ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Karl Weinhold.
Im Auftrage des Vereins
herausgegeben
Johannes Bolte.
17. Jahrgang.
0/
Mit achtzehn Abbildungen im Text.
BERLIN.
BEHREND & C°.
(vormals A. Asher & Co. Verlag)
1907.
y
N
1907,
Inhalt
Abhandlungen und grössere Mitteilungen.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung, II: Naturdeutung und Sagen-
entwicklung. Yon Oskar D ähn liar dt. (A. Äsopische Fabeln: Zeus und der
Affe. Die Hasen und die Frösche. Der Storch als Froschkönig. —
B. Märchen: Strohhalm, Kohle und Bohne. Der fliehende Pfannkuchen.
Die versenkten Schlüssel)....................1—16.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild. Von Anton Englert (3. Die
zehn Alter der Welt, von Martin Schrot 1574. — 4. Die männlichen unti
weiblichen Altersstufen von Christofano Bertelli, um 1570. — 5. Deutsche
und niederländische Flugblätter aus dem 17. und 18. Jahrhundert). Mit
vier Abbildungen. — Nachtrag: Die vier Lebensalter werden auf den Tod
vorbereitet. Yon J. B.........................
Drei spätmittelalterliche Legenden in ihrer Wanderung aus Italien durch die
Schweiz nach Deutschland. Von Heinrich Diibi. (1. Vom Landpfloger
Pilatus. — 2. Vom Ewigen Juden. — 3. Frau Vrene und der Tann-
häuser) . ...................... 42—65.143—160.
Der Krapfen. Von Max Höfler. Mit drei Abbildungen..........
Kurdische Sagen. Von Bagrat Chalatianz. (15. Die mythologische Bedeutung
der Sagen)..............................
Fortpflanzung, Wochenbett und Taufe in Brauch und Glauben der weiss-
russischen Landbevölkerung. Nach Angaben von Frau Olga Bartels auf
Koslowka, Gouv. Smolensk, zusammengestellt von Paul Bartels.....
Zur Geschichte vom weisen Haikar. Von Theodor Zachariae. (1. Die Auf-
gabe, Stricke aus Sand zu winden. — 2. Der Ursprung der Haikar-
geschichte). . ............................
Nachlese zu den Sammlungen deutscher Kinderlieder. Von Georg Schläger
(Nr. 1-200)........................ 264-298.
Volksrätsel aus Osnabrück und Umgegend. Gesammelt von August Brunk
(Nr. 1-106).............................
Feuer und Licht im Totengebrauche. Von Paul Sartori..........
Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag. Von Bagrat Chalatianz.
(Vorwort. 1. Rostom und Salman. — 2. Rostam. — 3- Rostam und seine
Enkel. — 4. Rostam und die Frauen. — 5. Bedjän. — 6. Sam).....
Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts. Von Johannes Bolte. (1. Die Hasen
braten den Jäger. — 2. Die Gänse hängen den Fuchs. — 3. Der luchs
predigt den Gänsen. — 4. Der W olf predigt den Gänsen. — 5. Sechzehn
Eigenschaften eines schönen Pferdes. — 6. Tierische Eigenschaften der
Menschen)............................ • •
Seite
129-143
16- 42
249 -264
65— 76
76— 80
160-171
172-195
387-414
298 -307
361—386
414-424
425-441
IV
Inhalt.
Kleine Mitteilungen.
Seite
Nachtrag zu dem Artikel 'Siebensprung'. Von E. Hermann................81— 85
Zum Fangsteinchenspiele. You E. Lemke und J. Bolte....................85— 88
Drei russische Wurfspiele mit Knöcheln. Yon E. Lemke (1. Altscha. —
2. Ssakämanei. — 3. Cidjátechaía.)....................................89— 91
Das ostpreiissische Hölzchen- oder Klötzchenspiel. Yon E. Schnippel (mit
zwei Abbildungen)....................................................91— 94
Ein Johannisbaum in den Pyrenäen. Yon M. Höfler (mit einer Abbildung). . 94— 95
Zum St. Coronagebet. Yon M. Höf 1er....................................95— 96
Badische Yolksbräuche des 17. Jahrhunderts. Von 0. Heilig (1. Wägen der
Knaben. — 2. Mailehen)..............................................96— 97
Sagen von Tautenburg (1-13). Von 1J. Mitzschke........................98—100
Volkslegenden aus dem Böhmerwald und dem Kuhland (1—9). Von D. Stratil 100—105
Die schönste der Feen, rumänisches Märchen, übersetzt von E. Richter . . . 105—109
Ungarische Volksmärchen, übersetzt von E. Rona-Sklarek (4. Der holz-
geschnitzte Peter)..........................109—112
Albert Yoss f. Von M. Roe dig er........................................113
Der grüne Wirtshauskranz. Yon R. Andre e (mit fünf Abbildungen) .... 195—200
Das Fahnenschwingen der Fleischer in Eger. Von A. John (mit einer Ab-
bildung)............................................................201-203
Volkslieder aus Vorarlberg (1—10), gesammelt von A. Dörler................307 — 311
Tierstimmen im Braunschweigischen. Von 0. Schütte...........311-313
Ein Wettersegen aus dem 16. Jahrhundert. Von P. Beck..........313 — 314
Alte Türriegel. Von W. v. Schulenburg..................................314
Ein Aberglaube der portugiesischen Seeleute. Von M. Abeking............314
Ein merkwürdiger Fall von Durchziehen. Von Th. Zachariae..............315
Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes. Von R. J. Kaindl. (1. Drei
historische Volkslieder der Bukowiner Ruthenen. — 2. Das Ortschaftslied. —
3. Sagen vom Herrn Kaniowski. — 4. Totenhochzeit)..........315—321
Volksbräuche aus dem Chiemgau. Von K. Adrian (2. Die Rockenfahrt. —
3. Der Hoarer. — 4. Flodererfahren und Kreisfangen)....................321—325
'Einem die Hölle heiss machen'. Von R. Neubauer........................325—328
Scheibensprüche aus Oberösterreich (1-6). Von R. Zoder..................441—442
Alte Studentenlieder. Von P. Beck (mit Anmerkungen von J. Bolte) . . . . 443 —447
Zum Siebensprunge. Von E. Lohin ey er..................................447
Hausinschriften aus Detmold. Von H. Heuft..............................447—448
Kinderreim und Aberglauben aus Weimar und Ettersburg. Von P. Mitzschke 448 —449
Die zwölf goldenen Freitage. Von K. Reit er er........ ..........449 — 450
Segensprüche aus den Alpen. Von K. Reiterer............................450
Braunschweigische Segensprüche. Von 0. Schütte..........................451
Charles Perrault über französischen Aberglauben. Von J. Bolte............452—454
Ein Innsbrucker Hausinventar aus dem Jahre 1626. Yon A. Sikora..........454
Das neue vlämische Museum für Volkskunde in Antwerpen. Von R. Andree 457—460
Spielmannsbusse im 14. Jahrhundert. Von J. Bolte........................461
Die Aufgabe, Stricke aus Sand zu winden (vgl. S. 172—186). Vou Th.
Zachariae..........................................................461—462
Berichte und Bücheranzeigen.
Neuere Arbeiten über das deutsche Volkslied. Von J. Bolte................203—210
Neuere Märchenliteratur. Von J. Bolte....................................329—342
Neuere Arbeiten zur slawischen Volkskunde, 1. Polnisch und Böhmisch. Von
A. Brückner. — Südslawisch und Russisch. Von G. Polivka 210—234. 343—354
Inhalt. Y
Seite
d'Ancona, A.: La poesia popolare italiana, 2. edizione (J. Bolte)......2-12 — 243
Bjerge, P. og Th. J. Söegaard, Danske Yider og Vedtsegter 1: Öerne
(A. Heusler)..........................................................241-244
Bockel, O.: Psychologie der Volksdichtung (K. Reuschel).........116—121
Bonus, A.: Isländerbuch, Sammlung 1 und 2 (A. Heusler)..................4G5
Caland, W.: De Studie van het Sanskrit in verband met ethnologie en klassieke
philologie (Th. Zachariae)..............................................468 — 472
Crome, B.: Das Markuskreuz vom Göttinger Leinebusch (A. Heusler) .... 118—115
Dames, M. L.: Popular poetry of the Baloches 1—2 (J. Bolte)..............465—467
Fataburen. Eiue schwedische kulturgeschichtliche Zeitschrift (R. Andree). . 289 — 241
Feilberg, H. P.: Jul 1-2 (J. Bolte)..................115—116
Günter, H. Legenden-Studien (H. Lohre)..................................236—237
l'Houet, A.: Zur Psychologie des Bauerntums (O. Ebermann)..............462—463
Jacob, G.: Geschichte des Schattentheaters (J. Bolte)......................354—355
Keller, A.: Die Schwaben in der Geschichte des Yolkshumors (H. Lohre) . . 468 — 464
Klemm, O.: G. B. Vico als Geschicbtsphilosoph und Yölkerpsycholog (H. Michel) 235—236
Kluge, F.: U nser Deutsch. Einführung in die Muttersprache (H. Michel) . . 234—235
Kronfeld, E. M.: Der Weihnachtsbaum (J. Bolte)..........................248—240
Lucius, E.: Die Anfänge des Heiligenkultes in der christlichen Kirche
(H. Lohre)............................................................236—237
Maeterlinck, L.: L. genre satirique dans la peinture flamande. 2. edition
(J- Boite)............................................................355—356
Martin, A.: Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen (P. Bartels) .... 287—239
Pfaff, F. s. Volkskunde.
Reitzenstein, R.: Hellenistische Wundererzählungen (H. Lucas)......122—126
Sebestyen, G.: Sammlung aus dem rechtsseitigen Donaugebiet (E. Rona-
Sklarek)............................., # 467-468
Sébillot, P.: Le folk-lore de France 8: La fanne et la flore (J. Bolte) . . . 121 — 122
Volkskunde im Breisgau, hsg. durch F. Pfaff (J. Bolte)....................244
Notizen (0. Arnstein, R. Brandstetter, A. van Gennep, M. Gerhardt, F. Heine-
mann, E. Hoffmann-Krayer, R. F. Kaindl, G. Kropatschek, F. v. Lipper-
heide, E. Rabben, A. Schullerus, K. Spiess, J. Leite de Vasconcellos. —
R. Andree, R. Basset, E. G. Bourne, V. Dingelstedt, A. Forke, H. Gaidoz,
C. C. van de Graft, P. R. T. Gurdon, F. Heinemann, A. Hell wig, Ahmed
Hikmet, M. Höfler, A. W. Howitt, M. Lohr, G. Paris, K. Reuschel) 244—246. 356—358
Aus den Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde. Von 0. Ebermann,
G. Minden, J. Bolte und K. Brunner...... 127—128. 245—248. 358—360
Register
473—479
Mob-MO
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Kar! Weinhold.
Im Auftrage des Vereins
herausgegeben
von
Johannes Bolte.
Mit zehn Abbildungen im Text.
Berlin.
BEHREND & c°.
(vormals A- Asher & Co. Verlag)
1907.
Die Zeitschrift erscheint á mal jährlich.
Inhalt.
Seite
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung, II: Naturdeutung
und Sagenentwicklung. Yon Oskar Dähnhardt .... 1 — 16
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild. Yon Anton
Englert (3. 'Die zehn Alter der Welt" von Martin Schrot,
1574. — 4. Die männlichen und weiblichen Altersstufen von
Christofano Bertelli, um 1570. — 5. Deutsche und nieder-
ländische Flugblätter aus dem 17. und 18. Jahrhundert). Mit
vier Abbildungen. — Nachtrag: Die sieben Lebensalter werden
auf den Tod vorbereitet. Yon J. B..........16—42
Drei spätmittelalterliche Legenden in ihrer Wanderung aus Italien
durch die Schweiz nach Deutschland. Yon Heinrich Diibi
(1. Yom Landpfleger Pilatus) .......42—65
Der Krapfen. Yon Max Höfler. Mit drei Abbildungen . . . 65—75
Kurdische Sagen. Yon Bagrat Chalatianz (15. Die mythologische
Bedeutung der Sagen)..............76—80
Kleine Mitteilungen:
Nachtrag zu dem Artikel 'Siebensprung'. Von E. Hermann. S. 81. — Zum Faug-
steinchenspiele. Yon E. Lemke und J. 15ölte. S. 85. — Drei russische Wurfspiele mit
Knöcheln. Von E. Lemke (1. Altscha. — 2. Ssakamanei. — 3. Cidjátechaía). S. 89. —
Das ostpreussische Hölzchen- oder Klötzchenspiel. Von E. Schnippel (mit zwei Ab-
bildungen). S. 91. — Ein Johannisbaum in den Pyrenäen. Von M. Höfler (mit einer
Abbildung). S. 94. — Zum St. Coronagebet. Von M. Höf 1er. S. 95. — Badische Volks-
bräuche des 17. Jahrhunderts. Von 0. Heilig (1. Wägen der Knaben. — 2. Mailehen).
S. DG. — Sagen von Tautenburg (1—1.3). Von P. Mitzschke. S. 98 — Volkslegenden
aus dem Böhmerwald und dem Kuhland (1—9). Von D. Stratil. S. 100. — Die schönste
der Feen, rumänisches Märchen, übersetzt von E. Richter. S. 105. — Ungarische Volks-
märchen, übersetzt von E. Rona-Sklarek (4. Der Holzgeschnitzte Peter). S. 109. —
Albert Voss f. Von M. Roediger. S 113.
Berichte und Bücheranzeigen:
B. Crome, Das Markuskreuz vom Göttinger Leinebusch (A. Heusler) S. 113. —
H. F. Feilberg, Jul (J. Boite). S. 115. — 0. Bockel, Psychologie der Volksdichtung
(K. Reuschel). S. 116. — P. Sébillot, Le folk-lore de France III (J- B.). S. 121. —
R. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen (H. Lucas). S. 122.
Aus den Sitzungs - Protokollen des Vereins für Volkskunde
(0. Ebermann, Gr. Minden, J. Bolte)......127—128
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift auf
Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im Interesse des
Yereins, Kreuzbandsendungen beliebe man an die Adresse des
Herausgebers, Prof. Dr. Johannes Bolte, Berlin SO. 26, Elisabethufer 37,
zu richten.
Bücher zur Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
Buchhandlung Behrend & Co. (vormals A. Asher & Co.), Berlin W. 64,
Unter den Linden 16, senden.
Beitrittserklärungen zum Verein nehmen der 1. und 2. Vorsitzende
Prof. Dr. Max Roediger, Berlin SW. 47, Grossbeerenstr. 70, und Prof.
Dr. Johannes Bolte, sowie der Schatzmeister Bankier Hugo Ascher,
Berlin N. 24, Monbijouplatz 1, entgegen.
Der Jahresbeitrag, wofür die Zeitschrift an die Mitglieder gratis und
franko geliefert wird, beträgt 12 Mk. und ist bis zum 15. Januar an den
Schatzmeister zu zahlen. Nach diesem Termine wird er von den Berliner
Mitgliedern durch die Paketfahrtgesellschaft eingezogen werden.
(Fortsetzung auf S. 3 des Umschlags.)
Beiträge zur vergleichenden Sageiiforschung.1)
Von Oskar Dälmliardt.
II. Naturdeutung und Sagen entwicklung.
„Um alles menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, was die Natur eines
Landstrichs besitzt, oder wessen ihn die Geschichte gemahnt, sammelt
sich ein Duft von Sage und Lied, wie sich die Ferne des Himmels blau
anlässt und zarter, feiner Staub um Obst und Blumen setzt. Aus dem
Zusammenleben und Zusammenwohnen mit Felsen, Seen, Trümmern,
Bäumen, Pflanzen entspringt bald eine Art Verbindung, die sich auf die
Eigentümlichkeit jedes dieser Gegenstände gründet und zu gewissen
Stunden ihre Wunder zu vernehmen berechtigt ist." Mit diesen Worten
geben die Brüder Grimm in der Vorrede zu den deutschen Sagen eine
treffliche Wegweisung zum Verständnis der Sagenpoesie. Nirgends aber
hat das Wort von dem Zusammenleben mit dei Natili und dem Erfassen
ihrer Eigenart so volle Gültigkeit wie bei den Ursprungssagen, die
die Entstehung oder das Wesen einer Naturerscheinung aus einer märchen-
haften Begebenheit ableiten. Denn wie die Rätsel der Schöpfung sich in
unermesslicher Fülle der Menschheit darbieten, so gibt auch die Mensch-
heit in unermesslicher Fülle ihre Antworten, verschieden zu verschiedenen
Zeiten und Orten, aber immer mit dem ernsten Willen, das ewige Warum
zu ergründen.
Die älteste Naturerklärung, das ist unzweifelhaft, geschah in sinn-
vollen Mythen, in die des Glaubens ganze Kraft gelegt war. Solche
Mythen hat jedes Volk auf der Kindheitsstufe ersonnen und innerlich
erlebt: sie folgten der Naturanbetung und mussten folgen; denn das kau-
sale Denken verlangte sein Beeilt.
Zu den Anfängen der Religion kamen dann, wenn man so sagen darf,
die Anfänge der Naturwissenschaft, insofern die Wissenschaft fordert, den
Gründen der Erscheinungen und ihren Zusammenhängen nachzuspüren,
und andererseits die Mannigfaltigkeit der Natur den Menschen schon früh-
1) Vgl. oben IG, 369-396.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 1
2
Dähnhardt:
zeitig zum Sehen und Erkennen anleitete. Freilich gelangte diese erste
lernende Betätigung des menschlichen Geeistes nicht über die Sage hinaus.
Während der primitive Mensch wie mit staunenden Kinderaugen dieses
grosse Bilderbuch der Natur überblickte, da ist die Poesie über ihn
gekommen, nicht lehrhaft, nein, fröhlich, mit fruchtbarem Schaffensdrang.
Und während er den beobachtenden Geist und das empfindende Herz
denen zuwandte, die ihm unter allen Geschöpfen am nächsten standen,
den Tieren, da erwuchs ihm der köstlichste, unvergängliche Besitz: das
Tiermärchen. „Das echte Tiermärchen", das ist auch ein Wort Grimm-
scher Prägung1), „kennt nur die unschuldige und freie Lust an der Poesie:
es will zunächst nur ergötzen und überlässt es seiner inneren Kraft, in
dem rechten Augenblick auf das Gemüt des Menschen zu wirken."
Erst später entsteht auf dem Boden der Sage die Fabel. Beide ver-
bindet eine enge Verwandtschaft, so dass ihre Grenzlinien sehr oft inein-
ander übergehen und es kaum möglich ist, sie zu scheiden. Zwar heisst
es: die Fabel belehrt, das Märchen unterhält. Aber die belehrende Idee
fehlt doch auch dem Märchen nicht, und es gibt Fabeln, deren Moral wir
durchaus nicht als den ausklingenden Akkord empfinden. Mag sie auch
äusserlich hinzugefügt sein, sie tritt hinter den Stoff zurück. In dem
Augenblick aber, wo der lehrhafte Charakter verschwindet, ist das Märchen
fertig. Diese Wandlung vom Lehrhaften zum Märchenhaften ist
nicht selten in der Yolksüberlieferung zu beobachten. In der Gunst der
Völker hat allezeit die Poesie der beiden älteren Gattungen, des Natur-
mythus und der Natursage, höher gestanden, als die Didaktik der jüngeren.
Und so kommt es, class gar manche Fabel, die in den Volksmund ge-
langt ist, zur Natursage wurde. V Ursprünglich lehrhaft gemeint, diente
sie nunmehr vorwiegend zur blossen Ergötzung, gleich dem Märchen.
Somit ist denn eine ganz neue Schicht von Natursagen entstanden, die
nichts zu tun hat mit jenen älteren, und wir erhalten das eigentümliche
Bild, dass die aus der Sage hervorgegangene Gattung wieder zu dieser
zurückkehrt. Zu den Faktoren aber, die die Fabel zur Sage umschaffen,
gehört die Deutung des naturgeschichtlichen Ursprungs, die sich
häufig an die Stelle der Moral setzt, um so häufiger, je grösser die
Vorliebe der Völker für solche Ursprungsgeschichten ist.
Doch nicht nur die Fabeln erhalten dadurch ein wesentlich verändertes
Aussehen. Auch Märchen, Schwänke und Legenden werden zur
poetischen Ausdeutung natürlicher Dinge und Vorgänge benutzt. Es ist
psychologisch höchst interessant, zu beobachten, wie naturerklärende
Wanderstoffe und Wandermotive fortwährend Anstoss geben zur Neu-
bildung und Umbildung von Traditionen, so dass sich die Sagengeschichte
auf diesem Gebiete ungemein bewegt und lebensvoll gestaltet.
1) Wilhelm Grimm, Thierfabeln bei den Meistersiingern (1855) S. 20 = Kleine
Schriften 4. 388.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
3
Die naturerklärenden Sagen zerfallen demnach in zwei yon Grund ans
verschiedene Gruppen:
1. Die rein naturdeutenden (ätiologischen) Sagen, d. h. solche, die
aus dem Bedürfnis der poetischen .Naturerklärung hervorgegangen und
lediglich zu diesem Zwecke erfunden sind. Die Erfindung hat in ihrem
ganzen Aufbau, vom Anfang bis zum Ende, nichts anderes als das eine
Ziel im Auge: das Warum der Naturerscheinung zu beantworten. Diese
Sagen sind religiös oder zur Ergötzung bestimmt, ein Ausdruck innigen
Naturgefühls.
2. Die willkürlich naturdeutenden (willkürlich ätiologischen) Sagen,
d. h. solche, die ursprünglich zu anderen Zwecken als dem der Natur-
erklärung erfunden und infolge der Yorliebe für die poetische Natur-
erklärung umgestaltet sind. Die Erfindung hat in ihrem ganzen Aufbau
keineswegs die Naturdeutung im Auge, sondern es wird plötzlich — zu-
meist am Schlüsse — das Thema verlassen und mit oft überraschender
Wendung zum naturgeschichtlichen Ursprung übergegangen.
Solche Wendungen ergeben sich bisweilen zwanglos, und es hat einen
besonderen Reiz, die ästhetischen Beweggründe aufzudecken, aus denen
die A arianten hervorgegangen sind. Oft findet man sinnige oder witzige
Einfälle, Erzeugnisse einer Künstlerlaune, die mit dem Stoffe spielt. Oft
freilich versucht sich an des Künstlers Stelle der rohe Handwerker, dem
es am nötigen Geschmack fehlt, etwas Rechtes zu schaffen. Sehr reich
an willkürlicher Ätiologie sind die kirchlichen Legenden. Hier ist ent-
weder auf einen heidnischen Mythus eine christliche Ätiologie aufgepfropft,
oder es ist einer rein christlichen Legende die ätiologische Pointe ver-
liehen. Nicht anders im Islam und bei den Juden.
Soweit es sich nun bei den willkürlich naturdeutenden Sagen um
Schlüsse handelt, die auf der Yorliebe für poetische Ursprungsgründe
beruhen und nach dem Muster der rein ätiologischen Sagen ersonnen sind,
darf man getrost behaupten: ihre Anzahl ist so gross, dass sie zu den
formelhaften Schlüssen zu rechnen sind. Es käme sonach zu den
fünf Gruppen, die Robert Petsch aufgewiesen hat, noch eine sechste hinzu.
Einige Beispiele mögen diese Aufstellungen erläutern.
A. Äsopische Fabein.
1. Zeus und der Affe.1)
Äsop erzählt, dass Zeus alle Tiere mit ihren Jungen vor sich kommen liess,
um zu entscheiden, welche Mutter den Preis verdiene. Auch die Affin erscheint
und erregt mit ihrem hässlichen Sprössling das Lachen der Götterversaminlung.
Sie aber ruft aus: Zsvg ;Äv oloe tr¡v mcvji/* kfxoi ol ttÚvtwv ovtcç son xv-t.'/.íwv, oder,
1) Aesop Nr. 3(54 (Halm) = Babrius 56. Danach Avian 14, nach diesem Steinhöwel
125, Boner 79, Burkhard Waldis 1, 81 (mit Anm. von Kurz).
1*
4
Däbnhardt :
wie es in der deutschen Bearbeitung Steinhöwels heisst: „Obrister got, du kennest,
daz der sig an mir ist; und ob ieman anders hoffnung hette zuo synem kind, so
ist doch myn urtail, daz myne kind über alle kind die schönsten synt."
Eine leichte Änderung dieses dankbaren Stoffes weist eine lateinische Be-
arbeitung auf.1) Die Affenmutter kommt vor den Löwen und hofft auf dessen
Lob. Aber mit Lächeln erwidert er: Ihr scheint mir mehr merkwürdig als lobens-
wiirdig. (Daran schliesst sich, locker angeknüpft, eine Fortsetzung, die von einer
anderen Fabel herstammt.)
Wie liier an die Stelle des Götterkönigs der Tierkönig getreten ist,
so finden wir anderswo auch den Beherrscher der Vögel, den Adler; als
verblendete Mutter erscheint nunmehr die Eule. Diese Fabel steht bei
Abstemius2): Der Adler hat in einer YogelVersammlung erklärt, er wTolle
die schönsten Vogelkinder zu seinem Hofgesinde erwählen. Nimm die
meinigen, sagt die Eule, denn sie überragen alle durch Schönheit. Wie
sehen sie denn aus? fragt der Adler. Wie ich, antwortet die Eule. Und
alle lachen sie aus.
Noch einen Schritt weiter, und wir gelangen zu Lafontaines3)
Fabel 'L'aigle et le hibou' (5, 18), in der die Eule den Adler bittet, das
Leben ihrer Kinder zu schonen. Auf die Frage, wie er sie von den
übrigen Vögeln unterscheiden könne, erwidert sie: Es sind die schönsten.
Als der Adler gleichwohl die Jungen frisst, klagt sie ihn bei den Göttern
an, aber es wird ihr die Antwort:
N' en accuse que toi
Ou plutôt la commune loi
Qui veut qu'on trouve son semblable
Beau, bien fait et sur tous aimable.
Tu fis de tes enfants à l'aigle ce portrait:
En avoient-ils le moindre trait?
Eine andere Version4) setzt mit gutem Geschmack den räuberischen
Habicht statt des königlichen Adlers ein.
Sehen wir uns nun in der Yolksiiberlieferung um, so haben wir zu-
nächst eine rumänische5) Fabel der des Abstemius an die Seite zu
stellen.
Nachdem Gott die Welt geschaffen hatte, versammelte er alle lebenden Wesen
mit ihren Sprösslingen, um selbst zu sehen, was jedes seiner Geschöpfe hervor-
gebracht hatte, und sie zu belohnen. Schon hatte er alle Tiere an sich vorbei-
ziehen lassen, da stellte sich die Krähe mit ihrem Jungen vor. Als Gott sah,
wie hässlich das war, sprach er: Es ist unmöglich, dass dein Junges mein Ge-
schöpf sein soll. Es ist zu hässlich und zu schmutzig. Geh und suche ein
anderes. Schmerzerfüllt suchte die Krähe überall auf Erden, aber nirgends fand
1) Romulus app. 36 (Oesterley, mit Anm.) = llervieux, Les fabulistes latins 2, 528.
2) Neveleti Mythologia Aesopica 1610 p. 583.
3) Variante bei Robert, Fables inédites (1825) 15 348 (Fuchs und Krähe). Ygl. auch
Verdizotti, Cento favole morali 1577 nr. 5: L'aquila e il guffo.
4j Desbillons, Fabulae aesopicac 8, 4: Accipiter et noctua.
5) Revue des trad, pop- 9, G20.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
5
sie ein niedlicheres. Abermals kam sie zu Gott und erklärte ihm rund heraus:
ihr Junges sei der Gipfel der Schönheit, und es sei schlechterdings kein schöneres
zu finden. Du hast Recht, sagte Gott, so sind alle Mütter; und er bedachte auch
sie und ihr Junges.
Während diese Erzählung noch deutlich an Äsop anklingt, zugleich
aber, indem ein hässlicher Vogel auftritt, auch an Abstemius erinnert, so
stellt sich eine polnische1) Version neben die Fabel von Lafontaine
und deren Parallele vom Habicht und der Eule. Doch zeigt sie (und
damit begegnet uns zum erstenmal diese einschneidende Änderung) jenen
ätiologischen Schluss, der für den Volksgeschmack so überaus charakte-
ristisch ist.
Gott befahl dem Habicht, kleine Vögelchen zu fressen. Als die Eule das
hörte, war sie entsetzt, dass er ihre Kinder rauben werde, lud den Habicht ins
Wirtshaus ein, gab ihm zu trinken und bat ihn, er möchte ihre Kinder in Ruhe
lassen. Woran kann man deine Kinder erkennen? fragte der Habicht. — Daran,
dass sie die schönsten sind, gab sie zur Antwort. Lange flog nun der Habicht
umher und suchte seine Nahrung, bis er einmal den kleinen Eulen begegnete.
Da sie aber sehr hässlich waren, frass er sie auf. Seitdem fliegt die Eule
nicht bei Tage, sondern nur in der Nacht herum, aus Scheu, dass
man sie verhöhnen könnte.
Man sieht, wie die Fabel zur Natursage geworden ist. Das Motiv
der Feindschaft der Vögel, die die Eule verfolgen, kommt in zahlreichen
Volksüberlieferungen vor, und oft dient es — genau so wie hier — zur
Begründung des lichtscheuen Wesens der Eule. In weiterem Zusammen-
hang sind auch alle die Sagen zu nennen, die sich mit den Ursachen der
Lebensweise der Tiere beschäftigen. Sie bevorzugen namentlich die
Scheuen, die Gespenstigen, wie denn überhaupt das Ungewöhnliche in der
Natur weitaus den meisten Sagenstoff geliefert hat.
Blicken wir von hier aus noch einmal aui unseren Ausgangspunkt,
auf die Fabel von Zeus und dem Affen, zurück, so liegt die erstaunliche
Wandelbarkeit dieses Gegenstandes deutlich vor Augen. Hätten wir nicht
die vermittelnden Glieder, man könnte zweifeln, ob die polnische Natur-
sage wirklich äsopischer Herkunft sei. Aber bei aller Sagenforschung
muss man an dem Grundsatz festhalten, class V erwandtschaft, sei sie auch
noch so fern, immer dann bestehen kann (nicht muss), wenn der Grund-
gedanke oder das Hauptmotiv genieinsam ist.
Wie frei aber mit diesem Hauptmotiv, der Affenliebe, verfahren
wurde, erhellt auch aus einer zweiten Sagenform, die in ihrem Kern
ebenfalls zu Zeus und dem Affen gehört, die aber in selbständiger Weiter-
entwicklung eine neue Sagenkette hervorgebracht hat. Es ist eine Form,
die weit mehr, als die vorige, den Einflüssen der Naturdeutung ausgesetzt
war und darum als Typus solcher Wandlungen gelten darf-
1) Zbiór wiad. do anthrop. krajowej. 5, 131 Nr. 17. Stan. Ciszewski, krakowiacy 1,
Nr. 274.
6
DähnhaMt :
Bei Odo von Sherrington lieisst es1):
Als die Tiere einmal eine Versammlung hatten, schickte die Kröte ihren
Sohn hin, doch vergass er seine neuen Schuhe. Da berief sie den Hasen,
weil er so gut laufen kann, zu sich und trug ihm für guten Lohn auf, ihrem
Sohne die Schuhe zu bringen. Der Hase fragte: Wie kann ich ihn in solcher
Versammlung herausfinden? Die Kröte erwiderte: Der, der am schönsten ist
unter allen Tieren, ist mein Sohn. — Etwa die Taube oder der Pfau? sprach der
Hase. — Keineswegs, war die Antwort, da ja die Taube einen schwarzen Leib
und der Pfau hässliche Füsse hat. — Wie sieht also dein Sohn aus? — Die
Kröte sagte: Wer einen solchen Kopf hat, wie ich, solchen Bauch, solche Beine,
solche Püsse, das ist der schönste: mein Sohn. Und dem übergib die Schuhe! —
Der Base kommt mit den Schuhen hin und erzählt dem Löwen und den anderen
Tieren, wie die Kröte ihren Sohn allen übrigen vorziehe. Der Löwe sagt: Ky
crapaud ayme, la lune ly semble. Si quis amat ranam, ranam putat esse Dianam.
Es ist klar, dass der Kerninhalt noch immer der gleiche ist, wie in
der ersten Sagenreihe, die mit der Fabel vom Affen beginnt. Mit der
durch Abstemius überlieferten Fassung stimmen sogar Einzelheiten iiberein.
Man vergleiche
bei Abstemius: Qua forma, inquit aquila, sunt iiJii tui?
Qua ego sum, bubo respondit.
bei Odo: Dixit lepus: qualis igitur est filius tuus?
Dixit bufo: qui tale caput habet, quale est meum, talem ventrem usw.
Das ist im grossen und ganzen dasselbe. Ein Unterschied liegt
eigentlich nur — in einem einzigen Buchstaben. Wir haben jetzt bufo,
die Kröte, statt bubo, der Eule. Ist das ein neckischer Zufall, oder darf
man nicht vielmehr annehmen, dass hier eine Verwechslung stattgefunden
habe? In diesem Falle wäre also eine von beiden, die Kröte oder die
Eule, bloss durch einen Fehler zur Sagenfigur geworden. Indessen muss
man einräumen, dass auch das so häufig bemerkbare Streben nach Ab-
wechslung den Personentausch herbeigeführt haben kann. Wenn nun des
weiteren nicht die Kröte selbst, sondern nur die Erzählung ihrer Einfalt
belacht wird, so schwächt das zwar die Wirkung ab, andererseits gibt
die Einführung einer neuen Person, des Hasen, der Handlung mehr
Leben und Fülle.
Diese Rolle des Überbringers hat in der Volksüberlieferung die
törichte Mutter selbst, so dass sie auch selbst (also wie in der ersten
Sagenreihe) verlacht wird.
In einer kleinasiatischen Variante'2) fehlt freilich dieser letzte Zuo\
y Ö 7
aber sie muss hier erwähnt werden, da sie ein wichtiges Glied in der
Entwicklungskette bildet. Sie erzählt:
1) Ernst Voigt, Kleinere lat. Denkmäler der Tiersage 1879 S. 114; auch Hervieux 2,
604 = Wright, Latin stories app. 53, doch enthalten beide die Szene vor dem Löwen
nicht, die durch die oben erwähnte Sagenform (Affe vor dem Löwen) bestätigt wird.
2) Georgeakis et Pineau, Le folk-lore de Lesbos 1894 p. 98.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
7
Die Vögel und andere Tiere schickten ihre Kleinen zur Schule, und die
Mütter brachten ihnen mittags zu essen. Einmal hatte das Rebhuhn keine Zeit hin-
zugehen, und da sie gerade ihre Nachbarin, die Schildkröte, bemerkte, bat sie
diese, an ihrer statt das Frühstück mitzunehmen. Sehr gern, sagte die Schild-
kröte, aber leider kenne ich ja deine Kleinen nicht. — Sieh dir alle genau an,
erwiderte das Rebhuhn; die schönsten, das sind die meinigen. Die Schildkröte
nahm also das Frühstück des Rebhuhns und ging zur Schule. Dort sah sie sich
rechts und links -um, — keins der Kinder war schöner, als ihre; und sie gab
ihnen nicht nur ihr eigenes Frühstück, sondern auch noch das des Rebhuhns.
Die Rebhuhnkinder mussten für diesmal hungern.
Sehen wir von dem modernen Aufputz dieser niedlichen Geschichte
ab und vergleichen wir sie mit der Fabel bei Odo, so ergibt sich die
Übereinstimmung, dass eine vergessene Saclie dem Kinde nach-
gebracht wird. Dabei kommt die Lächerlichkeit der Affenliebe zutage.
Wenn das Yerlachen der Mutter hier nicht mit erwähnt ist, so findet es
sich wiederum in einer nahe verwandten Legende der Aromunen1), die
aber andererseits eine neue und nicht unerhebliche Verschiedenheit auf-
weist: sie lässt die Jungfrau Maria auftreten und fügt die natur-
gescliichtliche Pointe hinzu.
Die Mutter Maria sass neben dem Ausgang der Schule, um ihrem Sohne
einen Kuchen zu bringen. Sie forderte die Schildkröte auf, ihn dem schönsten
Kinde in der Schule zu geben. Jene sah sie allesamt an und gab ihn ihrem
eigenen Sohne. Da musste Maria lachen und sagte: Jede Mutter hält doch ihr
Kind für das schönste. Weil du aber trotz meines Unglücks mich zum Lachen
gebracht hast, sollst du in Zukunft im schönsten Grase leben, und deine Gebeine
sollen nicht verwesen.
Nahe verwandt ist ferner eine mazedonische Legende2), die die
Entstehung der Seidenraupe erklärt:
Die Mutter Maria traf auf dem Wege zur Schule, wo sie das Brot zum
Abendmahl austeilen wollte, die Schildkröte. Sie beauftragte das Tier, für sie zur
Schule zu gehen und den Kindern dort das Brot zu spenden. Die Schildkröte tat
es, hob aber das schönste Stück Brot bis zuletzt auf und reichte es ihrem Sohne.
Verwundert fragte Maria, warum sie so gehandelt habe. Die Schildkröte antwortete:
Das schönste Stück habe ich für den schönsten Sohn bestimmt, und dieser hier
ist der schönste. Da musste Maria lachen, aber sie bereute es bald, denn jede
Mutter findet bekanntlich keinen Sohn schöner als den eigenen. Voll Abscheu
gegen das Lachen spuckte sie aus, und ihr Speichel wurde zur Seiden-
raupe. Maria sagte zu ihr: Laub sollst du essen und Seide hervorbringen. Man
darf dieses Tier nicht schimpfen, noch anrühren, noch darf man reden, wenn es
Seide fertigt, denn sonst stirbt es sofort.
Diese beiden Legenden erkennt man leicht als ein Gemisch nicht
zusammengehöriger Bestandteile- Und zwar sind dies:
1. Sagen von Maria und der Kröte, der sie wünscht? niemals zu
verwesen, sondern zu verdorren.
1) Papahagi, l)in liter, poporana a Aromînilor 1900 S. 769.
2) Mariana, Insectele 1903 S. 280.
8
Dähnharclt:
a) Maria zieht voll Schmerz um den Gekreuzigten des Weges und trifft eine
Kröte, deren zwölf Söhne von einem Rade zermalmt sind. Die Kröte sagt: Weine
nicht um den einen! Auch ich weine nicht um meine zwölf. Die Jungfrau ver-
flucht die Gefühllose. (Ungarisch1).)
b) Als der Herr Jesus gekreuzigt war, ging ein Bauer auf die Wiese, um zu
mähen, und aus Mutwillen mähte er vier kleinen Fröschlein die Köpfe ab. Da
geschah's, dass die hl. Jungfrau in grosser Betrübnis über den Tod ihres Sohnes
durch die Wiese schritt, und als die Mutter der Frösche sie erblickte, sprach sie
zu ihr: O Frau, bekümmere dich nicht; sieh mich an! Ich hatte vier Kinder, und
der Bauer hat sie mir weggemäht. Die Mutter Gottes war dem Frosch für diesen
Trost dankbar und sprach zu ihm: Weil du so gut warst und mich in meinem
Kummer tröstetest, wird deine Nachkommenschaft niemals verwesen. (Polnisch2).)
(Hier ist also, wie in der Legende der Aromunen, MariasWunsch nicht
als Fluch aufgefasst.)
c) Maria trifft eine Kröte, die den Tod ihrer neun vom Rade zermalmten
Söhne beklagt, und bittet sie, ihr die Toten zu zeigen. Bei dem Anblick der
Toten ekelt sich Maria dermassen, dass sie die Kröte anspuckt und sie ver-
wünscht: Du sollst nicht verwesen. (Rumänisch3).)
2. Die Sage von der Schildkröte und der Entstehung der Seiden-
würm er.
Als man Christus zum Kalvarienberg führte, folgte ihm seine Mutter Maria
klagend und weinend. Auf dem Wege sah sie eine Schildkröte, und da lächelte
sie. Aber bald bereute sie das Lächeln, und sie verwünschte sich selbst und
sagte: Möge doch mein Mund Würmer bekommen! Kurz danach spuckte Maria
aus, und was erblickte man? Aus ihrem Munde kamen Würmer, das waren die
Seidenwürmer, die bis heute existieren.4) (Hier findet sich also das Motiv des
Bereuens und Ausspeiens wieder, das schon oben begegnete.)
Ein Überblick über diese Mariensagen zeigt, dass sie in die Sage von
der zur Schule wandernden Schildkröte eingedrungen sind. Hierher gehört
übrigens noch eine polnische Sage5), die mir sehr altertümlich klingt,
und die zu der Yermutung Anlass geben könnte, dass alle diese Marien-
sagen erst eine späte Yerchristlichung älterer Traditionen seien. Sie lautet:
Sieben Jahre wehte der Wind nicht, als der Sohn ihm starb, so dass die
ganze Welt mit Spinnweben überdeckt war und jede Kreatur Mühe hatte, zu atmen.
Er war beständig voll Trauer, und niemand konnte ihn erheitern, bis endlich
einmal ein Hahn zum Winde kam und ihm sagte, dass ihm alle Tage hundert
Söhne stürben, und er deshalb doch nicht bekümmert sei. Und er
sprang auf den Zaun und krähte freudig Kikeriki, bis der Wind lächelte.
Seitdem begann der Wind weiter zu wehen. (Die Auffassung, dass die Worte
des Hahnes zum Tröste, nicht zum Abscheu gereichen, war schon in der obigen
polnischen Variante auffällig.)
1) Oben 13, 74 = Magyar Nyelvör 5, 570.
2) Zbiór wiad. d. anthrop. kraj. 7, 116 Nr. 33.
3) Sezätoai'ca 5, 36. Zs. f. österr. "Volkskunde 9? 172.
4) Revue des trad. pop. 8, 284 = Marianu, Insectele S. 280, Variante = Politis,
MeXkai Nr. 330. Fast wörtlich gleich Strausz, Die Bulgaren S. 85 (nach Sapkarev,
Narodni starini 3).
5) A. Pleszczyi'iski, Bojarzy miedzyrzeccy 153, Nr. 4 (Warschau 1893).
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
9
Es ist ein langer Weg- von Zeus und dem Affen bis zu Maria und
den Seidenwürmern. Er hat uns gelehrt, dass das Eindringen märchen-
hafter Elemente in die Fabel diese selbst zum Märchen, oder besser zur
Natursage macht. Und er hat uns gelehrt, dass solche fremden Elemente
geradezu eine Sagengabelung herbeiführen können, indem die grenzen-
lose Willkür der Phantasie nach auseinanderstrebenden Richtungen schweift.
Aber mehr noch, vielleicht das Beste: er hat uns die Macht eines unbe-
kannten Genius gezeigt, der unter dem Namen des Äsop durch die Jahr-
tausende hindurch anregend und gestaltend zu wirken vermochte. Man
o o
hat sehr viel Fleiss und Scharfsinn auf die literarische Geschichte der
äsopischen Fabel im Mittelalter verwendet. Ich meine aber: wer Äsops
Einfluss auf das Geistesleben Europas in seinem ganzen Umfang ermessen
will, der inuss auch die Fäden aufweisen, welche die Volksschichten mit
dem Altertum verbinden, der darf an diesen ihren Sagen nicht achtlos
vorübergehen. Die Fülle der auf Äsop zurückweisenden Überlieferungen
kann man aus einem einzigen Beispiel freilich nur ahnen. Zur Ergänzung
möge dalier noch das Fortleben einer zweiten äsopischen Fabel beleuchtet
werden.
2. Die Hasen und die Frösche.1)
Die Fabel von den Hasen und Fröschen berichtet, dass die Hasen in der
beschämenden Erkenntnis ihrer Furchtsamkeit und Schwäche den Beschluss fassen,
sich zu ertränken. Als sie an ein Ufer kommen, an dem Frösche sitzen, springen
diese, von dem Lärm der herannahenden Menge erschreckt in das Wasser. Darauf
wendet sich einer der Hasen zu den übrigen und ermahnt sie zur Umkehr, denn
andere Tiere seien ja noch schlimmer daran, als sie.
Diese Fabel hat sich nicht nur einer weiten literarischen Verbreitung2)
erfreut, sondern auch andauernder Beliebtheit in der mündlichen Erzählung,
wo sie zunächst natürlich in einer Form fortlebte, die der äsopischen
gleich oder nahekommt. Von den nur nahekommenden führe ich eine
kleinrussische3) Version an, die nur von einem Hasen handelt, von
dem gemeinsamen Beschluss also nichts weiss. Sie erzählt:
Der Hase dachte bei sich: Ich bin der schwächste von allen auf der Welt,
vor allem muss ich mich fürchten. Wenn nur ein Vogel flattert, hab ich Angst.
Lieber ertränk ich mich. Er geht also nach dem Sumpf und geht am Ufer ent-
lang und sucht, wo er am besten ins Wasser springen könne. Da sass ein Frosch,
und plumps! sprang er ins Wasser. Oho! denkt der Hase bei sich. So werd ich
mich doch nicht ertränken. Denn es gibt noch welche auf der Welt, die sich
vor mir fürchten.
1) Halm Nr. 237 und 237 b, danach Babrius Nr. 25. Phaedrus app. 2. Romulus 2, 9.
Hervieux, Les fab. latins 2 an verschiedenen Stellen.
2) Oesterley zu Kirchhof, Wendunmuth 7, 158. Kurz zu Waldis 1,23. Dazu Paulin
Paris, Mscr. franç. 4, 87.
3) Cubinsky, Trudy 1, 55.
10
Dähnhardt:
Mit dieser oder der äsopischen Gestalt der Fabel stimmen mehrere
andere1) fast durchaus überein. „Wesentlich für die Verbreitung dieser
Fabel war die Einfachheit des Gegenstandes, die Klarheit des moralischen
Grundgedankens, die Möglichkeit, ihn jeweilig didaktisch zu verwerten.
Bei Äsop ist die Folgerung die, dass man bei persönlichem Unglück dessen
eingedenk sein soll, dass es noch unglücklichere Menschen gibt. Oder,
wie es Mickiewicz (Poezye 2, 302) ausdrückt: es hat jeder seinen Frosch,
der vor ihm flieht, und seinen Hasen, der ihn fürchtet."2) Aber es ist
doch nicht immer die Moral gewesen, die der Fabel ihre Unsterblichkeit
verliehen hat. Eine französische3) Fassung lautet nämlich so:
Da die Hasen von aller Welt und auch von den Tieren schlecht angesehen
wurden, versammelten sie sich eines schönen Tages und sprachen untereinander:
Wir müssen uns ertränken. Als sie an einen Sumpf kamen, tauchten die Frösche
unter, die sie gehört hatten. „Es gibt doch noch Tiere, die uns fürchten", sprachen
sie und begannen sich dabei anzusehen und so sehr zu lachen, dass sich seit-
dem ihr Maul gespalten hat.
Wie man sieht, ist der Entschlnss der Hasenversammlung, die ge-
meinsame Flucht und der Schrecken der Frösche völlig wie in der
griechischen Urform erhalten. Aber das Ende ist märchenhaft und lenkt
ab von der lehrhaften Idee. Das Gleiche finden wir in anderen Beispielen 4)
Mögen sie auch bisweilen nur von einem Hasen berichten oder dessen
Lebensmüdigkeit auslassen, in der Hauptsache stimmen sie überein: in
dem willkürlich gewählten Schluss der ätiologischen Spielerei. Denn mehr
als eine witzige Spielerei, eine gefällige Arabeske ist dieser Einfall doch
wohl nicht. Eine kleine Abweichung zeigt folgende estnische Variante5):
Als der Hase einmal flüchtete, erschreckte er durch seine Hast eine Herde
Schafe so, dass sie auseinanderstob. Diese Furcht vor einem Hasen kam dem
Hasen selbst so komisch vor, dass er in ein unmässiges Gelächter ausbrach, wo-
von ihm die Oberlippe platzte.
D i ese Form entfernt sich etwas weiter von Äsop, insofern sie von
Schafen erzählt, ausserdem wieder von nur einem Hasen und von dem
geborstenen Maul. Sie hat sich offenbar nicht unmittelbar aus der Ur-
gestalt der äsopischen Fabel entwickelt, sondern aus einer zwischen beiden
vermittelnden Form, wie sie in folgender russischer Fassung6) vorliegt:
1) Asmas und Knoop, Sagen und Erzählungen aus dem Kreise Kolberg und Körlin
S. 68. Ulr. Jahn, Volkssagen S. 449. Blätter f. pomm. Volksk. 1, 147. Wallonia 1, 54.
Kolberg, Lud 8, 238. Ciszewsky, Krakowiacy 1, 271- Zbiór wiad. 1, 11 Nr. 37; 7, 109
Nr. 8. Yeresßagiu, Yotjaki Sosnov. Kraja 73.
2) Ich entnehme dies der Abhandlung von Sumcov über den Hasen in der Yolks-
überlieferung, Etnograf. Obozrônie 10, G9 - 83.
3) Revue des trad. pop. 10, 576.
4) Revue des trad. pop. 6, 315. Rolland 1, 87. Mont en Cock, Vlaamsche Yertelsels
1898 S. 95. Rond den Heerd 1, 398.
5) Wiedemann, Aus dem inneren und äusseren Leben der Ehsten 1876 S. 451.
6) Etnograf. Sbornik 6 (1864) Abt. 1, 22.
Beiträge zur vergleichenden Sageniorschung.
11
Der Hase lief, um sich in Verzweiflung zu ertränken. Was bin ich un-
glücklich, sprach er. Mir ist am elendesten auf der Welt. Ich fürchte alle, und
mich fürchtet niemand. Da erblickte ihn eine Herde Schafe und ergriff die Flucht.
Der Hase blieb stehen: Ach, so gibt es doch welche, die sich vor mir fürchten.
Hier ist zwar auch schon von Schafen die Rede, aber noch nicht von
der gespaltenen Lippe. Auch fehlt nicht, wie oben, die Absicht des Er-
tränkens. Sobald nun die Naturdeutung sich der Fabel bemächtigt hatte,
war es leicht möglich, dass der so veränderte Stoff ein noch bunteres
Aussehen erhielt. Märchenhaft, wie die Ätiologie einmal ist, verbindet
sie sich mit dem Märchen vom Wettlauf zwischen dem Hasen und der
Schnecke.1) Der Hase, nachdem er die Wette verloren, will ins Wasser
gehen, sieht aber die Angst der Frösche und lacht, dass ihm die Lippen
X'latzen.2) Aber es entstanden auch Erweiterungen von innen heraus.
1. Die Hasen kamen einst zusammen und überlegten miteinander, dass sie
weglaufen wollten, dieweil sie vor allen Tieren flüchten müssten. Als sie nun so
im Laufen waren, gelangten sie an eine Brücke, darauf sass gerade ein Frosch,
der wurde bange vor ihnen und sprang von der Brücke und kroch hinunter. Als
die Hasen seine Angst sahen, sprachen sie zueinander: 'Nun wollen wir bleiben!'
und fingen an zu lachen, dass ihnen das Maul offen barst. Seitdem haben alle
Hasen ein geborstenes Maul. Der Frosch aber sass unter der Brücke und wagte
sich nicht wieder weg, solange bis einmal ein dicker, schwerer Kerl hinüberging.
Der trat auf den Frosch, dass ihm der Rücken zerbrach. Seit der Zeit haben
alle Frösche den Rücken zerbrochen. (Aus Oldenburg.)3)
2. Einstmals trafen sich Fuchs und Hase. Der Fuchs sagte verächtlich zum
.Hasen: 'Dich fürchtet doch niemand!' — 'Wer fürchtet dich denn?' fragte der
Hase. — 'Mich fürchtet jedermann', meinte der Fuchs. 'Ich besitze einen langen
Schwanz, deshalb hält man mich aus der Ferne für den Wolf und fürchtet mich.
Aber dich fürchtet doch niemand!' — 'Lass uns eine Wette eingehen', sagte der
Hase, 'ich werde dir zeigen, dass auch ich gefürchtet bin.' — Danach wandelten
die beiden miteinander dahin, da erblickte der Hase eine Herde Schafe, die hinter
einem Zaune ruhte. Mit einem Satze sprang er mitten unter sie. Im blinden
Schrecken darüber stoben die Schafe auseinander, so schnell sie nur irgend konnten.
Der Hase war überglücklich, seine Wette gewonnen zu haben, und fing an zu
lachen und lachte so unbändig, dass ihm das Mäulchen kreuzweise zerriss. Von
der Zeit an tragen alle Hasen die Lippen kreuzweis gespalten. (Aus Finnland.)4)
1) Revue des trad. pop. 6, ol4.
2) Die Ausschmückung des "Wettlaufmärchens durch Ätiologie ist ein Thema für sich.
Hier will ich nur ein lettisches Märchen (aus Lerchis-Puschkaitis 5,59) anmerken, das kaum
bekannt sein dürfte: Der Igel will den Hasen anführen und wettet mit ihm, wer schneller
laufen könne. Wenn der Igel verliere, will er zehn Stachel aus seinem Pelz hergehen;
verliert der Hase, so soll ihm der Igel ebensoviele Haare aus dem Schnurrbart raufen
dürfen. Der Hase unterliegt infolge der bekannten List. „Der Igel riss dem Hasen zehn
Barthaare aus und steckte fünf seinem Bruder und fünf sich selbst an die Lippen. Seit-
dem haben alle Igel solche Hasenbärte an den Lippen."
ì3) Strackerjan, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 2, 93.
4) E. Schreck, Finnische Märchen 1887 S. 228.
12
Dähnhardt :
3. Ganz frei ist das Motiv vom Hasen, der liber den Frosch lacht, in einer
niederländischen Variante1) verarbeitet. Der Hase wäscht sich an einem Bache
Pfoten und Maul, kämmt sich die Haare und spiegelt sich. Ein Frosch kommt
darüber zu und lacht ihn regelrecht aus. Der Hase wird wütend und gibt dem
Frosch einen so gewaltigen Schlag mit der Pfote, dass dieser halbtot hinfällt.
Wie nun der Spötter so daliegt, quakt und zappelt, bricht der Hase in ein solches
Gelächter aus, „dat zijne lippe spieet".
Die Frage, woher dieser ätiologische Schluss in die äsopische Fabel
hineingeraten ist, lässt sich vielleicht durch den Hinweis auf andere Natur-
sagen lösen, die denselben Schluss aufweisen. Je öfter wir diesen an-
treffen, je klarer zeigt sich's, dass diese Ätiologie sich dem Märchen-
erzähler als etwas Keizvolles aufdrängte, dass sie gleichsam in der Luft
lag, und man nur danach zu greifen brauchte, um sie für irgend eine
Geschichte, in der der Hase vorkam, zu verwenden. Und so wurden
Hase und Hasenscharte auch da zusammengebracht, wo keine innere Not-
wendigkeit vorhanden war.
