Dortmund.
(Schluss folgt.)
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
Mitgeteilt von Anton Herrmann.
Zur Zusammenstellung des volkstümlichen Festkalenders, des Volks-
glauben-Breviarium bietet sich von selbst der feste Rahmen dar; ihn aus-
zufüllen ist unschwer und bequem. Als Disposition genügt ein Block-
kalender; auch der Laie kann die der Lektüre und der Erfahrung
abgewonnenen Daten an gehöriger Stelle eintragen. Ein solches Tagebuch
ist übersichtlich, leicht ergänzbar und vergleichbar, besonders wenn ein
genaues Sachregister hinzutritt.
Festbrauch und Volksglaube berühren sich fortwährend; an bestimmte
Tage gebundenes herkömmliches Thun und Meinen hat so manches
Sediment alten Kultes bewahrt. So auch besonders in Ungarn, mit dessen
Reichtum an Naturschätzen die Fülle der Volksüberlieferung wetteifert.
Und von dem vielen, das da noch lebt, ist der Gesamtforschung noch gar
wenig erschlossen. Infolge mannigfacher Berührungen und Wechsel-
wirkungen der verschiedenen mit ihren Verzweigungen in einander
greifenden Volksstämme heben sich die Umrisse der einzelnen Volks-
individualitäten weniger scharf ab, dagegen aber hat sich wohl manches
Entlehnte in der sekundären Form erhalten, was aus dem ursprünglichen
Zusammenhange verschwunden ist. Aber nur wenig sicherer Stoff ist
zugänglich gesammelt, noch weniger gesichtet.
Unter andern Sammlungen zur Ethnographie Ungarns habe ich be-
gonnen, Glauben und Brauch, sofern sie im Leben der heimischen Völker
an gewisse Tage gebunden sind, zusammenzustellen. Die erste Sammlung
enthält aus dem magyarischen Volksleben das auf Wochen- und Jahrestage
306
Herrmann :
bezügliche allgemeine, dann die speziellen Kalenderprognostika; hierauf
folgen die übrigen Völkerschaften. Wo leicht zugängliche Zusammen-
fassungen vorhanden, citiere ich zumeist diese, wenn sie auch nicht un-
bedingt verlässlich sind und wenn mir auch die unmittelbaren Quellen zu
Gebote stehen.
❖
Kalenderglaube der Magyaren.
A. Wochentage.
Am Montag soll man kein Geld ausgeben, sonst giebt man die ganze
Woche hindurch Geld aus. Erhält man aber an diesem Tage Geld, so
wird man solches die ganze Woche hindurch erhalten. Wenn an diesem
Tage zuerst ein Mann ins Haus kommt, so bedeutet dies Glück, ein Weib
aber Unglück für die ganze Woche. Wem am Montag ein Unglück be-
gegnet, der wird die ganze Woche hindurch von Unglück verfolgt sein,
besonders wird ihm am Freitag grosses Unglück zustossen (Yersényi,
S. 2).x) Am Montag geborene Kinder werden ihr Leben in schwerer, aber
erfolgreicher Arbeit zubringen, heisst es im Kalotaszeger Bezirk (Wlis-
locki, II, 67).2) An diesem Tage werden in den meisten Gegenden die
sog. „sirato" der Brautleute abgehalten. Am Montag der Hochzeitswoche
versammeln sich abends die Freundinnen der Braut, und bei Schmaus und
Scherz „beweinen" sie die Jungferschaft der Braut.3)
Am Dienstag (und auch am Freitag) darf man weder nähen noch
spinnen oder weben, denn entweder erkrankt jemand von der Familie,
oder irgend ein Haustier steht um. Am Dienstag zur Welt gekommene
Kinder, glaubt man im Kalotaszeger Bezirk, werden „grossartige" (geniale),
aber „nichtsnutzige" Menschen. Am Dienstag erzeugte Kinder gehören
dem Teufel; überhaupt jede an diesem Tage begonnene Arbeit hat, dem
Volksglauben dieser Gegend gemäss, Misserfolg (Wlislocki, II, 70). In
der Szegeder Gegend darf man an diesem Tage nicht waschen, sonst legen
die Hühner blutige Eier (Kálmány, Szeged népe = Sz.'s Yolk, I, 113).
Unfruchtbare Weiber fasten die neun auf Pfingsten folgenden Dienstage.
Der Dienstag ist in der Theissgegend der Nagyboldogasszony (lieben Frau,
hl. Maria als Geburtsgöttin4)) geweiht. Schwangere fasten ihr zu Ehren
1) Im Jahresprogramm der k. Staatsoberrealschule zu Körmöczbanya (Kremnitz) 1892.
2) Wlislocki, I: Aus dem Volksleben der Magyaren (München, Huttier 1892).
Wlislocki, II: Volksglaube und religiöser Brauch der Magyaren (Münster, Aschendorff,
1893).
3) S. Jankó J., Torda, Aranyos-szék, Toroczkó magyar (székely) népe = das magyar.
Yolk von T. A. T. (Budapest 1893, S. 208).
4) Siehe über diese Greburtsgöttin: Kálmány L., Boldogasszony Ösvallasunk istenas-
szonya = B. eine Göttin unserer Urreligion. (Budapest, Yerl. d. Akad. d. Wiss. 1885), und
Wlislocki, I, 152ff.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
307
siebeil Dienstage. An diesem Tage darf das schwangere Weib keine
schweren Arbeiten verrichten. Die Bruthennen ist gut, an einem Dienstage
zu setzen (Kálmány, Boldogasszony, S. 9). Niemand soll am Dienstage
Wäsche waschen, denn Unglück trifft den, der diese Wäsche anzieht.
Wer an Zahnweh leidet, der wasche sich am Dienstag nicht, damit seine
Schmerzen ein Ende nehmen; am Dienstag wird auch das kleine Kind
nicht gebadet, sondern nur mit einem Lappen befeuchtet, damit es keine
Kopfschmerzen bekomme (Kálmány, ebenda 10). Wer am Dienstag
wäscht, brüht der lieben Jungfrau die Hand ab. Eine Sage aus O-Szent-
Iván erzählt (Kálmány, 10): „Als die liebe Jungfrau hörte, dass man
Jesum gefangen habe, lief sie die Strasse entlang, und die W'eiber, gerade
waschend, gössen die Lauge aus. Wie sie nun lief, glitt sie aus. Da legte
sie auf jedes Weib, das am Dienstag wäscht, dass es den Blutsturz be-
kommen solle."
An einem Donnerstag oder Mittwoch in der ersten Aprilwoche soll
man die Bienen zum ersten Male im Jahre ausfliegen lassen; dann werden
sie fleissig, fett, munter (Wlislocki, I, 149).
Am Ereitag darf man keine Arbeit beginnen, denn sie misslingt
(Kálmány, I, 113; allgemeiner Glaube in Ungarn). Am Freitag ist es
nicht gut, Milch aus dem Hause zu geben; man giebt damit den Nutzen
der Kuh weg. Im Biliarer Coniitat glaubt man, dass ein am Freitag
gebackenes Brot bei Gelegenheit einer Feuersbrunst auf eine Stange ge-
spiesst, den Brand am W'eitergreifen hindere. Die am Freitag zur Brut
gesetzte Henne hat eine kleine Galle, d. h. sie wird ihre Küchlein nicht
tapfer genug verteidigen können. Rupft man die Gänse an diesem Tage,
so schmerzt es sie nur diese AVoche hindurch. Will man die Würmer
vom Yieh vertreiben, so beuge man einen gabelförmigen Zweig vom
Holunderstrauch zum Erdboden herab und scharre seine Spitze in die Erde
ein, so dass derselbe im Erdboden stecken bleibt. Kommt man zu dem
kranken Viehstück, so wird man bemerken, dass die Würmer schon zu
Boden gefallen sind. Oder man pulverisiere an diesem Tage das Kraut
„liunyortö", mische es mit etwas Blaustein und bestreue damit die wurmige
Stelle des Tieres. Ein anderes Mittel gegen Wurmer ist: Am Freitag oder
Sonntag soll man das betreffende Yieh in der Morgendämmerung, ohne
dabei ein Wort zu sprechen, aufwecken, hinausführen und auf dasselbe
Staub, den man dreimal vom Boden aufhebt, streuen. — Das Kartenauf-
schlagen ist am besten an einem Dienstage oder Freitag vorzunehmen
(allgemein verbreiteter Zigeunerglaube). Wenn dem neugeborenen Kinde
die Knie sich nach einwärts biegen, so soll die Mutter am Dienstag und
Freitag sich auf die Schwelle setzen und ausspeiend sprechen: „Pfui! pfui!
du Hundsfott, giebs zurück!" (d. h. das ausgetauschte Kind wird zurück-
verlangt). Hat jemand eine Eiterbeule, soll er sie an drei Freitagen mit
einem Geldstück bestreichen, dasselbe in einen Lappen einbinden und
Zeitscbr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 21
308
Herrmann :
wegwerfen; wer es aufhebt, der bekommt das Übel. Ist am Freitag Neu-
licht, so soll man nicht Wäsche sechteln, denn vor der Zeit zerreisst die-
selbe; die Haare aber soll man an einem solchen Freitag sich abschneiden
lassen, denn dann wachsen sie dicht und lang. Ein am Freitag gewaschenes
Hemd soll man nicht anziehen, denn die „schönen Frauen" (Zauberinnen)
verziehen einem den Mund, d. h. machen ihn schief oder krumm. Auch
ist es nicht gut, am Freitag ein Kleidungsstück zuzuschneiden, denn es
missrät, es wird zu lang (Yersényi, S. 5 ff.). Kinder, am Freitag oder
Dienstag erzeugt, gehören dem Teufel, heisst es im Kalotaszeger Bezirk.
In einigen Gegenden herrscht der Brauch, dass, wenn der Namenstag einer
Person auf einen Feitag fällt, dieselbe etwas von ihrem Blute und Speichel
auf einen Lappen eines ihrer abgetragenen Kleidungsstücke wischt und
diesen Lappen dann verbrennt. Es heisst, dass die betreffende Person
dadurch auch das ihr bis zu dem Tage, wo ihr Namenstag wieder auf einen
Freitag fällt, bevorstehende Unglück verbrenne. Im Südosten Siebenbürgens
ist es Brauch, bei solcher Gelegenheit solche Lappen vor Sonnenaufgang
an einen Baum zu hängen. Verschwindet dann der Lappen bis zum nächsten
Sonnenaufgang vom Baume, so verschwindet auch das bevorstehende Un-
glück, d. h. es trifft nicht ein (Wlislocki, I, S. 69, II, 70). Unglücklich
wird sein ganzes Leben lang dasjenige Kind sein, glaubt man im Kalota-
szeger Bezirk, das am Mittwoch oder Freitag zur Welt kommt, besonders
abends zwischen 7 und 9 Uhr. Wie das Wetter am Freitag, so wird es
O i
am Sonntag sein. Am Freitag kann man Schätze graben. Gegen Impotenz
soll man jeden Freitag vor Sonnenaufgang Canthariden, Hanfsamenblüten,
Hasenhoden in Eselsmilch gekocht, trinken und sprechen: „Herr Freitag
gieng in den Wald und traf dort die Frau Samstag. Er sprach: Lass' dich
umarmen! Frau Samstag stiess ihn von sich und sprach: Dürrer Ast bist
du, wenn du wieder grünst, komme zu mir! . . . Gieb mir die Kraft, Ast;
ich gebe dir die meine!" Dabei schlägt man sein Wasser an einen Baum
ab (Wlislocki, I, 137). Lernt ein Kind schwer gehen, so klopft man
ihm an drei Freitagen die Fussohlen und ruft: „Heute ist Freitag, morgen
ist Samstag, laufe Sonntag!"1)
Spinnt man am Samstag, so werfen die Hexen zum Rauchfangloch
Spindeln in die Stube herein. Wer an diesem Tage Linsen isst, der wird
am Sonntag schön sein. Am Samstage darf man kein Kleidungsstück zu-
schneiden, sonst stirbt die Person, der man das Kleid bereitet, es sei, dass
man das Kleid bis Mitternacht ganz fertig gemacht habe. In Czegléd
glaubt man, dass Augenkranke am Samstage reine Leibwäsche anziehen
und zur Hebamme gehen sollen, die ihnen das unzugeknöpfte Hemd am
Halse und ain Handgelenk mit einem roten Faden zubinden muss, damit
sie vom Augenübel befreit werden (Yersényi, S. 6). Wer um Mitternacht
1) S. die ungar. Zeitschr. „Ethnographia", II, 36.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
309
am Samstag geboren wird, der gelangt im Leben unverhofft zu grossem
Reichtum (Wlislocki, II, S. 67). In der Szegeder Gegend gilt der
Samstag für den Tag der Boldogasszony (= lieben Frau, hl. Maria). Wer
an diesem Tage reine Leibwäsche anzieht, der bleibt von Krankheit ver-
schont, besonders wenn er vorher sich bekreuzt; denn dann fleht für ihn
die liebe Jungfrau kniefällig zu ihrem hl. Sohn. An diesem Tage darf
man nicht spinnen, denn „am Samstag hat man den Strick geflochten, mit
dem man den hl. Sohn der lieben Jungfrau an die steinerne Säule ge-
bunden hat. Deshalb verfluchte sie jeden, der am Samstag spinnt." Vor
noch etwa zwanzig Jahren durfte man in der Ortschaft Szeged-Madarásztó
am Samstag in den Weinbergen nicht arbeiten. An diesem Tage muss
beim grössten Regenwetter die Sonne wenigstens einige Augenblicke lang
scheinen; nur an drei Samstagen im Jahre scheint sie nicht. Es heisst
im Volksglauben, dass an einem Samstage die hl. Maria dem Jesuskindlein
die Windeln wusch und zum Trocknen hinaushing. Als die Sonne nicht
schien, rief sie: „Scheine Sonne, scheine Sonne! Trockne dem kleinen
Jesus die Windeln!" (Kálmány, Boldogasszony, S. 25).
Am Sonntag soll man nicht nähen, spinnen oder weben, denn man
verrichtet diese Arbeiten für das Leichenkleid derjenigen Person, die man
am meisten liebt (Wlislocki, II, S. 70). Im Udvarhelyer Comitat sagt
man: nähe nicht am Sonntag, denn im jenseits sticht man mit der Nadel
deine Nase (Versényi, S. 6). Yiel Glück im Leben wird das Kind haben,
das an einem Donnerstag oder Sonntag kurz vor Sonnenaufgang geboren
wird (Wlislocki, II, 67).
B. Jahrestage.
Am Lucientage (13. Dez.) gehen die Hexen um. In vielen Ort-
schaften gehen die Hirten mit Trompeten herum, damit sie die Hexen
vertreiben. Zu demselben Zwecke giebt man dem Vieh Brot und Knob-
lauch zu fressen und bestreicht mit diesem Thür und Thor. Wenn man
von diesem Tage bis zu Weihnachten jeden Tag ein Spänchen von
einem blitzgetroffenen Baum in Fett legt und damit am Weihnachtsabend
heizt, so kommen die Hexen der Umgegend in den Rauchfang und flehen,
man solle mit dem Heizen aufhören. In der Gegend von Torna heisst es,
man solle mit solchem Holze in der Ohristnaclit im Yorhause ein Feuer
anmachen, und alle Hexen werden sich um dasselbe herum versammeln.
In derselben Gegend heisst es: man gehe um Mitternacht des Lucientages
hinaus auf einen Kreuzweg und halte dabei einen leeren Holznapf in der
Hand, dann nehmen einen die auf den Blocksberg (bei Budapest) auf
feurigem, von Drachen gezogenem Wagen hinfahrenden Hexen mit (Yer-
sényi, S. 8). In der Zeit vom Lucientage bis zu Weilmachten verfertigt
man den sog. Lucienstuhl *), ein stuhlförmiges Gestelle, auf das man sich
1) S. darüber Wlislocki, Volksglaube u. relig. Brauch d. Magyaren, S. 81, 82.
21*
310
Herrmann :
während der Messe in der Christnacht in der Kirche niedersetzt, um die
anwesenden Hexen sehen zu können. In manchen Gegenden verfertigen
die Maide den Lucienstuhl, um darauf sitzend, den zukünftigen Gatten
sehen zu können. Am Lucieutage darf man kein Brot backen, denn es
missrät; auch darf man nicht nähen, sonst bekommt man eitrige Finger,
und die Hühner legen nicht. Aus dem Hause an diesem Tage etwas aus-
zuleihen, ist nicht gut, denn Unglück trifft die Familie. In manchen
Gegenden wird kein Fremder an diesem Tage ins Haus eingelassen, denn
er nimmt das Glück mit sich; betritt er aber das Haus, so legt man eine
Axt auf die Thürschwelle und über dieselbe hinwegschreitend, darf er sich
entfernen (Orsog). Im Somogyer Comitat erlaubt man einem fremden
Manne, das Haus zu betreten, einem Weibe aber nicht. Geht an diesem
Tage ein Weib in die Mühle, so taucht es der Müller ins Wasser, damit
er im Jahr kein Unglück habe (Yersényi, S. 9) In der Umgegend von
Komorn glaubt man, dass ein männlicher Besuch an diesem Tage Glück
bringe. In den meisten Gegenden des Landes geht die Hausfrau an diesem
Tage zeitig in der Frühe zu ihren Hühnern und ruft, dieselben mit einer
Stange stochernd, ihnen zu: „Legt meine Hühner, brütet gut!" Damit die
Hühner im Jahre gut legen, stiehlt man an manchen Orten in der Frühe
Holzspäne und streut dieselben unter das Geflügel. Wem man die Späne
gestohlen hat, dessen Hühner werden gar schlecht legen (Yersényi, S. 10).
In der Szegeder Gegend stochert man die Hühner und streut ihnen viel
Hirse hin, damit sie ebenso viele Eier legen. Ebenda heisst es: Wer kein
Geflügel hat, der gehe zu seinem Nachbarn und stehle von der Yorderseite
des Hauses ein Wandstückchen, womit er dann seinen eigenen Herd be-
klebt; er wird nun viel Geflügel bekommen, während sein Nachbar keins
haben wird (Kálmány, I, 111). Yom Lucientag bis Weihnachten sind
12 Tage; wie das Wetter an diesen Tagen ist, so ist es auch in den
kommenden 12 Monaten. Hat das Brustbein einer zu dieser Zeit verzehrten
Gans schwarze Flecken, so wird der Winter regnerisch sein; ist es aber
rein und weiss, so ist ein schneereicher, strenger Winter zu erwarten (Er-
Keserü). Am Lucientage bäckt man in Hód-Mezo-Yásárhely für jedes
Familienglied einen Kuchen und steckt eine Feder hinein; verbrennt die
Feder im Backofen, so stirbt im folgenden Jahre das betreffende Familien-
glied. Kleidungsstücke, welche die Maid am Weihnachtstage anziehen will,
darf sie am Lucientage nicht anhaben, sonst bekommt sie keinen Mann.
In manchen Ortschaften stellt die Maid um Mitternacht dieses Tag-es einen
Napf voll Wasser ins Freie und erblickt darin verschiedene Zeichen
(Peitsche, Haue, Pflug u. s. w.), woraus sie auf die Beschäftigung ihres
zukünftigen Gatten schliessen kann (Yersényi, S. 10). Wenn die Maid
vom Lucientag bis zum Weihnachtsabend fastet und dann beim Abendessen
ihrem Vater oder ihrer Mutter ihr Haarband unbemerkt an den Stuhl
bindet, so kann sie auch die Beschäftigung ihres zukünftigen Gatten er-
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
311
fahren. Welche Beschäftigung Yater oder Mutter beim Abendessen zuerst
erwähnen, die wird der Zukünftige haben. Und wenn die Maid von diesem
Tage an bis zum Weihnachtsabend fastet und jeden Tag in ein und den-
selben Apfel hineinbeisst, ihn aber erst am Weihnachtsabend auf der Gasse
verzehrt, so wird ihr zukünftiger Gatte den Namen haben, welchen die-
jenige Person besitzt, von welcher die Maid während des Apfelessens
angesprochen wird. In manchen ungarischen Ortschaften isst die Maid
diesen Apfel bei ihrer Heimkehr yon der mitternächtlichen Christmette,
wobei sie auf das Dach ihrer Wohnung blickt; dort sieht sie dann allerlei,
woraus sie auf ihren zukünftigen Gatten schliessen kann. Ebenso kann
sie ihn erblicken, wenn sie vom Lucieutage an bis zum Weihnachtsabende
ein Geldstück im Schuhe ihres linken Fusses bei sich trägt und dann für
dasselbe eine Kerze kauft, die sie während der Mitternachtsmesse anzündet.
Beim Schein dieser Kerze erblickt sie dann ihren zukünftigen Gatten. In
der Szegeder Gegend beginnt die Maid am Lucientage eine Peitsche zu
flechten, an der sie jeden Tag bis zur Christnachtsmesse ein Stückchen
flicht. Zur Mitternachtsmesse nimmt sie die fertige Peitsche mit, und
welchen Burschen sie mit derselben berührt, der muss sie heiraten (Kál-
mány, II, 107).
Am Weihnachtsabend soll man sich bei Tisch nicht auf den Ellbogen
stützen, denn man bekommt davon eitrige Geschwüre am Leibe (Öden
burger Gegend). An vielen Orten werden die Uberreste des Weihnachts-
abendessens gesammelt, um bei Gelegenheit gichtleidende Menschen und
kranke Tiere damit zu räuchern; ebenso brennen beim Abendessen drei
Kerzen, von denen man eine verwahrt, um damit die Brust hustender
Leute einzureiben. Speiseabfälle des Weihnachtstisches wirft man im
Kalotaszeger Bezirk ins Feuer, sonst machen die Hexen daraus allerlei
Zaubermittel; oder man knetet aus diesen Abfällen eine Menschengestalt
und wirft dieselbe mit den Worten: „Esset schöne Frauen!" (= Hexen,
böse Feen) in den Backofen; die Knochen werden ins Herdfeuer geworfen
und aus der Farbe und den Rissen, welche dieselben in der Glut erhalten,
wird auf kommendes Glück oder Unglück geschlossen. In den beiden
katholischen Gemeinden dieses Bezirkes heisst es, dass wer zu Weihnacht
einen Apfel oder eine Nuss von der Erde aufhebt, eitrige Wunden am
Leibe bekommt; wirft man aber beim mitternächtlichem Geläute Äpfel
und Misse über den Hofraum, so bewahrt man dadurch sein Haus vor
Krankheit (Wlislocki, II, 82, 84). In vielen Gegenden wirft man die
Speisereste des Weihnachtstisches in den Brunnen, damit er stets frisches
Wasser habe (Ipolyi, Magyar Mythologia — magyar. Mythologie, 'S.. 206).
Verzehrt man am Weihnachtsabend, eine Suppe aus Hagebutten bereitet,
so hat man das ganze Jahr hindurch keine Zahnschmerzen. In vielen
Ortschaften isst an diesem Abend jedes Familienglied je eine Nuss und
füllt die Schale d erselben dann mit Wasser; aus wessen Schale das Wasser
312
Herrmann :
bis zum nächsten Morgen vertrocknet ist, der stirbt in dem Jahre. Legt
man auf die Thürschwelle eines Hauses kreuzweis zwei Besen und bleiben
dieselben in der Zeit von 11—1 Uhr nachts unbemerkt an diesem Orte
liegen, so stirbt im Jahre jemand aus diesem Hause. Wer zu Weihnachten
hustet, der stirbt an der Schwindsucht, und wer zu Weihnachten geboren
wird, der lebt so wie Christus, nur 33 Jahre. Findet man zu dieser Zeit
ein Geldstück, so soll man dies ins Feuer werfen, dann wird man das
ganze Jahr hindurch Geld haben. Am Weihnachtsabend soll man nichts
verkaufen, sonst verkauft man sein Glück. Ist die am Christabend zuerst
aufgebrochene Nuss trocken, so ist ein reichliches Jahr zu erwarten. In
Szatmár sagt man, dass, wenn am Weihnachtsvortag schönes Wetter ist,
man um Mitternacht nachsehen solle: auf welcher Seite die Rinder liegen.
Findet man sie auf der linken Seite liegend, so steht ein strenger Winter
bevor. Wenn am zweiten Weihnachtstage nachmittags die Bäume von der
Sonne beschienen werden, so werden sie viele Früchte tragen; ebenso,
wenn zu Weihnachten der Wind anhaltend bläst. In vielen Ortschaften
werden am Weihnachtsabend die Obstbäume geschüttelt oder mit dem
Wasser begossen, in welchem man die aus Mehl und Mohn bereitete Fest-
speise gekocht hat, damit sie reichlich tragen sollen. Auch werden vielerorts
die Aussaatfrüchte für diese Nacht unter den Tisch gestellt, damit sie im
Lenze ausgesät, gut gedeihen sollen. In einigen Gemeinden des Kalota-
szeger Bezirks legt man für diese Nacht einen Korb voll Heu unter den
Tisch. Unter das Heu werden verschiedene Aussaatfrüchte gelegt. Es
heisst, in der Nacht komme das Christkindlein, raste auf einige Augenblicke
im Korbe und segne den Inhalt desselben. Yon diesem Heu gedeiht das
Vieh, vom Getreide das Geflügel. Ein Teil dieser Früchte wird ins Herd-
feuer geworfen, ein Teil unter die zur Aussaat bestimmten Feldfrüchte
gemengt (Wlislocki, II, S. 82). In der Theissgegend hängt man Lappen
an die Obstbäume, damit sie viele Früchte tragen (Kálmány).1) Donnert
es zu Weihnachten, so ist Pest, Cholera, Überschwemmung zu erwarten.
In vielen Gegenden werden unter das Tuch des Festtisches Knoblauch und
Brosamen gelegt, die nach Ablauf der Weihnachten in einen Fetzen ge-
bunden und unter den Querbalken der Stube gesteckt werden, damit das
Geflügel nicht behext werden könne. Ist der Himmel in der Weihnachts-
nacht nicht sternbedeckt, so brüten die Gänse im Jahre schlecht. Im
Eipelthal rührt sich während des Festabendessens die Hausfrau nicht von
ihrem Platze, damit ihre Hühner gut brüten sollen. Im Kalotaszeger
Bezirk schneidet am Weihnachtsabend die Hausfrau einen Espenzweig vom
Baume, lässt das eine Ende desselben im Feuer verkohlen und berührt
mit diesem Stabe ihre Hühner, damit sie gut legen sollen; den Stab wirft
1) Bolclogasszony ösvalMsunk istenasszonya = Die selige Frau, eine Göttin unserer
Urreligion, S. lc.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
313
sie in fliessendes Wasser (Wlislocki, II, 83). In der Szegeder Gegend
isst man am Weihnachtsabend Krem, Knoblauch, Äpfel und Nüsse; die
letzten drei Sorten essen je zwei Menschen gemeinsam miteinander, indem
sie dabei glauben, dass, wenn sich der eine oder andere irgendwo verirrt,
er den richtigen Weg sofort finde, wenn er sich daran zurückerinnern
kann, mit wem er diese Früchte am letzten Weihnachtsabend verzehrt hat
(Kálmány, I, 112). In Südungarn wird neun Tage vor Weihnachten
Getreide in einen mit Erde gefüllten Topf gesät und ans dem Keimen
und der Höhe desselben am Weihnachtstage der Erntesegen des kommenden
Jahres prophezeit; den Napf wirft man samt dem Getreide ins fliessende
Wasser, damit die Eeldfrüchte durch „Hagel und Wasser" nicht vernichtet
werden. In eben diesen Gegenden wird am Weihnachtsabend ein Topf
mit Feldfrüchten und Honig oder Zucker übers Feuer gesetzt und abgekocht.
Der Topf bleibt über Nacht am Feuer. In katholischen Ortschaften trägt
man zur Mitternachtsmesse ein Fläschchen Wasser in die Kirche, das man
bei der Heimkehr in den Topf giesst. Ist in der Frühe der Brei auf-
gequollen, so wird die Familie im selben Jahre Glück haben; hat er Risse
und Sprünge, so steht Unglück bevor. Yon diesem Brei muss jedes
Familienglied essen, damit es im Jahre vor Krankheit bewahrt bleibe1)
(Wlislocki, II, 83). In vielen Ortschaften legen die Hirten in ein Gefäss
Hafer, Salz und allerlei Kräuter, stellen es am Weihnachtsabend unter den
Tisch und verbinden die vier Ftisse des letzteren mit einer Kette; dies
geschieht, damit sich im Sommer kein Tier von der Herde verlaufe. In
manchen Gegenden wird am Weihnachtsabend ein grosser Holzklotz aufs
Feuer gelegt, dessen Asche man am nächsten Tage sammelt, um damit im
Sommer die Kohlsetzlinge zu bestreuen und sie dadurch vor den Raupen
zu schützen. Auch glaubt man, wenn die Rosse in der Weihnachtsnacht
oft wiehern, werde die Ernte auf dem Felde reichlich ausfallen, das man
mit diesen Rossen pflügt. Im Nordwesten Siebenbürgens werden am
Weihnachtsabend Haare vom Haushunde zu Pulver verbrannt und in den
Brunnen geworfen, wobei der Betreffende spricht: „Wenn Wasser meiner
Aussaat keinen Schaden zufügt, so soll selbst mein Hund fett werden!
So helfe mir Gott!" An manchen Orten verbrennt der Hausvater an diesem
Abend Geflügelfedern und spricht: „Wenn mich kein Feuerschaden trifft,
so teile ich mein Brot mit meinem Kleinvieh (= Geflügel) !" (Wlislocki,
II, 82). In vielen Gegenden wird die Stube zu Weihnachten nicht gekehrt,
„damit man das Glück nicht auskehre." In der Gegend von Torna glaubt
man, dass man den Gesang der Engel hören könne, wenn man den Kehricht
der Stube während des mitternächtlichen Geläutes hinausträgt und sich
auf den zu Boden geworfenen Besen stellt (Yersényi, S. 16). In manchen
1) Ähnlicher Branch bei den Südslaven s. F. S. Krauss, Volksglaube und religiöser
Brauch der Südslaven, S. 1G5.
314
Herrmann:
Ortschaften zerschneidet der Hausvater einen Apfel in so viele Teile, als
Familienglieder vorhanden sind, und giebt jedem einen Teil davon, damit
sie im Jahre in Einigkeit miteinander leben. Wenn die Hirten zu Weih-
nachten um Mitternacht sich auf den Lucienstuhl setzen und mit der
Peitsche knallen, so verwandeln sich die Hexen in Kühe, die sie dann
vor sich hertreiben können (Sátorallya-Ujhely). In Mittelungarn verfertigt
man sich in der Weihnachtsnacht aus Espenholz den sogenannten czolonk
(Keil), den man bei gefährlichen Unternehmungen am blossen Leibe bei
sich trägt, um gegen Hexen und Teufel gefeit zu sein (Wlislocki, II,
83). Wer einen voraussichtlich unerfüllbaren WTunsch hat, der gehe in
dieser Nacht um 12 Uhr auf einen Kreuzweg und ziehe um sich herum
mit einer Haselrute einen Kreis. Bald werden die Teufel in verschiedenen
Schreckgestalten erscheinen und ihn aus dem Kreise zu vertreiben suchen.
Weicht er aber nicht, so erscheint eine weisse Gestalt und fragt ihm nach
seinem Begehren, das er dieser Gestalt mitteilt und dann auf die Erfüllung
desselben sicher rechnen kann. Streut man Erbsen am Weihnachtsabend
auf den Fussboden und findet dieselben am nächsten Morgen nicht vor,
so haben sie die Hexen aufgesammelt, vor denen man sich nun das ganze
Jahr hindurch nicht zu fürchten braucht. In vielen Ortschaften steckt man
an diesem Abend Erbsen in die vier Ecken der Stube, damit man das
Jahr hindurch stets Lebensmittel habe. In Kúnosvágás wickelten an diesem
Abende die Maide einmal einen Hund in Windeln ein und tauften ihn in
der Kapelle. Seither gehen dort allnächtlich Gespenster, einen Taufzug
bildend, um (Yersényi, S. 16). Geht man zur Mitternachtsmesse, so ist
es gut, die Hausthiire vorher mit Knoblauch einzureiben, damit die Ge-
spenster nicht unterdessen ins Haus einkehren. In der Zeit zwischen 11
und 12 Uhr darf man in der Weihnacht nicht in die Kirche gehen,
denn dann halten die Toten Gottesdienst. Ging einmal eine Frau um
11 Uhr in die Kirche und sah daselbst nur Leute, die längst verstorben
waren. Erschrocken entfernte sie sich, aber die Toten folgten ihr nach.
Da flüsterte ihr ihr Schutzengel zu, sie möge ihr Oberkleid abwerfen. Sie
that es. Als die Leute nun zur mitternächtigen Messe kamen, fanden sie
das Kleid in winzig kleine Stücke zerfetzt (Yersényi, S. 16). In der
Christnacht sprechen die Tiere miteinander. In Felsotóti schlief ein Knecht
in dieser Nacht im Stalle und hörte die Kühe miteinander sprechen. Die
eine Kuh sagte: „Morgen wird unser Herr am ersten Bissen Kraut sterben."
Am nächsten Tage schlug bei Tische der Knecht seinem Herrn die Gabel
aus der Hand, als er dieselbe zum Munde führen wollte, und richtig war
da ein spitzer Knochen im Kraut, an dem der Herr unbedingt hätte er-
sticken müssen (Yersényi, S. 17). In manchen Gegenden brennt die
ganze Nacht hindurch in der Stube eine Lampe, damit die hl. Maria
komme und Glück bringe. — Der 28. Dezember heisst magyarisch: apró-
szentek (kleine Heilige). An diesem Tage gehen die Kinder von Haus
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
315
zu Hans und versetzen den Leuten mit Ruten einige Streiche, damit sie
im Jahre keinen Hautausschlag bekommen. Die Kinder werden dafür
beschenkt. Ein Kalb, das an diesem Tage zur Welt kommt, kann nicht
auferzogen werden. In katholischen Gemeinden wird in der Adventzeit
ein- bis zweimal wöchentlich Frühmesse gelesen» Arom ersten solchen
Frühgottesdienst angefangen soll die Maid jedesmal beim Einläuten ein
Holzspänchen bei Seite legen. Während des Einläutens zum letzten dieser
Gottesdienste mache sie mit diesen Spänchen ein Feuer an und bereite
aus zwei Eiern eine Eierspeise; wer dann hereinkommt und diese Speise
verzehrt, der wird ihr Gatte (Yersényi, S. 11). Während zur Mitter-
nachtsmesse geläutet wird, geht die Maid zur Hühnersteige und rüttelt
daran; schreit der Hahn, so bekommt sie im Laufe des Jahres einen Mann.
Oder sie klopft an den Schweinestall, und wenn dann ein erwachsenes
Schwein grunzt, so wird sie von einem Witwer geheiratet; grunzt aber ein
Ferkel, so heiratet sie ein Bursche. In manchen Ortschaften schreibt die
Maid auf einzelne Zettel je einen Männernamen und zieht dann während
der Mitternachtsmesse einen Zettel in der Kirche hervor; den Namen, der
auf dem Zettel steht, wird ihr Gatte haben. Oder sie trägt zu dieser
Messe einen Apfel in die Kirche, beisst dort in denselben und dann, sich
nach rückwärts kehrend, wird sie ihren zukünftigen Gatten unmittelbar
hinter sich. erblicken. Wenn die Maid in der Weihnacht Nussschalen
mit Brosamen vom Festtisch gefüllt auf den Tisch stellt und sich wäscht
aber nicht abwischt, so kommt im Traume ihr künftiger Gatte zu ihr und
trocknet ihr Gesicht ab. In manchen Ortschaften kehrt die Maid an diesem
Abende den Kehricht in die vier Ecken der Stube, geht dann auf die
Strasse und horcht, von welcher Gegend aus sie einen Laut vernimmt; in
die Gegend wird sie heiraten. In der Szegeder Gegend , gehen die Maide
zur Mitternachtsmesse und werfen Mohnnudeln in den Weihwasserbehälter,
damit sie so viel Freier haben sollen, als da Mohnkörner vorhanden sind;
in manchen Ortschaften greift die Maid bei der Rückkehr auf den Boden
des Weihwasserbehälters und wie viele Nudeln sie ergreift, so viele Freier
wird sie im Fasching haben. In derselben Gegend kehrt die Maid nach
ihrer Heimkehr von der Mitternachtsmesse die Stube und streut den
Kehricht im Freien gen Osten hin, dann pfeift sie dem Haushund, und
von welcher Richtung her sie Hundegebell hört, in die Richtung hin wird
sie heiraten. Ebenda ist es Brauch, dass die Maid in der Christnacht zum
Schweinestall sich begiebt und ein Schwein mit ihrem Fusse stösst; wie
viel Mal das Schwein grunzt, so viel Jahre muss sie bis zu ihrer Yer-
ehelichung warten. Will der Bursche in der Szegeder Gegend seine
zukünftige Gattin im Traume sehen, so legt er in dieser Nacht den Fuss-
Wappen von seinem linken Fusse unter sein Kopfpolster (Kálmány, I, 112).
Wer sich in der Christ- oder Neujahrsnacht zu mitternächtlicher Stunde
auf einem Kreuzwege oder Berge auf die Erde horchend hinlegt, der kann
316
Herrmann :
die Zukunft erfahren; die. Maid erfährt den Namen ihres zukünftigen
Gatten (Ipolyi, 212). In vielen Gegenden macht die Maid in der Christ-
nacht mit drei Holzstückchen im Backofen ein Feuer. Ist dasselbe ab-
gebrannt, so kriecht sie nackt in den Backofen hinein ; dort dreht sie sich
mit dem Rücken nach auswärts und dann, auf dem Rücken liegend, kriecht
sie langsam aus dem Backofen heraus. Wenn nun ihre Fiisse noch im
Ofen sind, so legt sie ihr Haupt auf die Erde vor dem Backofen nieder
und merkt sich die Stelle, wo ihr Kopf gelegen ist. Dann kleidet sie sich
an und legt sich zum Schlafen auf diese Stelle nieder, und im Traume
wird sie ihren zukünftigen Gatten sehen. Die Maid soll Mehl und Honig
stehlen, daraus einen Kuchen backen, denselben in dieser Nacht bei sich
im Bette halten und dann dem Geliebten zu essen geben. Er wird nimmer
von ihr lassen. Oder sie mische in das Getränk des Geliebten zu Staub
gebrannte Haare ihres Kopfes oder werfe in der Christnacht ungesehen
ihre eigene ausgegrabene Fussspur in den Hof des Geliebten, und er wird
von ihr nimmer lassen können (Wlislocki, I, 34). In Torna holt sich
die Maid während der Mitternachtsmesse geweihtes Wasser aus der Kirche
und macht damit einen Teig an. Im Traume erscheint ihr zukünftiger
Gatte und fordert sie auf, den Teig zu kneten. Ebenda läuft die Maid
mit dem ersten Festkuchen, den man aus dem Backofen zieht, auf die
Strasse und fragt den ihr zuerst begegnenden Mann nach seinem Namen.
So wird auch ihr zukünftiger Gatte heissen. In manchen Ortschaften tliut
dies die Maid (aber ohne Kuchen) während der Mitternachtsmesse.
Am Silvesterabend wirft der Familienvater in Anwesenheit der
ganzen Familie 6 Nüsse in ein Gefäss; dann bricht er eine derselben auf;
ist ihr Kern gut, so hat die Familie Glück im Jahre, ist er aber un-
geniessbar, so trifft sie Unglück; ist auch der Kern der zweiten Nuss
schlecht, so stirbt im Jahre ein entfernter Yerwandter; sind alle 6 Nüsse
schlecht, so stirbt im Jahre die ganze Familie aus. Am Abend lehnt man
an eine Mauer oder Zaun so viele Holzstücke, als Familienglieder sind;
wessen Holzstück am nächsten Morgen umgefallen ist, der stirbt im nächsten
Jahre. Im Szilágyer Comitat legt man in dieser Nacht einen Kuchen und
eine Hand voll Heu auf den Tisch, damit im Jahre Tier und Mensch
gedeihe. Im Kalotaszeger Volksglauben lieisst es: In der Neujahrsnacht
lege man Salz, Pfeffer und Knoblauch in einen Napf und vergrabe den-
selben neben dem Hause, dann wird man Glück haben, und will man sich
das Glück einer andern Person aneignen, so stehle man in dieser Nacht
von ihrem Düngerhaufen Mist, lege ihn hin auf den eigenen Düngerhaufen
und klopfe ihn dann siebenmal mit einem Stabe (Wlislocki, II, 84).
Wer mit dem Teufel in einem Bündnisse steht, muss ihm an diesem Ta°e,
7 O "
am Oster-, Johannis- und Michaelistage einen schwarzen Hahn oder Ziegen-
bock opfern, indem er diese Tiere erwürgt und in die Erde einscharrt
(s. Ipolyi, Magyar mythologia = magyar. Mythologie, S. 54). lin Székler-
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
317
lande lieisst es: Man soll in dieser Nacht einen ganz schwarzen Kater in
einen Sack stecken und damit, dreimal nach rückwärts schreitend, um
einen Berg herumgehen und dreimal rufen: i5Csoda, esoda, esoda!" Dann
erscheint dieser Berggeist und fragt, was man zu verkaufen habe. Man
schleudert ihm nun den Sack hin, den er öffnet und den Kater zu sich
nimmt. Er füllt nun den Sack dafür mit Geld (Wlislocki, I, 19). In
dieser Nacht soll man sich vom linken Daumen und von der linken Fuss-
zehe die Nägel abschneiden und auf einen Berg werfen. Findet sie dieser
Berggeist, so wird des betreffenden Menschen Fuss im Jahre zu Schätzen
Eingeleitet. Haselruten, mit denen die Schatzgräber Schätze suchen,
Verden auch in dieser Nacht geschnitten (s. Wlislocki, I, 88). In Deés
bedeckt man an diesem Abende die Herdglut mit Asche; findet sich darin
am nächsten Morgen noch eine glühende Kohle vor, so bedeutet dies Glück.
Wer um 12 Uhr nachts, ein Geldstück in der Hand haltend, vom Tische
Eerabspringt, der wird das ganze Jahr hindurch Geld haben, und wer in
dieser Nacht ein vierblätteriges Kleeblatt unter sein Kopfpolster legt, der
träumt das, was im Jahre in Erfüllung geht. Wen man um 1*2 Uhr mittags
tadelt oder schlägt, der bleibt davon das ganze Jahr hindurch verschont,
Und wer sich zu dieser Zeit wäscht, bleibt das Jahr hindurch rein und
gesund. Schneidet die Maid am Sylvesterabende etwas von ihren Haaren
so wachsen dieselben im Jahre zwölfmal so lang. Wer an diesem
Abende lange den Mond betrachtet, wird bleich wie der Mond, und wer
seinen Stern am Himmel zufällig erblickt, der stirbt im Jahre. Gegen
den Ausschlag werden Kinder mit gestohlenem Mehl bestreut und in einen
mit in dieser Nacht gestohlenem Holze geheizten Backofen, wenn derselbe
abgekühlt ist, gesteckt (Wlislocki, I, 128). Am Sylvestermorgen schlägt
man die Kühe mit der Hute, die man vom Hirten zu Weihnachten erhalten,
damit sie reichlich Milch geben; die Obstbäume aber werden geschüttelt,
damit sie reichlich Früchte tragen. Fällt dieser Tag auf einen Freitag,
so ist ein schlechtes Jahr zu erwarten (Versényi, S. 20). Im Szilágyer
Ooniitat glaubt man, dass, wenn an diesem Tage der Wind von Osten nach
Westen bläst, ein erntereiches Jahr zu erwarten ist. — Um Mitternacht
entkleidet sich die Maid und blickt im dunklen Zimmer in ein wasser-
§'efülltes Gefäss; darin sieht sie ihren zukünftigen Gatten. In Dees ver-
sammeln sich die Maide an diesem Abende, und jede legt eine Speckgriebe
auf die Thürschwelle; deren Speckgriebe die Katze zuerst frisst, die
heiratet auch vor allen anderen. In Zilali deckt um Mitternacht die Maid
.den Tisch für zwei Personen, läuft dann nackt neunmal ums Haus herum
Und guckt dann zum Schlüsselloch in die Stube hinein; am Tische wird
sie ihren zukünftigen Gatten sitzen sehen. In anderen Ortschaften nehmen
die Maide 9 Spänchen und binden an jeden Span eine Kohle und etwas
Salz ; dann lassen sie diese Späne auf dem Bache schwimmen, nachdem
sie jedem derselben einen Namen gegeben; welcher Span nicht fortschwimmt,
318
Herrmann :
dessen Namenträger heiratet die Maid. Geht sie in der Sylvesternacht mit
einem Manne ins Freie, so hört sie den Namen ihres zukünftigen Gatten
rufen. Das weitverbreitete Bleigiessen ist auch in Ungarn allgemein be-
kannt. In vielen Gegenden trägt die Maid am Sylvesterabend dreimal
einen Arm voll Holz in die Stube; sind die Holzstücke der Anzahl nach
paar, so heiratet sie in dem Jahre. Oder sie wirft einen ihrer Schuhe
nach rückwärts der Thüre zu; ist dann derselbe mit der Spitze der Tliüre
zugekehrt, so heiratet sie im Jahre. In manchen Ortschaften versammeln
sich an diesem Abende einige Maide, und jede stellt einen ihrer Schuhe
der Reihe nach auf, vom Fenster zur Thüre hin; dann wird der erste
Schuh neben den letzten gestellt, der zweite neben diesen (nun letzten)
u. s. w. Die Maid, deren Schuh zuerst zur Thüre gelangt, die heiratet vor
allen anderen. Oder es werfen die Maide weichgekochte Erbsen an die
Wand; deren Erbse kleben bleibt, die heiratet im Jahre (Yerséiiyi, S. 11).
Will die Maid den Namen ihres zukünftigen Gatten erfahren, so schält sie
an diesem Abend einen Apfel, wirft die ein Ganzes bildende Schale über
ihren Kopf hinweg auf den Boden und schliesst aus der Form derselben
auf den Namen; oder sie schneidet aus Papier einen achtzackigen Stern
und schreibt auf jeden Zacken einen Männernamen, einen Zacken aber
lässt sie unbeschrieben. In der Frühe erwachend reisst sie mit geschlossenen
Augen einen Zacken ab, und den Namen wird ihr Gatte haben; reisst sie
den unbeschriebenen Zacken ab, so heiratet sie in dem Jahre nicht. Oder
sie schreibt auf mehrere Zettel je einen Männernamen, wickelt sie in eine
Männerhose und legt sie so unter ihr Kopfpolster. In der Nacht erwachend
zieht sie einen Zettel hervor, und den darauf befindlichen Namen wird ihr
Gatte haben. In der Szegeder Gegend kocht an diesem Abend die Maid
Mehlknödel, in welchen sich je ein auf Papier geschriebener Männername
eingeknetet befindet. Den während des Siedens zuerst auf der Oberfläche
des Wassers erscheinenden Knödel nimmt sie heraus und sieht nach,
welchen Namen er enthält. Den Namen wird ihr zukünftiger Gatte haben
(Kálmány, I, 112). Im Traume erblickt die Maid ihren künftigen Gatten,
wenn sie an diesem Abende Fische isst, ohne darauf etwas zu trinken.
Stellt sie sich um Mitternacht, in jeder Hand eine brennende Kerze haltend,
vor den Spiegel und blickt dann hinter sich, so sieht sie den zukünftigen
Gatten.
Begegnet man am Neujahrstage zuerst einem Juden, so bedeutet
dies Glück; der Angang einer Frau aber zeigt Unglück an, ebenso
wenn ein alter Mann an diesem Tage als erster Besuch ins Haus tritt.
Kommt an diesem Tage aber ein Zigeuner zuerst ins Haus, so bedeutet
dies Glück. *) Sieht eine Schwangere an diesem Tage zuerst ein Weib,
so wird sie ein Mädchen gebären.2) Tritt an diesem Tage zuerst ein
1) Jankó, Torda, Aranyosszék, Torockó magyar (székely népe), S. 225.
2) Ebenda, S. 248.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn. 319
Knabe ins Haus, so bekommt die Kuli ein Stierkalb, der Eintritt eines
Mädchens aber zeigt ein Kuhkalb an. Wer am Neujahrsmorgen niest, der
stirbt in dem Jahre nicht. Yon welchem Lebensalter der erste Tote im
Jahre ist, aus dem Lebensalter sterben die meisten Leute im Jahre. Wer
am Neujahrstage Geld hat, der wird solches das ganze Jahr hindurch
haben. Am Neujahrstage darf man kein Sauerkraut kochen, sonst wird
einem das ganze Jahr „sauer". Im Szilágyer Comitat dagegen heisst es,
dass wer an diesem Tage viel Sauerkraut isst, im Jahre stets viel Geld
haben wird. In vielen Gegenden giebt man an diesem Tage nichts aus
dem Hause, weil man sonst auch das Glück damit fortgiebt.x) Trägt man
Kohlen aus einem Haus ins andere, so brennt das letztere ab. Ist das
Wetter zu Neujahr heiter und klar, so kann man auf viele Fische, Wein
ünd Obst rechnen. In Szatmár legt man an diesem Tage einen Reif auf
die Erde und schüttet in dessen Kreis das Futter für die Hühner, damit
sie alle das Jahr hindurch an einen Ort legen. Im Kalotaszeger Bezirk
gehen die Maide in der Dämmerung zum Dorfbrunnen, um „goldenes"
Wasser zu holen; die zuerst schöpft, wirft Spreu in den Brunnen, damit
die anderen kein goldenes Wasser bekommen. Wer sich mit diesem
Wasser wäscht, wird schön.2) In derselben Gegend fegt man an diesem
l'age die Stube so, dass man den Kehricht von der Thür in das Zimmer
zu kehrt und nicht gegen die Thür, weil man sonst auch das Glück hin-
auskehrt. Ebenda glaubt man, dass man das im neuen Jahre bevorstehende
Unglück wenigstens etwas „leichter" machen kann, wenn man am Neu-
jahrstage mit einem neuen Messer ein Kreuz auf den Herd ritzt, darauf
ein Glas Wasser stellt und drei glühende Kohlen nach einander hineinwirft.
Zuerst legt man die erste Kohle neben das Glas, macht ein Kreuz in der
Luft über sie, bedeckt sie dann mit der Handfläche und spricht: „Kommt
das Unglück vom Schwarzen, so falle es auf das Schwarze!" Dann wirft
ttian die Kohle ins Wasser, worauf man die zweite Kohle nimmt und des-
gleichen thut, dabei aber sagt: „Wenn vom Blauen, so falle es auf das
Blaue!" Bei der dritten Kohle sagt man: „Wenn vom Gelben, so falle
es auf das Gelbe." Dann nimmt man das Glas und giesst den Inhalt
desselben, auf der Schwelle der Eingangsthür stehend, mit geschlossenen
Augen zum Teil aus der Stube, zum Teil in die Stube, zum Teil aber
auf die Schwelle. Befinden sich mehr Kohlen ausserhalb der Stube, als
111 derselben oder auf der Schwelle, so hat man das im kommenden Jahre
bevorstehende Unglück teilweise zum Guten gewendet (Wlislocki, II, 85).
der Szegeder Gegend heisst es: An diesem Tage soll man kein Ge-
flügel essen, denn das scharrt nach rückwärts, und so wird auch das Glück
^ach rückwärts gescharrt; man soll Spanferkel essen, denn das Schwein
1) Jankó, Kalotaszeg magyar népe (-K.'s ungar. Yolk), S. 212.
2) Jankó, Torda, Aranyosszék, Torockó magyar népe S. 225.
320
Herrra ann :
wühlt nach vorwärts und so wird dann das Glück nach vorwärts gewühlt.
In derselben Gegend giebt man an diesem Tage kein Geld aus, weil man
sonst solches das ganze Jahr hindurch ausgeben muss Ebenda heisst es,
dass man an diesem Tage zeitig aufstehen und sich gut aufführen soll,
damit man das ganze Jahr hindurch fleissig und brav sei (Kálmány, 1,
S. HO).
Am heiligen Dreikönigstage segnet in katholischen Ortschaften der
Geistliche jedes Haus ein, wobei der Tisch mit einem weissen Tuch be-
deckt und darauf eine brennende Kerze gestellt wird. Nach der Einsegnung
setzt sich der Pfarrer auf einige Augenblicke nieder und wird dann von
der Hausfrau mit der brennenden Kerze bis zum Nachbarhaus begleitet.
Welche von den Maiden sich nun am schnellsten ins Tischtuch einhüllt
oder sich auf den Stuhl, wo der Pfarrer gesessen, niederlassen kann, die
heiratet im Jahre. Während des Einsegnens der Stube stellt man in der
Theissgegend ein Gefäss mit Weizen auf den Tisch und legt einen Apfel
auf den Weizen oder Federn. Dann wird der Pfarrer zum Niedersitzen
gezwungen, damit „sich das Geflügel vermehre" (Kálmány, Boldogasz-
szony, 27). In vielen Ortschaften nimmt während der Einsegnung ein
Familienglied eine glühende Kohle in die blosse Hand und schüttelt sie
so lange herum, bis sie erlischt; dann werden mit dieser Kohle Kreuze an
die Thüren gezeichnet, um dadurch die bösen Geister fernzuhalten. Auch
ist es gut, an diesem Tage mit Knoblauch an die Stallthüren die Buch-
staben C, M, B (Caspar, Melchior, Balthasar) zu schreiben. Wer an diesem
Tage mit geweihter Kreide in der Kirche einen Kreis auf der Erde um
sich herum zieht, der kann die Hexen sehen, ohne dass sie ihn schädigen.
In vielen Ortschaften machen sich die Maide aus Federn einer noch nie
gerupften Gans ein winzig kleines Polsterchen, schreiben mit Kohle darauf
den Namen eines Königs und legen es unter ihr Kopfpolster. Im Traume
erscheint ihnen der betreifende König, und was er dann mitteilt, das alles
geht in Erfüllung. Tropft es an diesem Tage vom Dache, so soll man
mit dem Viehfutter sparsam umgehen, denn der Lenz ist noch weit.1)
Ist am Yincentiustage (22. Januar) das Wetter sonnig, so heisst es
im Magyarischen:
Fénylik a Vincze,
Megtelik a pincze!
(Es glänzt Yincentius,
Es füllt sich der Keller.)
oder :
Ha megcsordul Vincze,
Tele lesz a pincze.
(Wenn Vincentius übertrieft,
Wird der Keller voll.)
1) J anko, Torda u. s. w., S. 225.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
321
Vom Paulustage (25. Januar) heisst es magyarisch:
Ha Pài fordid köddel,
Ember meghal döggel.
Wendet sich Paul mit Nebel,
Sterben die Menschen an Epidemien. ')
An diesem Tage kommt der Bär aus seiner Höhle hervor, und wenn die
Sonne scheint, und er seinen Schatten erblickt, so kehrt er in die Höhle
zurück und legt sich auf die andere Seite (d. h. der Winter wird noch
lange andauern). Ist das Wetter heiter, so kann man auf viel Wein und
Obst rechnen. Wer an diesem Tage, Erde grabend, ein warmes Erdstück
findet, der wird reich (Versényi, S. 25).
Am Maria - Lichtmesstage (2. Februar) räuchert in vielen Ort-
schaften die Hausfrau ihre Kühe abends mit geweihtem Weihrauch. Die
an diesem Tage geweihte Kerze soll man bei Gewitter anzünden. Wenn
am Abend dieses Tages die Kerze erlischt, so brennt sie das ganze Jahr
hindurch trübe. Wenn an diesem Tage die Sonne in die Schafhürde
scheint, heisst es in Szatmár, soll der Wirt selbst den Heukehricht sorgsam
aufheben, denn der Winter hält noch lange an (Tersény i, S. 25). Scheint
der Mond am Abende dieses Tages, so nimmt man in Südungarn das
Brustbein einer Gans und wirft es ins Feuer. Nach einer Weile nimmt
man das Bein heraus und hängt es in den Mondschein. Hat es am nächsten
Morgen viele schwarze Kisse, so wird der Sommer regnerisch sein; ist es
aber weiss, so kann man fruchtbares Wetter erwarten. Ebenso prophezeit
man am Martinsabend für den kommenden Winter (Wlislocki, II, 50).
Der Bär kommt an diesem Tage aus seiner Höhle heraus, und wenn er
seinen Schatten erblickt, so kriecht er noch tiefer in seine Höhle hinein;
kann aber der Fuchs an diesem Tage über das Eis gehen, ohne dass es
einbricht, so ist der Lenz nicht mehr weit (Jankó, Torda etc., 238).
Vom Matthiastage (24. Februar) heisst es magyarisch: Matthias, findet
er (Eis), bricht er es; findet er keins, macht er eins! Ähnlich im Sieben-
bürgisch-Sächsischen: Mattheis, brichts Eis; findt er keins, macht er eins!
Der Dienstag vor Aschermittwoch heisst im Magyarischen hüs-
hagyókedd (Dienstag des Fleischaufgebens). Am Abend legt man in
der Miskolczer Gegend in ein wassergefülltes Gefäss eine halbe Nussschale,
in die man ein Stückchen Fleisch und darauf ein spitzzulaufendes Papier-
stückchen steckt. Man lässt nun das Wasser beim Feuer sieden. Nimmt
man dann den Napf vom Feuer weg, so stellen sich die Maide im Kreise
mn ihn herum, und zu welcher Magd sich das Papierstückchen hinneigt,
die wird am schnellsten heiraten. In Marosvásárhely glaubt man, dass am
Aschermittwoch um die mitternächtige Stunde eine weissgekleidete Fee
herumgeht und von jedem, dem sie begegnet, ein weisses Sacktuch ver-
engt. Man muss es ihr geben und ihr dann nachfolgen, denn wo sie das
Sacktuch zu Boden fallen lässt, dort ist ein Schatz vergraben (Yersényi,
1) Jankó, a. a. 0., S. 256.
322
Herrmann: Der volkstümliche Kalenderglanbe in Ungarn.
S. 28). In vielen Ortschaften müssen die Mägde, die im Fasching nicht
geheiratet haben, zur Strafe einen Baumstrunk durch das Dorf ziehen,
wobei sie mit Wasser begossen werden. Wer von diesem Strünke ein
Spänchen abhauen kann und es in sein Herdfeuer wirft, der ist vor Feuers-
gefahr für das Jahr gefeit. Aus dem mehr oder weniger lauten Knistern
dieser Spänchen prophezeit man auf Glück oder Unglück. Ein Spänchen
von diesem Strünke zu Pulver gebrannt und in das Getränk des Burschen
gemischt, erweckt bei ihm Liebe zur Geberin. Diese Spänchen werden
oft von den Maiden aufbewahrt und an ihrem Hochzeitstage zu Kohlen
verbrannt, über die man Wein giesst und diesen dein Bräutigam zu trinken
giebt, damit die Ehe vorderhand kinderlos bleibe (Wlislocki, I, 43).*)
In einigen Gegenden werden am Aschermittwoch die erwachsenen Knaben
zu Burschen geweiht, indem jeder von ihnen sechs Stockhiebe erhält,
worauf eine Flasche mit Wein in die Erde vergraben wird. Dies nennt
man bögö temetése = Begräbnis des Brüllenden. Der brüllende, weinende
Knabe wird gleichsam begraben (s. Ipolyi, Magyar mythologia = magyar.
Mythologie, S. 299). Am nächsten Aschermittwoch wird diese Flasche her-
ausgegraben, und wer einige Tropfen von ihrem Inhalte auf seine Hände
giesst, der wird von Krankheit ein Jahr lang verschont bleiben. Ist der
Inhalt der Flasche aber vertrocknet, so trifft die Burschen, bei deren Auf-
nahme die Flasche vergraben wurde, im Leben viel Unglück (Wlislocki,
II, 86). Schneit es an den beiden letzten Faschingstagen, so gedeiht viel
Obst und wachsen viele Pilze. In manchen Gegenden dagegen glaubt
man, dass dann viele Raupen werden. Will man die Füchse vom Gehöfte
fernhalten, so schlägt man am Vorabend des Aschermittwochs mit einem
Waschbläuel dreimal an den Thorpfosten; dann können sich im Jahre dem
Gehöfte die Füchse nur so weit nähern, bis wohin man die Schläge gehört
hat. An diesem Abend ist es gut, einen Schweinskopf zu kochen und den
Knochen, in dem sich die Augenhöhlen befinden, aufzubewahren. Lässt
man die Küchlein zum ersten Male ins Freie, so blicke man sie durch
das Loch dieses Knochens an und spreche: „Rabe, Weih, Elster! seid alle
blind, nur meine Hühnchen sollen sehen!" Dann bleiben die Küchlein
von Raubvögeln verschont. Am Vorabend dieses Tages soll man mit linker
Hand einen Faden spinnen und ihn kranken Tieren um den Leib binden,
damit sie gesunden. Wer an diesem Abende seinen Wein mit Essig ge-
mischt trinkt, bleibt das ganze Jahr hindurch fröhlich. Lagern an diesem Tage
Wanderzigeuner in einem Dorfe, so bringt dies Glück für das ganze Dorf-
in manchen Ortschaften bindet man dem im laufenden Jahre geborenen
Kinde eine Darmsaite an das Bein, damit es nicht beschrieen werde. Wer
in den Beinen oft Krämpfe hat, der soll sich eine solche Darmseite ums
Bein binden, auf der man in der Kirche musiziert hat. In der Fastenzeit
1) Ygl. F. S. Krauss in seiner Zeitschr. „Am Ur-Quell", II, 161.
Kleine Mitteilungen.
323
darf man nicht tanzen, sonst fällt alles Obst unreif vom Baume herab. In
Selmeczbánya (Schemnitz, Oberungarn) sollen im vorigen Jahrhunderte an
einem Aschermittwochsvorabende die Leute bis nach Mitternacht, wo die
Fastenzeit schon begonnen, getanzt haben, worauf der Tanzplatz (der Fail-
hauer sclie Gasthof) samt allen Anwesenden spurlos in die Erde versank
(Yersényi, S. 29).
Am Gregors tage (12. März) hält man es im Kalotaszeger Bezirk für
gut, Geflügelknochen auf dem Acker zu vergraben, damit die Saat vor
Yogelfrass bewahrt werde; neben das Haus aber soll man ein an diesem
Tage gelegtes Ei vergraben, um das Haus vor Krankheit zu feien (Wlis-
locki, II, 86).
Wenn in der Nacht auf Marise-Yerkündigung (25. März) heiteres
Wetter ist, so wird im Jahre viel Feuerschaden entstehen. Wenn an
diesem Tage ein Kind nackt eine Kette um das Haus schleift, so kommt
keine Schlange ins Gehöft.
Budapest.
(Schluss folgt.)
Kleine Mitteilungen.
Aus Meiderich.
1. Aberglaube.
Der Maurer 11. war nach Meinung der Leute ein Hellseher. Er wusste drei
Tage vorher, dass jemand im Dorfe sterben würde. Ihm war die Strafe auferlegt,
um die Mitternachtsstunde die Hofthore zu öffnen, damit der Leichenwagen offenen
Weg finde.
2. Spuk.
In dem in Borkhofen gelegenen Jungferngässchen erhielten ruhig ihres Weges
gehende Leute am lichten Tage Ohrfeigen, ohne dass sie eine Person bemerkten.
Gleiches trug sich wiederholt auf der kleinen Heide zu.
* *
Im Jahre 1437 38 ereignete sich auf dem bei Meiderich gelegenen Buschmanns
Hof an der Emscher eine Spukgeschichte, welche weithin bekannt ward und fast
ein Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Leute atn Niederrhein und sonst in
Deutschland rege erhielt. Die Beschreibung dieser mirakulösen Geistererscheinungen
des Arnt Buschmann war durch Jahrzehnte ein beliebtes Volksbuch am ganzen
Rhein, wie die aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammenden alten Handschriften
(die ältesten von 1444 und 1446) und Drucke (der älteste, Harlem 1483) beweisen.
Zeitschr, d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 22
324
Dirksen :
Den Text der jetzt Berliner Handschrift von 1446 hat Hr. Dr. Seelmann im
Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, VI. Band, S. 40—67
herausgeben.
Zum Wiedererscheinen nach dem Tode sind nach hiesigem Volksglauben alle
diejenigen verurteilt, welche andern schweres Unrecht zugefügt oder auch ein den-
selben gegebenes Versprechen unerfüllt gelassen haben. Wir dürfen uns deshalb
nicht wundern, dass Henrich Buschmann, dessen umfangreiches Sündenverzeichnis
uns in Cap. 11 und an anderen Stellen der erwähnten Schrift mitgeteilt wird, nach
seinem Tode den auf dem Hof lebenden Verwandten erscheinen musste. Dass
man aber auch um ganz geringer Unterlassungssünden willen im Grabe keine Ruhe
finde, zeigt folgender Vorfall: Eine hiesige Frau erschien allabendlich ihrer Magd,
wenn diese etwas im Keller zu besorgen hatte. Gefragt, weshalb sie im Grabe
keine Ruhe gefunden habe, erfuhr man, dass sie der obenerwähnten Magd, welche
sie während ihrer Krankheit gepflegt hatte, ein Kopftuch versprochen habe. Als
das Versprechen von den Verwandten erfüllt war, erschien die Frau nicht mehr.
3. Glaube an Hexen.
Wenn eine Person hinsiechte, glaubte man, sie sei behext. Folgendes Mittel
war nach Meinung der Leute imstande, die Hexe ausfindig zu machen und sie zu
zwingen, von ihrer Bosheit zu lassen: Aus dem Garten der vermeintlichen Hexe
stahl man Blätter der Selleriepflanze, diese kochte man in einem mit Milch ge-
füllten Topfe. Sobald die Milch kochte, wTav sie mit einem Messer kreuz und quer
zu durchschneiden. Die Hexe war dann, wie man versicherte, gezwungen zu
kommen, denn sie fühlte die Schnitte an ihrem Körper.
Eine alte Frau erzählte mir: Das vier- bis fünfjährige Töchterchen meines
Schwiegersohnes erkrankte im Jahre 1882. Wir gebrauchten von vornherein einen
Arzt, indes ohne den gewünschten Erfolg; da stieg bei uns der Gedanke auf, dass
das Kind behext sei. Wir wurden in unserer Ansicht von den Nachbarn bestärkt.
Als wir nun im Oberbett nachsahen und in demselben einen Federbüschel in der
Gestalt eines Vogels fanden, so waren wir vollständig von der Richtigkeit unserer
Annahme überzeugt. Wir hatten eine Person aus unserer Nachbarschaft in
dringendem Verdacht, dass sie das Kind behext habe. Wir schlössen das aus
dem Umstände, dass das Kind eine ganz besondere Zuneigung zu jener Person
hatte und während der Krankheit alsbald aufhörte zu klagen, wenn die betreffende
Person kam. Um nun festzustellen, ob die Person wirklich die Hexe sei, stellten
wir auf Anraten anderer Leute folgenden Versuch an: Die Exkremente und der
Urin des Kindes wurden in einem neuen eisernen Topfe über das Feuer gestellt
und mit dem Deckel verschlossen. Wir verstopften sodann sämtliche Schlüssel-
löcher, und als die Masse zu kochen begann, schnitten wir mit einem Messer, wie
uns gelehrt worden war, kreuzweise durch dieselbe. Die Hexe stellte sich zwar
nicht ein, dagegen war sie die erste Person, welche am Sterbetage des Kindes
erschien.
Ein Kind, welches durch Behexung gestorben war, trug man, um die Hexe
zu ermitteln, so zum Hause hinaus, dass man das Kopfendé des Sarges voraus-
schickte. Die Person, welche der Leiche zuerst begeguete, wurde dann als die
Schuldige betrachtet. Diese Probe stellte man noch vor wenigen Jahren hier-
selbst an.
In der Mitte dieses Jahrhunderts lebten hier mehrere, allgemein als Hexen
bezeichnete Personen. Die interessanten Geschichten, welche von denselben in
Umlauf sind, kann ich leider nicht mitteilen, um nicht die noch lebenden an-
gesehenen Verwandten zu beleidigen.
Kleine Mitteilungen.
325
4. Der Werwolf.
Der Glaube an Werwölfe bestand hier ebenfalls noch vor kurzer Zeit. Man
glaubte, dass einzelnen Menschen die Strafe auferlegt sei, sich nächtlicherweile in
Untiere zu verwandeln und dann ihre Mitmenschen zu quälen. Sie sprangen ge-
wöhnlich ihrem Opfer auf den Nacken und liessen sich von demselben so lange
tragen, bis dieses erschöpft zusammenbrach. Gelang es, wie es in einzelnen
Fällen geschehen sein soll, den Werwolf mit einem Messer zu stechen, dann ver-
wandelte sich derselbe unter Zurücklassung von ungeheuerem Gestank in e\nen
Menschen, und war derselbe dann von seiner Plage befreit. Sämtliche Geschichten
über den Werwolf haben obigen Inhalt; ich unterlasse es deshalb, einzelne be-
sonders mitzuteilen.
5. Sympathetische Mittel.
1. Gegen das lästige Schluchzen empfiehlt man nachstehende Worte dreimal
ohne Atemholen und ohne Unterbrechung zu sprechen:
Ik heb den huk,
den huk het my;
wis duo em hewwe,
dan krîg em dy.
2. Die Warzen vertreibt man, indem man dieselben zählt, ebensoviele Knoten
in einen Rindfaden macht und diesen unter der Thürschwelle vergräbt. Auch rät
man dem mit Warzen behafteten, seine Hände am ¡Gesicht eines Toten wiederholt
zu streichen. Wärend des Grabläutens sind die Hände in iiiessendem Wasser zu
waschen und ist zu sprechen:
Do lüjen se en dojen in et graf,
ik wasch my al mine wratten af.
3. Gegen Rheumatismus ist eine Maulwurfsklaue an einem Bindfaden um den
Hals zu tragen. Viele tragen einen aus einem Sarggriff geschmiedeten Gichtring
um den Mittelfinger der rechten Hand. Hat jemand Rheumatismus im Arm oder
in den unteren Extremitäten, so näht er um das leidende Körperglied die Haut von
einem Aal, diese muss so lange sitzen bleiben, bis sie von selbst abfällt. Bemerkt
er es zufällig, so darf er die Aalhaut nicht aufheben, sondern muss thun, als wenn
er es nicht bemerkt hätte. Dem vom Fieber geplagten empfahl man, ein Pfund
Rindfleisch, an welchem sich kein Fett befinden durfte, unter der Dachtraufe zu
vergraben und 24 Stunden wach zu bleiben. Wenn er diese Bedingung erfüllte,
schwand das Fieber. Ferner riet man, einen Strohhalm oder einen Faden um einen
Baum zu binden. Der Kranke musste sich dann schnell entiernen und durfte nicht
nach dem Baume umsehen. Gegen Bettnässen gab man gebratene Mäuse zu essen,
gegen Gesichtsrose wurde ein Säckchen mit Schwefelblüte um den Hals getragen.
Natürlich verlangte man, dass der Kranke an die Heilkraft dieser Mittel glaube.
6. Heilsprüche.
1. Gegen Brand:
Ich blase diesen Brand
in Wasser und Sand,
nicht zwischen Fell und Fleisch —
Gott Vater, Sohn und heil'ger Geist.
22*
326
Dirksen :
2. Unser Herr Jesus ging einst durch das Land,
da fand er einen Mann, der hatte den Fuss verbrannt.
Da nahm Jesus den Fuss in die Hand
und sprach: Brand! Brand! fahr in den Sand!
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.
3. Um Blut zu stillen:
Auf Jesu Haupt blühten einst drei Rosen,
die eine blühte weiss,
die andere blühte schwarz,
die dritte blühte rot.
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.
Verschiedenes.
Wenn eine Tochter im Hause sich das Spülwasser kochen lässt, muss sie
noch sieben Jahr mit dem Heiraten warten.
Drei lichter buten de tîd
gif en brûd of en lîk.
Wer schönes Wetter am Hochzeitstage haben will, muss die Katze gut füttern.
Wer bei der Einsegnung am Traualtar die Hand oben hält, bekommt die
Herrschaft im Hause.
Wer zuerst vom Altar zurücktritt, wird zuerst sterben.
Das Zerbrechen eines Lampenglases auf der Hochzeit bedeutet Unglück.
Ein Kind, welches in der Mittagsstunde geboren wird, wird nicht alt.
En Kind, wad vör'n jôr wad gescliôr'n,
wör nötter niet gebôr'n.
Man darf kein Kind in den Spiegel sehen lassen, denn dann wird es eitel.
Zieht man einem Kinde am Sonntage das erste Kleidchen an, so wird es
hochmütig.