Die Belege für die Beliebtheit gerade dieses Naturdeutungsstoffes
lassen sich bei allen Yölkern nachweisen. Ich erwähne in raschem
Uberblick:
1. Das Märchen vom Hasen, der den vom Bären geprellten Fuchs
auslacht. Der Bär frisst ein Pferd, das er getötet hat. Der Fuchs kommt und
fragt den Bären, wie er es angefangen habe. Der Bär sagt, er habe sich mit den
Zähnen an dem Schweif des sich sonnenden Pferdes angeklammert und daran
gezerrt, so dass das Pferd zu laufen anfing und lief, bis es platzte. Der Fuchs
will nun dasselbe Mittel versuchen. Das Pferd setzt sich, den Fuchs am Schweife,
in Galopp. Der Hase lacht sich die Lippen entzwei.2)
2. Die Sage vom Ursprung des Todes, in der der Hase eine Botschaft
des Mondes an die Menschen falsch ausrichtet. Der Mond wird zornig und schlägt
ihm mit einem Beil die Hasenscharte.3) Auch hier ist die Spaltung der Lippe
ein willkürlich gewählter Schluss, wie die Vergleichung mit anderen Märchen
derselben Gruppe ergibt.4)
3. Das Cherokesenmärchen von dem Kaninchen, das den Feuer-
stein tötet.5) Es trieb ihm einen scharfen Keil in den Leib, so dass es einen
lauten Knall gab und die einzelnen Stücke umherflogen (wovon die vielen Feuer-
steine kommen). Ein solches Stück traf das Kaninchen an der Lippe und erzeugte
die Scharte.
1) Joos, Vertelsels 2, 56.
2) Krohn, Bär (Wolf) und Fuchs 1888 S. 70 mit Varianten und Parallelen.
3) Bleek, Reineke Fuchs in Afrika 1870 S. 55. Derselbe, A brief account of Bushman
Folklore 1875 8. 9. Wood, De onbeschaafde volken 1, 322. A. Seidel, Geschichten und
Lieder der Afrikaner S. 145.
4) Junod, Chants et contes des Basronga 189? 8. 187. Bleek, Reineke Fuchs S. 58,
Anm. Wallonia 164. Hahn, Sprache der Nama S. 57. F. Müller, Grundriss d. Sprach-
wissenschaft (1877) S. 21. Büttners Ztschr. f. afrikan. Sprachen 1, 56 = Revue des trad,
pop. 4, 41 = Basset, Contes d'Afrique p. 20!). Vergleichbar Petitot, Trad, indiennes du
Canada Nord Ouest p. 115.
5) Mooney, 19. annual report of the bur. of American Ethnology to the Seer, of the
Smithsonian Institution p. 274.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
13
4. Eingehende Betrachtung verdient endlich ein lettisches Märchen.1) Gott
zürnte einst den Mücken und befahl dem Hasen, das in einen Sack gesammelte
Ungeziefer zu ertränken. Der Hase öffnete aus Neugier den Sack. Die befreiten
Mücken drehten sich vor Freude in der Runde, was ihnen seither zur Gewohnheit
ward. Nachher will sich der Hase aus Gram ertränken, aber ein Krebs kneift ihn
in die Lippe, die seitdem gespalten ist.
Zweierlei kommt uns bekannt vor: die Absicht, sich aus Gram zu
ertränken, ist äsopisch, die Hasenscharte ist die in Äsops Fabel hinein-
getragene Ätiologie. Diese aber, die dort bereits eine willkürliche Zutat
war, hat sich hier zum zweitenmal und zwar mit einer ganz fernliegenden
StoffgTuppe verbunden — ein schöner Beweis für ihre Ausbreitungskraft.
Es verlohnt sich, jene Stoffgruppe ins Auge zu fassen. Ich greife zunächst
folgende rumänische2) Sage heraus:
Es war einmal eine sehr neugierige Frau, die alles wissen wollte. Eines
Tages sammelte Gott sämtliche Insekten der Welt in einen Sack, der gut zuge-
bunden war, liess die Frau kommen und befahl ihr, den Sack ins Meer zu werfen,
ohne ihn aufzumachen und hineinzusehen. Kaum war sie hundert Schritte weit
gegangen, so band sie den Sack auf. Da schwirrten Tausende von Insekten heraus
und stürmten in Baumhöhlungen hinein, ins Gras usw. Die Frau lief wie närrisch,
um die Insekten aufzusammeln, aber es war vergebens. Um sie zu strafen, ver-
wandelte Gott sie in einen Specht und sagte ihr, dass sie nicht eher wieder zur
Frau werden würde, als bis sie alle Insekten der Erde aufgesammelt habe.
Die Ähnlichkeit des Gegenstandes mit jener lettischen Erzählung ist
augenscheinlich. Anderswo wird indes (und so wird die Urform gelautet
haben) nicht von Insekten, sondern von Gewürm erzählt, das in dem
Sacke verschlossen war, und der Neugierige wird in einen Storch ver-
wandelt, der nun bis ans Ende der Welt die hinausgekrochenen Tiere zu
sammeln hat.3)
Am interessantesten aber ist folgendes polnische Märchen4):
Der liebe Gott gab einmal dem Reiher und dem Wolf einen Sack Geld. Um
ihn nicht zu verlieren, lieh der Wolf das Geld unter den Menschen aus, der
Reiher dagegen ging mit dem Sack an einem Wasser vorbei und verlor ihn. Er
kehrte also zum Wolf zurück und beklagte sich bei ihm. Der Wolf •sagte, er
solle den Sack dort suchen, wo er ihn verloren habe. Darum geht der Reiher
beständig am Wasser entlang, indem er das Verlorene sucht. Der Wolf dagegen
nimmt von den Menschen das ieh als Darlehnszins.
1) Aus der Sammlung von Lerchis - Puschkaitis 1, 171 Nr. 163 mir freundlichst
mitgeteilt von M. Böhm.
2) Revue des trad. pop. 8, 42 = Marianu, Ornitologia 1, 81; vgl. 2, 340.
3) Dragomanov, Mal. narodn. predania g Nr. 26 und die durchaus ähnliche Variante
im Etnograf. Zbirnik 12 Nr. 27 (beide k^hirussisch). W. N. Jastrebow, Materiah p0 etnogr.
nowoross. kraja 18 (Der Herr macht die Sünden einer reuigen Sünderin zu Fröschen und
Schlangen. Sie trägt sie im Sack an den Fluss. Fine neugierige Nachbarin, dio ihr
folgt, wird zum Storch). A. Pleszczynski, Bojarzy migdzyrzeccy 155 Nr. 8. Lettisch:
lievue des trad. pop. 2, 484. Varianten boi Lerchis - Puschkaitis 5, 179 Nr. 69. 7, 1167
Nr. XI, in-"; vgl. 7, 1160f.
4) Zbiór wi£¿. d. antr. kraj. 5, 125 Nr. 9.
14
Dähnhardt:
Das Märchen ist deshalb interessant, weil es einem deutschen Tier-
märchen des Mittelalters sehr nahe steht, das wir aus einem Meistergesang
aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kennen. Wilhelm Grimm hat
es in den Tierfabeln bei den Meistersängern veröffentlicht und gibt seinen
Inhalt (S. 5. 23 = Kl. Sehr. 4, 371. 391. 400) in folgender Weise an:
Wolf und Storch haben sich zusammengetan and errichten eine Weinschenke.
Das Geld wird gemeinschaftlich eingenommen; als aber der Gewinn nach einem
halben Jahr soll berechnet werden, sieht es schlecht aus: kaum die Hälfte der
Gäste hat gezahlt, das übrige steht auf Borg. Der Wolf zeigt sich grossmütig.
„Ich will auf meinen Teil verzichten", spricht er, „du sollst keinen Verlust er-
leiden; lieber will ich erfrieren, als dass man spräche, ich wäre gewaltsam mit
dir verfahren." Der Storch antwortet: „Ich muss fort in ferne Lande, liebster
Geselle. Gib mir das bare Geld! Du kannst dafür die Schulden eintreiben.
Wenn die Schuldner nicht zahlen wollen, so nimm ihnen Gänse, Kühe, Schweine
und Schafe und treib sie hinweg!" „Da du so sehr nach dem Geld verlangst",
sagte der Wolf, „so will ich es dir ohne Zaudern geben." Er bindet es in ein
Tüchlein, das er dem Storch um den Hals hängt, und das leicht über den schmalen
Kopf geht. Der Storch erhebt sich in die Luft und kommt auf seiner Fahrt über
einen See, in welchem er eine Menge Frösche erblickt. Von Hunger gequält,
lässt er sich herab. Als er aber den Kopf ins Wasser steckt, rutscht das Tüchlein
mit dem Geld darüber hinab und sinkt auf den Grund. Der Storch sucht mit
seinem langen Hals geraume. Zeit, doch vergeblich. Er muss endlich weiter
fliegen, hasst aber die Frösche, weil er ihnen den Verlust des Geldes
bei m is st.1)
Wilhelm Grimm bemerkt hierzu (S. 6): „Ganz geschickt ist an die
äsopische Fabel angeknüpft, die den Storch zur Herrschaft über die Frösche
gelangen lässt. Warum er sie schlecht behandelt, wird dort nicht gesagt,
hier erfahren wir den Grund seines Hasses. Doch in einem Umstand
scheint die Überlieferung verderbt: nicht der Wolf musste darin auftreten,
sondern der Fuchs, mit dem der Storch eher in Gemeinschaft leben konnte,
und dessen Natur es angemessen war, seinen Gesellen listig um sein Geld
zu bringen, während er sich dabei noch scheinheilig anstellen konnte.
Dem Fuchs war es ein leichtes, die Schuldner durch den Raub der Hühner
und Gänse schon hinlänglich in Schrecken zu setzen. Der AVolf war dazu
nicht nötig." Grimms Urteil bedarf der Berichtigung. Die einfache
Handlung des polnischen Märchens, die am Schlüsse nur das Suchmotiv
verwendet, und die übrigen, auf dein gleichen Motiv beruhenden Märchen
weisen deutlich darauf hin, dass in jenem Stoff, den der Meistersinger
bearbeitete? ursprünglich keinerlei Beziehung zum Froschkönigmotiv vor-
handen war. In dem Meistergesang erscheint das ganz unvermittelt, ja
störend, weil man in der Tat den Schluss erwartet: seitdem sucht der
Storch den Sack. Was aber den Wolf anlangt, so ist auch dieser in dem
polnischen Märchen und darum zugleich in dem deutschen völlig einwands-
1) [Dieselbe Pointe hat Hans Sachsens Meisterlied 'Der sclilürchet storch' von 1538
= Fabeln und Schwanke hsg. von Goetze und Drescher 3, 197.]
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
15
frei. Denn der polnische Schluss, dass der Wolf seit jener Zeit das Vieli
raubt, beweist, dass dies Märchen zu einer in Osteuropa heimischen Gruppe
gehört, die sich mit der Frage befasst: "Warum der Wolf rauben darf, und
darauf die auffällige Antwort gibt: Gott hat es ihm erlaubt (so wie hier
der Wolf durch Gottes Geld zum Gläubiger der Menschen wird, der
seinen Zins fordern darf).1)
Dieser kleine Exkurs von den Hasen und Fröschen zu der Fabel des
Meistersingers ist nicht unabsichtlich gemacht worden. Nicht deshalb, weil
unterwegs ein Ergebnis aufzulesen war, sondern weil er zeigt, dass das
Ineinandergreifen der Märchenmotive zwar von einer Gruppe zur anderen
führt, dass es aber doch möglich ist, zu einem klaren Überblick über
Echtheit und Unechtheit zu gelangen. Wer der Märchenforschung fern-
steht, der glaubt leicht an die Unmöglichkeit brauchbarer Ergebnisse.
Sicherlich gleicht die Wirrnis der Stoffe und Motive dem Labyrinth, aber
wie Theseus sich am Ariadnefaden entlang tastete, so findet auch der
Märchenvergleicher tastend den Weg ins Freie, wo er aufatmen kann.
Denn dass einem manchmal der Atem vergeht, wer möcht es leugnen?
3. Der Storcli als Froschkonig.2)
Da oben aut die äsopische Fabel von der Herrschaft des Storches
über die Frösche Bezug genommen wurde, so darf im Vorübergehen auch
auf diese ein rascher Blick geworfen werden. Zwar kann ich hier die Ver-
breitung im Volksmunde nicht nachweisen, aber es verdient Beachtuno'
O 7
dass die willkürliche Ätiologie diesmal auch in die Literatur eingedrungen
ist. Bekanntlich erhalten die Frösche, da sie mit dem von Zeus gesandten
Klotz unzufrieden sind, den Storch als König, und dieser räumt nun unter
ihnen auf. Damit ist die Fabel zu Ende, die Auflehnung gegen Zeus ist
bestraft. Die ätiologische Fortsetzung berichtet aber, dass die Frösche
seitdem immer aufs neue um einen anderen Herrscher bitten; das ist es,
was wir quaken nennen. So heisst es bei Erasmus Alberus Nr. 5 (hrsg.
von W. Braune S. 29):
Sie schreien auff den heutgen tag, Ihn wird kein ander nimmermehr,
Das jhn kein ander werden mag, ]jer Jupiter fragt nichts darnoch,
Dann wann der Storck ist schlaffen gangen, Wenn sie schon schrien noch so hoch . . .
So pflegen sie dann anzufangen Der Storck muss nun jhr König bleiben.
Mit heiser stimm zu gecken sehr,
1) Diese Auffassung des Wolfsrechtes hängt wohl mit dem Glauben an St. Georg
zusammen, der als Patron der Wölfe diesen Befehle erteilt, wo und woinit sie sich er-
nähren sollen. Eine russische Redensart heisst: Was der Wolf frisst, hat ihm Georg
gegeben, und es herrscht der Aberglaube, ¿ass ¿er Wolf nicht ein einziges Geschöpf
erwürgt ohne Gottes Erlaubnis.
2) Aesop 7G. Oesterley zu Kirchhof, Wendunmut 7, 157. Kurz zu ^ aldis 1, 17.
[Jacques de Vitry, Exempla ed. Crane Nr. 24. Wickram, Werke -Í, 92. Anzeiger f. K. d.
d. Vorzeit 1859, 868.]
16
En giert:
Ebenso führt Burkhard Wal di s (1, 17) diesen Gedanken aus. Beide
Dichter fanden ihn bereits in ihrer Quelle, einer Fabel des Goudanus1),
die ihrerseits auf dem sogen. Anonymus Neveleti beruht, der wiederum
auf Romulus (2, 1) zurückgeht. Die Ätiologie ist eigene Zutat des Gou-
danus. Es heisst dort: „Nam et hodie adhuc queruntur. Yesperi enim
ciconia cubitum eunte ex antris egressae rauco ululatu murmurant, sed
surdo canunt" etc. Dieser naturdeutende Zusatz ist zweifellos nach dem
Vorbild entsprechender Volkssagen gemacht worden. Zwei Gegenstücke
solcher literarischen Ätiologie liefert uns Hans Sachs, wenn er die Fabel
von dem Manne mit den zwei Frauen, von denen die eine ihm die
schwarzen, die andere die weissen Haare auszupft2), benutzt, um davon
die Kahlheit der Männer herzuleiten, und wenn er den Schwank von
Petrus als Drescher, der zweimal von der Bäuerin gerauft wird3), mit
dem Einfall schliesst, dass Petrus seitdem jene Glatze hatte, mit der er
immer abgebildet ist. Es tritt einem hier wieder einmal die volkstümliche
Eigenart dieses trefflichen Nürnbergers recht eindrucksvoll vor Augen.
Denn woher sonst, als aus ähnlichen Volksätiologien stammt diese herz-
hafte Frische des so kühn draufgesetzten Schlusses? Der Einfluss der
Natursagen ist unberechenbar. Sie kamen aus fühlenden Herzen, und
darum mussten sie zu Herzen gehen. Darum drangen sie auch in die
Poesie ein, aber nicht nur in Fabel und Schwank, sondern auch in Märchen
und Legende. Die Rücksicht auf den mir zustehenden Raum zwingt mich,
zu den Märchen überzugehen und von ihnen einige Proben zu geben.
Leipzig.
(Fortsetzung folgt.)
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
Yon Anton Englert.
(Schluss zu Bd. 15, 399 — 412.)
3. 'Die zehn Alter der Welt' von Martin Schrot (1574).
In der Abhandlung über die Altersstufen, die Goedeke in seiner
Ausgabe von Pamphilus Gengenbachs Schritten den Erläuterungen zu
dessen Zehn Altern vorausgeschickt hat, weist er (S. 578) auf eine Schrift
1) In dem Buch: Fabularum quae hoc libro continentur interpretes atque autores...
1516, fab. 17.
2) Folioausgabe 2, 4, 107 = Fabeln und Schwanke 2, 147. 8, 52.
8) Fabeln und Schwanke 5, 184. Bolte, Zeitschr. f. vgl. Literaturgesch. N. F. 7, 458.
11, 69. [Montanus, Schwankbücher S. 483.]
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
17
des Augsburger Meistersingers Martin Schrot1) liin, deren Vorhandensein
ihm durch den Katalog eines Augsburger Antiquars bekannt war, die er
jedoch selbst nicht zu Gesicht bekam.2) Ein Exemplar derselben fand
ich in der hiesigen Universitätsbibliothek.3) Das Büchlein besteht aus
26 Blättern in 4°. Der Titel lautet:
Die X.Alter | der weit, mit jrem lauf | vnd aygenschafften erkläret, | nach
dem Gesatz gaistlicher weiß, | vnd in Reymen verfaßt, durch | Martin Schrot, im 1574. |
Jar, lieblich zu lesen ¡ vnd hören ic. | 1. Johan. am 8. cap. | Die Welt vergeht mit jrem
glust, I wer aber Gottes willen thüt, | der wirt bleiben in | ewigkait. | Cam gratia & priui-
legio. I Getruckt zu Augspurg, durch | Philipp Vlhart.4) — Rückseite des Titelblattes leer.
Auf der Rückseite des letzten Blattes das Druckerzeichen des Verlegers.
Auf dem zweiten Blatte beginnt die aus 53 Reimpaaren bestehende
Vorrede, deren Inhalt in Kürze folgender ist: Bei der Erschaffung der
Welt setzte Gott den Menschen über alle anderen Wesen. Dieser übertrat
jedoch Gottes Gebot und brachte damit Sünde und Tod über das ganze
Menschengeschlecht. Dies möge uns zur Warnung dienen und uns ver-
anlassen, nicht wie die in dem vorliegenden Büchlein dargestellten Menschen
sorglos und in Sünden dahinzuleben, sondern ein gottgefälliges Leben zu
führen, um einst die ewige Seligkeit zu erlangen.
Die Vorrede endet auf der Rückseite des dritten Blattes. Die nächsten
41 Seiten (A4 a bis F 4a) sind mit Holzschnitten versehen.5) Der erste
stellt den Sündenfall dar. Dann folgen abwechselnd je zwei Bilder zur
Yersinnbildlichung einer Lebensstufe des Mannes und des Weibes und je
zwei Darstellungen aus der Bibel. Unter sämtlichen Holzschnitten be-
finden sich fünf Reimpaare, ausserdem noch je ein Reimpaar über elf
biblischen Bildern und über allen Darstellungen der Lebensalter. Auf
Bl. F 4b beginnt ein aus 29 Reimpaaren bestehender Epilog 'Zum Be-
schluss der zehen Alter', welcher Betrachtungen über die Lasterhaftigkeit
der Menschen und ihr Trachten nach zeitlichen Gütern nebst einer Mahnung
zu tugendhaftem Leben enthält. Er schliesst mit dem Verse: „Das diß
1) Vgl. über ihn Roethe, A DB. 32, 556 f. Hierzu teilt mir mein Freund Prof. Dr.
Fr. Roth auf Grund eigener Nachforschungen im Augsburger Stadtarchiv folgende Er-
gänzungen und Berichtigungen mit: Schrot war nicht in Augsburg, sondern in München
geboren (Ratsdekrete 1¡>46 Bl. 9a und 1547 Bl. 58b: Martin Schrot(t) von Munichenj, war
Uhrmacher, suchte 1546 ohne Erfolg und 1547 mit Erfolg um das Augsburger Bürgerrecht
nach (ebenda), lebte, wie sich aus der Geringfügigkeit des von ihm geleisteten Steuer-
beitrags schliessen lässt, in sehr dürftigen Verbältnissen (Steuerbücher 1547 bis 1558) und
starb 1557 oder 1558 (in der 'Steuerbeschreibung' vom 16. Okt. 1557, S. 41c wird er noch
selbst aufgeführt, in der vom 16. Okt. 1558 dagegen 'Martin Scbrots witib1). Uber Schrots
protestantische Tendenzdichtungen wird Fr. Roth im 3. Bande seiner Augsburger Reforma-
tionsgeschichte einiges Neue bringen.
2) Auch Roethe blieb die Schrift unzugänglich.
3) Dein Vorstand und den Beamten dieser Bibliothek spreche ich »uch an dieser
Stelle für ihr stets freundliches Entgegenkommen meinen verbindlichsten Dank aus.
4) Vgl. über Ulhart, ADB. 39, 186f.
5) Sämtliche Holzschnitte des Büchleins sind in dem mir vorliegenden Exemplare
koloriert.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 2
18
Englert:
geschech wünscht Martin Schrot." Dann folgen noch Darstellungen des
lachenden Philosophen Demokrit und des weinenden Philosophen Heraklit
mit je einem Reimpaar als Überschrift und fünf Reimpaaren unten.
Die Anregung zu seiner Dichtung hat Schrot vermutlich durch
Gengenbachs Stück 'Die .X. alter dyser weit'x) erhalten. Jedenfalls war
ihm dieses Stück, von dem zwei der frühesten Drucke in Augsburg er-
schienen2), wohl bekannt. Auffallend ist zunächst die Ähnlichkeit, welche
der Titel der Schrotschen Dichtung mit dem des Gengenbachschen Fast-
nachtspiels aufweist. Letzterer lautet3): 'Die .X. alter dyser weit Hie
findt man die zehen alter nach gemainem lauff der wait mit vyl schönen
hystorien begryffen, vast lieplich zu läsen vnnd zu hören seynd, etc.'
Die gesperrt gedruckten Worte finden sich fast ebenso im Titel des
Schrotschen Gedichtes. Auch in der Anlage erinnert dieses, von der
nichtdramatischen Form und der Heranziehung der weiblichen Altersstufen
abgesehen, an das Gengenbachsche Stück. Wie das letztere enthält es
einen Prolog und Epilog, und zwar mit ganz ähnlichem Gedankengang,
wenn auch nirgends mit wörtlicher Anlehnung; wie bei Gengenbach werden
die Lebensalter durch Selbstschilderungen der fast bis zum Tode in Lastern
dahinlebenden Vertreter der einzelnen Altersstufen gekennzeichnet, und
ebenso wie dort werden diesen Selbstbekenntnissen fromme Lehren,
Mahnungen und Bibelstellen entgegengehalten, nur mit dem Unterschiede,
dass diese ebenso wie das Vor- und Nachwort dort dem Einsiedler in den
Mund gelegt werden, während hier der Dichter selbst spricht. Auch der
Hinweis auf die Verführung der Dina durch Sichern, den Schrot Bl. B 3b
im Anschluss an den Reim auf das zwanzigjährige Mädchen bringt, ist
wohl durch den in ähnlichem Zusammenhang vorkommenden Hinweis des
Einsiedlers bei Gengenbach (V. 234 ff.) veranlasst worden.
Schrots Verse sind sehr hölzern, und seine Darstellung verrät nirgends
auch nur den leisesten Anflug einer dichterischen Begabung, so dass trotz
der Seltenheit seiner Schrift ein vollständiger Abdruck derselben kaum
ratsam erscheint. Ich teile deshalb hier nur die den bildlichen Dar-
stellungen der Lebensalter beigegebenen Verse nebst einer kurzen Be-
schreibung dieser Bilder mit, die, obwohl etwas roh, doch einige Gewandt-
heit in der Charakterisierung der menschlichen Gesichter zeigen.
A. Die männlichen Altersstufen.
Holzschnitte. -— io J.: Knabe, der mit dem Reif spielt. Neben ihm ein springendos
Geisböckchen. 20 J. ¡ Stolz einherschreitender vornehmer Jüngling mit Barett und Degen,
die Rechte in gestikulierender Bewegung ausgestreckt. Ihm zur Seite ein springendes
Kalb. 30 J.: Vornehmer Herr mit Degen. Neben ihm ein Stier. 40 J.: Geharnischter
1) Abgedruckt in Goedekes Paniphilus Gengenbach S. 54—76.
2) R und C. Vgl. Bolte in G. Wickrams Werken Bd. 5 (Tübingen 1908) S. XXIX.
3) In der ersten Ausgabe. Die liier in Frage kommenden Worte kehren in den
späteren Ausgaben gleichlautend wieder.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
19
mit Schwert und Lanze. Ihm zur Seite ein Löwe. 50 J.: Mann mit Geldbeutel (?).
Neben ihm sitzt ein Fuchs. GO J.: Älterer Mann, nachdenklich dahinschreitend, in der
Rechten einen Stab, mit der Linken die Spitze seines langen Bartes haltend. Neben ihm
ein Bär. 70 J.: Ein barfüssiger Alter sitzt sinnend auf einem Lehnstuhl, den Kopf auf
die rechte Hand gestützt. Auf seinem Schosse liegt ein aufgeschlagenes Buch. Neben
ihm liegt ein Hund. 80 J. : Alter Mann in zerlumpter Bettlerkleidung, sich mit den
Händen auf einen Stock stützend. Neben ihm eine räudige Katze. 90 J.: Ein mit den
Händen gestikulierender Greis, in einem Lehnstuhl sitzend, einen Stock zwischen den
übereinandergeschlagenen Beinen haltend. Neben ihm liegt ein Esel 100 J.: Ein im
Lehnstuhl sitzender, sterbender Greis, mit langem gesträubtem Haar, eine Krücke haltend.
Neben ihm der Tod mit zottigen Haaren, in der Linken das Stundenglas, in der Rechten
die Sense. Vor dem Alten ein Gänserich.
I ber den einzelnen Bildern stehen die folgenden Reimpaare:
a) 10. Jar ain Knâbl hüpsch vnd fein,
Springt wie ain Gaisbôcklin herein.
/>) "20. Jar aufferwachssen halb,
Ist gleich aim vnuerjârten Kalb.
c) 30. Jar in der schönen lustzier,
Vergleicht sich aim stossenden Stier.
t!) 40. Jar ain Mann also gut
Bekumbt ains rechten Lôwens mût.
e) 50. Jar ain geschwinder Lux,
Wirt listig wie ain arger Fux.
Linter den Bildern stehen folgende Reime:
f) 60. Jar schwecht das leben seer,
Drumb wirt er ain grauneter Beer.
g) 70. Jar macht jn vngsund,
Wirt zu aim faulen alten Hund.
/¿) 80. Jar wirt jm als widertratz,1)
Schnurrt wie ain alt schöbige Katz.
i) 90. Jar ist niemandts gesell,
Ain alter vnwerder Esel.2)
k) 100. Jar ist des menschen zal,
Ain alter Ganser in aim stai.
TOH bin ain knâblin frisch vñ jung,
Wie ain Kitzlin hab ich mein sprüg.
Die boßhait eygt3) sich zeyt in mir,
Zum freyen willen hab ich gir.
Dann was ich sich in diser wellt,
Das andre thùu mir auch gefeilt.
Wachs in meim freyen willen auff,
Ynd leern bey zeyt der weite lauff.
Das hangt mir an mein lebenlang,
Frag nit wies mir am end ergang.
b)
TCH bin ain jüngling stoltz vnd geyl,
Mit tantzen, springe vii kurtzweyl.
Mir ist gar wol zu aller stund,
Ich frag nit vil nach Gottes bund.
Hab lieb die weit vnd als jhr than,
Im wollust will ich fallen au.
Also will ich mein junge tag,
Zubringen also lang ich mag.
In üppigkait die jugent lebt,
Der zucht vnd tugent widerstrebt.
c)
TCH hab gefreyt ain junges weib,
Zii wollust meinem gsunden leib.
Mit der will ich gar frôlich sein,
Vnd leben nach dem willen mein.
Dann was ist das die zeyt verzert,
Dann gsundes leben das ernert.
Das alter ist voller vnmiit,
Das der jung allzeit hassen thût.
Dann wann das traurig alter kümbt,
All irrdischer wollust abnimbt.
d)
TCH hab mich schon gar wol versucht,
In meiner Ee wen mein weib flucht.
Gib nichts darumb bin widerfieg,4)
Gfellt mir dsach nit ich lauff in krieg.
Vnd henck mich an ain trunckne rott,
Ich treib auß jren Worten spott.
Solt das weih den mann leeren hie,
Das wer mir von jr die gróst mie.
Drumb muß nach meinem willen gan,
Vnd solt ich setzen als daran.
1) Vgl. Schmeller-Frommann, Bayrisches Wörterbuch 1, 6811'.
2) Zu diesem Reim vgl. Vierteljahrsschrift f. Litgesch. 1, 76.
ß) Vgl. DWB. 3, 96.
4) Gehört wohl zu fechen, DWB. 3, 1386
2*
20
Englert:
e)
TCH hab vil versaumbt da ich war,
Ain junger mann mein erste jar.
Nun will ichs wider bringen ein,
Ynd schawen auff den vortail mein.
Wie man mich offt betrogen hat,
Also mein willen widrumb stat.
Das ich her wider bring mein gut,
Ich sich wie jm ain andrer thut.
Drumb korn vmb saltz sey wie jm well,
Ja nimmer gellt nimmer gut gsell.1)
f)
An spricht witz kuiïi vor jaren nitt,
M
Ynweiß sein ist der jugent sitt.
Nun will ich wider bringen das,
So ich etwan versaumig was.
Weyl yederman ist so vntrew,
In aignem nutz on alle schew.
Thu ich auch als sey ich nit frurü,
Das ich wider zum meinen kum.
Kan nit vertragen vngelück,
Beweiß vil lieber widrumb dick.
g)
IV/TAn predigt wol man solt sein fruni,
Die boßhait laßt mich nit kurtzufii.
Ob ich mich schon erlust die zeyt,
Am end mir Got mein sünd vergeyt.
Ich bin ain armer sünder zwar,
Ynd hab auff mir die alten jar.
Hab noch nie gschaut wie man werd fruni,
Ach das vns Got zìi hilffe kum.
Verzeich vns vnser missethat,
Weyl Christus für vns glitten hat.
h)
TCH hab vil verschlemt vnd verpraßt.
Vnd schönen frawen auffgefaßt.2)
Das rewt mich sehr, kümmer mich drum,
Nun will ich werden karg vnd frum.
Auß erlernetem schaden hie,
Das hab ich vor betrachtet nie.
Biß ich bin kummen vmb mein hab,
Des trag ich nun den Bettelstab.
Ynd wirfc das Spital mir zu teyl,
Ynd warte des Todts stund all weyl.
i)
TCH denck das ich ain Hirschen jagt,
Yetzt bin ich am Schnecke verzagt.
Muß mich setzen in todes sal,
Mein reiclithumb erwirbt das Spital.
Hab mir kain schätz gesamblet ein,
Dem weib vnd auch den kindern mein.
Vil weniger zum himelreich,
Des tregt mein gwissen grosse scheich.
Vnd klagt mich an auff jhenem tag.
Dem niemandt nit entweichen mag.
N
k)
tfVii ist es auß mit mir geleich,
Also geht es mit arm vnd reich.
Wer recht hat glebt vnd gûts gethon.
Dem gibt der Richter vollen lohn.
Zur seligkait sein wir erwôlt,
Wann wir das thiin das Got gefôlt.
Wer das nit thut im leben sein,
Der geht zur Hochzeyt nit hinein.
Die Got mit seinem Sun bereit,
Wer die versäumt kumbt nit zur freüdt.
B. Die weiblichen Altersstufen.
Holzschnitte. — 10 J.: Kleines Mädchen mit einer Puppe in der linken Hand und
einem Zeisig auf der rechten. 20 J.: Vornehme junge Dame mit einem Blumenzweig (?)
in der Rechten und Handschuhen in der Linken. Neben ihr eine Weberdistel, auf der
eine Nachtigall sitzt. 30 J.: Vornehme Frau mit Handschuhen in der Rechten. Neben
ihr ein radschlagender Pfau. 40 J.: Matrone mit missmutigem Gesicht. Ihr zur Seite
ein grimmig blickender Adler. 50 J.: Bürgersfrau, in Nachdenken versunken. Neben ihr
eine Henne. 60 J.: Altes Weib mit einem Spinnrocken in der Hand Neben ihr eine
Elster. 70 J.: Alte Frau in der Tracht einer Nonne, mit der Linken sich auf einen Stock
stützend, in der Rechten ein aufgeschlagenes Buch haltend, in dem sie zu lesen scheint.
Vor ihr eine Taube. 80 J.: Alte, an einem Stock gehend, in der linken Hand einen
Kranz haltend. Neben ihr hockt eine Eule. 90 J.: Altes Weib, an einem Stock dahin-
humpelnd, in der Linken einen Beutel (?) haltend. Neben ihr eine fressende Gans.
100 J.: Sterbende Alte im Lehnstuhl, die Hände faltend. Neben ihr der Tod mit zottigem
Haar, Sanduhr und Sense haltend. Unten eine flatternde Fledermaus.
Über den Bildern folgende Reimpaare:
1) Zu 'Korn vmb saltz' vgl. Wander« Sprichwörterlexikon 2, 1542; zu „Nimmer gellt,
nimmer gut gsell" ebd. 1, 1503.
2) Druckfehler? Soll es aufgepasst heissen?
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
21
a) Das 10. Jârig Madien klein
Grillet1) gleich wie ain jungs Zeyßlein.
ò) 20. Jar ain Junckfraw wol gefall,
Singt wie ain helle Nachtigall.
c) 30. Jar ain hochfertige fraw,
Gleich wie sein schwantz außbrait der Pfaw.
d) Ain 40. Járige fraw mit ehr,
Erhebt jr gmiit wie ain Adler.
e) Ain 50. Jârigs weib zu erkennen,
Scharret im hauß wie ain Leghennen.
f) Das 60. Jârig weib mit schwetzen,
Vergleicht sich ainr schnatter Hetzen.2)
g) Das 70. Jârig weib on sin,
Wirt ain wollustige Täubin.
h) Das 80. Jârig weib allweyl,
Mutzt sich wie ain vngstalte eyl.
i) Das 90. Jârig Weib glust ains Mannß,
Datiert3) gleich wie ain alte Gannß.
k) Das 10«). Jârig weib mit grauß,
Ist vnwerd wie ain Fledermauß.
Unter den Holzschnitten befinden sich die folgenden Reime:
a)
TCH bin ain Madlin jung vnd klein,
Drüb laßt man mir den willë mein.
Weyl ich noch waiß kain vnderschait,
Biß man mich lert mit bschaidenhait.
Zu Gottes lob vnd Tugent fr uri»,
Vor der zeyt waiß ich nichts darum.
Gillt mir als gleich dann was ich sich,
Das mir gefeilt thii lieben ich.
Also die Jugent diser zeit.
Wechßt auff in aller eytelkeit.
b)
TCH bin ain schöne Junckfraw jung,
Kurtzweylig, gail, behend im sprñg.
Mir liebt die weit mit jrer freüdt,
In mir ist nicht vil gaistligkeit.
Mein sinn vnd mut steht mir allein,
Zù ainem jungen gsellen fein.
Dem zier ich mich zu gfallen stet,
Er ficht mich an zu tisch vnd bett.
Dann was hat die jugent auch sunst,
Zu dencken dann der liebe prunst.
c)
TCH hab mich in die Ee begeben,
Zu haben Inst vnd frôlich leben.
Mit meinem schönen jungen Man,
Will ich mein zeyt wol legen an.
Mit tantzen, hupfen, vnd auch springen,
Lachen, schertzen, lieben vnd singen.
Dann wann das alter kumbt herein,
Weren die ding verloren sein.
Da erhebt sich groß angst vnd not,
Ynd das man sich versun mitt Got.
I
CH hab auch in der Ee versucht,
Das man nit so vil bett als flucht.
Weyl ains die haußsorg hart anficht,
Macht ains der kümer offt entwicht.4)
Dann liaußhalten zu aller frist,
iSlit heytzlen noch liunr nagen ist.0)
Anfechtung macht vil manchen stritt,6)
Laßt manche nacht auch schlaffen nit.
Dann yeder tag sein vbels bringt,
Das in der Ee gar offt mißlingt.
e)
TCH hab so lange jar gehaußt,
Wann ich dran denck das mir gleich graußt.
Was muh vnd arbait ach vnd wee,
Zìi handen stoßt wol in der Ee.
Das bedenckt die jugent nit hie,
Was im alter für große mie.
Bedarff biß man kumbt zu dem end,
Ach Got was armut vnd eilend.
Derhalb ain heüßlichs weib so schan,
Lobet gar hoch der Weyse man.
f)
ICH maint es hett nun mer kain fei,
So wirt mein Man yedermäs gsel.
Bringt mich zu mancher eyfersiicht,
Damit man krieg vnd hâfen bricht.7)
Gibt kains vmbs ander das ist war,
Da zeucht man die strebkatz beim liar.8)
Betten, fasten, vnd gaistlicli sein,
Ist nit der brauch in dem hauß mein.
Sonder schelten, fluchen entwicht,
Vnd scheücht nit Gottes letst gericlit.
1) Vgl. Schmeller-Frommann 1, 993.
2) Vgl. Grimm, DWB. 42, 1270 und 1271.
3) Vgl. DWB. 2, 828.
4) Vgl. DWB. 3, 657.
5) Sprichwort? Zu 'heytzlen' vgl. DWB. 42, 929; auch 890 und 891-
6) Vgl. Schmeller-Frommann 2, 820.
7) "Vgl. Wander 2, 1644; Zeitschrift 5, 359. 6, 298, Anm. 1.
8) Vgl- Wander 4, 898.
22
Englert:
TOH soit gaistlich vnd weltlich sein,
Hab Seligkait vnd Helle pein.
Auff ainer Wag die soit ich than,
Baides ich nit Volbringen kan.
Zway Herren zìi dienen ist mir,
Zu vil all tag in gleicher khir.
Got wolt ich geren dienen zwar,
Aber die weit bsitzt mein hertz gar.
Der kan ich nit wol wider ston,
Drumb empfach ich mit jr den Ion.
h)
VE eltr ich wird ye erger ich bin,
Damit so geht die zeyt dahin.
Hab mich noch nit versûnt mit Got,
Vñ schleicht mir all stüd nach der todt.
Die zeit ist mir hingloffen schnei,
Bin nit sicher an leib vnd seel.
Mir bleibt über diser sententz,
Betriebter gaist boß conscientz.
Anklag der siind trauriges endt,
Des bin ich worden gantz verblendt.
i)
V\TIe ist mir auff erden so bang,
Mein zeit ist mir verdrießlich lang.
Bin vnwerd bey yederman gar,
Bin nichts mer werdt an haut vñ har.
Dann in der jugent gaits mir gleich,
Das boß fürs gut het drab kain scheich.
Nun findt sichs im alter gar fein,
Mein sündigs leben gar vnrein.
Wie wol der wollust, gelt vnd gut,
Der jungen mann anfechten thut.
k)
A Got erbarm dich mein am end,
Mein gaist befilch ich in dein hend.
Ich far dahin auß diser weit,
Dort ist mir schon mein vrtel gstelt.
Hab ich recht glebt so gneüß ich das,
Wa nit, so ist mir Got gehas.
Dann er den tod des Sünders nicht,
Begeren thut wie er selbst spricht.
Drumb rüst sich yeder auff die fart.
Da kain guts hie nit werd gespart.
4. Die männlichen und weiblichen Altersstufen von Ohristofano Bertelli
(um 1570).
Aus dem Verlage des italienischen Kupferstechers Christofano Bertelli,
der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Modena arbeitete,
rühren zwei vielleicht von ihm selbst gestochene Blätter her, von denen
das eine die Stufenjahre des Mannes, das andere die des Weibes zum
Gegenstand hat.1) Ein Exemplar des letzteren Stiches befindet sich im
Besitze des Antiquars Ludwig Rosenthal dahier, welcher mir in entgegen-
kommendster Weise die Veröffentlichung der auf dem Blatte befindlichen
italienischen Verse gestattete. Eine sehr genaue Kopie des Stiches mit
spanischen Versen liegt mir in einer von Miss S. Minns in Boston2) mir
zur Verfügung gestellten photographischen Nachbildung vor. Das Original
des Bertellischen Kupferstiches, welcher die Altersstufen des Mannes dar-
stellt, habe ich nicht zu Gesicht bekommen, doch ist ein mir gleichfalls
in photographischer Wiedergabe vor Augen liegendes Blatt mit spanischen
Versen, das ein Gegenstück zu den weiblichen Lebensaltern bildet und
zweifellos von derselben Künstlerhand entworfen ist, sicher eine Kopie
jenes Stiches.
Ich lasse nun eine Beschreibung dieser Blätter folgen.
1) Vgl. Meyers Allg. Künstlerlexikon 3, 701.
2) Auch alle übrigen im nachfolgenden unter Nr. 4 und 5 im Texte besprochenen
Blätter ausser dem Originalstiche von Bertelli und dem Holzschnitt von Albrecht Schmid
beschreibe ich nach photographischen Kopien, welche Miss Minns nach den ihr gehörenden
Originalen für mich anfertigen liess. (Vgl. oben 15, 404). Ich nehme hier nochmals
Anlass, ihr für ihre ausserordentliche Güte meinen wärmsten Dank auszusprechen.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
23
A. Altersstufen des Mannes (Kopie mit spanischem lext).
Der Kupferstich ist 40 cm hoch und 50 cm breit. Als Überschrift
trägt er die Yerse:
AQVEL QVE EN BIENES PONE SV ESPERAIS!ÇA
SIN CONPIAR EN OTRO VA HERRADO
PVES EN LA MVERTE DE ELLOS ES PRIVADO.
Die männlichen Lebensalter sind durch einen grossen Treppenbau
mit 9 links auf- und rechts niedersteigenden Stufen1) veranschaulicht, auf
denen folgende Vertreter der einzelnen Lebensabschnitte dargestellt sind:
1 J.2): Kind im Laufstuhl, mit Breilöffel und Lutschbeutel. 10 J. : Knabe mit einem
Buch in der Linken, in römischer Tracht, wie die meisten folgenden Figuren. 20 J.
Jüngling mit einem Zweig in der erhobenen Rechten. Neben ihm Amor mit Köcher und
Bogen, den er im Begriff ist zu spannen. 30 J. : Mann in römischer Kriegertracht mit
Schild und Lanze. 40 J. (oben): Auf dem Throne sitzender Mann, ein Stockbündel in der
Rechten. 50 J.: Mann mit Tintenfass (?): auf dem Boden eine Sanduhr und zwei Bücher.
(iO J.: Mann mit einem Zweig in der niedergehaltenen Rechten, auf eine am Boden liegende
Rüstung tretend. 70 J.: Geldzählender Alter mit Brille, im Pelzmantel. SO J : Greis auf
dem Deckel eines Sarges sitzend, den Kopf auf den Arm gestützt, mit einem Fuss im
Sarge. — Unterhalb der Figuren befinden sich in Nischen die folgenden Tiergestalten-
Schwein (Kümmel fressend), Lamm, Rehbock, Stier, Löwe, Fuchs, Wolf, Dachshund, Esel.
Darüber die Reiminschriften3):
a) Al puerco el niño en esta edad parece e) El hombre de quarenta es Rey llamado
En ser suzio comino asta que crece Como el león entre los brutos coronado
b) A un cordero remeda el de diez años /') Zorra astuta el hombre en tal estado
Que no se aflige por males ni daños Semeja con sus mañas y cuidado
c) Ligero como corço es el in ançebo g) Solo en aum(en)tar hazienda atiende
Instigado de amor que es proprio çebo Este como en hurtar el lobo entiende
(l) En fuerça yguala al toro el de treinta A) Como el podenco se recrea en la caça
años Este en contar dineros se embaraça
Que por confiarse o muere o causa ¿) El hombre en esta edad es comparado
^auos Al asno viejo que siempre esta echado
In einem unten im Mauerwerk angebrachten Gewölbe steht der Tod
als geflügelter Knochenmann, seine Sense wetzend. Links davon ein
Engel, einen Gestorbenen aufhebend, um ihn zum Himmel emporzutragen.
Rechts eine Feuer aus dem Munde speiende teuflische Figur mit Hörnern,
stacheligen Flügeln, Krallen, Schwanz, in der Linken eine grosse Gabel
und eiserne Kette haltend, in der Rechten einen Toten, den er am Fusse
hält, fortschleifend. In der oberen Ecke links Christus auf den Wolken
thronend, von Engelscharen umgeben. Darunter ein Mann, den ein Engel
durch die Lüfte emporträgt, indessen ein zweiter, dem Himmel ent-
1) Vgl. ZfdPh. 23, 405 Nr. 6.
2) Auf den einzelnen Stufen sind römische Ziffern (I, X, XX usw.) zur Bezeichnung
der Lebensjahre angebracht.
3) Bei Feststellung der spanischen Texte war mir Herr Bibliotheksekretär Dr. Eugen
Stollreither in verbindlichster Weise behilflich. Den Herren Dr. E. W- Bredt und Dr. Fr.
W. Hoffmann bin ich für verschiedene mir bezüglich des figürlichen Teiles der von mir
beschriebenen Blätter erteilte Auskünfte zu Dank verpflichtet.
-24 Englert :
schwebender Engel ihm mit ausgebreiteten Armen entgegeneilt. In der
oberen Ecke rechts der Höllenfürst mit grosser Gabel in der Hand, auf
einem drachenartigen Untier reitend und von Teufeln umgeben. Darunter
zieht ein mit einem Beil bewaffneter Teufel einen Mann, der von einem
anderen Dämon getragen wird, empor. All diesen Gruppen und zum
Teil auch den einzelnen Figuren sind Yerse beigefügt.
B. Altersstufen des Weibes (Abb. 1).
Das Original und der Nachstich haben dieselbe Grösse: 38 cm Höhe
und 51 cm Breite. Die Darstellungen des Stufenbaues, die des Himmels
und der Hölle in den oberen Ecken und diejenige des Todes in dem
Mauergewölbe sind den auf dem oben geschilderten Bogen ganz ähnlich.
Auch die neben der Figur des Todes und unterhalb des Himmels und
der Hölle befindlichen Darstellungen, in denen hier natürlich Frauen statt
der Männer erscheinen, lehnen sich in der Hauptsache ziemlich eng an
die entsprechenden Bilder auf jenem Blatte an.
Auf den Stufen befinden sich folgende Figuren1):
Wickelkind in der Wiege. 10 J.: Mädchen in antikem Gewände, mit einem Kissen
(Klöppelkissen?) in der Hand. 20 J.: Jungfrau in antiker Tracht (wie mehrere der folgenden
Frauen), mit Stab in der Rechten, Fackel in der Linken. 30 J.: Stillende Mutter. 40 J.
(oben:) Frau, einen Zweig in der erhobenen Rechten und einen in jler gesenkten Linken
emporhaltend. 50 J.: Frau mit Schlüsselbund und Geldtasche, einen Fuss auf eine Schild-
kröte setzend. 60 J.: Frau mit zerbrochenem Bogen und zerbrochenem Pfeil in der
Rechten uud einer mit der Wurzel ausgerissenen Pflanze in der Linken. Auch auf dem
Boden liegen Stücke eines Pfeiles. 70 J.: Alte Frau in Nonnenkleidung, mit gefalteten
Händen und einem Rosenkranz. 80 J.: Alte Frau, auf einem Sarge sitzend, den Kopf
auf die rechte Hand gestützt.
Als Tiergestalten erscheinen hier in den unterhalb der Figuren befindlichen Nischen:
Elster, Truthenne, Pfaufasan, Gluckhenne, Yogel Strauss, Ente, Papagei, Rabe, Gans.
Der Originalstich hat die Überschrift:
ECCOTI SAGGIO ET DISCRETO LECTORE
ET TV SPECVLATOR DI DONNE IL GRADO
CHE NYOYAMENTE INDRIZZO AL VOSTRO HONORE.
Über den Nischen liest man die folgenden Reime:
a) Non cessa di parlar la garuletta d) Come la cocca li suo polecini
fin che co'l becco al cibo no' si metta nodrisse co'l beccar fra l'herbe e spini
cosi fa tal fanciulla per la tetta cosi io co'l latto canpo i miei banbini
b) Come la polla indiana uagha e snella e) Mostra la strazza la sua grä fortezza
con presti passi e con dolce fauella nel ferre padir di cotanta durezza
ne ua cosi la semplice donzella2) cosi la doña alli trauagli auezza
c) Fagia d'Argo nodrita per giunone f) Come l'Anera in acgua si nutrica
eh' all' atto tenpo '1 pompeggiar depone e'n pigliar cibo gli usa gran fatica
concorda e eon tal donne e tal persone cosi costei nel cor sua uoglia implica
1) Ziffern zur Bezeichnung der einzelnen Lebensalter sind hier nicht beigefügt.
2) Im Original steht das d verkehrt.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
•25
ff) La papagalla pe'l parlar giocoso /¿) Leggiadra bella non com hör uecchia oiba
tenuta e'n gran delicie e gran riposo uenir uoria ma laccio come corba
cosi tal donne in tal stato doglioso morte espettando ch'in me'l suo fere soi'ba
i) Com occha son sueggiata uecchia secca
ch'il cibo con faticha sgualza e becca
cosi mia lingua lo sepulcro lecca
Weitere A erse sind auch auf diesem Blatte und dem Nachstich den
in den oberen Ecken, im unteren Teile und auf den Seiten befindlichen
Gruppen und Figuren beigefügt. Unter der ersten Nische links steht:
Christopheno bertello. — Der Nachstich, der ebenso wie sein Gegenstück
weder Verleger- noch Stecherzeichen trägt, hat die Überschrift:
26
En giert:
LAS FIGVRAS PRESENTES ENTENDIDO
LECTOR. TE MVESTRAN CLARO LAS EDADES
DE MYGERES QVE SON. SERAN. Y AN SIDO
Die Yerse unter
den Figuren lauten:
a) No cessa de parlar la no discreta
picaça hasta que el cebo en pico meta
lo mesmo haze la niña por la teta
b) Como la polla indiana que es muy bella
se pierde si la dexan sola á ella
asi mesmo haze la simple donzella
c) El pauon en pulir sa rueda entiende
y la donzella en esta edad atiende
ymitarlo y otro no deprende
d) Como cria la clueca sus pollittos
entre spinas y hieruas muy chequittos
assi crio yo con leche mis hijittos
«)
f)
Muestra el auestruz su fortaleza
digeriondo el hierro y su dureza
y la hembra entre trabajos su fineza
De el añade eli agua es su recreo
buscar el pasto siempre alli le ueo
y yo en esta edad oro deseo
g) El papagaio por parlar gracioso
lo quieren y yo pues perdi lo hermoii>
con la mesma atrayo al que es goloso
lì) No uieja como aora mas hermosa
quercia tornar mas ya la espantosa
muerte me canta el cuerno dolorosa
■i) Vieja secca como anser siempre enuela
estoy sin que mi bocca tenga muela
para el sepulccro tengo ya la tela.
5. Deutsche und niederländische Flugblätter aus dem
17. und 18. Jahrhundert.
Drei der mir vorliegenden Blätter sind aus der Kupferstecherei des
Gerhard Alzenbach1) hervorgegangen.
A. Eines derselben, das älteste, stammt aus dem Jahre 1616 (Abb. 2).
Das Bild ist 31 cm hoch, 25 cm breit. Die Mitte des Stiches nimmt ein
längliches Viereck ein, in welchem man den Tod als Knochenmann am
Eingang eines Friedhofes stehend, mit der Sense und drei Pfeilen (mit
den Aufschriften: Preterit., Presens, Futurum) erblickt. Über seinem Haupte
ein Spruchband mit der Inschrift: VIGILATE QVIA NESCITIS QVA
JIORA DÑS VENIET. Matt. 25. Links und rechts sieht man ein Stück
der Friedhofsmauer, auf deren Gesimsen Totenschädel liegen. Auf dem
Rande des Gesimses zur Linken liest man: OMNIA MIHI SVBDITA,
darunter auf einer an der Mauer angebrachten Tafel: Formositàs — Elo-
quentia — Virilitas — Magnißcentia — Maiestas — Prudentia. — Quia cinis
fumus et umbra. Eine auf dem Mauergesims ruhende Steinplatte, auf der
die Sanduhr des Todes steht, hat die Inschrift:
Non iuuat hic se excus-
Nec ad Apostolica sedè appell-
lis Dona promit(t)ere aut don-
Sum qui non curo quis aut qua-
Nil mihi dignitas Papa-
Nec valet maiestas Rega-
Stultus et sapiens aequa-
Diues et pauper est morta-
seli clam se velie alien-
Pacem non mecü est tract-
Nec dico quando quis vel qu-
1) Verleger, vielleicht auch Kupferstecher: war im 17. Jahrhundert in Köln tätig.
Sein Geschäft blühte von 1613 bis 1672. Vgl. ADtf. 1, 375 und Jul. Meyer, Allgemeines
Künstlerlexikon 1 (Leipzig 1870), 564f.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild. "2 í
2. Der Tod mit den zehn Lebensaltern,
Kupferstich von Gerhard Alzenbach in Köln (161G).
Auf dem Mauergesimse rechts stellt: SVM QVOD ERIS ES1) QVOD
FVL*) Darunter auf einer Tafel: Messor falce*) decus formosis demetit arvis
1) Im Original fehlt das „S".
2) Vgl. hierzu R. Köhlers Kleinere Schriften, hrsg. von J. Bolte, 2, 27 f. 'Der Spruch
der Toten an die Lebenden' ; ferner Fr. X. Kraus, Die christlichen Inschriften der Rhein-
lande 2 (Leipzig 1894), 53; Sprüche zu Grabschriften etc. von einem emeritierten Priester,.
Augsburg 1843, S. 215 (unter „Allg. Grabschriften aus mehreren Gottesäckern"): „Care
viator! — Ne abhorreas ossa mea, — Etiam Tu fui in vita, — Etiam Ego eris post mortem";
Generalanz. der Münch. Neuest. Nachrichten, 9. März 1906 Nr. 115 S. 1 (Grabschrift des
1675 verstorbenen Hofmalers Kaspar Amort, auf dem ehemaligen Friedhofe neben der
Salvatorkirche in München): „Ich liege hier, sieh' über dich, — Geh Niemand vorbey, er
-28
Englert:
humanü properds liac ego falco decus. Zu Füssen des Todes liegt ein zer-
fetzter Lorbeerkranz, eine erlöschende Kerze, zertrümmerte Waffen und
Rüstungen, eine zerbrochene Krone, ein Buch mit zerfetztem Deckel, eine
zerschellte Yase und andere in Trümmer zerfallene Zeichen menschlicher
Kraft, Weisheit und Grösse.
Unter dem Mittelbilde befindet sich ein Schild mit einem posaunen-
blasenden Engel auf jeder der beiden Seiten und der folgenden zwei-
spaltigen Inschrift4):
Hoffart bespiegel dich hieran. Was würden ihr seit arm vnd reich
•Ehrgeitz Schaw dieses Bild recht an, Hie habt ihr ein schöne Figur,
Du vbermuht tritt auch herbey Was der mensch seye von natur.
Vnd denck waß Entlich dein lohn sey. Weisheit Thorheit vnd frölichkeit,
Ihr vntugenden in gemein Verkehrt sich in gemelter zeit,
Last euch dieses ein beyspiel sein, Vnd wird in ein solch Bildt verwent
Jugent vnd alter allzugleich, So diese ziel lauffen zuendt.