Regen giebt es:
1. Wen-de musefalskrämers öwer de strôt komme.
2. Wenn die Katze Gras frisst.
3. Wenn der Hund sich wälzt.
4. Wenn man eine Schnecke tötet.
5. Wenn eine Schnecke Erde auf dem Schwänze trägt.
Man hat Glück, wenn man ein vierblättriges Kleeblatt findet.
Spinne am Morgen: Kummer und Sorgen,
Spinne am Mittag: frohe Botschaft,
Spinne am Abend: erquickend und labend.
Rechôr — schlechôr,
Linkôr — klinkôr.
Juckt einem die rechte Hand, so bekommt man Geld.
Wenn einem ein altes Weib frühmorgens zuerst begegnet, so hat man Unglück ;
ebenso, wenn ein Hase quer vor einem her über die Strasse läuft.
Kleine Mitteilungen.
327
Wenn dreizehn Personen zu Tische sitzen, muss eine davon im Laufe des
Jahres sterben.
Will ein Pferd nicht an einem Hause vorbei, so giebts eine Leiche.
Wenn der Totkranke ein Kleidungsstück trägt, an welchem Sonntags gearbeitet
wurde, so kann er nicht sterben.
Steht eine Leiche den Sonntag über, so folgt bald eine zweite; ebenso, wenn
eine Leiche welk ist.
Die Verwandten, die dem Toten die letzte Ehre erweisen, dürfen auf dem
Gange zum, Kirchhofe sich nicht umsehen, sonst folgt bald einer aus der Familie.
Bringt man Blumen vom Kirchhofe ins Haus, so pflanzt man sich einen Toten
hinein.
Kommen frühmorgens Krähen auf den Hof, so giebts eine Leiche; auch das
Heulen des Hundes und das Geschrei der Eulen deutet auf einen Todesfall.
Wen de bôm bleut buten de tîd,
dan gef et en hogtîd of en lîk.
Der Tod des Hausherrn ist den Bienen anzusagen, weil diese sonst sterben.
Dei' über der Stubenthür hängende Vogelkorb muss an einen andern Platz ge-
hangen werden, falls die Leiche durch die betreffende Thür getragen werden muss.
Geschieht das nicht, so stirbt der Vogel.
C. Dirks en.
Nordthüringer Volkssageu.
Dem seltenen Büchlein „Einige kleine Schriften theils zur Geschichte der
Natur, theils zur Physicotheologie gehörig, ausgefertiget von Friedrich Christian
Lesser. Leipzig und Nordhausen. Verlegts Johann August Coler, privilegirter
Buchhändler in Ellrich, 1754" (Kl. 8°, 197 S.) entnehme ich folgende Sagen in der
daselbst gebotenen ungelenken rationalistischen Fassung:
1. S. 88—90: Das Görsbachische Schwein.1)
Zwischen Heringen und Kelbra von jedem eine Stunde, lieget das Grosse Dorf
Görsbach, welches ehedessen Mauren, Thore und Thürme gehabt hat, wovon noch
Anzeigen da sind...........
Mitten in Görsbach stehet ein alter dicker runder Thurm, von welchem man
vorgiebt, dass die Görsbacher ein grosses Schwein drinnen mästeten, und wenn
man ein ungeheuer grosses Schwein beschreiben will, nennet man es das Görs-
bachische Schwein. Ich habe lange nicht erfahren können, woher dieses
Mährlein entsprungen. Endlich habe ich aus einer alten Nachricht folgendes er-
halten: Es sey vor Menschen-Gedencken ein reicher Einwohner in Görsbach gewesen,
der viel Früchte oft nach Nordhausen zum Marckte gefahren, und weil ihm das
Nordhäusische Bier so gut geschmeckt, habe er sich bis zur Unvernunft so voll
gesoffen, dass er sich wie ein Schwein zum Abscheu vernünftiger Menschen im
Rothe umgeweltzet, und daher den wohl verdienten Ehren-Namen erhalten, dass
man ihn das Görsbachische Schwein genennet, zumali! da er ein vierschrötiger
starcker Mann gewesen, wie ein gemästetes Schwein. Wenn er nun wieder von
Markt nach Hause gefahren, und auf dem Wagen gejuchet, wie ein schreiendes
Schwein, hätten diejenigen, die ihn begegnet und gekennet, gesagt: da kömt das
1) Die Überschriften stammen von mir. L. F.
328
Frankel :
Görsbachische Schwein her. Nachdem aber bey den späten Nachkommen das
Gedächtniss dieses Schweinigels verloschen, habe man aus diesem Unmenschen
ein grosses Schwein gemacht, und dieses sey der Ursprung des so genanten
Görsbachischen Schweins.
2. S. 11 f.: Der verschwundene See.
Ob es wahr sey, wie einige vorgeben wollen, dass in den uralten Zeiten eine
See hierum [bei Frankenhausen] gestanden haben müsse, welche nach hero ver-
trocknet, oder wie der See bey Weissensee [in Thüringen] zu Lande gemacht
worden, kann ich eben so wenig behaupten, als dio Meinung derer, welche vor-
geben, dass zu den vermoderten Zeiten des Alterthuuis von der Sachsenburg bis
nach Erfurth alles ein See gewesen, welchen aber ein Münch1) abgeleitet haben
soll, indem er die Lücke ausgraben lassen, durch welche die Unstrut zwischen der
Sachsenburg und den Finnischen Gebürge nach Rinckleben zu iiiesset, die sonst
zusammen gehangen.
3. S. 95 f.: Die Teufelssteine.2)
Wenn man von Tille auf Kelbra reiset, findet man an dem Wege hin und
wieder schwere, schwartzliche, eisenhaltige Seine, die aber auswendig röthlich aus-
sehen, und wie ein Holz Fäserchen haben, daher man sie vor versteinertes Holtz
hält........Woher diese Steine kommen, fragt man billig? Der abergläubische
gemeine Mann trägt sich mit folgendem Mährlein davon: Es hätte der Teufel noch
eine Teufelsmauer*), dergleichen er im Relbraischen aufgebauet, auch in dem
Tillischen aufführen wollen, weil er sie aber nicht gantz zu Stande bringen können,
habe er dieselbe aus Verdruss niedergerissen, und die Steine hin und wieder denen
Menschen zum Tort in den Weg geschmissen. Es muss gewiss ein dummer Teufel
gewesen seyn, der nicht den Überschlag gemacht, ob er eine Sache ausführen
könne, die er anfangen wollen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, wenn anders diese
Steine versteinert Holtz sind, dass sie von einem zu Steine gewordenen Baume, der
ausgegraben und zerschlagen worden, herrühren.
4. S. 106: Der schöne Mädchenstein.
Wiersdorf, oder wie es andere schreiben Wiegersdorf, ist eine Tochter
von dem Dorfe Osterode unterm Honstein. Es liegt von Nordhausen 3. Stunden
gegen Mitternacht kurtz vor Ilfeld. Gegen den Mittag dieses Dörfles, an dem Orte,
welcher das Ochsenloch heisst, wird der schöne Mädgenstein gebrochen. Es
riechet nach einem Mährlein, wenn der gemeine Mann vorgiebt, man habe ihm
deswegen solchen Namen beygelegt, weil man einst das Bildniss eines schönen
Mägdleins, so die spielende Natur hinein gemahlet, darinne angetroffen, da er viel-
mehr wegen seines schönen Ansehns, und seiner weissen Glätte mit heile und
dunkel grauen Adern, zwischen welchen sich auch zuweilen hellgelbe Flecklein
zeigen, den Augen schmeichelt.
5. S. 108: Der Tanzteich.
Das Dorf Nieder Sachswerfen, liegt auch im Amte Hohnstein, eine Meile
von Nordhausen, gegen Mitternacht, nach der Closter-Schule Ilfeld zu, und wird
also genennet zum Unterschiede des Dorffes Ober Sachswerffen, vvelches in dem
1) Es ist nicht recht klar, weshalb in diesem Vorgänge meist ein Mönch die
Hauptrolle spielt.
2) Diese Bezeichnung öfters.
3) In Thüringen und im Harz häufige Benennung von Felspartien.
Kleine Mitteilungen.
329
Amte Clettenberge liegt. Am MühlBerge dieses Ortes, welcher ihm. gegen den
Abend liegt, ist an dem Fusse desselben, an der Mitternächtlichen Seite, der so
genannte Tantz Teich, an der Lincken Hand des Weges, wenn man nach
Appenrode gehet. Man giebt vor, dass er seine Benennung daher erhalten, weil
ein Kahn, wenn man darauf dem Berge zu nahe käme, anfinge rund umzugehen,
und gleichsam zu tantzen, welches von einem Strudel oder Wasser-wirbel her-
rührete, der durch ein Loch unter dem hohlen Berge hinab fiele, und mit dem
Wasser solchen Kahn nach sich zöge.1). Allein er muss wohl seinen Nahmen von
einer andern jetzo unbekanten Ursache haben, denn man kan keinen Strudel daran
gewahr werden. Das Vorgeben, dass er unergründlich sey, ist auch falsch.
6. S. 121 f.: Die Zwerglöcher.
Wenn man von Steigerthal Mitternachtwärts, nach der Warte hinauf, von
welcher der Weg nach dem Dorfe Stempeda führet, fähret, so liegt linker Hand
dieses Weges, ehe man nach der Warte kömt, der alte Stoib erg, auf welchem
das erste Stamm-Hauss der Herren Grafen von Stolberg ehedem gestanden.......
Am obbenannten Wege nach der Warte, ist der alte Stolberg gantz steil, dass
man einige Öffnungen, welche der gemeine Mann Zwerglöcher nennet, weil er sich
leichtgläubig bereden lässt, als ob sie ehmals Wohnungen der Zwerge gewesen.
Alte Leute haben mir aus dem Munde ihrer Eltern, die es aus der Nachricht ihrer
Vorfahren empfangen, erzehlet, dass die Einwohner Steigerthals im dreyssigjährigen
Kriege ihre Weiber und Kinder in diese Felslöcher, wider die Wuth der un-
bannhertzigen Soldaten, wie unbewaffnete Tauben, wider die grimmigen Klauen
der Raubvögel, versteckt, und darinne verborgen gehalten.2) Es muss damahls die
Wand dieses Berges noch nicht so steil und verfallen gewesen seyn, als jetzo,
dass man noch zu denselben ehe kommen können. Von der innerlichen Be-
schaffenheit dieser Höhlen weiss man zur Zeit noch keine Nachricht, weil man
nicht wohl darzu kommen kan, und sich Niemand hinein gewagt.
7. S. 123: Ilunoldsdorf.
Geden dem alten Stolberge über, lincker Hand des Stempedaischen Fahrweges,
lieget noch ein Überbleibsel einer kleinen wüsten Kirche, welche in dem längst
verwüsteten Dorffe Hunoldsdorf, von welchem nichts, als der Name übrig ge-
blieben, gestanden.
Ludwig Fränkel.
Der Brand der Stadt Weiden 1536 in der Sage.
Die durch wiederholtes Brandunglück im Jahre 1893 schwer geschädigte Stadt
Weiden in der Oberpfalz wurde schon vor einigen Jahrhunderten durch eine ent-
setzliche Feuersbrunst heimgesucht Am Freitag nach Laurentii 1536 äscherte ein
fürchterlicher Brand fast die ganze Stadt ein, und als nach zwei Jahren viele
Gebäude sich wieder aus dem Schutt erhoben hatten, da wurden sie abermals ein
Kaub der wütenden Flammen. (Vgl. Sintzel, Versuch einer Chronik der Stadt
Weiden, Sulzbach 1819, S. 34 u. 98). An das schreckliche Ereignis des Jahres
1) Ähnliches wird in verschiedenen Ländern erzählt; man vergleiche auch in der
altdeutschen Sage von Herzog Ernst des Helden und seiner Genossen Fahrt durch einen Berg.
2) Derartige Berichte hört man mancherorts, z. B. auch bezüglich der seit Anfang
1893 aufgedeckten prächtigen Felshöhlen der fränkischen Schweiz (über die Bädekers
„Süd-Deutschland" im Eingange von Boute 51, 22. Aufl. S. 228, einzusehen).
330
Englert:
1536 knüpft sich folgende interessante Sage, welche vor kurzem mein Kollege
G. Krauss, Reallehrer in Weiden, nach mündlicher Mitteilung einer hochbetagten
Frau, der Kronfärberswittwe Margarete Weiss aus Weiden, aufgezeichnet hat.
Der Untergang der Stadt Weiden.
Der alte Schlosser Haberl, ein biederer Geschäftsmann, hatte nebenbei die
Uhr auf dem Rathause von Weiden zu richten und war stets dafür besorgt, dass
sie richtig gehe.
Nun geschah es einmal, dass er in der Nacht plötzlich wach wurde, weil die
Rathausuhr in einem fort schlug, und er erschrak darüber sehr und konnte sichs
gar nicht erklären. Er sprang schnell aus dem Bette, zog sich an und eilte fort,
um nachzuschauen, wo es fehle. Wie er auf die Stadt vorkam, sah er auf einmal,
dass der kleine Rathaussaal ganz hell erleuchtet war. Da dachte er bei sich : Was
werden sie denn heut noch auf dem Rathaus Wichtiges haben zwischen 11 und
12 Uhr nachts? Pochenden Herzens schlich er sich hinein, ging die steinerne
Treppe hinauf bis an die Thür, horchte am Schlüsselloch und schaute hinein.
Mitten im Zimmer sassen um den langen Tisch zwölf Herren im schwarzen Talar
mit grossen Halskrausen und langen Perücken und hielten da Rat miteinander.
Eine grosse lange Gestalt erhob sich gerade und sprach: „Die Stadt Weiden muss
dem Untergang geweiht werden!" Bei diesem Vorschlag kam lebhafte Bewegung
unter die Herren und sie tauschten nun ihre Meinungen aus. Einer meinte, man
müsse die Einwohner durch Krankheit vernichten, ein Anderer machte den Vor-
schlag, durch Wasser Unheil anzurichten u. s. w. Dann gab einer den Rat, die
ganze Stadt durch Feuer zu zerstören, und sofort stimmten alle zu. Zum Schlüsse
fragte noch einer: „Was soll der für eine Strafe bekommen, der draussen vor der
Thüre horcht?" Die meisten antworteten: „Der soll umfallen und augenblicklich
tot sein", allein der älteste der Herren fuhr dazwischen und sprach: „Nein, der
soll am Leben bleiben, wenn aber am Laurenzitag das grosse Feuer über die Stadt
kommt, soll er den grössten Schrecken ausstehen." Als sich alle damit ein-
verstanden erklärten, erloschen plötzlich die Lichter, die Uhr hörte auf zu schlagen,
und der Saal war wieder leer.
Unser Schlosser Haberl zitterte am ganzen Leibe und ging ganz nieder-
geschmettert nach Hause. Als er des andern Tages davon erzählte, wurde er
überall ausgelacht. Er aber brachte die Geschichte nicht aus dem Kopfe und
wurde immer unruhiger, je näher Laurenzi heranrückte. Ein paar Tage vorher
fing er an, seine Sachen zusammen zu packen und auf den Rehbühl zu tragen.
Um diese Zeit ging beim sogenannten Thürl in der Thürlgasse noch eine Zug-
brücke hinüber auf die Allee beim Schanzgraben, und wie Haberl am Laurenzitage
1536 in der Frühe mit der letzten Fuhre durch dieses Thürl hinaus wollte, brach
die Brücke zusammen, so dass er in den Schanzgraben hinunterfiel und sich die
beiden Füsse brach. Und so musste er jämmerlich liegen bleiben und zusehen,
wie ein mörderisches Feuer die ganze Stadt in Schutt und Asche verwandelte.
Erst am nächsten Tage konnte er weggetragen und in Pflege gegeben wèrden.
Als die Ratsherrn den Untergang der Stadt durch Feuer beschlossen hatten,
prophezeiten sie auch, dass beim Eintritt der Katastrophe drei Wahrzeichen auf-
tauchen würden: am Rathause, am unteren Thor und an einem Hause der unteren
Stadt, und es zeigte sich auch, während das Feuer in der ganzen Stadt wütete,
an der Mauer des Rathauses über dem Eingangsthore zur Sparkassa ein Tigerkopf,
am äusseren unteren Thor ein Katzenkopf und an dem früheren Gabrielbäckerhaus
(jetzt Bäcker Knodt) ein Ochsenkopf.
Kleine Mitteilungen.
331
Zum Andenken an diese wunderbare Erscheinung hat man diese Köpfe später
in Stein hauen lassen, und so ragen sie heute noch an den betreffenden Stellen
hervor bis auf den letzten, der durch eine vor dreissig Jahren vorgenommene
Reparatur der Giebelseite verschwunden ist.
München. Anton Englert.
Dialektpoesie in Tirol.
Ein Nachtrag von Adolf Pichler.
Die Zeitschrift des Vereins für deutsche Volkskunde, Heft I, 1894 bringt einen
Aufsatz von A. Hauffen: „Das deutsche Volkslied in Österreich-Ungarn". Der
Verfasser giebt eine kurze übersichtliche Schilderang des reichen deutschen Volks-
liederschatzes auf diesem Gebiete nach allen Gattungen der Poesie. Noch in diesem
Jahre haben wir endlich! die Ausgabe der tirolischen Volkslieder von L. v. Hörmann
zu erwarten, auf die wir uns um so mehr freuen, weil er seit Jahren mit kritischem
Geiste sammelt und dieser Aufgabe gewiss in jedem Sinne gewachsen ist. Was
in neuerer Zeit von anderen erschienen ist, hat kaum einen wissenschaftlichen
Wert.
Wir können uns daher auf die Dialektpoesie beschränken, die nicht immer
mit dem Volksliede, das oft nicht im Dialekte auftritt, zusammenfällt. Es sind
meistens gebildete Männer, die hier schaffen und manches von ihren Werken ist
wieder Volkslied geworden. Den mächtigsten Anstoss gaben in Tirol die Kriege
der französischen Republik und Napoleons, wo unser Alpenland unmittelbar be-
teiligt war und sich seinen blutigen Ruhm errang.
Voran geht Johann Friedrich Primisser, der 1757 in Prad im Vinstgau
geboren, 1812 als Statthaltereiarchivar zu Insbruck starb. Wir sehen ab von seinen
patriotischen Dramen: „Friedrich mit der leeren Tasche" und „Martin Sterzinger".
In den Neunziger Jahren trat er als Sturmdichter auf, kräftiger Zorn sprüht aus
seinen Versen, in die sich freilich manchmal etwas Hochdeutsch mischt.
„Und miar, miar sollten gschlechter sein
f Als unsern braven Alten?
Hui Hui auf Tiroler! — Würg, hau drein
Lass Stutzl nia derkalten.
Du Oberländer Fölsenfest
Wie deine Fearner gfroaren,
Stell di hinauf in's Adlernest,
Dort kannst sie niederboaren."
Bedeutender ist Franz Karl Zoller, der Sohn eines Oberinthaler Malers; ge-
boren 1748, starb er am 4. Nov. 1829 als erster Adjunkt der k. k. provisorischen
Hof- und Landesbaudirektion zu Insbruck. Er hat im Dialekt verschiedenes ge-
dichtet ; erhalten hat sich sein Spingeserlied, das noch heute gesungen wird. Der
französische General Joubert war im März 1797 bis Brixen vorgedrungen, am
2. April griff er die Stellung der Tiroler unter dem Schützenmajor P. Wörndle
bei Spinges an und wurde mit grossen Verlusten zurückgeworfen. Bekannt ist
das Mädchen von Spinges, das die stürmenden Feinde von der Mauer des Kirch-
hofes mit der Heugabel hinab stiess. Wir geben nur die erste Strophe:
332
Pi chi er:
„Jaz wöll'n mar gien 'n Franzosen z'gög'n gien,
Was hob'n sie denn bei uns herinnan z'thian?
Es hat sie einar b'langt
Miar hob'n sie nit verlangt;
So kam a niader Noor
Frass üns mit Haut und Hoor,
Dös geaht nit, eija wol!
Im Land Tirol.
Weniger reich an Liedern war das grosse Jahr 1809. Mit tiefer Wehmut
erfüllen uns die Reime, welche der arme verlassene Andreas Hofer im Gefängnis
zu Mantua dichtete. Die Kämpfe jener Tage haben den Tirolern ihre geistige
Physiognomie aufgedrückt, die auch jetzt nach so vielen bitteren Erlebnissen nicht
völlig verwischt ist
Unser bedeutendster Diaiektdichter ist wohl Karl v. Lutterotti, der Sohn des
Gubernial rates Johann. Seine Heimat ist Südtirol — Salurn an der Etsch, wo er
1793 geboren wurde. Bei der Erstürmung Insbrucks durch die Bauern am 12. April
1809 wurde er am Fusse verwundet. Sein Leben ist sehr einfach: nachdem er zu
Landshut die Rechte studiert, betrat er den Staatsdienst und starb als pensionierter
Kreisamtssekretär zu Imst 1872.
Seine „Gedichte im Tirolerdialekte", in die er manches aus dem Volksmunde
aufnahm, erschienen 1854, Insbruck bei Rauch; eine neue, dritte Auflage, die dem
gegenwärtigen Stande der Wissenschaft entspricht, bereitet L. v. Hörmann vor.
Lutterotti ist durch und durch Realist wie die altniederländischen Maler und
vielleicht gerade deswegen so beliebt. Viele seiner Gedichte leben in unvergäng-
licher Frische und werden in geselligen Kreisen gern vorgetragen, besonders, wenn
er die dramatische Form für sie wählte, wie beim berühmten Auszug der Miliz-
kompagnie von St. Nikolaus.
In neuerer Zeit trat als Dialektdichter der Bauer „Obrist Hans von Stans"
auf. Als in den fünfziger Jahren viele Tiroler nach Peru auswanderten, begleitete
er sie mit einem Liede, — der schärfsten Kritik österreichischer Zustände. Hui!
wie waren alle Spitzeln auf, sie schnüffelten aber vergebens in der Luft, denn
obwohl Tausende und Tausende den Verfasser kannten — erraten hat ihn Niemand.
Über tirolische Dialektdichter ist manches geschrieben, eine zusammenfassende
Geschichte haben wir leider noch nicht.
Da sind uns unsere Nachbarn, die Vorarlberger weit voraus. Sie haben aber
auch eine Fülle von Dialektpoesie wie nur Oberösterreich, und eine ganze Reihe vor-
züglich er Dialektdichter, während die hochdeutsche Kunstpoesie im Hintergrunde bleibt.
Ohne diese Andeutungen, die vielleicht für den Literarhistoriker einigen Wert
haben, weiter zu führen, verweisen wir auf das Werk des verstorbenen Professors
E. Winder: Die Vorarlberger Dialektdichtung. Insbruck bei Mayer, 1890.
Das Lied vom Pater Guardian.
Von Hermann Diels.
Die Mitteilung Adolf v. Pichlers in Heft 2 d. Ztschr., S. 199 (Bd. IV) veranlasst
mich, ein ähnliches Kinderliedchen aus Wiesbaden mitzuteilen, das mir origineller
zu sein scheint. Die Melodie ist nur ungefähr richtig, da die Überlieferung durch
unmusikalische Ohren gegangen ist. Hr. Dr. Max Friedländer hatte die Gefälligkeit,
die Notation so gut es ging zu veranschaulichen.
Kleine Mitteilungen.
333
h
Sie:
Er:
£=£:
3=5=
„Gu-ten Tag, Pa-ter Qua-dri-an!" „ „Gu-ten Tag, Jung-fer Su - sann!""¡
Sie: Er: Sie:
=rd:
„Höcht"' gern beich-ten." „„Was will sie beich-ten?"" „Hab'ge - siin - digt."
Er : Sie :
■—-fc-+----s—---iy >. g--» —»--P-Z-
„„Da-für muss sie büs-sen, muss mich drei-mal kiis-sen."" „Das thu' ich nicht."
Sie: Er:
3=£
„„Sie muss.""
Sie : (schnell)
„Das thu' ich nicht."
(N aturlaute)
„Sie
„Muss ich denn, so will ich denn." Schmatz, Schmatz, Schmatz.
Die Wirkung1 beruht auf dem Kontrast der Frauen- und Männerstimme und
des getragenen Tempos im Anfang, wo offenbar Imitation der kirchlichen Responsorien
beabsichtigt ist, und des munteren Schlusses. Der Anfangsvers, den Pichler giebt:
Die Klosterfrau im Schneggenhaus,
Die moant, sie sei verborg'n;
Da kimmt der Pater Guardian,
Wünscht iar an guat'n Morg'n.
fehlt mit Recht in der Wiesbader Version. Denn die Situation der Beichte, welche
das eigentliche Lied voraussetzt, stimmt nicht mit dem Verborgensein der Kloster-
frau im „Schneckenhaus". Mir scheint
diese ganze Strophe dem Bestreben
entsprungen, die lokale Situation, die
in dem rheinischen Kinderspiel durch
die Mimik der Hände dargestellt wird,
noch besonders zu verdeutlichen. Mit
dem Vortrage nämlich ist in der
rheinischen Version das Spiel der Finger
so verbunden, dass die beiden Hände
in einander verschränkt werden (vgl'
heistehende Skizze). Der dritte, vierte
und kleine Finger bilden so gleichsam
ein Schneckenhaus (der Ausdruck
stammt von dem bekannten Finger-
spiel, in dem die Schnecke angeredet
wird ; vgl. das Rochholzsche Lied, S. 225); die beiden Zeigefinger stellen die
Klosterfrau und den Pater vor, die sich beim Sprechen ihres Partes lebhaft bewegen
nnd den Schluss mimisch darstellen.
334
Diels :
Unter den zahllosen Fingerspielen meiner rheinischen Heimat ist mir auch
eins erinnerlich, das anf die Melodie eines jungen Gassenhauern geht und ver-
mutlich, da ich beide Kinderlieder mit ziemlicher Sicherheit bis etwa 1820 ver-
folgen kann, dessen musikalische Vorlage ist. Die Hand wird bei diesem Reime
auf den Tisch gelegt und mit den Fingern, die sich abwechselnd heben und senken,
der Takt geklopft.
Munter.
Wenn der ein' sich nie - dcr-legt, muss der ander'sich he - ben.
Zu der sehr dankenswerten vorstehenden Mitteilung des Hrn. Prof. Dr1. H. Diels
und dem von Hrn. Prof. Dr. Adolf v. Pichler in Innsbruck oben S. 199 gegebenen
Text seien folgende Nachweisungen über bisher bekannte Drucke des Kinder-
liedchens gefügt.
K. Simrock im Deutschen Kinderbuch (Frankfurt a. M., 1857, 2 A.) bringt unter
No. 528 folgenden Reim zur Beschwörung der Schnecke:
Klosterfrau im Schneckenhäusle
Sie meint, sie sei verborgen,
Kommt der Pater Guardian,
Wünscht ihr guten Morgen.
In den Baslerischen Kinder- und Volksreimen aus der mündlichen Über-
lieferung gesammelt (von Brenner) Basel, 1857, S. 61, No. 171 lesen wir:
D'Klosterfrau ina Schneckehus
Hat g'meint si syg verborgn,
Do kunnt der Pater Guardian
Und sait ern guetn Morgn.
Rochholz, Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz (Leipzig,
1857), S. 225 teilt ohne nähere Ortsangabe folgenden erweiterten alemannischen
Spruch mit, in dem jener Viervers einer weitverbreiteten und daher variantenreichen
Besprechung der Schnecke vorangesetzt ist. Die Verwandlung des Guardian in
V. 3 in den Bichtiger beweist, dass für die Schweiz ein dem Innsbrucker ganz
verwandter Spruch zu vermuten ist.
Chlosterfrau im Schneggehus,
sie meint, sie sig verborge,
do chunt der Pater Bichtiger
und weuscht ehr guete Morge.
Sehn egge, Schnegg im Hüsli,
zeig mer dini Düsli,
zeig mer dine Vierihorn
oder i steck dich an e Dorn.
Schnegge, Schnegg im Hüsli,
zeig mer dini Büsli
oder i nagle dich an en Baum
oder an es Strüssli (Risii).
In den mir zugänglichen Sammlungen von Kinderreimen habe ich keine
Parallelen weiter gefunden. K. W.
Kleine Mitteilungen.
335
Steyermarckischer Kautjodl.
Her - zu ihr
Da stell ich
Bu - hen,
fer - tig,
hat
da
ei -
habt
ner cm
ihr mein
Lust mit mir ein
Brust, mein Freud ist
Gang zu wa-gen.
rau - fen, schla-gen.
Yor kei-nem mir graust, ich hah auch mein
:t=:
Faust, darf umb kein Men-schen fra-gen.
2. Der jutig Raufjodel so bin ich genannt | Kan reuthen und kan fahren | In
edlen Steyermarckt vielen bekannt | Ein Bub von dreyssig Jahren | Man sieht mirs
nicht an | was ich noch mehr kan | Wers nicht glaubt thues erfahren.
3. Ich bin kein Edelmann weiss ich gar wol | Scham mich nicht meiner
Joppen I Wann schon ein andrer viel grösser seyn soll | So lass ich mich nicht
foppen I Was frag ich umb ihn | so klein als ich bin | Kan ihm das Maul ver-
schoppen.
4. Keim Flegel weich ich in unser Refier j AVenns meiner nur begehren | Offt
starcke Buben drey oder auch vier ¡ Die jauck ich weit von fehren | Ich hau halt
stich stich I schlag mächtig umb mich | Bin halt ein harter Kehren.
5. Du Ochsen-Liendl gross kopfFeter Bue | Mein Faust wird dir nicht schmecken j
"Hast du Curaschi so mach dich herzue | Was frag ich umb dein Stecken | Du
Simandl auch | Mit deinem Schmerbauch | Sollst mich gar nicht erschrocken.
6. Der Merthl hat mich gefordert herauss | Hab ihm die Haut voll gschlagen |
Den Narren hat man gantz blutig ins Hauss | Von mir haimb müssen tragen | Er
kunt nit mehr stehn | er kunt auch nit gehn | Jetzt ligt er schier am Schrägen.
7. Dess Becker Hansel hat d'Suppen versaltzt | Thut mir ins Hertz ein-
schneiden I Hat mir im Wirtshauss unsinnig eingschnaltzt | Er hats noch auff der
Kreiden | Und jauchtzt noch darzue | der trotzige Bue | Das mag ich gar nit leiden.
8. Soll er mir einmahl nur kommen ins Gsicht | Flux wolt ich mit ihm
fechten | Das soll er wissen ich weich ihm gar nicht | Er find an mir den rechten |
Ey potz Safrian | ich weis was ich kan | Trutz andern starken Knechten.
9. Auff offner Strassen mach ich mich an ihn | Es wird gross Fetzen geben |
Ein gutn Schmitzen hat er zum Gewin | Solls kosten auch mein Leben | So starck
es kan seyn | So schlag ich darein | Warumb darff er anheben.
10. Bald er an mich nur ein wenig anstösst ¡ Mein Pietzer will ich zucken |
Zerhauen will ich den Buben auffs best | Die trutzige Hundslucken | Äfft ligt er
zerhaun | An Bein und an Haut | Zu vier und zwantzig Stucken.
11. Wenn er sein Leben gelassen in Stich | Verfaullt er dann im Graben | Da
muss er strecken all viere von sich i Und fressen ihn die Raben | So Hansel mein
Knecht | Es gschicht dir gar recht | Du hasts selbst wollen haben.
12. Der Bub der Riepl ist göltig nichts nutz | Hebt an viel schlimme Possen |
Hat nechsten mir und mein Gspänen zu Trutz | Mein Hund mit Füssen gstossen |
Ha bin ich nicht faul [ Und schlag ihn aufs Maul | Das Blut ist hier geschossen.
336
Weinhold:
13. Erst gestern hab ich ihn aber ertapt j Zunechst bey unser Huben | Hat
er auch bey sich ein Säbel gehabt ¡ Und noch zween andre Buben | Da hab ich
drein ghaut | Als wie in ein Kraut | Zerhackt als wie die Ruben.
14. Dem Lentzel Müllner ich schuldig eins bin | Ich kans ihm ja nicht
schencken | Mein Präpen will ich noch wetzen an ihn | Er muss auff mich ge-
denken I So bald ich ihn find | Schlag ich ihn zum Grind | Will ihm ein guts an-
hencken.
15. Nechst wie die Gredl ihr Hochzeit hat ghabt | Mit unsers Jägers Frantzen |
Hab ich ihn auff dem Tantzboden ertapt | Wolt gschwind bey mir anschantzen |
Der talckete Knoll \ War dämisch und voll | Wolt mir allweil vor dantzen. 4
16. Da bin ich hurtig und gieb ihm gut Stöss ¡ Wirds haben wohl empfunden j
Zerfetzt ist worden sein Joppen und Kröss | Sein Schedel voller Wunden | Und
hat ihn noch mehr | Gebloyet wann er | Bey Zeit nit wär verschwunden.
17. Dess Pfarrers Hiessl der gstroblete Narr | Hat auch mit mir angfangen |
Hab ihm aussgrissen gross Schippel von Haar | Seynd dreimal zsammengangen | Und
hab ihm haimb gleicht | Biss unten zum Teicht | Mit einer Hopfenstangen.
18. Fang Hiesel morgen fein wiederumb an | Hast lust wart bey der Linden |
Dein Meister bin ich du kennst mich ja schon | Lass mir die Händ nicht binden ¡
Bekomm ich dich mehr | Und kombst mir noch her | Was suchst das wirst du
finden.
19. So bleib ich halt der Rauffjodel so werth | All Buben mich schon kennen |
Wo man zu rauffen zu schlagen begehrt | Mit Lust werd ich zurennen | So präv
als ichs mach j Thus einer mir nach | Will ihn mein Meister nennen.
Ehrliche Gemüths-Erquickung | Das ist: Unterschiedliche annehmliche
Gesänger ¡ Mit Trostreichen sittlichen Lehren untermischet j Sambt bey-
gesetzten Melodeyen | von neuen gemacht und zusammen getragen. Cum
licentia Superiorum. Gedruckt zu Wienn | bey Susanna Christina Cofmerovin
I K. K. M. Hoffbuchdruckerin | 1687. S. 166. 8°. Darin No. XXX.
Ein zweiter im selben Jahr erschienener Theil, ohne Bezeichnung als
zweiter, hat denselben Titel, nur: Melodeyen | so denen Liebhabern von
neuen u. s. w. weicht ab. Er hat S. 111. 8°.
Elf Strophen dieses Liedes hat Franz Wilh. v. Ditfurth aus einer „alten
Handschrift" in seiner Sammlung: Deutsche Volks- und Gesellschaftslieder des 17.
und 18. Jahrhunderts, Nördlingen 1872 als Anhang S. 343 f. drucken lassen. Bei
ihm fehlen unsre Str. 3. 7—13. Der Text ist schlechter als der unsre.
K. W.
Nacìiriditeli aus dem Bereiche der Volkskunde.
In Breslau hat sich am 28. Juni d. J. eine Schlesische Gesellschaft für
Volkskunde fest gebildet. Den Vorstand bilden die Herren Fr. Vogt, Nehring,
Jiriczek, Holz, Volz und Wagner. Wir wünschen der jungen Gesellschaft eine
reiche Ernte in dem noch ungehobene Schätze bergenden Schlesien, und hoffen
auf gegenseitige Unterstützung und Förderung.
Der Verein für bayrische Volkskunde und Mundartenforschung ist
nun auch ins Leben getreten. Die Leitung haben übernommen in Würzburg die
Herren Dr. Oskar Brenner, Universitätsprofessor; Lehrer Jakob Beyhl, Lehrer
J. Schmidtkonz; in München die Herren 'Reallehrer A. Englert und Reallehrer
V. Loesl. Ein Aufruf, der die Ziele der Sammlungen in Mundarten, Volkspoesie,
Biicheranzeigeii.
357
Glaube und Sage, Sitte und Brauch näher angiebt, fordert zum Beitritt zu dem
Verein auf. Der Jahresbeitrag ist 1 Mark.
Unsre neuliche Mitteilung über die Sammlung der badischen Volks-
überlieferungen berichtigen wir dahin: Den Entschluss zu diesem Unternehmen
haben die Herren Prof. Dr. F. Kluge, Prof. Dr. E. H. Meyer und Bibliothekar
Dr. P. Pf äff gemeinsam gefasst, wie sie auch Fragebogen gemeinsam aufgestellt
und ausgesandt haben und gemeinsam ihr Werk auszuführen gedenken.
Für die Sammlung des Volkstümlichen in Mecklenburg ist Herr
R. Wo s si dio, Gymnasiallehrer in Waren, rastlos thätig. In der Rostocker Zeitung
teilt derselbe ab und zu Sammelfrüchte mit, so jüngst in No. 252, 1894 allerlei
Redensarten vom Tanzen. Gegen Ende des Jahres hofft er die Ausarbeitung des
Rätselbuches beginnen zu können. K. W.
Biiclieraiizeigeii.
Annuaire des Traditions populaires. Neuvième année. Paris, Em. Le-
chevalier, Ernest Leroux. 1894. S. III. 165. 8°.
Dieses von Hrn. P. S ó b i 11 o t im Auftrage der Société des Traditions populaires
in Paris herausgegebene Jahrbuch ist das sechste seit Gründung der Gesellschaft.
Vorausging unter Leitung von E. Rolland als verwandte Unternehmung ein Almanach
-des Traditions populaires, 1882—84, worin ausser der Liste von Sammlern
und Forschern in der Volkskunde, eine Bibliographie neuster Erscheinungen, sowie
Lieder, Sagen, Rätsel und französische, bretonische und baskische Kalender sich
fanden. Auf diesen Inhalt ist seit dem vierten Annuaire verzichtet worden, da sich
Zeitschriften dafür nunmehr zur Genüge darbieten. Das Jahrbuch hat, man könnte
sagen, einen rein geschäftlichen Charakter erhalten, es ist ein Adressbuch der
Volkskunde, ihrer Freunde und Arbeiter, der Vereine, der Zeitschriften geworden.
Zuerst werden die Sociétés des Traditions populaires aller Länder aufgeführt, mit
Angabe ihrer Gründung, ihres Sitzes, des Vorstandes, der Beitrittsbedingungen, der
Vereinsschriften, der Embleme. Unser Verein findet sich auf S. 18, 19 mit unserm
Fleuron, der Kaulbachschen Sage. In einem zweiten Abschnitt sind die Zeit-
schriften mit ihren Titeln, Herausgebern, der Erscheinungsart, den Preisen über-
sichtlich zusammengestellt; hierauf die Museen und Sammlungen. Dann folgt
alphabetisch eine Liste der Namen und Adressen der „Traditionisten", darauf eine
Gruppirung derselben nach den besonderen Richtungen ihrer Arbeit, und ein Ver-
zeichnis der von 1886—93 Verstorbenen. Den Schluss macht eine kleine Sammlung
von Bildern zur Volkskunde, grösstenteils der Revue des Traditions populaires
entlehnt. Sie zeigen durch einige Muster, wie die Zeichner verschiedener Epochen
Scenen aus Märchen und geisterhafte Wesen auffassten. Dann folgen einige
Beispiele von Illustrationen aus Volksbüchern, Zeichnungen von eigentümlichem
Gebäck, von Thonfiguren, Amuletten, Ostereiern und volksmässigen Ornamenten:
eine kleine aber anregende Sammlung. Zum Bildschmuck des Buches gehören
auch die kleinen, aber gerade nicht schmeichelhaften Portraits französischer,
italienischer und belgischer Traditionisten.
338
Weinhold:
Dieses Jahrbuch ist ein nützliches Unternehmen, das, wie Herr E. Rolland
vor dem Almanach von 1882 sagte, dienen kann de lien entre les personnes du
monde entier qui s'occupent de la science des Traditions populaires.
In der Natur eines solchen Buches liegt es, dass es die Teilnahme und Mitarbeit
vieler fordert. Möge durch Ergänzungen und Verbesserungen dem verdienten
Herausgeber,. Herrn P. Scbillot, der rechte Dank für seine Mühe von recht vielen
gespendet werden. K. W.
Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache.
— — Bearbeitet von Fr. Staub, L. Tobler, R. Schoch und
A. Bachmann. Frauenfeld, Verlag von J. Hub er. Heft XXIY bis
XXVI. 1893-94. (Bd. III, Sp. 449-928). 4°.
Wir haben über dieses bedeutende Wörterbuch der deutschen Sprache in der
Schweiz uns in unsrer Zeitschrift I, 221 und III, 107 geäussert und können das
dort über die grosse Anlage und die sorgfältige Ausführung, sowie über prinzipielle
Fragen bemerkte, nur wiederholen. Ein neuer Mitarbeiter, Herr A. Bachmann, hat
sich zu den altbewährten gesellt, mit dessen Hilfe die Last und Mühe, welche
jede lexikalische Arbeit bringt, jenen etwas leichter werden möge. Die alte Ver-
bindung von Sache und Wort, d. i. die ausführlichere Aufnahme von Gebräuchen
und Sitten unter das rein Sprachliche der Worte ist zur Befriedigung wohl der
meisten Leser beibehalten, es ist damit um das Gerüst belebende Gewandung
gelegt. Von den grösseren Artikeln möchte ich, hauptsächlich wegen der Ver-
einung des Nominalen mit dem Realen, hervorheben Karl Kerli, Chern, Chäs,
Chuss, Chatz, Chlunge, Chlepfe, C h laus, Chnab, Chnebel, Chnecht, Chnopf,
Chropf, Chrüt. Möge das reich beladene Wortschiff eine glückliche Fahrt auch
ferner haben lind seinen Steuerleuten beschieden sein, es wohlgemut ans Ziel zu
führen! K. Weinhold.
Deutscher Liederhort. Auswahl der vorzüglicheren deutschen Volkslieder,
nach Wort und Weise aus der Vorzeit und Gegenwart gesammelt und
erläutert von Ludwig Erk. Nach Erks handschriftlichem Nachlasse
und auf Grund eigener Sammlung neubearbeitet und fortgesetzt von
Franz M. Böhme. Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1893. Bd. I.
S. LX, 656. Bd. II. S. 800. gr. 8°.
Zu den begeistertsten Freunden des deutschen Volksliedes in Wort und Weise
und den eifrigsten Sammlern hat seiner Zeit Ludwig Erk gehört (geb. 6. Januar
1807 in Wetzlar, gest. 25. November 1883 in Berlin). Sein Hauptwerk ist der
Deutsche Liederhort, mit dem er ein grosses kritisches Liederwerk zu geben
beabsichtigte, eine Sammlung der wertvollsten Volkslieder in Wort und Weise aus
alter und neuer Zeit. Es erschien davon aber nur der I. Band in acht Heften von
1853—56, der blos Lieder aus mündlicher Überlieferung brachte, eine gewissenhafte
Frucht langer Arbeit. Dann sammelte Erk unablässig weiter für die andern zwei
beabsichtigten Bände, doch gelangte er nicht zum Abschluss selbst des nächsten
Bandes, und als er starb, war nur ein kleiner Teil der alten Melodien für den
Druck vorbereitet, zum Teil mit Texten, alles übrige waren nur Collectaneen in
grösster Fülle. Erks Erben trugen 1885 den Liederhort zur neuen Bearbeitung und
Biiclieranzeigen.
339
Herausgabe einem auf gleichen Wegen wandelnden Forscher an, Prof. Fr. M.
Böhme in Dresden, der durch sein Altdeutsches Liederbuch (1877) und seine
Geschichte des Tanzes in Deutschland (1886) sich als gründlichen Kenner und
unermüdlichen Sammler deutscher Volksmusik und deutschen Volksgesanges bewährt
hat. Obgleich Herr Böhme selbst mit einem dem Liederhort verwandten Werke,
einem Deutschen Volksliederschatz beschäftigt war, gab er dasselbe nun auf und
vereinte seine Sammlungen mit den Erkschen. Er ging an eine Umarbeitung des
Vorhandenen und an die Vollendung des Ganzen. Der damalige preussische
Unterrichtsminister Herr von Gossler gewährte dem Unternehmen fördernde Teil-
nahme. Auf seinen Vortrag wies Kaiser Wilhelm I. die Mittel zum Ankauf der
Erkschen Sammlungen für die Hochschule für Musik an, und Kaiser Wilhelm II.
ermöglichte huid roll die Drucklegung. So liegen denn zwei stattliche Bände in
würdigster Ausstattung des Breitkopf-Härtelschen Verlages bereits vor, denen der
letzte, dritte, bald folgen wird, und wir besitzen damit einen wertvollen Schatz,
eine reiche Auswahl unsrer gesungenen volksmässigen Lieder von alter Zeit bis
in die Gegenwart.
Herr Böhme hat die Texte und Melodien, die Erk festgestellt hatte, möglichst
beibehalten. Er hat aber, da Erk nur einen Teil druckfertig hinterliess, eine grosse
Anzahl neuer Lieder nicht bloss auswählen, sondern auch selbst bearbeiten müssen.
Ausserdem fiel ihm die Anordnung des ganzen Inhalts und die planmässige Ver-
teilung in Bücher zu, die Litteraturangaben zur Vergleichung der einzelnen Texte
und Weisen, ferner Wort- und Sacherklärungen, endlich das umfängliche Quellen-
verzeichnis'und die Register.
Der Erk-Böhmesche Liederhort ist für jeden Freund des deutschen Volksliedes
eine Quelle des reichsten Genusses, für jeden Forscher ein unentbehrliches Hilfs-
mittel zum bequemen Studium der Geschichte der Texte und Melodien, der Ver-
breitung und Veränderungsfähigkeit derselben. Eine solche Fülle von Materialien,
als sie Erk und Böhme sammelten, hat sich selten oder nie in einer Hand befunden.
Den grössten Wert möchten wir dem musikalischen Teil zuschreiben.
Der 1. Band enthält die balladenartigen Lieder (220 Nummern); der 2. bringt
in sechs Büchern eine Auswahl historischer Lieder, dann Liebeslieder, Abschieds-
und AVanderlieder, Tagelieder und Kiltgesänge, Hochzeits- und Ehestandslieder
nebst Nonnenklagen, Tanz- und Spiellieder. Dem dritten Bande fallen noch acht
Bücher zu: Rätsel-, Wunsch- und Wettlieder; Trinklieder; Ansinge(Heische)lieder;
Ständelieder; Scherz- und Spottlieder; Lieder vermischten Inhalts; eine kleine
Auswahl Kinderlieder; endlich geistliche Gesänge.
Das grosse Werk wird ein bleibendes Andenken für Ludwig Erk und Franz
Böhme bilden. K. Weinhold.
Old Celtic Romances. Translated from the Gaelic by P. W. Joyce, LI.
D. Second Edition revised and enlarged. London, David Nutt.
1894. S. XX. 446. 8°.
Elf romantische alte Erzählungen, aus gaelischen Handschriften des Trinity
College und der Royal Irish Academy ausgewählt und übersetzt von Dr. P. AV. Joyce,
einem durch geschichtliche und grammatische Arbeiten in Irland wohlbekannten
Gelehrten. Einige dieser Geschichten erschienen in der 1. Ausgabe des Buches
zum ersten Male übersetzt, andre wurden bereits von andern Kennern des Gaelischen
'n buchstäblich treuer englischer Übertragung in den Transactions of the Ossianic
Society, in der Atlantic, in den Abhandlungen der Royal Irish Academy und dem
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 23
340
Weinhold:
Journal of the R. Historical und Archaeological Association of Ireland veröffentlicht.
Dr. Joyce hat sich bemüht seine Texte in einer wörtlich freien, aber dem Geiste
der Originale sich anschmiegenden Art zu übertragen und sie in schlichtem
gutem Englisch zu erzählen, geniessbar für das grosse Lesepublikum, auf das die
Old Celtic Romances überhaupt berechnet sind.
Die elf Geschichten sind: Das Schicksal der Kinder Lirs oder die vier weissen
Schwäne; das Schicksal der Kinder Turenns; die Überschwemmung von Lough
Neagh und die Geschichte von Liban der Meerjungfrau; Connla mit dem goldenen
Haar und die Fee; die Reise Mailduns; das Feenschloss mit den Ebereschen; die
Verfolgung des Riesen Gil la Dacker und sein Ross; die Verfolgung von Dermal
und Grania; die Jagd auf Slieve Cullinn; die Jagd auf Slieve Fuad; Ossian in
Tirnanoge; die Reise der Söhne O'Corras.
Folk-Tales of Angola. Fifty tales with Ki-Mbundu Text, literal english
translation, introduction and notes, collected and edited by Heli
Chatelain, late U. S. commercial agent at Loanda, West Africa.
Boston and New-York, published for the American Folk-Lore Society
by Houghton, Mifflin and Comp. 1894. 8. IX. 315. 8° und 2 Karten.
Die notwendige Folge der mächtig fortschreitenden Kenntnis des schwarzen
Erdteils ist die jährlich wachsende Bekanntschaft mit dem geistigen Zustand und
den Sitten der Negervölker. Das vorliegende Buch des Amerikaners Hell i Chatelain
ist ein neuer Beitrag. Derselbe kam zuerst 1885 als linguistisches Mitglied der
afrikanischen Mission des Bischof \V. Taylor nach Loanda, der Hauptstadt von
Angola, machte aber in seinen Bemühungen erst Fortschritte, als er im dritten
Jahre ins Innere der Provinz, nach Malango, kam. 1889 begleitete er die Pensecola
Eclipse. Expedition nach Westafrika und kehrte 1891 als Handelsagent der Ver-
einigten Staaten nach Angola zurück. Ausser mit der Sprache der Stämme dieser
portugiesischen Provinz suchte er sich mit den Märchen, Geschichten, Liedern,
Rätseln und Sprichwörtern derselben bekannt zu machen und sammelte íleissig.
Die fünfzig Erzählungen im vorliegenden Buche sind nur der Anfang seiner Mit-
teilungen, die er in der Ki-Mbundu Sprache mit wörtlicher englischer Über-
setzung giebt.
Die portugiesische Provinz Angola grenzt im Süden an Deutsch Südwestafrika,
im Südosten an Britisch Zambesia, im Osten und Norden an den Kongostaat.
Eine grosse Anzahl kleiner Stämme bewohnt die grosse in vier Distrikte geteilte
Provinz: im nördlichsten Teil sitzen zum Kongovolk gehörende Völkerschaften, in
dem Loandadistrikt herrscht das A-mbundovolk, im Distrikt von Benguella das
Ovi-mbunduvolk, im Mossámedesdistrikt sitzen verschiedenartige Stämme. Die
Geschichten dieses Buches stammen aus dem Loandadistrikt und sind in den zwei
Hauptdialekten der halbcivilisirten Bevölkerung desselben, in Loanda und dem
Mbaka geschrieben, welche die Grundlage für das literarische Ki-mbundu abgeben.
In der Einleitung handelt der Verf. von den politischen und ethnographischen
Verhältnissen Angolas und ebenso von den socialen, worin die Sklaverei und der
Sklavenhandel die Hauptrolle spielen. Der Sklavenhandel gründet sich 1. auf das
Recht des Onkels über Neffen und Nichten als über eine Ware zu verfügen,
2. auf die Unfähigkeit Schulden oder Strafgelder zu zahlen, wo der Zahlungs-
unfähige sich selbst oder seine Geschwisterkinder in die Unfreiheit geben muss,
3. auf den Krieg: Kriegsgefangene werden an den Höchstbictenden versteigert.
Bücheranzeigen.
341
Die Sklaven werden von den sogenannten wilden Völkern nicht hart behandelt
und haben die Möglichkeit sich frei zu kaufen. Nur die civilisierten Sklaven-
besitzer sind grausame Herren.
Die Bewohner von Angola haben die gleiche Religion als die Bantu im
allgemeinen. Sie sind nach unserem Verfasser nicht eigentliche Götzendiener, noch
Atheisten, noch Fetischisten, nach Polytheisten, sondern abergläubische Deisten.
Sie glauben an einen grossen unsichtbaren Gott, der alles schuf und über allem
waltet, aber sie sagen, sie wüssten sehr wenig von seinem Wesen. Die echten
Eingeborenen haben keine eigentliche Gottes Verehrung und auch keine Götterbilder.
Sie schnitzen zwar Bilder, die sie Götter nennen, aber in Kreuzform, und jeder
Eingeborene weiss, dass das Bild den Gott der Weissen darstellt. Wirklichen
Fetischismus will der Verfasser nur unter den ungebildeten Portugiesen gefunden
haben mit ihrem Krucifix- und Wunderglauben. Was die Eingeborenen sonst von
Bildern haben, sind Amúlete, Talismane und dergl., denen der Medizinmann durch
seine Zaubersegen gewisse Kräfte verleiht, die von einem unteren Geiste ausgehen.
Diese Geister (ma-bamba) vertreten Naturkräfte und werden mit menschlichen
Eigenschaften und Launen gedacht. Ihre Gunst muss durch Geschenke und Opfer
erworben und erhalten werden und darin besteht der einzige Cultus der Bantu-
neger. Die Mittler zwischen den Dämonen und den Menschen sind die Medizin-
männer und -Weiber, die eine Art geheimen Orden bilden,- aber nicht hierarchisch
organisiert sind. Die Geister der Toten werden mit den Naturdämonen nicht ver-
mengt, aber man schreibt ihnen auch Macht zu und verehrt sie.
In einem lehrreichen Abschnitt Angolan Folk-lore spricht H. Châtelain über
das, was für das Studium der socialen und religiösen Verhältnisse und für die
ungeschriebene mündliche Litteratur „that is of their folklore" der afrikanischen
Völker geschehen ist. Als das eigentliche Feld betrachtet er Afrika südlich der
Sahara, also die weiten Länder der Negerrasse, die gewöhnlich in Nigritier und
Bantus geteilt wird. Mit Lepsius verwirft IL Ch. diese Teilung und erklärt die
Bantus für die reinen Neger, die Nigritier gehörten zur selben Rasse und seien
nur ein Zweig derselben, in deren Sprache hamitische Elemente sich einmengten.
In Bezug auf volkskundliche Veröffentlichungen ist Südafrika am besten be-
stellt. Schon 1841 erschienen die Etudes sur la langue Séchuana von E. Casalis
(Paris), 1864 Zululand or Life among the Zulu Kaffirs von Grout (Philadelphia)
und Reynard the Fox in South Africa, or Hottentot Fables and Tales von AV. H.
J. Bleek (London), eine durch deutsche Missionare vermittelte Sammlung von
42 kurzen Tierfabeln; Bleek liess später (1875) A brief account of Bushmann
Folk-lore drucken. Es sind dann noch zu nennen die Nursery tales, traditions and
histories of the Zulus von H. Callaway (Natal 1868), desselben The Religious
System of the Amazulu (Natal 1868—70, 2. Ausg. London 1884), das Folk-Lore
Journal, von der South African Folk-Lore Society zu Capetown 1879—81 heraus-
gegeben; Kaffir Folk-Lore von G. M. Theal (London 1886); Brincker, Wörter-
buch des Otyi-Herero (Leipz. 1886), wozu noch ein Anhang von einigen Herero-
erzählungen von Brincker und Büttner kam.
Für Westafrika sind zu nennen: S. W. Koelle, African Native Literature, or
Proverbs, Tales, Fables and Historical Fragments in the Kanuri or Bornu language
(London 1854); C. F. Schlenker, A Collection of Temne Traditions, Fables and
Proverbs (London 1861); R. P. Burton, Wit and Wisdom from West Africa
(London 1865); Ch. A. L. Reichardt, Grammar of the Fulde Language, with
some original Traditions (London 1^76); J. G. Christaller, A collection of 3600
Tshi Proverbs in use among the Negroes of the Gold Coast (Basel 1879), vgl
28*
342
Weinhold:
Negermärchen von der Goldküste, von J. G. Christaller in unsrer Zeitschrift IV,
61—71; T. b\ Schön, Magána Ilausa. Native Literature, or Proverbs, Tales,
Pables and Historical Fragments in the Hausa language (1885).
Für Üstafrika sind zu verzeichnen: E. Steere, Swahili Tales, as told by
natives of Zanzibar (London 1870); Sultani Darai, Swahili Tales (Zanzibar 1884);
Kibaraka, Swahili Stories in Swahili (Zanzibar 1885); J. d'Almeida da Cunha,
Usos e Costumes dos Banianes, Bathias etc. de Mozambique (Mozamb.. 1885).
YV E. Taylor, African Aphorisms (in Swahili), London 1891. C. G. Büttner,
Lieder und Geschichten der Swaheli, übersetzt und eingeleitet (Berlin 1894).
Als t!ie wesentlichsten Schlüsse aus einer genauen Vergleichung des ver-
öffentlichten Materials ergeben sich nach H. Châtelain für die afrikanische Volks-
kunde (südlich der Sahara):
Trotz des sichtlichen Einflusses der arabischen Erzählungsstoffe und des
portugiesischen Elements in Angola ist die Masse der Geschichten echt inländisch.
— Im besonderen zahlreich sind die Tiergeschichten und -Fabeln. — Die Bantus
haben eine merkwürdig übereinstimmende kompakte Überlieferung. — Die Über-
lieferungen der Nigj'itier zeigen sich nach Ausscheidung der islamischen Elemente
als wesentlich dieselben mit denen der Bantus. — Mythen und Aberglauben der
verschiedenen Negerstämme lassen sich auf einen gemeinsamen Typus zurück-
führen, der auffallende Ähnlichkeit mit dem arischen hat. — In den Tiergeschichten
spielt jedes Tier dieselbe Rolle durch das ganze Gebiet, indem sie seiner wirk-
lichen Natur entspricht. — Sowohl bei den Nigritiern als den Bantus giebt es
sehr viele Geschichten, die bestimmt sind, den Grund oder Ursprung von Natur-
erscheinungen und von besonderen Gewohnheiten von Tieren und Menschen zu
erklären: die setiologische Klasse der Geschichten. Bei anderen Rassen kommen
sie seltener vor.
Ii. Chatelain bringt dann die volkstümlichen Überlieferungen von Angola in
natürliche Klassen, die zugleich für die afrikanischen überhaupt gelten künnen.
1. Erzählungen von wunderbarem phantastischem Inhalt; die mi-soso, die
durch besondere Formeln eingeleitet und geschlossen werden. Die Tierfabeln
gehören auch hierher. — 2. Anekdotenartige Geschichtchen, die maka, mit der
Tendenz, eine Anweisung zur Lebensführung zu geben. — 3. Geschichtliche Er-
zählungen von Ursprung, Einrichtung und Veränderungen der politischen Verbände,
nur im Besitz der Häuptlinge und als geheiligter Schatz der herrschenden Klasse
bewahrt. Sie heissen ma-lunda oder mi-sendu. — 4. Die Sprichwörter, ji-sabu,
häufig mit Klasse 2 verbunden. — 5. Gesungene Gedichte, mi-imbu, von epischem,
idyllischem, satyrischem, komischem, religiösem Inhalt. Vom Reim zeigt sich
wenig darin, mehr von Allitterati on, rythmischer Bewegung und Parallelismus.
Die afrikanischen Neger sind sehr gewandt im Stegreifdichten. — 6. Die Rätsel,
ji-nongonongo, gleich den mi-soso durch bestimmte Formeln eingeleitet und ge-
schlossen. Das nongonongo ist oft nur ein Wortspiel.
Über die Tiergeschichten macht H. Ch. folgende Mitteilungen. Die Tierwelt
ist gleich der menschlichen eingerichtet. In Angola ist der Elephant der König
aller Tiere. Sein höchster Vasall ist der Löwe, der Fürst der wilden Tiere.
Häuptling der Reptilien ist der Python; der Flossentiere der Di-lenda, der grösste
Flussfisch ; des gefiederten Stammes der Kakulu ka humbi, ein sehr grosser Adler.
Unter den Haustieren ist der Stier das Haupt; auch die Heuschrecken, Ameisen
und Termiten haben ihre Könige oder Königinnen. Jeder Häuptling oder König
hat seinen Hof- und Beamtenstaat, sein Parlament und seine Unterthanen, grade
wie ein menschlicher afrikanischer Soba.
Bticheranzeigen.
843
Jedes Tier tritt mit seinen natürlichen Eigenschaften in den Fabeln auf. Der
Elephant ist der Höchste an Kraft und Weisheit. Der Löwe ist stark aber nicht
edel, wie in unserer Fabel. Die Hyäne vertritt die brutale Gewalt und Dummheit;
der Fuchs oder der Schakal die List; der Alfe Schlauheit und Schnelligkeit; der
Hase oder das Kaninchen Klugheit und Behendigkeit; des Hundes Charakter ist
gemein, kriechend und verächtlich, dagegen die Turteltaube ist das Sinnbild der
Keuschheit und Weisheit u. s. w.
Die Mitteilungen aus der Einleitung zu den Folk-Tales of Angola werden,
denke ich, die Leser interessieren, da sie auf das innere Leben der Neger viele
Lichter werfen. In den fünfzig von H. Ch. im Ki-mbundu mitgeteilten Erzählungen,
die den verschiedenen Arten geistiger Erzeugnisse jenes Volkes angehören, finden
sich die Belege. Sie sind natürlich auch sprachlich wichtig und können mit Hilfe
der wörtlichen (in I. interlinearen) englischen Übersetzung auch als eine Chresto-
mathie dienen. K. W.
Sébillot, Paul, T jes travaux publics et les raines dans les traditions et les
superstitions de tous les pays. Ouvrage orné de 8 planches et de
428 illustrations. Paris, <T. Rothschild, éditeur. 1894. S. XVI.
623. 8°.
M. P. Sébillot, der Generalsekretär der Société des Traditions populaires und
Herausgeber der Revue des Traditions populaires, einer der verdientesten fran-
zösischen Pfleger der Volkskunde, hat in diesem umfangreichen Buche seine Studien
über die volkstümlichen Überlieferungen und abergläubischen Meinungen nieder-
gelegt, die sich an die Verkehrsmittel und an die Bergwerke in allen Zeiten und
Ländern geknüpft haben. Durch seine frühere Stellung als Kabinetchef im fran-
zösischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten, sowie durch seine Verbindungen mit
grossen Sammlungen, besonders dem Musée Guimet war ihm der Zugang zu reichen
Quellen, ja zu unmittelbaren amtlichen Erhebungen geöffnet. Er hat dieselben
eifrig benutzt und als kundiger und fleissiger Sammler eine Fülle von Thatsachen
und dieselben lehrreich erläuternden bildlichen Darstellungen gewonnen, die er in
dem geschmackvollen Buche zum allgemeinen Nutzen und Vergnügen vorlegt.
Das Buch zerfällt in zwei Teile: I. Les travaux publics, II Les mines et les
mineurs.
Im ersten Teile behandelt Hr. P. Sébillot die Strassen, Brücken, Eisenbahnen,
Deichbauten, Kanäle, Wasserbehälter und Wasserleitungen, Häfen und Leuchtthiirme,
nach den Gebräuchen bei ihrem Bau, den Sagen, die sich an sie heften, den
mythischen und mystischen Vorstellungen, Sprichworten und Rätseln, deren Gegen-
stand sie sind. Im zweiten Teil werden in gleicher Art die Bergwerke vorgeführt:
der Anfang derselben, die Entdeckungen der metallischen Schätze, die geisterhaften
Wesen, die Schutzpatrone der Bergleute (St. Barbara, St. Leonhard), die Gefahren
in den Bergwerken, die Gebräuche der Bergleute, alles von dem Standpunkte des
Traditionisten betrachtet und untersucht.
AVer die fruchtbare litterarische Thätigkeit des Verfassers kennt, weiss dass
er manche Kapitel seines Werkes schon früher mehr oder minder behandelt oder
dafür gesammelt hat. Namentlich sind in dieser Hinsicht seine Légendes Croyances
et Superstitions de la mer (Paris 1886, 87 ; 2 vol.) zu nennen, die als teilweise
Ergänzung der hier kürzer gefassten Kapitel dienen können. Zum Schluss heben
wir die zahlreichen grösseren und kleineren Illustrationen hervor, die nicht bloss
interessant und amüsant, sondern auch lehrreich sind. K. W.
344
Weinhold:
Beyer, 0. W, Deutsche Ferienwanderungen. Schïilerreisen als An-
schau ungsgänge in Deutscher Landes- und Volkskunde. Leipzig,
G eorg Reichardt, Yerlag. 1894. S. IV. 73. 8°.
Der Verfasser dieses Büchleins will eine Anleitung1 geben, wie Schüler höherer
Lehranstalten, die zugleich Söhne wohlhabender Eltern sind, Reisen durch das
deutsche Land unter Führung kundiger Lehrer mit Nutzen für ihre Bildung machen
können. Die Anregung des patriotischen und geschichtlichen Sinnes, die Hinweisung
auf die verschiedenen Stammeseigentümlichkeiten in Sprache, Wohnung, Tracht,
Sitten, die Entwicklung der Empfindung des ästhetischen Gefühls sind die Ziele
des Verfassers. Wir wünschen seinem löblichen Streben Erfolg. Für die Lehrer
wäre, da die meisten für solche Reiseführung schwerlich vorbereitet sind, eine
Litteraturbeigabe erwünscht, so namentlich die Hinweisung auf das Buch: Anleitung
zur deutschen Landes- und Vo lks fors chu ng, bearbeitet von Penck, Becker,
Eschenhagen, Assmann, Drude, Marschall, Zacharias, Ranke, Kauffmann, Jahn,
Meitzen, Götz — herausgegeben von Alfr. Kirchhoff, Stuttgart 1889. K. W.
Heiupelmaiins Sniiede. Ein westfälischer Roman aus der „guten alten
Zeit" in münsterländisch - niederdeutscher Sprache von Ferdinand
Krüger. Leipzig, Otto Lenz, 1894. 3 Bde. 8°.
Derselbe Verfasser gab im Jahre 1882 seinen Roman „Rugge Wiäge" heraus,
ein Werk, welches Klaus Groth und auch andere Kenner niederdeutscher Art als
vorzüglich bezeichneten. Wir konnten somit von vornherein etwas Gutes von dem
Verfasser erwarten — und in der That, auch in diesem Romane hat Krüger allen
unsern Erwartungen entsprochen. Das Werk ist nicht nur für den Freund nieder-
deutscher Literatur beachtenswert, sondern auch für den Volksforscher eine reiche
Quelle zum Studium des Volkslebens, denn Krüger führt uns lebenswahre Bilder
aus demselben vor und in allen ist der rechte Ton getroffen. Der Roman führt
uns nach der kleinen Stadt Ahlen und zeigt uns, wie tief die politischen Ereignisse
der Jahre 1806—1813 in die Lebensverhältnisse der einzelnen Bürger eingriffen.
Die Charaktere sind gesund, von altem Schrot und Korn, echte Naturen, wie man
sie auch jetzt noch im Lande der biedern Westfalen findet. Welch äusserlich und
innerlich gesunde Menschen sind nicht Mester Hempelmann, sein Sohn Henrich
und seine Tochter Drüksken, Abel, der Sohn des Apothekers, der Jude Baruch,
Libet Schulte Rohling und Marijänken!
Die an Geiz grenzende Sparsamkeit der alten Bauern vertreten Moder Sipola,
Mester Leesmann, Tüensöhm; den alten Aberglauben repräsentiert Jangiärd, der
Spökenkiker, den seine erregte Phantasie allerhand Vorspuk sehen lässt.
Steht das Werk auch in der Komposition dem ersten Werke Krügers vielleicht
nach, so weht doch auch durch dieses der bezaubernde Hauch echter Volkspoesie,
welche tief zu ergreifen vermag.
Es verdient noch besonders hervorgehoben zu werden, dass der Roman in
echtem Platt erzählt ist, welches sich von den Einwirkungen des Hochdeutschen
vollständig freihält. D.
Protokolle.
345
Ans den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 21. April 1894. Herr Stadtrat Priedel behandelte die Anfänge
der Textil-Industrie und erläuterte sie durch Vorlagen aus dem Märkischen Pro-
vi nzial-Museum. Der Vortrag wird in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden.
Sodann sprach Herr Gymnasial-Obcrlehrer Dr. Bolte über einige Meisterlieder
und Schwänke Hans Sachsens, die von volkstümlichem Inhalt sind. Er berührte
die -Geschichte von den siel cn Schwaben, von Hansel und Gretel, von den Bremer
Stadtmusikanten u. s. w. In der Diskussion teilte Herr Gymnasial direktor
Dr. Schwartz eigene Beobachtungen mit und zog einige andere volkstümliche
Stoffe heran. Dann machte Herr Geheimrat Dr. Wein h old Mitteilungen über die
weit verbreiteten Leichenschmäuse. Er ging von der einfachsten und klarsten
Form aus, bei der es sich nur um eine Erquickung der Leidtragenden zu handeln
scheint, rückte dann aber schrittweise zu immer sonderbareren, abergläubischeren
und unheimlicheren Bräuchen vor, die den Leichnam in immer engere Beziehung
zum Schmause setzten, bis er beim Verzehren des Toten selbst anlangte und alle
milderen Cerimonien auf diese uralte Sitte zurückführte. Der Zweck einer solchen
Verspeisung des Toten war, sich aller seiner iguten Eigenschaften teilhaftig zu
machen. Das Gegenbild weist der in England vorkommende sineater, dessen Auf-
gabe es ist, durch eine symbolische Handlung die Sünden und Fehler des Ver-
storbenen in sich zu essen und jenen davon zu befreien. An der Erörterung des
Vortrages beteiligten sich die Herren Schwartz und Geheimrat Dr. Bastian.
Letzterer ist sehr geneigt, in den Begräbnisschmäusen Abschiedsmähler zu sehen,
an denen der unbestattete Tote sich noch beteiligen könne.
Freitag, den 25. Mai 1894 sprach Herr Prof. Dr. Martin Hartmann über
Schwänke und Schnurren im islamischen Orient, wie sie namentlich von den
Eulenspiegeln Nassr-ed-din und Buadem erzählt werden. Eine türkische Sammlung
ist in gesäuberter Übersetzung in Reclams Universalbibliothek unter No. 2735 zu
finden. Da auch dieser Vortrag den Lesern der Zeitschrift vorgelegt werden wird,
begnügen wir uns mit diesen kurzen Andeutungen. — Herr Zeichenlehrer Mi elk e
belehrte über die Laubenhäuser in der Mark Brandenburg, viele Zeichnungen vor-
legend. Die Laubenhäuser finden sich häufig in der Neumark, namentlich an der
Oder, freilich im Aussterben begriffen, indem man die Lauben zubaut und Zimmer
daraus macht. Sie werden aber auch bei Wirtshäusern als Unterfahrt benutzt.
Man kann die Lauben, abgesehen vom Süden, bis nach Schleswig-Holstein und
bis zur Weichsel verfolgen. Im Osten wird die Konstruktion immer einfacher,
und dort scheint die Heimat dieser Hausform zu sein, die dahin wohl aus Franken
eingeführt ist. Herr Generaldisponent Waiden erklärt aus den Lauben die ver-
glasten, völlig geschlossenen Vorbauten in den Ostseebädern. Herr Syndikus
Dr. Minden bemerkt, dass in Marienburg vor den Laubengängen noch ein regel-
rechtes Zimmer liege, während die Lauben im Biesengebirge zum Teil zusammen-
schrumpfen und nur in ein paar Pfosten in der Mauer Spuren hinterlassen. Herr
Geheimrat Dr. Weinhold wies auf die weite Verbreitung der Lauben durch die
Alpen bis nach Italien hin. Max Roediger.
Berichtigung.
S. 226 Z. G v. u. lies Rota statt Hota.
346
Seitenfüllung- aus Grossensass.
Seitenfiillung aus Gossensass.
„Wie ist das, Zenze, der eine sagt hier Mond, der andere Muhne, und die
verstorbene Moidl hat Mahn zu uns gesagt?"
„Die Menschen sprechen ungleich. Man sagt: Der Muhne wird heute ,nui'
(neu) oder ,wachset', halbe u. s. w. Man kann reden, wie man will. Völlig in
jedem Thal spricht man anders. Hier sagen sie Spreidel (Holzspahn), ausser dem
Brenner Sprindel; im Zillerthal bei allem, was sie sprechen, ,aft' oder ,aften' —
eine Angewohnheit. Kommt der Zillerthaler nur in den Stall, eine Kuh zu kaufen,
so hebt er an: „Aft, kannst du mir eine Kuh verkaufen."
„Wir sprechen wie die Baiern", sagte der Huisum, der unter jenen lange
gelebt hat, aber sie haben die ,klügere'1) (feinere) Sprache, wir sprechen rauher.
Die alten Wörter hört man wenig mehr! Das kann ja nicht anders sein; denn in
der Schule dürfen die Kinder nicht mehr sprechen, wie die alten Leute. Zu Pfitsch
ist ein Kurat gewesen, der alle Kirchen gebaut und alles Geld gehabt hat — ohne
zu betteln (sammeln) — der kam einmal nach Sterzing zum Landrichter und da
sagte der: „Das geht nicht, ich muss euch einen andern Schullehrer verschaffen."
— „Warum geht es nicht?" fragte der Kurat. „Die Bauern bringen ihr Geld, ob
sie da sagen: Hier bring i die ,StuireM oder ob sie sagen: Ich bringe die Steuer!"