Der Oberrand und die Seitenränder sind von zehn links unten be-
ginnenden und rechts unten endigenden Darstellungen der Altersstufen
ausgefüllt, die von Blattwerk und herabhängendem Zierrat umrahmt sind.
Sie zeigen folgende Figuren:
10 J.: Knabe mit Steckenpferd und Peitsche, Mädchen mit Puppe. 20 J.: Lauten-
spielender Jüngling, Mädchen mit Korb und Blumenstrauss. 30 J.: Krieger mit Schwert
und Fahne, von einer Frau, die ein Taschentuch in der Linken hält, Abschied nehmend.
40 J. : Spazierengehendes Ehepaar. 50 J.: Jüdisch aussehender Mann mit einer Frau im
■Gespräch. 60 J.: Mann und Frau im Gespräch. Diese hält einen Rosenkranz in der
Hand. 70 J.: Alter Mann mit einem Buch, alte Frau mit Gebetbüchlein in der Hand,
Geldtäschchen und Schlüsselbund an der Seite. 80 J.: Alter Mann mit Brille, mit der
Rechten auf einen Stock gestützt, in der Linken einen Becher haltend. 90 J.: Greis und
Greisin auf Krücken, beide stark gebückt. 100 J.: Zwei Alte in Lehnstühlen, das Angesicht
zum Himmel aufwärts gerichtet. Neben der Frau ein Sarg. Hinter dem Manne der Tod,
in der Linken das Stundenglas haltend, mit der Rechten einen Pfeil auf die Frau ab-
schiessend.
Den männlichen Figuren sind folgende Tiergestalten beigegeben: Affe5), Kalb, Stier,
Löwe, Fuchs, Wolf (mit den Zähnen eine Gans am Kragen packend), Hund, Katze, Esel,
Schwan; den weiblichen: Affe, Taube, Pfau, Glucke, Storch, Gans, Geier, Eule, Fleder-
maus, —.
Unter den Abbildungen der Lebensstufen stehen die folgenden deutschen
und französischen Reime:
a) X Jahr ein kindt. b) XX Jahr ein Jüngling.
A dix ans ^ vingt ans la Jannesse
sont enfans. 11 a point de sagesse.
bet' für mich. — Gedenk', o Mensch auf Erden, — Was ich jetzt bin, musst du noch
werden." Vgl- auch noch Das Bayerland 13, 252 (Nürnberger Grabschrift), 14, 58 (Grab-
schrift aus Nussdorf bei Rosenheim), 14, 65 (Inschrift auf einem Totenschädel in Alten-
beuern bei Rosenheim). [Petak, Grabschriften aus Österreich 1904 S. 12f.]
3) Im Original: face.
4) Im Original ist jede zweite Verszeile eingerückt.
5) Auf einem Baum über dem Mädchen sitzend. Gilt wohl für beide Geschlechter.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
29>
c) XXX Jahr ein mann.
C'est icy la vigeur
et de la vie la fleur.
g) LXX Jahr ein greiß.
Le viellard garde sa maison
et tout ce qu'il a de bon.
d) XL Jahr wolgetahn.
Le soin icy com enee
d'aquer ir cheuance.
h) LXXX Jahr nimer weiss.
Les dents tornbans du vin vn traici
C'est des viellards le doulx Laid.
e) L Jahr Stillstahn.
Fin et caut pour g (eigner
Va son nid preparer.
i) XC Jah(r) der kinder spott.
Du monde estant la mocquerie
la mort chez soy nous côuie.
f) LX Jahr gehts alter an.
En ce degre de vie
L'homme de tous se desfie.
k) C Jahr begnad dir Gott.1)
De cent ans ayant atteint V aage,
Paradis c'est nostre partage.
In der Mitte des oberen Randes befindet sich ein durch eine Fratzer
einen Frauenkopf und Blattwerk gebildetes Ornament und darüber die
Jahreszahl: 1616.
Im unteren Rande des Mittelbildes steht: J. v. d. heide2) und etwa&
weiter rechts G. Alzenbach excu.
B. Eine freie Nachbildung dieses Stiches liegt in einem von dem.
bekannten Maler und Radierer Johann Elias Ridinger3) im Rokokostil
ausgeführten Schabkunstblatte vor. Das 64 cm hohe, 48 cm breite Bild
zeigt ebenfalls in einem viereckigen Mittelfeld die Figur des Todes,
jedoch nicht als Gerippe, sondern als halbverwesten, spärlich von einem
Tuch umhüllten Körper mit langem Bart und grossen Flügeln. In der
Rechten hält er das Stundenglas, in der Linken die Sense. Mit dem
linken Fuss tritt er auf einen sich entleerenden Geldsack, der mit ver-
schiedenen Emblemen irdischen Glückes, Ansehens, Strebens und Könnens
auf dem Boden liegt. In der Loggia eines auf der linken Seite befind-
lichen, im Renaissancestil gehaltenen Beinhauses liegen Totenschädel auf-
einandergeschichtet. Den Hintergrund der Mittelfläche bildet eine hügelige
Landschaft, in der man eine posaunenblasende und eine paukenschlagende
Totengestalt zu Pferd erblickt. Um das Mittelbild reihen sich in derselben
Anordnung wie auf dem oben geschilderten Blatte oval umrandete Dar-
stellungen der zehn Lebensalter. Die Vertreter der männlichen Alters-
stufen erscheinen auf all diesen Bildern mit Ausnahme des ersten auf der
rechten, die der weiblichen auf der linken Bildseite, während die Anordnung
auf dem Alzenbachschen Blatte urngekehrt ist. Sonst lehnt sich Ridinger
in der Darstellung bald mehr bald weniger an seine Vorlage an. Einige-
1) Y gl. die Zusammenstellung verschiedener Fassungen des deutschen Spruches in.
der ZfdPh. 23, 390f.
2) Geb. um 1570 in Strassburg, gest. 1637 in Frankfurt a. M. Vgl. Naglei's Künstler-
lexikon 6, 169f. (hier unter Nr. 5 das oben beschriebene Blatt erwähnt) und Singers Allg.
Kunstlerlexikon 2, 175. Nach dem obigen Vermerk ist wohl v. d. Heide der Stecher,
Alzenbach der Verleger des Blattes. Vgl. hierzu Jul. Meyer a. a. 0.
3) Geb. 1695, gest. 1767. Vgl. über ihn ADB. 28, 505f. und Singer, Allg. Künstler-
lexikon 4, 64.
■UHI
5
30
En giert:
auffallendere Abweichungen, besonders solche, die sich auf die beigegebenen
•Attribute und Tiersymbole beziehen, will ich hier verzeichnen:
10 J.: Das Mädchen, welches wie der Knabe und die Paare auf den nächstfolgenden
Bildern in Rokokotracht gekleidet ist, hat in der Linken eine Traube, in der Rechten
einen Stab. Ausser der Kleinen und dem steckenpferdreitenden Jungen, erscheinen noch
zwei weitere Kinder auf dem Bildchen, ein Knabe mit Schalmei und ein anderer mit
Dudelsack. 20 J.: Das Mädchen hält nichts in der T^and, der Jüngling trägt einen
-Schäferstab. Schäfchen statt des Kalbes. Taube fehlt. 30 J.: Stier fehlt. 40 J.: Frau
mit Sonnenschirm, Mann mit Spazierstock. Löwe fehlt. 50 J.: Löwe statt des Fuchses.
Storch fehlt. 60 J.: Mann mit Speer und Jägerhorn. Frau ohne Rosenkranz. Hund statt
•des Wolfes. 70 J.: Geier fehlt. 90 J.: Fledermaus fehlt. 100 J.: Gans fehlt.
Die deutschen Yerse unter den Ovalbildern zeigen, von der Schreibung abgesehen,
folgende Abweichungen: L Jahr stille stahn; 0 Jahr genad dir Gott: die französischen:
■d'acquérir la substance; Fin et sage pour gagner il veut son n. pr.; Ayant atteint
de cent ans l'âge Le Paradis est n. p.
Der Schild im Unterrande wird von zwei halbnackten Männern ge-
halten, einem jüngeren mit lorbeerbekränztem Haupt und einer Palme in
•der Hand auf der linken Seite und einem älteren, der gleich dem Tode
im Mittelbild Flügel trägt und eine Sichel im Arme hält, auf der rechten
■Seite. Die Yerse auf dem Schild weisen verschiedene sprachliche und
metrische Verbesserungen auf. Sie lauten hier:
ihr möget seyn arm oder reich
Hier seht ihr an dieser Figur
was der Mensch ist von Natur
Weisheit Thorheit und Frölichkeit
hört endlich auf nach dieser Zeit
und wird in ein solch Bild verkehrt
das niemand mehr zu sehn begehrt.
Im unteren Kande rechts steht: loh. El. Riclinger exc. Aug. Vind.
Hofl'art bespiegle dich hieran
Ehrgeiz schau dieses Bild recht an
Du Uebermuth tritt auch herbey
Sieh was dein Lohn am Ende sey
Ihr Laster last euch insgemein
dieses ein redend Beyspiel seyn
Junge und alte allzugleich
Ausser dem oben beschriebenen Blatte aus dem Verlage von G. Alzen-
bach liegen mir noch zwei von der gleichen Künstlerhand stammende und
in demselben Verlage wie jenes, vermutlich um 1650 hergestellte Stiche
vor, von denen der eine die männlichen, der andere das Seitenstück zu
diesem, die weiblichen Altersstufen zum Gegenstand hat.1) Beide sind
27 cm hoch und 38 cm breit. Der erstere (C; vgl. Abb. 3) zeigt auf einer
Bandrolle die Überschrift:
Auff vnd Nidergang: Deíá Mannlichen alters.
1) Von beiden Stichen erhielt auch die hiesige Kgl- Graphische Sammlung durch den
letztgenannten Herrn Antiquar Ludwig Rosenthal dahier ein Exemplar (Kat. 118, Nr. 407).
Im Germanischen Museum in Nürnberg befinden sich im ganzen ziemlich getreue, doch
in wenigen Einzelheiten abweichende Nachbildungen der beiden Blätter, von denen die
eine (die der männlichen Stufenjahre) den Vermerk 'A. Aubry. Excudit' (vgl. Nagler 1, 185f.),
die andere kein Verlegerzeichen trägt. Abraham Aubry, deutscher Kupferstecher und
Kupferstichverleger aus Oppenheim, war um 1650 in Strassburg für den Verlag seines
Bruders tätig, arbeitete auch für den Kunsthändler Paul Fürst in Nürnberg; nach 165:»
beschäftigte ihn der Verleger und Kupferstecher Gerhard Alzenbach in Köln. Vgl. Meyers
Allgemeines Künstlerlexikon 2, 376f.
32
Englert:
Oben in den Ecken stehen die Yerse:
links: rechts:
Yon Jung: vnd alten Leuth, Dem Mensch wirdt vorgestelt
schaw hier den vnderscheidt. Sein auff vnd Nider geh(n).
Merck hier das grönne Holtz, Ein trap der ander nach
wie dan die blum abfeit. steigt er, bleibt nimmer stehn.
Theils mutig vnd geschwindt, ßaldt ihn die Jahren auff
Theils wünschen1) auch ihr endt. vnd darnach bringen ab,
Theils Heirathen zu sambt, Biß er zu puluer wirdt,
Das grab ist aller endt. vnd aschen in seim grab.
Die verschiedenen Alter sind hier wie auf den oben uuter Nr, 4
beschriebenen Stichen durch einen Stufenbau mit auf- und absteigenden
Personen veranschaulicht.
Links unten liegt ein Wickelkind; neben ihm steht ein Breipfännchen. Darüber
sieht man auf einer stufenförmigen Erhöhung ein in einem Laufstuhl stehendes Knäbchen
mit Hammer und Nagel (?) in der Hand; daneben ein Strauch. Nun beginnen die eigent-
lichen Stufen mit folgenden Figuren: 10 J.: Knabe beim Spiele, mit einem Stecken in
der rechten und einem Hölzchen in der linken Hand. 20 J. : Junker mit Stulpstiefeln,
einen Federhut in der Hand haltend. 30 J.: Mann mit Federhut und Degen, eine Laute
unterm Arm tragend. 40 J.: Bewaffneter Krieger. 50 J. (oberste Stufe): Bürger mit
Handschuhen. 60 J.: Mann mit hagerem Gesicht und Judennase, eine Geldtasche am
Gurt tragend. 70 J.: Alter Mann mit langem Bart, im Talar, mit der rechten Hand eine
Bewegung machend. 80 J.: Greis im Pelz, auf einen Stock gestützt, mit Rosenkranz.
!K) J.: Greis im Pelz, auf zwei Krücken gehend, von zwei Kindern verspottet. 100 J.:
Greis auf dem Sterbebett, die Hände gefaltet; zu seinen Häupten ein Engel.
Den einzelnen Personen sind folgende Tiergestalten beigegeben: Affe (mit Birne),
Kalb, Ochse, Löwe, Fuchs, Wolf (mit den Zäbnen eine Gans am Kragen fassend), Hund-
Leopard, Esel, Schwan.
Unter den Figuren stehen die Yerse:
Wickelkind: Die blum im Knopf ein Hoffnung macht.
Knäbchen: Die Roß geht auff die Mutter Lacht.
10 J.: Ich spiel gern wie der äff. 60 J.: Des wolffs begirligkeit gefeit mir.
20 ./.: Ich dantz, ich spring wie ein Jungs 70 J. : Die schätz der Hundt hütt vnd bewacht.
Kalb. 80 J.: Zorn vnd grim ist beim Leopardi.
30 J. : Zur arbeit ich wie ein ocks geh. 90 J. : Sehr langsam mit dem Esell bin.
40 J. : Wie ein Low starck vnd mutig steht. 100 J.: Beim Todt der gerecht wie ein schwan
~>0 J. Des Fucks klugheit du find es hir. singt.
Auf den zehn eigentlichen Stufen sind noch Schilde mit folgenden
Yersen unterhalb der obigen angebracht:
Zehen Jahr Ein Kindt. Sechstzig Jahr gehets alter ahn.
Zwantzig Jahr Ein Jüngling, Siebentzig Jahr ein Greiß.
Dreißig Jahr ein Man. Achtzigh Jahr nimer weiß.
Viertzig Jahr wolgethan. Neuntzig Jahr der Kinder spott.
Funfftzig Jahr still stahn. Hundert Jahr begnadt dir Gott.
Die Yerse stimmen in der Fassung (abgesehen von 'gehets*
für 'gehts') vollständig mit denen des Alzenbachschen Blattes von
1) Für den Laut ü findet sich hier und sonst auf den beiden Stichen durchaus ein u_
Die menschlichen Altersstufen in W ort und Bild.
33
1616 überein1), von dem auch die Tiersymbole herübergenommen
sind.2)
Links von dem Treppenbau sieht man einen belaubten, rechts einen
fast gänzlich verdorrten Baum mit einer Eule auf einem dürren Aste.
Hinter einem in der Mitte des Mauerwerks befindlichen Torbogen mit der
Aufschrift: Ein Jeder doch bedenck den dag Dem JSiemandt gantz entgehen
mag, erblickt man eine Darstellung des jüngsten Gerichts, hinter zwei
kleineren Torbogen links und rechts mit den Aufschriften: Der Anfang
ist sehr lieb vnd suefs, Das Endt den burden tragen mufs eine "W ochenstube
und einen Trauerzug. Ein Schild unten in der Mitte trägt die Inschrift:
Wachet, dan ihr wist noch den tag, noch die stundt. Mat: C. 25. Y. 13.
Selig ist der, der Gottes will, Beim Bichter wirdt er woll bestehn
auf alle trappen stelt sein Zill. Sein lohn wirt frewdt vnd triumph sein.
Links von dem Schild ein nackter Knabe mit einer brennenden Ampel
und einem Stabe, an dem eine Tafel mit folgendem Keim befestigt ist:
Bestell dein Haufs zu deinem best. Der Todt dem leben folgt zu letz. Kein
bleiben ist hier auff der er dt. Such droben nur wafs ewig wer dt. Neben
dem Knaben ein Kreisel mit Peitsche, ein Lineal, ein Masstab, eine Abc-
tafel, ein Fibelbuch, ein Bücherbrett, ein Leuchter mit Kerze, eine Sand-
uhr. Rechts von dem Schild der Tod in einem Sarge sitzend, in der
Linken einen Pfeil, in der Rechten einen Stab mit einer Tafel haltend,
welche die folgende Aufschrift hat: Bedencken lehr vnfs alle zeit Dafs wir
dem todt zu gehn bereit, Damit Keiner betrogen sey Mag difs all zeit bedencken
frey. Neben dem Tod eine Ampel mit erlöschendem Licht, ein zer-
brochenes Stundenglas, ein Totenbein, ein Spaten, eine grosse Gabel, eine
Krücke. Unter der ersten Stufe links steht: G. Altzenbach exc.
D. Das Gegenstück zu diesem Blatte zeigt auf einem Bandstreifen
die Überschrift:
Auff: vnd Nidergang Deß Weiblichen alters.
Die in den oberen Ecken befindlichen Reime jenes Blattes erscheinen
hier in folgender Umgestaltung:
links: rechts:
Der Jung: vnd alten Leuth ihr Zeit, Der Mensch geborn geht auff, vnd ab,
Daß grön vnd DürHoltz vnderscheidt Bleibt nimmer stehn biß zu dem grab
Theils mutig gehn, starck vnd geschwindt Die Trappen sichs du hier3) gestelt,
Der Todt, vnd grab sie alle gewindt. yon allen er dem Todt zufält.
1) Der den beiden Blättern gemeinsamen Lesart begnad begegnen wir in keiner der
ZfdPh. 23, 390f. zusammengestellten Fassungen des Spruches.
2) Nur ist an Stelle der Katze der Leopard getreten. — Der Affe ^ Symbol fin-
den lOjähr. Knaben und der Schwan als Symbol für den Hundertjährigem findet sich in
keiner der ZfdPh 23, 403 zusammengestellten Bilderreihen.
3) Im Original: heir.
Zeitsehr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907.
34
Englert:
Das Bild zeigt denselben Stufenbau wie sein Seitenstück mit der
gleichen Anordnung der einzelnen Figuren1):
Links unten wieder ein Wickelkind mit Breipfännchen. Darüber ein kleines Mädchen
mit Puppe in einem Laufstuhl; daneben zwei blühende Rosensträuche. Dann auf den
eigentlichen Stufen: 10 J. : Mädchen mit einer Rose in der rechten Hand und einem Affen
auf dem linken Arm. 20 J.: Vornehm gekleidete Jungfrau. 80 J.: Yornehme Dame mit
grossem Federhut und Fächer. 40 J.: Schwangere Frau im Mantel und Barett. 50 J.:
Frau im Mantel und Barett, mit Handschuhen. 60 J.: Bürgersfrau mit Handschuhen in
der Rechten und mit Mantel und Barett auf dem linken Arm. 70 J.: Ältere Frau, die
Hände faltend. 80 J. : Alte Frau, einen Rosenkranz betend. 90 J.: Greisin auf Krücken,
von zwei Kindern verspottet. 100 J.: Greisin auf dem Sterbebett, einen Rosenkranz in
der Hand. Neben ihr der Tod mit emporgehaltenem Stundenglas, zu ihren Häupten ein
Engel.
Bei den einzelnen Gestalten finden sich folgende Tiersymbole: Küchlein, Wiedehopf,
Pfau, Gluckhenne, Kranich, Gans, Adler, Eule, Fledermaus, —.
Unter den Figuren stehen die Yerse:
Wickelkind: Der RosenKnopf in windlein ligt.
Kleines Mädchen: Die Roß hir völlig sich außgibt.
10 J.: Daß Röslein rieht, dz hünelein spist. 60 J.: Wie ein ganß ich mich mesten kan.
20 J.: Der wittop hier2) sich schmückt 70 J.: Der Adler hoch fleucht, ich zu Gott.
vnd ziert. 80 J.: Ich wie ein Eull bin der weit spott.
30 J. : Die Juffer wie ein pfaw stoltzerf. 90 J.: Ich FJadermauß dz hauß verwahr.
40 J.: Wie ein Hun ich mein Kinder nehr. 100 J.: Ich sege die weit, zum Himmel fahr.
50 J.: Wie ein Kranich bin ich wachtsam.
An Stelle der auf dem anderen Blatte befindlichen Schilde mit den
Yersen „Zehen Jahr Ein Kindt usw." zeigt dieser Stich Totenköpfe in
Nischen. Auf dem verdorrten Baume zur Hechten fehlt in dem vor-
liegenden Bilde die Eule, die hier der 80jährigen Frau als Symbol bei-
gegeben ist. Statt des jüngsten Gerichts erblicken wir hier hinter dem
mittleren Torbogen eine Kirche mit Friedhof und Beinhaus. Hinter den
beiden anderen Bogen sehen wir auch auf diesem Stiche eine YVochenstube
und einen Leichenzug, und zwar in ganz ähnlicher Darstellung wie auf
dem anderen Blatte. Auf dem mittleren Torbogen steht: Dei• Mensch
gebohren geht auff vnd ab, Ist Elendts voll bifs zu dem Grab, auf dem linken:
Von allen Trappen Her zu Kompt, auf dem rechten: Gewiß ist der Todt,
vngewifs die stundt. Der unten in der Mitte befindliche Schild enthält
dieselben Yerse wie der entsprechende auf dem anderen Blatte; nur liest
die erste Zeile „die, die" für »der, der", die dritte „sie" für „er". Die
links und rechts von dem Schilde befindlichen Figuren und Gegenstände
sind die gleichen wie auf jenem Blatte. Auch die Y erse auf den von
dem Knaben und dem Tode getragenen Tafeln sind, von kleinen Ab-
1) Miss Minns besitzt noch einen diesen beiden Blättern in allen Teilen ganz ähn-
lichen Stich von Gerh. Alzenbach mit der Überschrift „Ein trapp der vornembsten Ständt
der Welt vom Höchsten biß zum Niedrigsten usw." Statt der Vertreter der Lebensalter
erscheinen hier solche der verschiedenen Stän de auf den Stufen. Ein fünfspaltiges Gedicht
nimmt mehr als die Hälfte des Blattes ein.
2) Im Original: heir.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
35
weiclumgen in der Schreibung und der Lesart 'lehrt für „lehr" abgesehen,
ganz dieselben. — In der unteren Ecke rechts steht: G. Altzenbacli exc.
An diese Darstellungen lehnen sich zwei um dieselbe Zeit erschienene
holländische Kupferstiche an, von denen der eine die beiden Geschlechter,
der andere die Frau allein auf den verschiedenen Altersstufen vorführt.
Beide Blätter zeigen einen ähnlichen Stufenbau wie die Alzenbachschen
Stiche1), links davon ebenfalls einen belaubten, rechts einen fast kahlen
Baum mit einer Eule auf einem Ast. Den einzelnen menschlichen Figuren
sind keine Tiersymbole beigefügt.
E. Das Bild, welches die Stufenalter des Mannes und des W eibes
darstellt, trägt auf einer Bandrolle die Überschrift: TRAP DES
OUDERDOMS. In den oberen Ecken stehen die Reime:
links: rechts:
Bedencken leert ons telcken keer Beschickt u buys tot u beclyven
l)at wy doch sterven moeten Heer Sterven moet ghy niet levend blyven
Op dat wy daer door qnbedroghen Geen blyfstadt hier u mens gebeurt
To recht verstandich werden mögen. Dus soeckt een stadt die eewich duert.
Psalm 90 vers 20.
Unter der ersten Stufe links zwei Wickelkinder, daneben ein Breipfännchen. Auf
einer kleinen stufenförmigen Erhöhung ein Knäbchen mit Trommel und ein kleines
Mädchen mit Puppe. Auf den eigentlichen (mit den arabischen Ziffern 10, 20 usw. und
den römischen Zahlen I, II usw. bezeichneten) Stufen sieht man zunächst einen Knaben
mit Schultasche und ein Mädchen mit Stickrahmen, dann Junker und Fräulein, hierauf
verschiedeue vornehme Paare, dann (70 J.) Mann in langem Talar, Frau mit Schlüsselbund,
(80 J.) Mann im Pelz, mit Stock, Frau mit Muff, (90 J.) zwei Alte an Krücken, die Frau
mit Brille, dann unten rechts ein Ehepaar auf dem Sterbebett, daneben zwei Engel, auf-
wärtsdeutend.
\ erse sind hier auf den einzelnen Stuten nicht angebracht. In der
Mitte des Mauerwerks befindet sich in einem Zierrahmen eine Darstellung
des jüngsten Gerichts; ein Spruchband im Unterrande dieses Bildes trägt
die Aufschrift: Finis coronat opus. Links davon ein Torbogen mit der
Yerszeile: Een soet begin gee ft goet behagen; hinter dem Bogen erblickt man
einen Taufgang. Rechts ein Torbogen mit der A'erszeile: Maer ieynde sal
het yaxken dragen (beide Zeilen in grossen Buchstaben); dahinter ein
Leichenzug.
Unten in der Mitte ein Schild mit der Inschrift:
Het leeven daer de mensch in woeld, Nu Rystmen en stracx daeltmen we er,
Is een gestage stryd. 't 1s altyt Ebb en vloed:
Wanneer den eene vreugd gevoeld hier wel leeft krygt van den Heer,
Den ander karmt en kryt, Oock namaels 't Eeuwig g°et-
1) Im Germanischen Museum in Nürnberg befindet sich ein ähnliches Blatt, das auf
13 auf- und absteigenden Stufen die durch hohes Lebensalter ausgezeichneten Männer
des alten Testamentes vorführt. Überschrift: nOp en Afgaenden Trap vans' Menschen Leven
m Verste Weerelt.u In den oberen Ecken Verse, unten Prosatext. Links unten steht
S- Savry. (Um 1640. Vgl. Nagler 15, 52f.)
36
Englert :
Links von dem Schild ein nackter Knabe mit einer Seifenblase; neben
ihm fast sämtliche Gegenstände wie auf den zwei Alzenbachschen Stichen.
Rechts der Tod sitzend, mit Stundenglas und Pfeil.
Unter dem Bild steht in grossen Buchstaben:
Des menschen op en nedergangh, Valt d'ene soet en d'ander bangh.
Darunter in sechs Spalten die Yerse:
a) De borsten voen d'onnoselheyt, d) Maer op de vyfde is 't juist dien dagli,
Zoo langh't in d'eerste windels leyt: Daer in die Son niet hooger magh.
En komt de Pap pot op de baen, De seste maeckt na d'oude wys,
Soo kanmen pas in rollen staen. Door loop der tyt de haeren grys.
b) Daer hanghtmen op de eerste trap, e) De zevende voor heur verdriet
Aen 't Poppe al syn wetenschap; Kints kinderen met blytschap siet;
Maer die de tweede trap betreen, Maer treetmen eens op d'aghste tree
Yerfoeyen sigh te syn alleen. Soo sleeptmen niet dan weedom mee.
c) De darde trap wil syn getrout: f) En op de negen sietmen al
De vierde eerst de bruyloft hout, Het geen men was en worden sal.
En geeft met een getuygenis Als hondert jaer de oogen sluyt,
Wanneer hy vaer, sy moeder is. Dan is des loopers leeven uyt.
In der linken unteren Ecke des Bildes steht: Fransoys van Beusecom1)
Excudit.
F. Die weiblichen Stufenalter (Abb. 4) zeigen auf einer Bandrolle
die Überschrift: YROUWEN SPIEGEL. In den oberen Ecken stehen
die Reime:
links : rechts :
Koom hier, en zie dit zinne beeld. Hoor Maagden, Yrysters Bruyd G vrouvf:
Daer Yder vrouw'er Rol in speeld. M: Moeder, Weduw, koom aenschonw
Let, hoe de Ieugd van tyd tot tyd, Hoe 't Spruytje gvoent en hoe 't verdort,
Eerst klimt, en dan naer't graf toe glydt. En 't Ylees weerom tot Aerde wordt.
Unter der ersten Stufe links ein Wickelkind, daneben Breipfännchen und Saugflasche.
Darüber auf einer kleinen Stufe ein Kind im Laufstuhl, mit einer Kinderklapper. Auf
den eigentlichen Treppenstufen: 10 J.: Mädchen mit Stickrahmen und Blume. 20 J. :
Eräulein mit Fächer. 30 J.: Junge vornehme .Frau. 40 J.: Schwangere Bürgersfrau mit
Körbchen. 50 J.: Yornehme Dame. 60 J.: Dame mit eingefallenen Wangen. 70 J.:
Gebückte alte Frau mit Schosshündchen auf dem Arm. 80 J.: Am Stock gehende Alte.
90 J.: Stark gebückte Alte auf Krücken. 100 J.: Greisin auf dem Totenbett; neben ihr
ein Engel.
Neben den beiden Figuren links unten stehen die Yerse: 'Eerst als
een block' und '2 Nu spei en Iok'.
Unter den auf den Stufen befindlichen Figuren liest man:
10 Ik leef gerust 60 Myn blos vergaet
20 'k Heb liefde en lust 70 'k Leef nu alleen
30 'k Gaf vreugd voor kru(i)s 80 Ik kug en steen
40 'k Yermeer myn huis 90 'k Lil als een gras
50 'k Pleeg Huwlixraed 100 'k Werd det ik was
1) Beusekom, Frans van, Kupferstecher und Verleger von Kupferstichen; arbeitete
um die Mitte des 17. Jahrh. in Amsterdam. Vgl. Allg. Künstlerlexikon von J. Meyer 3,
722 und Biographisch Woordenboek der Nederlanden door A. J. van der Aa 2 (1853), 476.
"Xéhrm fuer, en tieJìi- i.miw Seifd". •
Jìaer "Jì&r vifutv 'r-" Ryf áJpecLl. ¡
jet, bvt ¿'e InjJvati tyj tei ty¿f,
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Die menschlichen Altersstufen in AV ort und Bild. 3 (
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4. Frauenspiegel,
Kupferstich von Rombout van den Hoeye in Amsterdam (um 1650).
mei vermaer is het begin geschiedt, das zweite mit der Umschrift: i/aer laes
ten lesten ist maer iammer en verdriet (in grossen Buchstaben).
Unten in der Mitte ein Schild mit demselben Reim wie auf dem
Blatte 'Trap des ouderdoms', jedoch ohne die beiden letzten Verse. Links
von dem Schild ein Knabe mit brennender Ampel und einem Fähnchen
mit der Aufschrift: Vit zondig zaed — Zeer boos en quaed — ^ zoo :k beken
—- Geboren ben. Psal. öl. Neben dem Knaben dieselben Gegenstände
wie auf dem zuvor beschriebenen Blatte. Rechts yon dem Schild der
In der Mitte des Mauerwerkes befindet sich eine Darstellung des
ersten Menschenpaares nach dem Sündenfall. Die Umrahmung derselben
bildet eine Girlande aus Äpfeln, um die sich oben eine Bandi olle mit dei
Aufschrift: Door't woord geplät en weer verbräd (in grossen Buchstaben) und
unten ein Band mit dem Spruch: Finis coronai opus schlingt. Links und
rechts sind Medaillons mit Darstellungen des Sündenfalls und dei A er
treibung aus dem Paradiese, das erste mit der Umschrift. Met vieugd en
38
En giert:
Tod sitzend, mit Stundenglas und Pfeil und einem Fähnchen mit dem
Reim: Ol Mensch u leevè, — En tyd, is eeven — Gelyk een Bloem — Haest
zonder Roem. Psal. 103. — Unter dem Bilde steht in grossen Buchstaben:
Den een verslyt et vrouwe kleed Met vreugd en d'ander weer met leet.
Darunter in sechs Spalten dieselben Verse wie auf dem Blatte 'Trap
des ouderdoms', jedoch in einer der vorliegenden Darstellung angepassten
Umgestaltung. Sie lauten hier:
a) De borsten voen d'onnozelheid, d) Maer op de vyfde is't iuist dien dag
Zoo lang :t in d'eerste windzels leyt. Daer in haer zon niet hooger mag.
En koomt de Pap-pot op de baen, De seste maekt naer d'onde wys,
Zoo kan't pas, in de steun-stoel staen. In weduwschap, de hairen grys.
b) Ja 't hangt, al is 't op d'eerste trap e) De zeevende, voor heur verdriet
Aen't Poppen al er weetenschap. Kints kinderë, met blydschap ziet.
Maer die de twede trap betreet Maer treet zy eens op d'achtste tree,
Verlangt terstont naer t' Bruydloft kleed. Zoo sleep ze miets dan weedom mee.
c) De darde trap pronckt met de Trouw. f) En op de Neegen ziet zy al
En draegt eerst een volkome vrouw. Het geen zy was en worden zal.
De vierde geeft getuygenis Doch Honderdiaer heur ogen sluit:
"Wanneerze Yrouw en M oeder is. Dan is des leevens-loper uit.
In der linken unteren Ecke steht: Rombout van den Hoeye1) ExcudyL
6. Vielfache Ähnlichkeit mit der 'Trap des ouderdoms' in den Figuren
und im Beiwerk zeigt ein etwa in den neunziger Jahren des 17. Jahr-
hunderts von einem Augsburger Formschneider und Briefmaler namens
Albrecht Schmid2) in etwas roher Manier angefertigter Holzschnitt mit
der Überschrift in Typehdruck:
Das Alter steigt hinan, die Kräfften nehmen ab, Zu wachsen
immer thut der Mensch zu seinem Grab.3)
Jedoch ist daraus nicht mit Bestimmtheit zu folgern, dass ihm gerade
dieser Stich vorgelegen haben muss. Die Darstellung mag ihm recht
wohl durch eine Nachbildung des Beusekomschen Blattes vermittelt worden
sein. Wenn er aber dieses benützte, so war es nicht sein einziges Vorbild.
Jedenfalls kannte er auch die beiden späteren Alzenbachschen Blätter
1) Kupferstecher und Kunsthändler; um die Mitte des 17. Jahrh. in Amsterdam tätig.
Vgl- A. J. van der Aa, Biographisch Woordenboek 8 (1867), 8% und Naglers Küustler-
lexikon 6, 333.
2) Nagier gibt in seinem Künstlerlexikon 15, 292 über ihn an: „Schmidt oder Schmid,.
Albrecht, Kupferstecher, lebte im 18. Jahrhundert zu Augsburg, hatte da auch eine Kunst-
handlung." Nach gütigen Mitteilungen des Augsburger Stadtarcbivars Herrn Dr. Pius
Dirr und des Herrn Apothekers H. Weissbecker, Vorstandes der Augsburger Kugferstich-
sammlung-, war Schmid in Ulm geboren und heiratete 1694 eine Bürgerstochter von Augs-
burg, Euphrosina Ulrich. Nach den Grundbuchauszügen besass er kein eigenes Haus.
Im Steuerbuche 1717 kommt er noch vor und wohnte dazumal „Sachsengasse vom neuen
Bad auf dem Barfüssergraben", was der Gegend des auf dem Holzschnitt erwähnten
unteren Grabens entspricht.
3) Höhe des Bildes 30,5 cm, Breite 34,5 cm. Das im Besitze der Miss S. Minns
befindliche Exemplar ist mit der Hand koloriert.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild.
89
odei Darstellungen bzw. Nachbildungen mit den gleichen Reimen, da die
über seinem Bilde befindlichen Yerse aus Sprüchen, die sich auf jenen
Blättern zerstreut finden, zusammengestellt sind. Auch der Umstand, dass
Schmid die zwei links auf der kleinen Stufe befindlichen Kinder in einem
Laufstuhl darstellt, weist auf eine weitere Vorlage hin.
Der Holzschnitt, der einen ähnlichen Stufenbau wie die im vorher-
gehenden geschilderten Bilder, mit einer Darstellung des jüngsten Gerichts
hintei einem im Mauerwerk befindlichen Bogen und ähnlichen Motiven
im Unten ande zeigt, enthält folgenden eingeschnittenen Text:
Links unten: kindisch1) Mein Mueder Mich gebahr.
Auf den Stufen:
klein Bin Ich Noch zu 10 Jahr
Zn 20 Jahr fang ich an zlieben
30 In dem hau(s)stant zu iieben
40 Ein Man Recht in der that
50 Sthe ich im hechsten grat
60 Muß ich ßchon steign ab
70 Rieht ich mich zum grab
80 Ich Nichts Mehr Nime Hir
90 Ich zu der Erdt marßehier
100 Ich Stiirb das Endt ist hier.
Auf dem Torbogen im Mauerwerk:
Bedenkh das Lezt gericht Steh ab von deinen Sinden — Dann Nach dem du gelobt
Nach dem Wirdt dich gott funden.
Auf dem unten in der Mitte befindlichen Schild:
Wie der Mensch steuget auf
Aliso steugt Er2) auch ab
In Driebsa/ Manigfalt
Biß Man in trägt zu grab.
Ausserdem enthält das Blatt noch folgende Yerse in Typendruck:
Unter dem Titelreime in sechs Spalten:
a) Der Mensch geborn geht auf- und ab,
Ist Elend voll biß in das Grab,
b) Der Anfang ist sehr lieb und suß,
Das End die Bürde tragen muß,
c) Drum bestell dein Hauß zu deim best,
Der Todt dem Leben folgt zu letzt,
Unter dem Bilde in sechs Spalten:
а) Ein solchen Anfang haben wir
Allesambt, wie stehet allhier,
Biß auf zehen Jahr ein Kind,
Unvermôglich, Sinnen blind.
б) Hat man zwantzig Jahr erlebt,
Unser "Witz sich was anhebt.
Wer zu dreyßig Jahren geht,
Jetzt für einen Mann besteht,
c) Viertzig Jahr seynd voller Muht,
Geben uns das beste Blut.
Funfftzig stehen in der Waag,
Und du Mensch lebst im Mittag.
d) Kein bleiben ist allhie auf Erd,
Such droben nur das ewig wehrt,
e) Bedencken lehr uns allezeit,
Daß wir dem Todt zugehn bereit,
f) Damit keiner betrogen sey,
Mag diß bedencken allzeit frey.
d) Sec/iteig tritt das Alter ein,
Schnee weiß will das Haare seyn.
Wenn die Sibentzig vorbey,
Achtzig seynd halb Witze frey.
e) Neuntzig machen dich zum Spott,
Seynd wir hundert gnad uns GOtt.
Wohl dem der die gantze Zeit,
Sich zu seinem Todt bereit.
f) Sihe deines Lebens Lauft,
Gehet wie die Rosen aut,
Fället wie die Blätter
Wann dich GOtt bescheid zum Grab.
1) Im Original: kindihjs.
2) Die kursiv gedruckten Buchstaben sind in dem Exemplar der Miss- Minns durch
einen Bruch im Blatte gar nicht oder schwer leserlich.
40
Englert:
Unter diesen Reimen steht:
Augspur g zu finden, bey Albrecht Schmid, Formschneider und Briejfmahler
H aufs und Laden auf dem untern Graben.1}
Zum Schlüsse lasse ich noch eine Zusammenstellung der auf einer
Anzahl der oben beschriebenen Blätter vorkommenden Tiersymbole folgen,
wobei ich auf die von Zacher-Matthias, ZfdPh. 23, 403 gegebene Uber-
sicht verweise:
1) Miss Minns besitzt auch einen um 1800 in Paris bei Gentry rue St. Jacques Nr. 33
erschienenen Stahlstich (31x21 cm) „Les Différens Dégrés des Ages", der die beiden Ge-
schlechter in zehn Lebensaltern auf an- und absteigenden Stufen vorführt und auch wie
mehrere oben beschriebene ältere Blätter eine Darstellung des jüngsten Gerichts enthält.
Den Abbildungen der einzelneu Stufenjahre sind keine Yerse beigefügt, nur kurze Be-
merkungen wie: „40 Age de discrétion", „70 Age de décadence". Miss Minns macht mich
auch auf die von Félix Soleil in seiner Schrift Les Heures Gothiques etc., Rouen 1882
S. 31 f. (vgl. auch S. 88f. 154 f. 158 f.) aus den 'Heures' von Simon Vostre (1498) abgedruckten
12 Vierzeiler aufmerksam, in denen zwölf je einen Zeitraum von sechs Jahren umfassende
Lebensabschnitte mit den Monaten in Beziehung gebracht werden. Miss Minns besitzt
einige von Soleil nicht erwähnte Livres d'Heures mit ähnlichen Versen, darunter eine
Ausgabe der Heures von Thielman Kerver vom 2. Jan. 1524 (die von Soleil S. 151 f. be-
schriebene ist vom 19. Juni 1525 datiert) mit Varianten fast ausschliesslich rein ortho-
graphischer Art. — Im Germanischen Museum in Nürnberg befindet sich ein Kupferstich
mit der Überschrift: 'Lustige Abbildung Der drey Natürlichen Lüsten de/'s Menschen hier auff
Erden, nach dem gemeinen Sprichwort, Aller guter Dinge sollen Drey seyn.'' Das Bild zeigt
links einen auf einem Stuhle sitzenden Junker mit seiner Geliebten auf dem Schosse, in
der Mitte einen mit dem Reif spielenden und einen auf dem Steckenpferd reitenden Knaben,
rechts einen alten Mann, der ein Weinglas in der Hand hält, bei seiner Frau am Tische
sitzend. Unter der Abbildung in drei Spalten je 16 Verse auf die Neigungen der Kind-
heit, der Jugend und des Alters und darunter die Adresse „Zu finden bey Paulus Fürst
Kunsthändlern, 1652." — Im letzten Herbst sah ich in Graz im Schaufenster eines Anti-
quitätenhändlers eine Folge von neun Kupferstichblättern aus dem 18. Jahrhundert (der
zehnte fehlte) mit Darstellungen der Lebensalter ausgestellt, welchen je einer der folgenden
Verse beigesetzt ist: 10. Jahr Kindischer Art. — 20. Jahr ein Jüngling Zart. — 30. Jahr
ein starcker Mann. — 40. Jahr ein wohl gethan. — 50. Jahr stille stehen. — 60. Jahr ins
Alter gehen. — 70. Jahr ein Alter Greifs. — 80. Jahr nicht mehr u-eifs. — 90. Jahr der
Kinder Spott." Unter jeder Darstellung befindet sich ein lateinisches und ein deutsches
Gedicht von je 12 Zeilen. Der deutsche Spruch auf dem ersten Bogen beginnt mit dem
Verse: „So bald ein Kind auf schwachen Füssen." Im Unterrande eines jeden Blattes
steht „Dan. Hertz inv. del. et. exc. Aug. Vind.u Als Stecher sind genannt Jac. Gotti. Thelot,
Wangner und Lindeman. (Vgl. Nagler 6, 139; 18, 302; 21,115; 7, 533f.). — Eine poetische
Behandlung des Stoffes aus neuerer Zeit liegt uns in einem Gedicht 'Die Stufenjahre' vor,
das sich in den 'Sagen und Bildern' des Grafen Moritz zu Bentheim-Tecklenburg
2. Aufl. Würzburg 1853 S. 26f. findet. Es sind fünf Lebensstufen unterschieden (Kind,
Knabe, Jüngling, Mann, Greis), die in je einer achtzeiligen Strophe charakterisiert werden.
Eine im Jahre 1829 in Fulda erschienene 'Ode' von K. Wolf, 'Die Lebensalter' blieb mir
unzugänglich.
Nachtrag. Zu Nr. 2 meines Aufsatzes (oben 15, 404f.) sei hier noch bemerkt, dass
Wolckenstern, wie mir der Herausgeber dieser Zeitschrift gütigst mitteilt, den Titel
seines Gedichts (oben 15, 407) wohl dem 'Zodiacus vitae' des Palingenius nachgebildet
hat, der aber nichts von den Lebensaltern sagt.
Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild. 41
Alter der Männer Alter der Frauen
1. 2. 3. 4. 5. 1. 2. 3. 4.
Discorso Schrot Bertello Alzenbach 1616 Alzenbach A. u. N. Schrot Bertello Alzenbach 1616 Alzenbach A. u. N.1)
1 Schwein Elster I —
10 Eich- hörnchen Geiss- böckchen Lamm Affe Affe Zeisig Trut- henne Affe ! Küchlein
20 Lamm Kalb Relibock Kalb Kalb Nachti- gall Pfau- fasan Taube Wiede- hopf
30 Reh- böckchen Stier Stier Stier Ochse Pfau Gluck- henne Pfau Pfau
40 Tferd Löwe ; Löwe Löwe Löwe Adler Vogel Strauss Gluck- henne Gluck- henne
50 Ochse- Fuchs Fuchs Fuchs Fuchs Henne Ente Storch Kranich
60 Löwe Bär Wolf Wolf Wolf Elster Papagei Gans Gans
70 Elefant Hunrl Dachs- hund Hund Hund Täubin Rabe Geier Adler
80 Kamel Katze Esel Katze Leopard Eule Gans Eule Eule
90 Bär Esel — Esel Esel Gans — Fleder- maus Fleder- maus
100 Affe Gänserich 1 Schwan Schwan Fleder- maus — — [Tod]
110 Dachs — — — — — — _ -
120 Maulwurf — — — — — — — —
München.
Nachtrag: Die sieben Lebensalter werden auf den Tod vorbereitet.
Die Kenntnis der folgenden bisher unbekannten nd. Reime des
15. Jahrhunderts auf die Lebensalter verdanken wir Herrn Dr. R. Lüdicke
in Charlottenburg. Er fand sie im Staatsarchiv Münster in einem Register-
buche des Klosters Abdinghof in Paderborn, das die Besitzungen in der
o
Grafschaft Schaumburg, Rezeptur Gr. Wieden 1442—1542 enthält, auf Bl. 4 a.
Offenbar waren die Yerse zur Unterschrift von acht Bildern bestimmt, auf
denen jedesmal ein Geistlicher dargestellt war, wie er einem Vertreter der
sieben Lebensalter, die hier mit den sieben Horae canonicae in Parallele
gesetzt sind, auf dessen Selbstvorstellung eine strenge Mahnung an den
Tod vorhält. Wie zur Bestätigung seiner Warnung erscheint schliesslich
der Tote (Mors), der des göttlichen Gerichtes harrt.
Dem Ganzen liegt derselbe Gedanke zugrunde wie dem 1511 [?] in
Basel aufgeführten Fastnachtspiele Gengenbachs von den zehn Altern und
1) "Vgl. zu 'Alter der Männer' 1 oben 15, 404; zu 2 oben S. 18, zu 3 S. 23, zu 4
S. 2g, zu 5 S. 80; zu 'Alter der Frauen' 1 oben S. 20, zu 2 S. 24, zu 3 S. 26,
zu 4 S. 83.
42
Diibi:
dem Waldbruder1), nur dass die Aufforderung zur Besserung hier in die
knappste Form, den immer wiederkehrenden Hinweis auf den Tod, zu-
sammengedrängt ist. Abweichend sind auf einem Glasgemälde zu Troyes2)
von 14:98 oder 1510 die sieben Lebensalter mit einer Frauengestalt gruppiert,
die jedem ein bedeutsames Geschenk (Kirchenmodell, Schiff, Monstranz,
Uhr, Schwert usw.) reicht; da erklärende Unterschriften fehlen, deutet
Wackernagel3) diese Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit als das personi-
fizierte Leben.
Infantia to metten
Ick bjn cleyne vnde werde noch grot.
Doctor
Kynt, dy en is nicht so wys als de doet.4)
Puericia to prime
Myn leuen is my noch vnbekant.
Doctor
Ja kynt, de doet mach komen altehant.
Adolescentia to ternen
Alle tijt byn ick van herten vro.
Doctor
De doet wyl komen su wal toe.
Iuuenis to sexten
Ick byn van jaren eyn vrolick man.
Doctor
Du moest steruen, dencke daran!
Vir to none
De werlt is nu an my gestoruen.
Doctor
io De doet mach komen auent ifte morgen.
Senex to vesper
Ick ga up kracken vnde byn kranck.
Doctor
De doet wy[l] dy volgen altehant.
Decrepitus to complete
De doet kummet, vnde ick moet de werlt
Doctor vorlaten.
Hefftu wat gudes gedaen, dat sol dy baten.
Mors toem lesten
15 Ick byn doet, na mynen werken schal ick
Doctor l°en entfaen.
Dat is war, wente weder keren is nu gedaen.
J. B.
Drei spätinittelalterliclie Legenden in ihrer Wanderung
ans Italien durch die Schweiz nach Deutschland.
Von Heinrich Diibi.
Dass Legenden des Mittelalters, die in Italien oder Frankreich ihren
Ursprung genommen oder wenigstens ihre erste feste Form gewonnen
hatten, in der Schweiz vorübergehend oder dauernd lokalisiert wurden
und hier ein speziell schweizerisches Gepräge erhielten, ist eine mehrfach
beobachtete Tatsache. Den Weg aber nachzuweisen, auf welchem diese
Einwanderungen geschahen, ist nicht immer leicht; denn manchmal sind
es nur unbedeutende und nebensächliche Sagenzüge, welche uns auf die
1) Pamphilus Gengenbach hsg. von Goedeke 1856 S. 448; vgl. Wickrams Werke 5, XV f.
2) Didron, Annales archéologiques 1, 434f.
3) Wackernagel, Die Lebensalter 1862 S. 26.
4) Der Tod das Gewisseste: R. Köhler, Kleinere Schriften 2, 128.
Drei spätmittelalterliche Legenden. 43
Spur führen, ein auffälliges Wort, eine hingeworfene Yergleichung und
dergleichen. So bin ich zuerst durch den Umstand, dass Conrad Justinger
in seiner 'Berner Chronik' (1420—30) einmal das Wort 'Runzifall1 im
Zusammenhang mit einer kriegerischen Niederlage gebraucht, darauf ge-
führt worden, hierin eine Einwirkung der Sage von Karl dem Grossen
und seinen Paladinen, die französischen Ursprungs ist, zu erblicken. Denn
etwas anderes als die Niederlage der Franken unter Roland im Tal von
Roncevaux liess sich doch in dieser Anspielung nicht vermuten. Aber
wie war die Kunde davon nach Bern gekommen und hatte sich dort so
zähe festgesetzt, dass 'in Runzifall kommen' heute noch volkstümlicher
Ausdruck für 'in schweren Schaden geraten' ist? Deutsche Übersetzungen
der Chanson de Roland in Yersen kommen allerdings in Deutschland seit
1133 vor, und bernische Pilger, die nach San Jago di Campostella wall-
fahrteten, konnten auf ihrem Wege, der sie durch das Tal von Roncevaux
führte, die lokale Tradition vernehmen und nach Hause bringen. Aber
es ist doch viel wahrscheinlicher, dass die Erinnerung an das Ereignis
von Roncevaux aus der in der Schweiz und besonders in Zürich beliebten
allgemeinen Karlssage stammt, deren Spuren wir auch in einer der drei
von uns zu behandelnden Legenden wiederfinden werden. Das Volksbuch
vom Kaiser Karl ist uns aus einer Züricher Handschrift des 15. Jahrh.
bekannt, geht aber sicher auch in der Schweiz in viel frühere Zeit zurück,
wenn wir die Quellen auch nicht nachweisen können. Die Überlieferuno-
O
dieses Sagenstoffes von Volk zu Volk ist also vorzugsweise auf schrift-
lichem Wege erfolgt, und es spielen dabei die Klöster und die Geistlichen
wie für andere literarische Gebiete eine erhebliche Rolle.
Das nämliche gilt von den drei Legenden, die wir uns zu behandeln
vorgenommen haben, und die mit der Karlssage das gemein haben, dass
sie auf fremdem Boden erwachsen, durch zufällige V eranlassungen nach
der Schweiz verpflanzt wurden. Aber mehr als diese haben die Erzählungen
vom Landpfleger Pilatus, vom Ewigen Juden und von Frau Vrene
und dem Tannhäuser hier Wurzel gefasst und sind aus den Zellen
der Mönche in die Werkstätten der Bürger und in die Hütten der Bauern
eingedrungen und in deren Phantasie und Glauben zu frischem Leben
gelangt.
Wenn wir die drei Legenden hier in eine literarische Einheit bringen^
so ist das durchaus nicht willkürliche Mache, sondern nur die äussere
Form für ihren inneren Zusammenhang. Dass Pilatus und Ahasvérus
stofflich zusammengehören, ist ohne weiteres verständlich-, beide Figuren
treten in einem 'provenzalischen Mysterium' des 15. Jahrhunderts neben-
einander auf1), und unter der Einwirkung heidnischer Mythologeme sind
sie in der Schweiz, speziell im Aargau und Baselland geradezu ineinander-
1) Vgl. Gaston Paris, Légendes du moyen âge 1900 p. 193f.
44
Diibi:
geflossen. Scheinbar fremd stellt dagegen die Tannhäusersage den beiden
anderen gegenüber, aber gerade hier glaube ich den Nachweis führen zu
können, dass die Nachbarschaft, in welcher Pilatussee und Yenusberg in
Italien zueinander stehen, sich in der Schweiz wiederholt, und dass das
Tannhäuserlied in seinen schweizerischen Formen den Ursprung aus Italien
deutlich verrät. Jedenfalls aber, und dies scheint mir bisher nicht genügend
beachtet worden zu sein, sind Schweizer oder in der Schweiz lebende
Literaten an der Ausbreitung aller drei Legenden in Mitteleuropa hervor-
ragend beteiligt gewesen, und dieser Umstand rechtfertigt wohl eine Neu-
behandlung der mit ihnen verknüpften Fragen. Es wird dabei nicht zu
vermeiden sein, dass Bekanntes wiederholt wird, aber in einen neuen Zu-
sammenhang gebracht, dürfte es doch auch den Kenner dieser ziemlich
umfangreichen Literatur interessieren. Für die schweizerische Sagen-
forschung wird sich aus den nachfolgenden Untersuchungen die Tatsache
ergeben, dass von der Mitte, vielleicht schon von Anfang des 13. Jahrh.
hinweg über die Bergpässe, die aus Italien in die an der Rhone, der Heuss,
der Limmat und der Aare im Entstehen begriffenen Eidgenossenschaften
führten, nicht nur Gesittung und Kaufmannsgüter, sondern auch Sagen
und Legenden eingedrungen sind und von einer noch geistig frischen
Bevölkerung wie in einem guten Nährboden begierig aufgesogen wurden.
Wie die Verpflanzung und Verbreitung geschah, können wir, wie schon
angedeutet wurde, nicht in allen Fällen nachweisen, aber die zeitliche und
räumliche Begrenzung der Sagenströme ist klar, und der ganze Vorgang
bietet durch mehrere Jahrhunderte hindurch ein anschauliches Bild geistigen
Lebens und manche Überraschungen und merkwürdige Vertauschungen.
Und auch das ist literarhistorisch merkwürdig, dass die drei Legenden,
nachdem sie einmal aus dem Orient nach Italien und von da in die Schweiz
gelangt waren, dort solche Aufmerksamkeit und Neugierde erregten, dass
umgekehrt schweizerische Reisende, Geistliche und Weltliche, Gebildete
und Ungebildete in Italien und im Orient Anknüpfungspunkte an die
ihnen in der Heimat liebgewordenen Erzählungen suchten und fanden, und
dass für alle drei Legenden und ihre Anhängsel die wichtigsten literarischen
Belege aus schweizerischen Schreiberzellen und Buchdruckerpressen her-
vorgegangen sind. Einen Abriss der Geschichte dieser Wechselbeziehungen
zu geben und die Rolle, welche die Schweiz bei der Yermittlung dieses
Sagenaustausches gespielt hat, anzudeuten ist der Zweck der nachfolgenden
Skizzen. Vollständigkeit in der Genesis der betreffenden Sagen und eine
zusammenfassende Darlegung ihrer Ausbreitung und Verzweigung ausser-
halb der Schweiz war dagegen nicht beabsichtigt; es ist aus dem über-
reichen Stoffe nur das herangezogen worden, was geeignet schien, unsere
These von der Einwanderung der Legenden aus Italien, gelegentlich mit
dem Umweg über Frankreich, zu erläutern.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
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1. Yom Landpfleger Pilatus.1)
Die Erzählung von der Bestrafung und dem Tode des römischen
Statthalters, welcher den Juden zuliebe die ungerechte Hinrichtung Christi
zugelassen hatte, war im Mittelalter im südlichen und mittleren Europa
sehr verbreitet uud musste in der Schweiz um so populärer werden, als
sie in Yerbindung gebracht worden war mit der Zerstörung Jerusalems
durch Yespasian und Titus, welche als Gründer von Avenches gewisser-
massen Bürgerrecht in der Schweiz erworben hatten. Die älteste ausser-
halb Italiens bekannte Form der Sage scheint die dem Abt Hugo
von Flavigny2) in Burgund um 1100 vorliegende zu sein, wonach Pilatus
von einem Abgesandten des Kaiser Tiberius, namens Yelosianus, zusammen
mit der hl. Yeronica nach Rom gebracht und vom Kaiser Tiberius ver-
urteilt worden wäre. Amaria in Tuscien wurde ihm als Exil angewiesen;
von dort wurde er zurückberufen, aber von Nero, weil er sich durch
Selbstbeschneidung als Juden bekannte, getötet. Dies ist eine Entstellung
der quasi-historischen Berichte, welche Flavius Josephus in seinen Jüdischen
Altertümern und Eusebius in seiner Kirchengeschichte über die Strafen
der Behörden geben, die sich an Christus und den Juden vergangen hatten.
Darnach wären unter Caligula, Pilatus, Herodes Antipas und Archelaus
wegen schlechten Regiments abgesetzt und nach Rom gefordert worden.
Herodes wurde in Lyon," Archelaus in Yienne interniert. Pilatus endete
durch Selbstmord-, sonst ist über sein Schicksal die älteste gelehrte Tradition
stumm. Desto beredter ist die spätere und die Yolksüberlieferung. Schon
Otto v. Freising3), der seine Chronik um 1150 herum schrieb, weiss zu
berichten, dass Pilatus nach Yienne verbannt und dort in einem noch
vorhandenen Scliloss verwahrt worden sei. Dann sei er in der Rhone
ertränkt worden, die Stelle, wo dies geschah, sei heute noch für die
Schiffahrt gefährlich. Der nämliche kennt aber auch schon die Meinung
des Kirchenvaters Orosius, wonach Pilatus, um den Verfolgungen Caligulas
zu entgehen, sich selbst (in Rom?) getötet habe. Diese beiden Elemente
1) Aus der umfangreichen Literatur über die hier zur Behandlung kommenden Legenden
führe ich zur Orientierung nur diejenigen neueren Schriften an, die mir für die Aus-
arbeitung wegleitend waren. Dies sind für die Pilatussage: H. Runge, Pilatus und
St. Dominik, in den Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 12, 159-176
(1859); W. Creizenach, Legenden und Sagen von Pilatus, in Paul-Braunes Beiträgen
zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 1, 89—107 (1873); A. Schönbachs
Anzeige von Tischendorfs Evangelia apocrypha (2. Aull. 1876) im Anzeiger für deutsches
Altertum und deutsche Literatur 2, 149—212 (1876), eine vorzügliche Arbeit, auf die ich
leider erst aufmerksam geworden bin, nachdem die meine im wesentlichen abgeschlossen
war; Arturo Graf, Miti, leggende e superstizioni del medio evo (Torino 1893). 2, 41—66:
'Un monte di Pilato in Italia'.
2) Hugo von Flavigny, Chronicon ed. Pertz in den Monumenta Germanie histórica,.
Scriptores 8, 288. Im folgenden zitiere ich die Monumenta mit MG. Scr.
3) Otto v. Preising, Chronicon 1. HI, c. 13. (Ausgaben von Cuspinianus, Strass-
burg 1515 und R. Wilmanns in den MG. Scr. 20, 83—494.)
46
Dübi:
erscheinen in der 'Goldenen Legende' des Bischofs von Genna Jacobus
a Voragine1), gest. 1298, kombiniert und weiter ausgeschmückt, und
bilden den Anfang einer ganzen Kette von Varianten und Erweiterungen
bis ins 17. Jahrhundert hinunter. Die Anfangserzählung, wie sie bei
Jacobus a Voragine und in dem Mors Pilati genannten Abschnitt des
Evangelium Nicodemi vorliegt, lautet etwa folgendermassen: Tiberius, der
an einer unheilbaren Krankheit leidet (nach den einen ist es Aussatz,
nach anderen blutiger Schweiss) und hört, dass zu Jerusalem ein be-
rühmter Arzt, Namens Jesu, sei, der durch das blosse Wort heile, schickt,
weil er nicht weiss, dass die Juden und Pilatus diesen getötet haben,
seinen Diener Volusianus (in anderen Erzählungen heisst er Adrianus oder
Albanus) zu Pilatus mit dem Befehl, diesen Arzt ihm nach Rom zu
senden. Pilatus sucht sich auszureden, dass er Jesum als Übeltäter mit
Recht getötet habe (nach anderen Erzählungen verschweigt er dessen Tod
und erbittet sich eine Frist von 14 oder 31 Tagen). Volusianus begegnet
auf dem Wege nach seiner Herberge der hl. Veronica und erfährt von
ihr die Wahrheit. Sie fährt mit Volusianus und dem heiligen Schweiss-
tuch nach Rom, wo Tiberius durch den Anblick der heiligen Reliquie
und durch den Glauben an den Erlöser von seiner Krankheit geheilt wird.
Er zieht den Pilatus vor sein Gericht nach Rom. Der ungetreue Land-
pfleger wird mehrmals durch die wunderbare Wirkung des unzertrennten
Rockes Christi, den er unter der Toga trägt, vor dem Zorn des Kaisers
gerettet, dann aber entlarvt und zum schimpflichsten Tode verurteilt.
Aus Furcht tötet er sich selbst mit einem Messer, das er sich in die
Kehle stösst (nach anderen Erzählungen stürzt er sich in sein Schwert).
Sein Leichnam wird in den Tiber geworfen und, da seinetwegen die
Dämonen hier Unwetter und Überschwemmungen erzeugen, nach Vienne
geschafft und dort in die Rhone versenkt. 'Vienna' scheint dem geist-
lichen Verfasser der Legenda aurea oder vielleicht schon dem unbekannten
römischen Autor der Erzählung ein geeigneter Begräbnisplatz für einen
solchen Bösewicht, denn es ist 'quasi via Gehennae', gleichsam der Weg
zur Hölle, die einem ruchlosen Selbstmörder geziemt.
Da sich hier die bösen Zeichen wiederholen, wird der Leichnam zur
Bestattung in das Gebiet von Lausanne geschafft. Aus dem gleichen
Grunde weisen die Bewohner ihn auch hier aus und „versenkten ihn in
einem rings von Bergen umgebenen Pfuhl, wo er nach der Meinung-
einiger immer noch gewisse dämonische Erscheinungen hervorrufen soll."
In dieser ältesten Tradition ist also der Bergsee, in welchem Pilatus
endlich Ruhe findet, anonym; wir werden später sehen, wie und warum
er in der Gegend von Luzern lokalisiert wurde. Zuvor aber müssen wir
1) Jacobi a Voragine, Legenda aurea vulgo historia Lombavdica dicta, ree.
Tb. Graesse (Breslau 1890) cap. 53 De passione Domini, p. 223—35, bes. p. 231—35.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
47
noch zwei andere Erzählungen über die Schicksale des Pilatus berück-
sichtigen, die auf die schweizerische Pilatus - Sage einen erkennbaren
Einfluss ausgeübt haben und hier weitergesponnen wurden.
Die eine betrifft seine Bestrafung, bei welcher Titus und A'espasian
eine grössere Rolle spielen als Tiberius. Die Erzählung ist am ausführ-
lichsten in den von C. v. Tischendorf1) nach einer Mailänder Handschrift
des 14. Jahrhunderts herausgegebenen Apokryphen Evangelien unter
dem Titel „Die Rache des Erlösers" zu lesen. Es wird hier erzählt,
wie in den Tagen, da unter dem Kaiser Tiberius, dem Tetrarchen Herodes
und dem Landpfleger Pontius Pilatus Christus den Juden überantwortet
und gekreuzigt ward, ein Unterkönig des Tiberius, Namens Titus, in
Aquitanien in der libyschen Stadt Burdigala regierte. Dieser hatte eine
krebsartige Wunde am rechten Nasenflügel, welche sein Antlitz bis zu
dem Auge hinauf entstellte. Zu ihm kommt aus Judäa Nathan, der Sohn
des Naum, ein reisender Ismaelit. Dieser ist auf dem Wege zu dem an
den neun Arten der Lepra erkrankten Tiberius, wird aber durch den
Nordwind nach Libyen (sie!) verschlagen und nach Strandrecht gefangen
genommen. Von dem kranken Titus verhört, erklärt Nathan, dem Titus
und dem Tiberius hätte der von den Juden gekreuzigte Wundertäter
Emanuel helfen können, wenn er am Leben geblieben wäre. Da Titus
seinen Glauben an dem auferstandenen Erlöser bekennt, fällt der Gesichts-
krebs ab. Titus lässt sich taufen und schwört Rache an den Feinden
Christi. Mit Hilfe Vespasiaus, des Statthalters von Gallicia, der nach
einer auderen Erzählung durch den Glauben an Christi Wunderkraft von
den Wespen befreit worden ist, die seit seiner Jugend in seiner grossen
Nase nisteten, belagert nun Titus Jerusalem. Archelaus (Herodes, nach
anderer Version) stürzt sich in sein Schwert. Nach siebenjähriger Be-
lagerung töten sich 12 000 Mann der Besatzung. Die Vierfürsten ergeben
sich mit dem Reste. Die Juden werden gesteinigt oder verkehrt gekreuzigt
oder als Kriegsgefangene verteilt in vier Losen, wie es mit den Kleidern
des Herrn geschehen war. Und weil sie einst den Herrn um 30 Silber-
linge verschachert hatten, so kommen Vespasian und Titus dahin überein
dass sie je 30 Juden um einen Silberling hergeben wollen. Daraufnehmen
die Römer den Pilatus gefangen und sperren ihn ins Gefängnis, wo er
von viermal vier Soldaten ständig bewacht wird. Nach einer Variante
der Erzählung wird er in einem eisernen Käfig nach Damaskus verbracht,
dort in der eben beschriebenen Weise verwahrt und von vierundvierzig
Soldaten bewacht. Auf die Botschaft von der Eroberung Jerusalems
schickt Tiberius seinen Diener Volusianus nach Palästina, der den Pilatus
verhört und des Todes würdig findet, ihn aber im Gefängnis zu Damaskus
1) C v. Teschendorf, Evangelia apocrypha, Leipzig 1858 p. 433: 'Mors Pilati';
p. 448: 'Yindicta Salvatoris' = 2. Aufl. 1876 p. 456 und 471.°
48
Dübi:
lässt und dem Kaiser darüber Bericht erstattet, dass die Strafe an den
gottlosen Juden vollzogen worden sei.
Aber nicht nur von dem Ende, sondern auch von den Anfängen
des Pilatus1) wusste man im Mittelalter Sagenhaftes zu berichten, und
gerade diese Züge bringen ihn der Schweiz auffällig nahe. Nach einer
lateinischen Prosaerzählung aus dem 12. Jahrhundert, die in französischen
Versnovellen und deutschen Volksbüchern mehrfach wiederkehrt und auch
in die Legenda aurea Aufnahme fand, war der spätere Landpfleger von
Judäa der uneheliche Sohn eines sternkundigen Königs von Mainz, der
bald Tyrus, bald Atus heisst und in Forchheim oder in Berleich zu Hause
sein sollte. Er jagte in der Nähe von Babenberg, als er aus den Sternen
erkannte, dass ein Kind, das von ihm in dieser Nacht erzeugt würde, zu
den höchsten Dingen berufen sei. Der König lässt sich daher, da seine
Gemahlin ferne ist, von seinen Jagdgefährten eine Jungfrau, Namens Pila,
die Tochter eines Müllers der Gegend, zuführen und erzeugt mit ihr einen
Sohn. Die Mutter schickt diesen, als er erwachsen ist, an den Hof seines
Vaters. Dort tötet er im Streit seinen Bruder, den rechtmässigen Sohn
des Königs und wird zur Strafe als Geissei nach Rom geschickt. Dort
erschlägt er einen englischen Fürstensohn Paynus oder Paginus und wird
zur Strafe nach Pontus geschickt, welches Land er bezwingt. Daher sein
Beiname Pontius. Pilatus heisst er nach seiner Mutter und seinem Vater
oder nach anderer Version seinem Grossvater, dem Müller. Von Pontus
beruft ihn Herodes als Mitregenten nach Palästina. Er verdrängt bald
den Herodes und wird selber Landpfleger. Es folgt dann das Auftreten
Christi und das Verhältnis des Pilatus zu ihm, und das Ende des Pilatus,
wie wir es oben nach der goldenen Legende und dem damit überein-
stimmenden Evangelium des Nikodemus erzählt haben.
Dass in diese Erzählung Züge aus der antiken Cyruslegende und der
Karlssage verwoben sind, ist klar, braucht aber hier nicht näher ausein-
andergesetzt zu werden. Dagegen erübrigt uns noch der Beweis, dass
diese Erzählungen von den Anfängen, den Sünden und der Strafe des
Pilatus auch wirklich in der Schweiz verbreitet und gekannt waren.
Dieser Beweis ist aber leicht zu führen.
In Spuren (einer Handschrift in Strassburg, die 1870 verloren gegangen
ist, und einer noch erhaltenen Münchener Handschrift) lässt sich diese Er-
zählung bis ins 12. Jahrhundert hinauf verfolgen. Dagegen müssen An-
sätze dazu schon 100 Jahre früher existiert haben; denn die Chronik
von Petershausen2), welche von 976 — 1249 reicht, erzählt zum Jahre
1) Der in einer Handschrift des Prosakommentars zu Conrad von Viterbos Speculum
regum erhaltene Liber de ortu Pilati wird hier zitiert nach den MG. Scr. 22, 71
gegebenen Auszügen.
2) Die Chronik von Petershausen bei Konstanz ist u. d. T. 'Casus Monasterii
Petrishausen' von Mone in der Quellensammlung der Badischen Landesgeschichte 1, 137
und von 0. Abel und L. Weiland in den MG. Scr. 20, 621—683 herausgegeben worden.
Drei spätmittelalte;rliche Legenden.
49
1077, es habe damals das Volk Lieder von dem Herzog Rudolf gesungen,
als ob der andere Pilatus wieder gekommen wäre. Sie weiss auch, dass
Pilatus in Forchheini geboren sei. Ausführlich sind diese Erzählungen
niedergelegt einerseits in dem 'Fabularius des Züricher Kantors Conrad
von Mure1), welcher am 14. August 1273 in der Handschrift abgeschlossen
und um das Jahr 1476 zu Basel bei „Berchtold Ruppel von Hanau, Knecht
des Magister Guttenberg" gedruckt wurde, andererseits in einem deutschen
Volk sbuche2), das uns in einer Züricher Handschrift des 15. Jahrhunderts
vorliegt und von S. Singer 1889 in der Bibliothek des Literar. Vereins
in Stuttgart herausgegeben worden ist. Aus dieser oder einer ähnlichen
Quelle ist auch die Bilderserie mit Text des Luzerner Stadtschreibers
Johannes Friind3) von etwa 1440 geflossen, von welcher wir unten zu
sprechen haben werden.
Aus dem Vorhergehenden geht mit Sicherheit hervor, dass die Pilatus-
sage nicht vor dem 13. Jahrhundert mit der inneren Schweiz in Verbindung
gebracht wurde und dass die Einwanderung aus Italien erfolgte. Aber
auf welchem Wege? Man hat bisher angenommen, dass das auf dem
Umweg über Frankreich geschehen sei, und die Erwähnung von Vienne
und Lausanne scheint für den Weg von WTesten her zu sprechen. Den-
noch ist es mir wahrscheinlicher, dass die Pilatussage von Süden lier über
die Alpenpässe nach der Schweiz und eher nach Zürich als nach Luzern
gelangt sei, in dessen Nähe sie später lokalisiert erscheint. Meine Gründe
sind folgende. Magister Conrad von Mure, der ein für seine Zeit sehr
belesener und literarisch vielseitig tätiger Mann war, bietet in seinem
alphabetischen „Repertorium auserlesener Wörter aus der Rhetorik, Poesie
und Geschichte mit treuer Erzählung derjenigen Dinge, welche in diesen
Wörtern doppelte Bedeutung haben" neben vielen antiken Mythen auch
die Legende von Pilatus in grosser Ausführlichkeit und in einer von den
oben charakterisierten Quellen in manchen Einzelheiten unabhängigen und
dadurch um so interessanteren Form. So legt er Gewicht auf den Konflikt
des Pilatus mit H erodes und betont, dass die Auslieferung Christi an die
Juden der Preis der Aussöhnung zwischen den beiden gewesen sei. Nach
seiner Darstellung herrschen Arespasian und Titus gleichzeitig und ge-
1) Der sogen. 'Fabularius' des Conrad v. Mure liegt nur einmal gedruckt vor
u. d. T. 'Repertorium vocabulorura exquisitorum' etc. ohne Kustoden, Signatur, Seitenzahl
und Initialien in einem Basler Wiegendruck von etwa 1476, 147 Bl. in fol. Ich benutzte
ein auf der Stadtbibliothek in Bern liegendes Exemplar.
2) A. Bachmann und S. Singer, Deutsche Volksbücher aus einer Züricher Hand-
schrift des 15. Jahrh. 1889 (Bibliothek des Literar. Vereins in Stuttgart 185)- l>as Ende
des Pilatus ist da erzählt S. 361 f., eine andere Version S. 358.
3) Die nicht edierte Bilderchronik Fründs ist beschrieben in der auch für
mehrere andere Notizen über Pilatus lehrreichen Abhandlung von J. L- Brands tetter,
Die Namen Bilstein und Pilatus (in der Festschrift zur Eröffnung des neuen Kantons-
schulgebäudes in Luzern, 1893) S. 12 des Sonderabdrucks.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 4
50
Dübi:
meinsam, der erste im Occident, der zweite im Orient. Beide werden
von Krankheit geheilt, A'espasian yon den Wespen in seiner Nase, weil
er bei dieser Nase geschworen hat, den Tod Christi an den Juden zu
rächen, Titus vom Aussatz durch das Tuch der hl. Yeronica. Sie sind
es auch, welche den Pilatus bestrafen. Darüber erzählt der Kantor Conrad:
„Auf den Rat des Titus zitierte Yespasianus den Pilatus, der sich im Be-
wusstsein seiner Schuld mit einem Messer entleibte. Sein Leichnam wird
in die Rhone nahe bei der Stadt Yienne geworfen. An dieser Stelle wird
die Schiffahrt gefährdet. Die erschreckten Bewohner von Yienne wenden
sich an die von Lyon um Rat. Der Leichnam des Pilatus wird im Flusse
aufgefunden und in die Alpen nach dem Septimer geschafft, wo er noch
spuken soll. Denn sowie man den Pilatus nennt oder ruft, entstellt dort
ein heftiger und lärmender Streit des Landpflegers mit seinem alten Feinde
Herodes." Diese Erwähnung des Septimer ist in mehr als einer Hinsicht
merkwürdig.
Der Septimer erscheint als ein gebräuchlicher Pass seit 895; zur Zeit,
wo der Singmeister Conrad sein Fabelbuch schrieb, existierte ein Hospiz
des hl. Petrus auf der Höhe des Passes, und 100 Jahre später legte ein
Bischof von Chur eine zum Teil fahrbare Strasse über den „Settmerberg"
an. Es lässt sich also gar wohl denken, dass Säumer die Sage von dem
in einem Bergsee hausenden Gespenst des Pilatus, die in Italien allerdings
erst im 14. Jahrhundert nachweisbar, aber dort wie der Rest der Sage
einheimisch ist, in und über die Alpen gebracht hätten. Nicht allzu
grosses Gewicht möchte ich auf folgenden Umstand legen. Ein Maiensäss
auf der Bergellerseite des Passes oberhalb Maloja am Inn, der dem
Lunghinersee entfliesst, heisst heute noch Pila, und Aqua di Pila soll
einst ein vom Septimer kommender Zufluss des Sees geheissen haben.
Solche Namen sind ja sonst wegleitend für die Geschichte der Sagen-
wanderung, aber sie können eben auch, wenn schon vorher vorhanden,
Anlass zu willkürlicher Lokalisierung der Sage gegeben haben. So hat
das Yorkommen von Ortsnamen wie Pilat oder Pilatte und Pons oder
Ponsaz in der Gegend von Yienne und Lyon auf die Verbreitung, wenn
nicht auf die Entstehung der Pilatuslegende in dieser Gegend nachweisbar
eingewirkt.
Weil zu Nus im Aostatal, also auf dem Weg zum kleinen St. Bernhard,
ein aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammendes „Château de Pilate"
existierte, entstand dort die Lokaltradition, dass Pilatus auf seinem We°'e
nach Yienne sich bei einem ihm befreundeten Senator aufgehalten habe.
Wo ein Ort Ponza, Imponzo u. dgl. in Kalabrien, Friaul usw. vorkommt,
soll Pontius Pilatus geboren sein. Nicolas Chorier, dem wir die rein-
lichste Kenntnis der Altertümer des Dauphiné so gut verdanken wie das
unsauberste Buch über die „Geheimnisse der Liebe" (es geht unter dem
Namen des Meursius), bezeugt 1661, dass im Mittelalter die Städte Lyon
Drei spätmittelalterliche Legenden.
51
und Vienne sicli um clie Ehre stritten, der Geburtsort des Pilatus zu sein.
Und noch im Mai 1767 wurde dem Elsässer Adjunkten Ob erlin, wie
Schlözer1) in seinem Briefwechsel erzählt, bei St. Y allier an der Rhone
zwischen Lyon und Tienne ein Schloss des Pilatus gezeigt. Dergleichen
ortsetymologische Spielereien beweisen also nicht viel, und ebenso konnte
jeder sogen. Hagelsee, deren es in der Schweiz unzählige gibt, zu dem
Namen des Pilatus gelangen. So gibt es einen Lago di Pilato in dei-
Valle Bavona im Tessin2), aber wir wissen nicht, wann der Name dort
zuerst auftritt, und da das Maggiatal mit seinen Verzweigungen zu der
»ennetbirgischen Yogtey Lugarus" gehört, welche den acht alten eid-
genössischen Orten unterstand, so kann der Name ebensogut aus der
Innerschweiz als aus der Lombardei dorthin gelangt sein.
Immerhin ist aber die Beweiskraft des Namens Septimer bei Conrad
von Mure wesentlich grösser als die der eben besprochenen Ortsnamen.
Denn er liegt auch der Tradition bei dem Portsetzer des sog. Minoriten
Martin8), der „Goldenen Legende", dem „Evangelium des Nikodemus" und
dem Buch „von den Anfängen des Pilatus" zugrunde. Nach diesen Er-
zählungen wird der Leichnam „auf einem ungenannten Berge in einen
tiefen Brunnen, wo noch jetzt ein schrecklicher Pfuhl ist," geworfen.
Dann schreitet die Lokalisierung weiter zu der Bezeichnung „in den
Alpen auf einem hohen Berge, der von anderen Bergen umgeben oder
einer von sieben Bergen ist und davon seinen Namen hat, wird der
Leichnam in einen unreinen Pfuhl geworfen." Conrad von Mure scheint
übrigens den Namen „Septimus" dem „Leben des Pilatus", das m einer
Münchener Handschrift des 12. Jahrhunderts erhalten ist, entnommen zu haben.
Wenn wir das Vorhergehende zusammenfassen wollen, so können wir
etwa sagen, dass am Ende des 13. Jahrhunderts die ursprünglich stadt-
römische Sage von der Verdammnis des Pilatus in der Schweiz im Westen
in der Gregend von Lausanne, im Süden am Septimer lokalisiert und iu
dieser Form in Zürich wohl bekannt war. Von Luzern ist in der Legende
nirgends die Rede. Dieser Schritt wird erst im 14. Jahrhundert getan,
zu gleicher Zeit, wo in Italien die Kunde von einem dämonischen See
bei Norcia sich verbreitet.
Zu dem an den italienischen Pilatussee sich anknüpfenden Sagen-
kreis, welcher die schweizerische Gegend erheblich beeinflusst hat, müssen
wir nun übergehen. Der erste, welcher davon spricht, ist der 1362 ver-
1) A. Sclilözer, Briefwechsel (Göttingen 1780) 4, 49.
2) Bollettino storico della Svizzera italiana 11, 92 (1889).
2) Der sog. Minorit Martin schrieb in Schwaben um 1290. Seine Nachrichten sind
bis 1350 fortgesetzt von einem anderen Minoriten, der gewöhnlich Hermann, in Meuschens
Ausgabe der Flores temporum s. chronicon universale (Leiden 1743) Bermannus Gygas
heisst. Nur in dieser interpolierten Fassung steht die obenerwähnte Nachricht; die
kritische Ausgabe der Flores temporum in den MG. Scr. 24, 226 enthält nichts über
Pilatus.
4*
52
Dub i :
storbene Benediktinermönch Pierre Bersuire1) in seinem Reductorium
morale. Nach ihm liegt im Apennin bei Korcia ein See, nur den Nekro-
manten zugänglich, die hier ihre Bücher dem Teufel weihen gehen. Den
in dem See hausenden Dämonen wird jährlich von der Stadt Norcia ein
Yerbrecher zum Opfer dargebracht, damit sie Stadt und Land mit Un-
wetter verschonen. Bersuire hat dies von einem Bischof gehört, er weiss
auch, dass der Zugang zum See mit Mauern verwahrt und von Wächtern
gehütet wird, welche die Nekromanten von ihrem teuflischen Beginnen
abhalten sollen. Im Dittamondo spricht Facio degli Ubertia), der um
1367 starb, von einem Berg des Pilatus und einem dämonischen See,
wohin diejenigen gehen, welche gleich Simon dem Magier ihre nekro-
mantischen Bücher vom Bösen weihen lassen wollen, woraus Ungewitter
entstehen; deshalb werden seine Zugänge bewacht. Dass unter dem Monte
di Pilato der bei Norcia gemeint sei, bemerkt ausdrücklich der Kom-
mentator des Dittamondo, Guglielmo Cappello. Aber noch im 14. Jahrh.
erscheint der Pilatussee bei Luzern als Schauplatz ganz ähnlicher Vor-
gänge. Um 1384 berichtet die Konstanz er Weltchronik3): „Tiberius
tet auch Pylato gar we als lang, bisz er sich selber ertötet und in den
See bei Luzern geworfen ward." Diese Chronik schöpft aus der älteren
des Minoriteli Martin, nennt aber den „See bei Luzern" auf eigene Faust.
Dass nicht der grosse Yierwaldstättersee, sondern der kleine auf der
Bründlialp gemeint ist, geht aus dem gleich zu schildernden Vorgang
hervor. Am Sonntag nach S. Laurentius des Jahres 1387 mussten vor
Schultheiss und Rat der Stadt Luzern die Kleriker Johannes Machofried
von Gengenbach, Johannes Brunollwer von Ueberlingen, Nicolaus Bruder
von Thurgau, Ulrich Gürtler von Lenzberg, Rudolf Nitwe und Johannes
Rathsinger, beide von Luzern, Urfehde schwören wegen der Gefangen-
schaft, in die sie gelegt worden waren dafür, dass sie versucht hatten
den Gipfel des Frakmont und den Pilatussee zu ersteigen.4) Man beachte,
dass hier, wie noch lange nachher, der Berg selbst, auf dessen westlichem
Abhang und tief unter dem Gipfel der berüchtigte See liegt, nicht Pilatus,
sondern Frakmont heisst. Dieser Name scheint von der zackigen Form
1) Pierre Bersuire, Keductorium morale lib. XIV, cap. 30. Dieser noch unge-
gedruckte Traktat wird hier zitiert nach Arturo Graf, Miti, leggende e superstizioni del
medio evo 1893 2, 141—66: 'Un monte di Pilato in Italia.' Aus dieser Quelle haben alle
geschöpft, die in neuerer Zeit sich mit der Pilatussage beschäftigt haben. Die Stellen
aus P. Bersuire stehen S. 150 und 162.
2) Facio degli üb erti, Dittamondo 1. III, cap. 1. Das mir nicht zugänglich
gewordene Werk, eine fingierte visionäre Reisebeschreibung, wird hier zitiert nach Graf 2,151.
3) Konstanzer Weltchronik aus dem Ende des 14. Jahrh. hsg. von Th. v. Kern
in der Zeitschrift der Gesellschaft für Beförderung der Geschichts-, Altertums- und Volks-
kunde von Freiburg, dem Breisgau und den angrenzenden Landschaften 1 (1867—69)
S. 179-265: siehe bes. S. 207-10.
4) Der betreffende Ratsbeschluss ist (mit dem Datumfehler 1307 statt 1387) erstmals
gedruckt bei Cappeller, Pilati Montis historia (Basel 1767) p. 9.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
53
des Massivs abgeleitet, haftet aber an zwei Alpen auf der Nord- und Süd-
seite des Pilatusberges.1) Schwieriger zu verstehen ist der Vorgang selbst.
War es blosse Neugierde, wie man bisher angenommen hat, welche diese
Kleriker, die in der Mehrzahl von auswärts kamen, antrieb, auf den be-
rüchtigten Berg zu gehen? Und warum ward dieser Yersuch mit
harter Strafe geahndet? Wir werden später sehen, dass ein päpstliches
Verbot, den See von Norcia zu nekromantisclien Zwecken zu besuchen,
schon in diese Zeit hinaufreicht, und dass die weltliche Obrigkeit sich
bemühte, diesem Verbot Nachachtung zu verschaffen. Etwas Ähnliches
setzen wir für Luzern voraus, wozu uns die grosse Ähnlichkeit der Vor-
gänge auch im einzelnen das Recht zu geben scheint. Diese nimmt im
15. Jahrhundert beständig zu. In der Schweiz konzentriert sich die Sage
auf die Umgegend von Luzern, in Italien auf die von Norcia, und bald
werden die beiden Pilatusseen miteinander verglichen.
Ein aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammendes Passionale in
deutschen Versen von Johannes Rothe2) weiss, dass der Leichnam des
Pilatus zuerst in den Rodan geworfen, dann bei Lausanne begraben,
schliesslich in einem Sumpf auf dem Gipfel eines hohen Berges, zwei
oder diei Meilen von Konstanz, nahe dem Rhein, im Gebiet des Herzogs
von Osten eich versenkt worden sei. Man kann sich darunter trotz der
unklaren Topographie kaum etwas anderes denken als den „See bei
Luzern" der Konstanzer Weltchronik. Um die gleiche Zeit verlegt auch
der Prosakommentar zum 'Königsspiegel' des Gottfried von Viterbo3)
den Begräbnisplatz des Pilatus in einen „Sumpf in den Bergen um Lau-
sanne bei Luzern". Der mit der Schweiz ziemlich vertraute Verfasser
des Kommentars (er kennt auch Bern und den alemannischen Namen
Wiflisburg für Aventicum) fügt seiner Erzählung über den Pilatussee die
Bemerkung hinzu: „Es ist gewiss, dass, so oft irgend ein Mensch etwas,
wenn auch noch so kleines, in den See wirft, daraus sogleich Stürme,
Hagel, Blitz und Donner entstehen. Deshalb sind Wächter aufgestellt,
welche im Sommer hüten, dass kein Fremder hinaufsteige." Johannes
Fründs Weltchronik4) von 1426 erklärt bündig: „Tiberius têt och Pilato
vast we, also lang, untz er sich selber ertöte und in den Sew hi Lucerne
geworfen ward." Fründ ist in Luzern geboren, hier und in Schwyz
tätig gewesen und vertritt gewissermassen die Meinung des um den be-
rüchtigten Berg herum wohnenden Landvolkes. Aber auch in Zürich und
1) Nach Braudstetter, Die Namen Bilstein und Pilatus 1898 S. 9.
2) Johannes Rothe, Passionale, lisg. von A. Heinrich in den Germanist. Ab-
handlungen Heft 26 (Breslau 1906).
3) Gottfried von Viterbo, Speculum regum, abgedruckt in MG. Scr. 22, 21—93;
die hier zitierte Stelle über Pilatus steht p. 71.
4) Die handschriftliche Weltchronik des Johannes Fründ, eine Kopie der Kon-
stanzer, liegt auf der Bürgerbibliothek in Luzern. Die hier zitierte Stelle ist abgedruckt *
bei Brandstetter 1S93 S. 11.
54
Dübi:
Engelberg war man dieser Meinung. Das von uns öfters genannte deutsehe
Volksbuch über Pilatus, das im wesentlichen eine Ubersetzung des
Evangelium Nicodemi ist, aber auch aus dem ebenfalls lateinisch ge-
schriebenen Pilatusbuch schöpft, liegt uns in vier Handschriften vor, einer
Züricher, einer Münchener, einer yon Freiburg i. B. und einer von Sarnen,
alle aus dem 15. Jahrhundert stammend. In der Züricher Handschrift
wird die Wanderung des toten Pilatus, die ja auch eine Wanderung der
Sage ist, folgendermassen erzählt: „Do der Keyser hört, wie Pylatus tod
was, do sprach er: Werlich, er kunt nit schamlicher tod sin. Und hies
den schelmen slaipfen in die Tyber, die flüsset durch Rome. Do kamen
die tüfel und fuorten in in die lüfte und wider in das wasser und ent-
reinden mit (Lücke) erden, lüft und wasser und bewegten die wölken und
die elementa, daz da wurden bliczgen und tonren und liaglen, daz die
liite groz arbeit und schrecken liten. Do wurden die Römer ze rate und
namen in uß dem wasser und schickten in zuo Vienne und hießen in da
werfen in ein wasser, das da^ heisset der Rodan. Und do man in in
den Roden gewarff, do fuor der tüfel mit im als vor, daz in die (Lücke)
Yienne nit erliden möchten, und schickten in zuo einer Stadt, die heisset
Losen, daz man in da sölte begraben. Do möchten die von Losen sin
nit erliden und santen in uff daz Gebirge, daz da heisset die Alpen. Da
stat in dem wild gebirg ein berg, der heisst Toricomus; da steht ein un-
reiner pfal Ipfuol] uffen. Da wart der schelm in geworffen. Der berg ist
umefangen mit siben grossen bergen. Da litt er noch hüt dis tages in aller
tüfel namen, und wil man, daz da gar ungehür sig, und daz der tüfel
noch hüt dis dags bösi spil mit in macliin. Amen." Die Sarner Hand-
schrift, die um 1478 von dem Lehrmeister Heinrich Kramer aus Zürich
geschrieben, ins Frauenkloster zu Engelberg und bei dessen Yerlegung
nach Sarnen gekommen ist, hat folgenden interessanten Zusatz: „Das hatt
der unrein böswicht wol verschult, und hatt man die selben gelegenheit
gar in guotter huot, also das nieman dar uff komen getar by hocher buosse;
wan so da ieman dar uff gienge dur Wunders willen oder durch muott-
willen, so wurde gar gros ungewitter von haglen und von tonren, das
grosser schade da von kerne, als dik beschechen ist; und die ummsessen und
die landlüt umm und umm wit und nach die nemnent den berg Freck-
münd oder Pylatusberg, und lit in der Eitgnosschaft zwo mil von Luzern
oder darby."1)
Wir finden also hier die Pilatussage endgültig lokalisiert und in
ihren Hauptelementen ausgebildet. Die Folgezeit hat nur noch ausge-
schmückt und erweitert, zum Teil auch entstellt und nicht Dazugehöriges
1) Diese Erzählung vom Ende und der Strafe des Pilatus ist nach der Sarner Hand-
schrift abgedruckt bei A. Liitolf, Sagen, Bräuche und Legenden aus den fünf Orten
(Luzern 1865), S. 7 — 13.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
55
hineingetragen. Dass aber diese Hauptelemente nicht einheimisch, sondern
italienischer Herkunft sind, haben wir schon angedeutet und werden es
im folgenden noch ausführlicher beweisen. Zuvor aber müssen wir noch
einem Einwand begegnen, der aus den Namen Toricomus oder, wie er in
den anderen Handschriften lautet Toritonius, Caratonirnus oder Carato-
minus gegen unsere These, die Sage hafte ursprünglich am Septimer, her-
geleitet werden könnte. Die Versuche, diese rätselhaften Namen zu
deuten, die bisher gemacht wurden, haben zu keinem Resultat geführt;
ich bin überzeugt, dass sie auf einem inissverstandeneri Wort der latei-
nischen Vorlage beruhen, kann das aber einstweilen noch nicht mit
Sicherheit beweisen.
Verfolgen wir nun die Entwicklung der Pilatussage einerseits in der
Schweiz, andererseits in Italien und die Geschichte ihrer Wechsel-
beziehungen weiter, so müssen wir zunächst auf die Bilderchronik1)
eingehen, welche der Luzerner Stadtschreiber Fründ um das Jahr 1440
herum verfasst hat. Es sind dies 28 Federzeichnungen aus einem deutschen
Manuskript, welches die Sage vom Schweisstuch Christi und die Geschichte
der Belagerung Jerusalems durch Titus behandelte. Leider ist der Text
dadurch bis auf ein kurzes Bruchstück verstümmelt und unleserlich ge-
macht worden, dass ein früherer Besitzer die Bilder ganz scharf ohne
Rand aus dem Manuskript herausgeschnitten und dann als Zimmerschmuck
auf Tapeten aufgeklebt hatte. Nur das Bruchstück auf der Rückseite des
einzigen nicht aufgeklebten Bildes und die erklärenden Unterschriften
der übrigen, die von einer Hand aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts
stammen, erlauben uns den Schluss, dass Fründ zu seinem Text neben
dem deutschen „Evangelium des Nicodemus" noch eine andere Quelle
benutzt haben muss, in welcher der Geschichtsschreiber Josephus und der
l'abst Linus eine Rolle spielten und Velosiauus durch Nicodemus ersetzt
war. Auf einem der Bilder ist der an blutigem Schweisse leidende
Tiberius abgebildet, auf einem anderen, wie Pilatus sich in sein Schwert
stürzt. Aus der Abbildung ist nicht ersichtlich, wo und unter welchen
Umständen dies geschieht. Dass aber Pilatus nun endgültig Besitz von
dem nach ihm benannten See genommen hatte, beweisen folgende Notizen.
Der aus seiner Parteinahme für Österreich gegen die Eidgenossen be-
kannte Zürcher Chorherr Felix Hemmerlina) widmet in seinem zwischen
1444 und 1450 verfassten, 1497 zu Basel erstmals gedruckten politischen
Pamphlet 'De nobilitate et rusticitate' dem Pilatussee und seiner Sage
einen längeren Abschnitt: „Mail muß wissen, daß auf dem Gebirge, welches
gemeiniglich Fracmont genannt wird, im Bistum Konstanz, am Fuße dessen
1) Siehe oben S. 49, Anm. 3 und bei Brandstetter 1898 S. 12.
2) Felix Hemmmerlin oder Malleolus, De nobilitate et rusticitate dialogua (Basel
1497) cap. 32, Bl. CXXVI und seinen Tractatus exorcismorum Bl. LXXIX.
56
Diibi:
die Stadt Luzern mit einem grossen See liegt, drei andere Seen auf dem
Gipfel des Berges sicli befinden, unter denen einer rund und von der
Breite einer Juchart gewöhnlich Pilatussee genannt wird. Seit Menschen-
gedenken bleibt er immer gleich und von gleichem Umfang. Wenn ein
Mensch hinzutritt und schweigt und das Wasser weder mit einem Worte
noch mit einer Handlung stört, so mag er ungeschädigt davonkommen.
Wenn er aber irgend welche Worte vorbringt und besonders wenn er den
Pilatus nennt oder irgend einen auch noch so kleinen Gegenstand ins
Wasser wirft oder dieses berührt oder aufrührt, dann entsteht auch bei
heiterstem Himmel ein sehr starkes Unwetter in den Wolken1), und es folgen
Hagel, Schnee und Regengüsse, welche die am Fuße des Gebirges liegenden
Länder zu überschwemmen drohen; ja wie die Erfahrung lehrt, oft tat-
sächlich die umliegenden Äcker und Wiesen und sogar viele Teile der ob-
genannten Stadt zerstören. Und wenn ein Pferd, Rind oder anderes Tier
dem See sich naht, hinein- und heraustritt, so entsteht daraus kein Schaden.
Deshalb werden beständig Wachen an den Aufstieg zum Berge geschickt,
damit nicht durch hinzutretende Menschen Schaden angerichtet werde."
Ob aber solche Hagelwetter künstlich oder natürlich oder als Strafe Gottes
entstehen, will Hemmerlin Berufeneren zu entscheiden überlassen. Er
kennt die Nachrichten, welche die „Goldene Legende" in dem Abschnitt
von der Passion unseres Herrn über den Tod und die Strafe des Pilatus
geben, und meint fälschlich, dass damit der Pilatusberg und -see bei
Luzern gemeint seien. Dann fügt er die für uns wichtige Notiz bei: „Es
ist mir bekannt, dass in den Alpen zwischen Bologna und Pistoja nahe
dem Castell Sambuco ein ähnlicher Berg und ein See sich befinden, welche
die nämliche Eigenschaft besitzen, Unwetter hervorzurufen." Wir werden
auf diese Anspielung unten mehrfach zurückkommen müssen, wollen aber
hier vorausnehmen, dass Hemmerlin seine Kenntnis des Pilatussees bei
Norcia seinem Aufenthalt in Bologna um 1420 am Hof des Papstes
Johann XXIII. verdankt, ebenso wie seine Kenntnis der Sibyllengrotte.
Man braucht sich daher über die Ubereinstimmung der Sagenzüge an
beiden Orten nicht zu verwundern.
Viel weniger bestimmt und ausführlich drückt sich über diese Sache
der Dekan des Benediktinerklosters Einsiedeln, Albrecht von Bon-
stetten2), 1480 in seiner dem König Ludwig XI. von Frankreich dedi-
zierten 'Beschreibung der oberdeutschen Eidgenossenschaft' aus. Im
deutschen Texte lautet die an Luzern geknüpfte Notiz folgendermassen:
„Die spicz des Frackmont sind da nach und werdent einer grossen höhe
gesechen, uf die in eim sewly der verdampnote Poncius [soll] besweren sin.
Man redet deshalben, der gedacht berg in gemeinrem namen Pilatusberg
1) [Über diesen Glauben vgl. Sébillot, Folklore de France 1, 243. 2, 223. 372. 464.]
2) A. v. Bonstetten, Superioris Germaniae confoederationis descriptio, abgedruckt
in Quellen zur Schweizer Geschichte 13, 236 und 257.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
57
geheyssen wirt." Im Anschluss an Bonstetten nennt der Mailänder Bal cus1)
in seiner um 1500 verfassten Descriptio Helvetiae den See des Pilatus und
den Frakmont, ohne der Sage zu gedenken, die in Luzern lebendig blieb.
Denn ein Heidelberger Franziskaner2), der 14-81 über Luzern und den
Gotthard nach Italien und dem heiligen Lande zog, notierte in seinem
Tagebuche: „Am Dienstag, den 18. des September betraten wir, von Basel
kommend, die Stadt Luzern, bei der ein sehr hoher Berg ist, dessen
Namen ich nicht behalten habe, aber er ist beständig ziemlich mit Schnee
bedeckt. Und auf dem Gipfel dieses Berges ist ein sehr tiefer See, in
welchen, wie mir glaubhafte Männer dieser Stadt berichteten, der unge-
rechte Richter und Landpfleger Pilatus geworfen wurde, der in diesem See
seit vielen Jahren und von vielen angesehenen Männern am Karfreitag
schwimmend gesehen wurde. See und Berg werden sorgfältig bewacht
auf Befehl der Bürger von Luzern, damit keiner ohne ihre Erlaubnis den
Berg ersteige oder etwas in den See werfe; denn- sonst entstehen daraus
für Stadt und Land verderbliche Unge witter."
Es ist auffällig, dass in allen diesen Schilderungen (nur die Sarner
Handschrift des Yolksbuches macht davon eine Ausnahme) der luzernische
Pilatussee auf die Spitze des Berges verlegt wird, während er sich tat-
sächlich sehr weit unten befindet. Das kommt meines Erachtens zum
guten Teil von der Lage des Hexensees von Norcia her, zu dem wir nun
wieder übergehen wollen.
Wir besitzen über diesen aus dem 15. Jahrhundert eine Reihe von Be-
richten, welche beweisen, dass er sehr populär war und häufig aufgesucht
wurde. Yon Luigi Pulci3) freilich, der in seinem vor 1488 gedruckten
Morgante maggiore behauptet, auf dem Sibyllenberg gewesen zu sein und
in seinem Herzen noch den Hoffnungsfunken hegt, dessen „verzauberte
Wasser" wieder zu sehen, ist es dennoch fraglich, ob er den Pilatussee,
der an einem dem Sibyllenberge gegenüberliegenden Berge sich befindet,
wirklich selbst gesehen hat. Auch der Predigermönch Bernardino
Bonavoglia4), der auf der Kanzel zu Foligno die Gläubigen vor dem
Besuch des verrufenen Sees warnen zu müssen glaubte, kennt ihn nur
von Hörensagen. Dennoch verdient sein Bericht Glauben wegen seines
Inhaltes und der Autoritäten, die er anführt. Bruder Bernardino weiss
zu erzählen, der Leichnam des Pilatus sei einst von den Teufeln auf
einem Ochsenwagen zum See geschafft worden. An diesen Ort kommen
1) Baici Descriptio Helvetiae ist in den Quellen zur Schweizer Geschichte G, 77—93
abgedruckt. Die Stelle über den Pilatussee steht S. 87.
2) Der, wie es scheint, sonst nirgends veröffentlichte Reisebericht ist nach einem
Brief von Prof. Sollwerk an Th. v. Liebenau im Bollettino storico della Svizzera italiana
14, 4 (1892) auszugsweise mitgeteilt.
3) Luigi Pulci, Il Morgante maggiore, Canto 24, v. 112—3.
4) Bernardino Bonavoglias Predigt ist nicht gedruckt und vrird hier nach Gra
2, 152 und 163 zitiert.
58
Diibi :
ans nahen und fernen Gegenden die Nekromanten, um ihre Zauberbücher
vom Teufel weihen zu lassen. Der dabei übliche Hokuspokus wird genau
beschrieben. Ein solcher Zauberlehrling erhält einmal auf seine Be-
schwörung die Antwort, der von ihm gewünschte Teufel sei in Geschäften
nach Ascoli gegangen. Verwundert unternimmt er selbst die Reise nach
Ascoli, um zu erfahren, was daran wahr sei. Er gelangt zu einem Mino-
ritenkloster, wo ihm der ehrwürdige Bruder Savin us de Campello mitteilt,
dass in der Tat in der vorhergehenden Nacht der Satan in Ascoli sein
böses Werk vollbracht habe usw. Von diesen noch problematischen Er-
zählungen wollen wir zu dein Reisebericht übergehen, den Antoine de
la Sale1) über seinen Besuch bei dem See von Norcia erstattet hat.
Der französische Edelmann dieses Namens ist den Literarhistorikern
wohl bekannt. Mail weiss, dass er den trotz mancher ermüdenden Längen
interessanten Ritterroman 'Le petit Jehan de Xaintré' geschrieben hat.
Kein geringerer als Gaston Paris hat ihm zugetraut, dass er auch das
leichtfertige, aber sehr lustige Buch: „Les quinze joyes de mariage" ge-
schrieben und zu den „Cent Nouvelles Nouvelles du bon roi Louis XI"
einige der riskiertesten Beiträge geliefert und die Redaktion des Ganzen
besorgt habe. Diese letzteren Autorschaften hat man neuerdings lebhaft
bestritten, und die pikante Frage ist noch nicht gelöst. Aber wenn Antoine
auch dieses Verdienst nicht zukommen sollte, so müssen wir ihm doch
für die Beiträge, die er zu unserer Kenntnis der Pilatus- und der Tann-
häuserlegende beigesteuert hat, dankbar sein. Dass man erst in neuester
Zeit auf diese aufmerksam geworden ist, kommt davon, dass sie in einem
sonst für moderne Leser ungeniessbaren Werk versteckt sind. 'La Salade'
nannte Antoine de la Sale den Traktat über ritterliche Erziehung, den er
in den Jahren 1438 — 42 für seinen Zögling Jean d'Anjou, Sohn des König
René von Neapel verfasst hat. Den bizarren Titel der im übrigen dürftigen
historisch - moralischen Kompilation hat Antoine gewählt, teils mit Rück-
sicht auf seinen Familiennamen, teils, wie er sagt, „pour ce qu'en la salade
se mettent plusieurs bonnes herbes". Zu diesen guten und schmackhaften
Kräutern gehört nun in erster Linie der Abschnitt „Du mont de la Sibille
et de son lac et des choses que je y ay veu et oy dire ou gens du pais".
Der Autor war 35 Jahre alt und schon längere Zeit in Italien tätig, als
es ihm im Mai 1420 einfiel, diese Stätten zu besuchen, von deren selt-
samen Wundern er schon in früher Jugend gehört hatte. Einen Auszug
seines Reiseberichtes, dessen voller Reiz leider in der Übersetzung ver-
loren geht, bringen wir hier, den anderen später im Anschluss an die
dritte der von uns zu besprechenden Gegenden. Antoine beginnt:
1) Die cien Pilatusberg unci -see betreffenden Abschnitte aus Antoine de la Sales
'Salade' sind peinlich genau abgedruckt bei A. Soederhjelm, Antoine de la Sale et la
légende du Tannhäuser (Mémoires de la société néo-philologique à Helsiugfors 2, 108
bis 110. 1897).
Urei spätmittelalterliche Legenden. 59
„Erstens werde ich vom Berg des Sees der Königin Sibylle sprechen,
welchen einige den Berg des Sees des Pilatus nennen, weil im Gebiet des
Herzogtums Spoleto und der Stadt Norcia, wo Berg und See liegen, man sich
erzählt, dass, als Titus, Sohn des römischen Kaisers A espasian, die Stadt
Jerusalem zerstört hatte, was, wie einige sagen, aus Rache für den Tod
unseres Herrn Jesu Christi geschah (und weil unser Herr für 30 Silber-
linge verkauft wurde, sagen sie, liess Titus 30 Juden um einen Silberling
verkaufen), auf der Rückkehr nach Rom er den Pilatus gefangen mit
sich führte, der zu dieser Zeit Befehlshaber für das römische A olk in
Jerusalem war. Und vor den Augen des o-anzeu Volkes liess er ihn
o o
sterben, nicht weil Pilatus je unseren wahren Heiland Jesum Christum
verurteilen wollte, sondern weil er seine Pflicht nicht getan hatte, jenen
vor dem Tode zu bewahren. Und dies ist die Erzählung der Leute dieses
Landes. Auch sagen die Leute, als Pilatus sah, dass er sein Leben nicht
retten könne, bat er um eine Gnade, die ihm gewährt wurde, nämlich,
dass sein Leichnam auf einen von zwei Paar Büffeln gezogenen Karren
geworfen und dahin gefahren würde, wohin es den Tieren belieben würde
zu gehen. Der Kaiser, verwundert über diese Bitte, liess den Wagen
verfolgen. Die Büffel gingen stracks vorwärts bis zu dem See, warfen
liiei den AY agen um und stürzten den Leichnam des Pilatus in den See
mit einer Eile, als ob man sie mit Schlägen verfolgte. Aus diesem Grunde
nennt ma)i ihn den See des Pilatus; andere nennen ihn den See der
Sibylle, weil der Berg der Sibylle davor liegt und sich anschliesst, nur
dass ein kleiner Bach dazwischen fliesst." — Ich übergehe die genaue Topo-
graphie des Gipfels, die beweist, dass Antoine oben gewesen ist, also auch
den See wirklich gesehen hat. Aon diesem berichtet er: „Die Leute
behaupten, der See sei unergründlich, nach meiner Schätzung hat er den
Umfang der Stadt Saumur. lu der Mitte ist eine kleine Felseninsel, die
einst ringsum gemauert war, wovon man noch an mehreren Stellen die
Fundamente sieht. Vom Lande auf diese Insel führte einst eine gepflasterte
Strasse, die aber verschwunden ist. Sie wurde zerstört, damit die ISTekro-
manten nicht mehr auf die Insel gelangen und hier ihre Bücher weihen
lassen könnten. Auch wird die Insel von den Leuten des Landes streng
bewacht; denn wenn jemand heimlich hinkommt und hier die Kunst des
bösen Feindes ausübt, so bricht ein Unwetter über die Gegend herein,
das alle Früchte und Güter zerstört. Wenn deshalb die wachehaltenden
Leute hier jemand finden, so bereiten sie ihm einen schlechten Empfang.
Vor noch nicht langer Zeit wurden zwei Männer gefangen genommen,
von denen der eine Priester war. Dieser wurde in die Stadt ^Norcia ge-
führt und dort gemartert und verbrannt, der andere wurde gevieiteilt und
in den See geworfen von denjenigen, die ihn gefangen hatten. Alter
wenn jemand Lust hat, den See zu besuchen mit aller Sicheiheit für
seine Person, so muss er sich an die Behörden der genannten Stadt
60
Diibi:
wenden, welche ihm gerne Erlaubnis und Geleit zum Besuche geben,
wenn er sich als Ehrenmann ausweist."
In dem später zu besprechenden Bericht über seinen Besuch der
Sibyllengrotte notiert Antoine de la Sale noch, dass „der Papst Innocenz YL,
1352—6*2, alle diejenigen exkommunizierte, welche ohne Erlaubnis bei
dem Pilatussee gewesen waren und nicht Absolution für diese Sünde nach-
suchten. Der nämliche liess den auf die Insel führenden Dammweg durch-
stechen wegen der Nekromanten, die ihn zu benutzen pflegten." Diese
Massregeln sind wohl für das Luzerner Verbot von 1387 vorbildlich ge-
wesen. Dass aber die unerlaubten Besuche des Sees bei Norcia damit
doch nicht aufhörten, geht aus mehreren Beobachtungen hervor, von denen
die folgende für unsere These von Bedeutung ist.
Der Dominikaner Leandro Alberti1) zitiert in seiner 1550 erschienenen
und unserem Conrad Gesner wohlbekannten 'Beschreibung von ganz Italien1
in dem Abschnitt über den Bezirk Ancona eine Erzählung des Domini-
kaners Razzano von Palermo, der 1492 als Bischof von Lucera starb,
von einigen in der Magie erfahrenen Deutschen, welche, von der allge-
meinen Sage angelockt, mit grossen Kosten hergereist waren, um sich im
See ihre Bücher vom Teufel weihen zu lassen, sich aber in ihren Hoff-
nungen schmählich betrogen sahen. Nicht besser wäre es wohl Ben-
venuto! Cellini2) ergangen, wenn er den ihm im Coliseo zu Rom von
einem sizilianischen Nekromanten eingegebenen Plan, den See von Norcia
zu besuchen, ausgeführt hätte. Unter den Deutschen, welche kamen, den
See des Pilatus und die Grotte der Sibylle zu besuchen, sei der Patrizier
von Köln Arnold von Harffù) erwähnt, der 1497 seine Pilgerreise von
Rom nach Venedig und weiter zu diesem frivolen Zwecke unterbrach.