Darauf fragte ich die junge Magd: „Wie nennen sie hier z. B. diese Blumen?"
und zeigte ihr ein paar Leberblümchen. „Wie die die Leut nennen, weiss ich
nicht", antwortete sie lebhaft; „ich- nenne sie Schneeglockler. In meiner Hoamit
(Elternhaus) sagen sie: Wenn die Schneeglockler anheben zu blühen, kann man
anheben zu bauen. Wenn der Langis anfängt, giebt man den ersten Blumen
Namen, wenn sie nachher so viel kommen, nicht."
„Ich weiss es. Da habt ihr die Osterglocken (Anemonen), Petri Schlüssel
(Himmelschlüssel) u. s. w., das erste Grün aber, was aus der Erde spriesst, nennt
ihr, weil ihr euch darüber freut, Osterbliiml, aber wenn es später so viel auf der
Wiese steht und dem Graswuchs schadet, sagt ihr Stingi."
„Seine Muttersprache vergisst man nicht", sagte die Zenze und erzählte von
einem Mädchen, die diese verleugnen wollte: „Eine ,Gitsche' ist von Dux, seitwärts
vom Brenner-Bad, fortgekommen und nach langer Zeit wiedergekehrt. Da sah sie
eine ,Reche' liegen und fragte: „Was ist das für ein Zeug?" Sie trat aber darauf,
der Stiel schnellte in die Höhe und schlug ihr in die Pfotze*). „Du Teufels-
Reche" rief sie erschreckt; da — wusste die Gitsche es wohl, wie die Reche
hiess." M. Rehsener.
1) Kluge (fein) wird auch von Geweben gebraucht.
2) Gesicht.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen
in der orientalischen und occidentalen Überlieferung.
Ein Kaufmann aus dem Norden machte dem König (Mahaushadha)
zwei Stuten zum Geschenk und sprach zu ihm: „Diese beiden Stuten sind
Mutter und Tochter, aber welche von ihnen die Mutter und welche die
Tochter sei, kann man ganz und gar nicht erkennen." Während der
König und sein Hof sich den Kopf zerbrachen, um diese Ungewissheit
aufzuklären, löste Yisakha, die Tochter des Tischlers, die Frage sogleich,
indem sie erklärte, die mit den rauheren Haaren sei die Mutter und die
mit den weicheren sei die Tochter.
Ein anderes Mal brachte ein Schlangenjäger zwei Schlangen, wovon
die eine männlich, die andere weiblich war, ohne dass er irgendwie an-
geben konnte, welche von ihnen die männliche und welche die weibliche
wäre. Als aber Mahaushadha die Yisakha darüber befragte, lächelte sie
verwundert, dass keiner der Minister imstande gewesen, die Frage zu lösen.
Zu diesem Zwecke müsse man ein Blatt von der Baumwollenstaude an das
Ende eines Rohres binden und den Rücken der Schlangen mit der Baum-
wolle kitzeln. Diejenige von ihnen, welche ein solches Kitzeln nicht
würde ertragen können, müsse die männliche sein.
Bei einer anderen Gelegenheit brachte ein Kaufmann aus dem Süden
dem König einen Stamm von einem Sandelholzbaume, ohne irgendwie
angeben zu können, welches das obere und welches das untere Ende sei.
Mahaushadha ging wiederum hin und befragte seine Frau, und diese sagte
ihm, er solle den Stamm in einen Teich werfen; das untere Ende müsse
in die Höhe gehen.
Einmal wollte der König Janaka die Probe machen, wer von seinen
Ministern fähig wäre, Edelsteine wahrzunehmen. Zu diesem Zwecke
befestigte er einen Edelstein an der Spitze einer Fahne, die von einem
Belvedere herniederwehte, unterhalb dessen sich eine Cisterne befand.
Der König versprach, den Edelstein demjenigen seiner Minister zu schenken,
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 24
Ein kritischer Versuch von Dr. Stanislao Prato.
I.
Û
348
Prato :
der ihn wahrnehmen würde; aber keiner von denen, die zu der Cisterne
gingen mit der Absicht, das Licht des Edelsteins, das man sich darin spiegeln
sah, zu erhaschen, hatte den richtigen Weg, um es zu finden, bedacht. Als
dann Yisakha von ihrem Gatten befragt wurde, sagte sie, man müsse in die
Höhe blicken, weil das Licht nur der Reflex des an der Fahne befestigten
Edelsteins sei, und deshalb müsse man der Richtung der Fahne folgen,
um den Edelstein zu entdecken und ihn so als Preis zu bekommen.1)
II.
Der Sohn des Brahmanen sah einige Elephantenspuren mitten auf dein
Wege und begann darüber nachzudenken; als er jedoch den Jivaka fragte,
von wem die Spuren seien, gab dieser zur Antwort: „Es sind die Ein-
drücke von den Füssen eines Elephanten." Aber er fügte dann noch
hinzu: „Es sind die Spuren eines Elephanten, doch nicht etwa diejenigen
eines männlichen, sondern eines weiblichen, der von einem Männchen
trächtig und auf dem rechten Äuge blind ist. Auf ihm ritt eine junge
Frau. Diese war ebenfalls auf dem rechten Auge blind und schwanger
und wird vielleicht heute noch gebären."
Atreya lächelte. Der Sohn des Brahmanen befürchtete, dass der
Meister ihm zürnen möge und sprach also: „Woher habt ihr dies vermutet?
Wir haben die Spuren eines Elephanten mitten auf dem Wege gesehen
und Jivaka erklärte, dass es die Eindrücke eines weiblichen Elephanten
seien, der auf dem rechten Auge blind sei und trächtig, und der vielleicht
noch heute einen kleinen Elephanten gebären werde; auf ihm habe eine,
gerade so wie die Elephantin, schwangere und auch auf dem rechten Auge
blinde j^rau gesessen, die gleichfalls noch heute ein Knäblein zur Welt
bringen werde."
Atreya fragte: „Jivaka, ist das wahr?"
„Ja, Meister."
„Wie seid ihr dahingekommen zu erkennen, ob es eher die Fussspuren
eines männlichen oder eines weiblichen Elephanten seien?"
„Meister", versetzte Jivaka, „warum sollte ich denn, da ich doch aus
königlicher Familie stamme, in der Kenntnis hiervon nicht gewitzigt sein?
Die Spuren eines männlichen Elephanten sind rund, diejenigen eines
weiblichen Elephanten hingegen länglich."
„Aber wie habt ihr denn erkennen können, dass er auf dem rechten
Auge blind sei?"
„Weil er das Gras nur an der linken Seite des Weges gefressen hat."
1) Über diese Episode sieh Tibetan Tales, derived from Indian Sources,
translated from the Tibetan of the Kah-Gyur by P. Anton von Schiefner.
Done into English from the German, with an Introduction by W. R. S. Ralston,
M. A., London, Trübner and Co., Ludgate Hill, 1882; No. 8: Mahaushadha and
Yisakha, S. 1G4—65. (Frei aus dem Englischen von mir übersetzt.)
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
349
„Wie habt ihr alsdann zu erkennen vermocht, dass er trächtig sei?"
„Weil er mit seinen Füssen etwas stark gedrückt hat, als er seine
Spuren in den Erdboden trat."
„Wie seid ihr zu der Erkenntnis gelangt, dass er von einem männ-
lichen Elephanten trächtig sei?"
„Weil er den Boden auf der rechten Seite stärker als auf der linken
eingedrückt hat."
„Woran habt ihr erkannt, dass die Frau schwanger sei, gleich der
' Elephantin?"
„An den Fusstapfen, die sie auf der Strasse hinterlassen, als sie eben
von der Elephantin abgestiegen war."
„Wie habt ihr erkennen können, dass auch sie auf dem rechten Auge
blind sei?"
„Weil die Frau, während sie dahinschritt, nur die Blumen zur linken
Seite der Strasse pflückte."
„Wie habt ihr erkennen können, dass sie mit einem männlichen
Kinde schwanger gehe?"
„Weil die Fersen ihrer Fiisse eine viel tiefere. Spur eingedrückt hatten.
Alles dies ist so, und nicht hat mich der Meister das gelehrt, wohl aber
einer der Söhne des Brahmanes bei dem ich wohne, der mir zum Reise-
gefährten gegeben worden."'1)
Der Erklärer der Zeichen.
Jainistische Recension, von der vorangehnden wenig verschieden.
Eines Tages begaben sich zwei Jünglinge auf Geheiss ihres Lehrers
nach einem Dorfe in der Umgebung und entdeckten auf dem Wege grosse
Fussspuren. Als der nachdenkliche Schüler genug darüber nachgesonnen
hatte, fragte er: „Sage, o Freund, von wem sind diese Spuren?" Der
andere erwiderte: „Ach, was verlohnt es sich der Mühe, danach zu fragen!
Es sind die Eindrücke von den Füssen eines Elephanten." Aber der
scharfblickende junge Mann sagte: „Es sind die Fiisse einer Elephantin,
und diese Elephantin ist des linken Auges beraubt. Sie trägt überdies
eine Königin, die von ihrem Gemahl begleitet wird und schwanger und
der Geburt sehr nahe ist; morgen oder vielleicht heute noch wird sie
gebären, und das Kind wird ein männliches sein.1' Als jener gesprochen
hatte, sagte der Unbedachtsame: „Wie kann man nur dazu kommen, dies
aufzustellen?" Der Denkende erwiderte: „Die Wissenschaft muss dem
Glauben zur-Grundlage dienen; wer auf dieses Prinzip seine Uberzeugungen
gründet, wird sie unzweifelhaft vom Erfolg begleitet sehen." So gelangten
sie nach dem ersehnten Dorfe, und nahe bei demselben, auf einem freien
1) Sieh das oben citi erte Werk No. 6: Prince Ivaka as the king of Phisicians,
'n meiner italienischen Übersetzung, S. 96—98.
24*
350
Prato ;
Platze am Ufer eines grossen Teiches, sahen sie, dass die Königin sich
niedergelassen hatte; sie erkannten, dass die Elephantin des linken Auges
beraubt war, und gerade in diesem Augenblicke trat eine Dienerin hervor
und verkündete mit lauter Stimme: „Heil, Heil! der Sohn des Königs ist
geboren!" Da rief der weise Schüler dem anderen zu: „Hörst du die
Worte der Sklavin?" und der entgegnete: „Ich habe alles ebenso erraten,
wie du es erraten hast."
Als die beiden zu Guru zurückgekehrt waren und den ganzen Yorfall
von Anfang bis Ende auseinandergesetzt hatten, fragte der Lehrer den
guten Schüler: „Sage, mein Sohn, wie kamst du dazu, diese Dinge zu
erraten?" Jener erwiderte: „Nach euren Unterweisungen habe ich ge-
schlossen. Da jene Spuren offenbar die Form eines Elephantenfusses
hatten, war meine erste Frage: sind sie von einem männlichen oder einem
weiblichen Elephanten? Ich prüfte daher einige Absonderungen des Körpers
genau und löste die Frage. Als ich sodann entdeckt hatte, dass zur Rechten
eine grosse Zahl von Weinranken, die am Zaune hinaufgewachsen waren,
von der Elephantin verstümmelte Reben hatten, zur Linken aber nicht,
dachte ich: sie ist also des linken Auges beraubt. Und nicht jeder be-
liebige würde mit diesem Tross auf einer Elephantin reisen können, deshalb
muss es sicher eine königliche Persönlichkeit sein, die hier durchgekommen
ist. Und als ich noch weitere Untersuchungen über diese Persönlichkeit
anstellte, die an einer bestimmten Stelle vom Elephanten wegen irgend
eines Bedürfnisses abgestiegen war, erkannte ich an gewissen persönlichen
Zeichen: es ist eine Königin. Als ich dann längs des Weges Fransen-
teilchen von einem Purp urge wände entdeckte, die an dem Gesträuche
hingen, wusste ich: sie ist von ihrem Gemahl begleitet, und als ich auf
der Erde den Eindruck sah, den der Rüssel, während man aufstieg und
abstieg, hinterlassen hatte, folgerte ich: sie ist auch schwanger. Und indem
ich schliesslich die Art und Weise bemerkte, mit der sie den rechten
Fuss aufsetzte und ihn mühsam nachschleppte, schloss ich: sie steht nahe
vor dem Gebären."1)
Episode aus einer anderen jainistischen Erzählung.
Der König Makaradhvaja in Yanarasi und die Königin Lakshmivati
hatten einen Sohn, mit Namen Uttamacaritra (d. h. erhaben, ausgezeichnet
in der Handlungsweise). Derselbe war ein schöner junger Mann, von
1) Francesco Lorenzo Pullè, Un progenitore indiano del Bertoldo,
Memoria dedicata a Bologna per l'ottavo centenario del suo Studio, Venezia,
Tipografia Antonelli, Berlino, Gebrüder Unger, 1888, S. 28—30, No. 7 (Storia di Rohako);
der Stoff ist einem Manuskript der K. Bibliothek zu Berlin von Antarakathâsamgraha
von Râgaçekhara entnommen; die Redaktion dieses Werkes würde nach Pullè bis gegen
1300 hinaufreichen, aber die Erfindung einiger Erzählungen, die darin enthalten sind, ist
viel älter. Ich verdanke die wertvolle Monographie ihrem Verfasser, dem gelehrten
Professor der Sanskrit-Litteratur an der Universität zu Pisa.
es*. ï *
'
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen. 351
sanftem Gemüt, wahrheitsliebend, wohl erzogen, grossmütig, wie ein Bruder
gegen fremde Frauen, massig, ehrerbietig gegen Götter und Lehrer, hilfreich,
freigebig im Spenden, bewandert in jeder Disciplin und von überaus herr-
licher Erscheinung. Einstmals begab er sich auf die Reise nach fremden
Ländern, um dort sein Glück zu suchen. Nach einiger Zeit gelangte er eines
Nachts nach Citrakuta (einer Feste in Bandelakhanda, heute Tag genannt).
Dort herrschte der König Mahasêna (ein Anhänger der Sekte des Jina).
Eines Tages bestieg er, um einen Spazierritt zu machen, den Sattel eines
schwarzen Fohlens, das die schönsten Eigenschaften besass; aber es wollte
nicht vorwärts gehen. Niemand konnte dem König den Grund hierfür
angeben. In dieser Not kam gerade Uttamacaritra hinzu und sprach zu
ihm: „0 König, das Fohlen hat an einer Büffelkuh gesogen, und deren
Milch hat Blähung in ihm erzeugt. Deshalb kann es nicht vorwärts gehen."
Als der König dies vernommen, sprach er zu ihm: „Mein Lieber, woher
weisst du das?" Da versetzte jener: „Dank meiner vollkommenen Kenntnis
des Pferdes." Sogleich fügte der König hinzu: „Es ist vollkommen richtig;
in der That hat der Tod des Mutterpferdes genötigt, dieses Fohlen von
einer Büffelkuh säugen zu lassen, deren Milch ihm dann solche Blähung
verursacht hat."1)
Andere Varianten der beiden Episoden.
1.
Geschichte von dem weisen Alten.
Es war einmal in Byzanz ein weiser Mann, reich an Glücksgütern,
der in einem Unglücksjahre durch einen Einfall der Araber mit einem
Schlage verarmte. Da sprach er zu seinen Söhnen, sie sollten ihn wie
einen Verbrecher oder Sklaven binden und zu Markte führen. Sie thaten,
wie ihnen der Vater aufgetragen hatte. Der König oder der Herr der
Gegend hatte kaum davon gehört, als er seine Leute schickte, um sich
nach der Sache zu erkundigen. Sie fanden den Preis für den Alten über-
mässig hoch gestellt, aber dieser sagte ihnen, sie könnten ihn gleichwohl
kaufen, denn er besitze einen sehr hohen Wert; in der That kannte er
vollkommen die Natur der Männer und Frauen, den Wert eines Pferdes
und auch den der Edelsteine. Der König war sehr zufrieden, einen so
Weisen Mann in seiner Gewalt zu haben; gleichwohl liess er ihn in ein
Gefängnis sperren und lange Zeit selbst am Nötigsten Mangel leiden; er
bekam täglich nur einen Zwieback und ein wenig zu trinken. Ebendorthin
kam aus einem fremden Lande ein Kaufmann und bot dem Könige einen
Edelstein zu einem sehr hohen Preise zum Kaufe an. Jener liess nunmehr
1) Über das Uttamacaritrakathânakam, die Geschichte vom Prinzen
Trefflichst, von Albrecht Weber (Anfang der Erzählung); Sitzungsberichte der
K. Preussi sehen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, XVII, 1884.
352
Prato :
seinen Gefangenen zu sich kommen, und der Alte erkannte sofort, dass
der Stein nicht so sehr kostbar sei, da er einen Wurm enthalte. Kaum
war die Sache völlig bewiesen, als der arme Alte von neuem ins Gefängnis
geführt wurde, aber seine tägliche Ration wurde verdoppelt. Ein anderes
Mal sollte der Alte seine Meinung über ein dem Könige zum Kauf an-
gebotenes Pferd abgeben, und er sagte, dasselbe sei mit Kuhmilch auf-
gezogen worden; auch diese Behauptung wurde als richtig befanden, und
die Ration des Alten wurde von neuem erhöht.*)
Urteil eines griechischen Philosophon, der sich in Gefangen-
schaft befand.
Novelle ans der altitalienischen Litteratur.
In Griechenland lebte ein Herrscher, der eine Königskrone trug und
ein grosses Reich besass. Er hiess Philipp und hielt wegen irgend eines
Vergehens einen weisen Griechen in Gefangenschaft. Dieser war von
solcher Klugheit, dass er in seiner Erkenntnis die Sterne überragte. Eines
Tages geschah es, dass jenem Herrscher aus Spanien ein edles Ross an-
geboten wurde. Man sagte ihm, dass er in seinem Gefängnisse den grössten
Meister habe, der aller Dinge kundig sei. Er liess nun das Ross auf das
Feld führen und befahl, den Griechen aus dem Gefängnisse zu holen und
sprach zu ihm: „Meister, besieh dir dieses Ross; denn es ist mir erzählt
worden, dass du sehr weise seiest." Der Grieche besah sich das Ross und
sprach: „Herr, das Pferd ist von schöner Art, aber soviel kann ich ent-
scheiden, dass es mit der Milch einer Eselin aufgezogen worden ist." Der
König schickte nach Spanien, um zu erfahren, wie es genährt worden sei;
es stellte sich heraus, dass das Mutterpferd gestorben war, und man das
Füllen mit der Milch einer Eselin aufgezogen hatte. Diese Bestätigung
setzte den König in grosse Verwunderung, und er ordnete an, dass dem
Gefangenen täglich ein halbes Brot auf Kosten des Hofes verabreicht
würde.
An einem anderen Tage geschah es, dass der König seine Edelsteine
zusammenstellte. Er schickte wieder nach seinem Griechen und sagte ihm:
„Meister, du hast ein grosses Wissen; ich glaube, dass du dich auf alle Dinge
1) Emile Legrand, Collection de monuments pour servir à l'étude de la
langue Néo-hellénique, Ire Série, No. 19: ÏTeqî xov yégovzoç xov cpQoviixov MovxÇoxov-
Qs^iévov; vgl. auch Annuaire de l'association pour l'encouragement des études
grecques en France, 6e année, 1872: Mémoires et notices, pp. 53ff.: Gidel, Histoire
de Ptocholéon; eine andere "Version hat Legrand gegeben in No. 1 der neuen Serie der-
selben genannten S ammlüng: Recueil de chansons populaires grecques, Paris 1874,
S. 258—84: cO coyoç jtQsaßvxt]g; über eine andere Version derselben Legende sieh noch
Wagner, Carmina Graecä medii aevi, Lipsiae, 1874, S. 277—303: Biog, y.ai nohxsia
xivoç doxif-icorárov ysQovroç. (Archiv für slavisclie Philologie von Vatr,oslav Jagic,
Band III: Beiträge zur Erklärung des russischen Heldenepos, II: Eracles
und die russischen Lieder von Ivan, dem Kaul'mannss ohne, S. 757—80.)
Zwei Episoden aus. zwei tibetanischen Novellen.
353
verstehst; wenn du dicli auf die Güte der Steine verstehst, so sage mir,
welcher von diesen scheint dir den grössten Wert zu haben?" Der Grieche
untersuchte und sprach: „Welchen haltet ihr für den kostbarsten?" Der König
griff einen sehr schönen Stein heraus und sagte: „Meister, dieser scheint
mir der schönste und wertvollste zu sein." Der Grieche nahm ihn, legte
ihn auf seine flache Hand, drückte die Faust zusammen und hielt ihn an
das Ohr; alsdann sprach er: „Herr, dieser hat einen Wurm." Der König
schickte nach den Meistern und liess sie den besagten Stein in Stücke
schlagen, und es fand sich darin eiu lebendiger Wurm vor. Nun lobte
der König den Griechen wegen seines über die Massen wunderbaren Ver-
standes und befahl, dass ihm täglich ein ganzes Brot auf Kosten des Hofes
verabreicht würde.1)
2.
Der Stab kommt vom kleinen Stabe.
Arabische Novelle.
Nach El Mofaddhel war der erste, der diese Worte sprach, El Af'a,
der Djorhomite, und zwar bei folgender Gelegenheit. Als Nizar2) seinen
Tod herannahen fühlte, versammelte er seine Söhne Modhar, Jyâd, Rebi'ah
und Anmâr und sprach zu ihnen: „Meine Söhne, dieses rote Zelt und alles,
was ich an Gütern besitze, soll Modhar gehören; dieses schwarze Pferd
und das Zelt von gleicher Farbe sollen Rebi'ah zufallen; Anmâr diese
Sklavin (sie hatte graue Haare) und Jyâd diese Geldsumme und diese
Behausung. Wenn ihr irgend eine Schwierigkeit betreffs der Verteilung
der Sachen habt, so gehet hin und fraget El Af'a, den Djorhomiten, um
Rat. Derselbe wohnt in Nedjrân3)." — Sie konnten sich über die Erbschaft
durchaus nicht einigen und begaben sich daher auf die Reise.
Während sie dahingingen, bemerkte Modhar die Spuren eines Kameeis,
das dort geweidet hatte und sprach: „Das Tier, das hier geweidet hat, ist
blind." — „Es hängt nach der einen, Seite", fügte Rebi'ah hinzu. — „Es
hat keinen Schwanz", versetzte Jyâd. — „Es hat einen wilden Charakter",
fuhr Anmâr fort.4) — Sie gingen ein wenig weiter und begegneten einem
Manne, der sein Kameel suchte und sie bei dieser Gelegenheit nach dem-
selben fragte. Modhar fragte ihn: „Ist es vielleicht blind?" — „Ja", ant-
wortete der Mann. — „Neigt es sich vielleicht nach einer Seite?" sprach
Rebi'ah. — „Ja". — „Fehlt ihm vielleicht der Schwanz?" versetzte Jyâd.
1) Le Novelle antiche dei Codici Panciatichiano-Palatino 138 e Lau-
renziano-Gaddiano 193 con una Introduzione sulla Storia esterna del testo
del Novellino per Guido Biagi, Firenze, G. C. Sansoni, editore, 1S80, No. III; sieh
auch No. CXLIII, S. 7-8 und 150—53.
2) Der Stammvater des grössten Teils der arabischen Stämme; in der'That stammte
von Modhar der Prophet Mohammed ab.
3) In Jemen.
4) In Mas'oudi sind die Antworten den Persönlichkeiten anders in den Mund gelegt.
354
Prato :
— „Ja". — „Hat es vielleicht einen unruhigen Charakter?" fuhr Anmâr
fort. — „Ja, das sind die Merkmale meines Kameeis; sagt mir, wo es ist."
— „Bei Gott", erwiderten sie, „wir haben es garnicht gesehen." — „Für-
wahr, das ist eine Lüge!" und der Mann gesellte sich zu ihnen. „Wie
kann ich euch nur glauben", fügte er alsbald hinzu, „wenn ihr mir das
Kameel, wie es wirklich ist, so beschreibt?" Sie kamen endlich nach
Nedjrân, und als sie dort eingekehrt waren, schrie ihr Begleiter: „Diese
Leute haben mir mein Kameel gestohlen und mir eine genaue Beschreibung
davon gegeben." — „Wir haben es garnicht gesehen", versetzten sie, und
sie begannen vor El Af'a darüber zu streiten, welcher der weiseste der
O '
Araber war. — „Wie habt ihr es nur beschreiben können, wenn ihr es
nicht gesehen habt?" — „Ich habe bemerkt", sprach Modhar, „dass es nur
an einer Seite weidete und die andere Seite unberührt liess, woraus ich
geschlossen habe, dass es blind sei." — „Und ich", versetzte Rebi'ali,
„habe wahrgenommen, dass der eine der Yorderfiisse eine tiefe Spur
hinterliess, der andere hingegen eine leichte, woraus ich gefolgert habe,
dass es sich nach einer Seite neige.i<r — „Ich", fuhr Jyâd fort, „habe
beobachtet, dass es keinen Schwanz habe, weil sein Kot aufgehäuft war,
anstatt auseinander zu liegen." — Anmâr endlich sprach: „Ich bin darauf
gekommen, dass es möglicherweise einen unruhigen Charakter habe, weil
es, nachdem es an einem Orte geweidet hatte, wo das Gras dicht war, an
einen anderen ging, wo dasselbe umgekehrt spärlicher und weniger gut
war." — El Af'a sprach zu dem Manne: „Geh hin und suche es." Er
fragte hierauf die Söhne des Nizar, wer sie wären, und als er ihre Namen
hörte, hiess er sie willkommen, und sie sagten ihm den Grund ihres Be-
suches .... „Ihr habt mich nötig", rief er, „wie ich euch kenne!" Dann
liess er sie in seinem Hause einkehren, liess ein Lamm schlachten, reichte
ihnen Wein und setzte sich so, dass er durchaus nicht gesehen werden,
dagegen alle ihre Worte hören konnte. Rebi'ali begann: „Ich habe nie
besseres Fleisch als heute gegessen, indessen ist dieses Lamm mit der
Milch einer Hündin genährt worden." — „Ich habe niemals bessern Wein
geschmeckt als diesen", sagte Modhar, „obgleich der Eebstock, der ihn
hervorgebracht hat, auf einem Grabe entsprossen ist."
Diese Reden hörte El Af'a, und er murmelte bei sich selbst: „Diese
können nichts anderes als Dämonen sein." Dann liess er seinen Haus-
hofmeister kommen und fragte ihn: „Was ist das für ein Wein, und woher
kommt er?" — „Von einem Rebstock, der auf dem Grabe deines Vaters
entsprossen ist, und wir haben keinen bessern." — Der Fürst fragte dann
den Hirten: „Was ist das für ein Lamm?" — „Ein Lamm, das ich mit
der Milch einer Hündin aufgezogen habe, da die Mutter gestorben war,
und kein Schaf aus der Herde damals gerade geboren hatte."1)
1) Mas'oudi, Prairies d'Or t. III, cap. 4C>; S. 228—35, Übersetzung von Barbier de
Meynard; Maïdani, Proverbes; die französische Übersetzung wurde nach dein arabischen
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
355
Die drei Brüder.
Eine kirgisische Variante aus dem südlichen Sibirien.
Es war einmal ein reicher Mann, der drei Söhne hatte. Er starb, und
sie erbten von ihm 300 Rubel. Das Vieh kam um, und so hielten sie Rat
miteinander: „Lasst uns die 300 Rubel vergraben und uns nach irgend
einem fremden Reiche begeben, um dort Dienste zu nehmen/' Drei Jahre
lang dienten sie dort, dann kehrten sie nach Hause zurück. Als sie heim-
gekehrt waren, suchten sie ihr Geld in dem bewussten Verstecke, aber sie
fanden es mit nichten wieder vor, oline auch nur zu wissen, wer es
genommen hätte. Da fragte einer den andern: „Wer anders als du kann
es gestohlen haben? Sage die Wahrheit!" Da versetzte der Erstgeborene:
„Nein, ich habe es nicht entwendet. Als wir das Geld in der Erde ver-
bargen, habt ihr es gesehen, kein andrer ausser euch hat es gesehen. Wie
könnte nur einer, der es gar nicht gesehen hat, es gestohlen haben! Ihr
habt es genommen. Aber was thun? Lasst uns hingehen und einen Fürsten
aufsuchen; er wird uns sagen, wer der Dieb ist." Die anderen erwiderten:
„Es sei, suchen wir einen Fürsten auf!" Unterwegs stiessen sie auf einen
Mann. „Heil über euch", rief er ihnen zu. — Sie antworteten ihm: „Heil
über dich!" — „Ich habe ein Kameel verloren und suche es." — Der
Erstgeborene der Brüder fragte: „Wie war dein Kameel, von heller Farbe?"
— Der zweite versetzte: „War dein Kameel blind oder nicht?" — Darauf
der dritte: „War es lahm oder nicht?" -- Alle vier kamen zu dem Fürsten.
— Sie grüssten ihn und brachten ihm ihre Huldigungen dar. — „Wo geht
ihr hin?" — »Wir kommen zu euch, Herr, sieh, da sind wir." — Jener
Mann sprach gleich zuerst: „Ich habe ein Kameel verloren, und als ich
diesen drei Jünglingen begegnete, haben wir uns gegriisst. „„Wohin gehst
du?"" sprachen sie zu mir. — „„Eines meiner Kameele hat sich verirrt.""
— Da fragte mich der erste von ihnen: „„Wie war dein Kameel? Von
heller Farbe?"" — „„Ja."" — Und der zweite: „„War es lahm oder
nicht?"" — Und darauf der dritte: „„War es blind oder nicht?"" — Es
ist offenbar, dass diese Jünglinge mein Kameel gestohlen haben; Herr,
entscheidet!" Der Fürst fragte den Erstgeborenen: „Wieso wusstest du,
dass das Kameel von heller Farbe sei?" — „Weil, als es sich auf dem
Grase gewälzt, Haare darauf zurückgeblieben waren." — Der Fürst fragte
alsdann den zweiten: „Wieso wusstest du, dass es lahm sei?" — „Weil
ich auf seiner Fährte Spuren gesehen, die schief gingen." — Er wandte
sich alsdann an den dritten: „Wieso wusstest du, dass es blind sei?" —
„Ich habe es an dem Grase erkannt, das es gefressen hat: auf der einen
Text dieses zweiten Werkes von René Basset besorgt und veröffentlicht in der Mélusine,
Recueil de Mythologie, Littérature populaire etc. t. II, no. 22. (Une fable de La Fon-
taine et les Contes orientaux par M. R. Basset, pag. 509—10), aus der ich die Er-
zählung geschöpft habe.
356
Prato :
Seite hatte es den Boden ganz abgegrast, während- es auf der anderen
Seite das Gras völlig unberührt gelassen hatte." — Der Fürst sagte darauf
zu dem Besitzer des Kameeis: „Dein Kameel ist entlaufen, geh und suche
es!" Der Fremde stieg zu Pferde und ritt davon.
Den drei Brüdern wurde darauf Fleisch und Brot vorgesetzt, und der
Fürst ging hinaus. Der älteste sprach: „Der Fürst ist ein Sklave." —
Der zweite: „Dies ist Fleisch von einem Hunde." — Der jüngste: „Dieses
Brot (es war von Korn bereitet worden) ist auf den Gebeinen eines Toten
gewachsen." Der Fürst eilte zum Hirten: „Was war das für Fleisch, das
man heute hat kochen lassen? Gesteh die Wahrheit; wo nicht, so schlage
ich dir den Kopf ab." — „Herr, wenn ich sie sage, werde ich sterben;
wenn ich sie nicht sage, werde ich gleichfalls sterben. Es befand sich
ein Lamm hier, dessen Mutter keine Milch hatte. Am Tage seiner Geburt
habe ich es von einer Hündin säugen lassen; es ist das Lamm von heute."
Der Fürst verliess den Hirten und eilte zu dem Bauern: „Sage die Wahrheit,
wo nicht, so schlage ich dir den Kopf ab. Drei Jünglinge sind in mein
Haus gekommen; ich habe ihnen Brot bringen lassen, und sie sagten,
dieses Brot sei aus Korn bereitet, das auf den Gebeinen eines Toten
gewachsen sei." — „Ich werde dir freimütig Rede stehen, Herr; ich pflügte
den Boden an einer Stelle, wo die Gebeine eines Toten lagen, ohne dass
ich irgend etwas davon wusste; daselbst säete ich den Samen des Getreides,
dort ist es dann aufgewachsen." — Der Fürst verliess seinen Hörigen und
begab sich nach Hause zurück, wo die drei Fremden sassen. Er sprach
zu dem ersten: „Junger Mann, woran hast du erkannt, dass ich ein Sklave
bin?" — „Weil ihr hinausgegangen seid, als die Erfrischung kaum gebracht
worden war."1) — Er fragte den zweiten: „Woraus hast du geschlossen,
dass das Fleisch, das euch heute vorgesetzt wurde, von einem Hunde sei?"
— „Weil es einen unangenehmen Geschmack, ganz wie den von Hunde-
fleisch hatte." — Dann wandte er sich zu dem dritten: „Wieso weisst du,
dass dieses Brot aus Korn bereitet sei, das auf den Gebeinen eines Toten
gewachsen?" — „Was soll ich dir nur sagen? Es schmeckt nach den
Gebeinen eines Toten; daran eben habe ich es erkannt/'a)
Jüdisch-deutsche Yersion.
Ein frommer Mann hinterliess seinen drei Söhnen eine verschlossene
Kiste mit Gold und empfahl ihnen, dieselbe nicht zu öffnen, es sei denn
1) Wie ein Sklave, der sich entfernt, nachdem er eine Schüssel mit Speisen gebracht
hat. An einer ähnlichen Probe in einer arabischen Legende erkennt die Verlobte des
Imrou'lqais, dass jener, der sich als Fürst der Kniditen vorstellt, nur sein Sklave ist.
(Vergi, das Leben des Imrou'lqais, entnommen aus Kitâb al Aghâni ap. Slane, Divan
d'Amrolka'is, Paris 1887, in 4°, S. 18 des arab. Textes, 29 — 30 der Übersetzung, von
neuem veröffentlicht im Almanach des traditions populaires II, 99—104).
2) Radloff, Proben der Volkslitteratur der türkischen Stämme Süd-
Sibiriens, Sanct-Petersburg 1870, S 389, t. II; Mélusine, a. a. 0., S. 511—12.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
357
im Falle der Not. Abwechselnd behütete jeder von ilmeu die Kiste, und
ein anderer bewahrte den Schlüssel. Die drei Jünglinge gelobten vor der
Gemeinde, sich den Anordnungen ihres Vaters zu fügen. Der jüngste, der
müssig ging, nachdem er sein eigenes Vermögen und 10 000 Gulden, die
er sich zur Hälfte von dem ersten und zur Hälfte von dem zweiten Bruder
hatte geben lassen, verzehrt hatte, liess sich, während der dritte die Be-
hütung der Kiste besorgte und der Schlüssel von dem zweiten aufbewahrt
wurde, einen falschen Schlüssel anfertigen, öffnete die Kiste, entnahm
daraus den ganzen Schatz und legte einen schweren Stein an seine Stelle.
Nachdem er den Schatz ganz verbraucht hatte, veranlasste er im vierten
Jahre die beiden Brüder, die Kiste zu öffnen. Kaum war sie geöffnet,
und man hatte den schweren Stein statt des Schatzes darin gefunden, als
er die Brüder vor allen Leuten des Diebstahls anzuklagen begann. Die
Umstehenden wussten nicht, wie sie die Frage entscheiden sollten und
veranlassten darum die drei Brüder, sich zu dem nicht weit entfernt
wohnenden Rabbiner zu begeben, dem sie ihre Streitfrage vorlegen sollten.
Jene begaben sich auf den Weg, und während sie dahinschritten,
begegneten sie einein Juden, der sie fragte, ob sie nicht vielleicht die-
jenigen wären, die sein Pferd gestohlen hätten. Der eine von ihnen sprach:
„War es nicht etwa ein weisses Pferd?" — „Ja." — „Du wirst es im
Walde wiederfinden." — „War es nicht etwa blind?" fragte der zweite.
— „Ja." — «Trug es nicht etwa zwei Tonnen, eine mit Ol und die andere
mit Wein?" fuhr der dritte fort. — „Ja." Der Mann eilte auf die Suche
nach seinem Pferde, aber vergebens. Da er indes gehört hatte, dass die
drei Brüder sich zu dem Rabbiner der nächsten Stadt begäben, ging er
dorthin, um sie bei ihm anzuklagen, dass sie sein Reitpferd gefunden,
das Gold, das es trug, ihm geraubt und es dann verlassen hätten. Der
Rabbiner liess die* drei Angeklagten zu sich kommen und begann sie
zu befragen. Der erste erwiderte: „Ich habe das Pferd mit meinen Augen
nicht gesehen, aber an den Haaren, die es au seinem Herrn zurückgelassen
hatte, habe ich erkannt, dass es weiss war." Der zweite fügte hinzu: „Ich
habe gedacht, es müsse auch blind sein, weil ich sah, dass es das Gras
nur auf der einen Seite weggefressen hatte, obgleich dasselbe weniger gut
war als jenes auf der andern Seite." Der dritte endlich sprach: „Ich habe
das Pferd ebensowenig als meine Brüder gesehen; da ich aber Weintropfen,
die der Boden aufgesogen und Öltropfen auf der Oberfläche des Bodens
wahrgenommen hatte, so bin ich zu dem Schlüsse gekommen, dass das
Pferd eine Tonne mit Öl und eine mit Wein trüge." — Der Rabbiner
schickte den Juden fort und fragte sie dann nach dem Zweck ihrer Reise.
Sie setzten ihm diesen auseinander und betrieben dann die Entscheidung
ihrer eigenen Streitfrage bei ihm.1)
1) Israël Levi über die Novelle Le Chameau borgne in no. 22 der Revue des
Études juives; sie enthält die vorstehende talmudische Version, die in der Melusine,
358
Prato :
De sapientia.
Eine Version aus der altitalienischen Litteratur (wegen ihrer allzu grossen Länge
kurz zusammengefasst).
Den Anfang bildet, ähnlich wie in der vorhergehenden Yersion, die
Erzählung, dass ein Kaufmann aus Tana, genannt Alvisi, ein sehr reicher
Mann, in Gegenwart seiner drei Söhne stirbt und ihnen die Summe von
120 000 Dukaten zu gleichen Teilen, sowie drei an einem angegebenem
Orte verborgene kostbare Edelsteine hinterlässt. Einen davon entwendet
der jüngste Sohn, Manasses, nachdem er all das Seinige durchgebracht hat
und verkauft ihn. Nachdem die beiden anderen Brüder ihr ganzes Ver-
mögen verprasst haben, wollen sie sich einer nach dem andern mit Manasses
Zustimmung, die sie jedoch keineswegs zu erlangen vermögen, an dem
Schatze vergreifen, und so gehen sie zu dem Versteck, wo sie nur zwei
Edelsteine finden. Auch hier klagt der jüngste Bruder die beiden anderen
des Diebstahls an dem einen Steine an. Sie kommen indes, um ihre Un-
einigkeit beizulegen, überein, zu dein Calí zu gehen, dem Herrn von Mangi,
dem ehemaligen Freunde ihres Vaters und dem weisesten unter den Mu-
hammedanern. Während sie auf dem Wege dahin eine Ebene durchschreiten,
sagt der älteste Bruder Arduigi zu den beiden anderen: „Ein weibliches
Kameel ist hier durchgekommen, das seines einen Auges beraubt ist."
Gleich darauf bemerkt der mittlere von ihnen: „Ein weibliches Kameel
hat dort gelegen, das mit Honig und Essig beladen gewesen ist." Der
dritte fügt alsbald hinzu: „Sicherlich ist hier eine Kameeistute ohne
Schwanz gewesen"; doch keiner von den dreien, obgleich sie sich gegen-
seitig fragen, ist gewillt, den Grund für seine Vermutungen zu eröffnen.
Nicht weit davon treffen sie einen Fuhrmann, der sie fragt, ob sie zufällig
eine beladene Kameeistute gesehen hätten. Arduigi sagt zu ihm: „Dein
Kameel hatte ein Auge zu wenig." — Der Fuhrmann sagt: „Ja!" — Und
Arduigi fügt hinzu: „Ich habe es niemals gesehen." Die beiden anderen
stellen die vorher angegebenen vermutenden Fragen an ihn, erklären aber,
das Kameel ebensowenig gesehen zu haben. Der Fuhrmann argwöhntauf
Grund dieser genauen Merkmale in ihnen die Räuber seines Kameeis und
begleitet sie geradeswegs zum Cali, um bei ihm wegen des vermuteten
Diebstahls gegen die drei Jünglinge Klage zu führen. Als sie vor diesem
angelangt und gefragt werden, wieso sie denn dem Kameelfiihrer die
genauen Merkmale seines Tieres hätten angeben können, ohne es im
geringsten gesehen zu haben, spricht Arduigi, der erklärt hat, wie das
Kameel des einen Auges beraubt sei: „Herr, als ich zwischen zwei
grünenden Wiesen dahinschritt und die Kam e eispuren sah und bemerkte,
dass das Gras nur auf einer der beiden Seiten abgenagt war, kam ich zu
t. II, no. 23 reproduziert ist. Die Legende datiert spätestens aus dem dritten Jahrhundert
nach unserer gewöhnlichen Zeitrechnung.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
359
dem Urteil, besagtes Kameel habe nur ein Auge, weil die Kameele die
Gewohnheit haben, abwechselnd von der einen und von der anderen Seite
einen Bissen zu sich zu nehmen." — Scandalco sagt: „Herr, als wir uns
unter einen Baum gelegt hatten, um auszuruhen, sah ich, dass sich daselbst
am Boden auf der einen Seite einige Fliegen und auf der anderen
Schmeissfliegen angesammelt hatten, und darum urteilte ich, dass dort ein
mit Honig und Essig beladenes Kameel gewesen sei, weil die Fliegen
vom Honig, die Schmeissfliegen hingegen vom Essig angelockt werden."
— Mariasses endlich sprach: er habe behauptet, das Kameel sei ohne
Schwanz gewesen, weil die Kameele, wenn sie sich niederlegen und harnen
wollen, mit dem Schwänze eine Grube in den Sand machen und dahinein
harnen und dann vermittels des Schwanzes den Harn wieder mit Sand
bedecken, und da er gesehen habe, dass der Harn über den Sand ver-
breitet wäre, habe er geschlossen, das Kameel besitze keinen Schwanz;
weiter habe er durchaus nichts bemerkt. — Als der Cali ihre trefflichen
Gründe vernommen hat, entscheidet er, dass sie die Wahrheit gesprochen,
befiehlt dem Fuhrmann, sich auf die Suche nach seinem Eigentum zu
begeben und spricht jene von der Anklage des vermeintlichen Diebstahls
an dem Kameele frei.
Alsdann lässt er sie in ein Zimmer treten, und ohne von ihnen
gesehen zu werden, beobachtet er sie, verborgen im Innern einer Säule
desselben Zimmers. Er lässt ihnen eine Erquickung bereiten, und während
sie essen, sagt Arduigi: „Meine Brüder, das Fleisch, das uns der Cali heut
Abend zu essen gegeben hat, ist von einem Tier, das mit der Milch einer
Hündin genährt worden." Darauf sagt Scandalco: „Meine Brüder, ich habe
bemerkt, dass dieser Wein, den uns der Cali gegeben hat, gewachsen ist,
wo man die Leiber der Toten begräbt." Der Cali schickt sofort zum
Haushofmeister und fragt ihn, was für Fleisch er den Fremden gegeben
habe, und jener antwortet, er habe ihnen ein Lamm vorgesetzt, das er
von ihrem Nachbar Nieri zum Geschenk erhalten habe. Der Cali schickt
nunmehr zu dem genannten Nieri und will Näheres über jenes Lamm
erfahren. Dieser antwortet: „Ich hatte ein trächtiges Schaf; aber nachdem
es ein Lamm zur Welt gebracht, starb es und da ich eine Hündin besass,
die Junge geworfen hatte, liess ich das Lamm mit der Milch jener Hündin
aufziehen." Darauf schickt der Cali nach dem Kellermeister und fragt
ihn, was für einen Wein er den Fremden gegeben habe. Jener antwortet:
«Wein von jenem Weinberge, wo die Leiber der Toten begraben werden."
Als die Sonne aufgegangen war, schickt der Cali nach den drei
Brüdern, und als sie gekommen waren, fragt er den ältesten, was er bei
dem Abendessen über das Fleisch geäussert habe. Arduigi sagt: dass
jenes Fleisch seines Erachtens wahrlich mit der Milch einer Hündin
genährt worden sei. Darauf der Cali: „Woran hast du das gesehen?"
Er antwortet: „Weil man sich von solchem Fleische nie gesättigt fühlt,
360
Prato :
und als ich sah, dass ich beinahe ein Lamm aufgezehrt hatte, habe ich
also geschlossen." Da spricht der Cali: „Du hast die Wahrheit gesagt."
Alsdann fragt er: „Und du, was behauptetest du von dem Wein ver-
stehen zu können?" Scandalco antwortet: „Herr, wir aus Tana haben
einen guten Kopf, infolgedessen kam ich zu dem Urteil, jener Wein sei
dort gewachsen, wo man die Leiber der Toten begräbt, weil von Natur
der Leib des Menschen träge ist und dem Kopfe Beschwerde macht." Der
Cali antwortete: „Dem gebe ich Beifall."1)
Der Hund und das Pferd.
Variante ans der neueren französischen Litteratur.
Als Zadig eines Tages an einem Wäldchen entlang spazieren ging,
sah er, dass ihm ein Eunuche der Königin entgegen eilte, gefolgt von
vielen Offizieren, die sehr aufgeregt erschienen und da- und dorthin liefen,
wie Leute, die voller Unruhe nach der Spur ihres kostbarsten Besitzes
suchen, der ihnen verloren gegangen. „Junger Mann", sprach der Ober-
eunuche, „solltest du vielleicht den Hund der Königin gesehen haben?"
Zadig versetzte bescheiden: „Du willst sagen eine Hündin, nichteinen
Hund."
„Du hast Recht", entgegnete der Obereunuche.
„Es ist eine kleine spanische Hündin", führ Zadig fort, „sie hat
unlängst geworfen, hinkt mit dem linken Vorderbeine und hat sehr lange
Ohren."
„Du hast sie also gesehen", sprach der Obereunuche, der kaum wieder
zu Atem kommen konnte.
„Nein", versetzte Zadig, „ich habe sie nie gesehen und habe nie
gewusst, dass die Königin eine Hündin habe."
Gerade zur selben Zeit geschah es, dass durch einen Streich, wie ihn
die irdischen Zufälle belieben, das edelste Pferd des königlichen Marstalles
aus den Händen eines Stallknechts nach den Ebenen von Babylon entfloh.
Der Oberjägermeister und alle anderen Offiziere eilten mit derselben
Aufregung wie der Obereunuche, der die Hündin suchte, auf die Suche
nach dem Pferde. Der Oberjägermeister wandte sich an Zadig und fragte
ihn, ob er das Pferd des Königs habe vorüberkommen sehen.
„Ist es", versetzte Zadig, „ein Pferd, welches die anderen im Laufe
überholt, ist es fünf Fuss hoch, hat es sehr kleine Hufe, einen drei und
einen halben Fuss langen Schwanz, Zaumbuckeln von dreiundzwanzig-
karatigem Cfolde und Hufeisen aus Silber zu elf Denaren?"
„Wo ist dieses Pferd? welchen Weg hat es genommen?" fragte darauf
der Oberjägermeister.
1) Novelle inedite di Giovanni Sercambi, tratte dal codice trivulziano
CXCIIÍ per cura di Rodolfo Renier, Torino, 1889, no. 1, S. 9—15.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
361
„Ich habe es nie gesehen", versetzte Zadig, „und habe nie von ihm
reden hören."
Der Oberjägermeister und der Obereunuche des Königs zweifelten
nicht, dass Zadig das Pferd des Königs und die Hündin der Königin
gestohlen habe; sie liessen ihn deshalb vor die Versammlung des grossen
Desterham führen, der ihn zur Knute und zur Verbannung nach Sibirien
für den Rest seines Lebens verurteilte. Kaum war das Urteil gesprochen,
als sich alsbald Pferd und Hündin wiederfanden.
Hierdurch gerieten die Richter in die peinliche Notwendigkeit, das
eigene Urteil umzuändern, und sie verurteilten Zadig zur Zahlung von
vierhundert Unzen Gold, weil er gesagt habe, er hätte etwas nicht gesehen,
was er doch gesehen habe. Erst musste Zadig die Geldstrafe bezahlen,
dann erhielt er die Erlaubnis, seine Sache vor dem Rat des grossen
Desterham zu verteidigen, und er sprach folgendermassen :
„Sterne an Gerechtigkeit, Abgründe an Wissenschaft, Spiegel der
Wahrheit, die ihr das Gewicht des Bleies, die Härte des Eisens, den Glanz
des Diamanten und viele Ähnlichkeit mit dem Golde besitzet! Da mir
gestattet ist, vor dieser erhabenen Versammlung zu sprechen, so schwöre
ich bei Oromasdes, dass ich weder die verehrungswürdige Hündin, noch
das heilige Pferd des Königs der Könige gesehen habe. Hört, was mir
begegnete. Ich ging in der Richtung nach dem Wäldchen spazieren, wo
ich später auf den ehrwürdigen Eunuchen und auf den erlauchten Ober-
jägermeister stiess. Ich bemerkte im Sande die Spuren eines Tieres, und
leicht erkannte ich, dass es diejenigen eines kleinen Hundes waren.
Gewisse leichte, langgezogene Furchen, die auf einigen höheren Stellen
im Sande zwischen den- Fussspuren eingedrückt waren, liessen mich glauben,
dass es eine Hündin sei, deren Brüste herabhingen und die deshalb kürzlich
Junge geworfen haben müsse. Anderseits zeigten andere Spuren, die
seitwärts von den Vorderfüssen die Oberfläche des Sandes beständig-
gestreift zu haben schienen, mir an, dass sie lange Ohren habe, und weil
ich beobachten konnte, dass der Sand immer von der einen Pfote weniger
ausgehöhlt war als von den drei anderen, so gelangte ich zu der Erkenntnis,
dass die Hündin unserer erhabenen Königin, wenn ich mir gestatten darf
es auszusprechen, ein wenig hinke.
Was nun das Pferd des Königs der Könige anbelangt, so will ich
euch sagen, dass ich bei meinem Spaziergange auf den Wegen des Waldes
einige Abdrücke von den Hufeisen eines Pferdes und zwar alle in gleicher
Entfernung von einander bemerkte; deshalb sagte ich mir: es war ein
Pferd, das in vollendeter Weise galoppierte. Der Staub an den Bäumen
sodann war auf einem bestimmten Wege, der nur sieben Fuss breit war,
zur Rechten und zur Linken drei und einen halben Fuss weit von der
Mitte des Weges ein wenig aufgewirbelt. Dieses Pferd, sagte ich da zu
mir, hat einen drei und einen halben Fuss langen Schwanz, denn dadurch,
362
Prato :
dass es ihn nach beiden Seiten hin bewegte, hat es diesen Staub weg-
gefegt. Unter den Bäumen, die einen Bogen von fünf Fuss Höhe bildeten,
sah ich, dass kurz vorher viele Blätter von den Zweigen gefallen waren;
das Pferd hatte sie also berührt und musste fünf Fuss hoch sein. Sein
Gebiss musste notwendigerweise aus dreiundzwanzigkaratigem Golde sein,
da es mit den Buckeln gegen einen Stein stiess, der, wie ich bemerkte,
ein Probierstein war und an dem ich die Probe machte. Endlich ver-
mutete icli aus den Merkmalen, die es an einer anderen Steinart von seinen
Hufen hinterlassen hatte, dass diese mit feinem Silber zu elf Denaren
beschlagen seien."
Yon allen Richtern wurde die tiefe Weisheit Zadigs und seine Unter-
scheidungsgabe bewundert, und die Kunde davon gelangte bis zum König
und der Königin.
Man sprach von nichts anderem als von Zadig in den Vorzimmern, in
der Kammer und im Kabinet, und obwohl viele Magier meinten, man
müsse ihn als einen Zauberer verbrennen, befahl der König dennoch, dass
ihm die vierhundert Unzen Gold zurückerstattet würden, zu denen er ver-
urteilt worden war.*)
V ergleicliende An m e rkungen.
Die Untersuchung der beiden Stuten, um zu erkennen, welches die
Mutter und welches die Tochter sei (erste tibetanische Novelle), wie auch
die Prüfung des Sandelholzstammes, um das untere Ende von dem oberen
zu unterscheiden, kommt vor in Çukasaptati, Ubersetzung von Galanos,
37. und 38. Nacht. In einer speziellen Rezension der Legende des Givaka,
einer bedeutenden Persönlichkeit aus der Religionsgeschichte der südlichen
Buddhisten2) findet sich auch die Unterscheidung zwischen der Stute und
dem Füllen; dem Urteil über die beiden Mütter, das dem Cyclus der
salomonischen Sagen angehört, geht ein anderes vorher, das dazu dient,
den wahren Besitzer eines Paares streitiger Schuhe zu erkennen; die Art
indes, wie die Wahrheit hergestellt wird, ist im Wesen dieselbe.
Die Wendung, welche die Unterscheidung der beiden Stuten betrifft,
ist zwar dem Umstände zufolge, dass sie in der von A. Weber übersetzten
jainistischen Erzählung entstellt erscheint, nicht nur zur näheren Be-
stimmung des mit der Milch eines anderen Tieres genährten Pferdes, die
dann zuerst in der neugriechischischen Legende von dem weisen Alten
1) Voltaire, Zadig, Conte, Chapitre III.
2) Sie stammt von diesen nach Spence, Manual of Budhism in its modern
developement translated from Singhalese Mss. London, 1860, S. 220—27). Ihre
Altertümlichkeit ergiebt sich klar aus der Existenz der zwei letzten Versionen, dieser
nämlich und der anderen von Kandjour, der genannten Legende in der buddhistischen
Übersetzung.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
363
und dann in der Novelle von dem griechischen Weisen in den Cento
Novelle Antiche begegnet, sondern sogar auch zur näheren Bestimmung
eines Pferdes nach den in dem Erdboden aufgedrückten Hufspuren im
voraus bestimmt. In anderen orientalischen Varianten hingegen erscheinen
die beiden Züge, die verschiedenen Novellen angehören und genau von
einander getrennt bestehen, die dann aber in der erwähnten jainistischen
Erzählung zur Verschmelzung gelangt sind, wieder gesondert, bleiben aber
ein Bestandteil derselben Erzählung.
Der Zug von der Erkennung des Edelsteines erinnert an eine
analoge Erzählung in dem Kommentar der Nan dì1), die dem Abhayakumâra
zugeschrieben wird. Der Zug von dem Pferde, das mit der Milch eines
fremden Tieres genährt worden (der sich wie auch einige andere Attribute
später mit der Folgerung der Merkmale des Pferdes aus seinen auf dem
Boden hinterlassenen Spuren verbindet und so ein organisches Ganze
in einer einzigen Novelle bildet), findet sich auch in dem spanischen
Buche Los exemplos, Kap. 247 (in Gayangos, Escritores en prosa
anteriores al siglo XV, Madrid, Kivadeneyra, 1860, S. 508). Dort er-
kennt ein weiser Mann mit Sicherheit, dass ein Pferd mit Eselsmilch auf-
gezogen wurde. Diesem Zuge und der ganzen Erzählung begegnen wir
nach Dunlop, Geschichte der Prosadichtung, übersetzt von Felix
Liebrecht, Berlin, 1851, S. 212 (der den orientalischen Ursprung der
Erzählung erkennt) auch in der Novelle von den drei Söhnen des
Sultans von Jemen, und besser in der anderen von den drei Aben-
teurern und dem Sultan, übersetzt von Jonathan Scott, Tales,
Anecdotes and Letters from the Arabic and the Persan, Shrews-
bury, 1800. Sieh auch die deutsche Ubersetzung von Tausend und
Eine Nacht von Habicht und von der Hagen, No. 458, und auch dasselbe
Werk, Ausgabe von Loiseleur-Deslongchamps, Paris, 1838, S. 689—94.
In der Vita des Vergil von Donatus ist diese Anekdote dem grossen
lateinischen Dichter zugeschrieben; aber wie Professor Comparetti (Virgilio
nel Medio Evo, Livorno 1872, II, 141) bemerkt, fehlt sie in den Hdschr.
des Donatus, die vor dem XV. Jahrh. geschrieben sind, so dass man sie
sehr wohl für eine spätere Interpolation halten darf.
Was sodann die griechische Erzählung anbelangt, die unter den Texten
mitgeteilt wurde, so ist darauf hinzuweisen, dass der Titel der Variante
rirooyoUoov soviel bedeutet als: der arme Löwe; auch ist es nicht un-
angebracht zu bemerken, dass der Anfang der Erzählung, in welcher der
in Armut geratene Vater die Söhne veranlasst, ihn als Sklaven zu ver-
kaufen, sich auch in der aus einer alt-italienischen Quelle stammenden
1) Die Nandisûtra, ein Werk, das einem gewissen Devarddhigani (der auch Siddhânta
abgefasst hat) zugeschrieben wird, verfasst zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert der
gewöhnlichen Zeitrechnung, ist nach Benfey eine Art von systematisch-hermeneutischer
Encyclopädie mit Bezug auf die heiligen Texte.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 25
364
Prato :
Erzählung von dem weisen Jünglinge findet, die von Prof. Jagic im
Archiv für slavische Philologie 1. c. mitgeteilt ist. Dort veranlasst
Hercules (der weise Jüngling), nachdem sein Yater Miriados, ein reich
begüterter römischer Senator, gestorben, und er mit seiner Mutter Casina,
die das ganze Erbgut auf Werke des Wohlthuns verbraucht hat, in Armut
geraten, die letztere, ihn zu einem hohen Preise zu verkaufen. Über
dieses Motiv vergleiche die Geschichte von dem armen Manne in einer
Kollektion von Erzählungen von R. Nissim.x) Folgendes ist der Zug, den
Jagic a. a. 0., III, 578—79 erzählt: Der Prophet Elias erscheint einem
armen Manne und befiehlt ihm, ihn als Sklaven zu verkaufen, um sich
mit dem Erlös den nötigen Unterhalt für das Leben zu verschaffen. Jener
weigert sich, dies zu thun, aber der Prophet besteht darauf, indem er
sagt: „Führ meinen Befehl aus und verkaufe mich." Ein Offizier des
Königs kauft den Elias für 80 000 Denare. Elias wird als sehr geschickter
Architekt2) vor den König geführt, der von ihm die Vollendung eines
grossen Palastes begehrt. Elias vollendet ihn in einem Augenblicke der
Nacht und verschwindet dann beim Anbruch des Tages.
Die beiden genannten Erzählungen von dem weisen Alten und dem
weisen Jünglinge enthalten in gleicherweise die Motive der Unterscheidung
des Edelsteins und des Pferdes; nur weichen sie in der zweiten Erzählung
ein wenig ab und zwar nach folgender Richtung: In dieser bringt der
König, um die Geschicklichkeit des Jünglings in der Kenntnis von den
Edelsteinen zu erproben, auf einem öffentlichen Platze die allerseltensten
Edelsteine des Reiches zusammen, unter welchen der Jüngling den kost-
barsten herauswählen soll; derselbe lässt alle unbeachtet und kauft sich
einen Edelstein von einem Droguenverkäufer für einen höheren Preis, als
der Verkäufer selbst gefordert hatte, sodass der König sich zuerst darüber
erzürnt, dann aber, nachdem er den unschätzbaren Wert des Steines
erkannt, sich beruhigt. Um sich alsdann zu versichern, ob er ein voll-
kommener Pferdekenner sei, lässt er auf dem öffentlichen Marktplatze die
edelsten Rosse des Reiches zusammenbringen, unter welchen der Jüngling
das wertvollste herauswählen soll; indes auch bei dieser Gelegenheit lässt
er alle unbeachtet und kauft zu einem viel höheren Preise, als gefordert
war, ein Pferd, das ein armer Mann zum Verkauf anbietet, obgleich dasselbe
ein elendes Aussehen und nur vier Zähne hat. Der König ist bei diesem
Anblick auf den Jüngling erzürnt, aber dann beruhigt er sich. Der
Jüngling rät dem Könige, das Pferd ein ganzes Jahr hindurch wegen
1) Sieh darüber Perles, Rabbinische Agada's in 1001 Nacht, ein Beitrag
zur Geschichte der Wanderung orientalischer Märchen, in Frankels Monats-
schrift f. Gesch. u. Wiss. d. Judenthums, 1873, Februar, S. 68—69.
2) Eine unbestimmte Reminiscenz an Viçvakarman (der alles ausführt, konstruiert),
einen indischen Architekten des Dio Indra, der sehr geschickt und behende im Erbauen
von Palästen ist.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
365
seines zarten Alters in Ruhe zu lassen, da es sich noch nicht gut ent-
wickelt habe; der König hingegen verlangt, dass dasselbe mit drei anderen
edlen Rennpferden um den Preis laufen soll; es versucht die Probe,
besteht sie, aber stirbt daran.
Vorher habe ich bemerkt, dass sich die Besonderheit, die auf die
nähere Bestimmung des mit der Milch eines fremden Tieres genährten
Pferdes Bezug hat, mit anderen Besonderheiten und auch mit derjenigen,
welche die Bestimmung der Merkmale des Pferdes aus den auf dem Boden
eingedrückten Spuren betrifft, vereinigt hat und nun in einigen Erzählungen
hiermit vermischt begegnet. Dieselben fangen gewöhnlich mit der Teilung
der Erbschaft zwischen mehreren Söhnen nach dem Tode des Yaters an,
einer Episode, die das Objekt einer Fabel des Phaedrus (II, 5) und La
Fontaine (Fabl. II, 20) bildet; von diesen beiden Fabeln geht Herr René
Basset bei seiner genannten Studie in der Melusine 1. c. aus.
Einer solchen Vermischung von Eigentümlichkeiten begegnet man
schon in dem Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di
Serendippo, per opera di M. Christoforo Armeno dalla persiana
nell' italiana lingua trasportato1). Die Erzählung umfasst drei Teile.
Die beiden ersten entsprechen den vorhergenannten Zügen; in der That
geben die Söhne des Giaffar, des Königs von Serendippo, eine Probe ihres
nicht ungewöhnlichen Scharfsinns, indem sie, ohne etwas davon gesehen zu
haben, ein Kameel und seine Traglast beschreiben und dann erraten, dass
der ihnen vorgesetzte Wein aus Trauben gepresst ist, die auf einem Grabe
gewachsen sind, und dass das Lamm, von dem sie speisen, mit der Milch
einer Hündin genährt wurde. Diese beiden letzteren Momente kehren in
Verbindung mit einem anderen, dem des Haarschneidens, das in der Nacht
an jemandem vorgenommen wird, um ihn bei Tage herauszukönnen (einem
Momente, der zu der Erzählung von dem listigen Räuber gehört), in einer
volkstümlichen ungarischen Novelle bei Stier (Ungarische Sagen und
Märchen, Berlin 1850) wieder. Die Novelle führt den Titel: Der Traum.
Der Inhalt ist folgender: Einem Magyaren und einigen seiner Genossen,
die verkleidet in das Lager des Königs der Tataren eingedrungen sind,
lässt dieser ein Abendessen bereiten, und da er ihnen misstraut, veranlasst
er seine Mutter, eine geschickte Zauberin, auf sie aufzupassen. „Was für
einen guten Wein hat doch der Fürst!" sagt die Frau. — „Ja", erwidert
einer von ihnen, „aber er enthält Menschenblut." Die folgende Nacht
drängt sich die Zauberin in gleicher Weise in die Kammer der Gäste ein
und sagt: „Was für gutes Brot hat doch der König der Tataren!" —
„Sehr wahr", sagt ein anderer, „aber es ist mit der Milch einer Frau
zubereitet." Der König sagt alsdann zu einem der Jünglinge, er solle
1) Herausgegeben von Heinr. Gassner, Erlangen, 1891; genauer Abdruck nach der
ersten Ausgabe von Venedig, Trammezzino, 1557, der viele andere von den Bibliographen
verzeichnete Ausgaben folgten.
25*
366
Prato :
beweisen, inwiefern Menschenblut in dem Weine enthalten sei. Jener
fordert ihn darauf auf, seinen Kellermeister zu sich zu bescheiden, um es
sich sagen zu lassen. Am ganzen Leibe zitternd erscheint dieser und
bekennt, dass er sich beim Füllen des Fasses mit dem Messer in den
Finger geschnitten habe, wobei ein Tropfen Blut in das Fass gefallen sei.
Der König fragt alsdann, wieso sie denn hätten sagen können, dass in dem
Brote Milch von einem Weibe enthalten sei. Der Jüngling erwidert, er
möge die Bäckerin rufen lassen, um es sich sagen zu lassen. Man befragt
diese, und sie erwidert, dass, da sie ihr Kind gerade an der Brust hielt
und säugte, die Milch da, wo sie das Brot knetete, hineingetropft sei. Die
beiden Züge wiederholen sich viermal in einer volkstümlichen kama-
onianischen Novellette, die von Herrn Minayef (Professor an der Universität
zu Petersburg) im Norden von Hindustan aufgefunden worden ist. Sie ist
betitelt: Die vier scharfsinnigen Brüder und steht bei J. P. Minayef,
Indiyskiya skazki i legendi (in russ. Sprache), St. Petersburg, 1877,
S. 69—71. Die vier Brüder befinden sich hier auf der Suche nach Bräuten;
einer errät, dass sich ein Pferdehaar unter den vier Tüchern seines Bettes
befindet; der zweite spürt einen Büffelgeruch in der Kuhmilch; der dritte
spürt den Geruch von einem Urd (Dolichos pilosus) in der Haiava (einer
süssen Speise); der vierte den Geruch von Menschen in dem Fleische eines
jungen Bocks.1)
Der Zug von den Merkmalen des Pferdes, die aus den auf dem Boden
eingedrückten Spuren erschlossen werden, ist ebenfalls in zwei gleich der
vorangehenden in der Melusine a. a. 0. mitgeteilten Novellen verschieden.
In der Novelle von Aammamallen und Elias (Hanoteau, Grammaire
tamachek', Paris 1860, YI, No. 7, S. 146—52)2) stellt nämlich der erste,
um den Scharfsinn seines Enkels zu prüfen, drei alte Kameele im Thale
auf, das eine blind, das andere räudig, das dritte mit verstümmeltem
Schwanz. Er schickt den Enkel nach der Stelle hin und befragt ihn dann
bei seiner Rückkehr: „Woran erkennst du denn, dass ein altes Kameel
blind sei oder dass es umgekehrt seine beiden Augen habe?" — „Das
blinde Kameel frisst immer an dér Seite seines gesunden Auges." — „Und
das räudige Kameel?" — „Man erkennt es daran, dass es sich an allen
Bäumen reibt, auf die es stösst." — „Und was bestimmt dich, ein Kameel
mit verstümmeltem Schwänze zu unterscheiden von einem Kameel, dessen
Schwanz nicht verstümmelt ist?" — „Wenn das Kameel, das keinen
Schwanz mehr hat, mistet, so bleibt der Unrat auf einem Haufen liegen,
während hingegen dasjenige, das seinen Schwanz hat, sich desselben bedient,
um den Mist da- und dorthin auseinander zu streuen."
In einer volkstümlichen Novellette der Südslaven8) sind die eigen-
1) M, Dragomanoff in Melusine, Bd. II, No. 24 (vom 5. Dezember 1885).
2) René Basset in Mélusine, Bd. III, No. 6 (vom 5, Juni 1886).
3) R. B., Mélusine, Bd. II, 1885.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
3G7
tümlichen Züge so umgestaltet, class sie fast gar liiclit mehr zu erkennen
sind. Dieselbe ist betitelt: Die drei weisen Brüder und trägt ein sehr
deutliches muselmännisches Gepräge; man findet sie in Hrvatske narodne
pjesme i pripoviedke iz Bosne skupio N. Tordinae, 1884; Krauss,
Sagen und Märchen der Süd-Slaven, Bd. II, Leipzig, 1884, No. 122.
Der betreffende Zug lautet: Drei Brüdern stiehlt ein Unbekannter die
Stute; kaum haben sie es bemerkt, als sie beschliessen, mit Hilfe ihres
Verstandes zu ergründen, wer sie ihnen geraubt habe. Der eine sagt: „Es
muss ein grosser Mann gewesen sein." — „Wenn er gross ist, ist er auch
blond", sagt der zweite. — „Wenn er blond ist, trägt er einen langen,
schönen Bart", fügt der dritte hinzu; „gleichwohl ist die Stute nicht zu
sehen; verfolgen wir ihn"! Sie durchstreifen die Ebene und begegnen
unterwegs einem Manne mit denselben Merkmalen, die eben genannt
worden sind, nämlich von hoher Figur, mit blondem Haar und langem,
schönem Bart; indes sehen sie keine Stute bei ihm. Sie fallen wütend
wie Hornisse über ihn her, packen ihn, fordern Rechenschaft von ihm
über die Stute und verlangen, dass er sie ihnen zurückstelle. Als jener
sich in einer so schlimmen Lage sieht, sucht er sich von ihnen zu befreien
und bittet und beschwört sie, ihn in Frieden ziehen zu lassen; denn weit
entfernt, die Stute gestohlen zu haben, habe er sie nicht einmal gesehen.
Aber die drei Brüder verharren bei ihrer Forderung, sie ihnen zurück-
zustellen und ihrer Drohung, ihn des Diebstahls anzuklagen. Als sie dann
sehen, dass sie nichts damit erreichen, lassen sie ihn vorangehen und
führen ihn zum Qadhi von Travnik. Dieser fragt sie, was sie von ihm
wollen; sie antworten ihm einstimmig: „Dieser Schurke hat uns die Stute
gestohlen; deshalb haben wir dich aufgesucht, damit du dafür sorgst, dass
sie uns bezahlt werde." — „Woraus schliesst ihr, dass er sie euch gestohlen
habe?" — „Mit Yerlaub, edelmütiger Effendi, wir haben uns gegenseitig
beraten und haben volle Gewissheit, dass er allein der Dieb sein kann."
Nach Beendigung der Unterredung zieht sich der Qadhi in das anstossende
Zimmer zurück, umwickelt eine Citrone mit einem grossen Tuche, hüllt
das Ganze in einen Sack ein, bringt es so vor die Brüder und sagt zu
ihnen, wenn es ihnen gelingen würde, zu erraten, was in den Sack gehüllt
sei, werde er ihnen die Stute bezahlen; wo nicht, werde er ihnen hundert
Stockhiebe auf die Fusssohlen geben lassen. Der Erstgeborene beginnt:
„Mag jenes sein, was es will, es ist rund." — „Wenn es rund ist, ist es
gelb", sagt der zweite. — „Wenn es gelb ist", schliesst der letzte, „ist es
eine Citrone." In der That findet man, als man das Ding aus dem Sacke
nimmt und clas Tuch loslöst, eine Citrone darin versteckt. Der Qadhi
indes, noch nicht ganz überzeugt, behält, um noch eine Probe zu haben,
die drei Brüder während der Nacht bei sich. Zum Abendtisch lässt er
sein Hündchen für sie schlachten und auftragen. Als sie sich gar wohl
daran hatten sein lassen, sagt er zu ihnen, wenn sie erraten würden, wovon
368
Prato :
das Fleisch herrühre, würde er ihnen die Stute bezahlen1); wo nicht,
würde er ihnen hundert Stockhiebe auf die Fusssohlen geben lassen. Der
Erstgeborene beginnt: „Mag es sein, was es will, es streift umher." —
„Wenn es umherstreift, schnüffelt es überall herum." — „Wenn es herum-
schnüffelt, ist es ein Hündchen." — Der Qadhi springt von seinem Stuhle
empor und ruft laut: „Ihr habt es erraten, ich werde euch bezahlen", und
er giebt ihnen den vollen Preis für die Stute.