Der einzige Erfolg waren Erinnerungen an die ehemaligen Praktiken in
der Ortstradition.
Im 16. Jahrhundert hat dann offenbar in Italien das Interesse für den
See des Pilatus wie für die Grotte der Sibylle abgenommen. Trissino4)
kennt in seinem Epos 'Das von den Goten befreite Italien' noch beide
und spricht von dem See, dessen bleifarbene Gewässer voll von Dämonen
und Fischen sind, welche jederzeit zwischen den Ufern hin und her
schiessen. Der oben genannte Leandro Alberti und nach ihm Paulus
Menila5) in seiner Kosmographie wissen zu berichten, dass in dem nicht
1) Fra Leandro Alberti, Descrittione di tutta l'Italia, XlIIa regione Marca Anco-
nitana, Bologna 1550. Da ich das Buch nicht zu Gesicht bekommen habe, zitiere ich
nach Graf 2, 154 und 164: 'Edizione di Venezia, 1596, fol. 273 r. e v.'
2) Benvenuto Cellinis Autobiographie I, c. 61 f.
3) Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff, hrsg. von Dr. E. von Groote,
(Köln 1860) p. 37 — 38; zitiert nach Graf p. 153 und 164.
4) Trissino, L'Italia liberata dai Goti, canto 24.
5) Paulus Merula (Paul van Merle), Cosmographia generalis, Amsterdam 1621 p. 579
(zuerst 1605); zitiert nach Graf 2, 154 und 164.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
61
weniger als die Sibyllengrotte berüchtigten Lago di Norsa im Appennin
nach der Meinung der Ungebildeten die Dämonen herumschwimmen und
das Wasser in beständigem Aufruhr erhalten zur grossen Yerwunderung
eines jeden, der dies zu sehen bekommt; denn die Norsiner, erschreckt
durch das Zusammenströmen der Zauberer, welche diese rauhen und hohen
Berge in böser Absicht durchstreifen, haben den Zugang zur Grotte ver-
sperrt und halten gute "Wache bei dem See. Alberti nennt also den
Pilatus nicht mehr, obschon er die Yerse des Fazio kennt, die von ihm
sprechen. Bald darauf verschwindet der italienische Pilatussee aus der
Literatur, und heutzutage ist sein Andenken in der Gegend von Norcia
bis auf wenige Spuren verschwunden.
Desto lebendiger ist Pilatus im Andenken der Bewohner der Inner-
schweiz geblieben, zu welcher wir nunmehr zurückkehren wollen.
Im Jahre 1555 gab der berühmte Züricher Gelehrte Conrad Gesner1),
der Yater des Alpinismus in der Schweiz, in einem botanischen Traktate
eine lateinische 'Beschreibung des Frakmünt oder Pilatusberges', das
Resultat einer zu Studienzwecken mit einigen Freunden unter obrigkeit-
lichem Geleite zu dem See und in dessen Umgebung, aber nicht auf den
Gipfel des Pilatus selbst unternommenen Reise. Gesner kennt die auf
den Pilatussee bezüglichen Sagen, an deren Wahrheit er nicht glaubt, die
er aber auch nicht zu widerlegen unternimmt. Er kennt auch die Mond-
oder Mannloch genannte Höhle am Pilatus, von der die Sage ging, dass
sie am hinteren Ende mit einer eisernen Türe verschlossen sei. Yon Seen
mit ähnlichen Sagen zitiert Gesner den von Hemmerlin genannten „zwischen
Bologna und Pistoja beim Kastell Sambuco" und aus einer lateinischen
Schrift Boccaccios den See „Scaphagiolus im Apennin zwischen Pistoja
und Modena". Er selber hat „in Hochsavoyen in der Gegend der Bodiontier
hinter Cluses einen See gesehen, rund und klein, aber von solcher Tiefe,
dass er bis ins Erdinnere zu gehen scheine, und dass Überreste eines
darin verunglückten Rindes in einer Quelle am Fuss des Berges nahe
bei Cluses wieder zum Yorschein gekommen seien." Yon Autoritäten
über die Pilatussage nennt Gesner den Jacobus a Y oragine und wiederholt
den Irrtum Hemmerlins, dass dieser für das Grab des Pilatus im See bei
Luzern zeuge, den Eusebius und Otto von Freising. Unter den seinem
eigenen Traktat beigegebenen Reisebeschreibungen ist für uns wichtig
die lateinische 'Beschreibung des Pilatusberges in Frankreich' von dem
Lyoner Botaniker Jean du Choul2), ebenfalls von 1555 datiert. Yon
dem Mont Pilat, einem westlichen Yorsprung der Cevennen, berühmt
1) Conrad Gesner, Descriptio montis Iracti seu Montis Filati in dei Schrilt: De
admirandis herbis etc. 1555. Die Stelle über das Mondloch steht p. 54, die über den See
in Savoyen p. 58.
2) Jean du Choul, Pilati Montis in Gallia descriptio, Lyon 1555 und bei Gesner,,
De admirandis herbis p. 68—75.
62
Dübi :
durch seltene, namentlich medizinische Pflanzen (im 18. Jahrhundert war
er ein beliebtes Reiseziel der Botaniker, unter denen wir nur Linné,
J. J. Rousseau und Haller zu nennen brauchen), berichtet der gelehrte
Korrespondent Gesners eine Reihe uns interessierender Sagenzüge: den
Umwohnern ist er unter dem Namen des Pilatus, der Christus kreuzigen
liess, bekannt; im Schoss des Gebirges ruht ein stiller Bergsee, der
Brunnen des Pilatus genannt, von dem Ungewitter ausgehen sollen; der
Brunnen wurde verschüttet, damit das Vieh keinen Schaden nehme, denn
einst soll ein Hirte mit seinen Schafen darin ertrunken und einige Tage
später in der Rhone wieder zum Vorschein gekommen sein. Du Choul
hält nichts von diesen Erzählungen; der sogenannte Brunnen des Pilatus
sei die wahre Quelle des Flusses Gers. Dass Hagelwetter aus diesem
See entstehen könnten, bestreitet Du Choul, dagegen diene der Berg zur
Wetterprognose, je nach der Wolkenbildung am Gipfel. Diese Bemerkung
ist für uns wertvoll. Sie erlaubt uns zu sagen, dass die Etymologie
Pilatus = Pileatus, der „Berg mit dem Wolkenhut", die in der Schweiz
meines Wissens zuerst 1661 in J. L. Cysats1) 'Beschreibung des Luzerner
Sees auftaucht, hier nicht autochthon, sondern auf literarischem Wege ein-
geschleppt ist und dann dazu beigetragen hat, den alten Namen des
Frakmünt für den Berg, besonders das Tomlishorn und den Esel zu ver-
drängen. Dabei soll nicht bestritten werden, dass schon lange vorher der
Pilatusberg den Umwohnern als Wetterprophet diente. Das entsprechende
Sprüchlein in Frankreich lautet: „Quand Pilât prend son chapeau, voyageur,
prend ton manteau." Auch ist wahrscheinlich, dass der Name Pilât an
der Rhone sehr alt ist und zu der Lokalisierung der Pilatussage bei
Vienne und Lyon Veranlassung gegeben hat, während umgekehrt bei
Luzern Pilatus nachweisbar von dem anfangs anonymen Hagelsee Besitz
ergriffen hat und zwar erst im 14. Jahrhundert, von dem Berg sogar erst
im 15. unter deutlicher Einwirkung des italienischen Doppelgängers. Aber
die Ausgestaltung der Sage in der Schweiz ist ungemein lebendig und
zeigt originale Züge neben den aus Italien und Frankreich herüber-
genommenen.
Ungemein zähe haftet das Gespenst des Pilatus an seinem See und
seinem Berg. Nachdem doch Vadian und der Herzog Ulrich von Württem-
berg 1518, Conrad Gesner und seine Freunde 1555, Felix Plater vor 1580
den See besucht hatten, ohne irgend etwas Merkwürdiges zu erleben, der
Dekan Johannes Müller im Jahre 1587 sogar den bösen Landpfleger mit
den Worten: „Pilat, wirf aus dein Kât" und durch Steinwürfe ungestraft
provoziert und die Obrigkeit 1594a) befohlen hatte, den See abzugraben,
was freilich unterblieb, erzählte dennoch im Jahre 1656 dem Jesuiten
1) Job. Leopold Cysat, Beschreibung des berühmbten Luzerner oder 4 Waldstätter-
sees etc. (Luzern 1661) S. 252.
2) Brandstetter 1893 S. 14.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
Loreti1), der den See besah, der begleitende Hirte, dass der Dämon all-
jährlich am Karfreitag- den Pilatus an einer eisernen Kette auf die Ober-
fläche bringe, wo dieser auf seinen Thron sich setze und die Hände wasche.
Und Job. Leopold Oy sat kannte 1661 schon 23 Fabeln über Pilatus und
seinen Bergsee.
Um diese Zeit war die Kunde vom Pilatussee bei Luzern auch in
Deutschland verbreitet; denn von einem 1677 ohne Druckort heraus-
gekommenen Volksbuche, dessen wir noch öfter zu gedenken haben
werden, lautet der abgekürzte Titel: „Curieuse Relationen, deren die I.
™n einem Zeit Christi Leiden zu Jerusalem verwahrt behaltenen Juden,
die II. von einem seit Christi Leiden stets herumwallenden Juden, die
^ II. das Schreiben Pilati an Tiberium von Christo, die VIII. noch ein
anderes Schreiben Pilati von Christo, die XII. von der Verurteilung Christi,
samt einem Anhang etlicher Relationen von dem Pilatussee bey Lucern
in der Schweitz der Verwandschafft wegen beyammen herausgegeben."
Wer diese Verwandtschaft der Malchus-, Ahasver- und Pilatussage in der
Schweiz vermittelt hat, werden wir bei Besprechung der zweiten unserer
Legenden, der vom Ewigen Juden, ausführen.
In seiner 1680 lateinisch, später auch deutsch herausgegebenen
Kuiiösen Naturgeschichte des Schweizerlandes' widmet der Züricher
J. J. Wagner2) dem Pilatussee einen kurzen Auhang. Er fasst die zu
seiner Zeit noch bestehende, nach seiner Meinung unglaubwürdige Tradition
so zusammen: 1. man nennt ihn den See des Pilatus; 2. er soll auf dem
Gipfel des Frakmünt sein; 3. an einem einsamen und waldigen Orte;
4. von schrecklichem Anblick; 5 so tief, dass der Grund nicht sondiert
werden kann; 6. er werde von keinem Winde bewegt; 7. er sei oline
Ein- und Ausfluss, werde im Winter nicht grösser und im Sommer nicht
kleiner; 8. sein Wasser sei schwärzlich, und er sei eingehegt, damit er
von niemanden gestört werde; 9. was absichtlich in den See geworfen
werde, errege die grössten Stürme und Überschwemmungen, was aber
zufällig hineingerate, schade nichts, wie wenn der See mit Vernunft begabt
wäre und wiisste, dass es keine unbewusste Sünde gebe; 10. die, welche
den Frieden des Sees stören, biissen es mit ihrem Haupte; 11- die Um-
wohner werden jährlich durch Eid verpflichtet, niemanden zum See zuzu-
lassen, der nicht von einem rechtschaffenen Bürger von Luzern zum Zeichen
der obrigkeitlichen Erlaubnis begleitet sei." Es wird dem Verfasser nicht
schwer, das Unhaltbare dieser Erzählungen nachzuweisen; was er aber
nicht beurteilen kann, ist die Herkunft einiger dieser Sagenzüge, die wir
nachgewiesen haben. Wenn wir sie mit dem vergleichen, was um 1480
1) Der Bericht Loretis steht bei P. Athanasius Kircher, Ma^dus subterraneus
lib. 8, sectio 4, cap. 2 (1665).
2) J. J. Wagner, Historia naturalis Helvetiae curiosa (Tiguri 1680), S. 59.
64
Diibi: Drei spätmittelalterliche Legenden.
herum in der Schweiz über Pilatus und seinen See bekannt war, so finden
wir, dass die Sage in den zwei Jahrhunderten sich stark bereichert hat.
Noch grösser ist ihr Inventar um 1767, da A. Cappeller1) seine latei-
nische Beschreibung des Pilatusberges veröffentlichte. Cappeller weiss
als für uns neu zu erzählen, dass das Gespenst sich nicht auf den See
beschränkte, sondern den ganzen Berg unsicher machte zum grossen
Schaden für Menschen und Yieh. Da habe ein Rosenkreuzerbruder oder
fahrender Schüler von Salamanca das Gespenst wieder in seinen früheren
Abgrund gebannt. Der Exorzisierende habe sich zuerst auf den westlichen
Punkt des Gipfels gesetzt, von welchem aus, wie von einer Warte das
Gespenst die umliegende Gegend zu überblicken pflegte, daher schwanke
der Felsblock, Gnepfstein genannt, heute noch; eine zweite Station habe
der Beschwörer dann auf dem „Widderfelde" gemacht, wo ein von Rasen
entblösster Fleck Erde noch von ihm zeuge. Damit Pilatus in den See
ohne Zögern zurückkehre, habe der fahrende Schüler ihm ein dämonisches
Ross untergegeben, dessen Hufspur noch unweit des Sees sichtbar sei.
Nach seinem Bannspruch dürfe Pilatus ungerufen nur am Karfreitag aus
dem See auftauchen und sich auf seinen Richterstuhl setzen. Seitdem sei
durch Mandate der Zugang zum See verboten und die Hirten von Eigental
jährlich durch einen W^eibel, der dafür einen rheinischen Gulden Boten-
lohn erhielt, daraufhin vereidigt worden, dass sie den Weg zum See
weder zeigen noch freigeben wollten. Aber der Bann des Zauberers von
Salamanca erwies sich in der Folge doch als machtlos gegenüber dem
dem verwünschten Landpfleger innewohnenden Wandertrieb, den er mit
einem anderen Feinde Christi, dem ewigen Juden gemein hat. Nach den
von E. L. Rochholz2) 1856 gesammelten Aargauer Sagen nimmt Pilatus,
wenn er seinem gelobten Lande wieder einmal einen Besuch machen will,
den Weg von seinem Berge aus allemal durch das Suhrtal und zwar, da
er ein Unhold ist, bald als Pferd oder Füllen, bald als Kalb oder Hund.
Eine andere Sage erzählt: „Yoin Pilatusberge her kommt alljährlich um
Neujahr ein nicht unfreundlich aussehender Mann durch den Aargau an
den Rhein gereist. Im Freienamte nennt man ihn Pilatus; an einzelnen
Orten heisst er auch der Pilger von Rom, weil er ganz in einer Pilger-
tracht erscheint mit grossem Rundhut, hohem Stab, langer Kutte mit
Mantelkragen und mit stark beschlagenen Schuhen. Er übernachtet in
einem leerstehenden Häuschen der Weinberge und lässt zum Lohn den
Trottenbesitzern ein Stück der Mondmilch liegen, die er aus einer Grotte
am Pilatusberge in seiner Pilgertasche mit sich führt und die gut gegen
Gliederreissen ist."
1) Siehe oben S. 52, Anm. 4. Die 23 Fabeln über Pilatus (nach J. L. Cysat p. 252)
stehen S. 5; die übrige lokale Tradition über Pilatus 8. 6—8.
2) E. L. Rochholz, Schweizersagen aus dem Aargau 2, 23 (Aarau 1856),
Höfler: Der Krapfen.
G5
Mit diesem Sagenzuge, der uns Pilatus in der Umwandlung zu Ahas-
vérus begriffen und im Zusammenhange mit den schweizerischen Wander-
sagen zeigt, wollen wir die Betrachtung unserer ersten Legende schliessen.
Bern.
Der Krapfen.
Yon Max Höfler.
Der Krapfen geht als Gebäckbezeichnung bis in die althochdeutsche
Zeit zurück und ist wohl das älteste schriftlich bezeugte deutsche Gebildbrot:
9. Jahrh. Kraplilin — celindros (Hattemer, Denkm. 1, 266. Diefenbach, Gloss. 1, 111),
cilinda = est panis tenuis dünn prot, zeit, Diefenb. Gloss, nov. 2, 313; chrapfe = artocrea
vel rapheola [rufeole, rufella, roliolus; ital. raviuoli; dialect, rofiol, Diefenb. 2, 313; ital.
raffio - Krapfen]; mlat. (k)rapheola = kreppelen, chrapke (Steinmeyer, Ahd. Gloss. 3,616.
Diefenb. 1, 484); demnach war schon damals der german. Krapfen eine ins Romanische
aufgenommene Bezeichnung für ein mit Fleischgehäcksel gefülltes Hohlgebäck; krápfo,
krâko, chrâcho, crapho - artocreas, Diefenb. 1, 51; uqtoç — Brot, xqsaç - Fleisch; krephelin
= artocreae (Steinmeyer 3, 213); crepelen (pl.) = artocopus [ágro-xóno? — Brotbäcker]
= pañis pistus labore in oleo vel buttyro, also ein in lieissem Fett (Öl, Butter) vom
Bäcker hergestelltes Gebäck; chrapphen = artocree, meri panes (Steinmeyer 4, 181), also ein
besseres, aus Weizenmehl hergestelltes Gebäck.
Auch im Altsächsischen ist der Kräppel bereits bezeugt:
13.—14. Jahrh. creppel, crephele = laganum (Diefenb. 1, 316), ein vermutlich mit
Farce gefülltes pastetenartiges Gebäck.
In mittelhochdeutscher Zeit finden sich folgende Glossierungen:
1307 turtullae quae dicuntur krapphen (Schweiz. Idiot. 3, 843) = Törtlein (tortulae),
Küchlein; 1383 krappellâ, krapfe = artocrea (Ztschr. f. Wortforsch. 2, 173); 14—15. Jahrh.
crappfe = crepida [xQyxiôsçï!] (Diefenbach 2, 156); 1429 crapf = artocrea (Schindler, Bayer.
Wörterb. 1, 1379); krapf = pastillum, Pastete, Gebäck mit Farce (Diefenbach 2, 282);
15. Jahrh. laganum est genus sartaginis, ein chrapfen (ebd.), also ein Pfannengebäck;
15. Jahrh. krappele, kropphel, krophen, kropele, croppele, kreffel, krapff = pastillum,
krepfly, kreppelen, krapff, craph = artocreas, artocopus (Diefenbach 1, 51. 2, 36 282);
eyn croppele = laganum (Diefenb. 2, 227); mhd. krapfe = ein hakenförmiges (?) Gebäck
(Kluge, Wörterbuch 6 S. 57. Heyne, Deutsche Hausaltert. 2, 277), auch = Hoden (Lexer,
Taschenwörterb. 132), also zumeist ein Pfannengebäck in rundgeballter Form (in Schlesien
heissen auch die Pferdekotballen Krapfen); 1537 kreppflin speiß auß Fleisch und Brot,
artocrea (Elsäss. Wörterb. 1, 522).
Im Mittelniederdeutschen:
1385 kroppe, kropele, creppel, creppeles, croppe, croppel = artocrea, eibus ex pane et
carne et pasta factus, pistus in oleo (Schiller-Lübben 2, 578); croppelnick = croppelink
= artocrea; 1435 item so schollen de garbradere de cropele on der vastone backen vnde
Scholen see gud vnde grot maken (ebd.). — Wolfram von Eschenbach (1203) erwähnt im
Parzival 184, 24 die Krapfen, die in der Pfanne prasseln: „ein Trühendini?aer phanne mit
kraphen selten da erschrei"; auch iu einem Bruchstücke des Herzogs Emst von Bayern
heisst es: „weder krapfe noch daz smalz von diu werden mannen selten lute in der phannen"
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907- 5
66
Höfler:
(Zs. f. d. Altert. 7, 260). 16. Jahrb. kropffen = placenta (Diefenbach 1, 439); krapffen in
dem ofen oder in der eschen gebachen = collyrida xolkvqa, hokxvqìòa cîqtoç, aus grobem
Mehlteige gebackenes Brot, Casaubonus zu Athenaeus 3, 214, vermutlich ein im Ot'enrain
auf der Glutasche hergestelltes Gebäck; 1600 kroepfflein = crepida (Diefenbach 1, 156);
1741 kroeppel = scriblita (Diefenbach 1, 525; 2, 332), also ein straubenförmiges Schmalz-
gebäck nach Art der mittelrhein. Kräppel; 1793 kroppel = ein Klumpen Mehl in Leinöl
(= Öl der Fastenzeit) gebacken, Faschings-Landgebäck (Küster, Manuskript: Schlesisches
Gebäck).
Landschaftliche Benennungen des Krapfengebäckes sind in der Rhön-
gegend: Kräppel; Frankfurt a. M.: Kräbbel m. f.; Hertfeld: Krapfen;
Schmalkalden: Kröpfchen; Leipzig: Krebblichen (plur. demin.); Henne-
berg: Kröpfle (auch „heisse Meisen"); Thüringen: Kraebbel, Kröppel;
Zürich: Kraebeli, Kraepfli; Groedenertal: grafongs, chropflime; bei den
deutschsprechenden Juden Südrusslands: krapen, kräplech; Bretagne: crêpes.
Das auch in Italien, Spanien usw. bekannte Krapfengebäck heisst in
Tanger: buñuelos; in Schweden: bullar (Ballen); in Dänemark: pande-
kager (Pfannkuchen).
Im Angelsächsischen ist (nach Diefenbach 2, 282) hunegapel (Honig-
apfel) mit pastellus (Gebäck) glossiert, das also ein apfelrundes, mit Honig
gefülltes Küchlein, ein Krapfen mit Honigfarce war.
Yon dieser älteren Bedeutung: rundballiges, gekrüpftes, mit
Farce (Honig, Fleisch usw.) gefülltes Pfannengebäck ist jeden-
falls auszugehen.
Das nach Italien importierte grappa bedeutet auch Kralle; auch das
ahd. krâpfo hat die Bedeutung: gebogene Klaue oder Kralle (Kluge tì
S. 224); der mhd. Krapfen bedeutet auch Hoden, Pferdekotballen. Diese
Nebenbedeutungen sind nur dann verständlich, wenn wir annehmen, dass
die mit einer Farce gefüllten, runden Teigballen heim Kochen im heissen
Pfannenfette, in dem sie schwimmen, gekrüpfte, krallenförmige, krustige,
harte Vorsprünge erhalten; diese Kriipfung sucht man noch besonders
stark hervorzurufen, indem man auf der Oberfläche des runden Teig-
ballens mit der sog. Krapfenschere* oder dem Krapfenradi* oder Krapfen-
reisser1) vor dem Backen des Teiges krallen- oder hakenförmige Zipfel
ausschneidet und zum Zwecke des stärkeren Aufspringens derselben auf
der Oberfläche in das siedende Fett etwas Wasser zugiesst, wobei das
stark aufprasselnde und aufschreckende heisse Fett in der Pfanne mit
einem Holzdeckel rasch zugedeckt wird. Die zapfigen, gekröpften Krallen
auf der hartkrustigen Oberfläche des rundballigen Gebäckes fühlt man
mehr als sie auf photographischen Abbildungen sichtbar sind; je krustiger,
je aufgerissener und krallenförmiger sie aufspringen im prasselnden heissen
Fette, desto schmackhafter gelten sie. Jeder echte Krapfen hatte und
1) S. Verhandig. d. Wiener Anthrop. Ges. 25, 119; Schweizer Id. 3, 843; Salzburger
Kochbuch 4, 85 f.
Der Krapfen.
67
liât aber immer einen Farce-Inhalt; ein solcher könnte sich in einer länglich
schmalen Klammer- oder Hackenform co nicht erhalten, sondern nur in einem
■dichten, die Farce umhüllenden Teighallen, der auch bei manchen flachen
Kräpfeiformen aus solchen ausgeschnittenen Teigklammern oder Zipfeln
besteht, die über die Farce hinweg zusammengeschlagen werden (Abb. 2
und 3), doch ist dies nur eine Spielart des echten, volksüblichen Kiapfens,
die in Klöstern von den Nonnen (Nonnenkräpfel) zuerst ausgeführt worden
zu sein scheint. Diese werden auch nicht im prasselnden Fette der
Schmalzpfanne, sondern auf dem Kuchenbleche im Ofenfeuer gebacken,
sind also schon nach ihrer Herstellungsart jünger.
Der echte Typus eines Krapfens wäre demnach so wie Abb. 1.
Die zackigen Fortsätze stehen nur an der oberen Peripherie des
rundén Ballens ab, gleichsam wie die Flammenzacken am Herzbilde oder
wie die gekröpften Vorsprünge an einem Kapitäle.
Wegen der runden Ballenform und wegen des lockeren, viellöcherigen
Gefüges des inneren Teiges haben einige frühere Schriftgelehrte das
Symbol des biblischen Essigschwamm.es Christi in dem Krapfengebäcke
sehen wollen.
Dass die Kraeppel (Kröppel, Kraebbel) eine 'donnerkeilförmige'
Gestalt haben, wie Sirnrock (Mythologie S. 550) und Wolf (Beiträge 1, 78)
anführen, ist nicht recht verständlich; sollte damit eine Triangelform ge-
meint sein, dann wären solches die sog. dreieckigen Krapfen, die aber
keine eigentlichen Krapfen sind.
Über die verschiedenen Abarten des Krapfengebäckes werden
wir gleich weiter sprechen.
Die deutsch sprechenden Juden, die nach Südrussland ausgewandert
waren und mit der deutschen Sprache auch ihr heiniisches Gebäck mit-
genommen hatten, kennen dort noch die 'Krapen' und 'Kraplech', kleine,
maultaschenartige Pastetenkräpflein mit Fleischgehäck oder Apfelmus ge-
füllt und in Honig gebacken; sie werden dort am Vorabende des A7er-
söhnungsfestes oder an den letzten Tagen des Laubhüttenfestes verzehrt
(Globus 1906, S. 29); solche flache, die Farce umhüllende Teigkrapfen
sind natürlich nicht so alt wie die ballig runden, kugelig011 Krapfen. Das
Salzburger Kochbuch (1719) führt 4, 80 auf: Zopfkrapfen, d. h. zopf-
förmig geflochtene Strützeln oder Strauben, die in Schmalz gebacken
5*
68
Höfler:
werden und deshalb auch Krapfen genannt werden; denn in volksüblicher
Verallgemeinerung wurde schliesslich fast jedes im siedenden Fette der
Pfanne gekochte Schmalzgebäck (Nudeln, Kücheln usw.) als Krapfen be-
zeichnet. Die bei Schmeller 1, 1379 aufgeführten Straubenkrapfen sind
ebenfalls solche im heissen Fette sich struppig aufrollenden Gebäcke
(Spritzgebackenes). Die dreieckigen Kröppel, welche in Argo via 3, 21
als hessisches Gebäck erwähnt werden, haben ebensowenig wie die
Straubenkrapfen mit dem eigentlichen, d. h. rundballigen, eine Farce um-
hüllenden Krapfen eine formelle Gemeinsamkeit.
Am meisten variieren die Krapfen je nach ihrem Füllsel und dann
nach ihrer sonstigen Bereitungsart; so gibt es in der Schweiz sog.
Ofenkrapfen; im Salzburgischen (1719) Pfannen-, Rainlein-, Büchsen-,
Spritz-, Brand-, Butter-, Schmalz-, gebackene, (Schweiz), schwimmende
(Hessen), Krapfen, Kräpfel, Kraeppelen, je nachdem der Teig in einer
Pfanne, im Rainl auf der Asche, in einer Büchse gesotten oder durch
einen Trichter oder eine Spritze (Büchse) in das brodelnde Fett (öl,
Butter, Schweineschmalz, Sesamöl, Bucheckeröl usw.) gegossen wird,
wobei die Teigrollen, die in dem Fette schwimmen, sich struppig
(= Strauben) aufrollen und brandig-braun verfärben. Die Hefe- oder
Germkrapfen (1719) sind mit Hefeteig gemacht. Die Oblatenkrapfen
(1719) sind in Oblaten gehüllte, krapfenförmig rundgeballte Häufchen von
Fruchtfarce (Salzburger Kochbuch 4, 105), die sog. Bauernkrapfen sind
ebenfalls solche walnussgrosse, auf Oblate gebackene, gelbbraune Teig-
ballen (Universal-Lexikon der Kochk. 1, 74). Ausserdem gibt es Spinat-
Böhmen), Kraut- (Gründonnerstag), Fleisch- (1412), Krebs- (1719),
Karpfen- (1671), Lungen-, Mark-, ISruss-, Erdbeer-, Yanille-, Honig-,
Molm- (1719 Magen-), Schokolade- (1756), Ziegen- (Schweiz, 1712),
Käse-, Gries- (1756), Äpfel- (1756), Birnen-, Anis», Biber- (piper-),
Kümmel-, Mandel-Krapfen, -Kräpfchen, -Kräpfel (Schmeller 1, 1379;
Germania 9, 201; Salzburg. Kochb. 4, 81; Eis. Wörterb. 1, 522; Universal-
Lexikon der Kochk. 1, 24. 31. 2, 4:8). Diese eben erwähnten Krapfen-
arten ergeben sich in bezug auf ihre Deutung von selbst. Die im Salz-
burger Kochbuche (4, 110) aufgeführten (1719) Spiess- oder Prügel-,
Schnur- oder Spagatkrapfen sind um einen Spiess oder drehbaren Holzstab
gewickelte, bei offenem Feuer gebackene, tabakrollen- oder ochsengurgel-
artige, mit Spagatschnur gebundene, innen mit Oblatenmarmelade gefüllte
Faselnacht- und Hochzeitgebäcke aus Blätterteig (Niederösterreich). Die
obersteiersehen Pfötelkrapfen (Universal-Lex. 2, 192, 1, 373) sind wohl
aus pfettern (= pedere, farzen) abgeleitete Färzlein. — Die in Rumpoldts
Kochbuch (1587) und im Salzburger Kochbuche (1719) aufgeführten
Schlung-, Schluck-, Schlickkrapfen oder -kräpfel sind die oben schon ein-
mal erwähnten romanischen (h)ravioli [chraviôli = Kräpfli], halbrunde, auf
einen Bissen leicht schlingbare, kleine Nudelteigballen mit einer Farce.
Der Krapfen.
69
Die Glas- oder Eiskrapfen tragen eine Zuckerglasur; die mürben (marwen)
Kräpflein sind aus sog. Mürbteig gebacken. Die Marzipankräpflein (1587)
sind auf Oblaten gebackene Mandel- oder Oblatenkrapfen. Die nieder-
bayerischen ausgezogenen Krapfen sind Nudeln, deren Teig, wie bei den
Tiroler Krapfen, mit der Handmedian ausgezogen wird vor dem Ein-
legen ins lieisse Fett. Die Lochkrapfen der Deutschen in Ungarn sind
'eine Art von handbreiten, röschen Schneeballen (Gebäck) mittels Finger-
hüten durchlöchert', ein Hochzeitgebäck vermutlich im formalen Gegen-
sätze zum schon erwähnten Prügelkrapfen (Ethnolog. Mitteilgn. aus Ungarn
4, 199). Die in der Literatur (s. Höfer 2, 265, 295, Rochholz, Drei Gau-
göttinnen S. 85, Schmeller 1, 1759, Leipziger Illustr. Ztg. 1868, Nr. 1292,
5. 229) oft besprochenen Nonnen-, Nunnen- (1845), Klosterkräpfli,
-kräpflein, -kröpfchen, -krapferln sind die bekannten Nonnenfärzlein, die
in Frauenklöstern in verschiedenen Formen (rundgeballt, mondsichel-
förmig, maultaschen- oder kotballenartig usw.) gebacken werden; sie ent-
halten immer eine Farce (daher der Name Färzlein, Förzlein); sie gleichen
den Fehmarnschen Kräppeln oder Kröpplen, die auf der Ostseeinsel
Fehmarn als Erntegebäck, vermutlich ehemals für die Klosterdienstleute
als Erntekröpeln oder sog. Korinthennudeln gebacken werden. Der
Fehmarnsche Weizen war besonders um 1600 berühmt und teuer bezahlt.
Zur Erntezeit kamen viele Arbeiter aus der Umgegend auf die Insel, um
neben Geldlohn auch zugleich die leckeren, fetten, durch Korinthen versüssten
Ernteküchel zu erhalten (Globus 1893, S. 93). Diese landschaftlichen
Krapfenabarten häufen sich besonders, scheinbar von Salzburg aus-
strahlend, im südöstlichen Gebiete; so die Pusterer Krapfen nach der im
Pustertale üblichen Form (Schoepf S.340), die Paznauner Magen- (= Mohn-)
krapfen (oben 7, 350), die steierischen Krapfen des Miirztales (= aus-
gezogene Küchel) (oben 8, 290); Linzer Krapfen sind kleine, runde
Bällchen mit einem Fruchtfüllsel (Universal-Lex. der Kochkunst 2, 43);
Yollauer Krapfen sind mit dem Krapfenradi halbmondförmig aus-
geschnittene, in siedendem Wasser gekochte und dann mit Quarkkäse be-
streute und überbackene Krapfen (Universal-Lex. 2, 602); die böhmischen
Krapfen sind Hefekrapfen in Schmalz gebacken (ebencfa 1, 106); aber
auch die Schweiz liefert solche landschaftlichen Varietäten, z- B. die
St. Galler Iiräpfli, ein dreieckiges (also schon abgeartetes), eine Rahm-
farce (Crème) enthaltendes, oberflächlich braun gebackenes Konfekt;
Badener Kräweli sind geweihzacken- oder krallen- (= krapfen-) ähnliches
Schwabenbrötli oder Anisgebäck, das in der schweizerischen Stadt Baden
gebacken wird, und über das wir schon oben 14, 267 geschrieben haben;
es ist kein eigentliches Krapfengebäck; es hat nur seinen Nainen Von der
Form der Geweihzacken (= Krapfen), die das Hirschgebäck substituieren
(pars pro toto) (Schweizer. Idiot. 3, 779; Rochholz in der Illustr. Ztg.
1868, S. 383). Auch die Genueser Kräpfchen sind nur Ausartungen, runde
70
Höfler:
oder ausgezackte, kleinballige Schaumhänfehen in brauner Krapfenfarbe
(Universal-Lex. 1, 360); ebenso sind die 1820 in der Schweiz als Tiroler
Krapfeñ bezeichneten Gebäcke dreieckige Stücke aus Mandelteig in
Schmalz gebacken (Schweizer. Id. 3, 844).
Wie sich aus Obigem deutlich ergibt, übertrug sich die Bezeichnung-
Krapfen eben auch auf ganz verschieden geformte Schmalzgebäcke oder
sonstige in heissem Pfannenfette hergestellte Teiggebilde ; die über-
wiegende Mehrzahl aber derselben stimmt darin überein, dass sie eine
mehr weniger rundballige, oben klauen- oder zackenförmig gekrüpfte,
krallig zerrissene Form und einen von Teighüllen oder gekrüpften Teig-
klammern umhüllten, meist süssen oder auch gut duftenden Inhalt (Füllsel,.
Farce) umschliessen.
Dazu wollen wir noch fügen, dass die Zillertaler Bauern, die unter
Salzburger Kultureinfluss standen, die Blume Anthyllis vulneraria L.
'unser Frauen Krapflen' (Jessen, Pflanzennamen 33) wegen ihrer oben
krallenartig gestellten Blütenköpfe nennen; dann müssen wir doch über-
zeugt sein, dass der Typus des Krapfengebäckes nicht ein symboli-
scher Kleiderhaken in Gestalt eines schlangenförmig gewundenen römischen
S oder od sein kann, sondern dass jene kugelförmige, rundgeballte, einen
Inhalt umschliessende Form der ursprüngliche Typus ist, der nur durch
die krallige Oberflächenbildung seinen uralten Namen erhielt. Die alt-
hochdeutsche Bezeugung, seine überwiegende Ballen- und Kugelform, sein
in dieser Form am besten bewahrter Inhalt (Farce, Füllsel) sichern diesem
süddeutschen Krapfen (an anderen Orten auch 'Berliner Pfannkuchen-
genannt) seine Priorität vor dem mittelrheinischen Kräbbel (vgl. 'Die
Frankfurter Kräbbel, eine Faschingsbetrachtung' in Frankfurter Nach-
richten 1906, 4. Febr. Nr. 34, S. 6), der ganz augenscheinlich nur eine
aus Volksetymologie entsprungene Ausartung sein dürfte und der nach
seiner ganzen Form niemals einen Inhalt (Füllsel) bergen konnte.
Solche Straubenkrapfen (Strauben), Krapfennudeln und Krapfenküchel
sind nur Abarten aus dem primären, rundballigen Krapfen (Hohlkugel
mit Inhalt).
Der zünftige Krapfenbäcker (1482) stellte ihn fast nur auf Fasel-
nacht, aber auch an anderen heiteren Festtagen (Jul, Neujahr, heilige
drei Könige) und bei Hochzeiten her, und als solches Festbrot einer be-
stimmten Iiultzeit hiess er auch 'Krapfenbrot' (Schleswig: grapenbrot).
Wie die meisten Festbrote hat auch das Krapfenbrot ein bestimmtes
Gewürz (Koriander), das die Luzerner als Brotgewiirz 'Krapfenkörner' be-
nennen. Noch heute stellt die Hausfrau diese Krapfen an bestimmten
Festtagen (Faselnacht) selbst her; daher heisst es im österreichischen
Yolksliede: 'Mei' Mutta backt Krâpf'n wie's Dodamannl', so unförmlich
wie ein Tattermännlein (Yeraalecken, Mythen u. Gebr. in Österr. S. 282).
Nach der schleswigschen Yolkssage verzehren die nach Herzblut durstigen
Der Krapfen.
71
Hexen auch die Krapfen zu Fleisch und Bier (Müllenhoff, Sagen S. 213);
bekanntlich standen die Hexen im Glauben, dass sie auch der Menschen
Herzen essen. Krapfen und Kücheln, die die Tiroler Bergmahder mit-
bekommen, wenn sie auf den Bergwiesen mähen, haben die weissen
Fräulein oder die Wildfräulein in Martell besonders gerne (Zingerle,
Sagen 2 S. 48. Meyer, Mythol. der Germ. S. 210), 'Im Krapfenwaldl bei Wien
wünschte sich an einem Faschingstage [um diese Zeit backt man in Wien
und Umgebung die sog. Faschingkrapfen] ein Handwerksbursche Krapfen;
sogleich stand eine Schüssel voll vor ihm. Darüber erschrack er anfangs,
und als er weiter gegangen, begegnete ihm ein schwarzes Männchen.
Dieses trug ihm noch eine Schüssel voll an, wenn er ihm seine Seele ver-
schreibe' usw. (Yernalecken, Mythen S. 274). Man sieht aus diesen Volks-
sagen, dass der Krapfen eine Rolle als Kultgebäck spielte, namentlich in
der heiteren Faschingszeit, die der Zeit der römischen Bacchanalien in die
Frühlingszeit entspricht wie auch den grossen oder städtischen Dionysien,
die im Monat Elaphebolion (März) als Frühlingsfest unter Beteiligung aller
Gaue begangen wurden. Wir dürfen annehmen, dass aus diesem, noch
um 355 n. Chr. in Rom üblichen Bacchuskulte die Faschingkrapfen sich
ableiten, welche als spätere Fastenkrapfen [14. Jahrh. 'vastenkrapfen' im
Buch von guter Speise (Bibliothek des Stuttgarter liter. Ver. 9), S. 20;
Schmeller, Bayer. Wb. 1, 1379; Askenasy, Frankfurter Mundart S. 123;
AVitzschel 2, 190] durch die christliche Fastenzeit sich fortsetzen. Als
klösterliche Fastenspeise mit allerlei sog. Fastengeräte (Grünkraut, Spinat,
Fische, Krebse usw.) gefüllt, erhielt sich der Krapfen besonders in der
heiteren Frühlingszeit, beim Erntefeste und bei Verlobungen, Hochzeiten
(nicht aber im Totenkulte); er wurde so auch eine Gesindespeise und ein
Yolksgericht und artete bei der Konkurrenz der zünftigen Krapfenbäcker
später in Strauben- und Klammerform aus. Auch in die Fastenzeit vor
Weihnachten übertrug sich da und dort (aber nicht allgemein) der Fasten-
krapfen als 'Glöcklerkrapfen' (im Salzburgischen); vgl. Adventsgebäcke in
der Münchener Monatsschr. für Volkskunst und Volkskunde 1906 S. 8,
Ztschr. für öst. Yolkslc. 1896, S. 302. In Kellers Fastnachtsspielen S. 624,
628, 640, 641, 722 erscheinen 'vastnachtskrapfen' (neben Sülze, Eier und
Schweinenbraten) 'aus kes gepachen'; 'wen zuo aim ietlichen vassnacht-
krapffen gehörent acht dinck: zuo dem ersten semelin, mei, ayr, wasser,
gewürtze, füll, salz öl fewr und ein pfann, darin der Krapff gebachen
werd' (Hagelstange, Süddeutsches Bauernleben S. 235). Auch Goethe in
seinen Briefen an Frau von Stein 2, 159, schrieb: 'Die (Fastnacht-)
Kräppel schmeckten fürtrefflich. In der Schweiz sind die fetten Fast-
nachtkrapfen so allgemein um diese Zeit, dass selbst der Vagabund sich
daran gut tut (Schweizer. Idiot. 3, 843). In der Wetterau lieisst es: Wer
zu Fastnacht keine Kräppel backt, der kann das ganze Jahr hindurch
nicht froh werden (Wolf, Beiträge 1, 228, Simrock, Mythologie S. 549);
72
Holler:
'an der Weiber Fastnacht ranss man Krapfen backen und so oft esssen,
als der Hund den Schwanz bewegt' (Simrock S. 574). In Meiningen
schnitzt man zu Fastnacht die Ackerpflugkeile, taucht sie in das Krapfen-
fett und schlägt sie später bei der Pflugzeit in den Pflug (ein antizipiertes
Saatopfer an die Unterirdischen), 'das hilft dem Wachstum und Gedeihen
der Saat7 (Witzschel 2, 190). Ähnliches geschieht in Böhmen am Fast-
nachtdienstag und in der Pflugzeit. Die am Rhein und Neckar mit
Kräppeln (— Zeitsymbol) besteckten Stäbe bezeichnen den Fruchtbarkeits-
zauber für das neue kommende Frühjahr. 'Und gebt ihr uns kein
Kräppel nit, dann legen euch die Hühner nit', singen daselbst die Kinder
(s. Archiv für Religionswiss. 8, Beiheft S.91; Ztschr. für rhein. Yolksk. 2,161).
Wie sehr bekannt der Faschingskrapfen als Zeitgebäck des Frühlings ist
lehrt uns die süddeutsche Wetterregel: Faschingskrapfen in der Sunn',
die roten Eier in der Stub'n (— grüne Weihnachten, weisse Ostern). Nach
oberösterreichischem Brauche wirft man beim Backen der Faschings-
krapfen den ersten Krapfen ins Feuer (als Opfer an die Herdgeister) 'für
die armen Seelen' (Baumgarten, Das Jahr und seine Tage S. 9 Anm. 1).
In Tirol gibt es eigene 'Krapfenschnapper', gleichsam eine Verlängerung
des Krapfen eintragenden Armes durch eine oben auf Zug mit einer
Schnur sich öffnende, hölzerne Stange mit Schnabel (Schnappyorrichtung),
um die beim Perchtenumzuge geschenkten Krapfennudeln von den höheren
Hauslauben (Balkon) besser herabholen zu können (Originale im Bozener
Volkskunde-Museum). Auch in der Poitou (civitas Pictonum, Vienne) be-
ginnt der Frühling mit den Lichtmesskrapfen, welche die Kinder dort
unter dem Gesänge 'A la chandelou les crêpes roulent partout' heischen.
Man verspeist sie dann in dem Glauben, dass das Getreide nicht brandig
werde (Volkskunde 11, 174).
An den alten Neujahrstagen (Weihnachten, Jul, Martini, heilige drei
Könige usw.) treten die Krapfen ebenfalls auf; in Nördlingen als 'Weih-
naclitskrapfen', in Tirol als 'süsse Krapfen', in Württemberg (Hertfeld)
bei der sog. Krapfenzeche am heiligen Dreikönigstag (Birlinger, Aus
Schwaben 2, 27; Rochholz in der Leipziger Illustr. Ztg. 1868, Nr. 1292,
S. 229; Ztschr. für österr. Volksk. 1905, 11. Suppl. 3, 38; oben 14, 274),
in Tirol als Dreikönigs- oder Stampfakrapfen (Krapfennudeln); in Ober-
bayern am St. Martinstage als Martinikrapfen, in Tirol, Schwaben, Bayern,
Österreich, Schweiz auch als Kirchweih-, Kirchtag-, Kirta-, Kilbikrapfen.
Im Stubaital macht das Volk einen eigenen Kirchtagkrapfen-Stampf.
Im Urer Isentale erhalten die Burschen von ihren Mädchen Krapfen und
duftende Blumensträusschen (Schweizer. Idiot. 3, 843) als Substitut des
Herzsymbols. In Salzungen (Thüringen) ist 'Maienkrapfen' ein den Acker-
knechten beim ersten Frühlingspfluggeschäfte mitgegebenes Pflugbrot in
Gestalt von Schmalzkrapfen (Witzschel 2, 216. 219).
Der Krapfen.
73
In Oberbayern erhielt das Gesinde am Sommersonnenwendtag den
sog. Krapfenzwölfer, d. h. eine Geldspende an Stelle des üblichen Schmalz-
gebäckes der betr. Kultzeit.
In Fehmarn gab es, wie schon erwähnt, als 'Erntekröpeln' in Fett
gekochte sog. Förtjen (Färzchen), die während des dreitägigen Weizen-
mähens zum Nachmittagskaffee gegeben werden, am ersten Tage je 6,
am zweiten je 4, am dritten je 8 Kröpel. Es ist dies nach aller Wahr-
scheinlichkeit ein durch die mönchische Bodenkultur dorthin gelangtes
Klostergesindebrot, das noch etwas die ursprünglich geballte Krapfenform
bewahrt hat. Auch in der Steiermark hat sich der 'Drescherkrapfen' als
altes Ernteopfer und Gesinderecht, Dreschernudeln in Krapfenform, er-
halten (Ztschr. für Österreich. Volksk. 1896, 196). Im Hessischen (Fulda,
M erragegend) erhalten zur Zeit der ausgehenden Drescherarbeit (Ende
November bis Ende Dezember) die Drescher sog. Schütte- oder Staub-
kräppeln, angeblich damit sie den Staub beim Ausschütten des ge-
droschenen Getreides hinunterschlucken (A7ilmar, Idiot.). In Oberösterreich
spielen am Bartholomäustage (Weideschluss, Herbstanfang) die schon oben
erwähnten Pfötelkrapfen eine Rolle.
I i Stei rmärkischen ^ibt es auch 'Brautkrapfen*, krapfenförmige
Nudeln, die zum Brautmahle gebacken werden.
Kurzum, wir sehen bis jetzt die Krapfen nur an den Tagen heiterer
Festesfreude des Volkes; nirgends hat der gegenwärtige [!] Krapfen
Beziehung zum Totenkulte oder zur Totenfeier. Nun ist es o-anz
auffällig, dass das gleiche auch vom Herzgebäcke Geltung hat, und dass
auch letzteres hauptsächlich in der Frühlingszeit volksüblich ist. Wir
haben über das Herzgebäck schon im Archiv für Anthropologie 1906,
S. 264 gesprochen und fügen dieser Arbeit noch an, dass es kein blosser
Zufall sein kann, wenn sowohl im Elsass als im Krainischen gerade zur
Krapfenzeit im Frühling (Fasching) die Mädchen deren Burschen herz-
förmige Gebäcke zum Geschenke machen (Elsäss. Wtb. 1, 422; Ztschr.
für Österreich. A olksk. 1906, 160). Das Herzgebäck ist überhaupt, wie
wir in eben erwähnter Abhandlung im Archiv für Anthropologie nach-
wiesen, ein häufiges modernes Symbol der Liebe, das Gegenliebe er-
zeugen soll. AVie das Herzgebäck, so finden wir auch den Krapfen
auch bei Hochzeiten und A7erlobungen. Darum gibt es auch eigene
'Liebeskrapfen', die die moderne Bäckerei als runde, gegitterte Obst-
pastetchen herstellt; es sind Liebeskuchen in Krapfenform, wobei der
duftende Inhalt des Krapfens wie der Duft der Blumen und wie der
Seelenduft des Herzens Gegenliebe erzeugen soll. Beim magischen
Liebeszauber wurden im 11. Jahrhundert menschliche Sekrete (Menstruum,
Menses, Semen virile) von den Frauen in das Liebesgebäck gemengt
(vgl. Wascherschieben, Bussordnungen S. 662. 664). Nach Grimm, D. Myth.
1232, Eckermann, Handbuch der Religionsgesch. 3, 77 wälzten sich die
74
Höfler:
Frauen im ll.Jahrh. mit Honig beschmiert, sonst nackend, auf Weizen;
sie liessen dann sich die Weizenkörner, die mit ihrem Lustdufte im-
prägniert waren, vom Körper absammeln und das Korn in einer Mühle
der Sonne zu mahlen; daraus wurde ein Brot gebacken, welches Gegen-
liebe erzeugen sollte. Auch in Tirol gibt es nach der Yolkssage
(Zingerle 2 S. 426) das sog. Heiratspulver, das man unter den Teig der
Krapfennudeln mengt, um Gegenliebe zu erzeugen (vgl. auch Ztschr. für
rhein. u. westf. Yolksk. 1906, 62); auch um den Hofhund an seinen
Herrn zu fesseln, gibt man ihm im Futter ein Brot zu fressen, das mit
der Duftseele in Schweiss und Haaren des Herrn gemengt ist (W'uttke,
§ 679; Kühnau, Mitteil. 26). In Tirol gibt der Jäger seinem Hunde, um
ihn anhänglich zu machen, Katzenherzen zu fressen (Bechstein-Alpen-
burg 380). Die Herzen von Turteltauben in Brot verbacken galten im
15. Jahrhundert in Breslau ebenfalls als ein Liebesmittel (Blätter für
hessische Yolksk. 3, 148); man sieht also deutlich, wie das Herz als
Sitz des Seelenduftes und der Liebestriebe sicli im Volksglauben bemerk-
bar macht (vgl. auch oben 1, 182; E. H. Meyer, D. Yolksk. S. 166;
Andree, Braunschweigische Yolksk. S. 297, 215; Bartsch, Sagen aus
Mecklenburg 2, 352; Frischbier, Hexenspruch S. 159; Hazlitt, National
Faiths and Popular Customs 1, 197. 331; WTuttke 3 S. 366; Urquell 3, 59;
Yermoloff, Landwirtsch. A7olkskalender 1, 159 usw.).
Aus dieser Literatur geht genügend hervor, dass man gewisse Ge-
bäcke, namentlich aber auch das Gebildbrot des Krapfens, der mit einer
duftenden Farce gefüllt ist, wie auch das Gebildbrot des menschlichen
Herzens, das mit duftenden Blumen geziert ist, als Symbole der Liebe
und als Vermittler der Gegenliebe betrachtete und dass man dem Lust-
dufte wie dem Blutdunste im Herzen und dem am Körper getragenen,
duftenden Liebesapfel eine besonders sympathische Eolie in diesem
Glauben zumutete.
Hat nun die Krapfenform auch mit der Herzform einen bezüglichen
vergleichbaren Zusammenhang? Wir müssen diese Frage entschieden be-
jahen, wenn wir von der heute üblichen gelappten Herzform, wie sie
durch das koptische Christentum dem Mittelalter übergeben wurde, ab-
sehen. Der Krapfen als relativ grosses, rundes, einballiges Hohlgebilde
ohne inneren festeren Kern, aber mit einer meist duftenden, süssen inneren
Farce gleicht dem mit dem Seelendufte ausgestatteten, rundballigen, alt-
römisch-griechischen Herzschema. Nach Lobeck (Aglaophamos p. 709) gab
es auch im griechisch-römischen Kulte des Dionysos-Bacchus herzförmige
Opferkuchen. Das Herz, dessen Gestalt von den Griechen mit dem
xcôvoç Tov otQoß'dov, d.h. mit dem dickeirunden Pinienzapfen verglichen
wurde, war dem Dionysos heilig. Nach der Mythe des Bacchus verzehrte
Zeus das noch rohe, warme, zuckende Herz des von den Titanen bald
nach seiner Geburt zerrissenen Zagreus (= Bacchus) (Preller, Griech.
Der Krapfen.
75
Mythol. 2 1, 553). In Nachahmung dieses ins Mythische verlegten Vor-
ganges wurde auch bei dem bacchantischen Opfermahle das noch zuckende
Fleisch eben zerrissener Opfertiere roh (warm) verschlungen (Baltzer,
Apollonius von Tyana, S. 189). Nach dem pythagoräischen Yorbilde wird
sehr wahrscheinlich an Stelle des rohen, warmen Zuckfleisches des tieri-
schen Herzens das heisse, herzförmige, randgeballte, mit einem duften-
den Inhalte versehene Gebildbrot des Krapfens getreten sein; gerade in
der bacchantischen Fastnacht1) spielen auf ehemals römischem Boden
Germaniens die heiss verzehrten Hêtwecken (= heissen Wecken), heissen
Ivreuzbrote, heissen Muscheln, heissen Krapfen volksüblich eine grosse
Rolle, und nicht bedeutungslos ist es, dass die herzenfressenden Hexen
in der Volkssage auch Krapfen essen.
Obwohl im Mittelalter die oben doppellappige, unten zugespitzte Herz-
form der ägyptischen Kopten das römische, rund ballige Herzschema fast
ganz verdrängte, so blieb doch in der deutschen Volksmedizin (siehe das
Organvotiv im Janus 1901, S. 23), in dem deutschen Volksbrauche und in
der deutschen Volkssage ein gewisser Zusammenhang mit dem letzteren
bestehen; als solches Überlebsei sehe ich auch den rundballigen, hohlen,
mit einer duftenden Farce innerlich gefüllten Krapfen an, der als placenta
bacchica, d. Ii. als lvultbrot der Zeit der Bacchanalien aus dem römischen
Kolonistenbrauche durch Vermittelung der Klosterküchen auf germanischen
oder deutschen Boden sich übertragen haben kann, wo er als Faschino-s-
gebäck, Erntebrot und Hochzeitsküchel sich forterhielt und sich in ver-
schiedenen anderen Abarten weiter entwickelte.
Bad Tölz.