Mit dem Gegenstande, der in der neugriechischen Erzählung von dem
weisen Alten und der weiteren yon dem weisen Griechen in den Cento
Novelle Antiche behandelt ist, ist auch die dritte der Cinque novelle
antiche inedite verkettet, die von dem verstorbenen Giovanni Papanti,
der dieselben aus anonymen Predigten des 15. Jahrhunderts hervorzog, zur
Hochzeit D'Ancona-Nissim in Livorno, gedruckt bei Francesco Vigo, 1851,
veröffentlicht wurde. Zum Zwecke fernerer Vergleiche sieh über unseren
Gegenstand mit Bezug auf die genannte Novelle des Novellino (vergi, über
diese die Anmerkungen des Professors A. D'Ancona in seiner Arbeit: Le
fonti del Novellino, veröffentlicht in der Pariser Romania, Bd. III,
1874, S. 164—165) Dunlop in dem oben citierten Werke, S. 487, Anm. '282;
über die summarisch im Texte mitgeteilte Novelle des Sercambi den
Artikel von Giuseppe Rua, Einige Erzählungen des Giovanni Ser-
cambi (übersetzt von D. Brauns), No. 1: De sapientia in Veckenstedts
Zeitschr. für Volkskunde, Bd. II, S. 250. Rua bemerkt, dass die
Novelle dem Cyclus von Novellen angehört, über den Prof. A. Wesselofsky
eine Untersuchung im Archiv für slavische Philologie, IX, S. 308
unter dem Titel: Eine Märchengruppe veröffentlicht hat; für die Er-
zählung: Peregrinaggio dei tre figliuoli del re di Serendippo, sieh
die bibliographischen Nachweise im XVIII. Bd. des Giornale storico
della letteratura italiana, S. 473—74 rücksichtlich der letzten Ausgabe
von Gassner; und für die Erläuterung dazu vergleiche auch Th. Benfey
in Orient und Occident, Fränkel in der Monatsschrift f. Gesch. u.
Wiss. des Judentliums, Februar 1873, und Huth in der Zeitschrift
für vergleichende Litteratur - Geschichte und Renaissance-
Litteratur, neue Folge, Bd. II, S. 404ff.: Die Reisen der drei Söhne
des Königs von Serendippo. Über neue Analysen und Vergleichungen
sieh ferner Albertazzi, Romanzieri e romanzi del 500 e del 600,
Bologna, 1891, S. 113 ff. ; endlich über die verschiedenen Varianten der
orientalischen Erzählung vergi, den oben schon citierten Artikel von René
Basset: Une fable de La Fontaine et les Contes orientaux in der
Melusine, Bd. II, No. 22 und die Ergänzung dazu von ebendemselben in
1) Es ist interessant, diese Probe mit derjenigen zusammenzustellen, welcher Krösus
die Orakel unterzieht, bevor er sie befragt, infolgedessen nur die Orakel von Delphi und
des Amphiaraus siegreich hervorgehen (Herodot, I, 46—49).
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
369
der Melusine, Bd. III, No. 6, wie auch zwei andere Ergänzungen von
Israël Levi, Melusine, Bd. II, No. 23 und von Prof. Michael Dragomanoff,
Melusine, Bd. II, No. 24. Es sei auch an den mehrfach citierten Artikel
von Jagic im Archiv für s lavi s che Philologie, Bd. III erinnert.
Und nun, nachdem die vergleichenden Hinweise zu den verschiedenen
Novellen der von uns behandelten Gruppe, sowie die bibliographischen
Notizen über dieselben und die an sie geknüpften Untersuchungen beendet
sind, sei es mir gestattet, dem Scharfsinn und der Kraft des menschlichen
Geistes, die in den Haupthelden und anderen Persönlichkeiten derselben
Erzählungen hervortritt, einige Bemerkungen zu widmen. Der Schluss
der oben citierten Erzählung Voltaires (die, wie in Parenthese angenommen
werden darf, zwar wie die andere von Sercambi aus orientalischen Quellen
geschöpft ist, wenn man auch das Bindemittel davon nicht klar erkennt,
die uns aber eher eine geistvolle Parodie als eine wirkliche Reproduktion
wegen der scharfsinnigen Vervielfachung der Merkmale des Hundes und
des Pferdes, die den von ihnen unterwegs auf dem Boden hinterlassenen
Spuren entnommen sind, darbieten mag) jener Schluss, sage ich, zeigt klar
die Absicht der Erzählung, sowohl in den späteren Bearbeitungen, als
auch, und vielleicht noch viel mehr, in der ursprünglichen Form. Und
hier erinnere man sich der ersten Yerse der Canzone Petrarcas (Nr. 2 im
4. Teil des Canzoniere), die auf die berühmte Persönlichkeit anspielen,
an die sie gerichtet sind (Cola di Rienzi, Tribun der römischen Republik,
oder Stefano Colonna il Giovane, Senator von Rom):
Spirto gentil che quelle membra reggi
Dentro le qua' peregrinando alberga
Un signor valoroso, accorto e saggio ....
und der verständigen Erklärung, die Carducci dazu gegeben hat: Der
Dichter spricht zu dem vornehmsten Teil der Seele, in dem Tüchtigkeit,
Kraft, Klugheit und Weisheit wohnen, Eigenschaften, die auch in unge-
bildeten Leuten möglich sind, daher das bekannte toskanische Sprichwort:
Contadini, scarpe grosse e cervelli fini. Und so that Sallust einen
treffenden Ausspruch, als er in der Einleitung zum Jugurthinischen Kriege
§ 1 auf diese Macht des Geistes in den Worten hinwies: Dux atque
imperator mortalium animus est, qui ubi ad gloriam virtutis via
grassatur, abunde pollens, potensque et clarus est . . .; und dann
fügt er hinzu: Quod si liominibus bonarum rerum tanta cura
esset, quanto studio aliena, ac nihil profutura, multumque
etiam periculosa petunt...... eo magnitudinis procédèrent,
ubi pro mortalibus gloria aeterni fierent. In der Einleitung zur
Catilinarischen Verschwörung sagt Sallust, dass der Mensch mit den
Göttern den Geist gemein habe, der zur Herrschaft über den
Leib bestimmt sei (auch Cicero nennt den Geist ein Teilchen von
der Gottheit); er fügt hinzu, dass man, bevor man irgend etwas
370
Prato :
beginne (ein Urteil, eine Recle, eine Schrift, eine Handlung-), sich erst
Yom Geiste Rat holen und darauf handeln müsse, sodass der
Rat des Intellects (d. h. die Reflexion) und die Handlung sich
gegenseitig unterstützten (daher die den Menschen betreffende Formel
des Descartes: Cogito, ergo sum; daher auch das Motto G. Mazzinis:
Pensiero e azione). Br bemerkt dann noch: In bello plurimum
ingenium posse, und darauf: Quodsi regum atque imperatorum
animi virtus in pace ita ut in bello valeret, aequabilius atque
constantius sese res humanae haberent., neque aliud alio ferri,
neque mutari ac misceri omnia cemeres. Voltaire drückt in
folgenden zwei Denksprüchen die Bedeutung des Geistes aus: L'argent
fait tout, mais la vertu passe tout; Tous les hommes sont égaux,
ce n'est pas la naissance, ce n'est que la seule vertu qui fait
leur différence. Deshalb sagte ehedem Giusti in einem seiner Epigramme
zum Marchese Gino Capponi: Gino mio, l'ingegno umano, | Part or i
cose stupende, und Sallust schrieb in der Einleitung zur Catilinarischen
Verschwörung den Spruch: Quae homines arant, navigant, aedi-
fi cant, virtuti omnia parent. Man verzeihe mir diese doktrinäre
Abschweifung zur Rechtfertigung des Umstandes, dass der menschliche
Scharfsinn in einigen legendenhaften Persönlichkeiten aus der Tradition
bisweilen in übertriebener Weise persouificiert erscheint, so im Bertoldo
aus der italienischen, im Marcolfo aus der slavischen (woraus später in
der italienischen eine Frau Marcoifa geworden ist), im Sanct Josaphat aus
der christlich-occidentalischen Tradition, einer christlichen Yermummung
des Gotama Buddha, mit denen sich nicht minder als Jivaka der indische
Bertoldo, der aus einem Bauer König Mahausadha wurde, die indische
Marcoifa, die zur Königin Viçakha wurde, und der jainistische Rohako, nach
der geistreichen Hypothese des Prof. F. L. Pullé in der gelehrten Vorrede
zu seinem schönen Werke: Un progenitore indiano del Bertoldo ver-
knüpfen. Hier wäre es auch am Platze, an Virgil, „il savio gentil che latto
seppe" (Inf. 7,3), „il iner di tutto il senno" (Inf. 8,7), zu erinnern,
der bei Dante die Wissenschaft von den letzten Ursachen und in der
Volkstradition die Geheimwissenschaft oder die Nekromantie versinnbildlicht,
die Wunder wirkt (wie in den von uns behandelten Novellen der Scharf-
sinn des Haupthelden oder der Hauptheldin, dank der induktiven Ver-
knüpfung der sichtbaren Wirkungen, d. h. der Spuren, die Elephant,
Kameel, Hund und Pferd in den Boden gedrückt, mit der Ursache, d. h. ihren
physischen Merkmalen, eine feine Reminiscenz, wie ich glaube, an Mahaus-
hadlia, den grossen Arzt (Mahaushadha — gâtaka), in welchem Buddha
versinnbildlicht ist, der dasselbe Attribut hatte, da er mit einer wunder-
baren Spezerei in der Hand geboren wurde1), und auch eine Reminiscenz
1) Es ist dies eine von den früheren Legenden des Buddha; der Originaltext von
diesem gâtaka, sagt Pullé, ist noch nicht bekannt, aber einen Teil davon, der aus einer
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen.
871
an Jivaka oder Givaka (d. h. Verleiher des Lebens), dessen Name fast
synonym mit dem vorigen ist und welcher, weil ein Fürst, auch als König
der Ärzte begrüsst wurde und der sich in der Heilkunde ausserordentlich
berühmt gemacht hat.1) Wir wollen auch darauf hinweisen, dass die
Plumpheit und Hässlichkeit des Körpers an Bertoldo und andern von der
Volksphantasie geschaffenen Typen die grösste Geistesschärfe und Schlau-
heit nicht ausschliesst, im Gegenteil sogar voraussetzt, wodurch das lateinische
Sprüchwort: Cave a signatis vollkommen bewahrheitet und die nicht
gerade seltene Ausnahme von der bekannten Regel: Mens sana in
corpore sano bestätigt wird. Augenscheinliche Belege für dieses Verhältnis
sind unter den Gelehrten unser Giacomo Leopardi und der Franzose Blaise
Pascal, und im gewöhnlichen Leben die Frau, die das sogenannte schwache,
aber auch anmutige Geschlecht darstellt (sodass Schwäche und Anmut bei
der Frau, wie auch die Schönheit und Lieblichkeit der Blumen miteinander
gehen) und deren unglaubliche Feinheit des Geistes und Schlauheit bekannt
sind, sodass nach einem bekannten Sprichwort das Weib eine List mehr
besitzt als der Teufel, die Personificierung der Bosheit und Verschlagenheit:
daher der Teufelscharakter der Schlange, des Sinnbildes der Klugheit.
Und nicht ohne Grund erzählt schon Franco Sacchetti in einer seiner
Novellen von einem Blinden, dass ihm durch den ausserordentlichen Scharf-
sinn seines Geistes gelingt, den Ort zu entdecken, wo ein Dieb das ihm
gestohlene Geld verborgen hat, um anzudeuten, wie auch in der intellek-
tuellen und moralischen Ordnung sich das Gleichgewicht der Kräfte voll-
kommen bewahrheitet, sodass die Natur den körperlichen Defekt mit
einem geistigen Uberschusse ausgleicht: infolgedessen sieht der körperlich
Blinde um so schärfer mit dem Auge des Geistes und ist das körperlich
schwache Weib um so stärker an durchdringender Kraft des Geistes, d. h.
an Schlauheit. Es verlohnt sich daher, mit Pullé zu fragen: „Darf es uns
also Wunder nehmen, wenn vom Glücke weniger begünstigte, aber nicht
weniger rechtmässige jüngere Brüder St. Josaphats, ein Marcolfo und ein
Bertoldo, durch Vermittelung Mahaushadhas und Rohakos auf das Erbe
Buddhas Anspruch machen? Zwischen dem indischen Vorbilde und Bertoldo
bewegen sich aber dieselben Unterschiede, die schon zwischen der Zeit,
der Gesellschaft und dem idealen Zwecke bestanden, der beide jeweilen
hervorgebracht hat. Zudem drückte auf die occidentalische Persönlichkeit
die traurige Erbschaft des missgestalteten Körpers, den von der Sphinx
anderen buddhistischen Quelle entnommen ist, bietet uns Rhys Davids in seinen Buddhist
Birth St ori e s dar.
1) Weil „primus et ultimus sunt in honore pares", lassen sich Virgil, das Symbol
der Wissenschaft der letzten Ursachen, Mahaushadha (Buddha, der Weise, der Erleuchtete
Par excellence) und Givaka, sein allegorisches zweites Gesicht, die Personifikationen der
Ayur (Medizin), der ersten unter den Wissenschaften des Sichtbaren, der Wissenschaft des
bebens bei den Indiern, sehr wohl miteinander verbinden.
372
Prato :
des Öclipus bis zu Thersites und Äsopus die klassische Tradition, von
Asmodeus bis auf Marcolfo die mittelalterliche dem Typus des verlumpten
Wahrsagers und des geilen V olksweisen aufgedrückt hatten und für den
sie das Kostüm aus der Zeit der Zwerge und Possenreisser bewahrten. —
Indes auch durch den rohen Stoff des Bertoldo weht der Hauch einer
gewissen Idealität. Es ist das Gewissen der unter der brutalen Gewalt
seufzenden Yolksmassen, welches zwischen der Schlauheit und dem Spott
hindurch seinen Protest erhebt, welches unter einem den Schmerz schlecht
verhehlenden Lächeln die Rechte der Natur und der Vernunft gegen die
verwegene Gewalt verficht. — So erhält sich hinter den mannigfaltigen
Arten der Erscheinung doch immer der Grundgedanke einer und derselben
Erzählung. Der Stoff ist ewig. Er zieht durch die Jahrhunderte dahin,
indem er von dem Geist und den Neigungen, die ihn bewegen, Gestalt
und Ausdruck annimmt. Auch nicht die Wiederklänge der alten Weisheit
Buddhas, des Erleuchteten, in dem Bewusstsein des rohen apenninischen
Volkes, das aus dem halbgebildeten Verstände Croces zurückstrahlte,
konnten uns eine von Bertoldo verschiedene Erscheinung einbringen. Aber
die Forschung, welche die Reihe der Umgestaltungen wieder vereinigt,
setzt aus den zerstreuten Gliedern das vollständige Urbild der Schöpfung
wieder zusammen; jenes Urbild, in dem der Mensch zu verschiedenen
Zeiten und nach seiner verschiedenen Manier dieselbe ihm immer gleich
c
teure That zu idealisieren suchte: „die That des Verstandes, der über die
armselige Form hinaus die Wirklichkeit der Dinge trifft; der über das
Wort des Gesetzes den Geist der Humanität triumphieren lässt."1)
Dass in Wahrheit diese Schlussabschweifung über den ausgezeichneten
Scharfsinn des menschlichen Geistes und seine ungewöhnliche Kraft nicht
unpassend war, beweisen die vorhin angestellten Vergleiche über die ver-
schiedenen Typen des Erzählungsstoffes, die kurz zuvor mitgeteilten geist-
vollen Bemerkungen Pullés, das Wesen selbst der behandelten Novellen
und die Stelle, die eine von ihnen, die jainistische, in dem W'erke ein-
nimmt, dem sie entnommen wurde. In der That bildet letztere mit den
anderen Novellen eine Gruppe, die dem Kommentar des Malayagiri zu
einem der Werke des jainistischen Siddhânta, dem Nandîsûtra, ent-
nommen ist; auf den Text dieses Kommentators bezieht, wie der genannte
Prof. Pullé bemerkt, Râgaçekara direkt seine eigene Bearbeitung. Nach
einer Einleitung von fünfzig Versen, die das Lob des Mahâvîra, die Liste
der vierundzwanzig Gina, die Reihenfolge der Patriarchen und Lehrer der
jainistischen Lehre bis zum Vorgänger des Dvarddhigani enthält, beginnt
1) Ich bitte den gelehrten und anspruchslosen Professor des Sanskrit an der Kgl.
Universität zu Pisa um Vergebung wegen des Plagiats, das ich an einer der enthusias-
tischesten und feinsten Stellen aus seiner vortrefflichen Monographie begangen habe, womit
ich den deutschen Lesern ein anmutiges Geschenk habe machen wollen.
Zwei Episoden aus zwei tibetanischen Novellen. 373
die Nandî mit der Behandlung des Begriffs nâna — sanskr. gnâna, und
seiner verschiedenen Kategorieen. — Eine davon, die bedeutendste, ist
der parokkhanâna = sanskr. paroksagnâna1), welche wieder eingeteilt
wird in âbhinivahiya = sanskr. âbhinibodika und in sua-parokkha-
nâna = sanskr. çruta-paroksagnâna, oder in die Erkenntnis, in das
durch Unterweisung erworbene Wissen (çruta) und in die in-
tuitiv gewonnene Wahrheit, die durch die Kraft des Intellekts erworben
*st. Dann werden eben bei der Besprechung dieser Ordnung von Arten
des Erkennens als Beispiele die Titel der Erzählungen angeführt, die der
Kommentator weitläufig erklärt.2) Soweit Pullé, dessen hochbedeutsamer
Monographie ich diese Angaben entlehnt habe, die geeignet sind, vor-
stehende Abschweifung über den Scharfsinn des menschlichen Geistes zu
fechtfertigen. Darum hat dann der wackere Mann im Besitze seines
Wissensschatzes, jenes unvergleichlichen Reichtums, der ohne Zweifel jeden
anderen weit übertrifft, weil er wohl erworben ist und deshalb niemals
Verloren gehen kann, inmitten der Trostlosigkeit eines Schiffbruchs oder
der Feuersbrunst einer Stadt vollkommen Recht, mit Simonides oder Bias
ruhig und leidenschaftslos zu bleiben und auf die Frage der um den
Verlust ihrer Habe besorgten und über solche Ruhe betroffenen Genossen
zu antworten: Omnia bona mea me cum porto; und mit vollem Recht
darf daher Petrarca in der Canzone an Giacomo Colonna folgende be-
geisterte Verse an diesen richten:
Tu ch'hai, per arriccliier d'un bel tesauro,
Yolto l'antiche e le moderne carte,
Yolando al ciel con la terrena soma.......
Sessa Aurunca, Prov. Caserta, Italien.
1) .Paras -f alesa wörtlich: jenseits der Ausren, was ausserhalb ist, sich dem Gesicht
entzieht und nur für den inneren Sinn wahrnehmbar ist; es ist das Gegenteil von
i)ratyaksa, wörtlich: vor den Augen, mit dem Sinnesorgane wahrnehmbar.
2) Der Ausdruck âbhînibodhika, abgeleitet von einem mutmasslichen abhiniboda,
^'fidet sich in den Sanskritwörterbüchern nicht, da Wort und Sinn rein buddhistisch und
Jainistisch sind. Zusammengesetzt aus der Wurzel bud (dessen part. perf. pass, buddha
" der Wache, der Erleuchtete ist) und den Präfixen abhi -f ni, bezeichnet er das Er-
ichen und Sichhinwenden des Geistes zu dem Objekt; das charakteristische psychologische
Diahren, durch das sich die buddhistische und jainistische Aulfassung von der brah-
lrianischen bei der Grundthätigkeit der Erkenntnis unterscheidet (Pullé).
374
Peilberg:
Die Zahlen im dänischen Branch und Volksglauben.
Yon H. F. Feilberg.
(Schluss von S. 256.)
Ausserhalb des religiösen Unterrichts und der Novelle haben die Zahl-
lieder noch eine andere Verwendung gefunden. Man hat bei uns eine ganze
Menge von „Ramser"1); die Auszählreime übergehe ich, lange, sinnlose,
hin und wieder gereimte Hersagungen, deren Wirkung auf einem ernsten
Gesicht und der Zungenfertigkeit des Vortragenden beruhen und die oft ein
schallendes Gelächter erwecken. Es müssen deren ja doch wohl auch
anderswo vorkommen; aber nur eine erinnere ich mich im Auslande gedruckt
angetroffen zu haben, in den Blättern fürPomm. Volkskunde, I, 29, 4: „Eine
ergötzliche Predigt", welche unseren „Raniser" sehr ähnlich ist. Unter
diesen werden einige für gesellschaftliche Pfänderspiele benützt; beispiels-
weise nenne ich ein Zahllied, das sich in sehr vielen Varianten unter uns
findet und noch heutzutage oft bei gesellschaftlichen Zusammenkünften junger
Leute benutzt wird. Ich führe zwei Hauptvarianten an. Man sitzt um
einen Tisch; der Anführende nimmt eine Karte, die er seinem rechten
Nachbarn mit dem ersten Satze reicht; der Empfänger reicht sie mit den-
selben Worten weiter. Wenn die Karte zum ersten zurückkehrt, fügt er
einen neuen Satz hinzu, womit sie wiederum von Mann zu Mann die
Runde macht, und so wird fortgefahren, bis die Karte mit der ganzen
„Predigt" ihre Runde vollendet; man geht dann wieder rückwärts, bis
man zum ersten Satze allein gelangt; wer aber etwas vergisst, stottert
oder fehlspricht, muss Pfand geben.
I.
Forste juledag Sankte Morten vi gav
1 fugl pâ min händ, og den tager ingen.
Anden juledag Sankte Morten vi gav:
1 fugl pâ min hand, og den tager ingen,
2 fiske i min flod.
Und auf diese Weise wird fortgefahren, bis die ganze Predigt lautet:
Am ersten "Weihnachtstage gaben wir St-
Martinus
1 fugl pâ min hand, og den tager ingen, 1 Vogel auf meiner Hand, niemand kam1
ihn nehmen,
2 fiske i min flod, 2 Fische in meinem Flusse,
3 höns udi min gârd, 3 Hühner in meinem Hofraum,
4 spanske haner, 4 spanische Hähne,
1) Franz. randonnées; Predigten?
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
375
5 far, ja, visselig et svin,
6 horn,
7 garde,
8 gangere grâ,
9 S0er og 9 grise i hver so,
10 lí0er og 10 kalve i hver ko,
U byer, 11 garde i hver by, 11 huse i
hver gârd, 11 stuer i hvert hus, 11 kamre
i hver stue, 11 vráer i bvert kammer,
11 kjsellinger i hver vrâ.
12 sogne, 12 kirker i hvert sogn, 12 altre
i hver kirke, 12 prsester for hvert alter,
12 kjoler pâ hver praest, 12 bselter om
hver kjole, 12 ringe om hvert bselte,
12 punge ved hver ring, 12 skillinger
i hver pung.
5 Schafe, ja, wahrhaftig ein Schwein,
6 Hörn er,
7 Gehöfte,
8 graue Zelter,
9 Sauen, in jeder Sau 9 Ferkel,
10 Kühe, in jeder Kuh 10 Kälber,
11 Dörfer, 11 Gehöfte in jedem Dorfe,
11 Häuser in jedem Gehöfte, 11 Stuben
in jedem Hause, 11 Zimmer in jeder
Stube, 11 Winkel in jedem Zimmer,
11 alte Weiber in jedem Winkel.
12 Kirchspiele, 12 Kirchen in jedem Kirch-
spiele, 12 Altäre in jeder Kirche,
12 Prediger vor jedem Altare, 12 Pfarr-
röcke an jedem Prediger, 12 Gürtel an
jedem Rocke, 12 Ringe um jeden Gürtel,
12 Beutel an jedem Ringe, 12 Pfennige
in jedem Beutel.
IL
1 stegehöne,
2 kokke,
3 trapper,
4 fede gälte,
5 flâede far,
(6) en so med 6 grise,
7 ottinger sild,
8 par tamme okser,
9 nybsere kor l'oruden patter og yver,
10 himmelblâ kattepander, stegte i en
kobberpande, til de bliver sorteblà, sä
kan du selv str0 peber og sait pâ.
11 gräharede bukke, deres horn er bade
härde, hule og trinde, dem kan du sia
i dine trsesko med pinde, sä at du ikke
skal gä dem vinde,
12 abildgrä heste, der star i kongens
staid med forgyldte sadler og bidsel
pä, somme er rumphalede, giver agt
derpâ, sia din nsese deri.
1 Huhn zum braten,
2 Hähne,
3 Treppen,
4 fette Barge,
5 geschundene Schafe,
eine Sau mit 6 Ferkeln,
7 Fässer Heringe,
8 Paar zahme Ochsen,
9 frischmilchene Kühe ohne Zitzen und
Euter,
10 himmelblaue Katzenschädel in einer
kupfernen Pfanne gebraten, bis sie
schwarzblau werden, du magst dann
selber Pfeifer und Salz aufstreuen,
11 grauhaarige Böcke, ihre Horner sind
hart, hohl und rund, du kannst sie in
deine hölzerne Schuhe durch Pflöcke
festmachen, dass du sie nicht schief
gehest,
12 apfelgraue Pferde, sie stehen im Stalle
des Königs, haben goldene Sattel und
Zäune, einige sind stumpfschwänzig,
andere rumpfschwänzig; nehmet alles
in acht, stecke deine Nase darein!
Diese „Predigten" werden immer damit eingeleitet: Am ersten Christtage
die Frau oder mein Bruder mir gab, oder: Was will die Frau am ersten
Christtage zu Mittag essen? am zweiten u. s. w. Ebenso anderswo; denn
es ist mit diesen sinnlosen Reden wie mit so vielen anderen Volksüber-
376
Feilborg:
lieferungen der Fall, dass sie in weiten Kreisen verbreitet sind; sie kommen,
wer weiss woher, fliegen umher wie mit Flaum versehene Samen, nisten
sich ein, bald hier, bald dort, ändern Form und Farbe in den neuen
Umgebungen und sind doch überall kenntlich. Ich lasse eine schwedische
Yariante1) folgen:
Jag gick tili min broder 13. dag jul; jag fick 13 gârdar (Gehöfte),
13 byggningar (Gebäude) pâ hvar garden, 13 rum (Zimmer) i hvar byggning,
13 sängar (Betten) i hvart rammet, 13 bolstrar (Kissen) tili hvar sängen,
13 pigor (Dirnen) till hvar bolster, 13 drängor (Burschen) tili hvar piga,
13 vaggor (Wiegen) tili hvar drängen, 13 barn (Kinder) i hvar vagga,
13 käringer (alte Weiber) tili hvart barnet, 13 skâlar (Schüsseln) tili
hvarje käring, 13 skedar (Löffel) tili hvar skâlen, 13 spiror (Stiele) pa
hvar skeden, 13 ringor (Ringe) pâ hvar spira, 13 gryn (Graupen) i hvar
ringen, 13 kycklingen (Küchlein) tili hvart grynet; 12 kyrkor, 12 altare i
hvar kyrka, 12 prester tili hvart altar, 12 bälten (Gürtel) om hvar presten,
12 väskor (Taschen) tili hvart bälte, 12 rum (Fächer) i hvar väskan,
12 daler i hvart rummet; 11 klockare väl plockade (Glöckner wohl gerupft),
10 gangare grâ, alla hade de guldsadlar uppâ, svansarne stodo langt derifrâ
(die Schwänze stunden weit davon), med stora valknutar (Knoten) pa,
9 nyburna kjöö (frischmilchene Kühe), 8 oksar grâ, 7 grisar söö (Mutter-
schweine), 6 ars säde (Saat von 6 Jahren), 5 spanska far (Schafe), 4 feta
svin, 3 grâ gäs (Gänse), 2 välplockade höns (wohlgerupfte Hühner).
Dieser „Predigt" stelle ich eine norwegische zur Seite: Sante Maria
gav meg julegaova i julo', tolvtande kvelden i julo': elleve gjeiter uti fjella,
alle va' kvite som mjelle'; tie bukkane dao, nie fiskane smao, otte gaongare
grao mae forgjyllt sal pâ, sjau skjep og drengje' mae aonker â strengje',
seks uksa, fem feite svin, fira gjasse, try far, den fjerande fuglen kann
fljuga,2).
Sie scheint irgend einem Spiele entnommen zu sein, welchem ist mir
unbekannt.
Ich fahre mit einer färöischen Yariante fort:
Már gáv sankti Mortan tjúgunda kvöldid jóla tjúgu stútir, nú eru
jólini úti; nitjan kvígur, nu munu jólini lida; átjan stakkar, nú munu jólim
laekka; seytjan kjolar gáv han teim (sínum dreingjum) til jóla; sextaD
hindir, aliar vóru blindar; fimtan svanir, allir vóru traenir; fjúrtan ostar,
fullu so vasi i tostar; trettan húSir sokja sinar búdir; tolv dreingir, baecti
vid reip og streingir; ellivu bukkar, fullu so vael i tokkar; tíggju tuniiur
1) J. Nordlander, Svenska Barnvisor (1885), S. 146.
2) O. Sande, fraa Soogn (1887), I, 78. — Sancta Maria gab mir am zwölften Weib'
nachtsabende Weihnachtsgeschenke zu Weihnachten: 11 Ziegen auf dem Berge, alle weiss
wie Schnee, 10 Böcke dazu, 9 kleine Fische, 8 graue Zelter mit goldenem Sattel aü,
7 Schiffe und Mannschaft mit Anker und Taue, 6 Ochsen, 5 fette Schweine, 4 Gänse»
3 Schafe, der Vogel mit Gefieder kann fliegen.
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
377
bjór, tá vóru haiisara dreingir góctir; níggju langskip vid rá; átta gangarar
grá', giltan sádil á; sjey silvurskálir ; sex inskir; fimm kyr; fyra fár; try
flikki og tvaer gœs, eina fjöctur áf teim fugli, id vasi kundi at fljuga. *)
Die ^Predigt" ist in weitere Kreise verbreitet. Zunächst eine englische
Variante:
The twelfth day of Christmas my true love (mother) sent to me: twelve
bells a-ringing, eleven ladies spinning, ten ships a-sailing, nine lords
a-leaping, eight ladies dancing, seven swans a-swimming, six geese a-laying,
five gold rings, four canary birds, three French hens, two turtle doves, a
partridge upon a pear tree.2)
Ich muss den freundlichen Leser bitten, sich noch ein wenig zu
gedulden, nur noch ein paar Varianten, und ich bin fertig; zunächst
eine flämische:
12 coqs chantants, 11 plats d'argent, 10 pigeons blancs, 9 boeufs cornus,
8 vaches moudants (!), 7 moulins à vent, 6 chiens courants, 5 lapins,
courants par terre, 4 canards volant en l'air, 3 rameaux des bois, 2 tourte-
relles, une perdrix sole.3)
Noch eine französische:
12 chevaux avec leur selles, 11 coqs chantant, 10 poul' pondant, 9 boeuf
avec leur cornes, 8 moutons blancs, 7 chiens courant, 6 lièvr' aux champs,
5 lapins grattant la terre, 4 canards volant en l'aire, 3 avis au bois, 2 tourte-
relles, 1 patrióle, qui va, qui vient, qui vole dans ce bois.4)
Ferner: Les vêpres des grenouilles aus der Bretagne in französischer
Übersetzung:
Chante bellement, Killoré! — Jolie, que te faut-il? — Les douze
plus belles petites choses que tu saches : 12 épées mignonnes, démolissant
avec rage un pignon, menu comme son; grognant, dégrognant, 11 truies,
11 pourceaux, 10 navires sur le rivage, chargés de vin, de drap; 9 fils
armés, revenant de Nantes, leurs épées rompues, leurs chemises sanglantes,
le plus terrible fils, qui porte haut la tête, s'effraye à les voir; 8 petits
1) Antiquarisk Tidskrift, 1849—51, S. 314, 12. Probst Hammershaimbs Güte ver-
danke ich die nachfolgende Übersetzung: Mir gab St. Martinus am 20. Weihnachtstage
20 Ochsen, jetzt ist Weihnachten vorüber; 19 Starken, jetzt gehen die Weihnachtstage zu
Ende; 18 Weiberröcke, es neigt sich die Weihnachtzeit; 17 Röcke gab er seinen Jungen
als Weihnachtsgeschenk; 16 Hirschkühe, alle waren blind; 15 Schwäne, alle wurden
mager (?); 14 Käse, wohl im Bereiten gelungen (?); 18 Häute, die suchen ihre Buden (?);
12 Bursche sowohl mit Seil und Tau; 11 Böcke, sie fielen so leicht in Gunst; 10 Tonnen
Bier, seine Burschen wurden dann freundlich; 9 Langschiffe mit Rahen; 8 graue Zelter
mit goldenen Sätteln; 7 silberne Schalen; 6 Wünsche; 5 Kühe; 4 Schafe; 3 Speckseiten;
2 Gänse; eine Feder des Vogels, der das Fliegen wohl wusste.
2) W. Henderson, Notes on the Folklore of the Northern Counties of England, S. 71,
cfr. Halliwell, Nursery Rhymes (1843), S. 155, 153; Chambers, Popul. Rhymes of Scoti.,
S- 42: The king sent his lady on the first Yule day.
3) Coussemaker, S. 133.
4) Revue d. Tradit. Popul. VII (1892), S. 36.
378
Feilberg:
batteurs sur l'aire, battant des pois, battants des cosses; 7 jours et 7 lunes;
6 frères et 6 soeurs, 5 vaches très noires, traversant une tourbière;
4 acolytes, chantant l'Exaudi; 3 reines dans un palais, possédant les 3 fils
Henri, jouant, fredonnant, un anneau d'argent avec chacune; 2 anneaux
d'argent à Marie; 1 anneau d'argent à Marie; les douze plus belles petites
choses, que je sache. Dis au clerc de venir souper, qu'il ne reste pas
(plus) longtemps en peine.1)
Diese „Predigt" habe ich ausführlicher besprochen (es ist mir nicht
bekannt, dass die Sache früher behandelt worden wäre) weil sie eine gewisse
Berühmtheit erhalten hat. Monsieur de la Villemarqué hat in seinem
Barzaz-Breiz versucht die bretonische Variante als ein kurzgefasstes Lehr-
system des Druidismus aufzufassen: zwölf Fragen, zwölf Antworten, welche
das Schicksal, die Welterschaffung, die Astronomie, die Geographie, die
Magie, die Medizin, die Seelenwanderung und noch mehr dazu behandeln.
Vielleicht hat er geglaubt, dass dies geheimnisvolle Lied sich allein in der
Bretagne fände. Dass das der Fall nicht ist, zeigt die oben angeführte
Reihe von Varianten, und meiner Meinung nach leidet es keinen Zweifel,
dass das Lied, so wie es vorliegt, eher ein Spielreim oder eine Zungen-
übung sei, die vielleicht als Nachahmung oder durch Einwirkung des Liedes
von der heiligen Zwölfzahl entstanden ist. Das Lied ist gewiss nicht von
gestern, worauf seine weite Verbreitung nur zu deuten scheint; der Voll-
ständigkeit wegen führe ich noch eine italienische Variante an:
Che si mangiavo la sposa alle dieci sere? dieci cuoppi di confetti le
mettivo accanto a u lietto, nove puorci ingrassaturi, otto agnelli allattaturi,
sette galli cantaturi, sei sfoglie de lo mare, cinque anguille strafilate,
quattro lávane ben tagliate, tre colombe violacee, duo tortoriiie, miezzo
picciongino.2)
Deutsche Varianten giebt es auch, sieh E. Meier, Deutsche Volksmärchen
aus Schwaben, S. 281, No. 83. Ob es slavische giebt, ist mir unbekannt,
aber es ist wahrscheinlich genug. *
Aus der Spielsprache der Kinder haben -wir eine ganze Menge von
Reimen, Liedern, „Predigten", die zum Zählen gehören. Mit Ausnahme
eines einzigen Beispiels übergehe ich sie alle, sie sind wohl in jedem
Volke verbreitet, und das eine Lied hebe ich nur hervor, weil es etwas
von einer Schnurre an sich hat. Die Frau war unordentlich, dem Trinken
ergeben, und eines Tages kam sie aus dem Kruge nach Hause, ein bischen
benebelt, eben als der Mann im Begriff war, Tüder (Stricke) au seine
Schafe zu legen. Sie fing zu keifen an, er konnte nicht schweigen, und
so ging es zwischen ihnen los, während er zugleich die Schafe zählte; das
„Lied" lautet im jütländischen Dialekt:
1) F. M. Luzel, Soniou Breiz-Izel (1890), S. 105.
2) F. Corazzini, I Componimenti minori della Letteratura popol. Italiana (1877),
S. 378, 3.
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
379
Walkommen lijem — 1 !
a liar it sit die sin igor — 2.
sehen — 2.
Bisweilen gehst du — 3, 4
und klatschest — 5;
geh' jetzt hinein — 6,
verrichte etwas — 7
für den Unterhalt — 8!
Helfe mir Gott — 9
und dir zugleich — 10!
Morgen — 11
werde ich dich dreschen (prügeln) — 12,
dass du nicht kriechen kannst — 13.
von meinen Füssen — 14;
mir geziemt es — 15
ins Wirtshaus zu gehen — 16,
du aber gehst — 17
und saufst — 18
und schwatzest — 19,
der Teufel fahre in deinen Leib — 20!
Willkommen zu Hause — 1 !
ich habe dich nicht seit gestern go-
do gor im eil' — 3, 4
â slajre 5;
go no ind — 6,
â bestil noed — 7.
for fojen — 8!
Gu hjselp mse — 9
a dse mse — 10!
imiien — 11
skal a tsesk dse — 12,
sä do skal ett' kryv' — 13.
fräs mi faedder — 14;
de burd' mse — 15
â go te kros — 16,
men do gor — 17
â drikker — 18
â slajrer — 19,
skam ska ssettes i di lyw — 20 ! *)
Das Zählen ist eine Sache, die nicht Jedem geläufig ist. So gab es
mal eine sehr einfältige und ungebildete Frau, die kannte die Zahlen nicht,
denn vor ein paar Menschenaltern wurden die Mädchen in den Volks-
schulen nicht im Rechnen unterrichtet. Ohne Zählen zu können, wusste
sie jedoch genau, ob alle ihre Hühner am Abende kamen, wenn sie die-
selben rief; sie sagte: „Dort kommt das weisse Huhn und das schwarze
Huhn und das bunte und das braune Huhn und Peters Huhn und Kirstinas
Huhn und des Mannes Huhn und mein Huhn und zuletzt, bei meiner
Seligkeit, das ist der Hahn!"*)
Nun, die Zahlen haben ihre Geheimnisse und Gefahren, ich werde
einige Beispiele heranziehen. Auf dem Rittergute Bygholm liegt ein
Hügel, um welchen eine Reihe von grossen Steinen gestellt ist. Im
Hügel soll der Sagenheld, Holger Danske, begraben sein. Man kann
diese Steine, so oft man will, zählen, nimmer erhält man dieselbe Zahl,
und wenn zwei Personen gemeinschaftlich die Steine zählen, wird es ihnen
ebenso gehen, sie werden sich nie über die Zahl der Steine einigen
können3). — Eine fehlerhafte Zahl kann verhängnissvoll sein. In einer
gewissen Gegend, es war übrigens in Fjends Harde, waren die Leute übel
von allerlei Gewürm geplagt. Eines Tages langte ein Bettler an, der sich
erbot, sie von den Lindwürmern zu befreien, vorausgesetzt, dass die Leute
ihm genau sagen könnten, wie viel deren seien. Die Antwort war be-
stimmt: „Ihrer sind Neune." Der Bettler zündete ein grosses Feuer an,
1) E. T. Kristenscn, Ahnuel., III, 124.
2) Kristensen, Sagen, VI, 106.
3) Kristensen, Sagen, II, 332.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1S94. 26
380
Feilberg:
unci einer nach dem andern kamen die grossen Würmer gekrochen und
mussten ins Feuer. Nun kam aber nach ihnen noch der Zehnte, da musste
der Bettler selber ins Feuer hineinspringen, wohin ihm der letzte Wurm
folgte1). — Ein übermütiges Wort zur unrechten Zeit kann gefährlich werden.
Eines Abends spät kam ein alter Mann auf dem Heimwege dahin, wo der
Weg, der von Düppel nach Fackebiill (Ragebiill?) führt, mit dem von
Stendrup sich vereinigt. Da schien es ihm, als ob drei weisse Bettlaken,
die an den Ecken mit einander verbunden waren, nach einander von der
Düppeler Kirche her angeflogen kämen und dass sie sprächen: ein, zwei,
drei, worauf er, der gutes Muts war, sagte: vier, fünf. Das hätte er
aber nicht thun sollen, denn im kleinen Dorfe, wo nur sieben Hufen sind,
starben zuerst drei von den Bauern, und kurz nachher wiederum zwei, der
fünfte und letzte der Gestorbenen war der Mann, welcher das Gesicht
gehabt hatte2).
Das Zählen kann eine Qual werden. In Gespenstergeschichten ist es
ein überall wiederkehrender Zug, wenn Spukgeister gebannt werden, dass
ihre Bannung einen Richterspruch enthält; sie müssen irgend eine endlose
Arbeit verrichten: Brunnen oder Bäche mit einem bodenlosen Eimer leer-
schöpfen (vgl. die Danaiden); sämtliche Rüschen (Binsen) im Moore spalten
oder sämtliche Bäume des Waldes mit einem hölzernen Beil umhauen8).
Wenn der Wiedergänger vom Geisterbanner überwunden ist, kann ihm
erlaubt werden, alle Jahre in der heiligen Christnacht einen Hahnenschritt
nach dem Orte, wo er seinen Unfug getrieben, zu machen.
Oftmals trachten verdammte Geister nach Jerusalem zu kommen oder
Christi Grab zu erreichen, so in dänischen Sagen der Nachtrabe; aber
immer nur in winzig kleinen Schritten, damit eine unendlich lange Zeit
darüber hingehen möge. Es ist, als ob die Phantasie des Yolkes ein
sichtbares Bild einer ewigen Qual in solchen Strafen gesucht habe. In
einheimischen Spukgeschichten kennen wir, meines Wissens, nur den Pfahl,
womit der ruhelose Geist festgemacht ist; vergeblich müht er sich ab,
denselben loszumachen, um sich zu befreien, auch wird ihm bisweilen der
Hahnenschritt nach seiner alten Heimat erlaubt, aber niemals wird ihm
als Strafe das endlose Zählen aufgelegt. In norddeutschen Sagen dagegen
wird den Geistern aufgegeben, dass sie die Sterne am Himmel, die Schnee-
flocken im Gestöber, die Regentropfen im Meere, die Sandkörner am
Meeresufer, die Haide, die Halme im Moore, die Blätter an den Bäumen
zählen müssen, und sollten sie je damit fertig werden, so müssen sie
immer wieder von vorn anfangen, bis der jüngste Tag erscheint.4)
1) Kristensen, Sagen, II, 204. Ygl. unsere Zeitschr. IY, 122. J. Zingerle, Sagen2.
S. 182.
2) Müllenhoff, Sagen, s. 245.
3) Strackerjan, Sagen, I, s. 205, g. 207, in. 210, p. 211, r. 214 a. b.
4) Strackerjan, I, S. 202, 204, 206, i. k. 207, m. 213.
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben. 381
Besonders hat dieses endlose Zählen einen starken Ausdruck in einer
südslavischen Besprechung gegen die Mahre und andere böse Geister; sie
dürfen die Schwelle eines Hauses nicht eher betreten, „als bis sie die Sterne
am Himmel abgezählt, im Gebirge das Laub, am Meere den Sand, an der
Hündin die Haare, an der Ziege die Haarzotteln, an dem Schafe die Woll-
zotteln und in den Zotteln die Haare." Die Menschen fressenden Hexen
werden von der Beschwörerin ins Gebirge geschickt, „damit sie alles Laub
abzählen, ins Meer, damit sie den Sand ausmessen, in die Welt, dass sie
alle Wege abzählen."1) Noch führe ich aus einer Beschwörungsformel an,
dass der Dieb stehen soll wie ein Bock, „bis er alle Sternlein am Himmel,
alle Schneeflocken, alle Regentropfen im Meere, alle Sandkörnlein hin und
her gezählt hat."2) In nordischen Teufelsagen habe ich das Zählen als
Aufgabe an den Teufel angetroffen; ist er gerufen, will er Arbeit, augen-
blicklich. Eine Dienstmagd sollte im Zimmer des isländischen Zauberers,
Saemundur Fròdi, aufräumen, er hatte ihr verboten, irgend etwas anzurühren,
das ihr besonders oder ungewöhnlich vorkommen möchte. Sie entdeckte
eine kleine Pfeife und konnte natürlich nicht lassen, dieselbe zu versuchen;
augenblicklich stand ein Teufel vor ihr: „Was soll ich machen?" Sie
verlor ihre Geistesgegenwart nicht, eben hatte sie geschlachtet und zehn
Schafsfelle lagen auf dem Boden vor ihr. Sie antwortete, dass er alle die
Haare an den Fellen zählen möchte, und würde er mit seiner Arbeit eher
als sie mit dem Aufräumen fertig, möge er sie mitnehmen. Als sie aber
fertig war, hatte der Teufel nur die Haare von neun Fellen gezählt, und
sie war gerettet.3) — Da der Teufel Ssemunds Tochter wegführen wollte,
befahl sie ihm, alle Federn im Pfuhle vor der Zurückkunft Saemunds zu
zählen. Als der Teufel mit der letzten Handvoll beschäftigt war, kam der
Zauberer nach Hause, und der böse Geist musste fort.4)
Yerwandt mit diesen Geschichten, obwohl das Zählen nicht geradezu
genannt ist, scheint mir die Sage von dem Unhold, dein Bobbe auf Musgjerd
in Norwegen. Er war ein so arger Poltergeist, dass der Bauer erzürnt,
mit Hilfe seiner Nachbarn ihn am Ende erhaschte und ihn im Klingfelsen
einschloss, wo er seine Heimat hatte. Zwei ungegerbte Ochsenhäute
wurden neben ihn gelegt, jede Christnacht durfte er ein Haar ausziehen,
und wenn er mit allen fertig war, durfte er wieder frei ausgehen. ") — In
schwedischen Sagen wird erzählt, dass man da, wo der Weg den Zaun
durchbricht, eine Garbe hinsetzt. Kein Wiedergänger vermag dann ein-
zutreten, ehe er alle die Knie der Halme gezählt hat.6) Nur ein Beispiel
1) Krauss, Hexensagen, S. 36 a. b.
2) Wuttke, Aberglaube, No. 241.
3) Arnason pjodsögur, I, 496.
4) 1. c., S. 486.
5) 0verland, Fra en svunden tid (1888), S. 9.
6) Wigström, Folkdiktniiig, I, 149; II, 327.
26*
382
Feilberg:
habe ich angetroffen, wo der Böse an einen Mann die Forderung stellte,
alle Steine im Flensburger Meerbusen zu zählen; könne er das thun, solle
er frei sein, wo nicht ihm angehören. Der Ritter Jörgen auf dem Schlosse
Broacker zählte sie und rettete seine Seele.1)
Dass das endlose Zählen als Ausdruck des Unmöglichen mit einer
gewissen Macht die Yolksseele ergriffen, schliesse ich daraus, dass man
dasselbe auch unter halbbarbarischen Yölkern antreffen kann. So finden
sich unter den Besprechungs-Formeln der Wotjaken folgende: „Wenn du,
die Nadeln von 40 Tannen zählend, sie zu Ende hast zählen können, dann,
feindlicher Geist, iss, trink diesen Menschen!"2)
Auf eine andere Weise wird das Zählen in den Mahrtsagen benutzt.
Man schützt sich gegen sie, wenn man ein grosses Sieb über seinen Kopf
beim Bettgehen legt; die Mahrt kann niemand was anthun, ehe sie zuerst
die Sieblöcher gezählt hat, das aber vermag sie nicht, denn über die heilige
Zahl drei kann sie nicht hinaus. Andere sagen, sie könne doch bis fünf
zählen.3)
Wie es unter barbarischen Yölkern gewöhnlich ist, dass dem aus-
gesprochenen Worte eine magische Kraft zum Bösen oder Guten oder, was
wohl oft dasselbe bleibt, zum Nachteil oder Heil des Sprechenden oder
anderer beigelegt wird, so ist es auch mit dem Zählen und den Zahlen. Ich
übergehe ganz die geraden und ungeraden Zahlen; die letzteren sind ja
wohl in den meisten Fällen vorzuziehen; ebenso die oft wiederkehrenden
Zahlen 3, 7, 9, 12, um nur einzelnes hervorzuheben. Allgemein wird 13
als eine gefährliche Zahl angesehen, doch vielleicht besonders, wenn ich
mich nicht irre, unter den Gebildeten, weniger oder gar nicht unter dem
Yolke. Ob der Aberglaube christlichen Ursprungs sei, lasse ich dahin-
stehen. 4) Eine schwedische Fischerfrau hat ausgesagt, dass gewisse Zahlen
in ihrer Heimat eine böse Bedeutung haben und so viel wie nur möglich
gemieden werden. Solche sind sieben und siebenzehn, welche Krankheit
bedeuten, dreizehn, das auf Gezänk deutet.5) Und, fügte sie hinzu, ich
kenne Leute, die nimmer etwas mit diesen Zahlen weder im Handel noch
Wandel zu thun haben wollen. Nimmer backen sie 7, 17, noch 13 Brote;
thäten sie es, würden sie Krankheit oder Gezänk im Hause behalten, so
lange auch nur eine Brosame übrig wäre. Nimmer kaufen sie 7, 17 oder
13 Ellen von irgend einer Art Leinewand oder Tuch, auch nehmen sie
1) Lorenzen, Minder fra Snndeved, S. 8.
2) Krauss, Urquell, IY, 49. Cfr. die biblischen Ausdrücke: kann ein Mensch den
Staub auf Erden zählen, der wird auch deinen Samen zählen, 1. Mos. 18, 16. Sieh gen
Himmel und zähle die Sterne, kannst du sie zählen? 1. Mos. 15,5.
3) Kristensen, Sagn, IT, 242, 244, 248. J. Kamp, Folkeminder, S. 421.
4) Cfr. Wuttke, No. 109.
5) Der Grund ist aus dem schwedischen Text offenbar: sju, sjutton, sjukdom;
tretton, träta (zanken), sie haben eine gemeinschaftliche Lautsilbe.
Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
388
nimmer Geld in den genannten Zahlen an.*) Betreffend die ominöse Zahl
13 bin ich dem Herrn Dr. Fr. Krauss in Wien folgende Erläuterung
schuldig: Im Judentum haben weder Zahlen noch Tage irgend welche
übernatürliche Kraft, alle Kraft und Macht ist bei Gott. Symbolisch
heilige Zahlen giebt es allerdings, eine solche ist die Zahl 13. Die Gnade
Gottes wird in 13 Ausdrücken gefeiert; die Opfer am Suckothfeste betrugen
am ersten Tage 13 junge Stiere, dann jeden Tag um einen weniger bis
zum 7. Tage 7 Stiere; mit 13 Jahren ist der Jude grossjährig; Maimonidos
hat 13 Glaubensartikel festgesetzt; im Heiligtume zu Jerusalem gab es
nach der Mischna Schekalim, YI, 1. Folge, 13 Kassen, 13 Füllhörner,
13 Tische und 13 Verbeugungen. Sollen vielleicht die 13 Fragen am
Passachabend das „Echad mi jodea" (die heiligen 12 Zahlen), welche mit
13 Gnadenerweisungen Gottes scliliessen, eine Polemik gegen den christ-
lichen Aberglauben über die Zahl 13 sein?2)
Mittelst Zahlen kann man einen gewissen Aufschluss über die Zukunft
erhalten. Man zählt alle die Buchstaben, die sich im vollen Namen der
Braut und des Bräutigams finden, und dann fängt man an: „Adam stirbt"
— „Eva stirbt", der letzte Name ist entscheidend, ist es Adam, stirbt der
Mann zuerst, ist es Eva die Frau.3) Dieser Aberglaube ist noch in West-
jütland bekannt, und er ist nicht von gestern. In Aubreys Remains of
Gentilisme and Judaisme (1686) finde ich: The woemen have a way of
divining whether the husband or wife shall die first by number of the letters
in Latin or the husbands and wives Christen names.4)
Das Zählen bringt sonst nimmer Glück.5) Das Gesetz könnte wohl
so ausgedrückt werden: Zählen stört; was gut und dem Menschen dienlich
ist, leidet Schaden, was schlecht oder böse ist, gewinnt Kraft. Vielleicht
hat es hiermit einen gewissen Zusammenhang, dass man bei Zauber am
öftesten rückwärts zählt.
Man darf nimmer die Eier unter dem Huhne zählen; thut man es,
werden die Küchlein von der Mutter tot getreten. Auch die Küchlein
dürfen nicht gezählt werden, geschiehts dennoch, werden sie eine leichte
Beute des Weihen oder des Habichts. Dasselbe gilt von Blütenknospen
und Früchten, gezählt verwelken die Blüten, und die Früchte fallen unreif
zur Erde.6) Brote im Ofen dürfen nicht gezählt werden, sonst gedeihen
sie nicht, sie sind auch etwas unfertiges wie Eier und Küchlein (Oberpfalz,
Böhmen); der Aberglaube findet sich auch anderswo. In Schottland sagt
1) Wigström, Folkdiktning, II, 286.
2) Jüdisches Familienblatt, Beilage zur israelitischen Wochenschrift, Dr. M. Rahmer,
Magdeburg 1893, 8. Sept., S. 146.
3) Thiele, Overtro, No. 357.
4) Brittens Ausgabe, London 1881, S. 197.
5) Cfr. 2 Samuel 24, 2, 1 Chronic. 21.
6) J. Kamp, 199, 126. Wigstr. Folkdiktn., II, 270, 273. Skattegraveren, VITI, 43.
384
Peilberg:
man, dass die Elfen gezählte Brote essen, sie werden eher verzehrt als
ungezählte.1) Zeigt man, sie zählend, mit dem Finger auf Schiffe, die
von Land aus gesehen werden können, gehen sie unter (Island). Aus
Schottland dasselbe. Böte dürfen nimmer, wenn sie auf der See sind,
gezählt werden, auch nicht irgend eine Yersammlung von Männern, Weibern
oder Kindern. Auf keine andere Weise brachte man die Fischerfrauen,
wenn sie ihre Fische verkaufen gingen, so gegen sich auf, als wenn man,
mit dem Finger auf sie zeigend, laut zu zählen anfing:
Ane, twa, three,
faht a fishers and see
gyain our the brigg a' Dee!
Deel pick their muckle greethy ee!2)
Zählt man sein Geld oft, so wird es immer weniger.3) Bringt das
Zählen den Menschen Störung und Unglück, um so günstiger ist es allem
Ungeziefer. Zählt man Mäuse, die man zufälligerweise entdeckt, oder hält
man darüber Rechnung, wie viel die Katze fängt, so vermehren sie sich;
dasselbe gilt von Läusen, Flöhen und aller Art von Ungeziefer (Nord
jütland). Aus Schlesien kann hinzugefügt werden, dass man Blattern,
Pickeln, Warzen, Hühneraugen nicht zählen darf, sonst werden es noch
mehr; dasselbe gilt beim Suchen und Fangen von Ungeziefer und Unkraut.4)
— Zählt man die Warzen eines anderen, so bekommt man sie selbst.
Auch wird gesagt, dass Neugriechen und Armenier es als ein Unglück
betrachten, Warzen zu zählen, „if counted, they increase in number."5)
Sie können aber auch weggezählt werden. Man muss in dem Falle seinen
besten Freund kommen lassen, er sowohl, wie derjenige, welcher die
Warzen hat, müssen beide fasten. Der Freund muss schweigend die
Warzen zählen, dann verschwinden sie. Hier ist nicht angegeben, ob man
vorwärts oder rückwärts zählen soll.6) Ein kurioses Beispiel von der
Macht des Zählens kann noch aus England angeführt werden. Ein Knabe
war übel von Warzen an den Händen entstellt; eines Tages, als er am
Fenster eines alten Weibes vorging, rief sie ihm, dass er seine Warzen
zählen solle. Gesagt gethan. Sobald der Knabe die Anzahl angab, erwiderte
sie: „An dem Tage" (sie nannte einen bestimmten Tag im Laufe zweier
Wochen) „sollst du ihrer los sein." Am bestimmten Tage war keine
Warze mehr übrig.7)
1) Wuttke, No. 620. W. Gregor, Folkl. of Scotland, S. 65.
2) Arnason, pjódsogur, II, 550. W. Gregor, Folklore, S. 200.
8) Thiele, No. 143. Wuttke, No. 638.
4) Krauss, Urquell. III, 41.
5) W. Henderson, Folklore of the Northern Counties, S. 140. Melusine, III, 43, 16
(Lausitz).
6) Kristensen, Folkeminder, IX, 64, 709.
7) W. Henderson, S. 140.
Die Zahlen im dänischen Brauch und "Volksglauben.
385
Vielleicht könnte man nun so raisonnieren : durch Yorwärtszählen
verliert man, durch Rückwärtszählen wird gewonnen; man zählt gewisser-
massen Krankheiten, Warzen, Beulen u. dergl. zu nichts. Ich gebe einige
Beispiele. Im östlichen Teile Jütlands zählt man seine Warzen ab; soll
es gelingen, muss man aber deren mehr als 3 haben. Man legt den Finger
auf die erste, fünf-fünf sprechend, darnach auf die nächste, vier-vier; bis
eine-eine, und zuletzt keine-keine. Wenn man damit fertig ist, spuckt
man so viel Mal aus, als man Warzen hat.1) — Aus Island wird berichtet:
Wenn jemand eine Blase an der Zunge hat, muss er sagen: „Eine Blase
auf meiner Zunge, keine morgen", und so setzt man bis 20 fort, darnach
zählt man zurück: „20 Blasen auf meiner Zunge, keine morgen" u. s. w.,
bis man zuletzt spricht: „Eine Blase auf meiner Zunge, keine morgen."
So muss man siebenmal vorwärts und rückwärts lesen — einige sagen
dreimal — abends, ehe man einschläft, dann ist die Blase am Morgen
verschwunden.2) Wuttke bemerkt, dass man, indem die Krankheit als
eine Mehrzahl behandelt wird, wie schon in den Veden, von der vermeint-
lichen Zahl der Krankheitsträger abwärts bis zu nichts zählt, damit die
Krankheit auf nichts zurückgeführt werde.3)
In England sind diese Besprechungen auch üblich: Ist jemand von
einer Natter gebissen, legt man ein Kreuz von Ilaseiholz sanft auf die
Wunde und spricht zweimal „blowing out the words aloud like one of the
comm an d m ents " :
Underneath this hazelin mote
there is a braggoty worm with a speckled throat
nine double is he;
now from nine double to eight double,
and from eight double to seven double.....
and from one double to no double,
no double hath he!
Und eine Variante aus Cornwales:
Tetter, tetter, thou hast nine brothers,
God bless the flesh and preserve the bone,
perish thou tetter and be thou gou gone, in the name etc.
Bann wird fortgefahren auf dieselbe Weise: thou hast eight brothers . . . .
bis: no brother . . . perish thou tetter and be thou gone.4)
Ein siidslavisches Beispiel findet sich durch Dr. F. Krauss im Urquell,
III, 279 in einer Besprechung für Frauen, die keine Kinder gebären:
neunmal hat die Frau das Ave Maria zu sagen und dabei zu knieen, am
zweiten Tage betet sie nur achtmal, bis sie am neunten nur einmal
1) Kamp, Folkeminder, S. 376.
2) Arnason, pjoctsögur, II, 553.
3) Wuttke, Aberglaube, No. 481. Beispiele No. 231, 492.
4) Black, Folk Medicine (1883), S. 122.
386
Feilberg: Die Zahlen im dänischen Brauch und Volksglauben.
betet.1) Noch kann ich in dieser Verbindung anführen, dass man in
Schweden es als unrecht ansieht, wilde Gänse rückwärts, d. h. zehn, neun,
acht u. s. w. zu zählen, denn in dem Falle verlieren sie ihren Weg. 2)
Solche Zahlbesprechuugen mögen zuletzt in den Auszählreimen der Kinder
einen Zufluchtsort gefunden haben. So ist Charles Leland der Meinung,
dass ein (amerikanisches) Lied von John Brown, worin vorkommt: „teil
little, nine little, eight little, seven little, six little Indian boys" mit solchen
verwandt sei. Und er führt3) ein Zeugnis für das Alter solcher Formeln
aus Marcellus Burdigalensis, einem romanisierten Gallier im 5. Jahrhundert
an, indem er auf einen Aufsatz von J. Grimm „Ueber Marcellus Burdi-
galensis (Berlin 1849) hinweist. Hier findet sich ein Zauberlied, das ein
carmen mirum ad glándulas ist; man soll sprechen:
Novem glandulse sorores,
octo glandulse sorores,......
una gianduia soror!
Novem fiunt glandulse,
octo fiunt glandulse.....
una fit gianduia,
nulla fit gianduia!4)
So sind im Volksglauben die Zahlen wie so viele andere Worte ver-
hängnisvolle Mächte, die man mit grosser Vorsicht anwenden muss. Ganz
gewöhnlich war es in meiner Kindheit und ist wohl auch noch, wenn
etwas einem Käufer nach der Zahl übergeben werden sollte, dass man
beim Ausmessen von Korn z. B. sagte, wenn der Scheffel gefüllt war: „Den
ersten zählen wir nicht !;i Erst wenn der nächste Scheffel ausgemessen
war, hiess es: „Jetzt sagen wir zwei!" Ob dies mehr als eine Redensart
ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, so viel ist gewiss, dass
die Worte jetzt nicht als ein omen detestor verstanden werden. Ich führe
diesen Brauch an, weil vor kurzem Dr. Kr. Nyrop bei Besprechung einer
neuen Ausgabe von Le Mystère de Saint Laurent, Helsingfors 1890, eine
wahrscheinliche Berichtigung des Textes vorgeschlagen hat, statt
En pren! et deux! et trois! et quatre!
zu lesen: En preu! Er führt mehrere Beispiele an, wie man das Zählen
mit En preu! anfängt und legt in das Wort eine Bedeutung, ungefähr wie:
bon preu vous fasse! möge es euch Glück bringen! und, fügt er hinzu:
ist dies richtig, so dürfte ein Aberglaube mit dem Zählen verbunden
gewesen sein; man hat sich dagegen durch ein omen detestor wehren
wollen. Das Zählen wurde daher mit einem „en preu" angefangen, das
1) Urquell, IV, 26, 2. Krauss, Volksglaube d. Südslaven, S. 44, 3; Melusine, Til, 44
(Frankr.).
2) Wigström, Folkdiktning, II, 162.
3) Journal of Amer. Folklore, II (1888), S. 113.
4) Kleinere Schriften von Jakob Grimm, II. Band, Berlin 1865, S. 132.
Frankel: Altes und Neues zur Melusinensage.
387
nach und nach, möglicherweise wegen Gleichartigkeit im Laute mit premier,
(las erste Zahlwort verdrängte und seine Bedeutung annahm. Die schützende
Kraft des Wortes wurde, wie es scheint, gleichzeitig vergessen. Wenn
man das hier von dem Aberglauben Entwickelte, das sich an das Zählen
knüpft, im Auge behält, so drängt sich einem eine gewisse Verwandtschaft
zwischen dem französischen und dänischen Brauche auf.
Askov, Vejen St., Dänemark.
Altes und Neues zur Melusinensage.
Von Ludwig Frankel.
Obschon wir über diesen weiten litterarischen, völkerpsychologisch
ungemein ergiebigen Stoff ausser zahlreichen gelegentlichen Übersichten
die Sonderbehandlungen von E. B(laches), Essai sur la légende de Melusine.
Etude de philologie et de mythologie comparée (Paris 1872), und Nodot,
Histoire de Mélusine. Avec une introduction sur l'origine des légendes con-
cernant la Mélusine (Niort 1876J1), sowie die tüchtige Züricher Doctor-
Dissertation von Marie Nowack (1886, 101 S.)2) besitzen, liegen doch die
Materialien zu einer vollkommenen Zusammenstellung, methodischen
Gruppierung und volkskundlichen Charakteristik der wirklich märchen-
artigen Variationen, der Anspielungen und Parallelen dieses uralten Natur-
mythus so arg zerstreut in allen möglichen Winkeln, dass es ein spezielles
und, im Hinblick auf die mustermässige Nutzbarkeit, ein allgemeines Ver-
dienst bilden würde, jene Aufgabe zu lösen. Seit mehreren Jahren habe
ich dafür gesammelt; nachdem nun aber andere Dinge leider die Ausführung
des Planes für mich gar zu sehr in die Ferne rücken würden, will ich
hier eine Anzahl wichtiger Belege und förderlicher Citate zum Gebrauche
jemandes mitteilen, der glücklicher über freie Zeit verfügen kann.
Eine Fülle von einschlägigen Notizen steht in einem Buche, wo man
solche gewiss nie sucht, das ich aber für vergleichende Sagen- und Märclien-
kunde in hundert Fällen mit Vorteil zu Rate gezogen habe, in W. Menzels
Geschichte der deutschen Dichtung, I, 193—197, nebst vielen Litteratur -
1) Die von Liebreclit, Zur Volkskunde, S. 505 f., nach einer Notiz in der ,Rivista di
Letteratura Popolare' citierte „interessante confronto fra la leggenda di Mélusine di Nor-
mandia, Poitou e Lusignan ed una del Deliìnato, della famiglia Sassenage" in der Rubrik
Chronique des Bandes VII der Zeitschrift „Polybiblion" (Paris 1878) kenne ich auch nicht.
2) Die Melusinensage, ihr mythischer Hintergrund, ihre Verwandtschaft mit anderen
Sagenkreisen und ihre Stellung in der deutschen Litteratur. (Zur Litteratur gehört auch
Desaivre, Le mythe de la Mère Lusine. Saint Maixent 1883.) K. W.
388
Frankel :
nachweisen, die darum hier zu wiederholen unnötig. Auf dem schon
daselbst (S. 195 u.) berührten internationalen Rahmen, dem das Melusinen-
problem rein nach Seiten der Fabel einzufügen ist — nämlich das viel-
variierte Thema, dass die mysteriös-überirdische Hälfte des Liebespaares
die Frage nach der Herkunft verbietet und für den etwaigen Bruch des
dahin zielenden Yersprechens mit Abschied droht — deutete Liebrecht hin
in der Abhandlung „Amor und Psyche — Zeus und Semele — Purüravas
und Urvaçî", Zeitschr. f. vergi. Sprachforschung, Band XYIII, im Abdruck
seines Sammelbuches „Zur Yolkskunde", S. 247x), neuerlich Reinh. Spiller,
Zur Geschichte des Märchens vom Dornröschen2), S. 8, Anm. 3, Ende.
Gustav Meyer, Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Yolkskunde, I
(1885), S. 204—207, modifizierte diesen Zusammenhang und liess ihn über-
haupt nur bedingt zu. Liebrecht i. d. German. XXII, 184, „Zur Yolks-
kunde", S. 101 entdeckte gleichfalls in einem indischen Märchen „The
Fairy who punished her human Lover"8) ein Seitenstück, während ich
sonst keine in der reichhaltigen hergehörigen Litteratur Indiens aufzustöbern
vermochte, namentlich in den beiden Hauptbänden: Miss Frere, Old Deccan
Days (2. Ausgabe, Lond. 1870), und Maive S. H. Stokes, Indian Fairy
Tales (Calcutta 1879 u. Lond. 1880)4) nicht.
Das Fortleben der Melusinenhistorie in der Neuzeit ist wesentlich der
geschickten deutschen Bearbeitung des Berner Schultheissen Thüring von
Ringoltingen in der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts zu
verdanken. Uber sie empfangen wir jetzt verschiedenfache Auskunft in
G. Rothes Artikel in der „Allgem. dtsch. Biographie", 28, 634 f., in Hans
Frölichers Züricher Inauguraldissertation über ihn (Solothurn 1889), endlich
in Karl Biltz' Beitrag „Zur deutschen Bearbeitung der Melusinasage" in der
von 0. Lyon herausgegebenen „Festschrift zum siebzigsten Geburtstage
Rudolf Hildebrands"5), S. 1—15. Eine kritische Ausgabe dieses zahllose Male
erneuerten Denkmals steht in Aussicht. Alle späteren Bearbeiter des Stoffes,
so auch Hans Sachs' „Tragedia" (1556) und die J. Ayrers (1598), fussen auf
1) Die beim „vorläufigen" Eingehen bekundete Absicht, durch „weitere Forschung die
gemutmasste Verwandtschaft zu einer sicheren zu machen", blieb unerfüllt. Auch J. Fischart
verglich (1582) Melusine, Staufenberger (s. u.) und Schwanritter.
2) Beilage zum Programm der Thurgauischen Kantonsschnle zu Frauenfeld 1892/93;
vgl. meine Anzeige Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde IV, 222—224.
8) Leitner, Results of a Tour in Dardistan, Kashmir etc., I. The Languages and
Races of Dardistan (Lahore und London 1873), p. 5.
4) Wassernymphen erscheinen daselbst bios in No. XV, „How King Burtal bekäme a
Fakir" im Flusse Jamná, indisch Yamuná (so betont Benfey handschriftlich in seinem mir
gehörigen Dcdikationsexemplare des nur in 100 Abzügen hergestellten Büchleins). Aller-
dings handelt es sich auch da um Schwestern, und auch da verfolgt ein irdischer Fürst
die eine, die er zufällig trifft, mit seiner Liebe.
5) (3.) Ergänzungsheft zum 8. Jahrgange der „Zeitschrift für den deutschen Unterricht",
1894. Vgl. meine Glossen dazu, Ztschr. f. dtsch. Philol. 27, 410.
Altes lind Neues zuv Melusinensage.
389
ihm. Sogar im 17. Jahrhunderte erhielt sich clas Gedächtnis daran1), und
im vorigen lebte mit der ganzen Volksbüclier-Litteratur auch das von der
schönen Melusine wieder auf, und wie Goethes Werther2) schildert: „Da
ist gleich vor dem Orte ein Brunn' ein Brunn', an den ich gebannt bin,
wie Melusine mit ihren Schwestern", so sagt der junge Uhland, als ihn
die Zauber der Romantik zu umfangen anhüben, Februar 1809 in seinem
bierzeitungsähnlichen „Zweiten Nachtblatt" : „Dort denk' ich .... bei jedem
Bronnen an die Melusina"3) und lässt seinen Freund Felix Schaber ge-
kleidet sein „in einem langen und weiten Dragonermantel von blauer
Farbe, dessen Schleppe wie der Fischschweif einer Meerfrau hinten nach-
wegt."4) Und für wenig spätere Zeit erzählt ein Augenzeuge6): „(Das
^Volksbuch von) Melusine..... fand man in jeder Buchbinderbude, auf
Wochen- und Jahrmärkten, neben den schönen neuen Liedern."
Man hält die Geschichte von der Melusine in der Dichtung, gewiss
auch mit einigem Rechte, für romanischen Ursprungs6), und wenigstens für
die geläufige Ausprägung scheint dieser über jeden Zweifel erhaben. Daran
ändert auch nichts das anderweitige A7orkommen einzelner ihrer äusseren
Requisiten, wie es litterarisch fixiert ist, z. B. in „A strange report of a
monstrous fish that appeared in the form of a woman from her waist
upward, seen in the sea", der 1604 in das Londoner Buchhändler-Register
eingetragen und von Malone als Gegenstand der Anspielung bei Shakespeare,
The Winters Tale, II, 4, 281 ff. betrachtet wurde.7) Ebenso wenig darf
das versprengte Auftauchen von thatsächlichen Gestaltungen des Märchens
selbst auf deutschem Boden irre machen. Daher, wo die germanische
1) In Henrici Kornmanni „(De) linea ainoris (.) commentarius" (1629, fast gleichlautend
1610), p. 35 f. steht unter den volksmässigen ,historiae amatoriae', durch deren Lektüre der
angehende Liebhaher ,ad colloquium sese praeparet', Melusina. Vortreffliche Analyse von
Sachs' Stück: Roquette, Gesch. d. dtsch. Dchtg.3, II, 254—56.
2) (Hirzel-Bernays), der junge Goethe, III, 237. Oh zu Goethes ,Knabenmärchen'
in ,Wahrheit uud Dichtung', II. Buch, „der neue Paris" (vgl. G. v. Loepers Kommentar),
nicht auch der Melusinenstoff mitgewirkt hat ? Man denke an den geheimnisvollen Brunnen,
die drei nymphenartigen Märchenjungfrauen u. ä. darin. Dass er sich als Knabe „die
schöne Melusine" nebst anderen Volksbüchern beim Büchertrödler gekauft habe, erzählt er
ebenda im I. Buch. In seiner Lyrik ist auch aus der Abteilung „Antiker Form sich nähernd"
,die neue Sirene' zu vergleichen.
3) Uhlands Werke. Herausgegeben von Ludwig Fränkel, I, 478.
4) Ebda., I, 482 (Anm. 2). Der Sinn und Hintergrund der ganzen heiteren Parodie, der
diese Stelle angehört, sind dunkel; für den Anlass möchte ich auf Cl. Brentanos verkappte
Scherze von der Äpfelhüterin und dem Sohne der Holzhändlerin (1808) hinweisen, wozu
jetzt R. Steigs Mitteilungen in der Zeitschrift „Euphorion", I, 124 ff. zu vergleichen sind.
5) Gustav Klemm, Vor fünfzig Jahren. Kulturgeschichtliche Briefe (1865), II, 284.
6) Wofür als neuer Beleg die bisher unbeachtete Geschichte von einer Meerfrau in
Sicilien diene, die ihr Gatte niemals nach der Herkunft fragen darf, bei Paulus Frisius
Nagoldanus, Dess Teuffels Nebelkappen u. s. w. (Frankfurt a. M. 1583), fol. E5—F; als
Quelle giebt er dazu an: „Vincentius in naturali Speculo lib. 3."
7) L. Fränkel, Shakespeare und das Tagelied, S. 35, Anm. 1.
390
Frankel:
Volkspoesie sich so gut wie rein erhalten hat, aus Skandinavien, ist mir
kein Beispiel bekannt geworden, und umfängliche Sammlungen, wie Jon
Arnasons Islenzkar pjoäsögur og iEfintyri"1) bringen trotz der erstaunlichen
Unmasse von Stücken, die sich mit Elfen, Wassergeistern, Wiedergängern
u. ä. beschäftigen, gar nichts ähnlicher Art. Da liefert das ostasiatische
Schrifttum weit eher annähernde Nummern, z.B. die von B. H. Chamberlain
ins Englische übersetzten 16 „Japanese Fairy Tales", deren jede in Tokyo
in zierlich und originell koloriertem Sonderheft erschien; No. 13, „The silly
Jelly-Fish", wäre vielleicht erwägungshalber zu untersuchen. Und wenn
die reichhaltigen „Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Mähren", die
uns Willibald Müllers begeisterter Fleiss 1893 bescherte2), ein „Melusine"
überschriebenes Märchen eröffnen (S. '29—37), so dürfen wir nach genauer
Einsichtnahme darüber nur urteilen, dass sich hier das in romanischer
Erde wurzelnde, allerdings von deutschem Gemüt erfüllte Volksbuch, „die
Krone aller jener Volksromane"3), im Munde einer vorgeschobenen Diaspora
völlig festgesetzt hat. Diese Fassung bewegt sich mit ganz geringfügigen
und nebensächlichen Abweichungen in demselben Geleise, das wir z. B.
aus der zur Zeit wohl üblichsten gemeindeutschen bei Gustav Schwab,
„Die deutschen Volksbücher für Jung und Alt" wiedererzählt4), kennen.
Wenn Müller (S. 29, Anm.) auch behauptet, seine Variante „schliesst sich
der allgemein bekannten Melusinensage innig an, zeigt aber doch eine
sehr interessante lokalmährische Färbung", so bin ich letztere lediglich für
den Ortsnamen Ullersdorf, die Residenz des Grafen, in dessen Dienst
Melusinens Geliebter anfänglich steht, einzuräumen imstande. Ja, aus der
Benennung der Hauptperson möchte ich sogar ein schlagendes Beweis-
moment für meine Annahme der Entlehnung schmieden: Melusinens Ge-
liebter heisst da Gottfried, wie im Original beider starker Sohn (Geoffroy),
sein Bruder aber Raimund, wie er selbst im alten Urtexte. Sonach liegt
der bei Verpflanzungen so häufige Wechsel der Namen vor.5)
Man vergesse nicht die, teilweise innigen Anklänge in verwandten
Sagen, z. B. in der von dem Ritter Peter von Staufenberg und der
schönen Meorfei6), die schon im 13. Jahrhunderte litterarisch fixiert
1) Für deutsche Leser sind die typischen Nummern bequem zugänglich in M. Lehmann-
Filhós' guter Auswahl-Übersetzung, Bd. I, Berlin 1889, Bd. IT, ebda. 1891 (vgl. mein Referat
im „Ausland", 1891, S. 560).
2) Vgl. mein Referat „Am Ur-Quell", V, 200 f. (Piger in unsrer Zeitschr., III, 342.)
3) Biltz a. a. 0., S. 1.
4) Yon der stereotypierten Original-Ausgabe (Gütersloh, Bertelsmann) liegt mir die
(5. Auflage (1870) vor; daselbst steht die Bearbeitung (im Anschluss an „das Volksbuch
und eine Handschrift auf der königlich öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart", S. VI)
S. 342—406. Ein undatiertes Linzer Volksbuch und eins o. 0. 1796 im Katalog der
Bibliothek .... des Franz Haydinger, Wien 1876 (A. Prandel), I, S. 62, no. 870 u. 871.
5) Etwas Ähnliches erwähnte ich Ztschr. f. vrglch. Littgesch., N. F., IV, 49.
6) Häufig als die Geschichte von dem Stauf(f)enberger angeführt.
Altes und Neues zur Melusinensage.
391
wurde1) und sich in den Grundzügen, wenn man den Schluss abrechnet,
kaum anders denn als eine Variante der Melusinenfabel ausnimmt.2) Sclion
Menzel3) hat nach (Baader in) Mones Anzeiger f. Kunde d. dtsch. Vorzeit,
III, 88, eine Variante der Melusinensage angeführt, wonach das Schlangen-
weib „im grossen Stollenwalde des Durlachthales hausen" soll und von
einem Sebald von Staufenberg im Walde gefunden, aber bereits nach drei
Tagen verlassen wird. Das getäuschte Zaubermädchen rächt sich am
Ende gerade so, wie die Nixe in der Geschichte vom Staufenberger, und
so meint Menzel (196): „hier ist die Sage von Melusinen mit der von
der Staufenberger Fee aufs engste verbunden." In der Periode der
deutschen Romantik wurde man in demselben Kreise wie auf die Melusine
(s. oben) auf dieses Seitenstück aufmerksam und zwar durch einen moderni-
sierten Auszug jenes alten Gedichtes in „Des Knaben Wunderhorn", I,
407—418. Seitdem ist die Melusine ein Lieblingsstoff der romantischen
Dichtgattung geblieben, wofür nur drei, aber völlig verschiedene Belege
genannt sein mögen: Franz Grillparzers verunglücktes Opern-Libretto,
Theodor Apels Epos (1844) und Adolf von Tschabuschniggs (f 1877) schöne
vierstrophige Romanze4).
Den Ausgang dieser Sammelnotizen sollen, als ein kräftiges Zeugnis
aus der unmittelbarsten Gegenwart, einige Sätze aus einer „Die schöne
Melusine" iiberschriebenen Feuilleton-Erinnerung bilden, auf die ich soeben
-im Schwäbischen Merkur vom 7. August 1894 (No. 182; S. 1457) stiess5):
„Am 7. August waren es 500 Jahre, dass das älteste und beste der Volks-
bücher, wie Wackernagel es nannte ,noch heute ein unentbehrliches Stück
der blauen Bibliothek und die Freude des leselustigen Volkes in ganz
Deutschland', die Geschichte der schönen Melusine, zum ersten Male in
einer europäischen Volkssprache erzählt vorlag. Am Donnerstag, den
7. August 1394 (nach meinem ewigen Kalender war jener Tag übrigens
ein Freitag) vollendete Jehan d'Arras die Geschichte von der Meerfei
französisch, die er schon einige Jahre vorher (1387) lateinisch nach einer
alten Lokalsage bearbeitet hatte." Danach wird ein knapper Überblick
über die neuere Forschung, Goedeke, Frölicher, Nowack, Biltz, geliefert,
also über die von uns zu Anfang erwähnten Arbeiten, und die Bedeutung
des Problems an der Benennung des hervorragendsten französischen „Recueil
1) Jetzt durch Edward Schröders Sorgfalt (..Zwei altdeutsche Rittermär en", 1894)
genauer Betrachtung zugänglich; S. XLVIIIf. handelt er über den Zusammenhang: danach
entstammten beide „der gleichen keltisch-germanischen Mythenwurzel" und wurden später
zufällig verquickt. Vgl. auch Schröder, Ztschr. f. dtsch. Altert., 38, 112. Die vorherige Litte-
ratur verzeichnet K. Goedeke in Vilmars Gesch. d. dtsch. National-Litt.22, S. 669, Anm. 131.
2) Man lese z. B. die gedrängte Analyse bei 0. Schwebel, Tod und ewiges Leben im
deutschen Volksglauben, S. 44 f., die nicht etwa eigens darauf zugeschnitten ist.
3) Geschichte der deutschen Dichtung, I, 195 f. (vgl. oben).
4) „Aus dem Quell im Waldesdunkel" in ,Nach der Sonnenwende' (1876), S. 34.
5) E. N. gezeichnet (ich vermute Gymnasialprofessor Eberhard Nestle in Ulm).
392
Herrmann :
de mythologie, littérature populaire, traditions et usages", d. i. an H. Gaidoz1
„Melusine", verdeutlicht. Der Schlusspassus lautet: „Zufällig auf obiges
Datum gestossen, dachte ich, die Yielen, die in ihrer Jugend einst an der
schönen Melusine ihre Freude gehabt haben, werden sich gerne aus diesem
Anlass wieder an sie erinnern lassen. In Gustav Schwabs Buch der
schönsten Geschichten und Sagen für Jung und Alt wieder erzählt, mit
Königl. Württemberg. Privilegium Stuttgart, Yerlag von G. S. Liesching
1836/37, ziert ein einziger Kupferstich den zweiten Teil, eben die schöne
Melusine, gezeichnet von Fellner, gestochen von Wenng, gedruckt von
Ch. Dammel in Stuttgart. Wie lang ists her, dass uns das Bild und Buch
erfreute !"*)
München.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
Mitgeteilt von Anton Herrmann.
(Schluss von S. 324.)
W^er aru Palmsonntage drei geweihte Weidenkätzchen isst, der
bekommt im Jahre das Fieber nicht; in manchen Ortschaften sagt man:
er wird an keinem Halsweh zu leiden haben. Geweihte Weidenkätzchen
ist auch gut bei Zahnschmerzen zu essen. Bei Gewitter wirft man einige
solcher Weidenkätzchen ins Feuer, damit der Blitz nicht ins Gebäude
einschlage. Wer während des Gottesdienstes aus geweihten Weidenkätzchen
ein Kreuz macht und dasselbe an die Stallthür annagelt, von dessen Kühen
kann man die Milch nicht wegzaubern. Die geweihten Weidenkätzchen
steckt man unter den Querbalken der Stube, damit die Kühe gute Milch
geben sollen. Sind viele Fliegen in der Stube, so treibt man sie zu
Fenster und Thür mit einem Tuche hinaus und streut die Asche ver-
brannter, geweihter Weidenkätzchen kreuzförmig auf Fensterbrett und
Thürschwelle, und die Fliegen kehren nimmer zurück. Im Honter und
Nográder Comitat trägt an diesem Tage die Jugend einen Strohpopanz,
Kisze genannt, auf den Hattert der Nachbargeineinde, damit die Feld-
früchte vom Hagel verschont bleiben. Wer vom Stroh dieses Popanzes
ein Hähnchen heimlich verzehrt, der bleibt im Jahre gesund und wird
glücklich (s. Ipolyi a. a. O., S. 296). In Deés stellt die Maid einen wasser-
1) In der Kunst hat (1868) bekanntlich Moritz v. Schwind, der Meister volks-
tümlicher Märchen-Malerei, das Thema verewigt (vgl. Allg. dtsch. Biogr. 33, 467).
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
393
gefüllten Napf vor ihr Bett und kämmt sich vor dem Schlafengehen dreimal
die Haare von rückwärts nach vorwärts, wobei sie vor dem Napfe steht.
Im Traume erblickt sie dann ihren zukünftigen Gatten. Will man schöne
Blumen haben, so säe man den Samen am Palmsonntage (magyarisch:
virágvasárnap = Blumensonntag) aus. Sieht man an diesem Tage aus
dem Erdboden eine Flamme emporzüngeln, so werfe man auf die Stelle
hin ein Gebetbuch oder eine Bibel u. dergl., dann bleibt der Schatz dort
liegen; wenn man aber am nächsten Tage ihn heben will, so darf
man nicht fluchen, sonst sinkt er tiefer in die Erde hinab. Bei Körmöcz-
bánya (Kremnitz) befindet sich in einem Felsen, dem sogenannten Mendel-
stein, eine Höhle voll mit Schätzen. Nur am Palmsonntage, während des
Gottesdienstes, öffnet sich diese Höhle und schliesst sich nach dem Gottes-
dienste wieder. Eine Frau ging einmal mit ihrem Säuglinge am Arme
gerade zu dieser Zeit am Felsen vorbei. Sie sah die Öffnung, legte ihren
Säugling neben den Eingang nieder und trat ins Innere hinein, wo sie
sich mit Schätzen belud, die sie ins Freie hinausschaffte. Sie wollte nun
zum zweiten Male in die Höhle hinein, um sich noch Schätze zu holen,
aber da schloss sich die Höhle, und ihr Säugling blieb drinnen. Im
folgenden Jahre ging sie zu derselben Zeit wieder dahin, fand die Höhle
offen und ihr Kind frisch und gesund an derselben Stelle, wohin sie es
vor einem Jahre hingelegt hatte. Sie nahm ihr Kind zu sich, worauf sich
die Höhle schloss und sich nimmermehr öffnete (Yersényi, S. 30).
Viel Volksglauben hat sich auch hier zu Lande um die Charwoche
geschaart. Wer in dieser Woche einen falschen Schwur thut, heisst es im
lvalotaszeger Volksglauben, dem wächst nach seinem Tode die Zunge aus
dem Grabe als Dornenstrauch (Wlislocki, II, 70). WTer viel „böse
Gedanken" gehabt hat, der macht im Kalotaszeger Bezirk mit geweihter
Kreide, d. h. mit einer in Weihwasser eingetauchten Kreide am ersten
Abende der Charwoche das Zeichen des Kreuzes unter seine Bettstätte,
damit ihn der Teufel nächtlicher Weile nicht besuche, der um diese Zeit
gern die Menschen besucht und ihnen seinen Beistand anbietet (Wlislocki,
I, 51). Auf Haus- und Stallthür macht man gegen die Hexen das Zeichen
des Kreuzes mit einem Besen, den man dann ins Feuer wirft.
Wer am Mittwoch dieser Woche eine Fledermaus fängt, dieselbe in
ein irdenes Gefäss einschliesst und in die Erde vergräbt, nach Ostern aber
herausgräbt, das Gefäss zerschellt und mit einem Stückchen desselben
eine Maid bewirft, der erweckt bei derselben rasende Liebe. Am Grün-
donnerstage versammeln sich einige Maide und kochen Speckknödel. Jede
erhält einen. Am Samstage stellen sie die Knödel der Reihe nach auf
und rufen die Katze herbei. Die Maid, deren Knödel die Katze zuerst
frisst, heiratet vor allen anderen. Wer am Gründonnerstage sich morgens
auf ein Grab setzt und einen Spiegel in der Hand haltend, bis Abend
dort verweilt, wird im Spiegel eine kleiue Flamme sehen. Das ist ein
394
Herrmann :
sicheres Zeichen, class er im Jahre einen vergrabenen Schatz finden wird.
Eine Sage aus Szöreg berichtet: „Das Wöchnerinbett (dort Liebfrauenbett
genannt) darf mau nicht ohne Haube besteigen, denn die liebe Jungfrau
lief am Gründonnerstage, als sie hörte, dass Jesus gefangen sei, ohne Haube
hinaus und fiel auf den Boden, weil die Weiber, die gewaschen, die Lauge
auf die Strasse gegossen hatten. Damals sagte sie: Verflucht seien alle,
die am Gründonnerstage waschen . . ." (Kálmány, Boldogasszony 1).
In der Charfreitags- und Georgsnacht „reinigen" sich die vergrabenen
Schätze, d. h. eine bläuliche Flamme züngelt aus dem Erdboden hervor
(Yarga, Babonák könyve = Buch des Aberglaubens, S. 93). Sieht man
am Charfreitage zur Zeit des Passionsgottesdienstes ein Geldstück auf dem
Boden rollen, so greife man sich schnell mit der Hand an den Kopf; wie
viel Haare man anfasst, so viel Geldstücke findet man im Jahre; die
angefassten Haare aber fallen aus. Während der Passion soll man sich
an diesem Tage die Haare überhaupt nicht anfassen, denn man wird kahl-
köpfig. Aus demselben Grunde darf man sich an diesem Tage in vielen
Ortschaften auch nicht kämmen ( Y er s ényi, S. 31). In manchen Gegenden
dagegen kämmt sich an diesem Tage die Maid unter einem Weidenbaume,
um schöne lange Haare zu bekommen. Wer sich die Haare an diesem
Tage abschneiden lässt, der bleibt im Jahre von Kopfschmerzen verschont.
In der Szegeder Gegend heisst es: „Am Charfreitage soll man sich nicht in
der Stube waschen, sonst wird dieselbe das ganze Jahr hindurch voll Flöhe
sein" (Kálmány, I, 110). Wer den Mut hat, am Charfreitage um Mitter-
nacht mit einem Lucienstuhle (s. oben bei Lucientag) auf einen Berg zu
gehen, wo die Hexen ihre Versammlungen halten, der kann sie, wenn er
sich auf dies Gerät stellt, unbemerkt beobachten, und wenn er dann einen
Pferdeschädel unter sie schleudert, auch vertreiben (W'lislocki, I, 10).
Sind die Hexen verschwunden, so beeile er sich, die heilkräftige uud sehr
gesuchte Pflanze nagyfü-gyöker (= Grossgraswurzel, atropa belladonna)
sich anzueignen (s. darüber bei Georgstag). An diesem Tage darf man
kein Tier einspannen, weder pflügen noch graben, denn Jesus ruht in der
Erde. Wer an diesem Tage vor Sonnenaufgang in fliessendem Wasser
badet, der kann im Jahre zeitig in der Frühe erwachen. Das gegen die
Strömung geschöpfte Wasser ist gut für Augenweh. An diesem Tage soll
man beim ersten Läuten (oder bei den Katholischen beim ersten Klappern)
die Obstbäume schütteln, damit sie reichlich tragen sollen. Wer am
Charfreitage Speck isst, der stirbt vor seinem 30. Lebensjahre. In katho-
lischen Gemeinden herrscht hie und da der Glaube, dass wer an diesem
Tage nicht faste, ein Zwitter werde. Hat man den ganzen Tag über nichts
gegessen, so nimmt man am Abende eine Knoblauchsuppe zu sich, um
das ganze Jahr hindurch gesund zu bleiben (Wlislocki, I, 51). Regnet
es an diesem Tage, so gedeihen die Saaten, aber die Schafe werden im
Jahre wenig Milch geben. An diesem Tage pflegt man den Mohn zu säen.
Der volkstümliche Kaientlerglaube in Ungarn.
395
Putzt man die Bienenkörbe an diesem Tage, so sammeln die Bienen im
Jahre viel Honig. Wenn jemand noch vor der Dämmerung an diesem
Tage von solchem Gehöfte, wo sich Kühe befinden, in ein Gefäss den Tau
sammelt und dabei spricht: „Ich sammele den Nutzen!", so behext er
dadurch die Kühe. Nagelt man in der Nacht dieses Tages Rosshaare an
die Stallwand, so behext man die Kühe. Während man zur Kirche läutet,
soll man einen grossen Nagel in den Fussboden der Stube einschlagen;
nur der kann die Kuh behexen, der diesen Nagel mit seinen Zähnen
herauszieht. Im Kalotaszeger und Aranyosszéker Bezirk baden an diesem
Tage die Hirten das Vieh, damit es gesund bleibe.1) Ebenda glaubt die
Maid, dass wenn sie am Charfreitage vor Sonnenaufgang auf einen am
Bache stehenden Weidenbaum steigt, sie bei Sonnenaufgang im Wasser
das Bild ihres zukünftigen Gatten erblickt (Wlislocki, II, 24). Haare
und Nägel darf man an diesem Tage nicht abschneiden, noch sich rasieren
(Jankó, Torda etc., S. 225). Nägelabschneiden verursacht Augenweh. In
der Gegend von Komárom reinigt man an diesem Tage den Tieren Maul
und Augen, damit sie gedeihen. Kehrt man am Charfreitagmorgen vor
Sonnenaufgang die Stube aus, so gehen alle Frösche in der Umgebung
zugrunde.2) Und wenn zu dieser Zeit ein Jäger einen Yogel schiesst und
mit dessen Blute den Flintenlauf ausputzt, so verfehlt er mit dieser Flinte
nie das Ziel. AVer am Charfreitage reist, den trifft Unglück. Wer im
Jahre einen'Schatz heben will, der ziehe keine reine Wäsche an. Am
Vormittage des Charfreitags nehme man drei Fingerhüte voll Mehl, einen
Fingerhut voll Salz, knete daraus einen Teig, backe ihn nachmittags und
trage ihn dann mit sich in die Kirche, abends aber beisse man ihn in
drei Teile und lege dieselben über Nacht unter den Kopfpolster, dann
sieht man im Traume seine zukünftige Ehehälfte. Geht ein Mann um
Mitternacht dieses Tages nur in Hemd und Unterhose auf den Friedhof
und blickt daselbst durch seine ausgespreizten Beine hindurch, so sieht er
seine zukünftige Gattin (Versényi, S. 32). Als die Juden Jesum ver-
folgten, erzählt eine magyarische Sage, verkroch er sich unter einen Hage-
dornstrauch. Eine Piplerche setzte sich auf den Strauch und rief in
einemfort: „Zinzere, zinzere!"3) Der Wiedehopf aber schrie: „Ott, ott!"4)
Da richtete sich der Hagedorn empor und Jesus ward entdeckt. Zur
Strafe dafür wurde der Hagedorn aus einem Baum in einen Strauch ver-
wandelt, der Wiedehopf aber muss seither im Kote seine Nahrung suchen
(Versényi, S. 32). Wer am Charfreitag stirbt, dessen Knochen werden
nie verwresen (Jankó, S. 256).
1) Jankó, Torda etc., S. 225.
2) Ebenda.
3) Nachahmung der magyarischen Worte nines erre = er ist nicht hier.
4) Magyarisch = da, da!
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 27
396
Herrmann :
Findet man am Charsamstag Zacken in den Schafen, so geben die
Kühe im Jahre reichlich Milch. Wenn an diesem Tage jemand in eine
Kirche geht, in der er noch nie gewesen und sich dort das Gesicht mit
Weihwasser befeuchtet, gleich darauf die Hand in den Busen birgt, so
gehen seine Sommersprossen vom Gesicht auf die Brust über. Erklingen
die Glocken am Cliarsamstage, so soll man sich waschen; dadurch verliert
man die Sommersprossen und wird glücklich. Am Abende dieses Tages
soll man vom Tische nichts abräumen, sonst leidet man im Jahre oft an
Kopfschmerzen. Das Wasser von den an diesem Tage gekochten Hülsen-
früchten soll man abseihen und mit Essig gemischt aufheben; es ist ein
gutes Mittel gegen Bauchschmerzen. Erklingen die Glocken am Char-
samstage, so laufen die Hausfrauen, mit dem Schlüsselbunde rasselnd, im
Hause herum und rufen: „Schlangen, Frösche, weicht von dannen, denn
die Glocken klingen wieder!" Auch wenn man blos vor dem Hause zu
dieser Zeit kehrt, so vertreibt man diese Tiere aus der Umgegend
(Yersényi, S. 34). Zu dieser Zeit des Glockengeläutes holt sich die
Maid Wasser, um sich damit zu waschen und schön zu werden; die Haus-
frau aber begiesst damit das Vieh, damit es gesund bleibe (Wlislocki,
I, 51).
Wenn man zu Ostern ein weisses, ungesottenes Ei versorgt, so tanzt
es nach 100 Jahren. Während des Festmahles darf sich die Hausfrau von
ihrem Sitze nicht erheben, sonst wird sie im Jahre Nahrungsmangel leiden.
Yon den Ostereiern, Schinken, Knoblauch, Brot wird etwas aufgehoben
und bei Gelegenheit an Zahnschmerzen leidenden Menschen, oder Kühen,
die Milch nicht geben wollen, zu essen gegeben. Speisen werden in
katholischen Kirchen am Ostermorgen vom Pfarrer eingesegnet. Wer sich
im Jahre irgendwo verirrt, der denke nach : mit wem er das erste geweihte
Osterei gegessen, und er wird den richtigen Weg finden. Wer, ohne dabei
zu kauen, ein Stückchen vom geweihten Kren hinabschluckt, der wird im
Jahre kein Halsübel haben, und wer vom geweihten Salz isst, der wird
klug. Wasser, vor Sonnenaufgang am Ostertage geschöpft, ist ein wirk-
sames Mittel gegen Augenkrankheiten, die man auch vertreiben kann,
wenn man eine Wachskerze an diesem Tage in der Kirche brennen lässt,
dann den Rest der Kerze mit Milch und Safran aufkocht und damit lau-
warme Umschläge auf das kranke Auge macht (Wlislocki, I, 127).
Damit die Bienen schon vor Pfingsten schwärmen sollen, wirft man vor
Ostern eine Hand voll Ameisen in den Stock (ebenda, 149). Spaltet man
einen vom zu Ostern geweihten Fleische abgelösten Knochen in vier Teile
und steckt diese in die vier Ecken eines Ackers, Gartens u. s. w., so wird
auf dem Gebiete kein Maulwurf die Erde aufwühlen. Wenn ein Mann
am ersten Ostertage Knoblauch in der Kirche bei sich trägt, so kann er
daselbst die Hexen sehen, die alle Hörner haben. In Deés legt man an
diesem Tage ins Waschwasser ein rotes Ei, grüne Brennesseln und eine
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
397
Silbermünze; wer sich darin wäscht, wird im Jahre rot wie das Ei, stark
wie die Brennessel, frisch wie das Wasser und reich und glücklich (Ver-
sényi, S. 35). Zu Ostern und Pfingsten soll man begonnene Arbeiten
beendigt haben, sonst wird man mit denselben kein Glück haben.
Zahlreich ist auch in Ungarn der Volksglaube, der sich an den
Georgstag knüpft. An diesem Tage soll man nichts verkaufen, heisst es
im Kalotaszeger Bezirk, sonst verkauft man sein Glück. In der Nacht
dieses Tages schweifen die Hexen umher und bringen Unheil über Mensch
und Tier. Um sie vom Gehöfte fernzuhalten, steckt man an Thor und
Fenster Dornenzweige. Sitzt die Katze an diesem Abende in der liähe
des Herdes, so streicht die Hausfrau mit einem Messer ihr dreimal quer
über die Kehle, damit sie den bösen Geist in ihr töte. In vielen Ort-
schaften streut man an diesem Abende um Haus und Hof herum Hirse,
denn nur dann kann jemand die Tiere behexen, wenn er alle Hirsekörner
vorerst aufgesammelt hat. In vielen Gegenden wird an diesem Tage das
Yieli über Ketten, Besen, Körbe hinweg zur Weide getrieben, damit es
von Krankheit und von den Hexen verschont bleibe. Wer an diesem
Tage ein vierblättriges Kleeblatt mit sich zur Kirche trägt, kann dort die
Hexen sehen, die alle Hörner haben. Das Bettzeug soll man an diesem
Tage nicht lüften, noch im Freien liegen lassen, denn die Hexen können
einen Schaden anrichten. Hexen und Zauberer sammeln in dieser Nacht
in Leintüchern den Tau von den Feldern, aus dem Milch wird, von der
sie sich ernähren. Deshalb werden in vielen Gegenden am folgenden
Tage (Markustag) die Felder eingesegnet, damit die Saat nicht durch die
Hexen zugrunde gehe. Wenn man sich auf einem Kreuzwege auf einen
Ofenwisch setzt und mit geweihter Kreide einen Kreis rings um sich herum
zieht, so kann man die Hexen in der Nähe des Kreuzweges belauschen
und dadurch die Zauberkräuter kennen lernen. Lässt man nach der Feld-
arbeit im Herbste die Egge auf einem Berge den Winter über liegen, so
stelle man sie am Georgstage vor sich auf und durch ihre Zähne blickend,
sieht man dann die Hexen der Umgegend durch die Luft fahren (Kozma1)).
Die berüchtigte Zauberpflanze nagyfu-gyôkér (s. oben bei Charfreitag)
kann man auch in der Georgsnacht holen, wenn man sich nackt auf den
Berg begiebt, wo die Pflanze wächst. An Stelle der ausgegrabenen Pflanze
muss man aber einen Bissen Brot, in den man ein Pfefferkorn, etwas
Gewürz und Salz knetet, legen, wobei man das Vaterunser und das
Glaubensbekenntnis hersagt, sonst wird man vom Teufel geholt (Kozma,
S 39). Im Kalotaszeger Bezirk heisst es, wer einen Bund mit dem Teufel
schliessen will, der gehe in der Georgi- oder Johannisnacht mit einer
1) Mythologiai elemek a székely népkôltészet és népéletben = Mythologische Elemente
in der Volksdichtung und im Volksleben der Szekler (Budapest, Verlag der Akademie,
1882), S. 39.
27*
398
Herrmann :
schwarzen Hündin auf einen Berg, grabe dieselbe lebendig in die Erde
ein, nachdem er vorher ihr einen Zettel an den Hals gebunden, und dann
rufe er dreimal: „Teufel, dir gehöre ich!" Nun grabe er rasch die Hündin
aus und nehme den Zettel von ihrem Halse. Ist die Schrift auf demselben
verwischt, so kann er hoffen, dass der Teufel mit ihm ein Bündnis ein-
gehen wird. Auf den Zettel muss man mit dem eigenen Blute schreiben:
„Teufel, dir gehöre ich! Ich verleugne Gott und bete dich an, so du
deinem getreuen Diener hilfst! N. N." (Wlislocki, I, 22). In der Um-
gebung von Nagy-Kálló treibt jeder Knecht seine Rosse in dieser Nacht
auf den Hattert der Gemeinde, pflückt unterwegs hier und da eine Hand
voll Gras, treibt dann die Rosse heim und giebt ihnen dies Gras zu fressen,
damit sie fett werden und ihnen die Hexen nichts anhaben können. Dieser
Tag ist in den meisten Gegenden der Tag des ersten Viehaustreibens im
Jahre. Der Besitzer treibt das Vieh über eine vor das Thor gelegte
Pflugschar hinüber, damit den Tieren die „Bösen" nichts anhaben können.
In Oberungarn bestreut dann der Hirte auf der Weide jedes Viehstück
einzeln mit einem Pulver, das er aus Sargbrettern, Totengebein, Knoblauch
und Hostien gebrannt hat. Mit dem Reste des Pulvers bestreut er noch
die Grenzmarken des Weidegebietes, und kein Raubtier wird diese Marken
überschreiten, noch ein Viehstück sich darüber hinaus auf verbotenes
Gebiet verirren. In manchen Gegenden läuft die Hausfrau dreimal nackt
um das Vieh herum. Damit das Vieh nicht Läuse bekomme, bestreut
man es an diesem Tage mit der Asche vom Christklotze, oder man reisst
ihm (wie im Kalotaszeger Bezirk gebräuchlich) einige Haare aus und
vergräbt sie unter einen Baum, oder die Hausfrau nimmt einen Feuer-
stahl und indem sie ihre Schürze nach hinten, auf den Rücken sich bindet,
schlägt sie Funken auf das Tier und betet dann drei Vaterunser ohne
Amen. Den Stall verlässt sie dann rückwärts gehend, mit dem Gesicht
dem Vieh zugekehrt. An diesem Tage etwas Salz und Graberde auf den
Acker geworfen, schützt die Saat vor Vogelfrass (Kalotaszeg). Gegen
Vogelfrass stecken die Székler an diesem Tage eine Stange in den Acker,
deren oberes Ende kreuzförmig gespalten und mit einem Knoblauch ver-
sehen ist (Ethnographia, II, 358). In Südungarn läuft in der Georgsnacht
ein Weib nackt um den Acker herum, damit die Saat kein Hagel vernichte;
uriniert dabei der Mann an die vier Ecken des Ackers, so hat er vor
Überschwemmung nichts zu fürchten. Im Torda-Aranyoser Bezirk läuft
in der Nacht der Mann nackt auf den Friedhof, holt von einem frischen
Grabe Erde und streut dieselbe gegen Vogelfrass auf seinen Acker (Jankó,
Torda etc., S. 257). Ratten und Mäuse vertreibt man im Kalotaszeger
Bezirk durch die Bannformel: „Ratten und Mäuse! heute ist der Tag des
hl. Georg! Ich beschwöre euch im Namen des Heiligen, geht in das
schwarze Meer. Aus dem schwarzen Meere sollen euch schwarze Frauen
ins weisse Meer werfen; aus dem weissen Meere sollen euch weisse Frauen
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
399
ins rote Meer werfen; im roten Meere sollen euch die roten Frauen fressen."
In derselben Gegend wirft man an diesem Tage ein friscli gelegtes Ei an
einen Obstbaum, um die Bäume vor Raupenfrass zu schützen (Wlislocki,
I, 48). In der Georgi- und Johannisnacht machen die Schäfer in manchen
Gegenden aus neunerlei Holz ein Feuer an, um die Schafe vor Schaden
zu bewahren. Vor dem Georgstage ist es nicht gut, im Freien zu schlafen,
denn die Zauberinnen können einem ein Leid zufügen. Sammelt man in
dieser Nacht in Leintüchern den Tau und giebt mau ihn der Kuh zu
trinken, so giebt sie das Jahr hindurch viel Milch. Mit diesem Tau kann
man das schönste Brot herstellen. Stiehlt man in dieser Nacht Holz von
einem Hofe, so benimmt man den Kühen des betreffenden Gehöftes die
Milch. Wer an diesem Tage einen Laubfrosch fängt, der wird im Jahre
nicht grindig. In der Dämmerung dieses Tages badet man noch vor
Sonnenaufgang die Pferde, damit sie im Jahre nicht räudig werden. Auch
für Menschen ist das Baden in der St. Georgsnacht gegen jeglichen Schaden
heilsam (Szatmárer Comitat, Ethnographia, III, 295). Fängt man an diesem
Tage einen Laubfrosch, so sperre man ihn in einen mit Deckel und vier
Bohrlöchern versehenen, irdenen Topf ein und grabe diesen in einen
Ameisenhaufen ein. Die Ameisen fressen den Frosch auf, doch soll man
seinem Jaminergequack nicht zuhören, sonst bekommt man Ohrenschmerzen.
Nach drei Tagen gräbt man den Topf heraus und findet darin ein gabel-
limi ein rechenförmiges Knöchlein. Will man bei einer Person Gegenliebe
erwecken, so berühre man sie mit dem rechenförmigen Knöchelchen; will
man sie aber von sich abwendig machen, so steche man sie mit dem gabel-
förmigen Knochen (Yersényi, S. 39). Hält man einen an diesem Tage
gefangenen Laubfrosch so lange im Busen, bis er ausgehungert ist und
lässt man ihn dann erst frei, so nimmt er das Fieber vom Menschen fort.
An diesem Tage ist es nicht gut zu Markte zu gehen, denn man erleidet
Schaden. Wer an diesem Tage vierblätterigen Klee findet, der grabe an
der Stelle nach, denn dort liegt ein Schatz verborgen. In der Georgsnacht
„reinigt" sich das Geld in der Erde. Wer die Flamme bei dieser Gelegen-
heit emporzüngeln sieht, der grabe dort nach und er wird den Schatz
finden, aber nur er soll den Schatz aus der Erde herausheben, denn wenn
ein anderer ihn anrührt, so stirbt er. Im Szilágyer Comitat versorgt man
den grünen Zweig, den man an diesem Tage von jemandem erhält, denn
dieser Zweig bringt einem Glück. Wer in der Georgsnacht eine doppelt
geschwänzte Eidechse findet, dieselbe dörrt und in seinen Rock einnäht,
der ist gegen jede Gefahr gefeit. Donnert es zu Georgi, so werden viele
Raupen im Jahre sein. Donner vor Georgi aber zeigt eine gute Ernte an
(Jankó, Torda etc., S. 238). Wer den Donner vor Georgi hört, der lege
sich auf die Erde nieder, dann bekommt er im Jahre das Fieber nicht.
Sind die Sperlinge fett, so kann man auf reiche Ernte hoffen, ebenso wenn
das Wetter kühl ist. Für den Landwirt hat der Georgstag noch die Be-
400
Herrmann :
deutung, dass an diesem Tage noch einmal „Georg seinen Bart schütteln
kann", d. h. dass es von diesem Tage an nicht mehr anhaltend schneien
wird. Wer an diesem Tage geboren wird, der wird einen frommen Lebens-
wandel führen. Wenn man in der Frühe dieses Tages zum Fenster hinaus-
blickt und einen Sperling sieht, so wird man im Jahre für jede Arbeit
doppelt belohnt. Fällt der Georgstag auf einen Freitag, so wird im
Sommer viel Hagel fallen. Yor dem Georgstag soll man keine Blumen
in die Stube bringen, sonst hat man kein Glück mit dem Geflügel. Wer
vor dem Georgstag eine Schlange sieht, der wird im Jahre nicht krank.
Splitter von einem Baume, den der Blitz vor diesem Tage getroffen hat,
sind gut gegen die Wasserscheu. Donnert es vor dem Georgstage, so ist
eine reiche Ernte zu erwarten. Einen vor diesem Tage gefangenen
Schmetterling soll man sich ans Halstuch heften; dadurch wird man
glücklich (Kálmány, I, 110). Ein solcher Schmetterling lockt der Maid
einen Bräutigam heran. Ruft der Kuckuck vor diesem Tage, so giebt es
im Jahre keine Raupen. In der Szegeder Gegend heisst es: Stiehlt man
vor dem Georgstage ein junges Gänschen, zerhackt dasselbe zu Brei und
mischt diesen unter das Futter, so wird das Pferd davon sehr stark
(Kálmány, I, 110). Wenn viele Küchlein krepieren, soll man den übrig-
gebliebenen Schweif einer vor dem Georgstage gefangenen Eidechse in den
Wassertrog legen. Wirft man den Kopf einer vor diesem Tage gefangenen
Schlange in den Wassertrog der Hühner, so können Raubvögel ihnen nichts
anhaben. Räuchert man mit einer solchen Schlange ein Rind, so wird
dasselbe nie auf der Weide bleiben, sondern stets weglaufen. Zieht man
die Haut einer solchen Schlange auf einen Stab, so kann man damit selbst
Eisen zerbrechen; wer aber diese Haut um seinen Hals gewickelt, bei
sich trägt, der wird glücklich. Wickelt man in den Flügel einer vor dem
Georgstage gefangenen Fledermaus ein Geldstück ein, so kehrt dies Geld
das ganze Jahr hindurch stets zu seinem Besitzer zurück; ebenso das Geld-
stück, womit man den Kopf einer zu dieser Zeit gefangenen Eidechse
abschneidet. Aus dem Fett einer solchen Fledermaus machen Hexen das
Flugfett, womit sie sich einreiben und dann fliegen können. Die Kuh
gedeiht, wenn man ihr eine vor diesem Tage gefundene Schnecke pulverisiert
ins Trinkwasser mengt. Streichelt man den Hals einer vor dem Georgs-
tage gefangenen Eidechse, so bleibt man das ganze Jahr hindurch von
Halsweh verschont; in der Szegeder Gegend spricht man während des
Streicheins: „Eidechschen, Eidechschen, dann soll mir die Kehle schmerzen,
wenn ich dich wieder ergreife!" Dann lässt man das Tier frei (Kálmány,
I, 110). In manchen Gegenden glaubt man, dass selbst die Hand, mit der
man den Hals der Eidechse gestreichelt hat, das Halsweh fremder Leute
im Laufe des Jahres durch blosse Berührung des wehen Halses heilen
kann. Wenn die Maid einen vor Georgi gefangenen Laubfrosch in ihren
Kittel einnäht, so heiratet sie ihr Liebster gewiss. Aus der Haut einer vor
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
401
diesem Tage gefangenen Zieselmaus kann man sich eine Geldbörse machen,
in der das Geld nie abnimmt. Wer vor diesem Tage einen Storch oder
eine Schwalbe sieht, der zähle ihre Flügelschwingungen während ihres
Fluges ab, denn so viele Jahre wird er noch leben (Versényi, S. 39).
Ein altes magyarisches Sprichwort sagt: Wie viel Tage der Frosch
vor St. Markus quackt, so viel Tage wird er nach St. Markus schweigen
(d. h. es wird regnerisches Wetter sein).
Am 1. Mai stellt man in vielen Ortschaften Siebenbürgens vor dem
Hause kranker Leute Lindenzweige auf, aus deren Rinde man nach drei
Tagen mit Zucker, Zwiebel und Hanfsamen einen Brei kocht, dessen eine
Hälfte der Kranke verzehrt; die andere Hälfte wird in fliessendes Wasser
geworfen, damit seine „Krankheit wegfliesse". Den Maibaum verbrennt man
in Südungarn, damit man das Jahr über vor Hungersnot bewahrt bleibe;
die Brunnenschwengel aber bekränzt man an diesem Tage deshalb, damit
keine Dürre eine Missernte verursache (Wlislocki, II, 87). In der
Kecskeméter Gegend schmückt man die Dachfirste mit grünen Zweigen,
„damit der heilige Geist einkehre." Dies thut man auch zu Pfingsten
(Ipolyi, S. 301). Yon zwei Menschen, die sich am 1. Mai zeitig in der
Frühe begegnen, stirbt derjenige zuerst, der zuerst spricht.
Pankratius, Servatius und Bonifacius (12., 13., 14. Mai) sind die
frostbringenden Heiligen; der letzte ist Urb anus (25. Mai). Säet man an
.diesem Tage, so wird man eine spärliche Ernte haben.
Wem am Christihimmelfahrtstage beim Abendmahl die Hostie
aus dem Munde fällt, der stirbt bald und kommt in die Hölle.
Am Samstage vor Pfingsten soll man schwarze Rettige säen, dann
werden sie dick und gross. In der Pfingstnacht sammelt man in der
Szegeder Gegend Brennesseln und schlägt mit verkehrter Hand damit die
Külie, auf das die Hexen sie nicht schädigen können (Kálmány, I, 111).
Die Schwelle muss man am Abend vor Pfingsten mit Salz bestreuen und
mit Knoblauch einreiben, damit die „Bösen" den „Segen Gottes", der in
dieser Nacht vom Himmel fällt, vom Hause nicht nehmen. Aus demselben
Grunde uriniert die Kalotaszeger Frau auf einen Besen und wirft ihn auf
das Hausdach. Die Kuh schlägt man mit einem Birkenbesen, damit sie
reichlich Milch gebe. Auf dass man das ganze Jahr hindurch keinen Brot-
inangel leide, schütteln im Kalotaszeger Bezirk zwanzig Isis dreissig
Frauen ihre Mehlsäcke in einen Sack ab, der dann an diesem Abende von
einer Frau auf den Friedhof getragen wird, wo sie den Mehlstaub auf ein
beliebiges Frauengrab schüttelt (Wlislocki, I, 59). In einer alten
magyarischen Handschrift, die Vorschriften für Schatzgräber enthält (s. die
Zeitschr. „Ethnographia", I, 247), heisst es: „Am ersten Pfingsttage gehe,
bevor die Sonne aufgeht, dahin, wo man Spiegel verkauft, aber grüsse
nicht, sprich nichts, sondern den Spiegel erblickend, frage nach seinem
Preise und gieb, was man verlangt; von da gehe gleich weg, aber auch
402
Herrmann :
dann sprich nichts und schreibe gleich auf den Spiegel dies: oh Holon -j-
Taller + Ihatal + Thaler -j- Theja -f- ganelei -f. In der folgenden Nacht
vergrabe ihn in die Mitte eines Kreuzwegs, aber merke dir die Stunde,
wann du ihn vergraben hast; in der siebenten Nacht gehe zur selben
Stunde hin und grabe ihn aas, aber blicke nicht hinein, sondern lass
zuerst einen Hund hineinblicken, dann kannst du auch getrost hinein-
blicken." Im Spiegel erblickt man dann den Ort, wo der Schatz ver-
graben liegt.
Am Frohnleichnamstage darf man kein Brot backen; es wird sonst
zu Stein. Bevor man in die Kirche geht, muss man sich zweimal waschen,
sonst bekommt man anhaltende Zahnschmerzen. Die bei diesem Feste
gebrauchten Kränze, Zweige, Sträusse soll man sammeln und damit Leute,
die an Epilepsie leiden, räuchern (Versényi, S. 40). In vielen Ortschaften
schiesst man während der Prozession aus Mörsern. Den ausgeschossenen
Holzpfropf hält man in der Szegeder Gegend für ein gutes Mittel gegen
Zahnschmerzen. Man stochert mit Spänchen von diesem Pfropf den wehen
Zahn (Kálmány, I, S. 111).
Kegnet es am M e dar du s tage, so hält der Regen 40 Tage lang an
(allen Völkerschaften des Landes bekannt).
Bei allen Völkerschaften des Landes ist es üblich, am Johannistage
auf Anhöhen Feuer anzuzünden.x) In Kiliti zünden sechs Hirten das
Feuer an; die Hausfrauen begiessen mit dem an diesem Feuer gewärmten
Wasser den Kohl, damit ihn die Raupen nicht fressen. In Nográd-Ludány
hält man einen Buschen Gliedkraut ins Feuer mit den Worten: „Keine
Beule werde an meinem Leibe, kein Bruch an meinem Fusse!" (Ipolyi,
Magyar mythologia — Magyar. Mythologie, S. 194). Das geschickte Uber-
springen des Feuers von seiten der Maide gilt als günstiges Vorzeichen
für baldige Verheiratung. Bisweilen winden die Maide während des
Johannisfeuers Kränze aus roter Ochsenzunge (Anchusa) und werfen sie
auf einen Baum; das Mädchen, dessen Kranz nach einmaligem Werfen am
Baume hängen bleibt, das heiratet noch im selben Jahre (Lindner, G.,
Das Feuer, S. 131). Im Honter Comitat gehen an diesem Tage die Kinder
in der Morgendämmerung von Haus zu Haus mit Stahl und Feuerstein
und werfen den Stahl mit den Worten: „Stahl bringe ich und habe euch
Feuer gesehlagen!" so auf die Erde, dass er sich eine Zeit lang dreht.
Es heisst, dass dadurch das Haus vor Feuerschaden, die Saat vor Dürre
beschützt werde (Ipolyi, 194). Kohlen vom Johannisfeuer vergräbt man
in Oberungarn neben das Haus, um es vor Blitz zu schützen. Ebenda
wird eine nackte Maid in den Brunnen hinabgelassen, wo sie zu demselben
Zwecke Stahl und Feuerstein ins Wasser wirft. In Siebenbürgen lassen
manche Landwirte am Johannismorgen auf ihren Acker auf einige Augen-
1) S. Csaplovics, Gemälde von Ungarn, 2, 225; Wlislocki, I, S. 59ff.; II, S. 40fl'-
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
403
blicke ein entkleidetes Weib sich niederlegen und es die Worte der Sonne
zurufen: „Junger Sonnenherr, thu mir und dem, was um mich ist, keinen
Schaden!" Es heisst aber, dass solche Weiber bald am hitzigen Fieber
sterben, weshalb sich hierzu gewöhnlich nur Zigeunerinnen hergeben
(Wlislocki, II, 44). In manchen Ortschaften werden im Johannisfeuer
auch Kränze verbrannt, und wenn eine Maid ein brennendes Kranzstück
erhaschen kann, so heiratet sie noch in demselben Jahre. Auch stellt man
in vielen Ortschaften einen Balken in die Mitte des Scheiterhaufens und
befestigt daran einen Kranz, nach dem die Mai de, während der Scheiterhaufen
brennt, mit Steinen werfen. Die Maid, welche den Kranz herabschlägt,
heiratet bald. Die Blumen dieses Kranzes suchen die Maide zu erhaschen
und legen sie dann über Nacht unter ihr Polster, um ihren zukünftigen
Gatten im Traume zu sehen. In manchen Gegenden geht man an diesem
Tage auf den Weideplatz der Rosse, und findet man bei dieser Gelegenheit
ein Hufeisen, an dem sich noch alle Nägel befinden, so reisse man
das Gras von der Stelle, wo das Hufeisen gelegen, aus und werfe es in
ein raschfliessendes Wasser. Die Grashalme, die gegen die Strömung
fliessen, nehme man heraus, denn mit ihnen kann man jedes Schloss
öffnen (Versényi, S. 41). In Görgeny sagt man, dass der Schatz des
Darius dort vergraben sei, wohin an diesem Tage der erste Strahl der
aufgehenden Sonne fällt. Auf Berge, die im Rufe stehen, dass in ihrem
Innern Feen oder Riesen bei ihren Schätzen schlafen, soll man in der
Johannis-, Neujahrs- oder Pfingstnacht mit den menses einer Jungfrau das
Zeichen des Kreuzes machen. Dann kommen diese Wesen aus dem
Innern hervor, um sich im Freien zu ergehen, und man kann unterdessen
von ihren Schätzen nehmen (Wlislocki, I, 102). An diesem Tage ist
jedes Wasser gesegnet, das man gegen Osten gekehrt schöpft; es hilft
gegen allerlei Krankeit. Gegen die Tollwut kocht man Marienkäfer, vor
dem Johannistage gesammeltes Tausendguldenkraut, Splitter eines vor dem
Georgstage vom Blitze getroffenen Baumes, Canthariden, Knospen vom
Eschenbaume, Speisereste vom AVeihnachtstische und Eierschalen von
Eiern, die zu Weihnachten gelegt worden sind; schliesslich Kräuter und
Gräser, die an den Sohlen und Fusszehen des Besprecliers am Morgen des
Johannistages haften geblieben sind, als er barfuss. die Auen beschritten.
Dies Dekokt muss der Kranke trinken (Yarga, Babonák könyve = Buch
des Aberglaubens, S. 148). Am Abende dieses Tages soll man im Garten
die Spitzen zweier Blätter eines Knoblauchs in gleicher Höhe abzwicken
und einem Blatt die Bezeichnung „Glück", dem anderen „Unglück" geben;
am nächsten Morgen sieht man nach, welches Blatt grösser geworden ist;
ist das des „Glücks" grösser gewachsen, so wird man im Jahre glücklich
und umgekehrt (Yersényi, S. 41). Regnet es an diesem Tage, so werden
die Nüsse gut gedeihen. — In der Szegeder Gegend springt man deshalb
über das Johannisfeuer hinweg-, damit man im Jahre keine Flöhe habe:
404
Herrmann :
die Tiere aber führt man deshalb über das Feuer hinweg, damit sie
nicht grindig und lausig werden. Wer einen juckenden Schmerz (magyar,
yak tetti = blinde Läuse) an den Fusssohlen verspürt, der stampfe das
Johannisfeuer mit den Füssen aus. In derselben Gegend wirft man beim
Überspringen des Feuers Obst in die Glut, das man dann hervorscharrt und
als gutes Mittel gegen Zahn- und Bauchschmerzen aufbewahrt (Kálmáríy,
I, 111). In manchen Gegenden ziehen die Schweinehirten an diesem Tage
eine Stange nach Art einer Achse durch ein Rad, dessen Nabenöffnung
mit Werg fest verstopft wird. Sie drehen nun das Rad so lange, bis es
raucht und sich entzündet; durch den Rauch wird das Yieh getrieben,
damit es vor Krankheit bewahrt werde (Ipolyi, S. 194). Im Kalotaszeger
Bezirk giebt man an diesem Tage dem Yieh bei Sonnenaufgang gesalzenes
Brot zu essen und wirft eine Hand voll Salz der Sonne zu mit den
Worten: „Gieb, was man braucht; nimm, was man nicht braucht!"
(Wlislocki, II, 44). Am Johannistage aber soll keine Maid lange bar-
haupt in der Sonne stehen, denn sie verunglückt sonst im Kindbett (Wlis-
locki, II, 44).
Setzt man sich am Peter-Paulstage (29, Juni) auf den Rücken
eines Menschen, so wird derselbe buckelig (Yersényi, 42). Reicht der
Mais an diesem Tage bis zur Wagenachse, so ist gute Ernte zu erwarten
(Jankó, Torda etc., 238).
Yon dem am 1. Juli gemähten Heu soll man zu Weihnachten den
Tieren zu fressen geben; dann bleiben sie das Jahr hindurch gesund.
Isst man an diesem Tage ein Stückchen Roggenbrot und trinkt darauf
Wein, so wird man im Jahre nie hungrig sein.
Am Tage Mariä Heimsuchung (2. Juli) darf man kein Brot backen,
denn es würde zu Stein.
Bis zum Margaret heil tage (13. Juli) sind wenig Fliegen vor-
handen; an diesem Tage aber zieht die heilige Margarethe herum und
lässt aus ihrer Schürze die Fliegen in die Wohnungen der Menschen
fliegen; deshalb soll man an diesem Tage die Thüren nicht offen halten
(Kálmány3)).
In Csurgó sagt man, dass wenn am Aposteltage (15. Juli) kein
Wind bläst, keine Teuerung eintritt. In Göcsej aber glaubt man, dass
wenn an diesem Tage Wind bläst, im Frühjahre die Frucht teuer wird.
Am Magdalenentage (22. Juli) soll man im Freien nicht baden,
denn die Magdalene zieht einen mit ihren langen Haaren ins Wasser
hinab.
Am Eliastage muss irgendjemand an der Hitze ersticken. Donnert
es an diesem Tage, so werden die Haselnüsse würmig. An diesem Tage
1) In der Zeitschr. Ethnol. Mitteilungen aus Ungarn, II, 7.
Der volkstümliche Kalenderglaube in Ungarn.
405
darf man in den Weinbergen nicht arbeiten, sonst bekommen die Reben
Rostflecken (Jankó, Torda, S. 238).
Wer am Portiunkulatag' (2. Aug.) Birnen isst und darauf nicht
gleich Wasser trinkt, der bekommt das Fieber (Versényi, 42).
Am Laurentiustage (10. August) tritt Laurentius auf die Zucker-
melonen und dann sind sie nicht mehr geniessbar. Nach anderer Auf-
fassung pisst er auf Melonen und Gurken; die letzteren werden daher
wässerig. Schlangen, die sich bis zu diesem Tage nicht für den Winter
verkriechen können, gehen zugrunde. Wenn die Sperlinge in den Hirse-
feldern grossen Schaden anrichten (was dann geschieht, wenn man beim
Säen spricht), so soll man in der Laurentiusnacht das Feld nackt umgehen.
An diesem Tage pisst der Hirsch ins Wasser, dann wird die Witterung-
kühl und man darf nicht mehr baden (Jankó, Torda etc., 238).
Wer am Stefanstage (20. August) mit einer Flinte schiesst, trifft
das Ziel, auch wenn er vorher nie eine Flinte in der Hand gehabt hat.
Yon diesem Tage an darf man im Freien nicht mehr baden, denn der
Hirsch pisst ins Wasser und man wird davon krank.
Regnet es am Aegidiustage (1. Sept.), so kaufe sich der, welcher
zwei Ochsen hat, noch zwei, damit er seine Felder zu pflügen imstande sei.
Am Tage Mariä Geburt (8. Sept.) soll man in der Morgendämmerung
den Aussaatweizen ins Freie stellen, aber noch vor Sonnenaufgang herein-
nehmen, dann wird der Weizen nicht brandig. Wer behext ist, den soll
man mit Kräutern, die man in der Zeit von Mariä Heimsuchung (2. Juli)
bis Mariä Geburt gesammelt hat, räuchern. Wenn zwei Wochen vor diesem
Tage kein Reif fällt, so gedeihen die Trauben gar gut (Jankó, Torda,
S. 238).'
Hagelt es am Michaelstage (29. Sept.), so wird der Winter gar
streng sein. Säet man an diesem Tage bei heiterem Himmel, so wird
man reiche Ernte haben. Donner an diesem Tage zeigt einen langen
Herbst an (Jankó, Torda etc., 238). Am letzten September soll niemand
säen, denn das Korn bleibt grün und wird nie reif.
Yom Simon-Judastage (28. Okt.) sagt das magyarische Sprichwort:
Es naht Simon-Judas,
Weh dem, der in blosser Unterhose ist!
Sieht man am letzten Oktober einen Wolf, so soll man gleich
beten, sonst träumt man das ganze Jahr hindurch von Wölfen.
Am Allerheiligentage (1. Nov.) soll man nichts in den Kalender
aufzeichnen, sonst spricht man nie mehr die Wahrheit. Wer an diesem
Tage im Freien schläft, den trifft der Schlag.
In den katholischen Gemeinden des Kalotaszeger Bezirks vergräbt
man Holzstückchen, die man am Allerseelentage an Kerzen angebrannt
hat, die auf Gräbern brennen, in der Nähe des Hauses, um es vor Blitz
Und Feuersgefahr zu schützen (Wlislocki, I, 63).
406
Herrmann :
Wer am Martinstage (11. Nov.) sich berauscht, bleibt das ganze
Jahr hindurch von Magenschmerzen und Kopfweh verschont (Ermellék).
Vom Rausch an diesem Tage, glaubt man in der Pécser Gegend, wird der
Mensch schön und stark. Wer in der Martinsnacht etwas träumt, der wird
glücklich. Fett der Martinigans ist gut gegen Gicht, ihr Blut aber gegen
Fieber. Eine Feder ihres linken Flügels soll man zu Pulver brennen und
in Wein gemengt Epileptischen eingeben. Nagelt man ihren linken
Fuss ans Haus, so ist dasselbe vor Feuersbrunst und anderem Unglücksfall
gesichert. Wirft man den Rückenknochen der Gans ins Feuer, so kann
man aus den auf ihm entstandenen roten und schwarzen Punkten auf die
Witterung des kommenden Winters scliliessen. Schwarze Punkte zeigen
einen lauen, rote dagegen einen strengen Winter an. An diesem Tage,
glaubt man in vielen Ortschaften, ist es nicht gut, etwas zu verkaufen,
denn man verkauft sein Glück. Ist das Wetter an diesem Tage heiter,
so bleibt es noch zwei Wochen lang- so (Jankó, Torda etc., 238). Nimmt
man an diesem Tage die Gelbmöhren heraus, so frisst sie das Vieh viel
lieber.
Wenn der Burscli am Katharineiitage sein Gesicht mit einem Frauen-
liemd wischt, sieht er im Traume seine zukünftige Frau. Die heilige
Katharina ist die Schutzpatroniii der Stadt Körmöczbänya (Kremnitz). Bei
einer grossen Feuersbrunst begann auch die Burgkirche zu brennen und
schon schmolzen die Glocken, als eine weisse Frauengestalt auf einer der
Glocken erschien und etwas Wasser in die Glut goss. Das Feuer hörte
sogleich auf. In der Nacht, bevor man die gefährlichen Risse an der
Hauptkirche bemerkte und sie deshalb abzutragen beschloss, ging eine
weissgekleidete Frau mit aufgelöstem Haar weinend um die Kirche herum.
Der Nachtwächter fragte sie, warum sie weine? „Wie sollte ich nicht
weinen", versetzte die Frau, „wenn ich von hier wegziehen muss!" Es
war eben die heilige Katharina (Versényi, S. 44).
In der Nacht des Andreastages (30. Nov.) legt die Maid, nachdem
sie den ganzen Tag über gefastet hat, ein halbes, gesottenes Ei und eine
Männerhose unter ihr Kopfpolster, oder isst eine halbe Semmel, die andere
Hälfte legt sie unter das Kopfpolster, trinkt ein Glas Wasser zur Hälfte
und stellt die übriggebliebene Hälfte neben ihr Bett. Wer in ihrem
Traume das halbe Ei oder die halbe Semmel isst und den halbgefüllten
Wasserbecher leert, der wird ihr Gatte. Oder es deckt die Maid für zwei
Personen den Tisch, und wen sie dort im Traume essen sieht, der wird
sie heiraten. In vielen Ortschaften röstet die Maid an diesem Abende ein
Stückchen Brot, salzt es und isst die Hälfte davon, die andere Hälfte steckt
sie nebst einer Männerhose unter ihr Kopfpolster; dann trinkt sie einen
Becher Wasser zur Hälfte und stellt den halbgefüllten Becher neben ih1'
Bett; im Bette löst sie ihre Haare auf der linken Kopfseite auf und steckt
dieselben nebst dem Kamme auch unter das Polster. In der Nacht wird
Der volkstümliche Kalendcrglaube in Ungarn.
407
sie im Traume ihren zukünftigen Gatten sehen (Yersényi, S. 44). In
der Szegeder Gegend zieht sich die Maid Männerkleider an und legt sich
so nieder, damit sie ihren zukünftigen Gatten im Traume sehe (Kálmány,
I, 111). Im Torda-, Aranyosszék- und Toroczkóer Bezirk fastet die Maid
den ganzen Tag über und legt dann ihr Sacktuch den vier Zipfeln nach
zusammen, knieet darauf, spricht neun Yaterunser, und eine Männerunter-
hose, einen Kamm, ein Stück gerösteten Brotes, einen Federwisch und
ihren linken Schuh unter das Kopfpolster legend, begiebt sie sich zur
Ruhe. Yor ihr Bett stellt sie nun in einem Teller Wasser hin, in das sie
einen Löffel, ein Messer und eine Gabel legt, unter ihre Lagerstätte
aber legt sie, in einen Lappen gehüllt, Salz hin. Wenn sie dann um
Mitternacht erwachend, bei brennender Kerze in den Spiegel blickt, so
sieht sie darin ihren zukünftigen Gatten. Verschläft sie aber das mitter-
nächtliche Erwachen, so erscheint ihr im Traume der Morgendämmerung
ihr Zukünftiger (Jankó, Torda etc., S. 247). In derselben Gegend heisst
es, dass die Maid an diesem Tage auf einem Kreuzwege nächtlicher Weile
eine Kerze anzünden und dann sogleich in einen Spiegel blicken solle,
dann sehe sie darin ihren zukünftigen Gatten (Jankó, Torda etc., S. 247).
Im Kalotaszeger Bezirk gräbt man in dieser Nacht den sog. „Glückstopf"
heraus, den man in der Johannisnacht vergraben. Dies ist ein mit einem
Deckel versehener Topf5 in der Mitte mit Löchern versehen, die im Kreise
um ihn herumlaufen. Wenn das Jahr gerade ein solches war, wo die
im Berge schlafenden Riesen und Feen in diesem Zeiträume hervorkommen,
um sich auf einige Stunden zu ergehen, was jedes siebente oder neunte
Jahr geschieht, so füllen sie den Topf mit Schätzen (Wlislocki, I, 15).
Heulen die Wölfe an diesem Tage, so ist ein fruchtbares Jahr zu erwarten
(Jankó, Torda etc., 238).
Am Barbaratage (4. Dez.) ist es nicht gut zu nähen, denn die
Hühner legen dann das ganze Jahr hindurch nicht (Yersényi, S. 45).
In der Thomasnacht (21. Dez.), heisst es im Kalotaszeger Bezirk,
schreibe man mit seinem eigenen Blute so viele Frauen-, bezw. Männer-
namen auf ein reingewaschenes Totenbein, als darauf Platz haben, lege es
unter das Kopfpolster und schlafe darauf. Beim ersten Erwachen lecke
man mit der Zunge an einer Stelle das Totenbein und welchen Namen
man befeuchtet hat, den Namen wird der Gatte, bezw. die Gattin haben
(Wlislocki, II, 142).
Budapest.
408
Davídsson :
Zwei Erinnerungen an den Handel der Hamburger
mit Island.
Von Olafur Davictsson.
Wie bekannt trieben die Deutschen einen bedeutenden Handel nach
Island von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis sie, nach der Einführung
des berüchtigten Handelsmonopol im Jahre 1602, sich zurückziehen mussten.
Im Anfange hatten die Danziger und Lübecker den isländischen Handel
in ihrem Besitz, aber nach und nach ging er fast ganz in die Hände der
tüchtigen Hamburger Kaufleute über, welche ein ganzes Jahrhundert hin-
durch, fast jedes einzelne Jahr, die isländischen Handelsplätze besuchten.
Die isländischen Schriften aus dieser Zeit enthalten im vollen Masse ver-
schiedenes, den Handel der Hamburger betreifende, aber sonst hat er nur
unbedeutende Spuren hinterlassen. Einige deutsche Wörter sind zwar
durch den Yerkehr der deutschen Kaufleute in die isländische Sprache
übergegangen, wie auch einige Personennamen übernommen wurden, z. B.
Dictrik. Deutsche Inschriften auf isländischen kunstindustriellen Erzeug-
nissen aus dem 16. Jahrhunderte sind keineswegs selten, besonders aber
hat man deutliche Reminiscenzen des Handels der Deutschen nach Island
in den zwei folgenden Yolksspielen.
1. Die Frau von Hamburg.
Der eine der beiden Teilnehmer des Spieles fragt den anderen: Wie
hast du das Geld gebraucht, das die Frau von Hamburg dir schenkte,
indem sie sagte, dass du dafür was du auch wollest kaufen dürfest, ohne
„ja" und „nein", „ja doch" und „nein doch" zu sagen. Der andere giebt
nun irgend eine Antwort. Der erste setzt dann seine Fragen fort, aber
giebt darauf acht, sie so einzurichten, dass dem anderen schwer ist, die
Wörter „ja" und „nein" zu vermeiden. Auf die Länge kann jedoch der-
jenige, welcher gefragt wird, verneinende oder bejahende Ausdrücke nicht
vermeiden, aber statt „ja" und „nein" einfach zu sagen, hilft er sich mit
verschiedenen umschreibenden Ausdrücken, z. B. „gewiss so", „du hast das
Richtige erraten", „es ist einleuchtend" oder umgekehrt: „gar nicht", „bei
weitem nicht", „auf keine Weise" u. s. w. Dies eigentümliche Gespräch
dauert zuweilen sehr lange, indem es sich um die verschiedensten Gegen-
stände drehen kann, wenn derjenige, welcher gefragt wird, sich nicht ver-
spricht. Aber in der Regel geschieht das früher oder später, und sobald
man „ja", „nein", „ja doch", „nein doch" ausgesprochen hat, verliert man
das ganze Geld, welches die Frau von Hamburg einem gegeben hat-
Zwei Erinnerungen an den Handel der Hamburger mit Island.
409
Damit endet dann das Spiel. Ein anderer, weit seltnerer Schluss des
Spieles ist, dass derjenige, welcher gefragt wird, endlich sagt, jetzt habe
er das ganze Geld, welches die Frau von Hamburg ihm gegeben habe,
verbraucht.
Die angeführte Redaction stammt aus dem nördlichen Island. Im
westlichen Island hat man dasselbe Spiel mit unbedeutenden Varianten.
Dort wird die Frau von Hamburg „die Königin von Hamburg" genannt.
Der eine von den beiden Teilnehmern am Spiele fragt: Wie soll ich das-
jenige anwenden, welches die Königin von Hamburg mir sandte? „Du
darfst dafür was du auch willst kaufen. Du darfst nur nicht „ja" oder
„nein" sprechen u. s. w.
Dasselbe Spiel kommt auch in Dänemark als ein Pfänderspiel vor,
aber in demselben wird von keiner „Frau oder Königin von Hamburg"
gesprochen. Das dänische Spiel, in der Regel „Ja und Nein" genannt,
wird in folgenden Schriften beschrieben: Sämling af Julelege, hrsg. von
Werfel, III. Aufl., Kopenh., S. 54. Den uudtömmelige Spögemester, hrsg.
von C. F. Severin, Kopenh. 1821, S. 103—104. Sämling af Julelege,
Kopenh. 1843, S. 14. Ride, ride Ranke, Hjörring 1858, S. 45—46. Sel-
skabsmanden, Kopenh. 1876, S. 4—5.
In England findet sich auch ein ähnliches Spiel, das in einem aus
dem Englischen übersetzten Büchlein: Drengenes egen Bog, Kopenh. 1868,
S. 37, beschrieben wird. Wie das dänische Spiel steht dieses in keiner
Beziehung zu Hamburg.
Die Beschreibung des isländischen Spieles ist in ein grösseres AVerk
vom Verfasser dieses kleinen Aufsatzes, über isländische Volksbelustigungen:
íslenzkar skemtanir, Kopenh. 1888—92, S. 190—91, aufgenommen worden.
2. Die Handelsreise nach Hamburg.
Das Spiel ist, so weit man weiss, völlig ausser Gebrauch gekommen,
und es finden sich keine genauen Beschreibungen, auf welche Weise das-
selbe geübt worden ist, aber ein erhaltener gereimter Dialog, der augen-
scheinlich im Spiele die grösste Rolle gehabt hat, giebt doch ziemlich
gute Aufklärungen darüber. Der Vater erzählt seiner Tochter, dass er eine
Handelsreise nach Hamburg unternehmen werde. Die Tochter bittet ihn,
etwas für sie zu kaufen. Der Vater willigt ein und schlägt verschiedene
kostbare Stoffe und Kleidungsstücke vor, aber die Tochter will solche
Sachen nicht haben. Der Vater bietet ihr dann an, Gold- und Silberzeug
für sie zu kaufen, aber der Jungfrau gefällt das auch nicht. Endlich
schlägt der Vater einen Jüngling vor. Die Tochter wird darüber so
erfreut, dass sie den Vater bittet, ihr drei mitzubringen.
Das interessante kleine Gedicht lautet in der Grundsprache und auf
Deutsch wie folgt:
410
Davídsson:
1. Til Hamborgar set!a' eg mer ad' rida i dag.
„Hvad" muntu minn fa dir ! mér kaupa par?"
SilkiÖ, dóttirin!
„ Ger du pad fyrir hamingju skald
og kauptu pad ei!"
2. Til Hamborgar setla' eg mér ad" rida í dag.
„Hvad" muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Klútinn, dóttirin!
„Gerdii pacf fyrir hamingju skuld
og kauptu hann ei."
3. Til Hamborgar setla' eg mér ad rida i dag.
„Hvad muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Kvennhattinn, dóttirin !
„Gerdu pad* fyrir hamingju skuld
og kauptu hann ei."
4. Til Hamborgar setla' eg mér ad" rida i dag.
„Hvad" muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Kjólinn, dóttirin!
„Gerdu pad fyrir hamingju skuld
og kauptu hann ei."
5. Til Hamborgar setla' eg mér ad rida i dag.
„Hvad" muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Södulinn, dóttirin !
„Gerdu pad fyrir hamingju skuld
og kauptu hann ei."
6. Til Hamborgar setla' eg mér ad rida i dag.
„Hvad muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Silfrid, dóttirin!
„Gerdu ]iad' fyrir hamingju skuld
og kauptu pad" ei."
7. Til Hamborgar setla' eg mér ad", rida i dag.
„Hvad muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Gullhrínginn, dóttirin!
„Gerdu pad" fyrir hamingju skuld
og kauptu hann ei."
8. Til Hamborgar setla' eg mér ad" rida í dag.
„Hvad" muntu minn fadir! mér kaupa par?"
Piltinn, dóttirin!
„Gerdu pad" fyrir hamingju skuld
og kauptu mér pá prjá."
Übersetzung.
1. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Seide, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe sie nicht!"
Zwei Erinnerungen an den Handel der Hamburger mit Island.
411
2. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Tuch, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe es nicht."
o. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Einen Frauenhut, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe ihn nicht."
4. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Ein KJeid, meine Tochter!
„Um Gotteswillen .
kaufe es nicht."
5. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Einen Sattel, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe ihn nicht."
6. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Silber, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe es nicht."
7. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Einen goldenen Ring, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe ihn nicht."
8. Heute will ich nach Hamburg reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Einen Jüngling, meine Tochter!
„Um Gotteswillen
kaufe mir deren drei."
Dass der Vater ausdrücklich sagt, dass er nach Hamburg reiten will,
steht in enger Verbindung mit dem Gebrauche der Isländer, alle langen
Ideiseli zu Pferde zu machen. Eben deshalb werden schöne und kostbare
Pferdesättel hoch geschätzt, und der neuvermählte Bischof Gudbrandur
porláksson (1571—1627) wusste kein passenderes Geschenk seiner jungen
Prau, Haldóra Arnadóttir, zu machen, als einen kostbaren englischen
Damenhut und einen sehr schönen ausländischen Damensattel1).
Unter dem „Silber" des Gedichtes ist ohne Zweifel silberner Prauen-
schmuck zu verstehen, der überhaupt auf Isländisch „kvennsilfur" genannt
wird, aber weder unverarbeitetes Silber noch Geld.
1) Jón Espolín, Árbsekur Islands (Islands Annaler), Y, S. 13, Kopenh. 1826.
Zeit,sehr. (1. Vereins f. Volkskunde. 1894. 28
412
Sartori :
Yon diesem Gedicht findet sich ein Bruchstück in einer weit älteren
Redaktion, welches in der Arnamagmeanischen Handschrifteusammlung zu
Kopenhagen, 153 Y, 8V0, Nr. 22, aufbewahrt wird und im Anfange des
18. Jahrhunderts, wie folgt, aufgezeichnet worden ist:
A torg aetla eg aö riöa í dag.