1) Der Hauptfastenfisch der Mönche lieferte als Fiebermittel sein lebendes rohes
Herz; vgl. ein Rezept des 16. Jahrh. für das Fieber bei Jühling, Die Tiere in der Volks-
medizin S. 25: „Nim das Hertz von einem frischen, lebendigen Hecht vnnd verschlinge
es, weil es noch lebt, vnnd faste danach einen halben tagk." Hier ist die Omophagie
der Bacchanalien zum Essen eines rohen Fastenfisches herangemildert. Am Grossfasten-
abend (Sonntag nach Fastnacht) müssen in Geerhardsbergen Bürgermeister, Dekan,
Schöffen nnd Ratsherren einen lebendigen Gründling aus einem Becher Wein hinab-
schlucken; auch dieser seit 1398 bezeugte, von der Kirche geduldete Brauch (Volkskunde
18, 136f.) vertritt die Omophagie der Bacchanalien. Über das athenische Hauptseelenfest
der dionysischen Anthesterien vgl. Rohde, Psyche 3 1, 237. 2, 45; über Dionysos als
Herrn der Seelen ebd. 2, 13; über die Beziehungen der Fastnacht zum Uionysoskult
Krause, Tuiskoland S. 343. 389. Obgleich also das Krapfengebäck gegenwärtig keine Be-
ziehung zum Totenkult aulweist, kann doch das römische Bacchusfest solche gehabt
haben.
76
Chalatianz:
Kurdische Sagen.
Yon Bagrat Chalatianz.
(Vgl. oben 15, 322. 16, 35. 402.)
15. Die mythologische Bedeutung der Sagen.
Yon den vorstehenden Sagen können nur wenige als rein kurdische
gelten; denn ausgenommen die von Slamando und Xgesarë, Sevahagê und
vielleicht auchHamutëSchankë, tragen sie das Gepräge orientalischer Märchen,
in denen sich uralte Anschauungen des Morgenlandes deutlich wider-
spiegeln. Im besonderen gehören hierher die Astralmythen, die man in
zwei Hauptgruppen scheiden kann: die Sonnen- und Mondsagen und die
Sonnenmythen. Der Kultus der Himmelsgestirne scheint die erste
Religionsstufe eines jeden Naturvolkes gewesen zu sein. Hohe Verehrunng
genossen der Sonnengott (Samas) und der Mondgott (Sin) bei den alten
Babyloniern, deren Gestirnenreligion die Weltanschauung der späteren
Geschlechter für unabsehbare Zeit bestimmt hat. Die jüngsten Aus-
grabungen in Babylonien förderten zahlreiche Tempel zutage, die der
Sonne und dem Mond geweiht waren; auch in den religiösen Keilschrift-
texten nehmen beide Gottheiten einen Ehrenplatz ein. Die ältesten
Kultusstätten des Mondgottes waren in Uru (der heutigen Trümmerstätte
el-Mugeir) und in Xarran (in Mesopotamien), die des Sonnengottes in
Barsa und in Sippar (den heutigen Ruinen Senkereh und Abu Habba).
Der Mondgott wurde als 'Yater' mit langem Bart, auch als 'junger Stier'
mit grossen Hörnern bezeichnet. Seine Gemahlin hiess Ningal und seine
Tochter Istar (Yenusstern). Andererseits galt Nergal (sonst Sommerglut-
sonne und der Planet Mars) als Gott des abnehmenden Mondes, der mit
Sin, der zunehmenden Mondsichel, die grossen Zwillinge bildet. Samas
wurde ebenfalls als männliche Gestalt gedacht, während in Südarabien
die Sonne weiblich ist. Dass der Mond einige Tage verschwindet und
dann allmählich seine frühere Grösse wieder erreicht, dass die Sonne
abends versinkt und frühmorgens wieder erscheint, dass sie ihre Kraft im
Winter verliert, hinter schwarzen Wolken verborgen bleibt und erst mit
Anfang des Frühlings wieder ihren Glanz erreicht, dies alles muss stark
auf die Phantasie aller Yölker einwirken. Das eine Gestirn stellt die
Dauer des Tages und der Jahreszeiten, das andere die des Monats fest.
Daher finden wir bei den Babyloniern beide in ihren Hauptphasen streng
unterschieden; man verehrte Samas als Frühjahrs-(Morgen-)sonne, Sommer-
Mittag-) sonne, Herbst-(Abend-)sonne und Wintersonne, und der Mond
wurde in abnehiudeen und zunehmende Gottheiten geteilt. Mit den
Gestirnkulten aber waren zahlreiche Mythen verknüpft. Es muss schon
Kurdische Sagen.
77
in der Urzeit eine Periode gegeben haben, wo die religiösen Mythen auf
die Menschen übertragen wurden und allmählich in Heldensagen über-
gingen. Die Gottheit wurde ein Halbmensch, der Mythus eine Erzählung
von Helden. Diese Übergangsperiode stellen noch jetzt die orientalischen
Märchen dar; derselbe Held, der die Sonnengottheit vertritt, vollführt
seine Taten mit Hilfe derselben. Gleichzeitig muss auch die Nationali-
sierung der Astralmythen, d. h. ihre Übertragung auf Nationalhelden, wie
wir sie bei den Griechen, Römern, Persern, Armeniern u. a. finden, statt-
gefunden haben.
Die Sonnen- und Mondsagen zerfallen in zwei Gruppen; in einer sind
Sonne und Mond als zwei Brüder (Zwillinge), in der zweiten als Schwester
und Bruder gedacht. Dioskurensagen begegnen uns bei allen Yölkern
des Altertums, bei den Hebräern (Kain und Abel, Jakob und Esaù), bei
den Griechen (Dioskuren), Römern (Romulus und Remus), Germanen (Baidur
und Hödhr). Der eine Bruder als Mond stirbt (Abel, Remus, Agamemnon,
Harmodios) oder wird als Blinder vorgestellt (Hödhr). Der Einfluss dieses
Sagenkreises lässt sich auch in den kurdischen Erzählungen von Qiilleq und
Kiaro, Dalu Hamza und Dalu Mehmet erkennen. Qülleq stirbt, Dalu Hamza
schläft infolge der Zauberkunst der Hexe drei Tagelang, um wieder aufzu-
erstehen.1) Zu clenSagen, in denen die Sonne weiblich und der Mond männlich
1) Bei den Babyloniern war der folgende Dioskuremnythus, in welchem auch die
Schwester der Dioskuren, Istar, erscheint, im Umlaufe (F. Haupt, Das babylonische
Nimrodepos 1884. 1891. Deutsch bei Jensen, Keilinschriftliche Bibliothek 6, 1, 116_265)
Gilgames, der Herrscher von Erech (zwischen Nord- und Siidbabylonien), siehtin mehreren
Traumbildern, die seine Mutter deutet, den Helden Ea-bani (nach Zimmermann und
Jensen KB. 1, 425. 571 Bel-Kullati oder Bel-Kissati = Herr der Allheit zu lesen) als
seinen künftigen Freund. Dieser, der in der Steppe unter wilden Tieren haust, wird durch
eine Dirne zu Gilgames gelockt; beide schliessen Freundschaft und unternehmen einen
Zug nach dem heiligen Zedernwald, dem Wohnorte der Göttin Irnira-Istar. Der von Bei
bestellte Wächter Chumbaba, der jeden durch seine Stimme in Schrecken setzt, wird im
Kampfe erschlagen. Als Gilgames die Liebe der Göttin lstar verschmäht, bittet sie ihren
Yater Anu, einen Himmelsstier zu schaffen, der Gilgames vernichten soll. Allein der
Held erlegt mit Hilfe Ea-banis den Stier und bringt dessen Hörner seinem Gotte Lugal-
banda als Weihgeschenk dar. Darauf stirbt Ea-bani. Um Unsterblichkeit zu erlangen,
begibt sich Gilgames zu seinem unter die Götter versetzten Ahnen Ut-Napistim; auf den
Eat eines Skorpionmenschen zieht er durch die Masu-Berge und erreicht den an der
Meeresküste gelegenen 'Götterpark'. Hier 'auf dem Thron des Meeres' sitzt die Göttin
Siduri-Sabitu, die aut die Frage der Helden, wie er zu Ut-Napistiin gelange, antwortet:
„Über das Meer ging (nur) Samas, der Gewaltige; wer ausser Samas gebt hinüber?"
Doch mit Hilfe eines Schiffers erreicht Gilgames die 'Wasser des Todes', den Wohnsitz
seines Ahnherrn. Dieser schildert ihm die Sintflut und lässt ihn auf seine Bitte durch
den Schiffer zum 'Waschort' bringen; dort muss Gilgames sich waschen, ein neues Gewand
und eine neue Kopfbinde anlegen und dann heimkehren. Um das stürmische Meer zu
beruhigen, taucht er auf den Rat des Ut-Napistim unter und schneidet auf dem Meeres-
boden ein Wunderkraut ab, das Greise wieder jung zu machen vermag. Dann weist ihm
eine Schlange den Weg. In Erech angelangt, bittet Gilgames den Gott Ea, ihn mit Ea-
banis Geist zusammenzuführen. Dieser gebietet dem Gotte des Totenreiches Nergal,
Ea-banis Geist aus der Erde emporzusenden, der nun seinem Freunde Gilgames das
Totenreich beschreibt. Damit schliesst das Epos.
78
Chalatianz:
dargestellt wird, gehört eine armenische Überlieferung, nach der einst die
Geschwister Sonne und Mond im Flusse badeten. Der Mond wollte die
schöne Schwester nackt sehen und tauchte aus dem Wasser auf; die
Schwester aber erriet seine Absicht und flog gen Himmel; der Mond setzte
ihr nach, ohne sie erreichen zu können; die Sonne aber sticht mit ihren
Strahlen jeden, der ihre Nacktheit anzuschauen sucht. Ebenso werden in
der schönen arabischen Erzählung von Laila und Medjnun (oben 15, 328)
die beiden Liebenden zu zwei Sternen, die getrennt im Kreise herum-
ziehen. Vielleicht liegt dieser Astralmythus auch der gleichfalls aus
Arabien stammenden Sage von Mamo und Zinë (oben 16, 35. 402) zu-
grunde: Mamo wird in die Grube geworfen und stirbt, worauf ihm seine
Geliebte in den Tod folgt; die beiden aus ihrem Grabe hervorwachsenden
Blumen entsprechen den zwei Sternen.
Auch die alten Armenier erzählten von der verhängnisvollen Liebe
der assyrischen Königin Samiram (Semiramis) zu dem armenischen Könige
Ara dem Schönen; als der König Ninos nach Kreta geflohen war, sandte
Samiram Botschaft zu Ara, er solle entweder sie heiraten oder sie besuchen
und dann heimkehren. Als Ara diese Forderung stolz abschlug, zog
Samiram mit einem Heer nach Armenien und lieferte ihm auf dem Felde
Airarat eine Schlacht, in der Ara fiel, obwohl die Königin befohlen hatte,
ihn lebend zu fangen. Sie liess seinen Leichnam in den Oberstock ihres
Palastes legen und verkündete den Armeniern, die ihren König rächen
wollten, sie hätte den Göttern geboten, seine Wunden zu lecken, und er
werde wieder erwachen. Als aber ihre Zauberei misslang und der Leich-
nam verfaulte, befahl sie, ihn in eine grosse Grube zu werfen und diese
zuzudecken; dann schmückte sie einen von ihren Liebhabern und ver-
kündete, die Götter hätten den Ara geleckt und ihn wiederbelebt.1) Ara
entspricht seinem Wesen nach der Mondgottheit, wie ja nach Plato2) die
Armenier von dem auferstandenen Er (J]Q — Ara) erzählten; die liebe-
heischende Semiramis aber verkörpert die brennende Sonne. Dafür
sprechen die von Moses von Chorëne S. 88 angeführten Yolksüberliefe-
rungen 'vom Tode der Samiram, von ihrer Flucht zu Fuss, von dem
Durst, von dem Trinken, von dem Einholen der Schwertträger, von den
ins Meer geworfenen Zauberkorallen und von dem Liede darüber: Die
Korallen der Samiram ins Meer'. Denn die dem Meer nahende, daraus
trinkende, mit strahlenden Korallen gesckmückte Samiram gleicht der ins
Meer tauchenden Sonne.
Die besonderen Mondsagen sind verhältnismässig selten, da sie wahr-
scheinlich von den Sonnenmythen verdrängt worden sind oder sich derart
mit ihnen verschmolzen haben, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen
sind. Vielleicht gehört hierher die noch heute in der armenischen Kirche
1) Moses von Chorëne, Geschichte Armeniens (Venedig 1881) S. 75—77.
2) Plato, De república X, 614B. Ara bedeutet im Persischen den 'Schönen'.
Kurdische Sagen.
79
übliche Darstellung des Moses mit zwei Hörnern auf der Stirn und die
Erzählung vom gehörnten Alexander dem Grossen. Und eine Spur des
Mondkultus ist der orientalische Volksglaube, dass der wachsende Mond
jedem Unternehmen Glück und der Krankheit Heilung verheisse, und der
Brauch, die auf dem Wege gefundenen Hörner und Hufeisen als Glücks-
talismane aufzubewahren.
Viel grössere Verbreitung haben die Sonnenmythen. Schon im grauen
Altertum ward die Sonne als ein heilbringender Held gepriesen, der die
Menschen von einem Ungeheuer (der Finsternis und dem Winter) be-
freit. Die Frühsonne wurde in den Dichtungen als ein Knäblein in einem
auf dem Wasser schwimmenden Kasten bezeichnet. Und der assyrische
König Sargon von Agade1) erzählt von seiner Geburt2): „Ich bin Sarrukin,
der mächtige König, König von Agade. Meine Mutter war aus edlem
Geschlechte, mein Vater ist unbekannt, der Bruder meines Vaters aber
bewohnte das Gebirge. Meine Stadt ist Azupiränu, am Ufer des Euphrat
gelegen. Meine Mutter ans edlem Geschlechte empfing mich, und im
Verborgenen gebar sie mich. Sie legte mich in einen Kasten von suru
und yerschloss.....mit Erdpech. Sie warf mich in den Fluss, welcher
nicht hoch war. Er trug mich weg und brachte mich zu Akki, dem
Wassergiessei. Akki der Wassergiesser hob mich auf, zog mich zum
Knaben auf. Er machte mich zum Gärtner." Derselbe Mythus ist bei
den Hebräern auf Moses übertragen worden; und so wird auch Nacar
Ogli (oben 16, 411) in einem Kasten gefunden und zum Knaben auf-
gezogen; sein Vater ist ebenfalls unbekannt. Von der Geburt des Sonnen-
gottes Vahagn sangen die alten Armenier nach Moses von Chorëne3) das
folgende Lied:
„In Geburtswehen lagen Himmel und Erde.,
In Geburtswehen lag auch das purpurne Meer;
Geburtswehen im Meere hielten ein Schilfrohr ergriffen.
Aus der Kehle des Schilfrohres stieg Rauch auf,
Aus der Kehle des Schilfrohres stieg Flamme auf,
Aus der Hamme lief ein Knäblein hervor,
Es hatte Feuer als Haar,
Es hatt'e Flamme als Bart,
Und seine Augen waren Sonnen. \
Wir haben selbst mit unseren Ohren gehört, wie manche dies mit
Begleitung des 'Bambiren' sangen. Weiter trug man im Liede vor, dass
er (Vahagn) mit Drachen kämpfte und diese besiegte."
In den Heldentaten des Knaben, der seine Gefährten überwältigt, ist
die zunehmende Kraft der Sonne zu erkennen. Das Sitzen des Helden
in der Grube, in die er von dem Feinde (oder seinen Brüdern) geworfen
wird, ist das beliebte Motiv der niorgenländischen Sagen von Joseph (im
1) Nordbabylonien. Sargon regierte um 2800 v. Chr.
2) Rawlinson, The cuneiform inscriptions of Western Asia, Vol. Ill, 4. 7.
3) Moses von Chorëne S. 127 f.
80
Chalatianz: Kurdische Sagen.
Koran), von Rustem und Bejan bei den Persern, von Artavazdes und
Mher bei den Armeniern, von Uiya bei den Russen. Nach dem Zeugnis
Ezniks1) erzählte man von Alexander dem Grossen, dass er von Divs ge-
fesselt gehalten ward. Nacar Ogli kann als ein Typus dieser Sagengruppe
gelten, in der der Held, nachdem er ein Ungeheuer erschlagen, die
Schöne befreit und aus der Grube heraussteigt. In dieser verbreiteten
Erzählung ist die Darstellung des Sieges der Frühsonne über die Finsternis
oder den Winter und die Befreiung der Erde von der Kälte zu sehen;
der Held besteigt ein Feuerross oder einen Feuervogel, um in die 'Helle
Welt' zu gelangen, d. h. die Sonne gelangt wieder zu ihrer Kraft. — Zu
demselben Sagenkreise gehört das Märchen von dem versteinerten Reiche.
O o
Der Held tötet den Drachen (Hexe, Ungetüm), bespritzt mit dessen
Blut die Steine und macht diese wieder zu lebenden Menschen (vgl.
Gathl Gahraman, oben 15, 393f.). Yon seinem Kuss erwacht die schlafende
Schöne, die Königstochter, die der Held heiratet.
In der Rolle des Weltbefreiers erscheint bei den Babyloniern der
Sonnengott Marduk, der deswegen als Herrscher über das ganze All und
als neuer Weltschöpfer verherrlicht wird. Er zieht gegen die Götter-
mutter Tiamat, die im Bündnis mit Riesenschlangen, Drachen, Molchen
sich gegen die neue Göttergeneration empört. Marduk, mit 'Lichtflut'
bewaffnet, besiegt sie und schlägt ihren Leichnam in zwei Stücke.
Eine Parallele dazu bietet die Sage von einem löwenartigen Ungetüm
namens Labbu, das einer von den Göttern erlegt, der in einer Wolke
vom Himmel herabsteigt. — Eine dritte Sage bezieht sich auf den Sturm-
vogelgott Zu, den ein Gott tötet und ihm die von demselben geraubten
Schicksalstafeln entreisst2). Wahrscheinlich liegt allen drei Mythen der
Kampf des Lichtgottes Marduk mit einem Ungeheuer (der Finsternis) zu-
grunde. _
Die aus uralten Trümmern wieder zum Leben gerufene Welt-
anschauung der Babylonier ist eine Entdeckung der jüngsten Zeit, und
ein Versuch, diese mit unseren Anschauungen in Zusammenhang zu bringen,
muss mit grosser Vorsicht ausgeführt werden; denn der Zusammenhang
der Kultur des alten Orients mit der klassischen und unserer Welt lässt
sich nicht verfolgen. Deshalb begnügte ich mich mit einem Hinweise auf
einige Hauptzüge unserer Sagen, die sich aus den Astralmythen des alten
Orients erklären.
Leipzig.
1) Eznik, Gegen die Ketzereien, Paris 1860, S. 100.
2) King, Cuneiform Texts from Babylonian Tablets, Vol. VIII. In deutscher Über-
setzung von Jensen, Keilinschriftliche Bibliothek, Bd. VI.
Hermann: Kleine Mitteilungen.
81
Kleine Mitteilungen.
Nachtrag zu dem Artikel 'Siebensprung' (oben 15, 282—311).
Durch die Güte mehrerer Herren ist es mir möglich geworden, neue Nach-
weise für den Siebensprung zu erbringen.
A. Auf deutschem Sprachgebiet:
Schweiz. In Gottfried Kellers Roman 'Der grüne Heinrich' (Stuttgart 1905)
2, "265 wird der Siebensprung bei einem Leichenschmaus getanzt.
Thüringen. In Löfflers Roman* 'Martin Bötzinger' (Lpz. 1897) wird ein Tanz
erwähnt, mit dem der Siebensprung gemeint scheint. (Auf beides macht mich
Herr cand. phil. Knauer in Neuses bei Coburg aufmerksam.)
Bayern. München: Eine Siebensprungmelodie wurde im vorigen Jahre bei
einem der Kellerkonzerte gespielt. (Mitteilung des Herrn Kaufmanns R. Albrecht
in München.)
Rechtenbach in der Rheinpfalz, abweichend von den Abgaben, oben 15,
284f.; vgl. 290, Anm. 1, die sich wohl nur auf den Nachbarort Schweigen zu be-
ziehen haben:
Nr. 36.
K
""2--
---b—fe-,—|ïi—&—b-3-
Danz mer e - mol de sie - we - te Sprung ! Danz mer e - mol de sie - we - te
-s s Is* N N s ,N N „N ,n . Ink*.
Sprung! Mach mer's fei - ne al - le sie-ben,mach mer's, dass ich dan-ze kann,dan-ze
N s IS „ I I h IS1 I I Is s2 etc- I
----^---—---—p---j---|— ä--1-----1-,
*- *—'■9—-----*—
wie ein E - del - mann! 's ist eins etc.
In dem benachbarten Schleithal im Elsass lautet die Melodie wieder anders
(Mitteilung des Herrn Lehrers Lang in Rechtenbach.) Es liegt auf der Hand, dass
auch dieser Text die Mundart nicht rein wiedergibt, vgl. jedoch die Bemerkungen
unten zu dem Text von Oevenum auf Föhr (S. 83).
Hessen. Giessen: Nach der Mitteilung des Herrn Geh. Hofrats Behaghel
wird der S. hier wieder in den ersten Kreisen getanzt (und zwar nach Böhme).
Rheinland. Köln: Wey den*, Köln vor 50 Jahren (i. e. 1812), S. 128: Hier
— bei Gelegenheit der Bayen-Kirmes auf dem Bayengraben — klangen die alten
Tanzweisen, der kölnische Ländler and die 'Sibbesnrüm?' Vsl auch Honig*,
Wörterbuch (1877), S. 147. a '
Der Tanz soll nur vom niederen Y0lke aufgeführt worden sein. In den
Landkreisen Köln und Bonn war er vorJahren noch sehr gebräuchlich, besonders
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 6
82
Hermann:
auf der Brühl er Kirmes. (Nach einem Brief des Herrn Oberlehrers Dr. Wrede
in Köln, mir durch die Güte des Herrn Museumsdirektors Dr. Foy übermittelt.)
Westfalen. In H. Wettes Roman 'Krauskopf' (Lpzg. 1903) S. 186 wird er-
zählt, wie im Münsterlande am Lambertusabend das Volk um die Lambertus-
pyramide tanzt und singt:
Wer, wer kann die sieben Sprünge?
O Buer, wat kost't din Heu?
Der Herr, der schickt den Jäger aus,
Der sollt die Birnen schmeissen.
(Diesen Nachweis verdanke ich dem Herrn Herausgeber dieser Zeitschrift.)
Hannover. Früher war der Siebensprung im Reg.-Bez. Osnabrück ge-
bräuchlich und wird noch in Grafeld und Orthe, Kr. Bersenbrück, getanzt. Bei
dem Trachtenfest des Artlandes in Badbergen 1905 stand der Siebensprung
mit auf dem Programm der altertümlichen Tänze. Der Text ist im Hannöverischen
verschieden, meist plattdeutsch. 7 Touren: Grosse Ronde erst nach rechts, dann
nach links. Sprünge wie in Eckwersheim (oben 15, 284). (Mitteilung des Herrn
Tanzlehrers Ortland in Badbergen).
Die Melodie lautet zu den Artländer 'Sieben Sprüngen' nach Ortland, Artländer
alte Tänze für Piano, Selbstverlag, S. 4:
Nr. 37.
Aus einer hannöverischen Gemeinde, den Vierlanden gegenüber, stammt
folgende Melodie (sieben Touren):
Nr. 38:
Sehr schnell.
-H - » •" —f -f~ —#-- ~~nrtL ß ■ rf ñ —? . ' ri
W—4--: 7Í _u i i i \M 1 —1— ' r~ : 1 1— .JiiX M
_uL_Ì—41 1 1__L__I-____ I I ___
1 — 7 mal.
(Mitteilung des Herrn Lehrers Mindt in Neuengamme).
Schleswig-Holstein. In Dithmarschen muss der Siebensprung ehedem gut
bekannt gewesen sein, so weiss man von ihm noch nicht nur in Schafstedt bei
Heide, sondern man erinnert sich seiner noch sehr gut in Bunsloh, Osterborstel
und Albersdorf. Bis vor dreissig Jahren etwa tanzte man ihn hier bei der
Fastnachtsfeier in vorgerückter Stunde; in Albersdorf wurde er vor einem halben
Kleine Mitteilungen.
83
Jahre noch bei einer Hochzeit getanzt. Während der ersten acht Takte wurden
zwei Schritte nach rechts und zwei nach links gemacht, darauf folgte Rundtanz
bis zu den Sprüngen. Die Männer hielten einander bei der Hand oder fassten
einander von hinten um die Taille. 13 Touren, Sprünge wie in Eckwersheim,
aber erst rechts, dann links.
Nr. 39.
—V-
__ij_r___1_îl—y—1>—
ziti:
j y
Lus-tigi8tder Sie-ben-, Sie-ben-, Sie-ben-,lus-tigistder Sie-ben-, Sie-ben-sprung.
(Zum zweiten Teil singt man keinen Text mehr.) 1 7 mal'
Die beiden letzten Töne werden länger ausgehalten, als sie es dem Takt nach sollten.
Der 'Söwensprung' in Husum. Ob es sieben oder dreizehn Touren waren,
weiss ich nicht. Herren und Damen standen getrennt auf zwei Seiten, fassten ein-
ander an, wie zu einer grande chaîne, näherten sich, gingen wieder zurück und
hüpften bei den letzten zwei Tönen in die Höhe.
Nr. 40.
É1SÊ
—#-
:—
&
lesili
rf-f—i ---K—^--!S"-- --K—Ni— ---N---t"»--.1
Éfe=EÌ K » ä 0 9 —0—é H-a--1—' L---_J M
Auf der Insel Föhr war der Tanz ehemals, wie es scheint, durchweg besonders
gut bekannt; in der Erinnerung der ältesten Bewohner lebt er noch in den meisten
Ortschaften fort, so in Wyk, Wrixum, Nieblum, Goting, Oevenum, Oldsum, Ütter-
sum. Eine aus Wrixum gebürtige Frau erinnert sich noch des Söwensprüngs, so
bei den Friesen genannt, dessen Melodie ihr von dem Yater oft vorgesungen wurde.
Die Sprünge wurden gezählt, und dabei wurde aufgestampft und gekniet usw.; ob
ein deutsches oder friesisches Lied gesungen wurde, vermag die Frau nicht mehr
anzugeben.
In Oevenum wurde der Siebensprung auf einer Hochzeit im Jahre 1883 zum
letzten Male getanzt. „Nu möt wi mal de Söwensprung dansen", hiess es. Es
wurden acht Takte Polka getanzt und dann Sprünge gemacht.
Nr. 41.
—1-1---1 -~2--p------
—t—--- *~
Kennt ji nich den Sö-wen-, Sö-wen-, kennt ji nich den Sö-wen-sprung? Dat's een
usw.
Bemerkenswert ist, dass 'Kennt ji' nicht Föhringer Platt ist, sondern fest-
ländisches Platt; im Föhringer Platt müsste es 'kennen jeni heissen.
Ganz besonders beliebt war der Siebensprung in Nieblum, einem Ort in der
Mitte der Tnsel, der viel früher seine friesische Sprache verlor als die Nachbar-
orte. Hier wurde der Söwensprung oder friesisch Söwensprüng vor etwa vierzig
6*
84
Hermann:
Jahren allsonntäglich getanzt; vom Westerland strömten die Friesenburschen mit
ihren Mädchen in ihrer Nationaltracht regelmässig nach Nieblum zum Tanzboden.
Den Sprüngen gingen entweder einige Takte Schottisch voraus, oder sie folgten
ihnen. Es tanzten nur zwei Paare, bei den Sprüngen standen die beiden Burschen
innen, einander zugekehrt, während die Mädchen aussen weiter tanzten. Die
Sprünge wurden erst rechts, dann links ausgeführt: 1. und 2. Aufstampfen 3. und
4. Knien, 5. und 6. Knien und Aufstützen des Ellenbogens, 7. Knien mit Ver-
beugung und Ausbreiten der Arme. 7 Touren.
Nr. 42.
-jf-ff- -2— -K -fc ■ ---h- m sr—m-- --0—m---—
---^2-g-p.-¿2-- "a f r 5 ' f Ì? f f " w * * H
:W * : • u u ' ? ? Í . ■ U " U—V ■ J
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-m—• £ -t—E-- L_C¿-£--- . r '3
Man tanzte den Siebensprung aber auch nach der Melodie des Liedes: 'Herr
Schmidt, Herr Schmidt, was bringst dem Madie mit' usw. (Die Nachrichten aus
den Dithmarschen und die Aufzeichnung der Husumer und föhringischen Melodien
verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Lehrers Schröder in Schafstedt.)
Auf den Gütern bei Getdorf bei Kiel wurde der S. vor vierzig Jahren und
mehr getanzt.
Eine Frau aus Barkelsberg bei Eckernförde teilte Herrn H. Carstens in
Dahrenwurth bei Lunden folgenden Text zum Siebensprung mit:
Trutjern, mien Hahn,
Mien söte Katrien,
Du schass ja förwahr
Mien Eegendom sien.
Der Tanz war aber wesentlich anders, als ihn Herr Carstens im Urdsbrunnen,
Bd. 6, beschrieben hat.
D. Dänemark. In Neuvaret bei Ribbe bei Hvidding, hart an der deutschen
Grenze, kannte man ehedem den 'Sivspring1 ebenfalls.
Auf eine Nachricht über den Siebensprung in der Beilage zum Eilenburger
Nachrichtenblatt 1905, Nr. 255 macht mich Herr Oberlehrer Uhde (Bergedorf)
aufmerksam. Unter der Überschrift 'Kirmes' heisst es daselbst:
Könnt ihr nicht die sieben Sprüng,
Könnt ihr sie nicht tanzen?
Da ist mancher Edelmann,
Der die sieben Sprüng nicht kann.
Ich kann se, ich kann se.
Der Tänzer gibt sich in dem folgenden Reim gewissermassen selbst die
Antwort:
Wer kann die sieben Sprüng,
Wer kann sie tanzen?
Wackres Mädchen, pass auf mich,
Hast du Geld, so heirat mich!
Ich kann se, ich kann se.
Kleine Mitteilungen.
85
Leider konnte mir die Redaktion des Blattes den Verfasser nicht nennen, so
bin ich auf Vermutungen angewiesen. Ich glaube nicht, dass der Verfasser die
Responsion irgendwo vorgefunden hat, sondern er scheint zwei in der Umgegend
Bonns übliche Varianten des Textes (vgl. oben 15, 298) eigenmächtig zu dieser
Responsion zusammengeschmiedet zu haben.
Da die Nachträge meist aus dem nördlichsten Deutschland stammen, vermögen
sie die noch unentschiedenen Fragen nicht zu fördern (vgl. oben 15, 301 u. 309);
wohl aber bestätigen sie manche meiner Vermutungen, so: die Bezeichnung 'Sieben-
sprung' (Husum, Föhr, plattdeutsch und friesisch, Neuvaret), 13 Touren (Albers-
dorf), Reihenfolge der Sprünge (Artland, Albersdorf, Nieblum), Zählen der Sprünge
(Rechtenbach, Wrixum, Oevenum). Für den Text ist bemerkenswert die Variante
'üanz' gegenüber 'Mach', vgl. den Kusterdinger Text (oben 15, 295); mein Verdacht
wegen der Variante „Feine" in Schweigen (oben 15, 290, Anm.) ergibt sich aus
dieser Strophe als unbegründet. Für die Frage der Heimatsbestimmung ist viel-
leicht nicht unwesentlich, dass wir wieder auf plattdeutschem Boden mehrere
hochdeutsche Texte finden (Schafstedt, Artland), und dass andererseits in Oevenum
der plattdeutsche Text nicht mundartlich abgeändert ist; der Anfang 'Kennt ji' in
letzterem stimmt zu der norddeutsch-holländischen Gruppe; besonders zu dem von
Abcoude (oben 15, 297).
Die Melodien ordnen sich teilweise sehr deutlich in die anderen ein. Nr. 39
(Albersdorf) ist bis auf die Taktabteilung des zweiten Teiles identisch mit Nr. 5
(Fünen). Nur im ersten Teil identisch hiermit ist Nr. 40 (Husum), aber auch im
zweiten Teil sehr ähnlich. Auch Nr. 37 (Artland) und 38 (Prov. Hannover) stimmen
im ersten Teil hierzu ganz genau, abgesehen von dem Auftakt und dem Tempo in
Nr. 38; im zweiten Teil von Nr. 37 und 38 ist VI und VIII gleich den dänischen
Melodien Nr. 13 und 14, nur mit anderem Tempo. Nr. 41 (Oevenum) gehört
ebenso wie Nr. 36 (Rechtenbach) zwar zur ersten Gruppe (Nr. 1—18), aber beide
sind sehr stark entstellt; Nr. 36 meidet übrigens im Gegensatz zu den anderen
süddeutschen Melodien (vgl. oben 15, 305) in VI und VIII das Hinuntersteigen
zur unteren Oktave nicht. Nr. 42 (Nieblum) scheint so wie Nr. 30—35 eine
fremde Melodie zu sein, wie es ja die andere Nieblumer Melodie (Herr Schmidt)
wirklich ist.
Dass der Rendsburger Barbiertanz (oben 15, 306) seine Melodie aus der
Preziosa bezogen hat, wird noch wahrscheinlicher dadurch, dass man auch in
Albersdorf das 'Barbierstückchen' kennt und dazu, wie mir Herr Schröder schreibt,
nach der Melodie singt: „Gestern abend war Vetter Michel da".
Wie mich Herr Oberlehrer Dr. Brinckmann in Bergedorf, ein geborener Olden-
burger, belehrt, habe ich s in dem Oldenburger Text (oben 15, 296) falsch auf-
gefasst, es ist die Abküizung \ on so. Zugleich bitte ich an dieser Stelle 'überein'
zu streichen und S. 295, Z. 2 es zu schreiben.
Bergedorf. Eduard Hermann.
Zum Fangsteinchenspiele.
Der vor einem Jahre erschienene Aufsatz über die Verbreitung des Fang-
steinchenspieles (oben 16, 46—66) hat uns nicht nur eine freundliche Anerkennung
von Herrn Dr. Ohr. Walther in Hamburg (Nd. Korrespondenzbl. 26, 89) eingetragen,
sondern auch eine Reihe von Nachträgen zugeführt, unter denen wir die der
Herren Dr. C. F. Seybold in Tübingen, "W. y. Schulenburg in Zehlendorf und
Prof. Dr. E. Wrangel in Lund mit besonderem Danke hervorheben müssen.
86
Lemke und Boite:
S. 472: In Persien heisst die eine Seite des Knöchels duzd = Dieb (so is
statt dudz zu lesen) oder tschik (Vullers, Lexicon persicolatinum s. t.), die andere
dihbân (Dorfvorsteher) oder dihgân (Dörfler, Landedelmann). Auch C. Niebuhr
(Reisebeschreibung nach Arabien 1, 172. 1774) erwähnt eine solche verschiedene
Bedeutung der vier Flächen der Knöchel beim arabischen Läb el kâb [li'b al
ka'b]: [Dies] „spielet man mit kleinen Knochen aus den Gliedern in den Beinen
der Schafe oder Ziegen nach gewissen Regeln, was eine jede der vier Seiten,
welche oben kömmt, gelten soll. Dies Spiel hat wahrscheinlich Anlass zur Er-
findung der Würfel gegeben."
S. 49: Von italienischen Bezeichnungen des Spieles sind nachzutragen:
a ci neu (bei Pitrè, Giuochi fanciulleschi siciliani 1883 p. 116 no. 56 beschrieben)
— alle cinque pietri (Cosenza in Calabrien. 6 Steine, der sechste „zum Mit-
spielen") — aj oss (monferrinisch bei Perraro, Archivio delle tradiz. pop.
ital. 1, 126). — a li pisuli (= Steinchen. Pasqualino, Vocabolario siciliano 1, 124:
„Pit a puerulis humi considentibus et manu cálculos in altum proiicientibus, ut
arreptis aliis, qui in terra sunt, iterum vola decidentes suscipiant." Pitrè, Giuochi
p. 110 no. 54: a pigghialu, a petra pigliari, a li pitrèdduli, a pitranta, a petrannáru,
a scaggia all' autu, a' u baddru, a li vasti, ê picei, ê novi â mamma etc.) —
a spumposta (Pitrè, Giuochi p. 112 no. 55: auch a cuntrice, pàllice, rùnchiulo,
'u sciàuch de la rugne, a cinque sassi a ripigliare, a ripiglino, a breccetta, a garén,
a brúz, a pasadigg, a bagnetta, a pedinna, a galina porta in ca, a maneta, a vira-
man etc.). Über die Namen der einzelnen Gänge und die dabei üblichen Reime
gibt Pitrè ausführlich Nachricht.
S. 50: Die spanischen Bezeichnungen 'cornicoles' und 'carvicol' sind natür-
lich gleichbedeutend mit carnicoles1). — Die 21 Teile des juego de las chinas
(Steinchen) beschreibt R. Marin2), Cantos populares españoles 1882—83, 1, 89.
150—159. 5, 38—40; vgl. Machado y Alvarez, Archivio delle tradiz. pop. ital. 1,
1) Den spanischen Ausdruck taba leitet, wie Herr Dr. C. F. Seybold bemerkt,
Dozj (Glossaire des mots espagnols et portugais dérivés de l'arabe 1869 p. 341) mit Recht
vom arabischen ka'b a = Knöchel ab; vgl. Pedro de Alcalá, Vocabulista arávigo en letra
castellana (Granada 1505): carnicol ka'ba. Diese nächstliegende Etymologie bestreitet
Eguilaz (Glossario etimológico 1886 p. 496) und denkt an das arabische tâba = pelota,
Ballschläger, das aber erst ein modernes Lehnwort der Araber ist. Ka'ba ist uns ja auch
durch die heilige Ka'ba zu Mekka (Würfel, Kubus, Viereck) geläufig.
2) Es wird von Mädchen mit 5 Steinen gespielt. In Osuna, Prov. Sevilla, mit
24 Gängen: 1. A mis nadas (man wirft 1 Stein (la madre) in die Höhe und rafft die
anderen 4 einzeln auf und spricht dazu: 'Nadita una, N. dos, N. tres, N. fué').
2. A mis medias (2 Steine aufgenommen, dann der 3. und 4.). 3. A mis dos condos.
4. A mis tres. 5. A mi pon. 6. A mi remudita (1 Stein aufnehmen und zugleich den
früheren fallen lassen : 'Remudita, Puntadita, Chorro chorro, A tu madre se l'ajorro', dann
wie Nr. 1: 'Tú eres mia, Tú también, Tú ere' 'r gato, Pâ rebaña er plato1). 7. A mi
cuchillito (mit Versen). 8. A mi calabozo. 9. A mi peregil. 10. A mi pié. 11. A mi
rodilla. 12. A mi codo. 13. A mi Señor pequé. 14. A mi Señor pecandero. 15. A mi
garganta. 16. A mi barba. 17. A mi beso. 18. A mi nariz. 19. A mis ojos. 20. A mi
frente. 21. A mi mira-cielo. 22. A mi mira-suelo. 23. A barrer la casa, 24. A mi
puentecito. — In Ronda, Prov. Málaga, 19 Gänge: A mi una, A mis dos, A mis tres,
A mis todas, A mi pica, Mi mostaza, Señor pequé, Cuadrilito, Sobaquito, Aljofifa, Agujita,
Cazolita, Treveditas, Cuchillito, Dedalito, Horno, Campana, Mis todas con una mano, El
clavel. — In Fregenal, Prov. Badajoz, 7 Gänge, von denen nur einige besondere Namen
führen (El pon, La polla, El arco). — In Guadalcanal, Prov. Sevilla, 6 Gänge. — In
Zaragoza mit Reimversen.
Kleine Mitteilungen.
87
284—288. 408—415. — Chinata (E. Pichardo, Diccionario de voces y frases
cubanas 1875 s. v.).
Portugiesisch: Jogo das pédrinhas, joco das mecas (J. Leite de
Vasconcellos, Tradiçôes populares de Portugal 1882 p. 98 nr. 221).
Wallonisch: jower âx ohion (= osselets. J. Delaite, Glossaire des jeux
wallons de Liège im Bulletin de la soc. liégeoise de littérature wallone 2. série
14, 160. 1889, der auch F. Dillaye, Les jeux de la jeunesse zitiert).
S. 51: Aus dem deutschen Sprachgebiete kommen hinzu: Bickeln (Caro,
Nd. Jahrbuch 32, 71: am Tisch, 4 Knöchel, 1 Ball). — Bomsern (Roben,
Kr. Leobschütz, Oberschlesien: 5 Steine. Mädchen). — Drüsch (Martin-Lienhart,
Wtb. der elsässischen Mundart 2, 766: 4—5 Steinchen werden nach und nach in
die Höhe geworfen und fallen wieder auf den konvexen Teil der Hand, während
man die auf dem Tische liegenden schnell mit dem konkaven Teil derselben er-
greift). — Eter (Dirschau, Westpreussen: 3 und mehr Bohnenringe). — Grap-
stein spielen (Landsberg a. W. 5 Steine. „Wenn die Kinder mit Steinen
spielen, wird teuere Zeit; wenn sie mit Lehm spielen, dann wird das Brot
billig"). — Gruddeln (Pr.-Holland, Ostpreussen: 5 Steine oder 5 Päckchen von
je 5 aufgefädelten Bohnen. Mädchen und Knaben). — Jraspein (Nutheniederung,
Kr. Teltow). — Judenlöper, Judenpaduk (Hamburg. Heckscher, Mitt. zur
jüd. Volkskunde 16, 108. 1905. Vgl. Richey, Hamburg. Idiotikon S. 105. Schütze,
Holstein. Idiotikon 3, 48. 204). — Kater Lük (Nd. Korrespondenzblatt 26, 63.
Prenssen, Hilligenlei 1905 S. 183: „Im Winter nach dem Schweineschlachten
spielen die Kinder Katerlücken"). — Iveducken (Vietz a. Elbe, Provinz Han-
nover). — Knöcheln (Guhrau, Rb. Breslau: 5 'Kalbsknorpel'). — Knötschen
(Priegnitz). — Knüll (Reuter, Werke hrsg. von Seelmann 4, 132: „Wir spielten
Ball, Kreller, Knüll"). — Knut (Neu-Ruppin um 1826. Th. Fontane, Meine
Kinderjahre 1894 S. 55).1) — Kuttchen fangen (Güldenboden, Westpreussen:
5 Knöchel oder Steinchen oder Bohnenpäckchen. Einerchen, Zweierchen, Dreierchen
Vierchen, Fünfchen. Touren: Wurstchen schieben, Töpfchen fangen, Grossvater,
Grossmutter, Finger eins [mit dem kleinen Finger der rechten Hand den Fang-
stein treffen], Vielliebchen [die Finger beider Hände miteinander verschränken,
mit den Handflächen den Stein aufwärts werfen und ihn mit den Handrücken
fangen] usw.). — Panken (Nutheniederung, Kr. Teltow. Auch in der Nieder-
lausitz).2) — Paschen, Pasch spielen (Grünberg). — Paxen (Schönewald in
1) [Ein Dielenloch in der Kinderstube] „wurde, wenn wir bei schlechtem Wetter
nicht hinaus konnten, zum bevorzugten Spielplatz für uns Kinder, wo wir mit vier würfel-
förmigen Steinen unser Lieblingsspiel spielten. Dies Lieblingsspiel hi ess Knut, war also
vielleicht dänischen Ursprungs und lief darauf hinaus, dass man, den vierten Stein hoch
in die Luft werfend, ihn im Niederfallen unter gleichzeitigem Aufraffen der im Sande
liegen gebliebenen drei anderen Steine, wieder auffangen musste."
2) Haupt u. Schmaler, Volkslieder der Wenden 2, 226 (1843) bemerken: „Das
Panken, Penken (panka, die Schale; pankowac) geschieht mit den Schalen von Hasel-
nüssen, welche in die Höhe geworfen und mit der Hand aufgefangen werden. Manche
dieser Schalen sind zierlich ausgeschnitten, und diese haben den Vorrang vor den übrigen.
Das Nähere dieses Spieles, welches vom Kottbuser Kreise an bis Finsterwalde und in das
Deutsche hinein gebräuchlich ist, blieb uns unbekannt." — Nach Pfuhl (Lausitzisch-
wendisches Wörterbuch 1866 S. 444) heisst bei den Oberlausitzer Wenden, jedenfalls im
Königreich Sachsen, ein Spiel „mit Nassschalen werfen" pankowac. - /wahr (Nieder-
lausitz-wendisches Wörterbuch 1847) berichtet: „Pan, obsolet. = Herr, kommt nur noch in
88
Lemke und Boite:
der Neumark, Kr. Oststernberg). — Sirapati schupfen (Wien: 5 Steine). —
Stana schupfen (Wien: 1—6 Steine. Mädchen und Knaben). — Steinchen
fangen (Landkreis Königsberg i. Pr.: 5 Steine). — Stollen werfen (Wien:
5 'Stollen' vom Pferde).
S. 62: Schwedisch: spela knäck (um 1700); att pjexa oder pjäksa,
spela pjexa; kasta sten, stenspelet.
S. 64: Zu dem wendischen, um Muskau üblichen Ausdrucke 'Kamuskowac'
kommt das in der vorigen Anmerkung erwähnte pankowac. — Über das
polnische Bierki-Spiel ist die S. 91 folgende Darlegung von Prof. E. Schnippel
zu vergleichen.
S. 65: Russisch: Igra w kammni = Steine spielen (Astrachan: 15 oder
weniger glatte, aus dem Wasser genommene Steine).
Von dem arabischen Spiele Laqüt au bilxami, bei dem man einen
Stein oder Knöchel in die Höhe wirft und vier andere aufnimmt, gibt Tallqvist
(Arabische Sprichwörter und Spiele, Helsingfors 1897, S. 143—145) eine aus-
führliche Beschreibung und führt auch den Namen la'b el-husa = jeu de galet
Kieselsteinspiel (nach Almkvist, Kleine Beiträge zur Lexikographie des Vulgär-
arabischen 1891 S. 427 und Nofal, Guide de la conversation arabe et française,
Beyrouth 1892 p. 220) an. Dagegen gehört das oben S. 86 zitierte li'b al-ka'b
zu den anderen Astragalenspielen, die so häufig mit dem Pangsteinchenspiele ver-
wechselt werden.
Unter den Sioux-Indianern Nordamerikas führt unser Spiel den Namen
Woskate tasihe, game with foot bones (R. Walker, Journal of american folk-
ore 18, 288. 1905). Wenn aber im Elsässischen Wörterbuch von Martin-
Lienhart 2, 766 behauptet wird, auch Chateaubriand habe dies Spiel bei den
Indianern gesehen, so scheint diese Behauptung auf einer Verwechselung des
Fangsteinchenspiels mit einem Würfelspiele zu beruhen, das Chateaubriand 1791
bei den Indianern beobachtete und im 'Voyage en Amérique'1) beschreibt.
Berlin. Elisabeth Lemke und J. Bolte.
einem Hirtenspiele vor, das mit Haselnussschalen (panki), nach Art des Spieles mit fünf
runden Steinchen, gespielt -wird. Die Höhe des ersten Wurfes, bei dem man die Formel
'Moj pan bogaty chojzi pojsy rogaty', d. i. Mein reicher Herr geht gehörnt
einher, ausspricht, bestimmt allemal, wer das Spiel eröffnet, das pankowac ge-
nannt wird."
1) Chateaubriand, Oeuvres complètes 6, 184f. (1827): „Au jeu des osselets, appelé
aussi le jeu du plat, deux joueurs seuls tiennent la main; le reste des joueurs parie pour
ou contre; les deux adversaires ont chacun leur marqueur. La partie se joue sur une
table ou simplement sur le gazon. Les deux joueurs qui tiennent la main sont pourvus
de six ou huit dez ou osselets, ressemblant à des noyaux d'abricot taillés à six faces
inégales; les deux plus larges faces sont peintes l'une en blanc, l'autre en noir. Les
osselets se mêlent dans un plat de bois un peu concave; le joueur fait pirouetter ce plat;
puis frappant sur la table ou sur le gazon, il fait sauter en l'air les osselets. Si tous
les osselets, en tombant, présentent la même couleur, celui qui a joué gagne cinq points;
si cinq osselets sur six ou huit, amènent la même couleur, le joueur ne gagne qu'un point
pour la première fois; mais si le même joueur répète le même coup, il fait rafle de tout,
et gagne la partie, qui est en quarante. A mesure que l'on prend des points, on en
défalque autant sur la partie de l'adversaire. Le gagnant continue de tenir la main; le
perdant cède sa place à l'un des parieurs de son côte, appelé à volonté par le marqueur
de sa partie" etc.
Kleine Mitteilungen.
89
Drei russische Wurfspiele mit Knöcheln.
In meinem Aufsatze über das Fangsteinchenspiel (oben 16, 65) erwähnte ich,
dass man in Astrachan mit fünf Schafknöcheln 'Altschiki' spielt. Hier kann ich
über drei andere russische, in Astrachan übliche Spiele mit Schafknöcheln be-
richten, bei denen es sich jedoch um Werfen nach dem Ziele handelt.
I. Altscha.
"V orzugsweise von Knaben gespielt. Die Anzahl der zum Teil gefärbten
Knöchel richtet sich nach Anzahl und "Wunsch der Beteiligten. Die Knöchel
w erden gewöhnlich mit der von Ostern (d. h. vom Eierfärben) übriggebliebenen
Í arbe gefärbt. Unser Beispiel führt zwei Spieler vor: X. und Y.
„Wieviel werden wir stellen? Zu eins, zu zwei, zu fünf?" Es sind jedem
höchstens sechs Knöchel gestattet. X. und Y. haben je zwei Knöchel gestellt,
die hintereinander stehen. Ihre Wurfknöchel, die mit Blei gefüllt sind,1) müssen
vorschriftsmässig in der rechten Hand gehalten werden. Der Daumen ruht auf
der Knöchelfläche, die tagan heisst, d. i. die einigermassen glatte (und geglättete)
Fläche, die auf der Abbildung oben 16, 65 als 2 bezeichnet ist; der Zeigefinger
auf altscha, d. i. die entgegengesetzte, ausgehöhlte Seite (oben 16, 65 als 1 be-
zeichnet). Man hat den Knöchel sehr locker zu halten, aber nur in seiner vorderen
Hälfte, und ihn so lange wie ein rollendes Rädchen sich drehen zu lassen (wobei
der dritte Finger unterwärts nachhilft), bis man sich sicher fühlt, die vier (oder
mehr) aufgestellten Knöchel zu treffen. Bevor das eigentliche Spiel beginnt, sind
noch andere Fragen zu entscheiden.
1. X. wirft seinen mit Blei gefüllten Knöchel geradeaus vor sich hin d. h. in
der Richtung auf die aufgestellten Knöchel; Y. wirft hinterher. Stossen diese
zwei Knöchel aus Versehen zusammen, so hält man sie der Länge nach neben-
einander I I, um mit ihnen zu würfeln. Derjenige, dessen Knöchel auf tagan oder
altscha steht, beginnt nun das Spiel. Wenn sich die Knöchel nicht treffen, spielt
derjenige zuerst, dessen Knöchel weiter von den vier aufgestellten liegt. Nach
diesen vier Knöcheln wird geworfen.
Es kann nun
a) X. verfehlen. Y. schlägt einen Knöchel oder mehr heraus; er hat das
Spiel gewonnen und erhält alle vier Knöchel.
b) Beide verfehlen. Dann fängt das Spiel von neuem an.
c) X. trifft sogleich und gewinnt alles.
Der Gewinner lässt, wenn nun das Spiel fortgesetzt wird, 2 der gewonnenen
Knöchel als Einsatz stehen, 2 steckt er in die Tasche. Wer verspielt, muss aus
seinem Vorrat die zwei Satzknöchel liefern.
2. ;Wenn einer der zum Beginn geworfenen Knöchel auf dem tagan steht,
muss sein Besitzer einen Knöchel zusetzen, der seinen Platz rechts oder links von
den vier aufgestellten Knöcheln erhält. Wenn jedoch der Knöchel auf altscha
steht, dann erhält sein Besitzer von dem zweiten Spieler einen Knöchel. Falls
viele spielen, haben alle jedem, dessen Knöchel auf altscha steht, je einen Knöchel
zu liefern.
1) Der Knöchel ist etwa 70 mm weit durchbohrt; es ist gleich, in welcher Richtung
und ob einmal oder mehrfach, ob durchgehend oder nicht. Das Blei erscheint wie ein
eingeschlagener dicker Nagel.
90
Lemke :
2. Ssakamanei.
Auch dieses Spiel ist besonders bei Knaben beliebt. Es können sich viele
daran beteiligen; es seien aber hier nur zwei Spieler gedacht. Die Anzahl der
Knöchel wird vorher bestimmt. Wer anfangen soll, hängt nur von Verabredung
ab; Würfeln findet nur in Streitfällen statt. Es ist nicht üblich, die Wurfknöchel
zur Entscheidung auszuwerfen wie beim Altschaspiel.
Zunächst wird ein etwa ll/2 m im Durchmesser aufweisender Kreis im Sande
gezogen. X. nimmt zwei Knöchel und legt sie genau in die Mitte des Kreises.
Y. legt zwei darüber. ■$. Wenn sehr viele Spieler sind, formt man den Bau
meistens nicht mehr kreuzweise, sondern aufs Geratewohl. In jedem Fall jedoch
wird streng darauf geachtet, dass es die Mitte des Kreises sei. Bei jedem Wurf
soll man —- aus verabredeter Entfernung — nicht nur diese aufgebaute Figur
treffen, sondern es müssen auch allemal Knöchel aus dem Kreise fliegen;
mindestens muss ein Knöchel hinausbefördert werden. Wurde gar kein Knöchel
'hinausgeschlagen', so hat man das Ganze, das wohl etwas oder mehr erschüttert
wurde, wieder aufzubauen, wonach der nächste Spieler an die Reihe kommt. Hat
X. vielleicht zwei Knöchel hinausbefördern können, so steckt er diese in die
Tasche, um dann von der Stelle aus noch einmal zu werfen, wo sein Wurf-
knöchel liegt. Dann zielt er auf die liegen gebliebenen Knöchel. Er kann beide
zusammen treffen. Trifft er aber nur einen, so muss er danach auf den zweiten
zielen. Wenn er keinen trifft, dann zielt Y. nach den zweien. Y. 'schlägt' in
diesem Falle vom Rand des Kreises aus, aber auch wenn nur ein Knöchel von X.
weggeschleudert wurde. Dies geschieht auch, wenn viele Mitspieler und demnach
viele Knöchel sind.
Wenn Y. gewonnen hat, sein Wurfknöchel aber zu weit vom Kreise entfernt
liegt, so benutzt er den vielleicht dem Kreise näherliegenden Wurfknöchel von
X., d. h. er zielt auf diesen, um ihn zu berühren. Durch das Berühren gewinnt
Y. das Recht, seinen Wurfknöchel auf den vom 'feindlichen' Knöchel verlassenen
Platz zu legen und den 'Verjagten' auf den Rand des Kreises zu stellen, um ihn
mit seinem Wurfknöchel dort hinaus und aus dem gesamten Spielbereich zu
treiben. (Vor Beginn des Spieles wird festgesetzt, wie oft dies feindliche Vor-
gehen — es kann nämlich sofort ein paarmal hintereinander ausgeführt werden,
falls der feindliche Knöchel nicht fern genug flog — gestattet sei; gewöhnlich
heisst es: dreimal). Wenn ein getroffener Knöchel (gleichviel wie viele noch
stehen) auf den Rand des Kreises kommt, muss man mit ihm würfeln. Steht er
dann auf altscha oder tagan, so steckt man ihn in die Tasche; steht er auf dschik
oder bug, so legt man ihn wieder in den Kreis. Bei jedem Wurf, sowohl am
Anfang wie mitten drin wie am Ende, muss man sagen: Ich will in den manei
treffen, d. s. die Knöchel innerhalb des Kreises; oder: Ich will in die ssakä1)
treffen, d. i- der Knöchel eines anderen. Der zuerst Werfende kann nur in den
noch unberührten manei werfen.
3. Cidjátechaía.
Von Mädchen und Knaben, meist aber von letzteren, und von beliebig vielen
Parteien gespielt. Wenn man beim Spielen sitzt, spricht man vom'Sitzspiel'. Jeder
nimmt einen, zwei oder mehr Knöchel, die nach Verabredung geworfen werden.
1) Sowohl bei Altscha wie "bei Ssakumanei heissen die Wurfknöchel ssaka.
Kleine Mitteilungen.
91
Altscha ist das höchste und 'nimmt' die dschiks; bei tagan muss ein Knöchel
'aus der Tasche' zugelegt werden; wenn tagan und altscha zusammentreffen, so
heisst es, der Spieler sei gestorben (man drückt sich aber drastischer aus) und
könne nicht weiterspielen.
Berlin. Elisabeth Lemke.
Das ostpreussische Hölzchen- oder Klötzchenspiel.
In dem wertvollen und umfassenden Aufsatze über das Fangsteinchenspiel
(oben 16, 648) erwähnt Frl. E. Lemke u. a. auch das yon ihr als ,polnisch' be-
zeichnete Bierki-Spiel.1) Es ist der gelehrten und um die Volkskunde Ost-
preussens so verdienten Verfasserin dabei auffallenderweise entgangen, dass dieses
Spiel, das eine besonders interessante und nach verschiedenen Richtungen hin
merkwürdige Weiterbildung des alten Knöchelspiels2) darstellt, noch bis vor kurzem
in dem grössten Teile von Ostpreussen ziemlich allgemein üblich gewesen ist, ja
nach zuverlässigen Mitteilungen auch jetzt noch, wenngleich seltener und nur ver-
einzelt auf dem Lande, nach alter Art gespielt wird, auch wo niemals Polen hin-
gekommen sind. So vor 20—30 Jahren nach den Berichten meiner Gewährs-
männer, d. h. vor allem meiner Schüler und Kollegen, namentlich bei Wehlau,
Zinten, Heiligenbeil, Drengfurt und im ganzen Süden der Provinz, noch gegen-
wärtig bei Rössel im Ermlande, in gewissen Teilen Masurens und im ost-
preussischen Oberlande, zumal dem 'Holzlande', d. h. der Gegend der grossen
Wälder im Kreise Osterode.
Ich bin in der Lage, nicht nur nach einem vollständigen Exemplar eines
solchen Spieles vom Jahre 1905 (aus Alt-Marxöwen, Kreis Orteisburg), das der
Osteroder Gymnasialsammlung gehört, unter 1. eine Abbildung der dazu erforder-
lichen Klötzchen in 2/3 Grösse zu geben, sondern auch nach genaueren Ermitt-
lungen über das Spiel selber nachfolgendes zu berichten. Gebraucht werden dazu
in der Regel 19 Paar Hölzchen oder Klötzchen, zusammen also 38 Stück. Eine
wunderliche Zahl, die sich aber sehr einfach daraus erklärt, dass ein Paar
'doppelt gilt', also zusammen 20 Paar gerechnet werden müssen —wahrschein-
lich weil beim Fünfstein spiel meist ja vier Spieler tätig und für jeden derselben
5 Paar gerechnet wurden.3) Eine noch grössere Zahl als 38, wie sie der 'alte
Pole' Frl. Lemke angab, entsprang, wie es scheint, nur persönlicher Liebhaberei
oder willkürlicher Übertreibung, obwohl mir z. B. auch aus Thierberg, Kreis
1) Bierki, Plur. von Bierka, dem I)im. von Biera, bezeichnet ganz allgemein die
Spielsteine, allerdings auch u. a. Schachfiguren, Dainensteine usw. Die Abstammung des
Wortes ist dunkel.
2) Auch im ostpreussischen Oberlande benutzten die Kinder früher mit Vorliebe
beim Fünfsteinspiel gewisse vom Sonntagsbraten gerettete Schwanzwirbelknochen vom
Schöps usw. Jetzt werden namentlich auch zu Knäueln zusammengebundene kugelförmige
Schuh- oder flachrunde hörnerne Hosenknöpfe verwandt.
3) Eine Anlehnung an die 32 Figuren des Schachspieles erscheint weniger wahr-
scheinlich, wenngleich vielleicht ursprünglich bei der Gestaltung einiger Figuren (König!)
auch gewisse Figurenpaare des Schachspieles vorgeschwebt haben mögen. Ob die ver-
einzelt vorkommende Bezeichnung Bauernschach oder Schachtspiel [!] sich auf das
vorliegende Spiel bezieht, war nicht mit Sicherheit zu ermitteln.
92
Schnipp el:
Osterode, wo 'der Hirt, der Knecht und der Kutscher' das Spiel zusammen spielten
(1904!) und der Knecht die Hölzchen selber geschnitzt hatte, berichtet wird, dass
dieser 'immer die ganze Tasche voll' von solchen gehabt habe. Wodurch die
Zahl immerhin beschränkt ist, wird sich unten ergeben.
Wie das Spiel von Kindern sowohl als von Erwachsenen jedes Alters gespielt
wird, so werden auch die Figuren von den verschiedensten Verfertigern hergestellt,
namentlich aber von alten Schäfern, von besonders geschickten Hirten- und Hiite-
1. Hölzchenspiel aus Alt-Marxöwen, Kr. Orteisburg.
jungen, die viel Musse haben, zum Zeitvertreib, aber auch von Mägden, Schul-
kindern usw. Naturgemäss aus den dazu geeignetsten Holzarten, wie sie in der
ostpreussischen Landschaft, zumal im nahen Walde, zur Hand waren. Früher
öfters aus dem Holze des 'Spillbaumes', d. h. des richtigen Spindelbaumes (Euo-
nymus europaeus, auch Pfaffenhütlein genannt), aus dem im benachbarten Russ-
land, z. B. bei Bialystok, noch jetzt die Spindeln gefertigt werden und der nicht
zu verwechseln ist mit der Prunus insititia, deren Früchte auch bei uns 'Spillen'
genannt werden. Dessen Holz ist hart und zäh, aber fest und gut zu schnitzen.
Oft auch aus Weidenholz, das weich und leicht zu bearbeiten und zumal, was
sehr wünschenswert ist, besonders leicht an Gewicht ist, am richtigsten aber aus
dem Haselstrauch! Der 'ist so schön weiss im Holz' und Mässt sich am besten
verzieren', wie auch Abb. 2 zeigt. Die in Abb. 1 abgebildeten, recht rohen
Klötzchen sind freilich aus ganz gemeinem Kiefernholz!
Kleine Mitteilungen.
93
Mit dem Schwinden der Fertigkeit des volkstümlichen Holzschnitzens, das ja
sehr mannigfache Ursachen hat, ist allerdings nunmehr auch das Schnitzen dieser
Hölzchen und damit auch das Spiel selber mehr und mehr geschwunden. Ur-
sprünglich aber wurden die einzelnen Figuren mit einer gewissen Liebe und mit
unverkennbarer Sorgfalt hergestellt und auch verziert, namentlich mit einem boden-
ständigen und originellen Kerbschnitt. Abb. 2, deren Originale aus der Gegend
von Grasnitz, Kreis Osterode, stammen, gibt davon nur eine schwache Vorstellung.
Die vier Seiten jedes Klötzchens mussten jede mit anderen Einkerbungen ver-
sehen werden, und man wetteiferte geradezu in der Erfindung der Muster und in
der Mannigfaltigkeit der Verzierungen in dieser zwar primitiven, aber volkstüm-
lichen Kunstübung.
Ein besonderer alteinheimischer Name des Spieles ist mir bisher noch nicht
vorgekommen. 'Holzkespeel' im Natangschen ist natürlich nur die plattdeutsche
l^orm der modernen 'gebildeten' Bezeichnung. Dagegen haben sehr viele, ur-
sprünglich wohl alle einzelnen Figuren besondere Namen. Denn wie ein Blick
auf Abb. 1 zeigt, sind sie zweifellos zum grössten Teil zurückzuführen auf die
Bilder ganz bestimmter Gegenstände, worauf denn auch eben jene Namen meist
hinzuweisen scheinen — wenngleich es natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass
2. Hölzchenspiel aus Haselholz.
man auch nachträglich nach irgend einer Formenähnlichkeit neue Namen erfunden
hat. Wie die Figuren selber, die ja in ihrer charakteristischen Eigenart mög-
lichst leicht unterscheidbar sein mussten, sich an den verschiedensten Stellen in
überraschend gleichmässiger Form vorfinden, sind denn auch die Namen der
einzelnen Paare überall, wo das Spiel gespielt ward und wird, meist die gleichen
Bisher habe ich die folgenden ermitteln können: König (das mittelste Paar
oben), Herzog, Mann, Weib, Schornsteinfeger, Säge (in runder und eckiger Form,
siehe die am weitesten rechts und links liegenden Stücke), Bock und Stiefelknecht
(das an beiden Enden schräg eingeschnittene und quergekerbte Paar), wobei mir
freilich für manche Bezeichnungen jegliche Erklärung fehlt.1) Die Zahl der Spieler
kann von zwei bis zu acht betragen, meist sind es jedoch nur etwa drei bis fünf.
Dass vier die Normalzahl gewesen zu sein scheint, ist schon oben bemerkt
worden.
1) Nachträglich sind mir noch genannt worden: Kronprinz, Hund, Ziege (danach
vielleicht Kos'chen = Zickleinspiel?), Dach und Halbdach, Stuhl, Mangelholz, einfacher
und doppelter Stiefelknecht, Puppe, Semmel, Stiefel, Brett, Beil, Steckenpferd, Zeiderpfahl
(Frischbier, Ostpreuss. Wtb. unter Tider und zeidern) u. a. — Ein vollständige? doch nur
aus 13 Paaren bestehendes Spiel v. J. 1906, das ich nachträglich aus Thierberg, Kreis
Osterode erhielt und dem Berliner Museum für deutsche Volkstrachten überwies, enthält
folgende Figuren, die mehrfach von den sonstigen abweichen : je zwei 'Suwaden', d. h.
Hexen, die doppelt gelten, Könige, Kronprinzen, Fischer, Hunde, Hündinnen, Bullen, Kühe,
Pferdemähnen, Stampen, d. h. Graupen- oder Grützstampftröge' Stühle, Sägen und Ton-
oder Tombretter, d. h. seitliche Einsatzbretter von Leiterwagen (s. aucl1 Tômbank bei
Frischbier, Wtb.), alles bezeichnend für das ländliche 'Kulturmilieu' der sPieler-
94
Höfler :
Die Spielregel selber ist eine seit alters feststehende und in den verschiedenen
Landschaften wiederum ganz merkwürdig übereinstimmende, so dass man ver-
sucht sein könnte, an einen einzelnen einstigen Erfinder des Spieles zu denken.
Der Kern der Sache ist allerdings auch hier, dass von den mit der Handfläche
emporgeworfenen Klötzchen möglichst riel mit dem Rücken der Hand aufgefangen
werden müssen, doch müssen nun hier stets möglichst viele zusammengehörige
Paare aufgefangen werden. Zunächst wird die Reihenfolge der Spieler festgestellt,
indem jeder von ihnen sämtliche Klötzchen (danach ist Zahl und Grösse der
letzteren eben eine beschränkte!) in die hohle Hand nimmt und möglichst viele
davon mit dem Handrücken aufzufangen sucht. Wer dabei die meisten Paare
aufgefangen hat, beginnt das Spiel, die andern folgen, je nachdem von ihnen mehr
oder weniger Paare erwischt sind. Nun wird in derselben "Weise fortgespielt.
So lange der erste Spieler 'Paare fängt', darf er diese beiseite legen und weiter-
spielen; gelingt ihm ersteres einmal nicht, so hört er auf und der nächste beginnt
in gleicherweise mit allen Klötzchen zu spielen, bis seine Kunst ebenfalls einmal
versagt — und so kommen der Reihe nach alle Spieler heran. Wenn auch der
letzte einmal 'kein Paar gefangen hat', so versucht wieder der erste mit der ver-
ringerten Zahl der Klötzchen von neuem sein Heil und so fort, bis einer sämt-
liche Paare hat ausscheiden können und damit gewonnen hat. Wer alsdann die
wenigsten Paare aufgefangen hat, der hat verloren und wird 'gestempelt', d. h. es
wird ihm die gekerbte Querfläche oder auch wohl die scharfe Kante eines
Klötzchens möglichst fest auf den Rücken der rechten Hand eingedrückt, und das
ist dann, namentlich unter jungen Burschen und Mädchen, der Hauptspass. Dass
um irgend einen ausgesetzten 'Preis' gespielt worden wäre, habe ich nicht er-
fahren.1)
Osterode, Ostpr. Emil Schnippel.
Ein Johannisbaum in den Pyrenäen.
Yon Sr. Exzellenz Herrn General Rathgen erhielt ich beifolgende Photo-
graphie eines Johannisbaumes mit nachfolgenden Begleitzeilen:
Bei der wunderbaren alten Kirche von St. Aventin près Luchon (Pyrénées), in
deren Mauern gallo-römische Votivsteine mit Barbarennamen eingemauert sind
ausser sonstigen römischen Baustücken, fand ich auch einen Johannisbaum.
Eine dicke Tanne, etwa 8—-10 m hoch, deren geschälter Stamm mit dem dünnen
Ende eingegraben ist, während das dickere Ende aus dem Boden herausragt.
Dieser ganze frei aufragende Teil des rindenlosen Holzpfahles ist durch zahl-
reiche, verhältnismässig dünne Längsstreifen, die von unten aus sich abgabein
oder zwieseln, so auseinander zerfasert, zerlegt oder gespalten, dass durch ein-
getriebene Holzkeile zwischen den Längsstreifen in der Mitte oder Achse des
Baumstammes sich ein Hohlraum bildet; diese Längsfasern würden sich nach
1) [Beim Spänchenspiel der Litauer (Tetzner, Die Slawen in Deutschland 1902
S. 87) setzt jeder Mitspieler 5 Kopeken und nimmt dann der Reihe nach die 12 gleich
kleinen und das grössere (Karalus) Holzspänchen in die hohle Hand, wirft sie in die
Höhe, fängt sie mit dem Handrücken auf und wirft die aufgefangenen alsbald wieder
hoch, um sie mit offener Hand aufzufangen. Wieviel Spänchen er aufgefangen hat, soviel
erhält er Kopeken. Der König (Karalus) gilt 2, der König allein 12.]
Kleine Mitteilungen. 95
oben ast- oder fächerförmig auseinander begeben, wenn sie nicht am oberen
Ende ganz oben durch Blumengirlanden zusammengehalten würden, die sich von
unten nach oben hinaufwinden und das zu oberst befindliche Kreuz schmücken.
Der Baum wird am Johannistag feierlich aufgerichtet, bleibt das Jahr über
Johannisbaum aus St. Aventin bei Luchon, Pyrénées.
stehen und wird am Abend vor Johannis feierlich verbrannt. Die Geistlich-
keit nimmt stellenweise an dieser Feier teil. Es soll dies allgemein verbreitete
Sitte sein."
Es handelt sich also um einen Weihnachtsbaum der Sommersonnenwende; vgl.
W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1,244. [Sébillot, Folklore de France 3, 401 f.]
Bad Tölz. Max Höfler.
Zum St. Coronagebet (oben 15, 423).
Schon in meinem 'Jahr im oberbayerischen Volksleben' S. 21 unterm 14. Mai
habe ich angeführt, dass Coronakapellen an Orten mit Schatzsagen sich vor-
finden; dass man in Oberbayern (also nicht bloss in Steiermark und Böhmen) zur
hl. Corona um 99 000 Dukaten gangbare Münze bete und dass eine der drei
heiligen Schwestern Corona lieisst; dazu kann ich nunmehr einige Nachträge
bringen.
In der Nähe von Gai s s ach (Bez.-A. Tölz) stand eine St. Coronakapelle an
der Stelle, wo das Volk Schätze vergraben sein lässt; in der Nähe befinden sich
vorgeschichtliche Gräber, ein 'Hell-Weg', ein 'heiliger Acker'; 1485 wird eine
Wiese ebenfalls in der Nähe dieser eingegangenen St. Coronakapelle 'Schätzelin'
96
Heilig :
benannt; dazu kommt die Sage von kopflosen Gespenstern, vom umgehenden
Landrichter usw. Die dortige Pfarrkirche (St. Michael) bewahrt noch einen Mess-
kelch mit dem wertvollen Emailbilde der spanischen Benediktinerin, wie sie
zwischen zwei Bäumen aufgehängt und auseinandergeschnellt, d. h. durch die
auseinanderschnellenden Bäume zerrissen wird (nach der Legende i. J. 140). Die
Märtyrerkrone machte sie zur 'Schatzmeisterin des Himmels'. Gaissach ist die
älteteste Kirche des Isarwinkels. — Herr Expeditor Stadler in Simbach weiss von
der St. Coronakapelle zu Arget bei Holzkirchen (Oberbayern) zu erzählen, dass
dort der sog. 'Kroanetsschimmel' (Coronaschimmel) umgeht; das beste Fohlen der
Rossherde geht dieser Kapelle zu und verhungert darin (ähnliches wird auch bei
St. Georgskapellen vom Volke behauptet). Ein Schimmel, der vom Gewitter in
die Kapelle getrieben wurde, wehrte dadurch eine Viehseuche ab. — Im nieder-
bayerischen Koppenwahl bei Mainburg ist eine Kirche der hl. Corona, wo die
Leute einen Gürtel aus Bronzeschienen umlegen und durch die Altarmensa
schlufen, die hohl gemauert ist (Deutsche Gaue 1902, Heft 67—68, S. 88. V, 124),
ein uralter medizinischer Ritus. — In Altenkirchen bei Frontenhausen, ebenso
in Dingolfing befinden sich Coronakapellen. — Zu Piain bei Salzburg sind
Aubet, Corona und Bevina die drei heiligen Schwestern. — Nach Angabe des
Herrn Stadler betet man das St. Coronagebet 9 Tage hintereinander und stellt
12 Stühle um einen frischgedeckten Stuhl, um 99 000 Dukaten zu erhalten.
Es knüpft sich nach obigem der Bestand der St. Coronakapellen an Stätten,
welche ehemals germanisch-heidnische Kultorte gewesen sein dürften, in deren
Nähe Begräbnisstätten aus dieser Zeit die Veranlassung zu Schatzsagen gegeben
haben werden.1)
Bad Tölz. Max Höfler.
Badische Yolksbräuche des 17. Jahrhunderts.
I. Wägen der Knaben.2)
Die Speierer Protokollsammlung Nr. 7950 (1026) auf dem Karlsruher
Generallandesarchiv, Liber Visit, gener. Cap. Ruralis Bruchsaliensis de anno 1683,
S. 7 bietet unter Unter-Grombach (Amt Bruchsal) folgende 'Gravamina':
Pessima hic et scandalosa ac superstitionibus plena consuetudo ponderandi
pueros, eos praesertim, qui phtysi consumuntur, his legibus:
1. Puer cujuscunque aetatis et status debet esse plane nudus, ne filuni ei
etiam in crinibus adhaerere, etiam in summo frigore.
2. debet imponi uni lanci in ecclesia parodiali ante medium altaris summi,
3. Alteri lanci debet imponi pondus aequale purissimae siliginis,
4. a custode et non alio debet ponderan,
5. his praemissis verbis:
Gott griisse Euch, ihr edle ritter,
Es kombt zu Euch ein armer Krippe],
Er bittet Euch durch den heiligen Geist,
Ihr wolt ihm von Gott erwerben sein gesunts bluth und fleisch.
Im namen Gott f deß Vaters, des f Sohnes und des f heyligen Geists. Amen.
1) [Coronagebete aus Deutschböhmen sind abgedruckt in der Erzgebirgszeitung 22,
230. 254 und bei A. John, Sitte, Brauch und Volksglaube im deutschen Westböhmen 1905
S. 307f.; vgl. S. 282.]
2) [Vgl. Bartels, oben 135 357—359. Über die Wilsnacker Sündenwage s. Breest,
Märkische Forschungen 16, 149. 1881.]
Kleine Mitteilungen.
97
6. has preces debet ter repetere, et post singulas facere profundam reverentiam
altari.
7. nihil debet hinc exigere certe sedituus, sed relinquere singulorum discretae
voluntati.
8. nudum puerum, ita nudum, tertio debet circum altare circumferre obstetrix
atque post singulas circumgestationes orare unum Pater et Ave in honorem
sanctissimae Trinitatis.
9. postera indutum puerum altari imponere atque una cum puero supra altare
siliginem offerre ac recitare 5 pater et Ave. Quarum ceremoniarum si vel
levifsima omitteretur, nihil omnino proñceret.
10. Praxin hanc modernus Ludimagister didicit a suo parente, 29 annis hujus
loci ludimagistro, atque hic a praetore, praetor a curatoribus, ut modus ille hoc loco ita
inoleverit, ut nec a pastoribus nec ab episcopo [von Speier] a 50 et pluribus annis inde
abstrahi non potuerint, atque jam etiam in ipsa ecclesia, quando nos contra locuti,
publice contra protestati, unde factum, ut qui corbes illas lineo obductas panno,
una cum libra mox sub abituai nostrum in nostra praesentia feeerimus exuri, eos ad
consistorium aut ipsum Em[inentissi]mum remitti pro licentia novae Jancis. Afserentes
offerre pondus agri in siligine etiam centies multiplicatum nos non inhibere
inhibere tantum cuna hisce circumstantijs fieri. Posse proinde eos librare senes
et juvenes in curia ac siliginem in ecclesia offerre, facere in ecclesia nos absolute
nos [lies: non] posse permitiere; posse eos ab altiori accipere potestatem id ipsum
praestandi.....
2. Mailehen.1)
Die Speierer Protokollsammlung Nr. 7952 ebenda (Abschrift von Nr. 7950, doch
vollständiger), Pars II et III Visit. General. Capit. Rur. Marchiae Badensis, "Weiller-
stadt, Bruchsall etc. de anno 1683, S. 173 berichtet:
AdRheinsheim (Amt Bruchsal). Superstitiones hoc loco gliseunt diversae .
Abusus in juventute mit dem lahntgenrufen [= Lehnchen rufen]. Quod fit hoc
modo: Convenit juventus utraque una cum civibus et quotquot possunt domo abesse
ad ingressum in sylvam, ubi duo designati duas ascendunt arbores sibi invicem
respondentes, alijs sub illis haerentibus, fitque hoc loco pridie 8. Georgij [23. April],
quando horum unus altissima voce incipit in hunc modum:
Höret ihr burger vberall,
Wafs gebeutet Euch des Königs hochwürdiger marschall!
Wafs er gebeut, vndt dafs soll sein.
Ex[empli] causa: Hanß Claufsen soll Margreten lois [? loos] buhler sein.
Drei schritt ins Korn, undt drej wieder zurück,
Vber ein jähr gehet es ein braut herauß.
Hac ratione omnibus solutis, tarn viduis quam alijs, suum assignant procum
et saepe non absque gravi laesione famae et causa gravium dissidiorum, imo turpi-
tudinum, cum procus teneatur illam curare in symposijs, saltu etc., illa su° proco
offer[en]te flores.
Ettlingen (Baden). Otto Heilig.
1) [Über die Mailehen oder Mädchenversteigerung vgl. Uhland, Schriften 3, 390.
Böhme, Geschichte des Tanzes 1,153. Erk- Böhme, Liederhort 2, 733. 643. Mannhardt, Wald-
und Feldkulte 1, 449 - 455. Hess. Blätter f. Volkskunde 1, 72. 221 (Lehen ausrufen 1599
im Nassauischen). Schweiz. Archiv f. Yolksk. 6, 195_ zs f. rhein. Volkskunde 2, 317. 0, 248."1
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907
7
98
Mitzschke :
Sagen von Tautenburg.
Das Dörfchen Tautenburg, neuerdings als Sommerfrische viel aufgesucht,
liegt im osterländischen Teile des Grossherzogtums Sachsen-Weimar, wenige Kilo-
meter östlich von der Saale, und ist auf allen Seiten von den bewaldeten Höhen
des Tautenburger Forstes umgeben. Um eine vorspringende hohe Bergzunge, auf
deren Spitze sich die Überreste des alten Schlosses der Schenken von Tautenburg
befinden, hat sich der Ort angesiedelt und dadurch eine charakteristische Huf-
eisenform angenommen. Die stille Waldeinsamkeit ist der Sagenbildung und
Sagenerhaltung günstig gewesen, und so habe ich während eines Aufenthaltes dort
aus dem Munde verschiedener Bewohner eine Reihe von Sagen des Schlosses
und des B^orstes aufzeichnen können, die hier, vermehrt um einige aus der orts-
geschichtlichen Literatur, den Lesern dargeboten seien.
1. Der Bau des Schlosses Tautenburg soll ursprünglich nicht auf seiner
jetzigen Stelle beabsichtigt gewesen sein, sondern südöstlich davon im Porstorte
'Salzkopf'. Es wollte jedoch nicht gelingen, dort etwas aufzurichten, denn so
sehr sich auch die Bauleute mit ihrer Arbeit Mühe gaben, jeden Morgen war ihr
Werk zusammengeworfen und zerstört. Da unterliess man den Bau an dieser
Stelle und führte ihn auf dem Burgberge aus, wo er ohne Anstoss vonstatten ging.
Auf dem 'Salzkopf' aber sieht man noch jetzt zwei wallartige Steinkreise, die von
dem angefangenen Bau herrühren sollen.1) (Mündlich.)
2. Am Milchkeller auf dem Tautenburger Schlosse ward früher oftmals die
Erscheinung einer weissen Frau beobachtet. (Bericht des Amtsverwalters Götz
von 1G98. Vgl. Mitzschke im Naumburger Kreisblatt 1879 Nr. 146 u. 14!), und in
der Zeitschrift des Vereins für thüring. Geschichte n. F. 2, 271.)
3. Im Schlosse Tautenburg traf um 1665 der damalige Ortspfarrer, als er zur
Mitternachtszeit einmal das leere Tafelgemach betrat, zwei grosse brennende Lichter
auf der Tafel an, so dass er „einen trefflichen Schauer" davor bekam. Ungefähr
zu derselben Zeit wurden über diesem Tafelgemache sieben lange Zinnen ein-
gerissen. In einer derselben fand man einen „grossen Klump" von allerhand
Schlüsseln. Seitdem hat es im ganzen Schlosse über ein Jahr lang „kontinuierlich
gespuket und sehr irre gegangen", bis man an Stelle der weggerissenen Zinnen
einen neuen Turm erbaute. (Bericht des Amts Verwalters Götz von 1698. Vgl.
zu Nr. 2.)
4. Der nachmalige Amtsverwalter von Tautenburg, Johann Jakob Götz, spielte
als Knabe um das Jahr 1665 einmal mit seiner Schwester im Schlosshofe zu
Tautenburg am Weinkeller. Als er da die Erde aufgrub, kamen plötzlich die
schönsten Perlen in unzähliger Menge zutage, so dass der ganze Platz weiss aus-
sah. Die Herrlichkeit verschwand aber sehr schnell wieder, als Götzens Schwester
unter lauten Verwunderungsrufen hinzulief. Nur fünf Perlen, die der Knabe schon
ergriffen hatte, wurden erhalten und viele Jahre lang aufbewahrt. An derselben
Stelle des Schlosshofes beim Weinkeller, und ebenso beim sogen. 'Schwarzen
Gewölbe', in dem die Leiche Christians, des letzten Thüringer Schenken von
Tautenburg, 1640—1647 auf der Bahre gelegen hatte, schlug bei verschiedenen
Versuchen 1698 die Wünschelrute, in wessen Händen sie sich auch befand, sehr
heftig auf den Boden. Es wurde daraufhin an diesen Stellen nach Schätzen ge-
graben, aber erfolglos. (Bericht des Amtsverwalters Götz von 1698. Vgl. zu Nr. 2.)
1) Wahrscheinlich die Stätte, auf der vorzeiten das Gericht für clie Umgegend gehegt
wurde. Vgl. Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler des Amtsgerichtbezirks Jena 1888 S. 206.
Kleine Mitteilungen.
99
o. Vom Schlosse Tautenburg soll ein unterirdischer Gang nach drei Häusern
am Fusse des Schlossbero-es, ein anderer bis zum Nachbardorfe Frauenpriessnitz
geführt haben. (Mündlich. _ Stölten, Wanderfahrt nach Dornburg und Tautenburg
:S. 32 = 2. Aufl. S. 36.)
6. Als das alte Bergschloss Tautenburg 1780 niedergelegt ward, versenkte
man, wie die Sage berichtet, drei goldene Glocken, die sich dort befanden, in den
tiefen Brunnen und schüttete diesen zu. In stillen Sommernächten hört man seit-
dem oftmals leises Glockengeläute aus dem Schlossberge hervordringen. Ein
armer Ortsbewohner, der nach den goldenen Glocken grub, wurde durch das
stärker und stärker werdende Geläut von seiner nächtlichen Schatzgräberei verjagt.
(Mündlich. — Stölten, Wanderfahrt S. 32 = 2. Aufl. S. 36.)
"<• Im Forstorte 'Rod', zwischen Dorndorf und Tautenburg, ist es nicht recht
geheuer. Häufig haben Wanderer, die zur Nachtzeit dort durchgegangen sind, ein
Licht wie das einer Laterne über dem Boden schweben sehen. Das Licht bewegt
sich hin und her, bald ist es mehr unten, bald erhebt es sich bis zu 3 m Höhe
über den Boden. Es begleitet die Wanderer in der Richtung nach dem Forstorte
'Toter Mann' zu. Ein Forstbeamter, der mit seiner Tochter einmal spät am Abend
die Stelle passierte, sah die Erscheinung auch und ging mit dem Gewehr darauf
zu, aber ehe er das Licht erreichen konnte, war es erloschen. Yon Sachver-
ständigen ist die Stelle bei Tage nach phosphoreszierenden Stoffen abgesucht
worden, ohne dass etwas zu entdecken gewesen wäre. Andere Leute haben bei
späten Wanderungen durch das 'Rod' und weiterhin durch die 'Schetteln' bis in
die Nähe von Tautenburg etwas Geheimnisvolles, Unnennbares, Geisterhaftes ge-
spürt, das immer dicht neben ihnen einherschwebte. (Mündlich.)
8. Einstmals stand ein Forstaufseher zur Abendzeit im Forstort 'Unterer
Steinweg' bei Tautenburg auf dem Anstände, um wilde Kaninchen zu erlegen.
Plötzlich erhob sich wenige Schritte von ihm entfernt wie aus dem Boden hervor-
gezaubert die Gestalt eines weissen Mannes und blieb unbeweglich stehen. Tödlich
erschrocken zuckte der Aufseher zusammen, aber nach kurzer Zeit war die weisse
Gestalt wieder verschwunden. Auch andere Leute aus der Umgegend sind an
derselben Stelle durch die gleiche Erscheinung in Schrecken versetzt worden.
(Mündlich.)
9. Aus der oberen Öffnung der hohlen 'alten Eiche' am Forstorte 'Tongruben'
südwestlich von Tautenburg sieht man zuweilen in den heissen Mittagsstunden
den Kopf und Oberkörper eines schönen blondlockigen Knaben hervorragen, der
in jeder Hand einen Tonziegel hält. Die Erscheinung ist immer nur von kurzer
Dauer. (Mündlich.)
10. Die Zietschkuppe am Südende des Tautenburger Forstes oberhalb des
Dorfes Löberschütz soll vorzeiten eine heidnische Opferstätte gewesen sein.
(Stölten, Wanderfahrt S. 43 = 2. Aufl. S. 48.)
11. Ein alter Kreuzstein1) im gleichnamigen Forstorte bei Tautenburg be-
zeichnet, wie die Sage will, den Punkt, auf dem vorzeiten zwei Jäger einander
erschossen haben. Nach anderer Erzählung liegen dort Offiziere mit ihren Soldaten
begraben. (Mündlich.)
12. Am Vogelgrunde, der sich südostwärts von Tautenburg im Walde hin-
zieht, liegt unmittelbar vor dem Dorfe der Forstort 'Kriegsgründchen'. Es soll in
diesem Namen die Erinnerung an Kämpfe und eine Belagerung des Schlosses ums
1) Eine Abbildung des Steines bei Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler des Aints-
gerichtsbezirkes Jena S. 206.
100
Stratil :
Jahr 1180 fortleben. Über die auffällige Benennung des angrenzenden Forstortes
'Heiliges Grab'1) hat sich keine volkstümliche Überlieferung erhalten. (Stötten,
Wanderfahrt S. 24 = 2. Aufl. S. 27.)
13. In glühend heisser Sommerszeit weidete einmal ein Schäfer seine Herde-
im 'Sperbergrunde' des Tautenburger Forstes. Weit und breit gab es kein Wasser,
und die Schafe waren schon dem Verschmachten nahe. Da griff der Hirt mit der
Hand an ein felsiges Gestein und sagte: „Ach wollte doch Gott aus diesen Steinen
Wasser für meine armen Schafe fliessen lassen!" Und siehe, sogleich sprudelte
aus dem Gestein ein dünner Quell, an dem die Schafe ihren Durst löschen konnten.
Dieser Waldquell he.isst das 'Sperberbörnchen'. Er steht trotz seiner geringen
Wassermenge im Rufe der Unversiegbarkeit. Als in dem überaus dürren Sommer
1842 alle Quellen der Umgegend vertrockneten, soll das 'Sperberbörnchen' sein
Wasser unverändert weiter gespendet haben. (Mündlich.)
Weimar. Paul Mitzschke.
Volkslegenden aus dem Böhmerwald und dem Kuliland.
1. Die Mutter des heiligen Martin.2)
Die Mutter des heiligen Martin war eine grosse Sünderin. Sie wurde nach
ihrem Tode in den äussersten Abgrund der Hölle Verstössen und litt grosse Pein.
St. Martin aber betete so inständig für seine Matter, dass Gott sie bei jedem
Gebete des Sohnes im Höllenschlunde ein Stückchen emporschweben liess. Bald
konnte St. Martin wahrnehmen, wie sie, die Hände gefaltet, immer näher kam.
Doch an den Saum ihres Kleides hatten sich ein paar arme Seelchen angehängt,
um mit ihr der Erlösung teilhaftig zu werden; und wie die Mutter dies bemerkte,
löste sie die gefalteten Hände und streifte die Seelchen vom Rocksaume ab, so
dass sie traurig in die Hölle zurückflatterten. Die Sünderin glaubte jetzt leichter
emporsteigen zu können; aber sie fiel alsbald mit entsetzlichem Gepolter zurück
in den Abgrund. — (Erzählt von J. Bäuml in Konraditz.)
2. St. Peter und Nährvater Joseph.
St. Peter hat, wie bekannt, die Torschlüssel des Himmelreiches. Er ist für
die Eingelassenen verantwortlich und nimmt sein Amt sehr genau. Trotz seiner
Pünktlichkeit bemerkte man einst verdächtige Gestatten vor dem Throne Gottes.
Petrus kannte sie nicht; er hatte sie nicht hereingelassen. Darob grosser Aufruhr
in des Himmels Höhen. Wie kamen die Unwürdigen herein? Ein flatterndes
Engelchen konnte Auskunft geben: Nährvater Joseph kann auch im Himmel sein
Handwerk nicht lassen, und in seiner mürrischen Weise hat er sich ein Pförtchen
gezimmert, ohne es jemand zu melden. Während der Arbeit waren nun einige
arme Seelen durch die Öffnung hineingeschliipft, ohne dass St. Joseph, in seine
Arbeit vertieft, es bemerkt hätte. Jetzt ist das Pförtlein wohl fertig, und kein
Unwürdiger darf hinein; denn nur St. Joseph und die Gottesmutter haben den
Schlüssel. — Aber der Himmelspförtner fühlte sich gekränkt und stellte den
heiligen Joseph zur Rede: er allein habe die Schlüssel, kein anderer dürfe das
1) Yon der Wallfahrt eines Schenken von Vargula - Tautenburg nach dem heiligen
Grabe berichtet eine Sage bei Witzschel, Ragen aus Thüringen 2, 48 Nr. 42.
2) [Dasselbe wird sonst von der Mutter des h. Petrus erzählt; vgl. R. Köhler, Auf
sätze über Märchen und Volkslieder 1894 S. 50.]
Kleine Mitteilungen.
101
Himmelreich öffnen, und das neue Pfortlein müsse verrammelt werden. Doch da
kam er schön er an. _ Wenn ihr mir mein Pförtlein nicht lasset, so nehme ich
meine Braut und das Jesukind und wandere zum zweiten Male nach Ägypten,"
murmelte St. Joseph in seinen Bart. Bestürzt zog sich Petrus zurück; denn was
wäre das Himmelreich ohne die Königin mit dem Jesusknaben! So blieb das
Pförtlein bestehen. Und wer durch das grosse Himmelstor sich nicht traut aus
Angst vor dem zornmütigen Petrus, vertraut sich der Bimmelskönigin oder dem
heiligen Joseph an. Sie gewähren noch heute Einlass, allerdings nach genauer,
doch milder Prüfung. — (Aus dem Kuhland).
3. St. Anton der Nothelfer im Himmelreiche.1)
Die durch St. Joseph Eingelassenen betrugen sich in der himmlischen Gesell-
schaft ganz sittsam, so dass sie bleiben durften, obwohl sie Petrus früher durchaus
hinausbringen wollte. Aber nach der Hede St. Josephs verflog seine Hitze gerade
so wie damals, als der Herr gebot: „Stecke dein Schwert in die Scheide!" und
mit der Zeit beruhigte er sich ganz.
Einer jedoch war nicht zu brauchen in des Himmels Räumen. Es war ein
Jude, und nach seiner Erdengewohnheit blieb er nicht bloss beim Bewundern und
Betasten der goldenen Stühle und Einrichtungen des Himmels stehen, sondern er
schabte auch gern ein bisschen Gold ab, wenn er sich unbemerkt glaubte. Obwohl
schon einige Male verwiesen, setzte er seine Gepflogenheit bald wieder fort; ja
selbst der Goldschaum der Engelsflügel und der Thron Gottes war vor ihm
nicht sicher. Alles klagte über die Unart; doch einen Gewaltstreich wagte
niemand aus "Rücksicht für den gütigen Nährvater. In Güte ging aber der Ein-
dringling nicht.
Da klagte Petrus dem heiligen Antoni seine Not. „Wir werdens schon
machen," war des Findigen Rede. Schnell war die grosse Trommel zur Hand,
(St. Antons Lieblingsinstrument, weil sie nur „an Ton" hat), und lustig fing er
an zu musizieren, dass bald das ganze Himmelreich auf den Beinen war. „Was
ist los?" fragte jeder. „Vor dem Himmelstore heute nachmittags 1 Uhr grosse
öffentliche Lizitation von im Himmelreiche abgebrauchten alten Gold- und Wert-
sachen!" rief St. Anton und eilte weiter mit der Kunde. Jeder lachte, keiner aber
wusste dies zu deuten. Doch der Erfolg blieb nicht aus. Zu St. Peter kam der
Jude und bat flehentlich: „Lass mich auf ein Stündchen hinaus! Kann doch ein
Geschäft nicht versäumen." Flugs war die Tür offen, der Jude draussen; aber
herein kam er nicht mehr, weder durch die Türe noch durch die Pforte. — Und
wer auch an Maria und Joseph sich nicht wagt, der versuche es getrost beim
heiligen Antoni; denn er wirds schon machen.
4. St. Anton und der Regimentstambour.
Ein Regimentstambour hatte bei seinen Musikproben die üble Gewohnheit,
bei dem kleinsten Fehler seiner Kapelle zuzurufen: „St. Peter! du Schafskopf,
fis, fis!" oder „Marand-Joseph, .sancta simplistas, pianissimo!" Doch wenn bei
der Generalprobe alles klappte, so pflegte er zu sagen: „Gott sei Dank und Anton
von Padua — ist gut." All dies wiederholte sich viele, viele Male, ersteres
natürlich mehr bei der Rekrutenabrichtung, letzteres im Verlaufe des Jahres.
Endlich starb der Regimentstambour und wurde mit allen militärischen Ehren
begraben. Als er nun zum Himmelstor kam, ohne an seine Beleidigungen des
1) [Vgl. R. Köhler, Aufsätze S. 55f.]
102
Stratil :
Himmelspförtners zu denken, öffnete St. Petrus bloss das Schiebfensterchen und
rief: „Na, na, so ein Schafskopf bin ich nicht, dass ich dich jetzt noch in den
Himmel einlasse." Aber der Tambour liess sich nicht abschrecken, sondern ging'
mit dem bestürzten Murmeln: „Sancta simplicitas!" zur Pforte des hl. Joseph.
Doch auch dieser sah ihn scheel an und sagte: „Eine so heilige Einfalt bin ich
auch nicht, dass ich dir öffne." — „Hl. Anton yon Padua, ist gut," meinte der
entschlossene Soldat, „ich gehe auf die grüne Wiese zu den Juden und Un-
getauften." Doch Anton von Padua hatte ihn gehört. Solch einen Verehrer
mochte er im Himmelreiche nicht missen; flugs nahm er seine grosse Trommel,
ging vors Himmelstor, und bald wurden die beiden Musiker handelseins. Ein
Trommelfell wurde abgeschraubt und, nachdem der Tambour hineingeschlüpft,
notdürftig wieder geschlossen. Keuchend kam St. Anton mit der schweren
Trommel ins Paradies zurück und liess dort den fast Atemlosen wieder heraus.
Seitdem hört man die Trommel St. Antons bei starkem Gewitter ganz besonders
wohlgestimmt erklingen; und das ist das Verdienst des Regimentstambours im
Himmelreiche.
Ein hübsches, aber wählerisches Mädchen, das, nachdem es manchen Korb
ausgeteilt, zum Schluss sitzen geblieben war, wandte sich in seiner Not an den
heiligen Anton, der in der Ortskirche nicht nur ein schönes Altarbild, sondern
auch eine lebensgrosse Statue auf hohem Sockel hatte. Oftmals zündete sie hier
ein Kerzlein an und betete laut und inbrünstig: „Heiliger Antoni, du Kirchen-
patron, führ mich in den Himmel; doch zuvor gib mir an Mon!"
Lange war ihr Flehen umsonst. Endlich fiel dem Kirchendiener, einem
hinkenden Witwer, die demütige Frömmigkeit des Mädchens auf. Neugierig stellte
er sich hinter den starken Sockel und vernahm da ihr lautes Gebet. Schnell ent-
schlossen übernahm der Kirchendiener die Stelle des schweigsamen Heiligen und
murmelte feierlich: „Habe nur noch einen Witwer zu vergeben!" dass es im
leeren Kirchenraume wie eine Stimme von oben klang. Sprachlos stand die Magd
und sah sich scheu um. Doch da sie niemanden gewahrte, rief sie schnell ge-
fasst: „Ok nur an Moa, a Mandle, a süsses Stück vo an Mandle!" Da trat der
Kirchendiener rasch hervor, umarmte die Betroffene, und das Paar wurde bald
einig.
Ein Bauer war ohne Beichte und letzte Ölung gestorben. Da er sonst recht
und schlecht gelebt hatte, verlangte er Einlass in den Himmel. St. Petrus fragte
nach dem Beichtzettel. „Es ging nicht," sagte der Bauer, „der Tod kam zu schnell."
Da es aber ohne Nachlass der Sünden unmöglich ist, ins Himmelreich einzugehen,
rief St. Petrus ein Engelchen, das einen Priester aus dem Himmel zum Beicht-
hören holen sollte. Bald kam dieses zurück: „Es ist keiner zu finden."
St. Peter war darüber erstaunt, wollte aber die Vorschrift nicht übertreten,
und traurig zog der biedere Landmann weiter. Am Pförtchen sassen aber Maria
und Joseph; die hatten einst auf der Reise nach Jerusalem und Bethlehem bei
einem Bauer im Stalle Unterkunft gefunden, darum riefen sie den armen Land-
mann freundlich herbei und hiessen ihn eintreten.
1) [Vgl. die Anmerkung zu Val. Schumanns Nachtbüchlein 1893 Nr. 92 und Frey,
Gartengesellschaft 1896 S. 284.]
2) [Vgl. Merkens, Was sich das Volk erzählt 2, Nr. 38. 1895.]
5. Die Beterin vor St. Antons Bild.1)
6. Noch etwas von St. Petrus und St. Joseph.2)
Kleine Mitteilungen. 103
7. Der Schneider im Himmel.1)
Ein Schneider kam zum Himmelstor. St. Petrus aber wollte ihn nicht ein-
lassen und verstattete ihm auf vieles Bitten nur, durch die halbgeöffnete Himmelstür
zuzusehen, wie Gott Vater, von den heiligen Engeln begleitet, einen Umzug im
Himmel hielt. Wie nun St. Peter die schuldige Reverenz machte und nicht auf
den Schneider achtete, schlüpfte dieser eilig durch die Torspalte in den Himmel,.
was ihm bei seiner Schlankheit keine grosse Mühe machte. Im Himmel an-
gekommen, bewunderte der Eindringling die Herrlichkeiten. Zuletzt blieb er beim
goldenen Thronsessel des Himmelsvaters stehen und setzte sich keck darauf.
Sogleich nahm er alles wahr, was auf Erden vorging. Unter anderem bemerkte
er auch seinen Nachbar, der über den Zaun stieg, um aus des Schneiders Garten
Kraut zu stehlen. Da fasste diesen der Zorn. Doch sein Hufen war vergebens;
so weit reicht eine Menschenstimme nicht. Nun suchte er nach einem Stein, um
nach dem Diebe zu werfen, fand aber keinen. In seinem Grimme fasste er den
goldenen Pussschemel vor dem Gottesthrone und schleuderte ihn auf die Erde
hinab.
Kaum war dies geschehen, so packte ihn die Furcht, und er versteckte sich
hinter dem Throne, um so mehr als er Gott den Herrn selbst nahen sah. Dieser
wollte nach dem Umgange wieder ein wenig auf dem Thron ausruhen und zu-
gleich die Welt übersehen und bemerkte alsbald das Fehlen der Schemelstufe.
Da niemand wusste, wohin der Schemel gekommen, so wurde St. Peter gerufen,
ob er nicht Auskunft wisse. Mit Schrecken erinnerte sich der Himmelspförtner
des Schneiders, ob der sich nicht eingeschlichen und die Untat vollführt hätte.
Bald war der Missetäter entdeckt und dem Herrn vorgeführt. Zitternd gestand
der Arme seinen Zorn und die darauf folgende übereilte Handlung. Gottvater
aber sagte ihm hierauf nur mild verweisend: „Wenn ich bei jedem 'Petersfleck',
den du in deine 'Hölle' gesteckt hast, etwas vom Himmel hinabgeworfen hätte, so
wäre wohl schon das ganze Himmelreich ausgeräumt."
8. Der Schuster im Himmel.2)
Auch ein Schuster kam zum Himmelstor. Umsonst war sein Bitten um
Einlass, da er manches auf dem Gewissen hatte; aber er bat so flehentlich, dass
der Himmelspförtner ihn endlich durch die halbgeöffnete Tür in die himmlische
Herrlichkeit hineinsehen liess. Voll Erstaunen oder mit Absicht liess der Schuster
seinen runden dreibeinigen Sessel, von dem er sich selbst auf der weiten Reise
nicht hatte trennen können, durch den Torspalt in den Himmel hineinrollen. In-
ständig bat er jetzt St. Petrus, ihm sein Eigentum wieder herauszugeben. Dieser
jedoch wollte den mit Pech und Schusterpapp beschmierten Sessel nicht in die
Hand nehmen und sagte: „Hol dir ihn selbst und schau, dass du weiter kommst!
Den Dult kann man bei uns nicht gebrauchen." Mit einem Satz war der Schuster
im Himmel und setzte sich auf seinen Stuhl. „Wirst du bald hinausgehen," rief
erbost Petrus; aber Meister Pech schrie frohlockend: „Ich sitz auf meinem Eigen-
tum, ich sitz auf meinem Eigentum." Und da ihn niemand anzurühren wagte
aus Furcht, sich mit dem Pech die Finger zu beschmieren, blieb der Schuster im
Himmel sitzen.
1) [Vgl. Grimm, KHM. 35. Frey, Garteno-esellschaft 1896 Nr. 109. Wickrams
Werke 0, 392 zu Nr. 110.]
2) [Vgl. R. Köhler, Aufsätze S. 54. 59.]
104
Stratil, Richter:
9. St. Petrus und der Reitersmann.1)
Ein Reitersoldat (der Sage nach soll es sogar der berühmte Preussenkönig
Fritz gewesen sein) sprengte lustig auf der Landstrasse einher, obwohl er nur
3 Böhm (böhmische Groschen) in der Tasche hatte. Da lag im Strassengraben
ein Rettier, der betete so andächtig, dass der Reiter ihm einen Böhm zuwarf und
fröhlich weiterritt. In kurzer Zeit bemerkte er wieder einen Bettler, der noch
bedürftiger schien. Gutherzig warf ihm der Reiter den zweiten Groschen zu, er
selbst werde sich mit dem letzten schon zurecht finden. Aber bald darauf traf er
nochmals einen Bettler, der ihm so elend vorkam, dass er ihm mitleidsvoll den
letzten Böhm opferte. Freilich hatte er nun eine weite Strecke zurückzulegen und
war ohne Wegzehrung. Zu seinem Staunen hielt ihn der Bettler an und sprach:
„Ich bin der erste, der zweite und der dritte Bettler in einer Person und habe
dich nur angesprochen, um dein Herz zu prüfen; denn ich bin der heilige Petrus.
Zum Lohne für das gute Herz, das du bewiesen, sind dir drei Wünsche gewährt.
Wünsche dir also etwas!" Der Reiter sagte: „So wünsche ich mir eine Pfeife
Tabak." Sogleich fühlte er die dampfende Pfeife zwischen seinen Lippen. Petrus
aber sprach: „Wie du siehst, ist dein erster Wunsch schon erfüllt. Wünsche dir
etwas anderes, besseres!" Flott wünschte der Reiter ein Kartenspiel. Auch
dieser Wunsch ward prompt erfüllt. „Nun den dritten Wunsch," rief Petrus,
„vergiss aber das Beste nicht!" Ohne lange zu zögern, wünschte Fritz sich einen
Sack, der alles festhalte, was er hineinwünsche. Im Nu hing der Sack am Sattel,
der Bettler aber war verschwunden.
Sorglos trabte der Reiter fort, bis es Abend wurde. Da kam er in einen
dichten Wald, doch nirgends war ein Unterkunftsort zu sehen. Er kletterte des-
halb auf einen hoben Baum und hielt Umschau. Richtig sah er in der Perne ein
Licht. „Auf das musst du zugehen!" dachte er, und um die Richtung nicht zu
verfehlen, warf er seinen Hut gegen den Lichtschimmer vom Baume herab.
Unten angekommen, hob er den Hut auf und ritt in der Richtung weiter, bis er
zu einer alten Burg kam. Mit Mühe fand er in dem verfallenen Gebäude das
Gemach, in dem das Licht brannte, und bemerkte dort einen Tisch, einige Stühle
und eine annehmbare Lagerstätte. Nun band er sein Pferd an und kaute dann
an seinem Brote. Da sprangen plötzlich drei Teufel herein, die ihn angrinsten
und aufforderten, mit ihnen Karten zu spielen. „Gut," sagte er furchtlos, „aber
ich spiele nur mit meinen Karten." So setzten sich die Spieler, und Fritz gewann
mit den Karten des heiligen Petrus fortwährend, bis die Teufel unwillig wurden
und mit ihm zu balgen anfingen. Schon war er nahe daran, zu unterliegen, als
er ausrief: „Marsch in meinen Sack!" Sogleich staken die Teufel drinnen; der
Reiter band den Sack zu und bearbeitete ihn nach Herzenslust mit Fäusten und
Füssen, mit Säbel und mit Sporen, bis die armen Teufel um Gnade baten. Da
öffnete er den Sack, und die Teufel fuhren voller Beulen, zerstossen und zerkratzt
eilends zur Hölle. Fritz legte sich nieder und gelangte des anderen Morgens
wohlgemut wieder unter Menschen und glücklich an seinen Bestimmungsort. Dann
lebte er fleissig bei seinen Geschäften in den Tag hinein.
Eines Tages klopfte ihm'der Tod auf die Schulter und sprach: „Komm mit!"
„Warte ein bisschen," sagte Fritz, nich muss mir noch meinen Sack holen."
Kaum hatte er diesen gefunden, als er rief: „Marsch hinein!" Alsbald lag auch
schon der Tod im zugebundenen Sack in einem Winkel. Natürlich konnte jetzt
1) [Vgl. Grimm, KHM. 81. Köhler, Aufsätze S* 61. Bolte, Zs. f. dtsch. Phil. 32,
369. Oben 16, 991.]
Kleine Mitteilungen.
105
niemand mehr sterben, und es wurden bald soviel Menschen auf der Erde, dass
einer neben dem anderen kaum stehen konnte. Die damit verbundene allgemeine
Not ging Fritz zu Herzen; er erinnerte sich des gefangenen Todes und gab ihn
wieder frei. Sogleich brach eine furchtbare Seuche aus, und alles starb, was
während der Gefangenschaft des Todes demselben hätte anheimfallen sollen; Fritz
aber blieb am Leben, weil sich der Tod an ihn nicht heranwagte. Da er aber
jetzt allein dastand ohne Freund und seinesgleichen, wurde er des Lebens über-
drüssig. Er erinnerte sich seines guten Freundes, des heiligen Petrus, sattelte
seinen Schimmel und ritt zur Himmelstür. Petrus aber wollte ihn nicht einlassen.
„Habe ich dir nicht gesagt: Vergiss das beste, die Seligkeit, nicht! Jetzt kann
ich dir nicht helfen," sagte der Heilige und schlug die Himmelstür zu. Ent-
schlossen wanderte nun Fritz der Hölle zu. Dort aber hielten gerade seine drei
leuiel Wache. Kaum hatten sie ihren Mitspieler erblickt, so flog die Höllen-
pforte dröhnend zu. Sie fürchteten eine neue Auflage der Prügel und hatten doch
die alten noch in zu guter Erinnerung.
Traurig ritt Fritz zu St. Petrus zurück. Dieser wollte abermals nicht öffnen.
Da jedoch gerade ein Zug selig Verstorbener nahte, musste er diesen doch das
Himmelstor aufmachen. Jetzt gab der alte Soldat kurz entschlossen seinem
Schimmel die Sporen und sprang über die Köpfe der Eintretenden und den
heiligen Petrus selbst mitten in das Himmelreich hinein.
Fulnek. Domitius Stratil.
Die schönste der Feen.