„HvaÖ skaltu, ininn faöir! mér kaupa par?'1
Eg setla' kaupa por h empuña, min dóttir!
„Nei, nei, minn faöirinn !
Ekki dnga ráftin pin.
Gerffti fyrir guös skuld
og kauptu mér hana ei."
Übersetzung:
Zum Markt will ich heute reiten.
„Was wirst du, mein Vater! für mich dort kaufen?"
Ich werde für dich einen Mantel kaufen, meine Tochter!
„Nein, nein, mein Vater!
Nicht taugt dein Vorschlag.
Um Gotteswillen
kaufe ihn nicht für mich."
Ohne Zweifel hat dieser, ausser dem erwähnten Bruchstücke völlig
verloren gegangene Dialog, wie der andere den Schluss gehabt, dass die
Jungfrau ihren Vater gebeten hat, dasjenige zu kaufen, welches ihrem
Herzen am nächsten stand, einen oder mehrere hübsche Jünglinge.1) Sie
mussten doch wie alle anderen kostbaren Sachen in der reichen und
mächtigen Stadt Hamburg verschafft werden können, welche die Isländer
des siebzehnten Jahrhunderts als den Stapelort aller Herrlichkeiten der
Erde aufgefasst haben müssen, wie es auch zum Teil war.
Kopenhagen.
Der Scliuh im Volksglauben.
Von Paul Sartori.
(Schluss von S. 305.)
IX. Wald- und Feldgeister.
Wir fassen in diesem Abschnitt diejenigen in den vorigen Kapiteln
noch nicht erwähnten Elementargeister zusammen, die nach den Sagen in
Wald und Feld ihr Wesen treiben., Zum Teil berühren sie sich mit
früher bereits genannten Gestalten. So sind die „Pfaffenkellnerinnen"
schon bei Besprechung der Sagen vom wilden Jäger vorgekommen. Vgl.
1) [Verwandt dein isländischen ist ein verbreitetes deutsches Lied, bei Erk-Böhme,
Deutscher Liederhort, No. 83S a, b. K. W.]
Der Schuh im Volksglauben.
413
über sie Mannhardt, W. F. K., IL, S. 95 f. Laistner, Nebelsagen, S. 272.
Rätsel der Sphinx, II, S. 241 f. E. II. Meyer, German. Mytliol., S. 247.
Auch sie sind Sturm- und Wolkengeister. In Flums muss eine in eisernen
Schuhen wandern: Henne-Am Rhyn, Die dtsche Volkss., S. 239. Wie die
Pfaffenkellnerinnen wird auch Walpurga, eine weisse Frau mit feurigen
Schuhen und langen wallenden Haaren, vom wilden Jäger verfolgt.
Uberhaupt sind die mancherlei Wolkenfrauen in ihren verschiedenen
Namen und Gestalten (vgl. E. H. Meyer, German. Myth., S. 272 ff., 282 ff.)
oft durch ihre Schuhe ausgezeichnet. Schon an der nordischen Frigg hebt
die jüngere Edda die Schuhe hervor, die von ihrer Dienerin Fulla bewahrt
werden: Meyer, a. a. O., S. 269. *) Bei der Staufeiiburg in Thüringen zeigt
sich die weisse Frau mit langem goldenen Haar und goldenen Pantoffeln:
Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 217. Andere bei Kuhn, Märk. Sag., S. 205 f.
Grimm, D. M.4, II, S. 805 f. Seifart, Sagen aus Hildesheim, II, S. 103.
Baader, Neuges. Yolkss. a. d. Lande Baden, No. 37. Die „alte Urschel"
trägt weisse Zeugschuhe und rote Strümpfe: Meier, Schwäb. Sag., S. 6, 8.
Vgl. Laistner, Nebels., S. 112. In diese Gruppe gehört auch die Spinnerin
Bertha mit ihren grossen, breiten Füssen: E. H. Meyer, German. Myth.,
S. 277 f. Im Kunstloche über Lerbach geht eine gespenstische Frau in
Socken, die sind 20 Fuss oder 10 Ellen gross und damit tritt sie die jungen
Tannen nieder: Prühle, Harzsagen, S. 159. Das „Huttenweiblein" auf dem
waldigen Schönberg trägt einen weissen und einen roten Strumpf: Ebda.,
No. 48. Ein rotstrumpfiges WTibli mit grossem Schattenhut bei Rochholz,
Aargaus., I, S. 56. Einer, der im Waldhause herbergt, hört um Mitternacht
Schuhgeschlürfe, die weisse Frau kommt vor sein Bett getreten, klagt ihm
ihr Leid und begehrt Erlösung: Grimm, D. M.4, Il, S. 808. Auf den
Koppeln am Klein-Wesenberger Mühlenteich sieht man oft eine Frau
h er umwan dein, die trägt ein weisses Kleid, unter dem ihr blaugrauer
Unterrock und ihre Schuhe mit hohen Absätzen zu sehen sind: Miillenhoff,
Schlesw.-Holst. Sagen, S. 340; vgl. (Kuhn i. d. Zeitschr. f. dtsche Myth., III,
S. 386. Anderes im folgenden Abschnitt.
Die schottischen Elfen tragen zierliche Silberschuhe: Schindler, Der
Abergl. d. M. A., S. 14. Die Fussbekleidung der Stuhaci, die im Herzögischen
in Hochgebirgen und Flussfelsen hausen (der bosnische Bauer im Savelande
macht aus ihnen Sturm- und Ungewittergeister) bestellt aus einem Flecht-
werk von Menschensehnen : Krauss, Volksglaube und religiöser Brauch der
Südslaven, S. 131. Dreierlei Schneeschuhe, sagt das finnische Sprichwort,
muss ein tüchtiger Renntierjäger dem Waldgotte Tapio machen, bis diesem
ein Paar ansteht: Rochholz, Aargaus., I, S. 377. Der Präzeptor Steller in
Halle erzählte, er habe in Wittenberg einst in der Christnacht bei Mond-
1) Müller, Gesch. u. System d. altdeutschen Religion, S. 277, sieht in diesen Schuhen
einen Bezug auf Frigg als Vorsteherin der Ehen.
28*
414
Sartori :
schein in einem nahe bei der Stadt gelegenen Gebüsch Geister zu citieren
begonnen. Plötzlich sei eine wimderbarliche Gestalt in einem bunten
zerlappten Kleide mit schwarzen Strümpfen, roten Stiefeln und gelben
Absätzen an denselben erschienen. Steller hob dem Kerl den einen Fuss
auf und betrachtete die Stiefel mit den Absätzen genau. In dem Augen-
blicke entstand ein gewaltiger Sturm. Alle flohen und wurden bis ans
Thor mit tausend Schneebällen unaufhörlich verfolgt: Grässe, Sagenbuch
d. preuss. Staates, I, S. 320.
Bei umgehenden Geistern werden sehr oft die Schuhe hervorgehoben,
und jene dadurch als Nebel- und Wolkenwesen kenntlich gemacht. Der
„Grabengänger" in Würzburg, der ein Koch gewesen sein soll, trägt grosse
Steifstiefel und einen Hirschfänger an der Seite: Ztschr. f. dtsche Mytli.,
III, S. 65. Andere Beispiele: Grenzboten, 1864, S. 388 f. (Greifenstein
im Erzgebirge), Grohmann, Sag. a. Böhmen, S. 30, 283. Kuhn u. Schwartz,
Nordd. Sagen, No. 230. Kochholz, Naturmythen, S. 175. Meier, Schwäb.
Sagen, S. 94. Leoprechting, A. d. Lechrain, S. 60. Rochholz, Aargausagen,
II, S. XXXI. Birlinger, Yolkst. a. Schwaben, I, S. 11 (vgl. E. H. Meyer,
German. Myth., S. 259, 265). Ein deutliches Nebelwesen ist auch der
Schuster auf der Burg Ardeck im Lahnthal: Grässe-, Sagenbuch d. preuss.
Staates, II, S. 714 f. Der „Schlarfentoffel" in Lerbach hat grosse Schuhe
und sehr grossen Hut; er führt ein kleines Hündchen: Pröhle, Harzsagen,
S. 158 f. Am Branntweinstein bei Lerbach hatte jemand einen Schuh
gefunden; da kam ein Gespenst hinter ihm her und sagte, er solle den
Schuh wieder dorthin bringen: Ebda., S. 159. Yon einem bei Lauban
herumirrenden Stiefelpaar erzählt Haupt, Sagenbuch der Lausitz, I, S. 202.
Die bunte Farbe der Fussbekleidung (die in diesem Falle meist aus
Strümpfen besteht) deutet wohl auf die verschiedenen Lichterscheinungen
und Färbungen im Nebel und im Gewölk. Einige Beispiele sind schon
oben vorgekommen. Ein umgehender falscher Zeuge aus Tegerfelden
trägt einen weissen und einen roten Strumpf: Rochholz, Aargausagen, II,
S. 107.x) Ein gespenstischer schwarzer Hund mit roten Strümpfen bei
Rochholz, Aargausagen, I, S. 213; II, S. 36. Das „Sengwarder Licht" (im
Jeverlande) zeigt sich des Nachts als Mann mit blauen Strümpfen, feurigem
Oberkörper und einem Dreimaster auf dem Kopfe: Strackerjan, Abergl. etc.
a. Oldenburg, I, S. 220 f. Ein umgehender Amtmann in Baden trägt grüne
Pantoffeln: Rochholz a. a. O., I, S. 214. Auch der schwarzfüssige und der
weisshändige Schalk, die in Nebel und Sturm über die Grönauer Haide
jagen, sind hier zu erwähnen: Deecke, Liib. Sagen, S. 281. Ygl. Laistner,
Nebelsagen, S. 194.
Mitunter sind die Schuhe der umgehenden Geister aus Metall oder mit
auffallend grossen Schnallen besetzt oder mit Nägeln beschlagen. Eisen,
1) Über weiss und rot als Nebel- und Wolkenfarbe s. Laistner, Nebels., S. 295 f.
Der Schuh im Volksglauben.
415
Blech, Blei u. s. w. sind in früheren Abschnitten schon wiederholt als
Nebel- und Wolkensymbole kenntlich gemacht. In einem Steinbruch in
einem Walde der Gemeinde Paffrath geht ein Geist um, dem die Bewohner
des Schlosses an jedem Weihnachtstage zwei neue Schuhe, aus Blech
gearbeitet, in den Steinbruch zu stellen haben, an den Platz, wo die alten,
abgenutzten dann auf die neuen warten: Montanus, Yorzeit der Länder
Cleve-Mark, I, S. 233. Im schwarzen Broich bei Ratingen wandelt nachts
eine hohe Männergestalt in Schuhen von Blech umher. Alle vier Jahr
müssen ihm von einem entfernt wohnenden vornehmen Geschlechte, welchem
er angehört, ein Paar neue Blechschuhe auf den Kreuzweg gebracht werden:
Ebda., I, S. 234. Ein Geist zu Neustadt a. d. Hard in der Pfalz verbraucht
alle sieben Jahre ein Paar Bleischuhe und legt seine durchgelaufenen auf
dem dortigen Bleifelsen aus: Rochholz, Aargaus., II, S. 120. Der Münster-
länder Heidemann trägt eiserne Schnallen auf den Schuhen: Weddigen
u. Hartmann, D. Sagenschatz Westfalens, S. 236. Ygl. Laistner, Nebels.,
S. 195. Andere Geister mit Schnallenschuhen bei Rochholz, Aargaus, I,
S. 210 f., 261. Auf der „Wisch" bei Ochtersum geht ein kopfloser Geist
mit schweren Tritten „wie von dicken, nägelbeschlagenen Schuhen": Seifart,
Sagen a. Hildesheim, I, S. 39 f. In Wolfratshausen in Baiern heisst das
Ortsgespenst das Marktgeschlärf. Es ist eine Hebamme, die mit hohen,
eisenbeschlagenen Pantoffeln durch die Strasse schlärft: Rochholz, Aargaus.,
II, S. 308.
Oder die umgehenden Geister tragen Holzschuhe. Auf der Alpe Flatli
bei Landeck pflegt sich der Geist einer sündhaften Sennerin in Schweins-
gestalt mit Holzschuhen an den Füssen zu den Schweinen zu gesellen.
Die Schweine sind auch oft Nebel- und Wolkenwesen: Laistner, Nebelsag.,
S. 279. Ein Mörder in Holle geht um als ein kleines Männchen mit
grauer Jacke, einem Dreitimpen auf dem Kopfe, an dem einen Fuss mit
einem Holzschuhe, am anderen mit einem ledernen Schuh bekleidet:
Strackerjan, Abergl. etc. a. Oldenburg, I, S. 211. Eine gespenstische Frau
mit Holzschuhen ebda., I, S. 321. Auf der Stutzalp in Graubünden spukt
das alte, ungestalte Nebelmännlein in altertümlicher, seltsamer Landestracht,
breitrandigem Hute, Holzschuhen und weiter, nebelweisser Jacke: Uhland
in Pfeiffers Germania, 4, 85. Ygl. Ges. Sehr., YIII, S. 438. Laistner,
Nebels., S. 184. In einem Kloster zu Görlitz klappert der Klötzelmönch
mit seinen hölzernen Schlapppantoffeln herum: Haupt, Sagenbuch der
Lausitz, II, S. 81. Grässe, Sagenbuch d. preuss. Staates, II, S. 380. An
der Bildung solcher Sagen mag das flatternde, klappernde Geräusch des
Sturmwindes Anteil haben. So sah man im Pantoffelsträsschen zu Yypern
jede Nacht eine weibliche Gestalt erscheinen, die auf Pantoffeln schlappte,
und das Klatschen der Pantoffeln hörte man die ganze Strasse durch, sah
aber weiter nichts als einen leicht vorbeifliegenden hellen Schein: Wolf,
Dtsche Märch. u. Sag., S. 517 f.; vgl. auch S. 274 f. Ein deutliches Nebel-
416
Sartori:
wesen ist auch der märkische Graul, der Kinder und junge Leute kneift
und kitzelt, dass einem der Athem vergeht und man niesen muss, dass es
klingt wie „Holzschuh, Holzschuh!" Ygl. die ausführliche Schilderung
bei Handtmann, Neue Sagen a. d. Mark Brandenburg, S. 210 f.
Häufig wird uns berichtet, dass solche Geister die Menschen durch
Steinwerfen belästigen. Ygl. z. B. Liebrecht, Zur Volkskunde, S. 356 f.
Wie Laistner, Nebels. S. 232 f. bemerkt, ist in solchen Sagen öfters der
Sturz mythischer Steine (= Nebelballen) vermengt mit dem Kollern wirk-
licher Steine. Wenn also diese mitunter ersetzt sind durch Schuhe, so
werden wir diese auch hier wieder als Nebel- und Wolkensymbole auf-
fassen müssen. Ein Geist im Schleglwalde, halb grau halb weiss, wirft
den Menschen Schuhe und Kugeln nach oder führt sie irre: Leoprechting,
A. d. Lechrain, S. 128. Einem isländischen Bauern, der sich mit einer
Kiesin verfeindet hat, fliegt einst, von unsichtbarer Hand gesendet, ein
Paar schwerer Schuhe gerade an die Stirn: Maurer, Isländ. Volkss., S. 46.
Mitunter ist ein solcher Vorgang in ein Haus verlegt. In Süstedt soll eine
weisse Jungfer aus dem Hause eines Kossathen mit Steinen und alten
Schuhen geworfen haben: Pröhle, Unterharz. Sag., No. 255. In die Küche
des Klosters der Tempelherrn zu Yypern wurde oft von unsichtbarer Hand
ein Templerschuh hineingeworfen: Wolf, Dtsche Märch. u. Sag., S. 523.
Im Dorfe Nieda findet der Spuk im Hause eines Schusters statt, dessen
Leder umhergestreut wird: Haupt, Sagenbuch d. Lausitz, I, S. 171.
X. Gewitter.
Gewittervorgänge spielten öfters in die bisher behandelten Nebel- und
Wolkensagen hinein. Ygl. darüber Laistner, Nebelsag., S. 296. Uns kam
es nur darauf an, in allen diesen Darstellungen den Schuh als Symbol der
Wolke nachzuweisen.1) Im folgenden sollen nun zu demselben Zwecke
noch einige Sagen und Sagengruppen zusammengestellt werden, die aus
Gewittervorgängen entstanden zu sein scheinen und vorher noch keinen
Platz gefunden haben.
Schwartz hat ausführlich nachgewiesen, dass das Schwächerwerden
eines Gewitters sehr häufig mythisch dargestellt wird als eine Verletzung
des Gewitterwesens, namentlich am Fusse: Ygl. Urspr. d. Myth., besonders
S. 140 ff. Mannhardt, Germ. Myth., S. 661, 665, 671. In deutscher Sage
findet sich sehr häufig die Wendung, dass der Finder einer blauen Blume,
meist ein Hirt, durch diese den (Gewitterwolken-) Berg öffnet und viele
Schätze darin findet; als er aber wieder zurück will, vergisst er die Blume,
und die Thür schlägt so heftig hinter ihm zu, dass sie ihm die Ferse oder
1) Auch der finnische Donnergott Ukko trug, als er Sonne und Mond suchte, welche
die Pohjolawirtin in einem Berge versteckt hatte, blaue Strümpfe und bunte Schuhe:
Schwartz, Urspr. d. Myth., S. '217.
Der Schuh im Volksglauben.
417
einen Teil des Schuhes abschlägt: Vgl. Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 177,
D. poet. Natur ariseli., I, S. 193 ff.; II, S. 93, 104, 144 f. Grimm, D. M.4,
II, S. 812; III, S. 288 f., Dtsche Sagen, I, No. 158. Waldmann, Progr. v.
Heiligenstadt, 1864, S. 21 f. Schmitz, Eifelsag., II, S. 55. Herrlein, Sagen
d. Spessart, S. 108. Lynker, Hess. Sag., S. 10, 80 ff., 91. Kuhn u. Schwartz,
Nordd Sag., No. 247, 7. 249. 268. Grässe, Sagenbuch d preuss. Staates,
I, S. 466 f., 590 f., 632, 766; II, S. 787 f., 926. Rochholz, Aargaus., I, S. 9.
Seifart, Sagen a. Hildesheim, II, S. 88. Laistner, D. Rätsel d. Sphinx, I,
S. 263 f., 321 ff. Einem Schäfer in der Babylonie wird die Ferse ab-
geschlagen, die nie heilt, so dass man ihn bis zu seinem Tode nur mit
einem niedergetretenen Schuh an diesem Pusse sieht: Kuhn, Westfäl. Sag.,
I, No. 312. So entkommt Saemundr, der beim Teufel gelernt hat, ihm
mit genauer Not, doch wird durch das Zuschlagen der eisernen Thür seine
Ferse noch verletzt: Maurer, Isländ. Volkssag., S. 121. Vielleicht gehört
hierher auch der Sagenzug, dass einer, der die schwarze Schule besucht
hat (vgl. Saemundr bei Maurer), künftig nicht mehr als ein Strumpfband
anlegen darf, so dass ihm der Strumpf gewöhnlich um die Ferse schlottert:
Vgl. Möllenhoff, Schlesw.-Holst. Sagen, S. 193; vgl. S. 530. Grundtvig,
Dän. Volksmärchen, II, S. 289. i
Vermutlich habeil wir einen ursprünglichen Gewittervorgang, der mit
einer Schwächung des Gewitterwesens endet, auch in der folgenden Gruppe
von Sagen zu sehen. Miillenlioff, a. a. O. S. 122, erzählt: Mehrere Wochen
hindurch zog sich täglich ein Gewitter über Preetz zusammen und stand
immer gerade über dem Kloster. Da erklärte eine Nonne1), dass das
Gewitter sie holen wolle. Sie ging mit zwei Schwestern hinaus auf den
Degenkamp, und plötzlich kam ein starker Donnerschlag, und der Blitz
nahm das Fräulein aus der Mitte ihrer Begleiterinnen. Nur eine Locke2)
und ein Pantoffel entfiel ihr; die sind lange im Kloster aufbewahrt. Das
Gewitter aber war vorüber. Ebenso bleiben Haar und Schuhe zurück bei
Rochholz, Aargaus., I, S. 280. Beim Dorfe Leuggern an der Aare lässt
sich ein vorwitziger Bursche an einem Stricke in eine von Erdmännlein
bewohnte Höhle hinab. Beim Aufwinden des Strickes sind alle Schlingen
und Knoten desselben rein aufgelöst und nur noch die Haare und Schuhe
des Verlorenen hängen daran. Bei Baader, Sagen d. Neckarthales etc.,
S. 354f. versinkt3) ein meineidiger Bauer, dass nichts übrig bleibt als
1) Audere Sagen, in denen Nonnen vom Blitz erschlagen werden (aber ohne den Zug
mit dem Schuh) s. bei Laistner, Nebels., S. 270 f., 273 f. Seifart, Sagen a. Hildesheim, II,
S. 89. Deecke, Lüb. Sagen, No. 94. Die Priorin Barbara Sehestedt soll gen Himmel
gefahren sein, ihre Schuhe aber zurückgelassen haben: Müllenhoff, a. a. 0., Anm.
2) Der Blitz wird oft gedacht als Locke im Unwetter sich bewegender Wesen:
Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 63 f. Verlust der Haare bedeutet Schwächung des Gewitter-
wesens: Ebda., S. 143 f.
3) Über das Versinken von Klöstern etc. = Zusammenbruch der Wolkenburg im
Gewitter s. Laistner, Nebels., S. 119 f., 173, 255, 283, 306.
418
Sartori :
sein Stab und zwei Schuhe. Als Ritter Ho chus yon Staffelf eld en auf einem
Schimmel von der Erde verschlungen wird, bleiben seine Reiterstiefel
allein übrig: Rochholz, a. a. O., I, S. 377. Ein Schreiber versinkt spurlos
in eine Wiese. Am andern Tage sehen nur noch die Stiefel aus der Erde
hervor: Lemke, Yolkst. in Ostpreussen, I, S. 61. Ein Heinzelmännchen
auf einem Scliloss in Hessen ist gegen die Verbindung des Schlossfräuleins
mit einem jungen Edelmanne. Als nun die Brautleute vor dem Altar
standen, und der Geistliche sie einsegnete, geschah plötzlich ein starker
Schlag und vor den Altar fielen das Rödichen und die Perlstiefelchen vom
Heinzelmännchen nieder. Seitdem wurde es nicht mehr gesehen: Wolf,
Hess. Sagen, S. 49. Zauberer Zytho verschlingt einen anderen Zauberer
bis auf die Schuhe und giebt ihn wieder von sich. Paust macht es mit
einem Kellner ebenso: Schindler, Aberglaube d. M. A., S. 36. In dem
Grimmschen Märchen „Der König vom goldenen Berge (K. H. M. No. 92)
lässt die verschwindende Königin ihrem Gemahl nur ihren Toffel zurück.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit diesen Sagen hat immerhin die, wonach eine
Stelle in Sparta rEXMvrjg oavóáhov genannt sein soll, weil dort Helena, vor
Paris fliehend, ihren Schuh verloren habe: Ygl. Schwartz, Urspr. d. Myth.,
S. 159 f. Näher steht den oben erwähnten Sagen vielleicht der mythische
Zug, der sich an den Namen des im Aetna verschwundenen Empedokles
geheftet hat, dessen einen Eiseiiscliuh der Vulkan wieder ausgespieen
haben soll: Aelian, Yar. liist., 12, 32. Luciaii, Dial, mort., 20, 4. Angefügt
sei hier endlich noch folgende Sage: In Stintebüll war einst eine der
Hauptkirchen am Strande zu Ehren St. Pancratii, wohin viele Wallfahrten
geschahen. Einmal wurden dem Heiligen ein Paar vergoldete Pantoffeln
gestohlen. Da erhob sich ein Unge witter, und der Dieb, der aus dem
Lande fahren wollte, ertrank. Die Pantoffeln aber sind bei ihm gefunden,
da er von den Wellen wieder an den Strand getrieben ward; daher ist
das Sprichwort entstanden: „Pancratius halet sine Tüffeln wedder".
Müllenhoff, a. a. 0., S. 123.
Eine interessante Sage liefert Yernaleken, Mythen etc. in Österreich,
S. 87: Einem Vogelsteller in Mähren begegnet ein Mann mit einem weissen
Sack, worin etwas zappelt und üblen Geruch verbreitet. Beide gehen auf den
Eutensee bei Rossitz am Fusse der Teufelskanzel zu. Hier zog der Fremde
seinen linken Schuh aus, welcher rot und mit Kreuzen bezeichnet war.
Der Vogler thut das auch, und beide springen in den See hinab. Es
geschah ein Donnerschlag, und tiefe Nacht umgab beide. Sie fanden sich
in einem Gewölbe wieder, der Fremde stand bei einer Eisenthür still und
trat mit dem bekreuzten Schuh gegen diese. Sie flog krachend auf, und
eine Feuersäule stieg lodernd empor. In diese Glut schleuderte der Fremde
den Sack.* Dann warf er die Eisenpforte zu und riss den Vogler mit sich
fort. An demselben Tage fand ein Jäger unter der Teufelskanzel den
halbtoten Vogler. Er trug noch den seltsam bekreuzten roten Schuh,
Der Sclmli im Volksglauben.
419
seine Kleidung war ganz zerfetzt. Ala man seinen Leichnam aus dem
Walde trug, stand auf der Teufelskanzel ein grosser Bock und meckerte
höhnisch.
Vernaleken hält diese Sage für slavischen und die mythischen Züge
darin für späteren Ursprungs. Sollte nicht auch hier die Schwächung
eines Gewitterwesens zur Darstellung gebracht sein? Bei den seltsamen
Kreuzen auf dem Schuh möchte man an Donars Hammerzeichen denken.
Ygl. E. H. Meyer, Germ. Mythol. S. 57 f. Über den Bock als Gewittertier
s. Laistuer, Nebelsagen, S. 56. Mannhardt, W. P. K., Il, S. 156 f. Meyer,
a. a. 0., S. 100 f. Wegen der bekreuzten Schuhe mag hier noch eine Sage
Platz finden, in welcher Nebel- und Gewittervorgänge vereinigt zu sein
scheinen. Ein Mann erblickte abends auf der Jagd einen Puchs, dessen
Schwanz immer grösser wurde und endlich die Länge eines Bindelbaums
bekam. Der Mann schoss auf das Tier. ' Als er aber abdrückte, flog die
Erscheinung blitzschnell auf ihn zu und warf ihn zu Boden, dass er die
Besinnung verlor. Als er wieder zu sich kam, waren seine beiden Holz-
schuhe kreuzweise durchsprangen: Strackerjan, Abergl. etc. a. Oldenburg,
I, S. 232 f.
Endlich liegt vielleicht auch folgender Sage, die uns in des Monach.
Sangallens. De gestis Caroli imperatoris, I, 18 (Mon. Germ. Hist., II; vgl.
Lindenschmitt, Handbuch d. dtschen Altertumskunde, I, S. 348) überliefert
ist, ein allerdings sehr versteckter Gewittermythus zu Grunde. Ein Bischof
soll auf Befehl Karls des Grossen eine Predigt halten, versteht aber wenig
davon. In der Kirche sieht er einen armen Mann stehen, der in Er-
mangelung eines Hutes mit seinem Schuh sein feuerrotes Haar bedeckt
hatte, um durch dessen auffallende Farbe keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Unter Schimpfen und Spott lässt der Bischof ihn zu sich führen, und das
muss als Predigt gelten.
Übrigens mag in Gewittermythen der Schuh nicht immer nur die
Wolke, sondern mitunter auch den Blitz symbolisieren. A ielleicht ist noch
ein Sagenzug hierher zu ziehen, der sich vielfach an die hl. Wilgefortis
oder Kümmernis geknüpft hat (vgl. Grimm, D. M.4, I, S. 94 f., Anm., Dtsche
Sagen, I, No. 330. Panzer, Beitr., II, S. 420 if. Wolf, Beitr., S. 116 f.
Seifart, Sagen a. Hildesheim, II, S. 158), am bekanntesten aber aus der
Geschichte vom Geiger zu Gmünd geworden ist: Ygl. Meier, Schwab.
Sagen, I, No. 48. Ein Geiger spielt vor der Heiligen so lange, bis sie
ihm einen ihrer goldenen Schuhe, später zu seiner Rechtfertigung auch
noch den zweiten herniederwirft. Das Geigenspiel würde dann in dem zu
Grunde liegenden Mythus den Sturmwind bezeichnen, der den Blitz aus
der Wolke lockt. Über diese mythische Bedeutung des Geigenspiels s.
Mannhardt, W. F. K., I, S. 43. Wolf, Dtsche Märchen u. Sagen, No. 26.
Menzel, Odin, S. 184, 186 f. Über den Wind als Musiker überhaupt s.
Schwartz, Urspr. d. Myth., S. 16. D. poet. Naturansch., II, S. 59 ff. Mann-
420
Sartori:
hardt, German. Myth., S. 116 f. und in der Ztsclir. f. d. Myth., II, S. 312.
Roscher, Hermes der Windgott, S. 50 ff., 108 f.
XI. Schuh und Schatz.
Über die ursprüngliche Gewitternatur der Schatzsagen s. Schwartz,
Urspr. d. Myth., S. 64. Laistner, Nebelsagen, S. 233. Ein Merkmal dieser
Gewitternatur ist es nun wohl auch, wenn mit derartigen Schätzen der
Schuh in Verbindung gebracht wird. Nicht weit vom Dorfe Schwochow
liegt unter einem Birnbaum ein grosser Schatz verborgen. Bei demselben
wacht der Teufel; es steht aber auch ein grosser feuriger Stiefel dabei,
und wer diesen anzieht, dem muss der Teufel den Schatz herausgeben:
Jahn, Volkssagen a. Pommern u. Rügen, No. 362. In einer holsteinischen
Sage brennt ein schatzzeigendes Licht, Vorwitzige verfolgend, in die Thür
eines Hauses ein Hufeisen ein. Später findet man an der Stelle, wo es
brannte, eine Schatzkiste, auf deren Deckel ein gleiches Hufeisen sichtbar
ist: Müllenhoff, Schlesw.-Holst. Sagen, S. 186. Vgl. die goldenen Hand-
schuhe bei Toppen, Ab ergi. a. Masuren, I, S. 129 f.
Anderswo fehlt der Schatz, und es bleiben bloss die Schuhe übrig.
Im Scharfenstein stehen goldene Pantoffeln, und eine Jungfer schläft dort,
bis ihr Erlöser kommt: Pröhle, Unterharz. Sagen, No. 304. Im Innern
des Berges Sebin soll sich ein Stiefel des Feldherrn Schwejda befinden:
Grohmann, Sagen a. Böhmen, S. 62.
An den schatzhütenden Jungfrauen werden oft ihre Schuhe hervor-
gehoben. Einzelne Beispiele sind schon früher vorgekommen. Vgl. noch
Panzer, Beitr., I, S. 28. Schanibach-Müller, Niedersächs. Sagen, S. 247.
Rochholz, Aargausagen, I, S. 163. Kuhn in der Zeitschr. f. d. Myth., III,
S. 368 ff.
Auch in der Erlösung solcher Jungfrauen, in der wir nach E. H. Meyer,
German. Myth., S. 282 f. die Verwandlung der (Frühlings-) Gewitterwolke
zu erblicken haben, spielt der Schuh seine Rolle. Eine verwünschte
Jungfrau im Schlosse bei Lossin bittet einen Jüngling, ihr ein Paar
"" Schuhe mitzubringen, doch solle er von dem geforderten Preise nichts
abhandeln: Knoop, Volkssagen a. d. östl. Ilinterpommern, No. 99; vgl.
No. 152. Bei Rochliolz, Aargausagen, I, S. 230f. soll das Vorgeschuhe
dieser Schuhe ungewichst bleiben. Die weisse Frau auf der Schauenburg
bittet einen Hirten, ihr einen Trunk Wasser in einem Schuh zu holen:
Baader, Neuges. Volkssagen a. d. Lande Baden, No. 76. Übrigens bittet
auch der umgehende feurige Schwertmann bei Müllenhoff, a. a. O., S. 262,
dem fortwährend seine Schuhe durchbrennen, immer um neue, die ihm
auch oft gegeben werden.
Wenn erzählt wird, dass der Drache, der Teufel oder sonstige Schatz-
spender ihre Gaben in einem Schuh bringen, so wird auch hier wieder
an die mythische Darstellung eines Gewittervorganges zu denken sein.
Der Schuh im Volksglauben.
421
Vgl. E. H. Meyer, German. Mythol., S. 97 f.1) Oft wird der Scliatzbringer
dadurch betrogeil, dass man ihn Geld in einen Schuh ohne Sohle schütten
lässt: Schulenburg, Wend. Yolkssagen, S. 108. Keusch, Sagen d. preuss.
Samlandes, S. 81. Lemke, Yolkstüml. in Ostpreussen, II, S. 16. Zeitschr.
f. d. Myth., II, S. 147 (Rügen), Grässe, Sagenbuch d. preuss. Staates, II,
S. 794 f. (Schmalkalden). Ygl. Toppen, Abergl. a. Masuren, S. 1'28. Ein
Greis in einem Keller füllt einem Waisenknaben seinen Stiefel mit Gold:
Grohmann, Sagen a. Böhmen, S. 288, vgl. S. 297 f. Die wilde Frau aus dem
Wunderberge schenkt einem Bauern einen Schuh mit Geld: Panzer, Beiti*., I,
S. 13. Mannhardt, W. F. K., I, S. 102. Laistner, Rätsel d. Sphinx, I, S. 149 f.
In einem albanesischen Märchen findet die Frau eines Holzhauers an einem
Teiche einen alten Schuh voller Goldstücke: Archiv f. Literaturgesch., XII,
S. 123 f. In einer mecklenburgischen Sage schüttet der wilde Jäger einem
Bauern Gold in seinen Stiefel: Grimm, D. M.4, II, S. 771.
Sehr häufig sind Sagen, in denen Geld von einem missachteten, weil
verwandelten Schatze in den Schuhen des Finders hängen bleibt. Dei'
Schuh ist hier immer dasjenige Organ, welches den Schatz in seiner wahren
Gestalt erhält. Ein Mann findet nachts glühende Kohlen. Er greift zu,
fasst aber nur Pferdekot. Als er zu Hause seine Schuhe auszieht, sind in
denselben zwei Dukaten. Nun fiel ihm ein, dass etwas von dem Pferdekot
auf seine Schuhe gefallen war, das mussten die Dukaten gewesen sein:
Strackerjan, Oldenburg. Sag., I, S. 261. Ygl. S. 404. II, S. 169. Rochholz,
Aargausagen, I, S. 110. Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen, No. 245, 270, 1.
Weddigen u. Hartmann, D. Sagenschatz Westfalens, S. 73. Menzel, Odin,
S. 201. Grässe, Sagenbuch d. preuss. Staates, I, S. 743. Pröhle, Harzsagen,
S. 211. Lynker, Hess. Sagen, S. 80. Grimm, D. M.4, II, S. 804; Dtsclie
Sagen, I, No. 10. Baader, Neuges. Yolkssagen a. d. Lande Baden, No. 95.
Montanus, Yorzeit d. Länder Cleve-Mark, I, S. 144. Laistner, Rätsel der
Sphinx, I, S. 30 f. Henne-Am Rliyn, D. dtsche Yolkssag., S. 430. Maurer,
Isländ. Yolkss., S. 188. Ähnlich bleibt auch mitunter die Wunderblume
(die zu den Schätzen führt) in der Schuhschnalle hängen: Grimm, D. M.4,
III, S. 288. Einem Bauern, dem in der Johannisnacht Farrenkrautblüte
in seinen elenden Riemenschuh gefallen war und der infolge dessen von
allen vergrabenen Schätzen wusste, begegnete ein Mann in guten Kleidern
und guten, sogar gewichsten Stiefeln. Er redete ihn an und fragte ihn,
1) Ein solches Gewitterwesen ist auch die westfälische Alke, die gelegentlich als
Frau aus dem Sumpfe steigt, sich sonnt und kämmt. Einen Spötter verfolgt sie als
glühender Drache (oder Rad), nachdem sie gerufen hat:
„Den enen scholl will ick antücken,
den ännern anrücken,
dann will ik di düwel wal halen."
Vgl. Kuhn, Westf. Sag., I, No. 33. Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sag., S. 485. E. H. Meyer,
German. Myth., S. 96, 120, 148. Laistner, D. Rätsel d. Sphinx, II, S. 74 ff., 106.
422
Sartori :
ob er die blanken Stiefel für seine schlechten Riemenschuhe haben wolle.
Der Bauer liess sich bethören und ging den Tausch ein, aber kaum hatte
er die Schuhe abgebunden, so wusste er auch nichts mehr von dem Schatze.
Der Fremde war der Teufel gewesen: Toppen, Abergl. a. Masuren, S. 72 f.
Lutternde Schätze erlangt man dadurch, dass man einen Schuh darauf
wirft.1) Vgl. Jahn, Volkssagen a. Pommern u. Rügen, No. 380, 406, 409.
Toppen, a. a. 0., S. 34. Kuhn, Mark. Sagen, S. 384. Rochholz, Aargaus.,
II, S. 161; Naturmythen, S. 120. Ein Mann sah auf dem Felde ein blaues
Flämmchen spielen, warf seinen Stiefel auf die Stelle, grub nach und stiess
auf eine eiserne Kiste. Er eilte davon, um Hilfe zu holen. Als er wieder-
kam, lag statt der Kiste ein toter Schimmel dort, der statt des Schwanzes
einen Stiefel hatte. Das hatte der Teufel gethan. Nur dem Stiefel hatte
er seine wahre Gestalt nicht nehmen können: Jahn, a. a. O., No. 384. In
der Höhlung einer Eiche bei Garzin lutterte es öfters Geld, das von einem
greulichen Hunde bewacht wurde. Einmal hat jemand seinen Pantoffel
hineingeworfen. Der Wächter des Schatzes warf ihn jedoch wieder zurück:
Knoop, Yolkssag. a. d. östl. Hinterpommern, No. 147. Wo Irrlichter sind,
soll Geld brennen. Wer es gewinnen will, muss folgendes beobachten:
Er geht zur Nachtzeit an den Sumpf und stellt dort zwei Schuhe verkehrt
hin, dann geht er einige Schritte zurück und wartet, bis sich ein Flämmchen
zeigt; sobald eins aufzückt, läuft er dorthin und schleudert die Schuhe ins
Wasser. Nun wird er von Teufeln verfolgt und es gilt unter Dach zu sein,
bevor sie ihn einholen: Lemke, Yolkst. in Ostpreussen, I, S. 64f. Wenn
man einen Schuh in den Regenbogen wirft, so kommt er mit Gold gefüllt
wieder herunter: Meier, Schwab. Sagen, I, No. 256, 7. Bei den Juden in
Galizien lieisst es, dass ein gefundener Schatz sich nicht mit blossen Händen
greifen lasse, man müsse den Stiefel ausziehen und ihn darin auffangen:
Am Ur-Quell, III, S. 288.
Sollte nicht als letzter Ausläufer aller dieser Sagen und Bräuche die
Sitte zu betrachten sein, Geld in Strümpfen aufzubewahren?
D. Der Totensckuh.
Bei den verschiedensten Völkern treffen wir auf Vorbeugungsmittel,
um die Rückkehr Gestorbener zu verhindern: Vgl. z.B. E. H. Meyer,
German. Mythol., S. 70 f. In Deutschland und Schweden wurde beim
Herausheben der Leiche aus dem Bett, beim Heraustragen derselben im
Sarge darauf geachtet, dass ihre Fiisse in der Richtung der Thür blieben,
1) Zu dieser Anschauung mag auch mitgewirkt haben, dass durch das Rechtssymbol
des Wurfes Besitzergreifung ausgedrückt wird. Vgl. Grimm, Dtsche Rechtsaltert., S. 55 ff.
Zeissberg in Pfeiffers Germania, 13, S. 401 ff. Vom Schuh ist allerdings bei beiden nicht
die Rede. Uber die Verwendung von Messer, Stahl etc. bei solchen Gelegenheiten vgl.
Liebrecht, Gervasius v. T., S. 98 ff.
Der Schuh im Volksglauben.
423
damit sie den Rückweg nicht einschlüge. Die Leiche des Siamesen wird
nicht durch die Thür, sondern durch ein in die Wand gebrochenes Loch,
die Fiisse voran, und dann dreimal in schnellem Laufe um das Haus
getragen, damit sie den Eingang vergesse und keinen Spuk treibe:
Lippei't, Kulturgesch. der Menschheit, I, S. 113 f. Auch die Pehuenchen
in Südamerika schaffen die Verstorbenen mit den Füssen voran aus der
Hütte; denn würde der Leichnam in anderer Stellung hinausgetragen, so
könnte sein irrendes Gespenst zurückkehren: Rohde, Psyche, S. 22, Anm. 2.
Darum liegt auch in der Ilias 19, 212 der tote Patroklos mit den Füssen
nach dem Ausgange des Zeltes gekehrt, und darum glaubt man an manchen
Orten noch jetzt, dass, wenn ein Bett so gestellt ist, dass die Fiisse des
darin Schlafenden zum Hause hinausstehen, dieser sterben muss: Grimm,
D. M.4, III, S. 461 (779). Bei den Tupis in Südamerika werden dem
Leichnam alle Glieder fest zusammengebunden, damit der Tote seine
Freunde nicht mit seinem Besuche beunruhigen könne: Lippert, a. a. 0.,
I, S. 113 f. Zu dem gleichen Zwecke legten die Inder dem Leichnam
Fussfesseln an: .Rohde, a. a. 0., S. 29, Anm. 3.1)
Der Wunsch, die Rückkehr des Verstorbenen zu verhindern und
zugleich seine Reise ins Jenseits für ihn selbst sicherer und bequemer zu
machen, hat nun wohl auch zu dem ziemlich verbreiteten Gebrauche
geführt, dem Toten Schuhe mit ins Grab zu geben.
In dem Grabe eines Kindes der Beothuk, der Eingeborenen von Neu-
fundland, fand man die Leiche in Hirschfelle gewickelt und mit Schmuck
aus Walrosszähnen geziert. Daneben lag ein Päckchen mit getrocknetem
Fleisch und Fisch, Trinkbecher aus Birkenrinde, kleine Kanus, Bogen und
Pfeile und mehrere Paar Mokassins: Globus, 57, S. 179. Die Weijincte,
ein Geschlecht der Omaha-Indianer, dürfen kein Fleisch vom Elkhirsch
essen, ja nicht einmal berühren, ebenso wenig den gewöhnlichen Hirsch;
1) An einigen Orten nimmt man besondere Manipulationen mit den Zehen des Toten
vor. Im siebenbürgisch-sächsischen Brenndorf lässt man Kinder, die sich vor einem Toten
(oder den Toten überhaupt) fürchten, in die grosse Zehe desselben beissen, so verlieren
sie diese Furcht und zugleich wird dadurch bewirkt, dass ihnen der Tote nachher nicht
erscheint. In Zeiden nötigt man sie zu gleichem Zwecke die Zehe des Toten anzufassen.
In Hamruden war es früher üblich, dass die Anverwandten eines Gestorbenen, während
dieser auf der Totenbank lag, dreimal um ihn herumgingen und bei jedem Umgange
einmal die grosse Zehe eines seiner Füsse berührten; auch wurden kleine Kinder dreimal
über den Toten hinweggehoben. Dies alles sollte bewirken, dass der Tote nicht heim-
komme: Schuller, Progr. d. Gymnas. zu Schässburg, 1863, S. 64. Ahnlich heisst es in der
Gegend von Worms: Wer grosse Ängste hat, rühre an die grosse Zehe eines Toten, so
wird er frei davon: Grimm, D. M., III, S. 453. In Portugal muss man, um von Geister-
erscheinungen frei zu bleiben oder um nicht von einem Verstorbenen zu träumen, die
Sohlen an den Schuhen der Leiche küssen: Liebrecht, Zur Volkskunde, S. 374, 5. Haben
nicht diese Gebräuche ursprünglich den Zweck, die Seele aus dem Körper für immer zu
verscheuchen? Das Ursprüngliche, aus dem alles Übrige abgeschwächt ist, wird das
Beissen sein, das wir schon früher in Erntegebräuchen kennen lernten, wo es wahrscheinlich
zur Verscheuchung des der Fruchtbarkeit hinderlichen Dämons diente.
424
Sartori:
aber die Toten werden in Mokassins ans Hirschhaut begraben: Ebda., 50,
S. 348. Wenn ein Hidatsa (Nordamerika) stirbt, bleibt der Geist noch
vier Nächte bei seiner alten Wohnung, dann geht er zur Stadt der Toten.
Um den Geist zu entfernen, verbrennt man auf Kohlen ein Paar Mokassins:
Ebda., 44, S. 103. Ratzel, Völkerkunde, II, S. 709. In Meroe erzählte
man Lepsius, bei den Negerstämmen südlich von Korclofan würden den
Toten ausser anderen Dingen auch noch zwei Paar Sandalen mitgegeben:
Ratzel, a. a. 0., I, S. 151.
Über den altnordischen Heischuh vgl. Grimm, D. M.4, II, S. 697.
Weinhold, Altnord. Leben, S. 494 f. E. H. Meyer, German. Myth., S. 173.
Nach Snorris Norwegischer Chronik mussten die dem Toten angelegten
Schuhe fest und womöglich neu sein, damit er ungehindert nach Walhall
gelangen könne: Linden Schmitt, Handbuch d. german. Altertumskunde, I,
S. 349. Ygl. P. E. Müller, Sagaenbibl., übers, v. Lachmann, S. 126 (Gisle
Surssons Saga). Der Gebrauch, den Toten ein Paar Schuhe mitzugeben,
soll auch jetzt noch in Irland vorkommen: Liebrecht, Gervas. v. Tilbury,
S. 91, Anm. Der schottische Glaube empfiehlt einem armen Manne zuweilen
ein Paar Schuhe zu schenken: sie würden dem Geber in der andern Welt
zu gute kommen. Dort müssten wir nämlich über eine grosse, mit Dornen
bewachsene Heide und könnten nicht hinüber als durch das Yerdienst
dieses Almosens; denn jener alte Mann würde uns da mit den geschenkten
Schuhen begegnen: wir würden sie anlegen und damit unbeschädigt durch
Dick und Dünn waten: Siinrock, D. M., S. 137 f. Auch im norwegischen
Draumakvaedi wird der gleiche Rat gegeben: Ztsclir. f. d. M., IY, S. 421.
In der Yision des holsteinischen Bauern Gottschalk ist eine Linde mit
lauter Schuhen behängt für die Guten, welche unversehrt den gefährlichen
Pfad zum Jenseits überschreiten sollen: Ygl. Liebrecht, Gervas. v. Tilbury,
S. 90 f. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, Y,' S. 114. E. H. Meyer,
Yöluspa, S. 163 f. Haupts Ztsclir, f. d. A., IX, S. 181. Als Rochholz am
Beinhause zu Macugnaga am Monterosa fragte, warum unter den dort auf-
geschichteten Schädeln diejenigen der verstorbenen Ortspriester an der
Glatze mit einem schwarzen Priesterkäppchen übermalt seien, erklärte ein
Bauer: wir malen ihnen diese Zier an, damit ihnen unsere schwergenagelten
Schuhe nicht zu tiefe Löcher in den Kopf drücken, wenn wir den mit
Totenschädeln gepflasterten Höllenweg wandern müssen: Rochholz, Alem.
Kinderlied etc., S. 352. Bei den alten Litauern war es Glaube, dass die
Seelen der Verstorbenen einen steilen Berg hinan müssen, weswegen man
auch Luchs- und Bärenklauen und anderes zum Hinaufsteigen dienliche
zugleich mit dem Leichname verbrannte: Mannhardt, Germ. Myth., S. 336 f.
Müller, Gesch. u. Syst. d. altdtschen Relig., S. 397 f. Brosow, Progr. d.
altstädt. Gymnas. zu Königsberg i. Pr., 1887, S. 6.
Mancherlei Sitten und Anschauungen deuten in Deutschland noch auf
den alten Gebrauch des Totensclmhes. Im Hennebergischen nennt man
Der Schuh im Volksglauben.
425
die dem Verstorbenen erwiesene letzte Ehre und das Leichenmahl den
Totenschuh: Grimm, D. M., II, S. 697. In Ostpreussen erhält die Leiche
Strümpfe und Schuhe, und alles muss wie bei Lebzeiten festgemacht werden;
kann man die Schuhe nicht auf die Füsse zwängen, so soll man sie doch
daneben legen: Lemke, Yolkstüml. in Ostpreussen, II, S. 58. In Königsberg
sagt man, der Leiche müssen Schuhe angezogen werden, weil sie sonst
bei ihren nächtlichen Wanderungen nasse Füsse bekommen würde: Am
Urds-Brunnen, YI, S. 154. In Masuren müssen der Leiche Schuhe und
Stiefel angezogen werden. Eine Frau drohte ihrem Manne: „Ich ziehe
dir, wenn du im Sarge liegst, Chodaki's (Riemenschuhe) an; dann kommst
du zu spät zum jüngsten Gericht!": Toppen, Abergl. a. Masuren, S. 107.
In Böhmen darf es aber gerade nicht geschehen, weil der Tote sonst so
lange als Gespenst wandern muss, bis er die Schuhe zerreisst: Wuttke, D.
dtsche Yolksabergl., § 731. Nach einer freundlichen Mitteilung Roseggers
pflegen in Steiermark schwerkranke Personen unmittelbar vor ihrem Tode
den Anzug, besonders die Schuhe, vors Bett bringen zu lassen. Man
glaubt dort auch, dass, wenn eine siechende Person sich ein neues Paar
Schuhe machen lässt, das ein Anzeichen ihres nahen Todes sei. In
Burgund drückt man die Ankunft des Todes durch die Redensart aus:
„quan la Mor venré graisse no bote" (quand la Mort viendra graisser nos
bottes): Grimm, D. M.4, II, S. 704. An einigen Orten des Siebenbürger
Sachsenlandes ist, wie Schuller, Progr. d. ev. Gymnas. zu Schässburg,
1863, S. 13 berichtet, unter den vielen Ausdrücken für „sterben" auch
gebräuchlich „einem die Hufeisen abreissen". (Bei Grimm, D. Wbch.,
IY, 2, S. 1868, ist dieser Ausdruck als rheinisch angeführt.) Schuller
bemerkt dazu: Pfarrer Fronius in Arkeden leitet die Redensart von einem
daselbst noch jetzt üblichen Ortsbrauche her. Werden nämlich (was nicht
immer geschieht) einem Verstorbenen auch die Schuhe angezogen, so reisst
man zuvor die Hufeisen (so heissen allgemein auf dem Lande die Eisen-
beschläge an den Schuhabsätzen, wozu häufig noch eine Eisenverzierung
hinten an der Schuhferse — die blechen — kommt) von denselben ab.
Als Grund hiervon giebt das Volk an: es solle dadurch das sog. „Blühen"
verhindert werden, — vielleicht damit kein Schatzgräber die Ruhe der
Toten störe. Pfarrer Fronius ist indess geneigt, den Grund vielmehr in
der frommen Scheu zu finden, vermöge der man vor Gott nicht so mit
Eisen bewehrt und geziert erscheinen will (denn auch die blechen werden
abgerissen) und führt als Analogie an, dass nach den Arkeder Bruder-
schaftsartikeln kein „Knecht" (d. i. konfirmierter Jüngling) mit solchen
blêchen vor den Altar zum Genuss des hl. Abendmahles treten dürfe. Die
Rumänen, die diesen Brauch auch haben, geben ihrerseits als Grund davon
folgendes an: Die Himmelsthür befinde sich neben der Höllenthür; habe
nun ein Ankömmling Hufeisen an den Schuhen, so höre ihn der Höllenhund
auftreten und ziehe ihn in die Hölle: Vgl. auch am Ur-Quell, IV, S. 18.
426
¡Sartori:
•— Sollte nicht der ursprüngliche Sinn des Abreissens der Hufeisen der
sein, dass dadurch die Rückkehr des Toten erschwert oder verhindert
werden soll?
Besonders wird empfohlen, dass man Wöchnerinnen Schuhe mit ins
Grab geben soll, weil sie aufstehen und ihr Kind geschweigen müssen,
wenn es des Nachts weint. Wer ihr schlechte giebt, bei dem lässt sie
sich schlarpend hören mit einem auf weitem Wege niedergetretenen, nach-
schleppenden Schuh: Rochholz, Dtscher Glaube etc., I, S. 186 f. Stöber,
Sagen d. Elsass, No.. 83. Müller, Gesch. u, System d. altdtschen Religion,
S. 408. Wuttke, D. dtsche Yolksabergi., § 748. Ploss, D. Kind, I, S. 90 f.
Auch Kindern legt man Schuhe an, „damit sie im Himmel nicht
stolpern": Rochholz, Alem. Kinderlied etc., S. 344. Ploss, a. a. O., I, S. 84.
Zu erinnern ist hier auch an die früher berührten Sagen von den Brot-
schuhen. Ygl. z. B. Grimm, D. Sag., I, No. 238.
Hat es eine besondere Bedeutung, dass mitunter nur ein Fuss der
Leiche beschuht ist? In schleswig-holsteinischen Mooren sind Leichen mit
nur einem Schuh gefunden worden. In einem Nebenbau der Stadtkirche
zu Wertheim in Franken befindet sich die Mumie einer Gräfin von Wert-
heim. Diese hat nur einen Pantoffel. Den anderen soll einst ein Kaplan
aus der Umgegend entwendet haben: Ztschr. f. d. Myth., III, S. 64; vgl. IY,
S. 19. Als im Jahre 1701 das sog. Grab der Kinder der Gräfin von Orla-
münde im Kloster Himmelkron geöffnet wurde, fand man darin einen
riesigen Unterkiefer, eine Schuhsohle und die Reste einer vermoderten
braunen Kutte: Hocker, Stammsagen, S. 6. Bei Lucian, Philospseud. c. 27
kehrt eine Frau aus dem Grabe zurück und beklagt sich, dass ihr eines
oavòàhov, das bei der Bestattung verloren gegangen war, nicht mit verbrannt
sei. Die Yerbrennung geschieht nun nachträglich.
Auch in Sagen und Märchen, von denen teilweise schon früher in
anderem Zusammenhange die Rede gewesen ist, finden wir Andenken an
den Totenschuh. Vgl. den Schuh des Wassermanns bei Vernaleken,
Mythen etc. aus Österreich, S. 190, den der Pfaffendirne bei Montanus,
Yorzeit d. Länder Cleve-Mark, I, S. 225. Laistner, Rätsel d. Sphinx, II,
S. 241 ff. An die Linde mit den vielen Schuhen in der visio Godescalci
erinnert ein Zug aus einer bretagnischen Sage vom Knaben Moustache bei
Henne-Am Rhyn, D. dtsche Volkssag., S. 476. Moustache kommt in ein
Schloss (das in die Gruppe der Paradiesesgärten etc. gehört; vgl. E. H.
Meyer, German. Myth., S. 126 f.), um eine Königstochter namens „Dornhag"
zu erlösen. Eine Alte führt ihn in ein grosses, ganz rot tapeziertes
Gemach. Hier befand sich ein grosses Bett und unter diesem die Fuss-
bekleidungen aller derer, welche in dem Wagnisse, das Schloss zu befreien,
ihr Leben eingebiisst hatten: reiche Stiefel von Edelleuten, genagelte
Schuhe von Bürgerlichen und Holzschuhe von Dorfbewohnern. „Morgen,
junger Mensch", sagte die Alte, „stehen deine Sohlen daneben." Einen
Der Schuh im Volksglauben.
427
ähnlichen Ursprung mag auch der Pantoffel in einem schlesischen Märchen
in der Zeitschr. f. d. Myth., I, S. 313 haben. Hier kommt ein Jüngling,
seine verwünschte Schwester suchend, über eine^ gläserne Brücke in ein
Schloss, in welchem er in 14 Betten 14 Mädchen schlafen findet, und eins
davon war seine Schwester, denn an ihrem Bette standen ihre Pantoffeln,
in die ihr Name gestickt war. Ygl. auch das sicilianische Märchen bei
Gonzenbach, I, S. 26. Auch Heine hat wohl irgend eine Yolkssage vor-
geschwebt bei dem Traume, den er im fünften Buche der Schrift über
Ludwig Börne erzählt: „Mir träumte unlängst, ich sei in der ersten Morgen-
frühe nach dem Kirchhofe gegangen, und dort zu meiner höchsten Ver-
wunderung sah ich, wie bei jedem Grabe ein Paar blankgewichster Stiefel
stand, ungefähr wie in den Wirtshäusern vor den Stuben der Reisenden.%
Das war ein wunderlicher Anblick, es herrschte eine sanfte Stille auf dem
ganzen Kirchhofe, die müden Erdenpilger schliefen, Grab neben Grab,
und die blankgewichsten Stiefel, die dort in langen Reihen standen,
glänzten im frischen Morgenlicht so hoffnungsreich, so verheissungsvoll
wie ein sonnenklarer Beweis der Auferstehung." Ygl. auch Heines Gedicht
„Rote Pantoffeln" in den „Letzten Gedichten". Vielleicht gehört auch
der rote Schuh aus dem Grimmschen Märchen vom Machandelbaum
hierher.
Die hölzernen Hände und Fiisse, die man in alemanischen Gräbern
gefunden hat, und bei denen man an den Indie, pagan, cap. 29: De liguéis
pedibus vol nianibus pagano ritu erinnern muss, sind vielleicht den Toten
mitgegeben, damit sie bei der Uberfahrt den Zoll entrichten können. Ygl.
Simrock, D. M., S. 275. Zeissberg in der „Germania", XIII, S. 416 f.
An m. 4.
In der ägyptischen Mythologie scheint Nephthys im Totenkultus Be-
ziehungen zu den Füssen gehabt zu haben. Vgl. darüber Drexler in
Roschers Lex. d. griech. u. röm. Myth., II, S. 526 f, Aus dem Umstände,
dass in Mumien die abgezogene Epidermis der Fusssohle gefunden worden
ist, vermutet Ebers, dass Nephthys den Fuss wieder mit der ihr gewidmeten
Sohle zu bekleiden hatte.
Dortmund.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894.
29
428
Amalfi :
Eine türkische Erzählung in einem italienischen
Schwanke.
Von Dr. Gaetano Amalfi.
Man erzählt:
Ein Pfarrer besass einen jungen Esel, den er sehr lieb hatte. Nachdem
das arme Tier ihm lange Zeit gedient, erkrankt es und stirbt. Sein Herr
empfindet hierüber unsäglichen Schmerz und beabsichtigt aus Dankbarkeit
ihn in der Kirche begraben zu lassen. Der Yorfall wird von den üblichen
missgünstigen Leuten dem Bischof hinterbracht. Dieser bescheidet voll
Entrüstung den Pfarrer zu sich und macht ihm die heftigsten Vorwürfe.
Er hört sie ohne Entgegnung an. Endlich ruft er, die Augen zum Himmel
gerichtet, aus: „Und doch war er so gut, dass er sich auch im Tode noch
Eurer Herrlichkeit erinnert hat." Mit diesen Worten legte er ihm sechs
Dukaten in die Hand, die, wie er versicherte, zu einer Messe bestimmt
waren. Und nun würdigte auch der Bischof gerührt die Güte — des armen
Toten!
In einigen Yarianten ist an die Stelle des Esels ein Hund getreten;
aber in seinem Kerne ist der Schwank ungefähr derselbe. Es fehlt in der
That nicht an litterarischen und volkstümlichen Yersionen der Erzählung.
Ich beschränke mich darauf, eine derselben anzuführen.
Sie steht unter den Facetiae des Poggio1), der augenscheinlich, und
wie man aus dem Schlüsse des Werkes ersieht, zum grossen Teile aus
der volkstümlichen Uberlieferung schöpfte.2) Bei ihm spielt die Scene in
Toscana; und es handelt sich um einen sehr reichen Landpfarrer und einen
jungen Hund, der auf dem Kirchhofe begraben worden. Der Pfarrer
schenkt dem Bischöfe fünfzig Dukaten, die der Hund, wie er beteuert, im
Bewusstsein seiner Armut testamentarisch diesem vermacht habe. So ent-
geht er dem Gefängnisse, der Bischof billigt das Testament und die Be-
stattung, nimmt das Geld und spricht den Pfarrer frei.
Lesage hat diese Erzählung bei der Geschichte des Don Raphael in
seinem Roman Gil Blas verwertet. „Als er Sklave geworden, wurde er
nach Algier gebracht; doch da er Zither spielen konnte, fand er bei einem
Pascha freundliche Aufnahme. Seine Fertigkeit auf dem Instrumente und
der Umstand, dass er auch die Kunst des Gesanges ein wenig beherrschte?
führten dahin, dass sich eine Favoritin seines Herrn in ihn verliebte.
Diese machte ihn, in kurzer Zeit, reich. Als man den Liebeshandel entdeckt
hatte, rettete ihn die Schlauheit der Dame von schwerer Strafe; aber er
1) Facezie di Poggio Fiorentino, Koma, Sommaruga, 1884, S. 44, No, 35.
Poggii Florent. Facet., Londini 1798, Bandi, S. 45.
2) Ebenda, S. 266-67.
Eine türkische Erzählung in einem italienischen Schwanke.
429
wurde aus dem Harem gejagt. Mit den Schätzen, die er von seiner Schönen
erhalten, führte er in Gesellschaft von Freunden ein üppiges Leben. Er
hatte einen Hund, dem er in dankbarer Anerkennung seiner Dienste innig
zugethan war, und so bereitete er ihm ein Begräbnis, wie es bei den
Türken üblich ist. Der Frevel, den er dadurch begangen, ward dem
JRichter hinterbracht, der ihn sofort zu sich rufen liess. Er eilt zu ihm
und beruhigt seinen Zorn, indem er eine List gebraucht und sagt: „Ja, die
That habe ich begangen; aber mein Hund war ein so edles Geschöpf, dass
er ein Testament gemacht und Euch zweihundert Sultaninen hinterlassen
hat." Der Richter lachte, nahm das Geld und liess ihn ziehen."x)
Eine ähnliche Erzählung steht auch in den Cent nouvelles nou-
velles, herausg. von Le Roux de Lincy, Paris, Paulin, 1841, Nov. 96.
Zur Bestimmung des Ursprunges findet man, am Ende des zweiten Bandes,
die folgenden Angaben hierzu:
Le Testament de l'Ane, fabliau von Rutebeuf (Cfr. Legrand, Fabliaux ou
contes du XIIe et du XIIIe siècle, 3 Bände, ein vierter enthält die Contes dévots2),
Paris 1779 u. 1781, Bd. III, S. 107; Fabliaux et contes des poètes français etc.
par Barbazan, Paris 1808, Bandi, S. 70—75; Oeuvres complètes de Rutebeuf,
Bd. I, S. 273; Recueil de Méon, Bd. III, S. 70, etc.).
Reichlicher sind die Nachahmungen; von denen ich nur die hervorragendsten angebe:
Malespini, Ducento novelle, Teil II, Nov. 59. Über diesen Plagiar ist gerade um
diese Zeit eine wichtige Denkschrift von G. E. Saltini im Arch, stor., Firenze, Cellini-*
„Celio Malespini, ultimo novelliere in prosa del sec. XVI" veröffentlicht worden.
Facetiae selectiores N. Frischelini, Amstaelodami, 1600, S. 270.
Arcadia in Brenta von Yacalerio, Colonia, Hinchió, 1667, S. 325.
Sermones convivales, Basiliae, 1543, Bd. I, S. 154.
Facéties et Mots subtils en français et en italien, von Domenichi, Lyon,
1597, S. 17.
Dictionaire d'Anecdotes par Jacques Lacomb e, Paris 1766, Bandii, S. 451.3)
Die Geschichte steht auch in anderen Schwanksammlungen. Ihr
Ursprung aber liegt in einer türkischen Erzählung, die d'Herbelot in seiner
orientalischen Bibliothek unter dem Artikel Cadi eingeschaltet hat.
Dieser Gelehrte hatte sie dem Lamaï entnommen, dem Verfasser eines
teils in Versen, teils in Prosa geschriebenen türkischen Schwänke- und
Bonmots-Buches, das dem Soliman, dem Sohne des türkischen Sultans
Selim I., gewidmet war. Lamaï, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrh.
lebte, hat sie aus irgend einer älteren orientalischen Erzählung geschöpft,
denn sie war schon im 13. Jahrh. nach Europa gewandert, da sie sich in
den oben citierten Fabliaux findet.
1) In der ital. Übersetzung aus dem Französ. von Dr. Giulio Monti.
Venezia 1728, Band II, S. 175.
2) Dunlop-Liebrecht, Geschichte der Prosadichtungen, etc., Berlin, 1851,
S. 306-12.
3) Eine weitere Variante ist in meiner unedierten Sammlung enthalten und hat den
Titel: Il prete e '1 buricco. — Papanti, Facezie e Motti dei secoli XV e XVI,
Heft 138 der Curiosità von Romagnoli in Bologna, No. 234: Un prete essendogli
morto un cane, u. s. w.
29*
430
Boite:
Sie lautet folgeiidermasseii1):
Jemand besass einen vortrefflichen Hund. Am Tage ging er auf die
Jagd und Nachts hielt erWache. Niemals verliess er seineu Herrn. Dieser
liebte ihn deshalb sehr und zog ihn allen sonstigen Dingen vor. Der
Hund hatte solche Verdienste, dass ihn ein Dichter in Yersen feierte. Als
er starb, war sein Herr untröstlich. Nur um seinen Schmerz ein klein
wenig zu lindern, begrub er ihn in seinem Garten. Am Abend, da er
seine Freunde zu einem Bankett eingeladen hatte, unterhielt er sie mit
Lobreden über sein Tier. Am anderen Tage begaben sich die nie fehlenden
übelgesinnten Leute zum Cadi, um ihm alles was vorgefallen war zu
berichten, indem sie hinzufügten, dass man bei der Bestattung des Tieres
alle Leichenceremonien der Türken angewendet habe. Der Cadi, der über
den Vorfall empört ist, lässt den Angeklagten sofort ergreifen und giebt
ihm die heftigsten Yerweise. Er fragt ihn, ob er zu jenen Ungläubigen
gehöre, welche die Hunde anbeten, da er den seinigen so geehrt habe.
Der Herr antwortet: „Die Geschichte meines Hundes würde zu lang sein.
Doch was man Euch vielleicht nicht gesagt hat, ist folgendes: Bevor er
starb, hat er sein Testament gemacht, und unter den Dingen, über die er
verfügt, befindet sich auch ein Legat von zweihundert Geldmünzen
(Aspern2)) für Euch, die ich Euch in seinem Namen bringe."
Als der Cadi, von Geld reden hörte, wandte er sich zu seinen Unter-
gebenen und sagte: „Seht, in welchem Masse doch rechtschaffene Leute
der Missgunst ausgesetzt sind und was für Reden man über diesen braven
Mann führt." Und zu dem Eigentümer des Hundes gewendet, fuhr er
fort: „Da ihr für die Seele des Verstorbenen keine Gebete gesprochen
habt, so bin ich der Meinung, wir beginnen sie miteinander."
Der Stoff der Geschichte ist derselbe, nur angepasst den verschiedenen
Sitten und Gewohnheiten.
Torre Annunziata bei Neapel.
Zwei Flugblätter yon den sieben Schwaben.
Mitgeteilt von Johannes Bolte.
Unter den sogenannten deutschen Volksbüchern ist das von den sieben
Schwaben das jüngste; es ist erst im Jahre 1827 von dem Münchener
Kadettenhausprofessor Ludwig Aurbacher abgefasst und anonym ver-
1) Les Mille et un jours etc., Ausg. v. Loiseleur-Deslongchainps, Paris, 1840,
S. 649-50.
2) Asp er (Akt sehe) türkische Rechnungsmünze = 0,15 Pf. 3 A. = 1 Para, 140 Para
= 1 Piaster (Meyers Hand-Lexikon, Leipzig, 1885, Bd. I, S. 135).
Zwei Flugblätter von den sieben Schwaben.
431
öffentlicht1), seitdem freilich häufig in Stuttgart, Augsburg, Reutlingen,
Berlin nachgedruckt2) und von Gr. 0. Marbach, Gotthold Klee und Karl
Simrock in ihre Sammlungen der deutschen Volksbücher3) aufgenommen
worden; Simrock kleidete die Erzählung dabei in paarweis gereimte Knittel-
verse. Allerdings hat Aurbaclier, der so eifrig in der deutschen Litteratur
vergangener Jahrhunderte herumspürte, sein lustiges Büchlein nicht frei
erfunden, sondern grossenteils aus älteren Quellen geschöpft; genauer aber
ist die Vorgeschichte seines Stoffes bisher nicht untersucht worden, auch
nicht von Michel Buck, der 1872 in der Germania 17, 309—322 dankens-
werte Zusammenstellungen über Schwabenneckereien4) lieferte, aber nicht
einmal die früher von \Y. Grimm5) und Österley6) über die Hasenjagd
gesammelten Nachweise ausnutzte.
»
So ziemt es sich denn wohl, in diesem Jubiläumsjahre des Hans Sachs
darauf hinzuweisen, dass der eigentliche Kern und Mittelpunkt von Aur-
bachers Geschichte, die Hasenjagd der sieben Schwaben, aus einer Dichtung
des Nürnberger Poeten herstammt.
Schon Arnim und Brentano bearbeiteten in ihrer Liedersammlung7)
ein anonymes Meisterlied von den neun Schwaben, die mit einem langen
Spiess wider den schlafenden Hasen ziehen und schliesslich das Quaken
der Frösche missverstehend in einen See springen und ertrinken; aber da
die von ihnen benutzte Handschrift (jetzt in Berlin) keinen Verfasser nennt,
so blieb ihnen ebenso wie später Birlinger, der einen genauen Abdruck
des alten Meisterliedes lieferte8), verborgen, dass diese Dichtung von Hans
Sachs herrühre. Erst Goedeke setzte sie vermutungsweise unter die von
ihm 1870 herausgegebene Auswahl von Hans Sachs' Meisterliedern9). Die
Bestätigung dieser Vermutung liefert mir Prof. E. Goetze, der rühmlich
bekannte Herausgeber des Hans Sachs, durch die freundliche Mitteilung,
1) Ein Volksbüchlein. München 1827. — 2. Aufl. 1835. — 3. Aufl. Leipzig o. J.
(Reclams Universalbibliothek No. 1161).
2) Stuttgart, Broclhag 1832 und 1834. 4°. — Augsburg, Jaquet 1843. — Reutlingen,
Ensslin und Leibiin 1845, 1868, 1875. — Frankfurt a. 0. und Berlin, Trowitzsch und Sohn
o. J. (vor 1860).
3) Marbach, Volksbücher, No. 7. Leipzig 1838. — G-. Klee, 20 deutsche Volksbücher,
1881, S. 486—510. — Simrock, Volksbücher 10, 1—126 (Frankfurt a. M. 1864) = No. 39.
Eine Zeichnung von E lile in No. 959 der Münchener Bilderbogen (18S8).
4) Hierüber hatten vorher schon Massmann in seiner Besprechung von Aurbachers
Volksbüchlein (Heidelberger Jahrbücher 1827, 1, 376—390) und Wackernagel (Zeitschr. für
deutsches Altertum 6, 254. 258) gehandelt. Später hat Birlinger in der Alemannia vieles
Derartige verzeichnet. Schnorr, Zur Gesch. des Meistergesangs, 1872, S. 19.
5) Kinder- und Hausmärchen 3, 199, Annu zu No. 119.
6) Zu Kirchhofs Wendunmut 1, 274 (1869).
7) Des Knaben Wunderhorn 2, 481. Danach Simrock, Volkslieder No. 343 und
Erk-Böhme, Deutscher Liederhort No. 142 a (1893).
8) Alemannia 2, 255 und Des Knaben Wunderhorn, hrsg. von Birlinger und Crecelius
2, 410 (1876).
9) Dichtungen von Hans Sachs 1, 166 (1870).
432
Boite:
dass dem Generalregister zufolge das genannte Lied 'Die neun Schwaben'
in des Hans Yogels lilgenweis am 1. September 1545 gedichtet ist und in
Sachs' verlorenem 7. Meistergesangbuche auf Blatt 260 stand; zwei andere
eigenhändige Abschriften sind in der Dresdener Handschrift M 100, Bl. 283
und in der Nürnberger Will VIII, 235, BL 279 erhalten.
Dies Gedicht des Hans Sachs, das sich einer ziemlichen Verbreitung
erfreut haben muss, wurde dann gleich anderen Meisterliedern von Martin
Montanus1) und von H. W. Kirchhofa) in Prosa wiedererzählt. Der erstere
beschränkte sich dabei auf das Hasenabenteuer und machte aus den
Schwaben neun Baiern, Kirchhof aber fügte noch einen dritten Schwaben-
streich aus einem wenig älteren Meisterliede des Hans Sachs 'Der Schwab
mit dem Rechen'3) hinzu. Bei beiden Erzählern ist der Anschluss an die
gemeinsame Vorlage deutlich erkennbar; die Herausforderung des hintersten
Mannes an den Hasen: 'Ragenor, anher gang!' und der Angstruf des
Vordersten kehren wörtlich bei ihnen wieder. Die Version des Montanus
ist bei Joa. Hulsbusch, Sylva sermonum iucundissimorum, 1568, S. 13 ins
Lateinische übertragen; auf Kirchhofs Schwank spielt der braunschweigische
Herzog Heinrich Julius 1593 in seiner Komödie von einem Wirte (S. 306
ed. Holland 1855) an.
Seit dem Beginne des 17. Jahrhunderts ist die Neunzahl der Schwaben
überall in eine Siebenzahl verwandelt: zuerst in Eucharius Eyerings Sprich-
wörtern 2, 227, der sich sonst an Kirchhof anschliesst; dann in mehreren
Bilderbogen, die wie diese ganze Gattung der Volkslitteratur bisher recht
wenig Beachtung gefunden haben. Ein Blatt vom Jahre 1688, 'worauf ein
deutsches Lied zwischen allerlei künstlichen Verzierungen und ein Bild
gezeichnet ist, wie sieben furchtsame Schwaben einen Hasen mit einem
Spiesse, den sie sämtlich anfassen, verjagen', erhielt von der Hagen einst
von Nyerup zugesandt4). Undatiert sind zwei Kupferstiche des 17. bis
18. Jahrhunderts, die auf der Fürstlichen Bibliothek zu Donaueschingen
und auf der Königlichen Bibliothek zu Berlin aufbewahrt werden und
dieselbe Scene nebst den nachstehend wiedergegebenen Versen in schwäbischer
Mundart enthalten. Die Brüder Grimm (a. a. 0.) citieren und benutzen
für ihre Darstellung ein späteres, zu Nürnberg bei Fr. Campe gedrucktes
Blatt, 'worauf die sieben Schwaben abgebildet sind und ihre Unterredung
in Reimen mitgeteilt ist'. Dieselbe Scene kehrt auch auf Aushängeschildern
wieder. So finden wir in dem vortrefflichen, in Deutschland viel zu wenig
bekannten Werke von J. van Lennep und J. ter Gouw über die Aushänge-
1) Gartengesellschaft 2, No. 18 (1559) = Goedeke, Schwanke des 16. Jahrh., 1879,
No. 208.
2) Wendunmut 1, 274 (1563) = Goedeke, Schwanke No. 223.
3) Hans Sachs, Dichtungen ed. Goedeke 1, 164 (vom Jahre 1545).
4) F. H. von der Hagen, Narrenbuch, 1811, S. 494 f.
Zwei Flugblätter von dea sieben Schwaben.
433
schilder1) ein Strassburger Hauszeichen mit den sieben Schwaben abgebildet;
in Wien waren zu Anfang unseres Jahrhunderts drei Schwaben mit dem
langen Spiesse vor dem Hasen an ein Haus gemalt, dabei die Unterschrift:
Veitla, gang du voran!
Denn du hast Stiefel an,
Dass er dich nit beissen kann.2)
Aus dem Jahre 1674 rührt ein Bild der sieben Schwaben mit dem
Hasen lier, das noch vor sechzig Jahren am Anger zu München an einem
Brauerhause zu sehen war3).
Auf die im Yolke verbreiteten Bilderbogen geht die dramatische Aus-
gestaltung zurück, die der Dieterskircher Pfarrer Sebastian Sailer, einer
der ersten schwäbischen Dialektdichter, bald nach 1756 (dieses Jahr nennt
er im Verlaufe des Stückes selber) abfasste: Die sieben Schwaben, oder
die Hasenjagd, ein Prosadrama in zwei Aufzügen, mit eingelegten Arien4).
Den ersten Akt füllt Sailer durch eine Motivierung der Jagd. Der Bannwart
meldet voller Entsetzen dem beim Weine sitzenden Schultheissen, er habe
auf dem Felde einen überaus gefährlichen Hasen erblickt. Mutig bricht
der Schultheiss mit einer Büchse bewaffnet auf und gebietet dem Bann-
warte, mit seinem Spiesse zu folgen; aber erschrocken fliehen beide beim
Anblicke des Hasen. Der Schultheiss fasst sich wieder im Andenken an
eine jüngst zu .Riedlingen passierte Jagd, bei der man in einer durch die
Donau angeschwemmten Bank ein vierbeiniges Tier zu sehen meinte, und
lässt eine Mannschaft aus allen sieben Teilen des Schwabenlandes und aus
dem Allgäu aufbieten. Im zweiten Akte treffen die Aufgeforderten nach-
einander ein: der Gelbfüssler, der Knöpflenschwab, der Nestelschwab, der
Mückenschwab, der Spiegelschwab, der Blitzschwab und die beiden Be-
rittenen, der Allgäuer auf einem Steckenpferde und der Suppenschwab auf
einem Esel. Nachdem der Schultheiss abgegangen, um mit der Gemeinde
einen Rosenkranz zu beten, ordnet der Bannwart die Schar. Die Kavallerie
macht einen Angriff und reisst aus; dann ergreift der Bannwart mit den
andern sechs den Spiess und schlägt den Hasen glücklich in die Flucht.
Der Schultheiss erscheint erfreut und ordnet eine Dankprozession an, bei
der alle das Lied singen: 'Jetz stellet Baura an Kreuzgang a, Hodiho,
Alleluia'.
Aus Sailer hat Aurbacher das Gerippe der Handlung entnommen.
Auch bei ihm holt der Bannwart zu Überlingen, der als Anwohner des
1) De uithangteekens in verband met geschiedenis en volksleven beschouwd 2, 28
(Amsterdam 1868).
2) Falks Zeitschrift 'Elysium und der Tartarus' 1806, No. 10, S. 40.
3) Abgebildet bei Aurbacher, Ein Volksbüchlein 1827 als Titelbild.
4) Seb. Sailers Sämtliche Schriften in schwäbischem Dialekte, hrsg. von K. D. Hassler
1842 = 4. Aufl., 1893, S. 167—204. — Sailer ist 1714 zu Weissenborn bei Ulm geboren und
1777 im Kloster Obermarchthal gestorben. Vgl. Hermann Fischer, Beiträge zur Literatur-
geschichte Schwabens, 1891, S. 222.
434 Boite:
Bodensees mit dem in Schwaben üblichen Spottnamen Seehas bezeichnet
wird, aus allen Gregenden Schwabens Freiwillige zu einem Zuge wider den
grausamen Hasen, den er bei Überlingen erblickt hat, zusammen. Diese
führen dieselben Namen wie bei Sailer; da es aber nur sechs sind, fehlt
der Mückenschwab und der Suppenschwab; auch vom Schultheissen ist
nicht die Rede. Dazu fügte Aurbacher aber eine ganze Menge von anderen
Stichelschwänken und Anekdoten, die er teils dem Volksmunde, teils älteren
gedruckten Quellen entnahm. So ist die Beratung der sieben Helden,
woran der tote Bär, den sie gefunden, gestorben sei, dem 26. Kapitel der
Schildbürgerhistorie nachgebildet; aus Paulis Schimpf und Ernst 233 stammt
der Schwank vom Schwaben, der Lacrimae Christi zu kosten bekommt1),
und auch das Abenteuer mit dem blühenden Flachsfelde hat seine litte-
rarischen Vorläufera), Aurbacher, der in einem Kachworte seines Buches
die Geschichte von den sieben Schwaben in einer verstümmelten Hand-
schrift gefunden zu haben behauptet, veröffentlichte 1829 im 2. Teile des
Volksbüchleins noch eine Fortsetzung: Wanderungen des Spiegelschwaben.
Ein merkwürdiges Zeugnis der weiten Verbreitung von Aurbachers
Dichtung gewährt uns ein 1866 von Kreutzwald veröffentlichtes estnisches
Märchen: 'Wie sieben Schneider in den Türkenkrieg zogen'3), das voll-
ständig den Verlauf des deutschen Volksbuches beibehält. Nur sind aus
den Schwaben sieben Schneider geworden, die am Türkenkriege teilnehmen
wollen, sich eine grosse Lanze machen lassen, einen toten Seehund finden,
dem sie das Fell abziehen, und schliesslich wirklich einen Hasen in die
Flucht schlagen. Ihre Namen sind Nasenmann, Einkraftmann, Zweikraft-
mann u. s. w.; der letzte heisst Schwanzmann.
Älter als diese junge Übertragung der alten Schwabenneckerei auf die
Schneider ist ein seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachweisbares
deutsches Spottlied auf drei vor einer Schnecke flüchtende Schneider: 'Es
sind einmal drei Schneider gewesen'4). Ganz ähnlich heisst es in einem
schottischen Sclierzliede 'The Man to the Green Joe':
Pour an' twenty Hilartdmen chasing at a snail,
O, says the hindmast, weel take her by the tail.
The snail set up her horns like any humle cow,
Fye, says the foremost, we 're a' sticket now5).
1) "Vgl. ausser Österleys Nachweisen H. Sachs' Meisterlied von einem Franken,
Schwaben und Bayer in der Hagelweis Hültzings (Erlanger Mskr. 1668, Bl. 534 b = Wei-
marer Mskr. Q. 572, Bl. 98 b). Schmeller, Mundarten Bayerns S. 555. Ditfurth, Alte
Schwanke, 1877, S. 176.
2) Liebrecht, Zur Volkskunde S. 115. Germania 26, 118, 27, 230.
3) Deutsch bei Kreutzwald-Löwe, Estnische Märchen, 2. Hälfte (1881) S. 95—106.
Die Übereinstimmung ist so gross, dass eine bloss mündliche Überlieferung der deutschen
Erzählung, die dem Sammler und Übersetzer unbekannt geblieben zu sein scheint, nicht
angenommen werden kann.
4) Erk, Liederhort No. 187. Des Knaben Wunderhorn 2, 682 ed. Birlinger-Crecelius.
Schneider und Laus: The Roxburghe Ballads ed. by Ebsworth 7, 477.
5) Buchan, Ancient Ballads and Songs of the North of Scotland 1, 259 (1828).
Zwei Flugblätter von den sieben Schwaben.
435
Eine Bärenjagd der Bauern wird sclion in einem deutschen Liede von
1540 ins Lächerliche gezogen1), und so giebt es noch viele Spottlieder
auf misslungene Jagden2), wenn auch keins von ihnen unmittelbaren Zu-
sammenhang mit unserem Schwanke aufweist. Das von Grimm angeführte
englische Gedicht 'The hunting of the hase' bei H. "Weber, Metrical
Romances, 1810, 3, 277 habe ich allerdings nicht einsehen können.
Doch nun mögen nach der langen Einleitung endlich die Yerse der
erwähnten beiden Kupferstiche folgen. Das erste, wohl noch aus dem
17. Jahrhundert stammende Blatt befindet sich auf dem fürstlichen Kupfer-
stichkabiuet zu Donaueschingen und ist schon bei Weller (Annalen der
poetischen Nationallitteratur 1, 421. 1862) citiert ; eine genaue Abschrift ver-
danke ich der Güte des Herrn Archivrats Dr. F. L. Baumann. Das zweite
Blatt ist offenbar erst im 18. Jahrhundert entstanden; ich fand es auf der
Berliner Königlichen Bibliothek im Liber pict. B. 85, 42.
I.
Historia | Yon den sieben Schwaben mit dem Haasen, in gut | Schwä-
bischer Bauren-Sprach, in Reimen gestellt, | wie folgt: |
In dem Bilde stehen die Verse:
Ragineli, Gang du vaor nahnn!
Ich halt dich vaor ein Bidermahn.
und die Namen der Bauern: Märte, Bärtie, Jäckli, Lentzli, Heintzle, Galle,
Fritza.
Aimaol dao gengen ubar Laund
Siba Schwaoba. Hayrt mit Verstaund!
Wie sui händ ghoisä ällesama,
Vin jedar mit suin reachta Nama,
5 Will I vy saga in vinr soma:
Der ayrst war Fretza Doissa Dorna;
Der aunder war Schulthaiss van Launss,
Hiess Galle, war Wurth bey der Gaunss;
Der Dritt war Huintza Hansa Vöit,
10 Der sunst vin wöissa Rappa röit;
Der Vierd Lentz Michals Paolis Claoss,
War sunstan gar gmoid ouff der Straoss;
Der Feinfft war Claosa Jecklis Frantz,
Sunst vin Hertzhaffter baiser Strantz;
15 Der Sechst war Class Lentza Bärtie;
Der Syband Baura Miechals Märtle.
Disa alle gengen fürwaor
Daoher und sorgt an kuiri Gefaor,
Häten all Siba nuar ain Spiass,
20 Drouff sui dui gäntz Manschofft verliass,
1) Böhme, Altdeutsches'Liederbuch, No. 460: 'Es giengen drei Bauern und suchten
ein Bern'. Erk-Böhme, Liederhort No. 142.
2) Vgl. Bolte, Alemannia 22 über ein Meisterlied von G. Hager.
436 Boite: Zwei Plugblätter von den sieben Schwaben.
Sahen yn ainan Boscha sitza
Vin Haosa, thät dui Aohra spitza.
Daorab ärschrackan sui all sänd,
Naomen den Spyss yn ihra Händ.
25 Abar koinr älluin därfft sech waoga
An den Haosa vaor ihra Aoga;
Yin jedar förchta suines Leaba,
Vnd saiten zue Vinander eba:
' 'Gang due vaor nan, gang due vaor nan!'
30 Doch dörfft sui kuiner waoga dran,
Dann sui muindan in disar No at,
Der Haas werd sui bringa zum toad,
Schryn ällsand: 'Hair, ayss erlayss
Van disam arga Tuiffel bayss!
35 Dann mier send ihm zu schwach hie neaba.
Er brengt ayss älla umb das Leaba.'
Von disam Geschroy grusamlech
Der Haas Sprungswöiss van ihna wech
Hinuss ubar ain broite Hoid-
40 Dui Schwaoba koamen ouss Hartzloid,
Woil doar Haas haot verlaossen sui,
Fuelen nidar ouff ihra Knui,
Sayten dem Hayra Loub und Daunck.
Hiemet ändat sech disar Schwaunck.
II.
Die Sieben redliche Schwaben.
Der Kupferstich trägt die Unterschrift: N. 147. J. P. Wolff Seel:
Erben exc: — Dargestellt sind in einer waldigen Landschaft sieben Männer,
die mit einem langen Spiess auf einen Hasen losgehen; ihre Namen und
die auf die unten beigefügten Yerse weisenden Ziffern sind über ihren
Köpfen zu lesen.
1. Veitli.
Stoast Zueah in aliar Schwoaba Nahma,
Sohnscht weünsch i, dass ihr mächt erlahma.
2. Michail.
Bey Elament, du hauscht gueat schwätza,
Du bischt dear leatzt beym Dracha hetza.
3. Hans.
5 As wird nit feihla umb an Haar,
So ischt as wol dear Tuiffel gar.
4. Jergly.
Ischts er nit, so ischts doh sain Muttar
Odar dess Tuiffel s sain Stieafbrudar,
Englert: Das Lied vom Pater Guardian.
437
5. Marty.
Gang, Yeitli, gang, gang du voar ahn,
IO I will dahinda voar di stahn.
6. Jäckly.
Herr Schultz, dear muess dear earste sain,
Dann ihm gebührt diea Eahr allain.
7. H: Schultheis.
So Ziecht dann hertzhafft an de streit,
Hieran erkennt man tapfre Leuth.
15 Boss, Yeitli, gug, lueag, was ischt das?
Das Ungeheür ischt nuhr an Haas.
Berlin.
Das Lied vom Pater Guardian.
Yon Anton Englert.
Unter den von Adolf von Pichler, Ztschr. IY, 197 ff., veröffentlichten
Volksdichtungen aus Tirol verdient u. a. ein Scherzgespräch zwischen Pater
Guardian und Schwester Klara (S. 199) besondere Beachtung. Dieses
Gespräch ist nicht nur in Deutschland und Österreich verbreitet, sondern
findet sich auch in Frankreich und England im Yolksmunde. Es ist daher
höchst wahrscheinlich, dass wir es hier mit einem sehr alten volkstümlichen
Erzeugnis zu tliun haben. Hermann Diels hat bereits Zeitsclir. IY, 332 ff.
eine Variante aus Wiesbaden unter Beifügung der Melodie gebracht. Ich
will hier noch einige Fassungen aus anderen Gegenden mitteilen.
Die folgende Yariante habe ich vor zwei Jahren in Lohr am Main
gehört :
Gutn Dach, Pater Guardian. —
Gutn Dach, Schwester Susann. —
Muss beichten, Pater Guardian. —
Das ist recht, Schwester Susann.
Was denn?
Ich hab Fisch geholt, un do howw ich se nei in die Küche uf n Schrank
geschtellt un do hat mr sehe die Kâtz geholt, un do howw ich gesocht: Du
Daifelskâtz, du Luderschkâtz. —
Das ist freilich eine schwere Sünde. Musst Busse thun, musst drei Vaterunser
beten. —
Hab' Dank, Pater Guardian. —
Hab' Dank, Schwester Susann. —
438
Englert:
Die beiden Personen werden wie in Wiesbaden durch die beiden
Zeigefinger dargestellt, jedoch ohne Yerschränkung der Hände.
Meine Mutter hat den Spruch vor mehr als fünfzig Jahren ganz ähnlich
in Aschaffenburg gehört. Zur Erhöhung, der komischen Wirkung wurde
um jeden der zwei Zeigefinger ein Zipfel eines Taschentuches in Form
einer Kapuze gelegt.
Eine weitere Fassung der komischen Beichte liegt mir aus Rotthal-
münster in Niederbayern vor. Sie lautet:
Die Klosterfrau im Schneckenhaus,
Die meint, sie ist geborgen.
Da kommt der Pater Guardrian [sie]
Und wünscht ihr guten Morgen. —
Guten Morgen, Pater Guardian. —
Guten Morgen, Frau Susann!
Wollen Sie beichten gehn? —
Jawohl, jawohl! —
Was haben Sie für Sünden? —
Ich hab' den Fisch auf den Tisch gestellt,
Da ist die Katz gekommen
Und hat ihn weggenommen.
Ich hab' gesagt: Du Luderskatz, du Teufelskatz! —
Ah, ah! das ist eine grosse Sünde!
Da müssen Sie mir drei Busserl geben,
Sonst kann ich's nicht verzeih'n.
In Straubing kommt das Gespräch nach einer gütigen Mitteilung meines
Kollegen Dr. Stroh in folgender Gestalt vor:
Klosterfrau im Schneckenhaus
Hat gemeint sie war' verborgen,
Da kommt der Pater Guardian
Und wünscht ihr guten Morgen. —
Guten Morgen, Frau Susian! —
(oder: Guten Morgen, Fräulein Zizibe! —)
Guten Morgen, Pater Guardian!
Ich möchte gerne beichten. —
Was haben Sie für eine Sünd' begangen? —
Ich hab' am EYeitag Fisch gebacken,
Hat mir die Katz ein Stück genommen,
Hab' ich gesagt: Du Luderkatz, du Luderkatz! —
Grosse Sünd'! Muss ich Ihnen a Buss aufgeben,
Müssens mir drei Busserl geben. —
Das kann ich nicht, das darf ich nicht,
Das will ich nicht, das muss ich nicht. —
Das müssens thun, das müssens thun,
Sonst ist die Beicht nicht giltig.
Die beiden vorstehenden Fassungen aus Niederbayern sind durch den-
selben Spruch eingeleitet, wie die von Pichler gegebene Variante aus
Innsbruck. Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat schon IY, 334 einige
Das Lied vom Pater Guardian.
439
Sammlungen angegeben, in welchen der Viervers als selbständiger Spruch
mitgeteilt ist. Diesen Nachweisungen füge ich noch bei: Des Knaben
Wunderhorn, Reclamsche Ausgabe, S. 825; Toblcr, Schweizerische Volks-
lieder, I, S. 216 und E. Meier, Schwäbische Volkslieder, S. 55 (hier in
anderer Wendung). Das Liedchen, welches sich offenbar, wie L. lobler
bemerkt, auf die Schneckenzucht der Kapuziner bezieht, hat sicher ur-
sprünglich für sich bestanden und ist erst später mit der Beichte als
scheinbar dazu passend verbunden worden. Derartige Yerquickungen
kommen ja bei Kinderliedern und anderen Gattungen der volkstümlichen
Litteratur häufig genug vor.
Eine etwas derbere Fassung der Beichte hat H. Branky im 8. Bande
der Zeitschrift für deutsche Philologie, S. 90 veröffentlicht. Der leichteren
Vergleicliung halber sei sie hier mitgeteilt:
Griess den Herrn Pater Guardian. —
Dank der Jungfer Klara. —
Was hätt' denn d' Jungfer gern? —
Beichten möcht i gern —
Was hat denn d' Jungfer g'sündigt? —
Beim Schliprament, beim Schlaprament,
Hâb i der Kâtz das Loch (oder: den Schweif) verbrennt. —
Grosse Sünd, grosse Siind,
Mein liebes Kind,
Küsse mir die Kutte! —
Die Kutte kiiss' i gar net gern,
Denn sie stinkt mir allzu sehr! —
So gib sie doch a Busserl mir,
I gib ihr zwei dafür.
Ich lasse nun noch eine französische und eine englische Fassung der
Beichte folgen. Die den Dialog begleitende mimische Darstellung ist, wie
aus den unten stehenden Angaben hervorgeht, ziemlich oder ganz dieselbe
wie diejenige, deren sich meine Mutter aus ihrer Kindheit erinnert. Die
französische Fassung, mit deren letzten Zeilen der Schluss der Wiesbadener
Variante auffallend übereinstimmt, hat Paul Sébillot unter anderen Kinder-
reimen aus der Haute-Bretagne in der Revue des traditions populaires,
VII, 231 veröffentlicht.
Frère François et Sœur Jacqueline.
On prend un mouchoir dont les coins sont arrangés sur les doigts de facon à
représenter les deux personnages; c'est alors que s'engage le dialogue suivant:
Bonjour, bonjour, frère François. —
Bonjour, sœur Jacqueline. —
Comment vous portez-vous, frère François? —
Pas mal, pas mal, sœur Jacqueline. —
Ah! frère François! j'ai commis un gros.péché! —
Çe n'est pas bien, sœur Jacqueline. Qu'est-ce que c'est? —
440
Englert: Das Lied vom Pater Guardian.
Ah! fröre Francois, je n'oserai pas vous le dire. —
Mais si, mais si, sœur Jacqueline. —
Ah! non, frère François. —
Allons, allons, sœur Jacqueline, qu'est-ce que c'est? —
Ah! frère François, je suis allée à la cohue (la halle).
J'ai acheté une queue de morue. —
Après, après, sœur Jacqueline? —
Je l'ai mise sur table: le chat l'a mangée ... —
Eh bien, eh bien, sœur Jacqueline? —
Et j'ai dit:.....Au diable le chat! —
C'est un gros péché, sœur Jacqueline, c'est un gros péché! Pour votre
pénitence, vous m'embrasserez trois fois. —
Ça ne se peut pas, frère François, cela ne se peut pas. —
Mais si, sœur Jacqueline. —
Ça ne se peut pas, ça ne se peut pas. —
Mais si, sœur Jacqueline. —
Et puisqu'il faut, il l'faut. (ter.)
En disant cela, les deux personnages s'embrassent avec frénésie.
Die nachfolgende englische Fassung aus Shropshire ist den English
Folk-Rhymes von Northall, London 1892, S. 404, entnommen.
Confession.
Father Francis and Miss Kitty are puppets formed by hooding the forefinger
of one hand in a handkerchief, to represent the monk, and that of the other in a
similar, but much smaller covering, to represent the young lady. Each wags
violently when supposed to be speaking. The performer gives the following
dialogue, using a gruff voice for the monk, and a squeaky one for Miss Kitty.
Miss Kitty. P'ease, Father Francis, I'm come to confess. —
Father Francis. Well, child, well? —
M. K. Last Easter eve 1 stole a fish. —
F. F. Well, child, well?
M. K. I put it on the dresser and the cat ate it. —
F. F. Well, child, well? —
M. K. I killed the cat for doing this. —
F. F. 0, naughty Miss Kitty, o, naughty Miss Kitty, you must do penance
for this. —
M. K. (artlessly.) Penance, Father Francis? What must I do?
F. F. (in tremendous tones.) You must kiss me three times.
M. K. (cheerfully.) 0, Father Francis, I'd rather go to Rome than kiss a
man, But if it must be so, it shall be so.
(The performer kisses the child who has been listening.)
Northall bemerkt zu dem Dialoge : „Die obige Beichte ist eine un-
schuldige Yariante einer etwas zotigen Parodie auf einen römisch-katho-
lischen Brauch. Anderwärts gesammelte Fassungen sind sehr derber Natur.
Das Spiel wird, soviel mir bekannt ist, in einigen Grafschaften als Schatten-
pantomime aufgeführt."
Kleine Mitteilungen.
441
Zum Schlüsse sei noch bemerkt, dass Frischbier in seinen Preussischen
Yolksreimen (Berlin 1867) S. 33 ein Fingerspiel mitteilt, in welchem gleich-
falls ein Mönch und eine Klosterfrau (Äbtissin) auftreten. Der Inhalt des
Dialoges ist jedoch ein anderer als in der komischen Beichte.
München.
Kleine Mitteilungen.
Sage vom Nibelungen-Land.
Dor is'n smid west, de het
Adelig Stark
heiten, de het ümmer reist un iim arbeit anspraken, öwer ümmer bi sik dacht:
wenn he doch man ken arbeit dröp.
De het denn ümmer in de wirtshiiser legen, wo väl zechbröder west siind, de
hebben em fri bollen, wenn he verteilt het
von dat Nibelungen land,
dat sali jo de ünnerirdschen ehr land sin.
Ens klimmt he in Eisenach inn krog un verteilt nu ok wedder, un de gast un
de kröger sünd all all dun un von stohl un bänk folien. Dor kümmt en antoriden
un kloppt an de dör, se sälen em apen malten. Adelig Stark seggt: „meinetwegen
soll der kriiger keine künden verlieren" un makt den frömden up.
As de rinkümmt, kümmt em dat so snurrig vor, de het son spitz uhren hatt
un dat pird is ok so sonderbor west. Den verteilt nu jo Adelig Stark ok wedder
von dat Nibelungenland. Dor seggt de: wenn he weiten ded, wo dat in Nibelungen-
land herging, denn würd he sin tid bäter anwenden, as dat he dorvon verteilen
ded; he siili man mal mit em kamen, he wull em dat wisen.
Dor geiht he mit; dicht achter de stadt is'n groten barg west, dor gahn se
rin. Dor maken se luter sarge, un up jeden sarg steiht'n nam up. Dor düdt em
de anner dat ut: „wenn en sarg farig is, denn glitt dat weg, un denn is dejenig
dod; väl von de, de dor inn krog liggen, de waken nich wedder up, de ehr sarge
sünd all farig."
Den Scheper Thomas sin sarg het he ok to seihn kregen, dat harren de lüd gor
nich wüsst, wo olt de wir, de sarg wir noch nich halw trecht west.
En von de manns sleiht grad 'n nagel in un as he den arm hoch bört, seggt
he: „nu fehlen blot noch säben." Dor fröggt Adelig Stark, wecker sin sarg dat
denn wir. Dat wir sin, seggt de anner, wenn dor noch säben nagels inslagen
wiren, denn wir dat ok farig. Dor geiht Adelig Stark rut ut'n barg un ward anners
sinns un fängt an to arbeiten; un as he all 'n por johr arbeitt het un ens morgens
füer anböten will in de smäd, dor liggen dor twei grote goldklumpen in de asch,
dor het he so bi sik dacht, dat de ut dat Nibelungenland em de tostäken harren.
Die vorstehende Sage stammt von einer in Seedorf am Malchiner See geborenen,
etwa siebenzigjährigen Frau R. in Levenstorf bei Waren, die auch sonst allerlei
442
Wossidlo:
belangreiche Überlieferungen kennt. Sie behauptete auf das Bestimmteste, diese in
ihrer Jugend von ihren Grosseltern in Seedorf gehört zu haben. Sie erzählte mir
die Sage, die übrigens auch ihre Hausgenossen bereits öfter von ihr gehört hatten,
als etwas besonders altes zuerst im August dieses Jahres. Nach längerem
Zwischenräume liess ich sie dann im September noch einmal erzählen, wobei ich
sie durch allerlei Zwischen fragen irre zu machen suchte; sie bewahrte aber fast
wortgetreu die erste Fassung.
Waren in Mecklenburg. R. Wossidlo.
Zalübezeiclinimgen und Rechtsleben.
Feilberg weist in seinem schönen Aufsatze über die Zahlen im dänischen
Brauch, oben S. 246, auf die bekannte Stelle der Snorra-Edda, welche Beziehungen
zwischen einzelnen Zahlbezeichnungen und dem Rechtsleben zusammenstellt. Ich
gestatte mir weitere Nachweisungen zu geben.
In den Gulapingslög, §§ 154, 168 wird der Begriff des flokkr = 5 Männer
darum festgestellt, weil davon die Begrenzung des flokksvig bedingt ist, also des
gemeinsam an einer Bande begangenen Totschlags. Wenn ferner Snorri ebendort
sagt: herr er hundrafr, so mag dies nicht nur, wie schon vielfach geschehen, zur
Erklärung der Bezeichnung herafî — hundari herangezogen werden, sondern es war
doch wohl der Satz ursprünglich auch für die Begrenzung des Verbrechens des
hernach-, oder des fara herskildi y fir landiö" bestimmend gewesen, wobei gleich-
giltig ist, dass andere Rechte dafür andere Zahlen bestimmend sein lassen. Nach
K. Waldemars Sœllandske Lov. II, § 32 kann „hservirkse" nicht durch weniger als
5 Mann begangen werden; nach den angelsächsischen Gesetzen Ii. Ines, cap. 13,
§ 1 spricht man von einzelnen Dieben, wenn nicht mehr als 7 Leute beteiligt sind,
von einer Bande (hlöö), wenn der Beteiligten 8—35 sind, von einem Heer (here)
aber, wenn ihrer mehr als 35 sind. Wieder andere Ziffern nennt das bayrische
und das langobardische Recht gelegentlich der herireita und des exercitus, —
immer aber handelt es sich ganz gleichmässig um die, an sich natürlich ganz
willkürliche, Feststellung einer bestimmten Zahl von Genossen, welche erfordert
werden, damit ein nur kollektiv begehbares Verbrechen als begangen angenommen
werden soll.
Der von Feilberg angeführte schottische Spruch „Ane is nane" erinnert mich
an einen ähnlichen, der in meiner rheinpfälzischen Heimat gang und gebe ist,
er lautet:
Eins ist keins,
Zwei sind eins,
Drei sind ein Rübendieb.
Er hängt offenbar mit dem in Weistümern vielfach bezeugten Rechte des
wegfahrenden Mannes zusammen, von Feld- oder Baumfrüchten etwas zu seiner
Labung oder Ernährung ungestraft an sich nehmen zu dürfen, wobei jedoch eine
bestimmte Grenze gezogen ist, bei deren Überschreitung die Wegnahme sich als
Felddiebstahl charakterisiert. Das Recht bedarf eben solcher ziffermässig bestimmter
Grenzen, wenn dessen Handhabung nicht in Willkür ausarten soll.
München. Konrad Maurer.
Kleine Mitteilungen.
443
Passionsspiele in Krain.
In den vom krainischen Musealvereine in Laibach herausgegebenen Izvestja
muzejskega drustva za Kranjsko. Izdal drustveni odbor. Drugi letnik, Y Ljubljani
1892 steht S. 110—125 ein Aufsatz von Anton Koblar über die Passionsspiele in
Krain. Da er in der (wahrscheinlich nur wenigen Lesern unserer Zeitschrift
geläufigen) slowenischen Sprache geschrieben ist, gebe ich im Nachstehenden
einen kurzen Bericht über die daselbst niedergelegten nicht uninteressanten Mit-
teilungen.
Erst Ende des 16. Jahrhunderts wurden in Krain Passionsspiele nach deutschem
Vorbilde eingeführt. Zur Abwendung der furchtbaren Pest im Jahre 1598 that die
aus Laibacher Kaufleuten bestehende Brüderschaft vom heiligen Erlöser das
Gelübde, feierliche Passionsaufführungen zu veranstalten. Ehe sie noch das nötige
Geld beisammen hatte, begannen die Jesuiten in Laibach im Auftrage des Bischofs
Thomas Chrön Passionsspiele aufzuführen. Mit dem Gelde der genannten Brüder-
schaft aber unternahmen die Kapuziner, zum ersten Male am Charfreitage 1617,
einen feierlichen Umzug, wobei auf bestimmten Standplätzen Scenen und Bilder
vom Leiden Christi und Scenen aus dem alten Testamente, die auf Christus hin-
deuten, aufgeführt wurden. Die Darsteller, die ihre Gesänge und Reden in
lateinischer und deutscher Sprache vortrugen, waren Laibacher Bürger, Handwerker
und Bauern aus der Umgebung. Unter grossem Volksandrang wurden diese Spiele
das ganze 17. Jahrhundert an den Charfreitagen aufgeführt, allmählich auch in
anderen krainischen Städten, so in Rudolfswerth und Krainburg nachgeahmt.
In Bischof-Lack nun liessen die Kapuziner im Jahre 1721 zum ersten Male
ein Passionsspiel in slowenischer Sprache aufführen. Die von 0. Romuald
verfassten (wahrscheinlich aus dem Deutschen übersetzten) Gesänge dieses
Spieles sind aufbewahrt in einer Handschrift des Lacker Archivs unter dem Titel:
Instructio pro processione locopolitana in die parasceves. Proben daraus teilt
Koblar a. a. 0. mit. Das Spiel hatte 13, bezw. 14 Scenen: Der Sündenfall, Ein
Totentanz (daneben seit 1734 die Hölle), Das letzte Abendmahl, Samson, Kreuzweg,
Geiselung, Krönung, Hieronymus, Ecce Homo!, Christus am Kreuze, Die sieben
Schmerzen Mariae, Die Bundeslade, Christi Grab. Die grosse Zahl der Darsteller
ergiebt sich daraus, dass das Kapuziner-Kloster 278 Anzüge für die Mitwirkenden
aufbewahrte.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sanken die krainischen Passions-
darstellungen auf eine immer tiefere Stufe und hatten manche Missstände im
Gefolge, weshalb die geistliche und die weltliche Obrigkeit sie immer mehr ein-
zuschränken trachteten. Durch einen Erlass Kaiser Josefs H. vom Jahre 1782
wurden sie vollends verboten und lebten seitdem nicht wieder auf.
Zu den vielen gleichsam unter der Oberfläche in unzerstörbarer Frische und
Schöne fortlebenden uralten Volksschauspielen der süddeutschen Gebirgsthäler,
die erst neuerdings geziemende Beachtung finden, gehört dasjenige zu Englmar im
Bayrischen Walde. Es gelangte in diesem, zunächst des Hirschensteins und des
Predigtstuhls in einem weiten, an grossartiger Naturromantik reichen Bergkessel
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 18H4. 30
A. Hauffen.
Das Volksschauspiel zu Englmar.
à
444
Frankel :
806 m hoch gelegenen Pfarrdorfe1) auch am jüngsten Fronleichnamsfeste, 31. Mai
1894, wiederum in Verbindung mit der heiligen Prozession dieses Tages zur Auf-
führung. Der bei der Bevölkerung, die stets viele Stunden weit, Alt und Jung,
herbeieilt, übliche Name ist „das Englmari-Suchen" (worin sich vielleicht eine
irrige Volksetymologie verbirgt). Über den Inhalt der zu Grunde gelegten Volks-
überlieferung sei Folgendes mitgeteilt: Der heilige Englmar lebte hier gegen das
Ende des elften Jahrhunderts als Einsiedler in der Wildnis und ward von einem
Dienstmanne des Grafen von Bogen — dies Geschlecht ist noch jetzt die Herren-
familie der Gegend — unverdienterweise erschlagen. Der Leichnam des frommen
Mannes wurde bei Gelegenheit einer gräflichen Jagd entdeckt und in feierlichem
Zuge auf einem ochsenbespannten Wagen fortgeschafft. Auf demselben Flecke,
wo die jetzige (katholische) Pfarrkirche des Ortes steht, machte das Gefährt
urplötzlich halt, woraus der Graf das Zeichen entnahm, dass daselbst der Leib des
gottgefälligen Eremiten zur Ruhe bestattet werden solle. Und so geschah's: es
erhob sich bald ein Kirchlein und binnen kurzem rings herum das nach dem
Ermordeten benannte Dorf.
Dessen Insassen nun, sowie die Mitglieder der ziemlich weit ausgedehnten
Pfarrgemeinde verleihen seit langer Zeit ihrer Verehrung für den Heiligen damit
würdigen Ausdruck, dass sie der hergebrachten dramatischen Darstellung der Auf-
findung, Bergung und Bewahrung der Leiche mit ihren Angehörigen beiwohnen.
Es erscheinen auf der ganz einfach eingerichteten Bühne in der Tracht des elften
Jahrhunderts, wenn auch mit einiger stark moderner Verbrämung, der Graf von
Bogen mit einem Prinzen und etlichen Knappen, seinem Burggeistlichen und dem
Junggrafen, allesamt zu Pferde, der Prälat von Windberg nebst Gefolge, ein Jäger
mit dem Leithunde der Meute und zwei Knechte, die den mit zwei besonders
kräftigen Ochsen bespannten grün angestrichenen Englmari-Wagen lenken. Der
ganzen Gesellschaft voraus geht ein Engel mit goldglitzerndem Stabe. Die berittenen
Männer und Jünglinge der Pfarrei kommen auf ihren besten prächtig gezierten
Pferden von allen Seiten herbei und setzen sich zwei und zwei an die Spitze des
Zuges; in diesem Jahre überstieg die Zahl der teilnehmenden Reiter das halbe
Hundert. Die Fronleichnamsprozession schliesst sich dem so gebildeten Zuge
unmittelbar an. Am Fusse des Hügels, wo eine aus Holz sauber geschnitzte Statue
des heiligen Englmar unter einem Felsblock im Gebüsche versteckt ist, angelangt,
verlässt der Engel seinen Platz, erklimmt den Felsen und zeigt mit hoch erhobener
Rechten an, dass hier der Märtyrer gefunden werde. Sogleich eilt der Jäger mit
seinem Rüden nach der angedeuteten Stelle, schiebt die verhüllenden Tannenästlein
beiseit und holt den gesuchten Körper hervor. Dann begiebt er sich spornstreichs
zurück und verkündet es dem Grafen, der allsobald vom Pferde steigt und mit
seiner Begleitung nach dem Fundorte geht, um sich daselbst auf die Knie zu
werfen. Darauf erteilt er Auftrag, den Leichnam zum Wagen zu bringen, und
besteigt, nachdem dies geschehen ist, wieder sein Tier, worauf die Prozession
ihren Fortgang nimmt, als ob nichts sie unterbrochen hätte. Nur wird die Statue
des Heiligen mitgeführt, nach der Ankunft an der Pfarrkirche in diese unter feier-
lichem Ceremoniel der sie geleitenden Personen der Handlung hineingeschafft und
auf einer eigens dazu zugerüsteten Estrade niedergelegt.
Die unübertrieben paradiesischen Reize der Gegend scheinen leider auch schon
der Spekulation anheim zu fallen, und damit dürfte wohl auch für die Un-
1) Baedekers „Süddeutschland" erwähnt in der letzten (59.), dem Bayerischen Wald
gewidmeten Route neben dem Predigtstulil zwar „am Fusse des letzteren in hübschem
Thal das Pfarrdorf Entjelmar [so!]", aber nichts von dem Spiele.
Kleine Mitteilungen.
445
gezwungenheit und den ererbten Charakter des Englmari-Suehens das Schicksal
besiegelt sein. Wenigstens berichtet ein genauer Kenner der Verhältnisse nach
Abhaltung der diesjährigen Feier1): „Die Vorführung dieses mittelalterlichen Spieles
lockt jährlich mehrere Tausende von Fremden aus Fern und Nah heran, welche
damit zugleich eine der herrlichsten Touren im bayerischen "Waldgebirge verbinden ;
denn es dürfte wenige Plätze geben, die sich einer solch würzigen Luft erfreuen.
Die wundervolle Lage am Beginne eines von frischen Quellbächen durchzogenen,
saftig grünen Thaies und rings umgeben von herrlichsten Hochwaldungen, teilweise
aber einen Ausblick gewährend auf die Donauebene und hin bis zum Hochgebirge,
haben Englmar seit Jahren zu einem klimatischen Kurort gestempelt, dem eine
grosse Zukunft gesichert sein dürfte."
Da zufolge der Eigentümlichkeit des Volksschauspiels von Englmar die
Pantomime den ganzen sich rasch abwickelnden Vorgang beherrscht und ein
eigentlicher stereotyper Text der wenigen gesprochenen Teile gar nicht vorhanden
zu sein scheint, wird es trotz der hohen Altertümlich- und Selbständigkeit wohl
bald seine durch Jahrhunderte erhaltene Art einbüssen. Damit tritt dann ein
Brauch aus der Welt, der bei aller religiösen Einkleidung doch etwa Reste
heidnischer Natur-Anbetung gerettet haben mag.
München. Ludwig Fränkel.
Teufelssagen aus Oberkärnten.
Niedergeschrieben von Georg Nageler, vulgo Zlanig Görgl (f 1860).
Der Teufel ist des Nachts gern bei den Weibsbildern; da wurden ihm seine
Flügel gestohlen.
Nun geht der Handel an, wie der Lucifer dem Dieb die Flügel wieder abkaufte.
Teufel. Gieb her meine Flügel oder es geht dir schlecht!
Dieb. Ich gieb sie nicht.
Der Teufel geht fort, es steht nichts an, kommt er wieder und will seine
Flügel haben, es gelingt aber nicht. Nun wird es höchste Zeit zum Abmarschieren,
indem es um das Hahnenkrähen ist.
Teufel. Gieb mir heraus meine Flügel!
Dieb. Was giebst mir hierfür?
Teufel. Was muss ich dir geben?
Dieb. Drei Dinge musst mir versprechen: 1. Bei meinen Weibsbildern sollst
du nichts mehr zu thun haben.
Das wollte ihm der Teufel am wenigsten versprechen, aber was wollte er
machen? Zeit zum Abkratzen hatte er auch schon, und so versprach ers ihm.
2. In meiner Sterbestunde keine Anfechtungen und 3. einen Scheffel Dukaten.
Teufel. No gut, so sollst du auch diese Bedingnisse haben.
Der Teufel so flink brachte ihm das Geld und warf es bei der Schafstallthür
hinein.
„Jetzt hast du deine Sachen, gieb mir nun auch meine Flügel heraus!"
Dieb. Hier sind sie.
Und der Teufel nahm sie und flog davon, war von kastanienbrauner Farbe
und von hoher schlanker Statur.
1) Münchener Neueste Nachrichten vom 9. Juni 1894, Seite 9. Obige Mitteilungen
bestätigt mir die alte aus der Gegend stammende Witwe Joseiine Dietrich in München.
30*
4 4P)
Nageler:
Der Mensch hatte die grösste Freude mit dem Gelde und wollte es einpacken.
Aber da er sich buckete, begriff er Rossknollen.
Ach, dachte er sich, ich werde zur Besichtigung und Überzeugung der Haus-
leute solche Knollen einstecken. Wie er in das Haus gekommen, erzählte er die
ganze Begebenheit und wollte den Hausgenossen die Knollen vorweisen, und siehe
da! er hatte zwei oder drei funkelnagelneue Dukaten in der Hand. Auf dieses
geht er hinaus, auch die übrigen zu holen, es war aber weder Knollen noch Geld
zu finden.
Der Teufel reitet auf einer roten Sau des Nachts nach Untermberg bei Zlan.
Es war an einem. Samstag nachts, als ein Bursche von Stockenboi zum Pichler
nach Untermberg zu seiner Geliebten ging. Da er über den Wirtspichel (= bühel)
heraufgekommen auf die Wirtsebene und gemächlich geht, hört er ungefähr im
Foijanfelde zu Widerschwing') jemand jauchzen. Er erwidert es und geht seines
Wegs. Über ein paar Augenblicke hört er es abermals, es kommt ihm verdächtig
vor, und die Haare steigen ihm zu Berge, denn es war, als wäre der Jauchzer
schon beim Unterkolser '). Voll Entsetzen eilt er die ziemlich steile Bezirksstrasse
hinan, und während er den Stonig3) in Untermberg erreicht, jauchzt dei- andere
schon auf der Wirtsebene. Kaum erreicht der Bursch die Weghorn-Badstube,
jauchzt der andere schon beim Stonig, und nun wagt er nicht mehr, den Pichler
zu erreichen, sondern fällt hinter die Dachtraufe der Badstube hinein. Währenddem
eilt der Teufel auf einer roten Sau dort vorbei, dass die Funken stoben. Der
Bursch war ganz ohnmächtig vor Schrecken und musste bis auf den andern Morgen
dort liegen bleiben, wo dann die Kirchleute an ihm das Pflichtgemässe erfüllten.
[Eine ganz ähnliche Aufzeichnung hat der Zlanig-Görgl nach der Erzählung
eines alten Knechts Michel am Hochegg (zwischen Zlan und der Egger Alm)
gemacht, der auf der Rückkehr von seinem Dierndle, das er beim Krassnigg
in Tragail besucht hatte, von einem solchen Jauchzer verfolgt worden ward.
Erschöpft war der Michel an einer Fichte niedergefallen und hatte gehört wie der
Verfolger neben ihm mit den Füssen krampete (kratzte), als wäre es ein Pferd.
Er war auf dem Bauche liegen geblieben, und hatte sich erst nach Sonnenaufgang
heim zu gehen getraut. Neben ihm war ein grosses Loch gekratzt.]
Ein noch jetzt lebender bejahrter und bereits blinder Knecht, der der Mutter
unsers Knechtes Matthias gehörte (ihr unehelicher Sohn war) hat erzählt: Er ging
einmal des Nachts zu seiner Menschin und da er das Haus erreichte, sah er etwas
an der Kehrichtgrube herumgraben, es war wie ein Mensch, aber über eine kleine
Weile klapperte es ohne Leiter oder Stiege als wie eine Katze den Gang hinauf
zu den Kammern der Menscher. Es war der Teufel.
Obwohl dem Knecht die Haare zu Berge stiegen, wagte er nachzusehen, was
der Ganggerl an der Kehrichtgrube gethan habe, und sieh da, er fand zwei Breteln,
nahm sie und sprang eilends in den nahen Schafstall. Als er kaum mit dem
zweiten Fusse die Thürschwelle übertrat und die Stallthür noch nicht zugemacht
hatte, fuhr ihm der Teufel mit seinen Krallen den Rücken hinab. Glücklicherweise
konnte er ihn aber nicht mehr erhaschen.
Unter der Dachtraufe hat der Teufel niemals Macht, viel weniger in einem
Hause oder in einem Stalle, namentlich darin sich kein schwarzes Schaf befindet.
1) Bauernhuben Zlan gegenüber, jenseits des Weissenbach oder Stockenboier Graben.
2) Name einer Hube in Widerschwing.
3) Eine Keusche (kleines Haus) nach dem Besitzer genannt.
Kleine Mitteilungen.
447
Ein Bueb, der des Nachts zu seiner Gütsche (seinem Mädchen) ging, musste
über eine Wiese gehen, wo Pferde zur Weide waren. Er hatte sich angewöhnt,
eins der Rosse zu nehmen, um rascher und leichter den Weg zu machen. Einmal
wollte er diese Bequemlichkeit wieder gebrauchen, aber er ritt weit lustiger als
alle vorigen Male, er hatte ein unrechtes Ross erwischt. Das galoppierte mit ihm
so aus, dass es ihn auf schauderhaft hohe Felsen trug, und über mehrere Tage
fand man ihn ganz zerstückt am Fusse jener Wände. Die Zahl der Rosse auf
der Weide war die richtige und man konnte nicht sagen, welches er geritten hatte.
Jenes Cavali soll sich in einen Teufel umgewandelt haben.
Die richtigen Pferde sollen inwendig der vier Füsse Warzen haben; welchem
diese fehlen, das soll ein Teufelsross sein.
[Der sittenpolizeiliche Charakter dieser Teufelsagen sei nur angedeutet. K. W.]
Segen und Gebräuche des XVII. Jahrhunderts aus der Schweiz.
Ausgezogen aus: Bericht Von dem abergläubigen vnd verbottnen Leüth- vnd
Vychbefägnen, vnd etlich dergleichen Zauber-Rünstlein: Als von widerbringung
geftolner oder verlohrner fachen: Von Waaffen-falben: vnd dergleichen fürwitzigen
Stücklein: Alles außfiihrlich, mit guten gründen H. Schrifft, vnd bewährter Authorn:
Auch mit waarhafften vnd denckwirdigen Gefchichten vnd Exemplen, dargethan
vnd erwiefen, desgleichen vorhin nie in Truck außgangen: Zusammen getragen
vnd geftellt durch Rüdolff Gwerb Diener der Kilchen Meilen, am Zürich-See.
Getruckt zu Zürich, Bey Hans Heinrich Hamberger. In Verlegung Michael Schaufel-
bergers, 164(5.
Das V. Capitel.
Wer die Sägnen gebrauche, vnd mit was Worten vnd Ceremonien
sie gebraucht werden.
Seltzamme Charakteres.
Es werden gebraucht frömbde Charakteres, das ift, geheyme vnd verborgne
zeychen vnd deüttungen, dreyer creützen, vier büchstaben, gleycher reymen, vngrader*
zahlen vnd was dergleichen mehr.
Wunderliche formen vnd wort in den Sägen.
Lieber hör doch zu, vnd betracht was für wol gereymter vnd bequämer Worten
lie zu der fach gebrauchen! Biß Gott Willkomm du H. Sonntag: Morn ift Monntag:
Heut ift ein heiliger Tag: Jetz gieng Chriftus, oder fein Mutter, oder fanct Peter,
oder ein anderer Heiliger, durch einen Wald, bald vber ein Yeld, jetzt vber ein
breyte, bald vber ein kleyne Heyd, jetz berg auff, bald berg ab. Jetz wird Chriftus
wund, dann vergiesst er fein bliit. Jetz muß man den fägen drümahl fprächen,
bald neün mahl: Jetz drey ftund, dann drey tag nach einandere. Jetz müss es
gefchehé am morgen vor der Sonnen auffgang, vor oder nach der Bättgloggen,
oder weyl es leüthet, vmb mittag oder vmb mittnacht. Jetz muss es sein Char-
freytag, oder hoher Donnstag, Zinstag oder Mittwochen: Der Monn foil obfich oder
nidsich gehen, bald fchweinen, bald wachfen, jhe noch dem der fehaden zu, oder
abnemmen fol. Jetz sol es in Martis, dann in Saturni oder eines anderen planeten
ftund geschehen.
ài
k.
448
Singer :
Der kranck muís auch etwas fprächen.
Jetz muß der Patient dires, bald jehnes fprächen, oder es ift ein Vych oder
Thier, Co muß es Tein Meifter in feinem nammen verrichten. Jetz reden fie leiß,
bald lauth, oder mit halb gebrochner Stimm, von fünff wunden Christi, von feinem
Blut vnd Tod, in der drey höchften Nammen, fo wahr, als Maria die Jungfrau ein
Kind gebahr ....
Jetz befchweert vnd verbannet mann den fchaden oder gebrästen, in die hünd
vnd katzen, vber güggel vnd tauben, vnd ander fchmal Vych: jetz in die fehre,
dann in die nähe: jetz in die heytere, dann in die dünckle: jetz in die weyte, bald
in die änge. In fumma vber wasser vnd land, vber berg vnd thaï, fol weychen
all vnfall. Jetz foil wach fen was man ficht, vnd fchweynen was mann greyfft.
Per kryfen, per kräfen foil der kranck genäfen. Die heürig kiih. vnd färndrig Kalb,
crafon vnd mafon, bock vnd geyß, muß auch an den fchweyss.
Vmb Gottes willen Häufchen.
Hie muß man karren-falb vmb Gottes willen liäüfchen, dort ein tappen,
anderftwo ein Lucerner fchilling, hie ein zweyerli, dort ein creützerli, vnd dann den
Schaden darmit vberftrychen vnd reiben. Das muß man thun mit gwüssen worten ;
difes ohne reden.
Ohne reden gahn.
Auff dem wäg fol man niemand grüffen, weder glitten abend, noch gilt nacht
wünfchen, auch dem grüffenden nicht dancken, vnd dergleichen ftempeneyen.
Villerley feltzamme gebrauch.
Da muß kath vnd außkehreten hinder dreyen thüren, in der drei höchften
Nammen gesamlet, oder drey knöpff oder knoden von weyden genommen, aufl' ein
glüt gelegt, vnd der Schaden mit fprächung gwüsser worten, darmit beräüchet
werden. Jetz muß mann drey hand voll korn auff dem Kirchwäg, im Nammen der
H. Dreyfaltigkeit abfchneiden, vnd ein fchwach beinig Kind, darinn baden. Jetz
in drey häüiferen habermähl im Nammen Gottes, des Vatters, Sohnes vnd H. Geist
bättlen, vnd vber ein krancke hufft vnd seyten rörten, bachen vnd schwüffen.
Wunderliche Ceremonien.
Da werden gebraucht wunderliche Ceremonien, mit anrühren, mit greiffen vnd
ftreichlen, mit deüten und wincken, mit fpäutzen, mit murmlen vnd flißmen, vnd
was dergleichen äffen- vnd narrenspils noch mehr ist.
Ceremonien bey dem Yych besägnen.
Jetz muß der Sägner oder Lochßner den fchaden vberfahren mit der hand : das
Tchweyn nemmen bey dem linggen bein: den ochfen bey dem rechten fuß: die küh
bey dem fchwantz: ein pferd bey dem kopff, vnd denselben etwas zauberischer
worten eynkuchen vnd blaafen in die ohren: oder fonderbare, mit gwüssen zeichen
vnd worten, in Jungfraw pergament, verfchribne zädel, anhencken, vnd vber den
fchaden binden.
Verfägneter zädel.
Einsmals ift mir ein folicher zädel zur hand kommen, darinn nebend etlichen
creützen, gantz vnbekannte Characteres vnd zeichen, fampt etlichen abfchewlichen
nammen der Teüfeln gefchriben waren, doch also alt vnd verblichen, daß mans
deütlich nicht mehr fehen vnd läsen können, was alles darinn verzeichnet ftunde,
vnd folicher zädel folte einem vych, das hùfffchweinig war, oder den wurm hätte,
vmb das bein gebunden vnd dardurch geheilet werden.
Kleine Mitteilungen.
449
Ein newe gattung Yych zeheylen.
Vnd cías nicht zuverfchweigen, fo hat der leydig Teufel ein newe Gattung
Vych zuheylen, auff die bann gebracht, darvon einift die alten Zauberer vnd Sägner
nichts gewußt. Wenn ein kuh, rind oder ander vych räudig ift, oder fonft ein
gepräften hat, l'o folle der Hirt (ohne zweyfel nicht ohne murmlung gwüsser, aber-
gläubiger worten) vnd dann fürhin ein jeder demCelben Hauptvych feinen nammen
enderen, vnd ihns anderft als vorhin, benennen, fo werde es fein vorige gefundheit
wider erlangen.
Ein theil Hebammen brauchen Sägen.
Etliche feind fo fürwitzig, daß fie in aller noht der gebärenden, jhren Ehmann
beriiffen, denfelben jhro an den rucken ("teilen, vnd fie umbfallen, vnd drii mal
fprächen heiffen: Im nammen Gottes des Vatters, Gottes des Sohns, vnd Gottes
des heiligen Geifts etc.
Das VII. Capitel.
Von etlichen andern abgläubifchen zauberifchen Sprüchen vnd Künsten.
Lochfsnen oder Loosen.
Ein gleiche Gestalt hat es jetz auch mit dem Lochßnen oder loosen. Dann
Lochßnen kommt har von dem wort loosen.
Fürwitziges Loosen.
Als da fürwitzige Leüth, Gott dem Herren in sein kunft kammer greilfen, vnd
ehezeit erfahren wollen, ob jhnen der oder die, zu ihrem Ehgemahl werden folle.
Legen fich an S. Johannes abend, oder an S. Andrefen nacht ins bette, auff ein
gwüffe feyten, mit bfonderen Ceremonien, worten vnd fprüchen: oder legen zädeli
mit gwüffen Charakteren vnd der geliebten Nammen vnder das haupt.
Andareßlen.
Es hat mir ein glaubhafl't Weyb erzellet, daß auff ein zeit jhr magt die fürwitz
geftochen, daß l'ie auch geandereßlet habe (also nennts diß gfindle) es l'eye aber
fehier vbel abgeloffen; dann der Teüfel leibhaft kommen, mit groffem brafchlen
vnd getöß, vnd noch dem fürwitzigen Menfchen ein meffer geworffen, daß wenn
fie nit durch Gottes groffe gütigkeit vnd fchickung abweichen können, fie von jhme
were getroffen vnd verletzt worden.
Das IX. Capitel.
Die ander vrsach des Befägnens, nemmlich dem Ichaden oder vbel
abzuhelffen.
Leüth und Yych haben befondere Sägen.
Alfo daß fonderbare Sägen hat der Menfch, fonderbare das Vych, ein fonder-
baren das pferd, ein l'onderbaren ein geiß, ein fonderbaren das fchweyn, vnd alfo
das andere Vych vnd Thier fortan.
Ein fonderbaren Sägen fpricht man für den wurm, ein anderen für die Hacken
im aug, ein anderen haben die fchoß, ein anderen der brand, ein anderer wirt
gebraucht für wunden, für blüten: vnd was für kranckheiten mehr sind.
450
Singer:
Gmeine Sägen.
Ein gemeine Sägensform ift das: Im Nammen Gottes des Vatters, des Sohns
vnd des H. Geifts, des S. Antoni, vñ S. Michaels. Item Gott der Yatter nehre
dich: Gott der Sohn genehre dich: Gott der H. Geift die gefundheit befchehre dir;
S. Michaël vnd S. Balchi das vbel kehren von dir. Deßgleichen: Es ift kaht, vnd
vergaht etc.
Sonderbare Sägen.
Difer zeyt, ift bey einem großen Theil der Weybern kein gebräuchlicherer
Sägen als der Sägen für den Edticken (ift ein außdeerende oder färwende kranckheit
an den Kindern) wenn ein Mutter ein Kind hat, das den Edticken hat, oder sonst
ein Särwlig ift, vnd nicht driihen wil, da muß des kinds Mutter jhr Kind drey
Sonntag nach einandren, vnd an einem jeden Sonntag drümal, auffert das Haus
tragen vnder den freyen Himmel, wenn der tag anbricht, vnd die Sonn aufgehen
wil, vnd alßdann gewüfl'e abgöttifche wort fprächen.
Sägen für das Feh er.
Einsmals gab ein Zauberer oder Befägner, einem der hielte Sambucus '), wider
das Feber, darmit er behafftet war, einen folchen Sägen im Papyr anzuhenken:
Deus falvet vos Sambuco, Panem et fai vobis adduco: Febrem tertianam, et
Febrem quotidianam accipiatis vos, quia nolo.
Item, ein anderer Sägner, gab einer Frawen mit naminen Johanna, einen Zädel
für das viertägig Feber anzuhencken:
Domina Johanna, De Febre quartana: Det Deus vobis malum annum, Et
malam feptimanam.
Sägen für mancherley anligen.
Dolet tibi caput, quod tibi dolere folet, Dolor tibi accidat, et Uli qui tibi bene
favet Dolent tibi oculi, dolent tibi dentes: Dolet tibi corpus, fimul et venter. Vadas
ad mare et facias te incantare, Et centum dsemones te poiï'unt afportare.
Zahn Sägen.
Jab -{* Ora fon -j- Crapfon -}*
Corpanifis -j- Cornobion f
4-
T
Jab 7 f
J-
1
Über den "V erfasser dieser Schrift, aus der ich im obigen einiges volkskundlich
Interessante ausgehoben habe, meldet Leu's Schweizerisches Lexikon IX, 366 das
folgende: Er (Rudolf Gwerb) war anno 1618 Pfarrer zu Kessweilen, anno 1620 zu
Bettschwanden, und anno 1624 zu Meylen, und ist anno 1675 gestorben, und hat
im Druck hinterlassen: Klag und Trostliches über die Herren von Rahlingen anno
1) Dies ist jedenfalls ein Missverständnis: Vielmehr geht der Kranke zum Hollunder,
vergräbt unter seinen Wurzeln Brod und Salz und wünscht ihm die eigne Krankheit an.
Die folgenden Segen sind allerdings Verwünschungen.
Kleine Mitteilungen.
451
1634. Der Krieg selbst oder Beschreibung der schweren Land-Straf des Kriegs,
Zürich anno 1641. Von dem Zorn ibid. eod. Von dem Leuth- und Veich-
Segnen etc., Zürich anno 1646. Trostgründe für schwangere Eheweiber, Zürich
anno 1657. Legenda pie defunctorum, Zürich anno 1658. Gebätter in den Schulen
und Schul-Sazungen, Zürich anno 1658.
Bern. S. Singer.
Aus der Gegend von Sausal in Untersteiermark.
Im Munde des Volkes lebt die Sage, dass die Seele eines Ertrunkenen so
lange auf der Erde wandeln müsse, und zwar nicht weit vom Orte, wo der Mensch
ertrank — gewönlich in einem. Kreise von einer Stunde — bis sie einen Menschen
verlocken kann, dass er ebenfalls ertrinkt. Dann ist die Seele des ersten Er-
trunkenen gerettet und auf gleiche Weise muss es die zweite versuchen. Die
Seele wandelt nämlich als ein Lüftchen neben den Gewässern auf und ab, und
sucht so den Menschen, welcher an diesen Ort kommt, in irgend einen Sumpf oder
ein Wasser zu locken.
Eine andere Sage spricht \ron der „Lânwâbl"1), welche sich ebenfalls bei
den Gewässern aufhält. Sie sucht die Menschen irre zu führen und verschwindet
dann mit Gelächter. Auch setzt sie sich manchmal rückwärts auf den Wagen
eines Fuhrmanns, dann können die Pferde nicht mehr weiter, bis der Fuhrmann
mit der Peitsche ein Kreuz auf den Wagen schlägt. Ihre Stunde ist von 11 bis
- 12 Uhr nachts.
Eine andere Volkssage ist, dass die Seele der Verstorbenen um die Mitter-
nachtsstunde zu ihren guten Freunden komme und „sich anmelde", welches durch
ein Pochen am Fenster geschieht, wo dann die Leute sogleich den Tod eines
Freundes vermuten.
Auch erzählt man, dass die Muttergottes die Häuser um die Mitternachtszeit
besuche, weswegen der Herd rein gehalten und nicht vollgestellt werden soll, oder
wenigstens sollen die Sachen nur in den Winkeln gestellt sein, damit sie nicht
darüber böse werde und vom Hause weiche, wo dann allerlei Unglück hereinbricht.
Auch wenn ein Tisch knistert, oder wie sich das Volk ausdrückt „kneistet", ist
dies ein Zeichen, dass die Muttergottes darauf herumgeht.
Man erzählt auch, wenn man sich in der Christnacht um die Mitternachts stunde
auf einen Platz hinstellt, wo sich zwei Wege kreuzen, dass der Teufel, „der böse
Feind", komme. Man stellt sich in einen Kreis, soweit man ihn mit der Hand
bezeichnen kann; in diesem Kreise kann der Teufel den Menschen nichts anhaben;
tritt er aber heraus, so wird er sogleich vom Teufel gepackt. In dem Kreise kann
der Mensch alles begehren, was er will, Geld oder eine Nebelkappe, womit er sich
unsichtbar machen kann, oder was immer. Der Teufel sucht ihn aber auf alle
mögliche Weise herauszutreiben; bald wirft er grosse Steine oder Felsen auf ihn
oder fährt mit einer glühenden Stange auf ihn zu oder lässt grosse Bäume auf ihn
zu rollen. Aber alles dieses kommt nur bis zum Kreise hin, trifft also den
. Menschen nicht, sondern es sind bloss Schreckmittel. (1853 aufgezeichnet.)
1) Bachbarltara, lân-lain Bach (Scbmeller, Bayr. Wb.a, 1, 1477), Wähl Koseform von
Barbara.
452
Weinhold:
Aus der windischen Steiermark.
In dem Reiffmger See am Bachergebirge ') haust ein Drache. Reizt man
denselben durch Steinwürfe in das "Wasser, so straft er durch Gewitter.
Wirft man einen Stein in den See am Globoki Vrh (eine der grössten Er-
hebungen des Bacher), so taucht der Wassermann empor und wäscht sich in der
Luft die Hände. Sofort ziehen die Nebel heran und ein Donnerwetter folgt. Der
See am Globoki Vrh und die schwarzen Seen auf der Weitensteiner Planiti a (der
Hochalpe des Bacher) heissen Fenster oder Höllenfenster.
Die grosse Schlange, die von der Drau über den Vorrücken des Zmolnik zur
Lobnitz hinter Vivats Glasfabrik und von dort wieder zurück kriecht, wollen Glas-
arbeiter noch jetzt oft im Sommer gesehen haben.
(Nach der Grazer Zeitung, 1855, No. 208).
Sclilesische Sagen.
Die weisse Frau.
Von der weissen Frau, die erlöst sein will, und die sich in alten Burgen oder
auf Burgbergen zeigt (vgl. in Kürze E. H. Meyer, Germanische Mythologie, § 367)
erzählt man auch in Schlesien.
Im siebenjährigen Kriege stund einmal ein Soldat auf dem Burgsberge bei
Peterswalde (Kr. Reichenbach) Wache'-). Da ist eine weisse Jungfer zu ihm
gekommen und hat zu ihm gesagt: „Ich gehe jetzt wieder fort und komme bald
als eine Schlange zu dir zurück. Nimm dann eine Haselgerte und schlage mir
damit auf den Schwanz. Wenn du so thust, soll es dein Glück sein; thust du's
aber nicht, wird es schlimm werden." Der Soldat hat alles versprochen. Aber
als nun die Schlange aus den Sträuchern herauskriecht und auf ihn zukommt,
nimmt er eine Birkengerte. Da kriecht die Schlange fort. Die Jungfer aber ist
wiedergekommen und sehr böse gewesen und hat ihm gesagt, er müsse ja die
Haselgerte nehmen, wenn die Schlange wieder erscheine. Der Soldat hat es aber
auch jetzt nicht gethan. Da hat ihn die Jungfer sehr schön gebeten, dass er
gewiss den Haselzweig nehme, wenn sie auch weit fürchterlicher erscheinen müsse
als vorher. Die Schlange kommt nun sehr böse und schrecklich heran, und da
fürchtet sich der Soldat und läuft den Berg hinunter. Die Jungfer hat da die
Haselgerte genommen und in die Erde gesteckt und gesagt: „Aus dem Baume, der
hieraus wächst, wird die Wiege gemacht werden, in der mein Erlöser liegen wird",
und sie ist sehr traurig fortgegangen.3) (1846 aufgezeichnet.)
Eine nahe verwandte Sage wird vom Ottenstein erzählt, einem schon auf
Gläzischer (Hausdorfer) Seite unter der Sonnenkoppe liegendem Felsen, auf dem
bis in den Anfang des 19. Jahrh. ein Jagdschlösschen stand.4) Sie ist in den
Hauptzügen in den Schles. Provinz. Bll. 1865, S. 162 mitgeteilt.
1) Das mächtige 17 Quadratmeilen umfassende Gebirge, das die Wasserscheide
zwischen Drau und Sau bildet.
2) In den letzten Jahren des siebenjährigen Krieges lagerten die Österreicher zu
Zeiten auf dem Eulengebirge.
3) Etwas entstellt (aus der Jungfer ist ein Burggeist gemacht!) erzählt in den Neuen
Schles. Provinzialblättern 1865, S. 558.
4) Ich habe als Knabe noch die gut erhaltenen Grundmauern gesehen und von einem
alten Herrn damals erzählen hören, dass es ein Jagdschloss war, in dem er selbst zu Gaste
war, das ist zu Ende des 18. Jahrh. gewesen.
Kleine Mitteilungen.
453
Auch in den Ruinen des alten herzoglichen Schlosses in Frankenstein
erschien eine weisse Frau, die von dem, den sie dazu erwählt, nicht erlöst wurde.
Auch sie bestimmt, dass aus einer kleinen Birke, die in den Mauern spriesst, die
Wiege ihres künftigen Erlösers gemacht werden solle. (Schles. Provinz. Bll. 1873,
S. 183 f. Von mir auch mündlich aufgenommen.)
Der letzte Zug gehört der Sage von Adam und dem Kreuzholze an.
Mittags (nach andern Mitternachts) um 12 Uhr erscheint auf dem Hessberge
bei Kolbnitz (Kr. Jauer) eine weisse Jungfer, die erlöst sein will.
Ein Knecht aus Hermannsdorf ging täglich bis zur siebenten Station des
Kreuzweges, der zu der Kapelle auf dem Gipfel des Hessberges führt, und ver-
richtete seine Gebete. Öfter sah er eine weisse Gestalt, die sich ihm zu nähern
suchte. Endlich kniete sie eines Tages neben ihn nieder, während er betete, und
sagte ihm, er könne sie erlösen; nur müsse er sich nicht fürchten, denn sie werde
als Schlange kommen. Aus dem Gebund Schlüssel, das sie im Rachen haben
werde, müsse er den goldenen herausnehmen; mit diesem solle er eine Thür auf-
schliessen, die er sehen werde, und dann werde er sehr reich werden und sie sei
erlöst. Der Knecht versprach zu kommen. Er ging zuvor zum Pfarrer und sagte
ihm alles. Der riet ihm, zu thun wTas er versprochen hatte. Der Knecht aber
ging zuvor zur Beichte und zur Kommunion. Aber als er auf dem Berge war,
und die Schlange mit Getöse heranbrauste, erschrak er so, dass er ohnmächtig
wurde. Er hörte wie die Schlange klagte, nun müsse sie wieder fünfzig Jahre auf
einen Erlöser warten. Die fünfzig Jahre sind aber bald um.
Ein fünfzehnjähriges Mädchen aus Kolbnitz hat die weisse Frau schon wieder
an einer Station knieen sehen, und auch ein anderes Mädel sah sie.
Ein alter Förster aus Kolbnitz ging auf den Hessberg. Da sah er oben ein
prächtiges Schloss aufgebaut, das er noch niemals gesehen hatte, wie genau er
auch den ganzen Berg kannte. Vor dem Schlosse lag ein Hund. Der Förster sah
durch die Fenster hinein und erblickte viele Kisten. Da hieb er in die Bäume
ringsherum "Waldzeichen, um die Stelle sicher wieder zu finden und ging zu seinen
Holzhauern, sie zu Hilfe zu holen. Als er mit ihnen zurückkam, konnte er aber
weder die Waldzeichen noch das Schloss wieder finden.
(1865 in Kolbnitz gehört.)
Die Jungfer vom Zangenberge zwischen Schwerta und Marklissa am Queiss
gehört auch zu den weissen Frauen, die erlöst sein wTollen, liegt aber über der
schlesischen Grenze in der alten Oberlausitz. (Sagen von ihr bei K. Haupt, Sagen-
buch der Lausitz, No. 168, und W. Schwartz in den Niederlausitz. Mitteilungen 1893.)
Nach mir vorliegenden aus Schwerta stammenden Überlieferungen hatte ihr Vater,
der Burgherr vom Zangenberg, sie verwünscht, weil sie den ihr bestimmten Mann
nicht heiraten mochte. Sie muss nun so lange scheuchen (schëchen), bis sie ein
Jüngling erlöst, der sie über den am Berge vorüberfliessenden kleinen Bach hebt.
Wer das unternimmt und nicht vollbringt, wird auch verwünscht. — Nach den
meisten Berichten erscheint sie am heiligen Weihnachtsabende, nach einem anderen
zu jeder Tageszeit. — Zwei Männer, die über die Geschichten von der Zangenberg-
jungfer immer gespottet, machten sich in der Christnacht auf, um zu sehen, was
daran wahr sei. Der Berg war offen, aber nur einer traute sich hinein. Doch
bald kam er matt und elend heraus und starb wenige Tage nachher. Was er
drinnen sah, hat er keinem sagen mögen.
In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts, als noch die Thore der Stadt
Reichenbach i. Schi, bestunden und zur Nachtzeit geschlossen wurden, klingelte
es einmal nachts an dem BYankensteiner Thore. Die Frau des Ratsdieners, der
454
Weinhold:
zugleich Thorwärter war, kam um zu öffnen, aber niemand schritt herein, und als
sie hinaustrat, um sich nach dem Klingler umzusehen, sah sie, wie eine gross-
mächtige weisse Frau nach dem Graben der Breslauer Schanze verschwand.
Weiter draussen in der Frankensteiner Vorstadt steht eine Pestkapelle unter
hohen Linden. Dort zeigt sich in den Adventnächten ein feuriger Mann: auch ein
Hund ohne Kopf, der den Leuten aufhockt.
Frau mit Kind in der Berghöhle.
Verbreitet ist in Schlesien die Sage von der armen Frau, die zu heiliger Zeit
(Weihnacht, Ostern oder Charfreitag unter der Passion), ihr Kind auf dem Arm,
in eine während kurzer Frist offene Berghöhle geht, die voll Schätze ist und von
den Geistern des Berges (alten Männern, einem schwarzen Hunde) die Erlaubnis
erhält, sich von dem Gelde zu nehmen. Sie setzt das Kind inzwischen auf den
Tisch; da ist die Viertelstunde (oder die Zeit der Passion) verlaufen, und sie stürzt
aus dem Berge, der sich hinter ihr schliesst. Des Geldes hat sie in Fülle, aber
ihr Kind vergass sie. Ein langes Jahr muss das Weib warten, bis sich der Berg
wieder aufthut. Endlich kommt die Stunde, die Thür zeigt sich wieder und öffnet
sich, und die Frau stürzt in die Höhle hinein, wo sie ihr Kind gesund und mit
einem Apfel spielend auf demselben Tische findet. Sie erfasst es und stürzt hinaus,
ohne von den Schätzen abermals zu nehmen.
Die Sage haftet am Zobten, an dem Breitenberge bei Striegau, den Raben-
docken bei Goldberg, an der Schwedenschanze bei Köben a. 0., an der Burg
Karpenstein bei Landeck, an dem Humelschlosse bei Lewin und wahrscheinlich
noch sonst in Schlesien. In der benachbarten Oberlausitz wird sie vom Zangenberge
am Queiss, von der Landskrone bei Görlitz und vom Löbauer Berge erzählt. Die
Sage, deren Kern die zeitweilige Entrückung der Kinder in den Berg der Holda-
Berchta ist (vgl. die Sage No. 28 bei J. Zingerle, Sagen aus Tirol, 2. A., Innsbr.
1891, mit Anm.) ist weit verbreitet und lässt sich nachweisen aus Sachsen, Böhmen
(K. Haupt, Sagenbuch der Lausitz, No. 249 u. Anm.), Mähren, Steiermark, Salzburg,
Tirol (Vernaleken, Mythen u. Bräuche des Volkes in Österreich, S. 129—137 und
Zingerle, S. 594), dem. Fichtelgebirge (Schönwerth, aus der Oberpfalz, 2, 241, wo
das Kind bei den Hankerln, Bergmännlein, ist), aus Hessen vom Altkönig (Wolf,
Hessische Sagen, No. 2), aus Holstein (Müllenhoff, No. 472).
In der Kaltenbrunner Zobtensage (Schles. Prov. Bll. 1878, S. 25) stirbt das
Kind in der frischen Luft, ebenso nach der Holsteinischen Sage von Laboe am
ersten Sonnenstrahl, desgleichen nach der Oberlausitzer vom Löbauer Berge (K.
Haupt, Sagenbuch d. Lausitz, No. 249). In der entsprechenden vom Zangenberge
bei Marklissa zerfällt das Kind in Staub, als die Mutter es berührt (mündlich), und
dasselbe berichtet die vogtländische aus Oppurg (Eisel, Sagenbuch des Vogtlandes,
No. 107). Wer bei den Unterirdischen war, gehört nicht mehr unter die Lebenden.
Die Herria und die Hermannla.
Von dem Herriaberge bei Langenbielau gehen mehrere Sagen (Schles. Prov.
Bll. 1862, S. 571); die bekannteste, auch in Versen mehrmals verarbeitete, ist die
vom Auszuge der Herria, auch Quargmännla genannt, die ich erzählen will, wie
ich sie früh gehört habe.
Kleine Mitteilungen.
455
Diese Quargmännla waren nur drei Quärge hoch1) und hiessen bei den Leuten
im Dorfe die Herrlein (Harria). Warum es ihnen zuletzt in ihrem alten Berge
nicht mehr gefiel, wer weiss das? Genug, der Herzichpauer musste in einer Nacht
den grossen Leiterwagen anspannen und sie auf den Zobten zu fahren, über
Reichenbach, Hennersdorf und so weiter, bis sie in die Krinne zwischen den
Zobten- und Geiersberg kamen. Da musste der Bauer halten; andere aber sagen,
sie hätten ihn eingeschläfert und selbst kutschiert und sich dann stille fortgemacht.
Ob er nun wach war oder ob er schlief und erst aufwachte, als die Pferde den
leeren Wagen umschmissen, das Fuhrlohn bleibt das gleiche. Ein jedes Herria
reisst einen grünen Zweig ab und schmeisst ihn auf den Wagen und weg waren
sie. Nun, da mögt ihr euch vorstellen, wie der Fuhrmann geflucht hat, denn
warum? es war ein Pauer aus der Langen Biele. Ganz verbost riss er das grüne
Zeug von dem Wagen runter, hieb in die Pferde und raste heim. Wie er nun
die Gäule abschirrte, da sah er auf dem Wagenboden was flinkem. Er griff nicht
faul zu und fand eine Menge Dukaten zwischen den Brettern. Da sah er wohl
ein, was für ein grosser Esel er gewesen war. Aber was halfs? Er fand immer
noch so viel, dass er seinen Hof neu bauen konnte, und er und seine Kinder und
alle seine Nachkommen waren reiche Leute.
Weiter östlich bei Warte an der Gläzer Neisse erzählt man eine verwandte
Geschichte. Dort heissen die Zwerge Hêrmannla, wie sie auch in der Schweiz,
in der Fullhalde im Aargau, Herrmännlein genannt werden, was wohl eins ist mit
den Herdmannli am Pilatusberge (Rochholz, Schweizersagen aus dem Aargau,
1, 282. 325) und also Erdmännlein bedeutet. Von diesen Hêrmannla wird am
östlichen Abhang des Eulengebirges erzählt, dass sie in dem hohen Uferrande der
Neisse bei Johnsbach gewohnt haben. Das Loch wird noch gezeigt, aus dem sie
hervorkamen, als sie sich durch einen Fährmann nachts auf das andere Ufer über-
setzen liessen, da sie ausziehen wollten. Jedes Männlein warf ein Steinchen als
Lohn in den Kahn, und der Fährmann schmiss diese heraus, wie der Langenbieler
Bauer die Zweige. Am Morgen sah er dann an einigen Resten, dass er Gold in
die Neisse geworfen hatte (Schles. Prov. Bll. 1871, S. 75).
Über den Auszug und die Überfahrt der Zwerge gehen viele Sagen: Grimm,
Mythologie, 253, 428, 794. Deutsche Sagen, No. 36, 153—55). W. Müller, Altd.
Religion, 343. Sommer, Sagen aus Sachsen, No. 19. K. Haupt, Sagenbuch der
Lausitz, No. 31. Eisel, Sagenbuch des Vogtlands, No. 26, 27. Müller u. Scham-
bach, Niedersächsische Sagen, No. 141 mit Anm. Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen,
No. 126, 5. 270, 1. 291. 323. Müllenhoff, Schlesw.-Holst. Sagen, No. 427.
Vom Graumännel.
In der Tunkelstunde geht das Graumännel im Hause um und die Otter-
königin kommt aus der Mauer herfür (Philo vom Walde, die Dorfhexe, S. 61).
Graumännel ist eine in Schlesien verbreitete Benennung der Unterirdischen,
der Erdgeister, und manche Sagen werden in Nieder- und Mittelschlesien von ihnen
erzählt, die sie wie die elbischen Wesen überhaupt den Menschen zwar auch
freundlich und hilfreich zeigen, die aber überwiegend ihre unheimliche, mit der
Unterwelt verbundene Natur verraten. Das Erscheinen des Graumänneis bedeutet
oft Tod oder anderes Unglück. In den sechsziger Jahren ging durch Nieder-
1) Die Namensdeutung ist natürlich falsch. Mitteldeutsch wird twerc Zwerg zu
quere; die Zwerge heissen in Schlesien auch Querxe.
456
Weinhold :
Schlesien vom Gebirge bis an die Oder durch das Volk eine abergläubische
Furcht vor den Prophezeiungen eines Graumänneis (Schles. Provinz. Blätter 1873,
S. 184). Es erscheint den Thürmern in der Neujahrsnacht und offenbart ihnen am
Himmel das Schicksal des anbrechenden Jahres. In der oben ausgehobenen Rede
ist das Graumännel der Hausgeist, wie die Otterkönigin die bekannte Gestalt der
Ahnfrau der Familie. Wenn in Österreichisch Schlesien die Bergmännlein auch
Graumännel heissen (A. Peter, Yolkstümlichés aus Österreich. Schlesien, H, 3), so
begreift sich das aus der den Bergelben gewöhnlichen Erscheinungsform.
Der Name Graumännel für die Unterirdischen findet sich auch in der Ober-
lausitz, im Vogtland (sehr häufig, vgl. das Register in Eiseis Sagenbuch des Vogt-
landes), in Thüringen, Hessen. In Sachsen tritt der graue Mönch als Hausgeist
auf (Sommer, Sagen aus Sachsen, No. 32 mit Anm.).
Von einem Angetrunkenen sagt man schlesisch: das Graumännel ist ihm auf-
gehockt, was an das französische il s'est grisé erinnert.
Vom Verlorens- und Streitberge.
Auf dem Höhenzuge, der vom Zobten- und Geiersberge nach dem östlichen
Eulengebirge zieht, liegt zwischen dem Hahn und dem Fischerberge der niedrigere
Verlorensberg.
Einmal hütete ein Schäfer aus Güttmannsdorf seine Herde dort, ein böser
Mann, der trieb die Gotteslästerung so weit, dass er in die Brotrinde seine Not-
durft verrichtete. Dafür wurde er mit seinem Hunde und den Schafen in Steine
verwandelt, die man noch dort liegen sieht.
Auch hat man einen Reiter ohne Kopf auf dem Berge mitunter reiten sehen.
Die Leute meinen, das sei der alte Baron von S. — er ist schon sehr lange ge-
storben, das war der das Schloss in 0. gebaut hat — und der soll auch sonst in
der Gegend herumreiten.
Beeren- und Pilzleute kommen auf dem Verlorensberge mittags von 12—1 Uhr
manchmal auf einen Fleck, von dem sie sich nicht herausfinden, bis es eins schlägt.
Auch in der Mitternacht soll es einen dort irre führen, bloss dass man es nicht so
gewiss weiss, weil halt nachts um zwölf selten einer durch den Busch von Gütt-
mannsdorf nach Girlachsdorf gehen mag.
Vom Streitberge im Striegauer Kreise erzählte man auch, da die grossen
Steinbrüche noch nicht waren, die den Berg allmählich wie ein Haus niederbrechen,
dass im Walde ein Fleck war, von dem man nicht mehr hinwegfand. Einmal war
ein Junge dorthin geraten, dem wurde totenangst, und er schrie ganz erbärmlich,
weil er nicht herauskonnte. Da schrie ihm eine Stimme zu: „Schiess doch 'nen
Purzelbock!" Gesagt gethan, und der Junge kam nun gleich hinaus von dem
Flecke.
[Das ist der Zauber der Waldfrau (schlesisch: Puschmutter), ganz entsprechend
dem, was von der schwedischen Skogsnufva erzählt wird: Mannhardt, Wald- und
Feldkulte, 1, 129. Übrigens gehört das Irreführen zu der Ausstattung unheimlicher
Orte, vgl. Eisel, Sagenbuch des Vogtlandes, S. 243.]
Beweine die Toten nicht zu sehr!
Eine Witwe in Kolbnitz verlor im Frühjahre 1885 das letzte ihrer vier Kinder
an den Masern. Sie war untröstlich und konnte ihre Thränen nicht stillen, weil
Kleine Mitteilungen.
457
ihr Gott nun auch das Letzte genommen, woran sie noch auf der Erde hing. Da
träumte ihr mehrmals, das Kind komme zu ihr und sehe sie mit traurigem Gesicht
an. Auch träumte ihr, es komme mit einem ganz nassen Hemdchen, und nicht
bloss ihr, sondern auch anderen Leuten träumte dasselbe von dem Kinde. Aber
es half nichts; die Frau kann sich noch jetzt nicht beruhigen.
(Im Mai 1885 zu Kolbnitz gehört.)
Ein Niederschlag des weit verbreiteten Glaubens von dem Nachweinen, das
dem Toten die Ruhe im Grabe nimmt: vgl. J. Grimm, D. Mythologie2, S. 884.
W. Müller u. Schambach, Niedersächs. Sagen, No. 133 u. Anm. v. Schulenburg,
Wendische Sagen. S. 237 1'. Rochholz, Deutscher Glaube u. Brauch, 1, 207 f.
Die grüne Wiese.
„Komme ich nicht in den Himmel, so komme ich doch gewiss auf die grüne
Wiese", hört man zuweilen, namentlich von Mädchen, aussprechen (Breslau).
Die grüne Wiese ist nach uralter Vorstellung von der Unterwelt ein ab-
gesonderter Teil derselben (vgl. die Asphodeloswiese neben der eigentlichen Unter-
welt Odysseus, 11, 539. 24, 13). J. Grimm, D. Mythol., S. 782 f. W. Müller, Altd.
Religion, S. 399 f.
Ursprünglich ist die grüne Wiese, der grôni wang, die grêne geardas, groenir
heimar goda, das Feld der himmlischen, Iöavöllr. Durch das Christentum verlor
sie diese Bedeutung, weil eine heidnische Vorstellung darin erkannt ward, und
wurde der Aufenthalt derer, die nicht selig, aber auch nicht unselig sind: so der
ertrunkenen Kinder. In der frühmittelalterlichen Kunst wurden die Bilder nicht
auf Goldgrund, sondern auf einen in drei Zonen geteilten Grund (braun, grün, blau)
gemalt. Braun bedeutet die Erde, blau den Himmel, dazwischen liegt die grüne
Wiese. Ein Märchen (Pröhle, Kinder- und Volksmärchen, 25) erzählt von dem
grünen Platze vor der Hölle, auf dem Musik gemacht wird.
Das Goldbrünnel.
Bei Kolbnitz auf dem Wege nach Moisdorf (Kr. Jauer) entspringt auf einer
kleinen mit Weiden besetzten Wiese ein Quell, der Seeborn (Siborn) oder das
Goldbrindl genannt. Der Born hat das beste Wasser ringsum und versiegt auch
im heissesten Sommer nicht.
Nach einer grossen Schlacht wird der letzte Schwede (nach andern der letzte
Türke) sein Pferd an eine goldene Haspe binden, die an einer der Weiden sein
wird. Er wäscht sein blutiges Schwert in dem Born und dann ist die böse Zeit
vorbei.
Dieses letzte wird auch von einer Weide, die an der Gläzer Neisse bei Kamenz
steht, erzählt.
Wir haben also auch in Schlesien Spuren der verbreiteten Sage von der
grossen Weltschlacht, auf die eine gute Zeit folgen wird, worüber hier zu ver-
weisen genügt auf J. Grimm, Deutsche Mythologie771—73, 911 ff. E.H.Meyer,
Germanische Mythologie, § 118, 321. — Der Name Goldbrunn findet sich öfter für
ausgezeichnete Quellen, teils goldhaltige, J. Zingerle, Sagen aus Tirol", No. 157,
158. Wucke, Sagen der mittleren Werra-, No. 179 (dieser früher auch Hollenborn
genannt) — teils irgend auffällige, wie für die oft jahrelang aussetzende, den Gülden-
born bei Dauernheim in Hessen (J. Wolf, Hessische Sagen, S. 131) — teils heil-
458
Weinhold:
kräftige, K. Haupt, Sagenbuch der Lausitz, No. 304. Die Eigenschaft des Goldenen
Brunnen bei Neustadt an der fränkischen Saale wird nicht bezeichnet, Panzer
Bayrische Sagen, 1, 184.
Tieropfer.
Auf dem Gute Bankwitz bei Karlsruh (zwischen Namslau und Brieg) wollte
die Schafzucht nicht recht gedeihen. Der alte Schäfer Schampel mochte anstellen,
was er wollte, es verging keine Woche, ohne dass eins von den Tieren „verrückt"
geworden wTäre. Da griff er endlich zu folgendem Mittel. Er sandte zwei Knechte
in der Nacht zur benachbarten Wassermühle aus und befahl ihnen, dem Müller
das Wehr zu stehlen. Dabei legte er ihnen ans Herz, den ganzen Weg über die
Namen der Dreieinigkeit und den 83. Psalm vor sich herzubeten. Unterliessen sie
diess, so würde sie bestimmt der Satan holen.
Die Knechte thaten, wie ihnen befohlen, brachten das Wehr und legten es
schweigend vor die Stallthüre. Sobald dies geschehen war, wurden die Schafe
über das Wehr getrieben. Das zuletzt verrückt gewordene Tier dagegen wurde
abseits genommen und, als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne hervor-
brachen, von dem Schäfer mit einem Beile getötet, sodass der Kopf sofort vom
Rumpfe getrennt war. Darauf wurde der Leichnam genommen und an der Giebel-
seite des Stallgebäudes eingegraben. Auch hierbei musste von allen Teilnehmern
tiefstes Schweigen beobachtet werden. Der Erfolg war, dass das Gut seitdem von
Schafkrankheiten verschont geblieben ist.
(Von dem Schäfer Schampel in Bankwitz dem damaligen Studenten U. Jahn erzählt.)
Dieses in Schlesien angewandte Mittel gegen das Viehsterben, das auf ein
Sühnopfer zurückgeht, das den Krankheitsdämonen gebracht ward, entspricht ganz
den von J. Grimm, D. Mythol., 574—76 aus Northamptonshire in England und
von der schottischen Insel Mull angeführten Vorgängen. Ferner ist, was U. Jahn,
Die deutschen Opfergebräuche bei Ackerbau und Viehzucht (Breslau 1884), S. 25,
vop Eifel, Hundsrück und dem Speiergau beibringt, zu beachten. Ganz hierher
gehören auch die Pferde-, Ochsen- und Widderschädel, die über den Ställen dieser
Tiergattungen von Höfen in Langenbielau und Hertwigswalde (Kr. Münsterberg)
bezeugt sind (U. Jahn, Opfergebräuche, S. 21). Sie gelten und galten als Schutz-
mittel gegen Viehseuchen zunächst, dann überhaupt gegen Zauberei, gegen Feuer
und Blitz und gehen zuletzt zurück auf Tieropfer, von denen die Köpfe den Göttern
oder dämonischen Wesen als ihr Teil zukamen.
K. Weinhold.
Lösung des Zungenbandes.
Dr. Ohervin in Paris hat eine kleine Schrift versandt: Faut-il couper le frein
de la langue? worin er auch die Volksforscher auf den unnützen Gebrauch auf-
merksam macht, Kindern das Zungenbändchen zu lösen, um sie vermeintlich leichter
sprechen zu machen. Er wünscht Mitteilungen über die heutige Verbreitung dieses
Brauchs und ob etwa Sprüche oder Lieder dabei vorkommen.
In Schlesien, wenigstens in Mittelschlesien, hörte man vom Lösen des Zungen-
bandes bei kleinen Kindern vor einigen Jahrzehnten oft sprechen, vielleicht ist es
noch üblich. Von besonderen Gebräuchen weiss ich nichts.
Éa
Kleine Mitteilungen.
459
Für Steiermark gilt dasselbe. Regierungsrat Dr. Jlwof in Graz schrieb mir,
dass er die Sitte aus der Gegend der Koralpe (Glashütte, Trahütte) kenne. Die
Hebamme durchschneidet unmittelbar nach der Geburt des Kindes mit einer kleinen
Schere das Zungenbändchen. Yon einem Menschen, der viel spricht, heisst es auch
dort: dem wurde die Zunge gut gelöst. K. W.
Nachrichten aus dem Bereiche der Volkskunde.
(Ygl. S. 336 f.)
Die Schlesische Gesellschaft für Volkskunde hat einen Fragebogen
verteilt, der ausser Vorbemerkungen unter den Überschriften I. Namenkunde und
Mundartliches, II. Dichtung, III» Glaube und Sage, IV. Sitte und Brauch, V.Weis-
sagung, Zauber, Volksheilkunde, VI. Hausbau und Volkstracht, auf die Gegenstände
der Sammlung aufmerksam macht. Die Aufzeichnungen zur deutschen Volkskunde
sammelt Prof. Dr. Vogt, die zur slavischen Prof. Dr. W. Nehring.
Die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Litteratur
in Böhmen hat die Sammlung der volkstümlichen Überlieferungen in Deutsch-
Böhmen in Angriff genommen und den Privatdocenten Dr. Adolf Hauffen mit der
Leitung und Durchführung dieses weitausblickenden auf mehrere Jahre berechneten
Unternehmens betraut. Zur Mitarbeit an den Sammlungen sollen vor allem die
deutschen Volksschullehrer auf dem ganzen Gebiete herangezogen werden. Die
Bearbeitung des Stoffes wird dereinst in vier Bänden angeordnet werden, nach
den vier deutsch - böhmischen Stämmen, den Bayern im Böhmerwalde und im
südlichen Böhmen, dem pfälzisch - nordgauischen Stamm in Westböhmen, den
Sachsen im Erzgebirge und Nordböhmen, den Schlesiern in Nordostböhmen.
Hauffen hat zu dem Zwecke dieser Sammlung Fragebogen versendet und wird
das ganze Gebiet bereisen, um mit den einzelnen Mitarbeitern in persönliche
Berührung zu treten. In diesem Sommer hat er seine Arbeit mit dem Böhmer-
walde begonnen.
Zu den Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen in Baden hat
Prof. Dr. E. Hugo Meyer in Freiburg i. Br. in der Alemannia XXII einen inter-
essanten Kommentar veröffentlicht, der auch als Sonderabdruck (Badische Volks-
kunde. Bonn, P. Hansteins Verlag, 1894, 23 S.) erschien. Nach einem geschicht-
lichen Überblick über das bisher in Baden für die Volkskunde geleistete geht der
Verf. auf die stammgeschiehtlichen Verhältnisse ein, da Franken und Alemannen
sich in das Land teilen, und von dem alemannischen sich noch das schwäbische
unterscheidet. Namentlich wird hier der Hausbau als bedeutsames Merkmal erwähnt.
Im folgenden werden namentlich die Sagentypen und die mythologischen Vor-
stellungsgruppen besprochen und auf die überaus grosse Wichtigkeit der Sitten
und Bräuche aufmerksam gemacht. Wir empfehlen das Heft auch den nicht-
badischen Freunden der Volkskunde.
Zu Zeitschrift IV, 335.
Herr Reallehrer Anton Engl er t in München teilt mir mit, dass er von der
Liedersammlung, aus der ich den Steyermarckischen Rauijodel, oben S. 335 f.,
entnahm, eine ältere Ausgabe kennt. Sie gehört der Gymnasialbibliothek in
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1894. 31
460 Weinhold:
Aschaffenburg und hat den Titel: Ehrliche | Gemüts-Erquickung, | das ist: | Vnter-
schiedliche annehmliche | Gesänger, | Mit Trostreichen sittlichen | Lehren vnter-
mischet, | Sambt beygesetzten Melodeyen, von neuen | gemacht vnd zusammen
getragen | (Holzschnitt) | Gedruckt im Jahr, 1677. (Ohne Angabe von Ort und
Drucker.) 162 S., 32 Lieder.
Auch dieser Druck ist also nicht der erste. Das Aschaffenburger Exemplar
ist leider nicht vollständig, ihm fehlt ein Bogen, S. 97—112. Der zweite Teil
scheint nicht in Aschaffenburg zu sein. K. W.
Bilclieranzeigen.
Schwartz, W. Nachklänge prähistorischen Volksglaubens im Homer. Mit
einem Anhange über eine Hexenfahrt der Hera und die sogenannte
Hexensalbe. Berlin, Osw. Seehagen. 1894. S. 52. 8°.
Das Büchlein ist eine goldene Doktordissertation; als Erinnerung an die
Semisäkularfeier zur Promotion hat Prof. W. Schwartz diese Bogen drucken lassen,
welche an seine Promotionsschrift von 1843 De antiquissima Apollinis natura an-
knüpfen, aber zugleich die verschiedenen Stationen berühren, die auf der reich-
bebauten wissenschaftlichen Lebensstrasse des verdienstvollen Verfassers liegen.
Er sucht auch hier nachzuweisen, dass die Umrisse der homerischen Göttergestalten
überall an entsprechende Elemente urgeschichtlicher Überlieferung erinnern, die in
den Lokalsagen der verschiedenen griechischen Stämme nachklingen. Ausserdem
findet sich bei Homer noch wirklich jener von Urzeiten her allen Völkern eigene
Glaube an Gespenster, Zauberei und Hexen. Im Besondern behandelt der Hr. Verf.
die Fahrt der Hera nach dem Ida zur Vereinigung mit Zeus (II. XIV, 170 ff.),
wobei die ähnliche Fahrt der Aphrodite nach dem Ida aus Liebesverlangen nach
Anchises, die Bergfahrten der Bacchantinnen und die Hexenfahrten deutscher Mythe
als ganz parallel herbeigezogen werden. Im Nachtrag bespricht Hr. Schwartz die
dabei immer vorgenommene Salbung. In der Hexensalbe findet Hr. Schwartz ein
Bild von Nebel und Wolken, die unsichtbar machen und ihre Flugkraft, als Salbe
oder Öl gedacht, durch Übergiessen oder Einreiben mitteilen. Er zieht die bild-
lichen Redensarten vom Sieden oder Brauen der Nebel und "Wolken herbei, gleich
wie die Zaubersäfte und Salben gebraut werden. Hr. Schwartz bezeichnet diese
Deutung als Hypothese, obschon sie auch nach meiner Ansicht grosse Wahr-
scheinlichkeit hat, und schliesst mit dem bedeutungsvollen Ausspruch, dass die
Glaubensgeschichte der Menschheit auf eine Menge analoger embryonischer UrVor-
stellungen zurückgehe, die in ihrer eigentümlichen Fassung und relativen Entwickelung
auf ein geschichtliches Zusammenleben nicht bloss verschiedener Stämme, sondern
auch Rassen deuten. Die Zonen solcher urmythischer Vorstellungen festzustellen,
sei Aufgabe der vergleichenden, besonders der prähistorischen Mythologie.
K. W.
Biicheranzeigen.
461
Beiträge zur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte von Tirol.
Festschrift zur Feier des 25 jährigen Jubiläums der Deutschen Anthro-
pologischen Gesellschaft in Innsbruck den 24.—28. August 1894. Mit
7 Tafeln. Innsbruck, Wagnersche Universit.-Buchhandlung. 1894.
S. 277. 8°.
Von den acht Abhandlungen dieser Insbrucker Festgabe an die Deutsche
Anthropologische Gesellschaft interessieren uns besonders folgende:
K. W. v. Dalla Torre, Die volkstümlichen Tiernamen in Tirol und Vorarlberg
(S. 59—156): eine Sammlung der deutschen und romanischen (italienischen und
ladinischen) volkstümlichen Benennungen der vom Volke gekannten, etwa 400 Tier-
arten. Mindestens 15 000 Arten kommen aber in Tirol und Vorarlberg vor.
Anton Zingerle, Über Berührungen Tirolischer Sagen mit antiken (S. 213
bis 226): eine kurze Wanderung durch die Tiroler Sagenwelt, bei der sich eine
grosse Anzahl Berührungen mit griechischen und römischen Mythen und religiösen
Gebräuchen ergiebt. Möge es dem Verf. gefallen, das Thema einmal ausführlicher
zu behandeln!
Chr. Schneller, Onomatologisches aus Tirol (S. 229—239). Der Verf. sucht
nachzuweisen, dass sich namentlich in Nordtirol eine nicht unerhebliche Zahl
deutscher genitivischer oder elliptischer Ortsnamen finden (z. B. Fritzens, Götzens,
Wattens, Igels, Lans, Natters, Mutters), die unnötig für romanische oder keltische
erklärt wurden.
L. v. Hör mann, Das Sautreiben. Ein Erklärungsversuch dieses Kinderspiels
(S. 243—259). Der Verfasser hält dieses Spiel (Saukesseln, d Su i Kessel triba,
Mockelspiel, Bärentreiben, Morenjagen, Hutzetreiben, schweizer. Grubschiessen,
Löchliballen, schles. Grübelball, niederösterreich. Kindlingsspiel) für eine kindliche
Nachahmung des Erntebrauchs vom Fang oder Töten der Roggensau (eigentlich
des letzten Drischelschlags mit dem sich anschliessenden Vertragen der Sau).
Für die Urgeschichte Tirols sind die Beiträge von Fr. Stolz (Linguistisch-
hislorische Beiträge zur Palseo-Ethnologie von Tirol) und Fr. v. Wie s er (das Grab-
feld von Welzelach) wichtig.
Le Folklore de Lesbos par G. Georgeakis et Léon Pineau. (Les
Littératures populaires de toutes les nations. Tome XXXI). Paris,
J. Maisonneuve. 1894. S. XX. 372. kl. 8°.
Ein junger Grieche aus Mitylene, Herr G. Georgeakis, kam nach Frankreich,
um französisch zu lernen und machte in Tours die Bekanntschaft des Herrn
L. Pineau (agrégé de l'université), des Verfassers des Folklore de Poitou1). Durch
ihn ward er über den Wert der volkstümlichen Überlieferungen, Sitten und Ge-
bräuche unterrichtet und begann zuerst brieflich, dann nach der Heimkehr mündlich
auf Lesbos zu sammeln. Was er bis jetzt zusammenbrachte, teilte er Herrn P.
mit, der es ins Französische übersetzte, ordnete und in dem vorliegenden Buche
veröffentlichte. Es sind 1. Märchen, Tierfabeln, Rätselgeschichten, Schwänke und
andere Geschichten; 2. Lieder (S. 149—278); 3. Sprichwörter, Rätsel, Gebräuche,
Aberglauben. Es ist damit wieder eine dankenswerte Vermehrung des volks-
kundlichen Materials aus griechischen Landen geleistet, um welches sich Deutsche
und Franzosen schon viel Verdienste erwarben.
1) (Unsere Zeitschr., III, 110.)
31*
462
Weinhold:
Besonders anziehend erscheinen die Lieder: Wiegen-, Tanz-, Klephten-, Liebes-,
Hochzeit-, Totenlieder, und eine als Chansons diverses bezeichnete Gruppe. Es
seien einzelne Bemerkungen gestattet.
Das 1. Wiegenlied, S. 149—51, ist gleich dem 4. auf S. 153—55 als eine
Reihe selbständiger Liedchen zu fassen. Die ersten Strophen auf S. 150, 151 sind
an ein Mädchen, die letzte auf S. 150 an einen Knaben gerichtet. Charakteristisch
ist, wie mit Perlen, Seide, Stickereien, Gold die Mutter ihr Kind geschmückt
wünscht; Babylon, Konstantinopel, Venedig, Prankreich liegen im Sinne der wiegenden
Mutter (vgl. auch S. 152). Litteratur der neugriechischen Wiegenlieder, Nawof tejara,
verzeichnet Bernh. Schmidt in seinen Griech. Sagen, Märchen und Volksliedern
S. 278 f. Die Tanzlieder (nur sechs) sind interessant: das erste ist nach dem
Inhalt episch, eine Ballade: Ein Mädchen, das am Strande wäscht, wird von Pali-
karen erblickt, ihr weisses Bein, das der Wind entblösst, glänzt über das Meer
und die Küste1). „Rauben wir, was vor uns glänzt: ist es Gold, gehöre es uns
allen! ist es Eisen, unserm Schiff! ists ein junges Mädchen, dem Kapitän!" Gott
hat gewollt und die heilige Jungfrau, dass es ein Mädchen war und es war für
den Kapitän. — Ein düsteres Memento mori enthält No. IV (S. 160). Ehestands-
lieder sind No. V u. VI. Das erste derselben, worin eine Prau vom Tanz abgerufen
wird, weil ihr Mann Durst hat und Hunger, zuletzt weil er starb, und sie immer
antwortet: das ist mir gleichgiltig! erinnert an deutsche Lieder, vgl. Erk-Böhme,
Deutscher Liederhort (Leipzig 1893), No. 910. Hruschka-Toischer, Deutsche Volks-
lieder aus Böhmen, No. 211.
An unsere volkstümlichen Vierzeiler (die Schnadahüpferl) erinnern die Liebes-
liedchen (No. V, X, XIV u. XVI). Weiter ausgeführt ist der Inhalt von V. X in
No. IX. In sich kreuzenden Versen wird das Bild vom Bliitenbaum und der Ge-
liebten in No. XI ausgeführt. Eine geläufige bildliche Verkleidung für das geliebte
Mädchen ist der Citronenbaum (No. XVIII), auch der Apfelbaum (S. 241). Citronen
hergeben ist ein Euphemismus des Gunstbeweises (S. 197), Äpfel pflücken (No. II.
IV, vgl. auch XXIX) entspricht dem bluomen oder rôsen lesen oder brechen unserer
mittelalterlichen Liebessprache. Das Zuwerfen eines Apfels erklärt dem Mädchen
des Mannes Liebe (B. Schmidt, Griech. Sagen, Märchen und Volkslieder, S. 228).
Duftige Citrone wird die Angebetete angeredet (No. XIII), Mein Apfel, meine
Orange (S. 185).
Unter die Liebeslieder sind von dem Herausgeber eine Reihe balladenartiger
Gesänge gestellt: No. XX, XXI, XXIII, XXIV, XXV, XXVI, XXVIII, XXIX, XXX,
XXXII. Hervorheben möchte ich XXVII (S. 214) von dem Prinzen, der eine
Stickerin liebt, aber eine andere heiraten soll und bei der Trauung die Geliebte
an Stelle der aufgedrungenen Braut setzt (vgl. das Syrithamotiv), und No. XXVI
(S. 212): Das griechische Mädchen flieht vor dem werbenden türkischen Prinzen
in eine Georgskapelle, und der Heilige verbirgt sie, da sie ihm Wachs und Weih-
rauch verspricht. Aber der Türke gelobt dem hl. Georg reichere Opfer und will
sich auf seinen Namen taufen lassen. Da öffnet sich der Marmor, hinter dem das
Mädchen verborgen war, der Türke ergreift sie bei den Haaren und wirft sie auf
sein Ross. „Wer hat einen solchen zweideutigen Heiligen gesehen", schliesst das
Lied, „der junge griechische Mädchen den Türken ausliefert?"
Auch die Georgslegende (S. 256) verdient Beachtung: Der Drache liegt an der
das Land wässernden Quelle und hindert den Ausfluss des Wassers, wenn ihm
nicht jeden Morgen und Abend ein Mensch geopfert wird. Das Los trifft endlich
1) Vgl. dazu das Tanzlied No. 53 bei Bernh. Schmidt, Griech. Sagen, Märchen und
Volkslieder mit Anmerk.
Bücheranzeigen.
463
des Königs einzige Tochter; als sie an der Quelle weinend des Todes harrt,
erscheint St. Georg, der ihre Klagen hörte. Er spricht zu ihr: „Komm her, mein
Kind, und lause1) mich, und schäumt das Wasser, wecke mich!" So geschieht es
und St. Georg ersticht den Drachen. Als er dann des Königs Schwiegersohn
werden soll, lehnt er es ab und verlangt nur eine Kirche mit seinem Bilde darin.
Zu vergleichen wird sein Jeannaraki Kpyrixu, No. 1.
Von Klageliedern hat die Sammlung nur drei; über diese interessante Gattung,
die /¿upoXo'y¿a, möchten wir Herrn P. auf die Mitteilungen von Bernh. Schmidt,
Griech. Märchen, Sagen und Volkslieder, Leipzig 1877, S. 40 ff. aufmerksam machen.
Gar vieles andere, auch in den Contes, gäbe zu Bemerkungen und Ver-
gleichungen Gelegenheit; Herr P. hat nur einzelne Ansätze dazu genommen.
Hoffentlich wird er noch mehr von Lesbos bringen. K. Weinhold.
Grimm Library, No. 1. — Georgian Folk Tales translated by Marjory
War drop, Published by David Nutt in the Strand, London 1894.
S. XII. 175. 8°.
Die von Herrn Alfr. Nutt herausgegebene Grimmbibliothek soll einerseits
Sammlungen neuen volkskundlichen Stoffes enthalten, andererseits kritische Arbeiten
zur Volkskunde. Die Stoffsammlungen werden namentlich Übersetzungen aus
schwer zugänglichen Sprachen bringen. Der erste Band enthält kaukasische
Märchen und Erzählungen, von Miss M. Wardrop mit Unterstützung ihres Bruders
übersetzt, und zwar 1. die Übersetzung einer georgischen Sammlung, die unter
dem Titel Khalkhuri Zghaprebi von Hrn. Aghniashvili 1891 in Tiflis herausgegeben
ward; 2. Mingrelische Geschichten aus AI. Tsagarelis Mingrelskie Etyudy. Petersbg.
1880; 3. Grusische Geschichten, aus einer anonymen Sammlung: Gruzinskiya
Narodnyya Skazki. Petersburg 1884. In den georgischen und mingrelischen
Märchen spielen die Devis meist eine grosse Rolle, die mingrelischen sind naiver
als die georgischen. Die grusischen Geschichtchen sind kürzer, haben Neigung
zum Komischen, andererseits zum Lehrhaften. Dem vergleichenden Studium bietet
die ganze Sammlung interessanten Stoff. K. W.
Hein, Wilhelm, Die geographische Verbreitung der Totenbretter.
Mit 2 Lichtdrucktafeln (Separatabdruck aus Bd. XXIV der Mitteilungen
der Anthropolog. Gesellschaft in Wien). Wien 1894. 16 S. 4°.
Diese Abhandlung ist eine Fortsetzung und Vervollständigung einer früheren
Arbeit desselben Verf.s „Die Totenbretter im Böhmerwalde", die im XXI. Bande
der Mitteilungen der Wiener Anthropolog. Gesellschaft 1891 erschienen ist. Unter
Totenbretter, Rêbretter (mhd. rê, ahd. hrêo Leichnam), Leichladen, Leichbretter
versteht man die Bretter, auf die der Tote bald nach dem Verscheiden, nachdem
er gewaschen und angekleidet ist, gelegt wird und auf denen er bis zur Einsargung
liegt. Dieselben werden selten samt dem Bettstroh des Verstorbenen gleich nach
dem Gebrauch verbrannt, gewöhnlich werden sie aufgehoben, entweder zu späterem
weiterem Gebrauch, oder als Andenken an den Verstorbenen, weshalb sie auch
Gedenkbretter oder Gedenkladen heissen. Zu diesem Zweck werden sie mit dem
Namen des Toten, der darauf gelegen, wäre es auch nur mit den Anfangsbuchstaben
desselben versehen, zuweilen werden auch nur drei Kreuze eingeschnitten. Daneben
1) Über diesen in unseren Märchen und Sagen häufigen Zug könnte einmal besonders
gehandelt werden.
464
Weinhold:
hat sich Bemalung mit grösseren Inschriften und kleinen bildlichen Darstellungen
eingefunden und manche Pfarrsprengel z. B. im Böhmerwald suchen etwas im
Prunke der Leichladen. In der Regel werden die Rêbretter in der Nähe der
Höfe oder der Ansiedelungen, zuweilen an den Häusern, oder an den Stadeln und
Scheunen, zu denen die Verstorbenen gehörten, angelehnt oder befestigt. Oder
sie werden bei kleinen Kapellen, Feldkreuzen oder Bäumen im Walde aufgestellt.
Sie finden sich aber auch ohne Ordnung hingelegt, und die ganz schmucklosen
und ungehobelten müssen auch als Stege über Gräben und als Unterlagen auf
Steigen über Sumpfwiesen dienen.
Die Totenbretter sind heute noch über das bajuvarische Gebiet verbreitet
nachzuweisen. Vom Norden der Oberpfalz an, südwärts über die Donau bis in
den Pinzgau und auch westlich bis ins Lechthal (Leermos). Der Lech macht
westlich, südlich der Brenner die Grenze. Nach Osten reichen die Rêbretter bis
zu den Deutschen um Ödenburg. In Böhmen sind sie im Böhmerwalde üblich,
ausserdem im Tepler und Planer Bezirk, im Egerlande, dem böhmischen Erzgebirge
und im Braunauer Ländchen, das an Schlesien und die Grafschaft Glaz grenzt.
Der älteren Abhandlung sind Holzschnitte und lithographische Zeichnungen von
Totenbrettern beigegeben, der neuen zwei Lichtdrucktafeln, welche acht vortreffliche
Photographien vervielfältigen, die von Fräulein Marie Eysn in Salzburg aufgenommen
wurden, einer Dame, die im Salzburgschen und in Bayern eine grosse Anzahl
Rêbretter mit ihrer oft malerischen Umgebung ganz vorzüglich photographierte,
aus lebendigem Interesse für alle Denkmäler des Volkslebens. K. W.
Bayerns Mundarten. Beiträge zur deutschen Sprach- und Volkskunde.
Herausgegeben von Dr. Oskar Brenner und Dr. August Hartmann.
Band II, Heft 2. München 1894. Christian Kaiser. S. 161—304. 8°.
Wir haben auf diese für Bayern in seinem ganzen Umfange sehr wichtige
Zeitschrift wiederholt in unserem. Organ (I, 345; II, 210; III, 342) aufmerksam
gemacht und sie der Unterstützung vorzüglich in den bayrischen Ländern empfohlen.
Leider vergeblich! nur mit Opfern des Verlegers und der Herausgeber schreitet
sie in langsamem Jahresschritt vorwärts und man muss ihr Ende fürchten, das
gleich dem unaufhaltbaren Tode der Frommannschen Mundarten ein beschämendes
Zeugnis für gewisse Zustände in Deutschland ablegt* Das vorliegende Heft bietet
des Interessanten genug; meist sind es Fortsetzungen zu dem im 1. Heft begonnenen,
doch kommen auch neue Artikel. Über die Grenzen des Königreichs Bayern wird
auch hier nach dem westlichen Böhmen, dem Vogtland und Thüringen hinüber-
gegriffen. Die Bücherschau beweist ebenfalls, dass die Blicke der Herausgeber
weiter gehen als die blauweissen Grenzpfähle. K. W.
Unser Vogtland. Monatsschrift für Landsleute in der Heimat und Fremde,
herausgegeben von Gottfried Doehler, Leipzig, Rossbergsche Hof-
buchhandlung. 1894. 8°.
Von dieser dem Vogtlande gewidmeten unterhaltenden und belehrenden
Monatsschrift, das Heft ungefähr 3 Bogen stark, liegen uns einige Hefte vor. Wir
bringen ihr Erscheinen gern zur allgemeinen Kenntnis, da manche Mitteilungen
darin für Landes- und Volkskunde brauchbar sind. Im 6. Heft (Heft 4 und 5
erhielten wir nicht) sind sieben Volkslieder mitgeteilt, von denen No. 2 kein
Volkslied ist. Die sechs anderen sind keineswegs auf das Vogtland beschränkt.
Biicheraiizeigen.
465
Nähert, H. Die B edrängnis des Deutschtums in Österreich-
Ungarn, insonderheit in Böhmen, Mähren, Osterreichisch-Schlesien,
Gralizien, Krain, Kärnten, Steiermark, Tirol, Ungarn. Stuttgart, R. Lutz.
1894. S. 46. 8°.
Der Verfasser dieser Schrift hat sich um Feststellung der Grenzen und der
Verbreitung des deutschen Sprachgebiets seit lange verdient gemacht. Im vor-
liegenden Heft behandelt er die traurige'Geschichte von der Not der deutschen
Bewohner der sprachlich gemischten Kronländer der Habsburgischen Monarchie,
besonders in den letzten Jahrzehnten. Zur allgemeinen Orientierung über diese
Verhältnisse, bei denen einem ehrlichen Deutschen oft siedend heiss wird, kann
die Schrift empfohlen werden.
Merkbuch, Altertümer aufzugraben und aufzubewahren. Eine Anleitung
für das Verfahren bei Aufgrabungen, sowie zum Konservieren vor-,
und frühgeschichtlicher Altertümer. Zweite erweiterte Auflage. Mit
8 Steindrucktafeln. Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 1894. S. 99. kl. 8°.
Die vor- und frühgeschichtlichen Altertümer gehören einem Grenzgebiete der
eigentlichen Volkskunde an, leisten derselben aber manche erspriessliche Dienste.
Wir machen daher gern auf das kleine praktische Büchlein aufmerksam, das auf
Veranlassung des Kgl. Preuss. Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und
Medizinal-Angelegenheiten von Herrn Direktor A. Voss ausgearbeitet worden ist
und eine gute Anleitung zum Aufgraben und Behandeln vorgeschichtlicher Alter-
tümer erteilt. Die Abbildungen auf den 8 Tafeln sind zwar klein, aber genau
und scharf, sind einsichtig ausgewählt und, was sehr zu loben, die Angabe der
Fundorte ist den Texterklärungen eingefügt. K. AV.
Regi
st er.
Abdes 204.
Aberglaube, gräcowalach. 142, jesuit. 91,
mexikan. 226, schles. 80—86.
Abfahrt von der Alm 122.
Abgabe in Schuhen 177.
Adam 210.
Adityas 231.
Adler 61.
Adventzeit 315.
Aegidiustag 405.
Aetna 257. 265. 267.
Afrikanische Volkskunde 341.
Alber 45.
Alberich v. Troisfontaines 257.
Allerheiligen 405.
Almleben 7. 119—123. Almsegen 123. Alm-
lieder 7.
Altersschichten der Volkslieder 21.
Altertümer 465.
Amúlete 139.
Andaresslen 449.
Andreasnacht 49. 406. 449.
Anfechtung der Geister 140.
Angang 3Ì0. 318.
Angola 340.
Anleitung zu volkskundl. Sammeln 218. zum
Altertümergraben 465.
Anmelden der Verstorbenen 451.
Annuaire des Tradit. popul. 337.
S. Antonius v. Padua 199.
Apfel 163. 311. 314. 462.
Apollonius und Herburg 220.
Aposteltag 404.
Arbeit des Bauern 107.
Archen 115.
Arngrímur Jónsson 261. 267. A. v. Thing-evrar
265.
Aschermittwoch 321.
Asen 130.
Atropa belladonna 394. 397.
Aurbacher, L. 430.
Ausspucken 139. Aussterben des Volkslieds 5.
Auszählreime 386.
Ayr er, J. 37.
Bachergebirge 452.
Bad des Neugebornen 137.
Bäder, türkische 204. 269.
Badische Volksüberlieferungen 337. 459.
Bairam 203.
Balladen 3. 19. 20. 28. 33. 462.
Banadieterich 291.
Bann 156.
Bantu 341.
Bär im Drama 226. Wetterprophet 321.
Bärenjagd der Bauern 435.
Barbaratag 109. 407.
Bartels, M. 101.
Bastian, A. 105. 345.
Bastlösereime 74.
Bauen (Feldbestellen) 116.
Bauernleben, Tiroler 77. 107.
Baug werf en 215.
Bauholz 109.
Bayrische Volkskunde 336.
Begrüssung, türkische 206.
Beifuss 154.
Beisswürmer 122.
Berge, versterben in sie 268.
Berggeister 84. 317. 454.
Besitzergreifung 173.
Besprechungen 385. 447.
Betteln um Gotteswillen 448.
Bibliographie, italien. 218. des Volksliedes 7.
Bienen 396.
Bilderbogen 432.
Binden der Schnitter 53. 85.
Bladner 78.
Blech 297.
Blefken 262.
Blick, böser 138.
Blitz 288.
Blocksberg, bergischer 213.
Blockziehen 322.
Blumen unter den Füssen 45. 71.
Blutbrüderschaft 44.
Blutsegen 326.
Bobbe auf Musgjerd 381.
Boemus, Joh. 197.
Böhme, Fr. M. 338.
Bohne 118.
Boldogasszony 309.
Boite, J. 345.
Brand des Getreides 117.
Brandsegen 325.
Braut eingeholt 270. eingeführt 271.
Brautbad 269.
Brautbett 272.
Register.
467
Brautgeschenke 270.
Bräutigamsgeschenke 209. 272.
Brautschuhe 168.
Brautwahl 206.
Brautwerbung 207.
Bremen, Bischof 261.
Brot 81. 106. 291.
Brückner, A. 226.
Brüder, drei 355. 365. 367.
Brünhildenstuhl 197.
Buck, M. 431.
Buddhistische Heilige 71.
Bulgarisch-türkische Sitten 202 ff. 269 ff.
Burgsberg 452.
Buschmanns Spukgeschichte 323.
Buttermodel 121.
Büttner, C. G. 96.
Bytal 245.
Camelger 78.
Candorin 184.
Cardanus 261.
Celtic romances 389.
Charila 51.
Charoslieder 106.
Charwoche 393 f.
Citrone 462.
Couvade 104.
Çukasaptati 94.
Dachtraufe 446.
Dienstag 306.
Dina 209.
Dodici parole 251.
Donnerstag 307.
Dorfzahl 245.
Dornröschen 221.
Drache 156. 452.
Drama, Anfänge 226.
Dreikönigstag 320.
Dreizehn 382.
Dreschen 129.
Durchziehen Neugeborner 143.
Eheschliessung 104.
Ei, kosmogonisches 227—243.
Ei vergraben 323.
Eidechse 400.
Eins ist keins 442.
Eisen 285. Eisenschuhe 294. 297.
Elephantenkenntnis 348.
Eli Nuwi 209.
Eliastag 404.
Elisabeth Charlotte v. d. Pfalz 183.
Ellerbrok 189.
Elsass 196.
Empusen 141.
Engelmarspiel 443.
Enthaarung der Genitalien 269 f.
Entschuhung 171. 178.
Erbsen 314.
Erdäpfel 118.
Erdeaufspringen, -tragen 127.
Erdei 239.
Erdmann (vader Irdmann) 187.
Erdmännlein 455.
Erk, L. 338.
Ernte 124. Erntevorzeichen 313.
Ertrunkene 451.
Erzählungsstoffe, afrikanische 342.
Esels Testament 428.
Eticke 450.
Eugen, Prinz 24.
Eulenspiegel, islamische 345.
Fabel- und Märchenlitteratur, indische 94.
Faden, roter 308.
Fahrt nach Osten 273.
Farbe der Schuhe 176.
Farnkraut 153. 155.
Faschingtage 322.
Fasten 110. 202—206. Fastenzeit 195.
Feierabend 111.
Feifalter 132.
Feigenbaum 147.
Fell versaufen 189.
Fenggen 295.
Ferienwanderungen 344.
Fetische 105. 341.
Feuerrad 196.
Feuerschutz 83.
Fieber 84. 450.
Findigkeit der Kühe und Schafe 119.
Flachs 46.
Flokkr 442.
Flurnamen 115.
Formeln in Volksliedern 21.
Francis and Kitty 440.
François et Jacqueline 439.
Franck, Sebast. 197.
Frankenstein 453.
Frau, verleumdete 72, schöne 308.
Freitag 306.
Friedel, E. 345.
Fuss im Volksglauben 41—50. Fussspur 216.
Fusstritt 43. Füsse auf Denkmälern 151,
hölzerne in Gräbern 427.
Futternot 120.
Gaidoz 196.
Gebräuche, schlesische 80 f.
Geburt 134. 148. 158.
Geflügel 310. 312. 319. 322 f.
Gehängter 81. 86.
Geister, verdammte 380. 414.
Geistergefahren 140 f.
Geisterkutsche 290. -schiff 264.
Geistliche Lieder 28.
Geisserlied 124. Geisshirt 123.
Genesung 186.
St, Georg 462. Georgsnacht, -tag 394.
Georgische Märchen 463.
Gesinde 131.
Gespenster 324. 414.
Getreideernte 126. -körner b. Hochzeiten 171.
Getreidetruhen 130.
Gewitter 285. 288. 416. 452.
Gilblas 428.
Glasberg 285.
Gliedkraut 402.
Glooscap 219.
Glückshaube 136. -mittel 316. 319. -rad 196.
Gode 291.
Goldbrünnlein 457.
Goldküste, afrikanische 61. 341.
Gomme, A. B. 223.
468
Register.
Görsbach 327.
Gossensass 26. 92. 109 f.
Gotscheer Volkslieder 6. 18.
Grabschriften 30. 92.
Gräcowalachische Sitten 134 f.
Gras 118.
Graumännel 455.
Gregorstag 323.
Grenzverrückung 114.
GrossacÜer 61.
Gründonnerstag 144.
Grüne Wiese 457.
Grnsische Geschichten 463.
Gsiessthal 77.
Gstanzeln 12.
Guardian u. Klosterfrau 199. 332—34. 437—41.
Guillaume d'Angleterre 73.
Gute Frau 73.
Gwerb, Rud. 451.
Hackelberg 264.
Hagedorn 395.
Hahn 315.
Hamburg, Frau v., Hamburger Handel 408 f.
Hand 47, hölzerne 427. Handkuss 206.
Hans, König von Dänemark 263.
Hartmann, M. 345.
Haselgerte 317. 452.
Hasenjagd 431. 433. 435.
Hatig 271.
Hauffen, A. 459.
Haus 108. Haus- u Hofmarken 279—82.
Hausgeister 299. 456.
Hausotter 82. 456. H.sprüche 30.
Haut versaufen 189.
Hebamme 135.
Heckelfeld 261. 263.
Heckenfjäll 264.
Heilsprüche 325. 448 f.
Heiratsorakel 310. 315. 317. 320 f. 449.
Hekla 258 ff.
Held erwirbt Prinzessin 98.
Helgafell 268.
Hellseher 323.
Hera 135.
Hermännlein 455.
Herrlein 454 f.
Hessberg 453.
TT All ATTI "f P 1
Hexen 302. 309. 314. 324. 395-97. 404.
Hexenberge 213. 264. 309.
Hexenfahrt, -salbe 460.
Hexenpantoffeln 149.
Hjertingzahl 245.
Himmelfahrttag 110.
Hirt 123. 309. 313 f. 317.
Historische Lieder 22.
Hochzeitgebräuche 166 f. 206—09. 215. 269 f.
-geschenke 168.
Hodja 202.
Hölle auf Island 256—269.
Höllenfenster 452.
Holunder 450.
Holz 111.
Höritzer Passionsspiel 24.
v. Hövel (Candorin) 184.
Hufeisen abreissen 425.
Hühlgrütte¿189.
Hühner 85. 310. 312. H.warzen 84.
Hund 316. 360. 453. Hundes Testament 428.
Hundetaufe 314. Hundshaare 313.
Hunoldsdorf 329.
Ich bin dein, du bist mein 13.
Impotenz 308.
Indianer, brasilianische 104.
Indianische Fabeln und Märchen 94.
Irdmann (Erdmann) 187.
Irregehn 313. Irrkraut 155 I.plätze 456.
Island 256 ff. 408 ff.
»iab erg 213.
Jägerlieder 10.
Jerichorose 135.
Jesuiten 90.
Jesus 395.
Jiriczek 218.
Jodler 16.
Johannistag 86. 196. 398. 402. 449.
Johannisfeuer 196. 402. 404. -kränze 402.
-rad 197.
Jon Egilsson 263.
Juchezer 16.
Jude, ewiger 292.
Jüdisch-deutsche Geschichten 109.
Jungfrauschaft 50. 292.
Jünglingsweihe 322.
Kalenderglaube, magyarischer 305—323. 392
bis 407.
Kameel 353.
Karfreitag 83.
Kärntische Teufelsagen 445.
Kartenschlagen 307.
Katechismusfragen 252.
Kater 317. gestiefelter 300.
Katharinentag 406.
Katzen 303. 397.
Kaulchendrehen 165.
Kehricht 313. 315.
Kenningar 246.
Kind im Berge 455.
Kinderhemd 143. -lieder 30. 180. 200. -schuhe
175. . -spiele 223. 461.
Kindleintag 315.
Kirchgang, Sylter 48.
Kirchhof 187.
Kirchmair, Th. 197.
Kirschenzweig 109.
Klagelieder 463.
Klapperbein 190.
Klee, vierblättriger 159. 165. , / u *
Kleinrussen 224. - U™
Klöpplerinnenreim 248.
Klosterfrau im Schneckenhaus 199. 333. 437 f.
Knoblauch 313 f. 394. 396. 401. 403.
Köhler, Reinh. 98.
Köhlerhütte 226.
Kolopanon 143.
Königspiegel 257.
Kopfloser Reiter 456.
Kornzoll 127.
Kosmogonie, ägypt. 231, griech. 230. 236,
indische 228. 231. 233. 236, lett. 238, or-
phische 233. 236, pars. 228, peruan. 240,
polynes. 241, zamait. 239.
Kotzen 123.
Krainisches Passionsspiel 443.
Register.
469
Kralik 93.
Kranke 194.
Kriegsgefangene 814.
Kristkindlein 318.
Kristnacht 451. 454.
Kuli 129. 314. Kuhstall 81. 458.
Kuhländchen 6.
Kulm a rm 187.
Kümmernis, heilige 419.
Kunstanfänge 103.
Kurbanbairam 203.
Lamai 429.
Langlebigkeit 1S6.
Lânwabl 451.
Lappenbaum 308. 312.
Lateruen 203.
Lauben 129.
Laubenhäuser 345.
Laubfrosch 399.
Laurentiustag 405.
Lausen 462.
Lautspiele 91.
Lebebensorakel 81G. -rute 47.
Leder 296.
Legendenlieder 21.
Leichenessen 345. -zug, nächtlicher 290.
Leichladen 463.
Lemke, E. 106.
Lenorenstoff 218.
Lesbische Yolkspoesie 461.
Lez 298.
Lichtei 233. 237.
Liebeslieder 462. -orakel 161. 310 f. -zauber
159 311.
Lied v. d. Zwölfzahl 251.
Liederhort, deutscher 338.
Linken Schuh anziehen 151.
Lob, verbotenes 140.
Loki 284.
Losen 449.
Lotosknospe 234.
Lübke, H. 106.
Lucienstuhl, -tag 309.
Lurjan 190.
Lutterotti, K. v. 382.
Mädchenstein 328.
Magdalenentag 404.
Magyarischer Kalenderglaube 306 f. 392 f.
-Lieder 32.
Mahrt 302. 304.
Mai 401.
Mailehen 87.
Männerhaus 104.
Mansen (sibir. Yolk) 226.
Mantelfahrt 283.
Märchen 34—41. 61—71. 98 f.
Margaretentag 404.
Maria, heil. 45. 134. 309.
Mariaegeburt 405. -heimsuchung 404. -licht-
mess 321.
Martin, heil. 374 f. Martinstag 406.
Marzebille 297.
Märzfaden 139.
Matthiastag 321.
Mäuse 398.
Mecklenburg. Sprichwörter 184—195. -Volks-
kunde 217. 347.
Medicin der Naturvölker 102. M.männer 341.
Meisterlieder v. Gevatter Tod 37.
Melcherkappel 120.
Melusinensage 387 f.
¡ Menses 158. 403.
! Metrische Form der Volkslieder 16. 22.
j Mexikaner 226.
! Meyer, E. H. 459.
Michaelstag 405.
Micmacs, Sagen der 219.
Mielke 345.
Milchanne Wöchnerin 146.
Minden 345.
Mingrelische Geschichten 463.
Missgeburt 145.
Mitgift 208.
Mittelschleswigsche Zählart 244.
Mittwoch 307.
Mönch, grauer 456.
Montag 306.
Moeren 144. 146.
Müdigkeit 154.
Müllenhoff, K. d j. 225.
Mundart und Volkslied 2 f.
Münster, Seb. 259.
Murrjahn 190.
Muttergottes 451.
Mutterhaube 136, -milch 146.
Nabelschnur 104. 135.
Nachgeburt 136.
Nackt 31.6 f. 323. 397. 399.
Nagelschnitzel 289.
Namen, Tiroler 461.
Namengebung, N.tausch 104. -orakel 315.
318.
Naogeorgius, Th. 197.
Napoleon, Spottlieder 26.
Natureingang der Lieder 15.
Nebelgeister 269. N.kappe 452.
Negermärchen 61—71.
Nephthys 427.
Neujahrstag 31S, -wunseh 85.
Neun 313. 317. 399.
Neuner 117.
Nibelungenland 441.
Nigritier 341.
Nikiaf 208.
Nikolaus 51, 100.
Ninive, Herr von, Kinderlied 180.
Nischan 208.
Nixen 301.
Nobiskrug 189.
Nonnen vom Blitz getötet 418.
Nordangeln, Zählart 244.
Nörggelen 132.
Notburga, heilige 133.
Notfeuer 404.
Nunnen, Nünnercher 56 f. 88.
Nunnor 183.
Nymphen 142.
Obrist Hans v. Stans 332.
Ochsenzunge (anchusa) 402.
Ódáinsakur 256.
Odin 220.
Offenburg 196.
Ohrringe 137. 144.
Olaus Magnus 260.
470
Register.
Onkels Recht 340.
Opfer 311.
Orakel 161 f.
Orleans, Elisab. Charl. 183.
Ornstein 210.
Ostern 396.
Oesterreichisches Volkslied 1—33!
Ostfriesische Lautspiele 91.
Ottenstein 452.
Otternkönigin 456, -köpfchen 83.
Palmsonntag HO. 392.
Panter 69 f.
Pantoffel 158. 175.
Papageienbuch 94 f.
Paradisar hellir 256.
Passionsspiel, Höritzer 211, krainiscbes 443.
Patäcärä 71 f.
Patenschaft 144.
Paulstag 321.
Pechliwan 274.
Peer, J. 264.
Peerse, G. 261.
Pein, kalte, heisse 257. 259. 263. 269.
Percys Reliques 96.
Peter und Paul 200. 404.
Petrus 189.
Peucer 261.
Pf äff, Fr. 217.
Pfaffenkellnerinnen 291. 412.
Pfänderspiele 374. 409.
Pferdekenntnis 347. 352. 357. 362.
Pferderenuen, türkische 275.
Pfingsten 401.
Pflanzen 117.
Phokea 143.
PisJarstadir 257.
Pitrè, Gius 218.
Platz (Gebäck) 81.
Poggio 428.
Prätorius, J. 37. 40.
Predigtartige Reden 374 — 378.
Primisser 341.
Purzelbock 456.
Puschmutter 456.
Rabbiner 210.
Ramezanbairam 203.
Rammerlieder 246 f.
Ramser 374.
Rand, S. T. 219.
Rannveig 266.
Rappaport 210.
Rasenerde 44.
Rätsel 30. 131. 200. 224.
Ratten 398.
Räucherung der Wochenstube 140.
Raufjodl, ÍSteirischer 335 f. 459.
Rauflust der Kühe 119.
Rêbretter 463.
Redensarten vom Tode 185—95.
Regenzeichen 326.
Reichenbach i. Schi. 453.
Rendi 117.
Rennfeste, türkische 274 f.
Rennpferde 275.
Rheumatismus 325.
Riesen 292 f.
Ringer 276.
Ringfeste, türkische 273—75.
Rolland, E. 337.
Ronde religieuse 252.
Rot 290. 297.
Rückwärts zählen 385.
Rutlienen 225.
Sachs, H. 36. 345. 431.
Sagen, kärntische 445, schles. 452, steir. 451.
Thüringer 327, Tiroler 461.
Sagensammeln 106.
Sailer, Seb. 433.
Salz 172.
Sammlungen volkst. Überlieferungen 217. 336.
459.
Samoa 242.
Samstag 308.
Sarg 188.
Sau, rote 446.
Sautreiben (Kinderspiel) 461.
Sausaler Aberglaube 451.
Saxo, Grammat. 256.
Sébillot, P. 337. 343.
Seen am Bacher 452.
Seemannstod 193.
Segen, schweizerische 447 f.
Segensprüchc 825. 447.
Seler, Dr. 226.
Sieb 382.
Sieben, siebenzehn 382.
Siebenbiirgische Volkslieder 17.
Siebenmeileustiefeln 284.
Silvesterabend 316.
Sineater 345.
Sklavenhandel 310.
Slovenische Lieder 31.
Snes 244.
Die Sonne sank im Westen 90.
Sonne, Weltei 231.
Sonntag 307. 309.
Speisereste 311.
Spengeltuch 86.
Spiegel 401.
Spielkarten religiös gedeutet 253.
Spinne -82. spinnen 308.
Spitzenklöpplersprüche 248.
Spottlieder 26. 199.
Sprachinseln, deutsche 17.
Sprechübungen 91.
Sprichwörter vom Tode 185—95.
Spukgeschichte 323.
Stab vom kleinen Stabe 353.
Staubstreuen 307.
Steiermärkischer Raufjodl 335. 459.
Steine, blutende 214.
Steinen, K. v. 104.
Steinkenntnis 347. 351. 363.
Steinwerfen der Geister 416.
Steinwurf ins Wasser 452.
Steirisches 451 f. 459.
Stempeneien 448.
Stephanstag 405.
Sterben 186 f. 190 f.
Stiefel 178. Stiefeli 292. 300.
Stiege (Zahl) 243.
Stolberg 3¿9.
Storch 83.
Strafen verdammter Geister 380 f.
Streit um Wunschdinge 286.
Register.
471
Streu (Strebe) 128.
Strickerinnenreim 250.
Strumpf 150. 153. 164 f.
Strumpfband 149. J65. 169.
Stupfreck 215.
Suaheli 96. 342.
Sveirra Akason 258.
Sympathiemittel 325.
Syrithamotiv 462.
Schafe 113. 120. 458. Schafstall 446.
Schatz des Darius 403. Sch. u. Schuh 420.
Schatzblühen 117. 422. Schatzgraben 402.
Schatzhüterinnen 420. 452 f.
Scheibentreiben 195.
Scherz 117.
Schiedsrichter um Wunschdinge 287.
Schimmelreiter 290.
Schläge 171.
Schlangen 347. 452. 460 Schl.beschwörung
379 f. Abwehr 323. 396.
Schlesien 80—S6. Schles. Gesellschaft 336.
Schles. Sagen 452 f.
Schlitten 60.
Schlucken 82. 325.
Schmalz 111.
Schnaderhüpfel 11 f. 198 f.
Schneckenhaus u Klosterfrau 199. 333. 437 f.
Schneider, Spottlied 434.
Schneiten 129.
Schnodahaggen 14.
Schnupfen 149.
Schuh 41 f. 148 f. 282 f. 412 f. Abgabe 177.
Ackermass 173. aphrodisisches Symbol 157
bis 166. eiserne 294. 415. farbige 413.
hölzerne 415. bei Hochzeiten 166 f. als
Wurde- undMachtzeichenl73—180. Wirkung
auf Gesundheit 148 f. auf Reichtum 151.
Symbol der Wolke 282. 296. 417. allerlei
Zauber 152 f. geschmiert 53. 151. 157.
gewechselt 155. geworfen 152. 161. aus-
gezogen 171. 178. der Zwerge 298.
Schuhmacher 297 (Libelle) 301 (Wassergeist).
Schuhschnalle 296.
Schuldsklaven 340.
Schuster 296.
Schwaben, sieben 430 — 435.
Schwalben 82.
Schwangere 49. 140. 142. 157.
Schwartz, W. 106. 345. 461.
Schweigsamkeit 448.
Schweinskopf 322.
Schweizerisches Idiotikon 338. Schw. Segen
447 f.
Tagelied 97.
Taimenberger Kapelle 149.
Tanz, türkischer 208. Tanzende Schuhe 295.
Tänzer versunken 323.
Tanzlieder 462. Tanzteich 328.
Tausammeln 395. 3U7. 399.
Taufe 144.
Testament des Esels, des Hundes 428 f.
Teufel 190. 293. 316. 397. 445. 449. 452.
Teufelsagen 255. 445. Teufelsmauer 328.
T.pferde 447. T.opfer 316.
Textilindustrie 345.
Theoderich 257.
Thomasnacht 407.
Thot 231.
Thüringer Sagen 327.
Tibetanische Novellen 347 f.
Tier und Mensch 104. T.fabeln 34. Tier-
geschichten, afrikanische 61 f. 342. köpfe
458. opfer 458. Verwandlung 105.
Tirolisches 109f. 461. Volksdichtung 197 f. 331.
Tod 150. 186—195. 210. Gevatter Tod 34 f.
T.ansagen 327.
Tollwut 403.
Tote beweinen 457. Totenbretter 463. Toten-
gottesdienst 314. T.kult 106. T.klagen 18.
463. T.schuh 422 f. T.tanz 19.
Trauerzeichen 180.
Traum, ungr. Novelle 365.
Träume 85.
Trauung, türkische 271.
Trefflichst, Prinz 349.
Tribukeit 105.
Tschechische Lieder 32.
Tuch = Wolke 283.
Türken in Bulgarien 202 f. Türkenlieder 23.
türkische Sitten 202—209. 269—79. t. Tanz
208. t. Erzählung 428.
Ullr 284.
Undank des Menschen 63. 65.
Unfruchtbarkeit 157.
Ungrisches JBergland, Lieder 19. Ungrischer
Kalenderglaube 305 f. 392 f.
Unkraut 119.
Unreinheit der Wöchnerin 145.
Uppalavannä 71.
Yerirren 155. 456.
Verkehrsmittel 343.
Verlobuug 207.
Verlorensberg 456.
Vesperbrot 82.
Vidarr 284.
Viehaustrieb 398. V.schutz 404. V segen 448.
V.seuche 458. V.spreclien 314. V.zucht 128.
Vierzeiler 16. 462.
Vincentiustag 320.
Vitishellir 256.
Vogelfrass 398.
Vogtland 464.
Volkskunde, Vereine 336. 459,
Volkslied 1—33.
Volksmedicin 102.
Volksschauspiele 29.
Volksüberlieferungen 217. 337. 459.
Vorarlberg 332.
Vorschau des Bräutigams 310.
Vorse&nung der Wöchnerin 136. 143.
Vorzeichen 81 f. 85. 310 f. 326 f.
Waiden 106. 226. 345.
Waldordnung 112.
Wallfahrten 80.
Waldfrau 456.
Walpurgis 84. 291.
Warzen 325.
Wäsche 307.
Waschungen der Türken 204.
Wasser, goldenes 319.
Wassergeister 301. Wassermann 452.
Weberei 345.
Wechselbalg 299. 307.
472
'ister.
Weide 395. 457.
Weiden in der Oberpfalz 329.
Weihnacht, Geschichte 100.
Weihnachtabend 86. 311. bäum 101. brauche
311. klotz 313. lieder 29. spiel 93.
Weine nicht um dein j. fr. Leben 334.
Weinhold, K. 345.
Weisse Frau 322. 413. 452 f.
Weisse Geister 141.
Weite 108.
Weltei 228. 237.
Weltschlacht 457.
Werwolf 325.
Westfälischer Roman 344.
Wetter 108. W.zeichen 82. 310. 312. 321 f.
Wettlauf 88.
Wickelkind 137.
Wiedehopf 395.
Wiegenlieder 54. 89. 462.
Wiese, grüne 457.
Wiesenräumen 116.
Wildes Heer 289. w. Jäger 289. 297.
Wilgefortis 419.
Wilhelm v. Wenden 73.
Wind 127. 419.
Windel 143.
Wochentage 306 f.
Wöchnerinnen 140. 426.
Wolf Königssohn 185.
Wolff, Heinr., Meistersinger 37. 40.
Wolkenfrauen 295 f. 413.
Wossidlo, R. 217. 337.
Woutzel 89.
Wunderkraut 421.
Wunschdinge - 285.
Wurf 161. 452.
Würmer 307.
Zadig 360.
Zahlen im Volksbrauch 243—256. 374—387.
im Rechtsleben 442.
Zahlgeheimnisse 379. 383. 386.
Zählen den Geistern aufgegeben 380. z. schadet
383.
Zählkenninge 246.
Zangenberg 453.
Zauberzunge 139.
Zaun 114.
Zehenbiss 53. 423.
Zeichen der Tiere 347 f.
Zeugungsakt, kosmogonischer 236. 242.
Zigeuner 78.
Zobten 454 f.
Zoller, Fr. K. 331.
Zukunftserforschung 161 f. 383.
Zulukafl'er 341.
Zungenband 458.
Zwerge 295. Auszug und Überfahrt 455.
Zwerglöcher 329.
Zwölfzahl, heilige 251 f.
Druck von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerstr. 17a.
Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1894.
Taf. I.
Zeitschrift des Vereins für Volkskunde
Taf. II.
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ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und IT. Steinthal.
Im Auftrage des Vereins
herausgegeben
Karl Weinhold
Vierter Jahrgang.
Mit zwei Tafeln und mehre