Rumänisches Märchen.1)
Es war einmal ein grosser, mächtiger Kaiser, der hatte drei Söhne. Als sie
erwachsen waren, zerbrach er sich den Kopf, wie er es mache, sie glücklich zu
verheiraten. Kann sein, dass er einmal nachts ein Gesicht hatte; morgens
berief er seine Söhne; sie bestiegen die Warte eines Turmes, der im Garten stand.
Jeder der Söhne musste Pfeil und Bogen nehmen und schiessen. „Schiesst,"
sagte der Kaiser, „und wohin der Pfeil eines jeden fällt, dort ist sein Glück."
Die Söhne unterwarfen sich ohne viel Widerrede; denn sie waren überzeugt,
dass der Vater wüsste, was er spreche. Sie schössen, und der Pfeil des ältesten
Sohnes blieb im Hause eines benachbarten Kaisers hängen, der des zweiten im
Hause eines mächtigen Bojaren des Kaisers; aber der Pfeil des jüngsten erhob
sich in den hohen Himmel. Sie verrenkten sich die Hälse, ihm nachzusehen,
nach und nach entschwand er ihren Augen. Endlich sahen sie ihn herabfallen
und in einem hohen Baume stecken bleiben, der in einem grossen Walde stand.
[Die beiden älteren Söhne ziehen aus, jeder holt sich eine schöne Braut und
kehrt mit ihr heim.]
1) Übersetzt aus P. Ispirescu, Legende sail basmele Româniloru 1882 S. 211—218:
'Dîna Dîneloriï'. Wörtlich bis auf drei gekürzte Stellen, die durch Klammern kenntlich
gemacht sind. — [1- Pfeile, von den heiratslustigen Prinzen abgeschossen (R. Köhler,
Kleinere Schriften 1, 319. 554). — 2. Tierhaut der Braut verbrannt (R- Köhler 1, 379). —
3 Der Jüngling sucht die entschwundene Fee unc\ nimmt streitenden Lrben mehrere
Wunschdinge fort (R. Köhler 1, 308: Liombruno). _ 4. Unsichtbar weilt er im Palast
der Fee (R. Köhler 2, 409. 412).]
106
Richter:
Auch der jüngste zog aus. Er durchmass die Welt, bis er zu dem grossen
Walde kam, wo sein Pfeil hängen geblieben war. Er tappte durch den dichten Wald
und stiess endlich auf den Baum, wo sein Pfeil steckte. Dieser Baum war hoch und
dick und alt, aus der Zeit, als Gott die Welt erschuf. Er kroch hinauf, bis es
ihm gelang, sich an einen Zweig zu hängen. Und nun gings von Zweig zu
Zweig, bald an den Händen, bald an den Füssen hängend, bis in den Wipfel.
Dort streckte er die Hand aus und nahm seinen Pfeil. Yoll Trauer und Sorge in
der Brust kam er unten an, bei dem Gedanken, dass er ohne alles Glück bleibe,
denn das, meinte er, hätte er doch in dem Baume finden sollen. Nicht genug, dass
er dort nicht sein Glück gefunden hatte, nicht genug, dass er einen solchen AVeg
umsonst zurückgelegt hatte, es ereignete sich noch, dass als er sich von dem Baume
entfernen wollte, eine Eule sich an seinen Rücken klammerte. Hupp! hinauf, hupp!
hinunter zuckte er mit den Achseln, damit die Eule ihm vom Rücken gehe, um-
sonst. Sie hakte sich an ihn, die Teufelin, mit Krallen wie ein verzauberter
Häher und liess auch nicht einen Augenblick locker.
Wieder drehte er sich und wendete er sich, dass er sich vor dieser Unannehm-
lichkeit rette, aber umsonst. Da er sah, dass es so war, entschloss er sich, nach
Hause zu gehen mit der Hexe auf dem Rücken, und begab sich auf den Weg. Unter-
wegs bemerkte er auch, dass andere sechs Eulen sich hinter ihm hielten. Er
ging, der Ärmste, mit dem Gefolge auf den Fersen und gedachte wenigstens nachts
nach Hause zu kommen, damit er nicht auch noch den Gassenbuben zum Spotte
werde. Als er in seine Kammer eintrat, setzte sich jede Eule irgendwo hin, aber
die siebente, die ihm auf dem Rücken gehockt hatte, setzte sich in sein Bett.
Wieder stand er, der arme Wicht, dachte und überlegte und dachte, und
schliesslich kam er zu dem Entschlüsse, es gehen zu lassen, es werde daraus,
was werden wolle, um so mehr da er sich von der Hexe auf seinem Rücken
befreit sah.
Und da er von Müdigkeit ganz gebrochen war nach einer solchen Wanderung
und nach all dem Merkwürdigen, was sich unterwegs begeben hatte, schlief er,
kaum dass er nur den Kopf senkte, als ob er mit dem Kopfe in eine Kante ge-
fallen wäre.
Am nächsten Tage, was sehen seine Augen? Neben ihm im Bette eine so
schöne Fee, dass bei ihrem Anblick jeder verstummt, er sei, wer er sei. Aber
zu Häupten des Bettes waren sechs Dienerinnen, eine schöner als die andere.
Ferner sah er in einem Winkel des Gemaches sieben Eulenhäute, eine über die
andere geworfen.
[Der älteste Bruder heiratet, der jüngste erscheint allein auf der Hochzeit,
da die Fee nicht mitkommt.]
Plötzlich überraschte sie ihn und reihte sich neben ihn in den Tanz. Er
kannte sich nicht vor Freude, *ds er sie sah. Er durfte wahrhaftig prahlen;
im ganzen Kaiserreiche und dem der Nachbaren fand man nicht ihresgleichen.
Alle Hochzeitsgäste waren wie geblendet; die anderen Kaisersöhne und die
Herren, die zur Hochzeit geladen waren, umlagerten die Dienerinnen, die mit der
Fee gekommen waren, und jeder bemühte sich, an ihrer Seite zu tanzen. So
unterhielten sie sich bis zum Abend. Bei Tische setzte sich die Fee neben den
jüngsten Sohn des Kaisers. Sie assen und belustigten sich bis Mitternacht. Dann
ging jeder nach Hause. Der jüngste Sohn des Kaisers ging in sein Gemach. Die
Fee hinter ihm. Sie legten sich nieder und schliefen wie richtige Kaiser. Als er
morgens aufstand und die Eulenhäute da liegen sah, ergriff ihn ein Zittern vor Ekel
bei der Vorstellung, was sie in ihnen leiden müsste.
Kleine Mitteilungen.
107
[Auch die Hochzeit des zweiten Sohnes wird gefeiert; der jüngste kommt
wieder allein. Die Fee taucht plötzlich wieder zum Tanze auf.]
Sein Herz schlug höher vor Freude und Stolz, besonders als er sah, dass den
anderen Kaisersöhnen und Herren das Wasser im Munde zusammenlief nach
einem solchen Bissen. Sie mussten sozusagen die Erdbeeren stehen sehen und
die Blätter essen. Sie machten ihrem Unmut Luft, indem sie mit den Dienerinnen
tanzten. Abends setzte man sich wieder zu Tisch.
Der jüngste Sohn des Kaisers (der Teufel legt es ihm in den Sinn) steht vom
Mahle auf, geht in sein Gemach, nimmt die Eulenhäute und wirft sie ins Feuer.
Dann kommt er und setzt sich wieder zu Tische.
Auf einmal entstand eine Bestürzung unter den Tischgenossen. Und das war
es: Eine der Dienerinnen rief: „Herrin, wir sind in Gefahr!" Die andere sagte:
„Herrin, mir riecht es nach Gesengtem! Es ist um uns geschehen." Aber sie
antwortete: „Schweig! Just habt ihr euch zur Tafel eingefunden und sprecht Un-
angenehmes?" — Es dauerte nicht lange, so sagte die dritte: „Herrin, es gibt
kein Entrinnen: wir sind elend verkauft und verraten."
In diesem Augenblicke spürte sie selbst etwas in der Nase. Der Geruch
der versengten Häute war wohl auch zu ihr gedrungen. Plötzlich erhoben sie
sich alle von der Tafel und verwandelten sich in sieben Tauben. Dann sagte
die Fee zum jüngsten Sohne des Kaisers:
„Du bist undankbar gewesen. Ich bin in gutem zu dir gekommen. Nun lebe
wohl! Bis du nicht zuwege bringst, zu tun, was kein Mensch auf der Welt getan
hat, wird deine Hand mich nicht berühren." Sie erhob sich in den hohen
Himmel und entschwand seinen Augen.
Umsonst baten die Tischgenossen den jüngsten Sohn des Kaisers, dass er sich
wieder an die Tafel setze, umsonst ermutigten ihn Eltern und Brüder, sich keinen
Kummer zu machen, er blieb, die Augen nach der Taube gerichtet, und setzte sich
nicht wieder zu Tisch.
Am nächsten Tage in der Morgendämmerung brach er auf, seine Braut zu
suchen. Er fühlte wohl, dass er ohne sie nicht leben könne. Er nahm Abschied
von den Eltern und Brüdern und begab sich auf die Wanderung.
Er durchzog Berge, Täler, Hügel, betrat nie betretene, undurchdringliche Wälder,
kam zu Sümpfen und Lachen und konnte nicht auf die Spur der Tauben kommen.
Er dachte und forschte, er suchte und fragte, doch ohne Erfolg. Mit gebrochenem
Mut, mit sorgengequälter Seele und glühender Sehnsucht nach der Geliebten
wanderte er wie ein Drache, wie ein Held. Aber alles umsonst. Einmal kam es ihm
in den Sinn, sich ein Leid anzutun, sich in den Fluss zu stürzen oder den Kopf gegen
die Steinkanten der Berge zu schlagen; aber etwas in seiner Seele sagte ihm, dass
einmal, einmal all sein Ungemach enden könne, und plötzlich kam er zu sich und
begab sich neuerdings auf den Weg mit grösserem Mut und stark in der Über-
zeugung, dass wer genau und beharrlich sucht, auch finden und ans Ziel kommen muss.
Gebrochen von Müdigkeit, setzte er sich ein wenig in den Schatten in einem
Tälchen, um auszuruhen und etwas zu Kräften zu kommen. Und wie er dort war,
überkam ihn der Schlaf. Plötzlich wachte er durch einen Lärm von menschlichen
Reden auf und sprang in die Höhe. Was sieht er? Drei Teufel, die mit-
einander streiten, Schaum vor dem Munde. Er ging geradeaus auf sie zu und sagte
ihnen: „Kein Streit ohne Schlägerei wie keine Hochzeit ohne Musikanten." —-
„Das passt wie die Faust aufs Auge," antworteten sie; „wir streiten ja gar nicht,
wir zanken uns nur." — HUnd warum zankt ihr euch?" fra»te erí „denn das
Geschrei, das ihr macht, könnte einen Toten aufwecken." — »Sieh, wir haben vom
108
Richter, Roña:
Vater eine Erbschaft: ein paar Opanken und eine Kappe und eine Peitsche, und
wir können uns nicht vergleichen, was jeder sich nehmen soll." — „Wozu ist denn
der Plunder gut, um den ihr zankt?4* — „Wenn jemand die Opanken anzieht, so
geht er übers Meer wie über trockenes Land; wenn er die Kappe aufsetzt, sieht
ihn nicht einmal der Teufel, und wenn er ihm mit dem Pinger ins Auge fährt. Aber
wenn er die Peitsche in der Hand hält und sie über seine Feinde schwingt, ver-
steinert er sie." — „Da habt ihr recht, dass ihr zankt, meiner Treu! Aber, eines
ohne das andere taugt der Plunder nicht mehr als zwei gefrorene Zwiebeln. Seht,
was mir einfällt, und wenn ihr auf mich hören wollt, so spreche ich euch menschliches
Recht." — „Wir hören, wir hören," schrien die Teufel wirr durcheinander, „sprich!
Wir werden sehen." — „Seht ihr die drei Berge, die uns hier gegenüber stehen?
Jeder von euch besteige einen von ihnen, dann wrerde ich euch ein Zeichen geben,
und wer dann am raschesten herabläuft, dem soll alles gehören." — „Das hat
Euer Gnaden gut gesprochen! So wollen wirs machen. Bravo! Da haben wir
einen Menschen getroffen, der uns Recht spricht." Und sofort flogen sie davon,
jeder auf einen anderen Berg.
Eins, zwei, zog der Held die Opanken an, setzte sich die Kappe auf und
nahm die Peitsche in die Hand. Als die Teufel auf den Berggipfeln ankamen
und warteten, dass er ihnen ein Zeichen gäbe, schwang der jüngste Sohn des
Kaisers dreimal die Peitsche, nach jedem der drei Teufel zu, und versteinerte sie
an Ort und Stelle. Dann machte er sich auf den Weg in seiner eigenen An-
gelegenheit, wohin ihn die Sehnsucht trug.
Kaum hatte er etwa zehn Schritte gemacht, als er einen Zug von sieben
Tauben sah. Er folgte ihnen mit den Augen, bis er sah, wo sie sich niederliessen.
Dorthin richtete er also die Wanderung, auf der er sich seit so langer Zeit be-
mühte. Er ging über Meere und Wässer wie auf dem Trockenen; endlich kam er zu
einem hohen, hohen Berg, dessen Gipfel bis in die Wolken reichte. Dort hatte
er gesehen, dass sich die Tauben niederliessen. Er machte sich daran, hinauf-
zusteigen, und von einer Schlucht zur anderen, von Steinwänden zu Felszacken,
von Abhang zu Abhang, bald an die Kanten, bald an den First der Berge ge-
klammert, so erreichte er eine Höhle. Eintretend, blieb er wie vom Donner
gerührt, als er einen Palast sah wie für einen Herrscher und meisterlich auf-
geführt, wie man es auf unserer Erde nicht sieht. Dort wohnte seine Braut, die
schönste der Feen. Als er sie durch den Garten spazieren gehen sah mit den
Dienerinnen hinter ihr, erkannte er sie. Ein Kind von grosser Schönheit folgte
ihr munter, belustigte sich unter den Blumen und rief fortwährend die Fee an,
dass sie ihm alle Schmetterlinge zeige. Vermutlich war die Fee schwanger ge-
wesen, als sie von der Tafel wegflog, und das war nun sein und ihr Kind.
Der jüngste Sohn des Kaisers kannte sich nicht vor Freude. Er hätte wie
ein Toller hinrennen, das Kind nehmen und küssen mögen. Aber er wollte lieber
niemand erschrecken. Ihn selbst sah ja niemand, da er die Kappe auf dem Kopfe
hatte. Es fing an zu dämmern, und er wusste nicht, wie er sich zeigen solle.
Als bald darauf die F'ee zu Tisch gerufen wurde, ging auch er und setzte sich
zwischen sie und das Kind. Die Speisen wurden aufgetragen. Er ass wie ein
hungriger Wolf, denn er erinnerte sich gar nicht mehr, seit wann er nicht mehr
warmes Gemüse gegessen hatte. Die Fee wunderte sich, dass die Speisen so
rasch zu Ende gingen, und befahl, noch mehr aufzutragen. Aber auch dies war
in einem Nu verschwunden.
Inzwischen verschob er ein klein wenig die Kappe auf der Seite, wo das
Kind sass; plötzlich erblickte es ihn und rief: „Sieh den Vater, Mutter!" — „Dein
Kleine Mitteilungen.
109
Vater, mein Liebling, wird, nicht auf uns stossen, bis gi nicht eine Zaubertat
vollbracht hat," erwiderte die Mutter.
Er zog sich rasch, rasch die Kappe über die Augen und begann wieder zu
essen, dass es schien, als schlügen die Wölfe in seiner Kehle eine Schlacht.
Als auch diese Speisen zu Ende waren, befahl die Fee voll Verwunderung, noch
andere zu bringen, damit es doch genug wäre.
Der Kaisersohn zeigte sich wieder ein bisschen dem Kinde, voll Freude, dass
sein Sohn ihn erkannte. Das Kind sagte es wieder der Mutter, und diese glaubte
wieder, es sehe schlecht; denn es kam ihr nicht in den Sinn zu glauben, ihr
Mann habe irgendwelche Wundertaten vollbracht, durch die er zu ihr gelangen
könne. Sie wusste, dass nicht einmal ein Zaubervogel dahin gelangen konnte.
Das Kind schwieg, darum zog der Vater sich die Kappe sogleich über dio
Augen.
Er ass wieder, bis die Speisen zu Ende waren. Wahrhaftig, er ass und konnte
nicht satt werden. Da nun nichts mehr da war, was man auf den Tisch setzen
konnte, fing die Fee an zu schelten, dass für die Dienerinnen nichts übrig ge-
blieben sei. Da plötzlich begann das Kind wieder zu schreien: „Mutter, siehst
du, dass es der Vater ist!" — „Aber wo ist er denn? Sprichst du denn ganz irre?"
„Ganz und gar nicht spreche ich irre, nicht im geringsten. Sieh ihn doch, er ist
hier bei mir, sieh, und nimmt mich in den Arm." Die Fee erschrickt, wie sie
das hört. Aber nun zaudert er nicht länger, sich zu zeigen, damit sich nicht
etwas Schlimmes ereigne. Die Kappe vom Kopf nehmend, sagte er: „Da hast du
mich selbst. Du hast unserem Sohne nicht glauben wollen, als er dir sagte, er
habe mich gesehen. Ich habe nicht gewusst, was ich denken soll, wie ich die
widerlichen Häute sah, und ich habe gemeint, etwas Gutes zu tun, wenn ich
sie verbrenne, damit ich euch von ihnen erlöse." — „So sind wir verurteilt ge-
wesen, zu leiden," antwortete die Fee. „Aber lass jetzt die vergangenen Leiden
und erzähle mir, wie es dir gelungen ist, bis hierher zu kommen!"
Darauf erzählte er alle seine Abenteuer, alles was er erlitten. Sie umarmten
sich, er küsste das Kind und blieb mit ihnen dort. Er wollte, dass sie wieder
auf die Erde zurückkämen, und sie gehorchte. Sie kehrten zusammen zum Kaiser,
dem Vater des Helden, zurück; dort wurde die Hochzeit gefeiert, dass man
in der ganzen Welt davon sprach. Da der Kaiser alterte, wählten Volk und
Bojaren den jüngsten Sohn zum Kaiser, weil er ein kräftiger Rumäne war, von
lauterem Sinne und geradem Verstand. Und sie lebten und herrschten in Glück,
und ihr Name und ihr Andenken leben für alle Zeit.
Wien. Elise Richter.
Ungarische Volksmärchen.1)
4. Der Holzgeschnitzte Peter.2)
Es war einmal ein guter Landwirt und seine Frau, die hatten nie ein Kind
gehabt. Einstmals sprach der gute Landwirt zu seiner Frau: „Na Frau, ich habe
mir was ausgedacht." — „Was denn, Vater?" — „Nichts anderes, als dass ich in
den Wald gehen werde und ein Kind aus Holz schnitzen." Darüber lachten das
1) Vgl. oben 13, TO—75.
2) Übersetzt aus Magyar Népkôltési Gyüjtemény 7, 372 = Mailand Oszkár, Székely-
földi Gyüjtés No. 1 (Fából-Faragott Péter;. Vgl. ü^e'r diege gammlung oben 16, 470.
110
Roña :
Gesinde und die Frau sehr, dass er aus Holz ein Kind schnitzen wollte. „Na
also Frau, packe mir Essen für drei Tage ein, damit ich in den Wald gehen
kann!" Die Frau packte ihm auch Brot, Speck und einen Krug mit gutem Brannt-
wein ein, und der Landwirt zog hinaus in das grosse Schneegebirge.
Dort traf er einen Mann, der einen Getreidekasten zimmerte. „Gott zum
Gruss, lieber Mann!" — „Schönen Dank, guter Mann!" — „Was führt Euch
hierher?" — „Nur eine Kleinigkeit," sagte dieser, „aber lasst uns niedersitzen
und ein bisschen Branntwein trinken!" Sie setzten sich auch nieder und fingen
an von dem guten Branntwein zu trinken. Als sie tranken, sagt der Landwirt:
„Gebt mir einen kleinen Klotz! Ich bezahle ihn mit Geld." — »Wir verlangen
nichts dafür; aber wenn wir können, helfen wir Euch." — „Ich brauche keine
Hilfe, aber wenn Ihr ihn aufspalten würdet, würde ich es Euch danken." Da
spaltete er ihn schnell, und er nahm ihn und schnitzte ein Kind.
Abends kam er mit dem Kinde heim, gerade als das Abendbrot fertig war.
Laut lachten das Gesinde und seine Frau, dass er ein Kind aus Holz brachte.
Dann stellte er es in den Türwinkel, und sie setzten sich an den Tisch und assen
zu Abend. Als sie gegessen hatten, blieb noch ein bisschen Essen übrig. Sprach
die Frau: „Na, gerade unseres Sohnes Teil ist übrig geblieben." Dann gingen
sie schlafen. Da sagte die Frau zu ihrem Mann: „Geht, Vater, holt das Kind;
wir wollen es zwischen uns legen, wenn es nun doch einmal unser Kind ist." Da
stand der Landwirt auf, nahm das Kind und legte es zwischen sie. Sie schliefen ein.
Auf einmal, gegen Mitternacht, beginnt das Kind zu reden: „Heda, meine
liebe gute Frau Mutter, schlaft Ihr fest?" — »Wir schlafen nicht, mein liebes
Kind." — „Na, wenn Ihr nicht schlaft, steht auf und gebt mir mein Abendbrotteil
her, dass ich es esse!" Im Nu wurden alle wach und gewahrten mit grossem
Staunen, wie das Kind aus Holz wirklich lebendig wurde. Sie waren voller Freude
und unterhielten sich, bis es schon tagte.
Als es tagte, riefen sie den Pfarrer, dass er es taufe, und als Paten luden sie
•den Stuhlrichter und den Dorfrichter. Der Pfarrer kam herbei; aber er glaubte
es nicht und lachte, dass sie ein Kind hätten, und sah erstaunt, dass da wirklich
das lebendig gewordene Kind war. Fragte der Pfarrer, wie sie es taufen wollten.
Da rief der Knabe: „Natürlich Aus Holz geschnitzter Peter". Da taufte ihn auch
der Pfarrer Holzgeschnitzter Peter.
Als er drei Tage alt war, bat er, dass sie ihn auf die Gasse Hessen, damit
er sich einen Gespielen suche. Der kleine Knabe ging hinaus vors Tor, und als
er hinausgetreten war, da wartete gerade ein Knabe auf ihn. Fragte der Holz-
geschnitzte Peter: „He, Geselle, wohnt in dieser Stadt ein Schwertmeister?" Ent-
gegnete der kleine Knabe: „Na und ob, Bruder! Gerade dort drüben wohnt er,
nicht weit von hier." — wNa," sagte er, „warte ein bisschen! Ich laufe nur
hinein; aber ich komme gleich wieder." Damit ging er hinein zu seinem Vater
und sprach: „Seid so gut und gebt mir acht Kreuzer!" — „0 mein liebes Kind,
dort ist Gold, Silber, Demanten; nimm dir nur, soviel du brauchst!" Sprach der
Knabe: „Ich brauche nur acht Kreuzer."
Damit lief er hinaus und ging mit seinem Gefährten zum Schwertmeister und
ging hinein. Sprach der Holzgeschnitzte Peter: „Gott zum Grusse, Herr Schwert-
meister! Seid so gut, gebt mir für acht Kreuzer jenes Schwert, das Ihr zuerst
machtet!" Sprach der Schwertmeister zum kleinen Knaben: „0 mein liebes
Brüderchen, das hat der Rost schon aufgefressen; aber hier sind kupfer-, gold-
und demantgriffige. Welches dir gefällt, das nimm! Ich verlange dafür keinen
Kreuzer." — „Das gehört nicht in eines Knaben Hand," sprach der Holzgeschnitzte
Kleine Mitteilungen.
Ill
Peter, „aber sucht jenes Schwert heraus, an welchem Ihr zuerst lerntet! Das
brauche ich." Da ging der Schwertmeister und wühlte so lange unter den
Schwertern, bis er jenes rostige Schwert zu fassen bekam, das er zuerst gemacht
hatte. Wiederum begann er herumzuwühlen und griff jene Scheide, in die das
Schwert passte. „Na also, hier ist das Schwert, das ich zuerst machte." Der
Holzgeschnitzte Peter nahm das Schwert, gürtete es um. Und sieh, es passte so
auf seinen Leib, als ob es auf seiner Hüfte gewachsen wäre. Sprach der Holz-
geschnitzte Peter: „Nun, hier sind die 8 Kreuzer; denn das erste Werk muss man
auch bezahlen." Dann ging er in grosser Freude heim.
Gerade anderen Tags gab's einen Jahrmarkt in jener Stadt. Da sagte der
Holzgeschnitzte Peter zu seinem lieben Vater: „Lieber Vater, wir wollen in die
Stadt gehen, damit ich sehe, was da los ist." — „Aber ich wollte gerade auch,
lieber Sohn, dass wir gehen und zwei Ochsen kaufen." Sie gingen auf dem Platz
zwischen den Ochsen herum; da hören sie plötzlich, dass ausgerufen wird, hier
seien zwei Ochsen mit zwei Goldketten zusammengebunden. Wenn sich ein Held
fände, der die Ketten entzweischlüge, dessen sollten die zwei Ochsen sein. Sprach
der Holzgeschnitzte Peter zu seinem lieben Vater: „Lasst uns dorthin gehen, mein
Vater, auf dass ich sehe, was für zwei Ochsen das sind!" — „Das wollte ich
gerade auch, mein lieber Sohn." Und da sahen sie, dass es zwei schöne Gold-
ochsen waren; aber es waren schon so viele der verstümmelten Schwerter um
sie herum, dass die vielen Schwertspitzen ihnen schon bis an die Brust reichten.
Sprach der Holzgeschnitzte Peter: „Wenn es erlaubt wäre, würde ich auch drein
hauen." Sie wunderten sich, was dieser kleine Knabe wolle; aber sie mussten
es erlauben. Da hieb der Holzgeschnitzte Peter drein, und so zerschlug er die
Goldketten, dass der Schall, der Klang durch siebzehn Königreiche erscholl. Dann
warfen die beiden Ochsen ihre Schwänze in die Höhe und liefen geradewegs in
ihren Stall. Da sagte der Mann: „Nun, du Holzgeschnitzter Peter, geh heim und
gib ihnen das ihrige! Doch wisse, dass du ihnen vergebens was auch immer für
gute Speisen anbieten wirst; denn sie fressen nur Glut."
Na, dann ging der Holzgeschnitzte Peter heim und zündete 12 Klafter Holz
an. Als die 12 Klafter Holz durchgebrannt waren und alles in Glut geraten war
da nahm er den Trog und schüttete die Glut hinein. Da frassen die beiden
Ochsen die 12 Klafter Holzglut bis auf die letzte Faser auf. Und alsobald richteten
sich die beiden Ochsen auf; einer ging gen Sonnenuntergang, einer ging gen
Sonnenaufgang.
Da sprach der Holzgeschnitzte Peter zu seinem lieben Vater: „Nun, lieber
Vater, kommt mit mir! Ich werde Euch was zeigen." Da kam sein Vater, und
sie gingen hinaus vors Tor. Auf zwei Stellen in der Türangel schlug der Holz-
geschnitzte Peter mit dem Finger, und aus einer Stelle floss klarer, roter Wein,
aus einer floss klarer Branntwein. „Nun, lieber Vater, stellt Tische und Gläser
her, und jeder kann hier trinken, soviel er mag. Und nun, lieber Vater, seht Ihr
diesen Ackerkarren?" — „Ich sehe ihn, mein lieber Sohn." — „Und seht Ihr
auch diesen Mühlstein?" — „Ich sehe ihn, lieber Sohn." — „Also, wenn dieser
Ackerkarren sich vor die Tür stellt, und dieser Mühlstein von selbst auf den
Ackerkarren steigt und der Wein sich zu Wasser wandelt, der Branntwein jedoch
zu rotem Blut, dann wisset, dass ich im Sterben liege. Dann, wenn Ihr mich
suchen wollt, so setzt Euch auf den Ackerkarren! Denn der fährt gerade dorthin,
wo ich bin. Jetzt, lieber Vater, muss ich in die Welt ziehen, mein Glück zu
versuchen." Doch sein lieber Vater bat den Holzgeschnitzten Peter: „Ziehe nicht
von dannen, mein Sohn! Du hast hier genug zum Leben, du brauchst kein
112
Bona, Roediger: Kleine Mitteilungen.
Spänchen anzurühren und kannst dieses Vermögen sogar nicht einmal auf-
brauchen."
Aber der Holzgeschnitzte Peter machte sich auf; sieben Reiche, sieben "Welten
durchwanderte er und langte in einer Königsstadt an. „Gott zum Grusse, mein
erlauchter Vater König." — „Schönen Dank, mein Herr Bruder. Was führt dich
her?" — „Nichts Böses führt mich her, sondern ich bin ausgezogen, um zu
dienen, mein Glück zu versuchen." — „Gerade jetzt ist mein Tischdiener ge-
storben; was verlangst du für ein Jahr?" — „Ich verlange nichts als Essen und
Trinken; am Jahresschluss zahlt mir nur das, was ich verdient habe." Und so
übernahm also der Holzgeschnitzte Peter die Tischbedienung. So geschickt und
nett benahm er sich, dass der alte König ihn sehr lieb gewann. Der König hatte
eine Tochter; die gewann den Holzgeschnitzten Peter so lieb, dass sie sterben
wollte, wenn man ihn ihr nicht zum Gemahl gäbe. „Na," sagte der König, „ehe
sie sich selbst umbringt, lieber erlaube ich, dass er sie heiratet." Und darauf
richteten sie eine grosse Hochzeit aus. Es kamen Grafen, Barone, Herzöge,
Prinzen, Pfarrer, Henker. Der Pfarrer traute sie, der Henker peitschte sie. Dann
lebten sie am königlichen Hof als Mann und Frau.
Doch einstmals da kam ein Schreiben an den König, er solle alles in Reih
und Glied stellen und dort und dort sich zum Kampf einfinden. Als der König das
gehört hatte, weinte er sehr. Fragt ihn der Holzgeschnitzte Peter: „Nun, mein
erlauchter Vater König, warum weinst du denn?" — „Wie sollte ich nicht weinen,
mein lieber Sohn, wenn solch ein Schreiben anlangt, ich soll alles in Reih und
Glied stellen und dort und dort soll ich mich zum Kampf einfinden!" — „Na,
darum grämt Euch nicht, mein erlauchter Vater König; denn ich werde ganz
allein dahin gehen." — „Ach du lieber Sohn, was wirst du dort allein ausrichten!
Das wäre wie die Mücke neben dem Büffel."
Da zog der Holzgeschnitzte Peter allein hinaus, und er hieb so tapfer drein,
dass sich um ihn schon so viele Leiber türmten, dass er nur noch oben den Arm
rühren konnte. Da wurde auch ihm das Haupt abgeschlagen.
Und siehe da, eines Morgens, als die schöne Dämmerung anbrach, da fuhr
der Ackerkarren vor die Tür, der Mühlstein stieg von selbst auf den Ackerkarren,
der Wein wandelte sich in Wasser, der Branntwein zu rotem Blute. Da setzte
sich der Landwirt auf den Ackerkarren und fuhr dorthin, wo sie den Holz-
geschnitzten Peter erschlagen hatten. Und da sah er, dass so viele Leichname
dort lagen, dass kein Grashalm zwischen ihnen zu sehen war. Und von Sonnen-
aufgang kam der eine und von Sonnenuntergang der andere Goldochse, so dass
der Mann meinte, Himmel und Erde stürzten zusammen. Nun begannen die
beiden Goldochsen mit ihren Hörnern die vielen Leichen umherzuschleudern, bis
sie den Holzgeschnitzten Peter herausgeholt hatten. Doch sein Hals war durch-
schnitten, und kein Leben war in ihm. Da fragt der eine Ochse den anderen:.
„Nun, was weisst du?" — „Ich weiss ihn zusammenzufügen. Und was weisst du?"
erwiderte der andere. „Ich weiss die Seele hineinzusenden." Da fügte ihn
der eine zusammen, der andere blies die Seele ein. Sprach der Holzgeschnitzte
Peter: „Ach, wie habe ich geschlafen!" — „Wahrlich, du hättest auf ewig ge-
schlafen, wenn wir nicht gewesen wären."
Da machte sich der Holzgeschnitzte Peter auf, und sie gingen heim. Als sie
zu Hause anlangten, rief der König die Grafen, Barone, Herzöge, Prinzen, aus-
erlesene Zigeunerburschen zusammen, und sie wählten ihn zum König. Noch bis
zum heutigen Tag führt er die Königsherrschaft, wenn er nicht gestorben ist.
Berlin. Elisabet Rona-Sklarek.
lleusler: Berichte und Bücheranzeigen.
113
Albert Voss t-1)
Am Ii). Juli 1906 verlor der Verein für Volkskunde durch den Tod ein Mit-
glied, das ihm seit seiner Begründung angehört hat, Herrn Dr. med. Albert Voss,
Geheimen Regierungsrat, Direktor der prähistorischen Abteilung des Kgl. Museums
für Völkerkunde und der Kgl. Sammlung für deutsche Volkskunde in Berlin.
Sein Tod kam vielen überraschend, denn obwohl man wusste, dass seine Gesundheit
seit langem erschüttert war, hat er in seiner bescheiden zurückhaltenden Art, die es
nicht liebte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sein sich mehr und mehr ver-
schlimmerndes Leiden still getragen, bis ein schnelles Ende eintrat. Geboren
war er am 24. April 1837 zu Fritzow bei Kammin in Pommern und ging aus der
ärztlichen Tätigkeit zur Beschäftigung mit der Prähistorie über. Die vorgeschicht-
liche Abteilung des Museums für Völkerkunde hat er aus kümmerlichen Anfängen
zu ihrer jetzigen Höhe erhoben und nahm sich in seinen letzten Jahren der ihm
neu übergebenen Sammlung für deutsche Volkskunde mit regstem Eifer an.
Beide durch Hinzufügung einer mittelalterlichen Abteilung zu einem vollen vater-
ländischen Museum auszubilden, war das letzte Ziel seines Strebens. Im Aus-
schuss unseres Vereins sass er von Anbeginn und hat uns zu dauerndem Danke
durch die Bereitwilligkeit verpflichtet, mit der er Stücke der volkskundlichen
Sammlung bei uns zur Schau bringen liess. Die Ausstellung vorgeschichtlicher
und anthropologischer Funde Deutschlands zu Berlin 1880 war im wesentlichen
sein Werk, wie er denn auch den Katalog dazu verfasste. Mit Stimming zu-
sammen behandelte er 1886 die vorgeschichtlichen Altertümer aus der Mark
Brandenburg, verfasste ein höchst nützliches Merkbuch, Altertümer aufzugraben
und aufzubewahren, beschrieb die Bronzeschwerter seines Museums, widmete dem
vielumstrittenen Silberkessel von Gundestrup eine Monographie, legte ein Ver-
zeichnis der volkskundlichen Sammlungen und Museen an usw. Dass er der
Volkskunde jetzt, wo er in der Lage war, sie kräftig zu fördern, so schnell ent-
rissen wurde, erfüllt uns mit nicht geringerer Trauer, als der persönliche Verlust.
Berlin. Max Roediger.
Berichte und Büclieraiizeigeii.
Bruno Crome, Das Markuskreuz vom Göttinger Leinebusch. Ein Zeugnis
und ein Exkurs zur deutschen Heldensage. Mit einer Tafel- Strass-
burg, Trübner 190G. 49 S. 8°.
Markuskreuz nennt der Verf. dieses Steinkreuz der Göttinger Altertumssamm-
lung, weil er annimmt, dass es bei der Rogation des Markustages als Hagelkreuz
gesetzt worden sei. Die lückenhafte Jahreszahl der einen Seite ergänzt er durch
eine scharfsinnige Folgerung zu 1260. Ob sich Art und Ausstattung des Kreuzes
mit einem Hagelkreuze vereinigen und nicht eher auf ein Grabmal oder ein
1) Vgl. den Nachruf von Lissauer, Zs. f. Ethnol. 3S, 761f. ull<î von Bruliner in den
Mitteilungen aus dem Verein d. Kgl. Sammig. f. d> Volkskunde, Bd. 2, 142f.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 8
114
Heusler, Boite:
Marterl weisen, kann Ref. nicht beurteilen. Den Beitrag zur Heldensage aber
soll die Aufschrift der einen Seite liefern, die uns im Lichtbilde vorgeführt wird.
Die beiden Kreuzarme zeigen einen Hammer und eine Zange, dazu einen dritten
Gegenstand, der ein Fleischermesser oder sonst etwas sein kann, nur gewiss kein
Yogelflügel (S. 38), weder ein natürlicher noch ein geschmiedeter! Dazwischen eine
Inschrift, die Crome so liest: WILLEHELM • EX • WYLAENDIS. Die Buch-
staben X, A, N bezeichnet er selbst als unsicher. In der Tat ist bei dem
erstgenannten Zeichen eine Senkrechte zu erkennen, die zu einem Majuskel-X
nicht stimmt. Statt des A würde man nach der Tafel ein N oder vielleicht ein
(defektes) R ansetzen; der breite Raum davor führt auf die Vermutung einer
AVortgrenze. Unglaubhaft erscheint nach der Abbildung ferner das D an dritt-
letzter Stelle: wenn der letzte Buchstabe wirklich ein (mehr kursives) S ist, kann
man den Schluss nur als ... SIS lesen; aber ein zu erwartendes EN geht nicht
voraus. Dass die vier letzten Zeichen auffällig nach einem arabischen 1515 aus-
sehen, ist mehreren Betrachtern der Tafel unabhängig aufgestossen.
Aber nehmen wir einmal an, das Original sei weniger verzweifelt und lasse
Cromes Lesung zu! Der Verf. begnügt sich nun nicht mit der Annahme, dass
die Familie eines gewissen Wilhelm den Namen des sagenberühmten Schmiedes
Wieland erhalten hatte und dessen Handwerksgerät als Wappen führte (wie der
Wittich der Sage). Nur falsche Vorsicht, die sich nie in das Dunkel wagt, so
meint er, könne mit dieser Lösung des Rätsels zufrieden sein. Ihn selbst ver-
langt nach einem 'befriedigenderen Ausblick', und so schreitet er denn vor zu den
Sätzen: Das Kreuz wurde errichtet zur Erinnerung an einen sagenhaften Wilhelm,
den man zum Geschlechte Wielands rechnete. Dieser Wilhelm war der Meister-
schütze; die Denkmäler des 8.—13. Jahrhunderts überliefern uns nur seinen Bei-
namen Egil; der wirkliche Eigenname kommt, vom Göttinger Kreuze abgesehen,
erst im 15.—16. Jahrhundert an die Oberfläche: im Wilhelm Teil und im William
of Cloudesly der englischen Ballade. Der Urner Schütze aber, so glaubt Cr.
folgern zu dürfen, drang unter die Heiligen der christlichen Kirche ein (dass man
den hl. Wilhelm einfach als Schutzpatron seines profanen Namensvetters ansah,
wäre für Cr. vermutlich wieder falsche Vorsicht) — und diese allerdings merk-
würdige Erhöhung des Freiheitshelden rührt daher, dass etwas Grösseres hinter
ihm steckt, ein göttlicher Held und Helfer der Menschheit, wohlbemerkt im
heidnischen Sinne, mit 'mythischem Urgrund'. So muss auch unser Willehelm, da
er auf einem kirchlichen Weihekreuz steht, eine heilige, religiöse Bedeutung
haben: der mythische Schütze schirmt das arme Menschenvolk vor den Dämonen
des Unwetters, der Pest und des schnellen Todes. Cr. steht zuletzt staunend vor
seinem eigenen Kinde, dem Urheber der Inschrift, 'diesem seltsamen Manne, der,
ein christlicher Priester, mit unerhörtem Grade von Bewusstheit Heidnisches
und Christliches in Verbindung bringt . . .' (S. 46).
Beim Leser aber wächst das Staunen, wenn er bedenkt, dass dieser Schützen-
gläubige seinem wunderlichen Heiligen die eigenen Abzeichen, den Pfeil und den
Bogen, vorenthält, um ihm das Handwerkszeug des Bruders, Hammer und Zange,
aufzuhalsen, und dass er ihn, statt schlecht und recht Frater Wylaendi zu sagen,
unverständlicherweise ex Wylaendis tituliert. Diese Umstände allein schon
schliessen die Deutung auf den Meisterschützen aus. Aber auch der ganzen
Beweisführung fehlt das Einvernehmen mit dem Überlieferten. Von dem Sagen-
helden Egil wissen wir ja einiges; es weist wahrlich nicht in der Richtung des
übermenschlichen Alexikakos. Will man in die germanische Sage den echten
Heros, den Halbgott hereinbringen, so wähle man doch lieber einen anderen
Berichte und Bücheranzeigen.
115
Angriffspunkt. Der Verf. hat seltsame Vorstellungen von dem Wesen germa-
nischer Heldendichtung, wenn er in der Umwandlung des Schützen zum vater-
ländischen Freiheitshelden eine Art Entweihung der hehren Sage erblickt (S. 34).
Und bei der Nacherzählung der Wielandgeschichte S. 17f. muss man fragen:
W ann hört man endlich auf, die gliederreichen Biographien als die ursprüngliche
Sage auszugeben? Mit seinen Beweisstücken kann Cr. eigentümlich umspringen:
S. 32 erklärt er: 'So erscheint denn hier der S. Wilhelmus allein als der eigent-
liche Schutzpatron der Kirche' — und die von ihm selbst angerufene Quelle hat
in dem Passus, den er durch drei Punkte ersetzt, die klaren Worte 'auch St. Petter
und Paulo als Patronen diß Gozhuß'! Man darf gewiss Quellenzitate verkürzen,
aber das übergangene sollte man doch lieber gelesen haben.
Es ist vieles an der Schrift auszusetzen und von ihrer Hauptthese nichts zu
retten. Und doch erinnert sie an den Most, der am Ende noch guten Wein geben
kann. Die kritischen Ausfälle treffen ein paarmal das Ziel, und auf zwei Stellen,
die Positives bringen, sei ausdrücklich hingewiesen: S. 14 die Deutung der
oberen, wagerechten Gestalt auf dem vEgilibilde des englischen Runenkästchens;
S. 19 weshalb die Mannen des NiÖucT im Wielandsliede einen einzelnen Ring
wegnehmen (besser als die übliche, zuletzt bei Boer Arkiv 23, 128 wiederholte
Erklärung). Man hofft, dem "Verf. wieder zu begegnen, wenn er sich abgewöhnt
hat, den Wunsch als Vater des Gedankens zu legalisieren und moralischen Eifer
für ein überzeugungskräftiges Argument zu halten. Die Fachgenossen sind viel-
leicht nicht ganz so sonnenfeindlich, wie er S. 16 meint; aber bisweilen gilt dem
einen als Irrlicht, was der andere für die Sonne nimmt.
Berlin. Andreas Heusler.
H. F. Feilberg, Jul, forste bind: Allesjselestiden, hedensk, kristen jule-
fest. Kobenhavn, Det Schubotheske Forlag 1904. 366 S. 8°. — Andet
bind: Julemorkets löndom, juletro, juleskilc. ebd. 1904. VIII, 395 S. 8°.
Ein umfängliches, gemeinverständlich geschriebenes, aber auf wissenschaft-
licher Grundlage ruhendes Werk über die Weihnacht bietet uns der ehrwürdige
Verfasser, der auf ein langes, im Dienste der Kirche und der Volkskunde ver-
brachtes Leben zurückschauen darf. Sein Ziel versinnbildlicht uns das Titelbild,
auf dem ein Totengerippe und ein Engel friedlich gesellt erscheinen, als eine
Charakteristik des heidnischen Julfestes und der Christigeburtsfeier. Denn während
man ehedem im Jul eine Feier der Sonnenwende erblickte, stimmt Feilberg (vgl.
oben 12, 368) im ganzen dem Satze Bilfingers zu, dass bei genauer Betrachtung
der alten Nachrichten vom germanischen Julfeste nichts Urgermanisches übrig
bleibe als der Name Jul; er sucht jedoch den bereits von Mogkin seiner Germa-
nischen Mythologie ausgesprochenen Gedanken, das heidnische Winterfest sei ein
Totenfest gewesen, durch eine geschickte Begründung zu stützen.
Die altnordischen Sagas schildern das Julfest als ein mit einer Opferfeier (zu
Ehren Freyrs?) verbundenes Trinkgelage, das zur Winterszeit abgehalten ward.
Dazu stimmt der Name, der mit altengl. geohhol, lat. ioculus, zusammenhängt und
'Lustigkeit' bedeutet. Die Nachricht, Hakon der Gute habe um 960 das norwe-
gische Julfest aus dem Januar auf die Zeit des christlichen Weihnachtsfestes ver-
legt, in der Bilñnger (Zeitrechnung der alten Germanen 2, 119) eine wertlose
Hypothese Snorris sieht, möchte Feilberg nicht ohne weiteres verwerfen. Spuren
eines bei dieser Gelegenheit geübten Sonnenkultes lassen sich in der isländischen
Literatur nicht nachweisen; wohl aber gilt hier der lange, dunkle Winter als die-
8*
116
Boite, Reuschel:
jenige Zeit, in der die im Dunkel wohnenden Toten, die Elben, Dämonen und
Hexen den Menschen in feindlicher Absicht nahen. Und noch leben in den
Bräuchen und Sagen der europäischen Völker zahlreiche Spuren eines einst zu
dieser Zeit gefeierten Totenfestes fort. Indem Feilberg die Nachrichten über
solche den verstorbenen Ahnen gewidmeten Feste bei den Japanern, Chinesen,
[ndiern, Persern, die griechischen Anthesterien und die römischen Feralien und
Parentalien mustert, hebt er als deren besondere Züge hervor die angezündeten
Lichter und die Mahlzeit, zu der die Toten eingeladen und von der sie nachher
fortgewiesen werden. Eine Anerkennung dieses alten Seelenkultes sieht er in dem
ums Jahr 1000 hinter dem Allerheiligentage des 1. November eingerichteten christ-
lichen Allerseelenfeste; auch hier erwartete und bewirtete das Volk die Seelen
der Verstorbenen, die nach seiner von der Kirchenlehre durchaus abweichenden
Vorstellung in Krötengestalt in der Erde oder in Bäume, Berge, Eisklumpen ge-
bannt hausten und nur in dieser Nacht zurückkehren durften. Man meinte, die
unheimlichen Gäste mit den Stühlen und dem hingestellten Geschirr klappern zu
hören, fürchtete aber, sie durch unzeitige Neugier zu stören und suchte am anderen
Tage ihre Fussspuren in der Asche oder im Sande. Vielleicht warb man auch
deshalb um die Gunst der Toten, weil man ihnen Macht über das in die Erde
gesenkte Saatkorn zuschrieb. Dass sich dann mit der Vorstellung vom Besuche
der Toten auch die von anderen dämonischen Wesen und vom wilden Heere ver-
band, ist durchaus begreiflich.
Ausser dieser Untersuchung über das heidnische Julfest, deren Resultat mir
recht annehmbar erscheint, gibt uns F. ausführliche Schilderungen über den Ver-
lauf der heutigen Weihnachtsfeier in Skandinavien, die Schulfeier am Thomastage,
den Ritt am Stephanstage, die verkleidete Lucia mit der Lichterkrone, die Jul-
krone, die verschiedenen Speisen, die Fütterung der Haustiere und Vögel, die
scherzhaften Verkleidungen, den Julklapp usw., um im 2. Bande auf die in ganz
Europa verbreiteten Vorstellungen vom Geisterbesuch in der Heiligen Nacht, von
den in den Zwölften eingeholten Orakeln über Glück, Heirat, Wetter und Ernte-
segen, vom Weihnachtsbaum, der erst um 1820 von Norddeutschland aus nach
Dänemark drang, von den Weihnachtsschauspielen, dem Weihnachtsbischof und
der Feier des Silvester- und Dreikönigsabends eingehend zu handeln und in
einem Schlussabschnitte die Ergebnisse seiner Forschungen übersichtlich zusammen-
zufassen. In ungemein reichhaltigen Anmerkungen (über 100 Seiten kleinsten
Satzes) hat F. seine ausgebreitete Kenntnis der Volksüberlieferungen von ganz
Europa aufs neue dokumentiert und für die vergleichende Volkskunde Wertvolles
geleistet. Hier und da hätte vielleicht eine knappere Fassung und eine straffere
Disposition der Wirkung des Werkes Vorteil gebracht; so halte ich es z. B. nicht
für glücklich, dass die Schilderung des heutigen dänischen, norwegischen und
schwedischen Julfestes (1, 103—222) dem Abschnitte über die christliche Weih-
nacht vorangeht. Aber diese Ausstellung mindert nicht die aufrichtige Dankbar-
keit, die wir dem verehrten Vf. für dies eingehendste und vielseitigste Werk über
das Weihnachtsfest schulden.
Berlin. ______Johannes Bolte.
Otto Bockel, Psychologie der Volksdichtung. Druck und Verlag von
B. Gr. Teubner in Leipzig 1906. V und 432 S. 8°. 7 Mlc.
Das Werk bildet eine Fortsetzung der Studien, deren Ergebnisse Bockel in
der Einleitung zu seinen vor zwei Jahrzehnten erschienenen 'Deutschen Volks-
liedern aus Oberhessen' niedergelegt hat. Dieser Umstand darf als günstiges Vor-
Berichte und Bücheranzeigen.
117
zeichen gelten, denn mit jener tief eindringenden Abhandlung hat sich der Ver-
fasser ein entschiedenes Verdienst um die Kunde vom Yolksliede erworben. Auf
den Grundmauern ist ein stattlicher Bau erwachsen, der durch seine Massigkeit
wirkt und einen schönen Gesamteindruck hinterlässt, wenn auch manche Einzel-
ausführung bei näherem Betrachten nicht ganz befriedigt. Ohne kräftigen inneren
Anteil und starkes künstlerisches Empfinden lässt sich eine solche Arbeit nicht
tun: Bockel verfügt über beides, und es fehlt ihm auch die zähe Ausdauer nicht.
In zweiundzwanzig Abschnitten bietet Bockel den Stoff dar. Er spricht zu-
nächst vom Ursprünge des Yolksgesanges, dann vom Wesen und der Entstehung
des Volksliedes, legt weiter die Zusammenhänge zwischen Volksart und Volks-
dichtung bloss, beschäftigt sich mit der Sprache der Volksdichtung, mit den Volks-
sängern, mit der volkstümlichen Frauendichtung, insbesondere den Totenklagen,
mit den Stätten des Volksgesanges, seiner Lebensfähigkeit und weiten Verbreitung;
er schildert die Wettgesänge, sucht die Wirkung des Volksliedes zu ermitteln,
zeigt die optimistische Auffassung der Verhältnisse in der Volksdichtung, verfolgt
die Beziehungen zwischen Mensch und Natur und das Gefühlsleben im Volks-
liede, weist nach, wie der Volksgesang Humor und Spott liebt, behandelt das
Verhältnis zwischen Geschichte und Volkslied, gedenkt der Gattungen des Kriegs-
liedes und des Hochzeitsliedes, stellt das Hinsiechen der Volksdichtung fest und
gibt in dem letzten, Ausklang betitelten Teile der Hoffnung Ausdruck, dass dem
Volkslied eine neue Blüte beschieden sein möge.
Es war nötig, die Stoffanordnung vorzuführen, weil sie zur Beurteilung des
Buches nicht unwesentlich beiträgt. Dass eine allseitige psychologische Würdi-
gung der Volksdichtung in diesen Kapiteln erreicht worden sei, erscheint als aus-
geschlossen. Wo bleibt das Kinderlied? Wo sind die Zusammenhänge zwischen
Volkslied und Volkssage oder Volksmärchen erörtert? Und da man nicht an-
nehmen darf, dass der Verfasser nach Spinozas Lehre Natur gleich Gott setzt
oder diese Gleichsetzung beim einfachen Menschen als selbstverständlich ansieht
so vermisst man einen Abschnitt über das Verhältnis des Menschen zur Gottheit
oder allgemeiner: zum Übernatürlichen. Manches dahin Gehörige enthält übrigens
der Absatz über den Optimismus. Nirgends wird eingehender über den Stil der
Volkslieder gehandelt. Die musikalische Seite des Volksliedes ist kaum berührt,
es fehlt auch eine Darlegung über den Volksgesang im Kreislaufe des Jahres.
Die Hauptmängel aber liegen an anderen Stellen. Weder auf dem Titelblatte
noch im Vorwort, erst auf Seite 1 erwähnt Bockel, dass er die Ausdrücke Volks-
dichtung, Volksgesang und Volkslied- als gleichbedeutend gebraucht. Die beiden
letztgenannten mag man als einen Begriff bezeichnend gelten lassen, aber dass
zur Volksdichtung viel mehr als das Volkslied gehört, begreift jeder. Wer über
die Psychologie des \ olksmärchens, der Volkssage, des Volksschauspieles, des
Sprichwortes unterrichtet sein will, braucht das Buch nicht aufzuschlagen. Ferner
ist klar, dass die Einteilungsgründe, nach denen der Verfasser seinen Stoff zurecht-
legt, voneinander sehr abweichen. Schon an den ersten drei Kapiteln ersieht man,
dass streng logischer Aufbau nicht Böckels Sache ist. Da wird uns zuerst der
Ursprung, dann das Wesen und schliesslich das Entstehen des Volksliedes gezeigt.
Der zweite Abschnitt gehört doch an die Spitze, und statt dem Eingangskapitel
und der dritten Abteilung hätten die allgemejnen un¿ ¿¡e besonderen Ursachen
des Ursprungs und der weiteren Entwicklung des Volks»'esanges erörtert werden
müssen. Übrigens soll nicht verkannt werden, dass die zwanglose Art, in der die
einzelnen Fragen zur Behandlung kommen, auch ihr Gutes hat und wahrschein-
lich zu dem frischen Eindruck des Buches wesentlich beiträgt, nur erwartet man
118
Reuschel:
bei dem engen Zusammenhange zwischen Psychologie und Logik, dass die letztere
in einer Psychologie der Volksdichtung sich stärker bemerkbar mache. Sodann
wäre eine ausgedehntere Benutzung der philosophischen, namentlich individual-
und völkerpsychologischen Literatur nötig gewesen. Zu einer Zeit, wo ein Wundt
den grossartigen Gedanken einer Völkerpsychologie zur Ausführung bringt, wird
eine solche Forderung gewiss nicht überraschen.
Damit glaube ich meine grundsätzlichen Bedenken deutlich genug bekannt zu
haben. Die sehr umfangreiche Belesenheit und die rein sachliche Erörterung des
Gegenstandes sind zwei Vorzüge des Buches, die nicht genug gewürdigt werden
können. Nirgends kämpft der Verfasser gegen fremde Ansichten. Er entwickelt
einfach seine Meinung oder Überzeugung und gesteht auch offen ein, wenn er
eine Entscheidung nicht herbeizuführen vermag. Als er die viel erörterte Frage
nach dem Begriff des Volksliedes erwähnt, gibt er seine Definition (S. 15):
„Volkslied ist der dem Gefühlsleben unmittelbar entsprungene Gesang
der Naturvölker, d. h. aller derjenigen Stämme, die der Kultur noch fernstehen
und im unmittelbaren Zusammenhange mit der Natur leben." Bei dem Worte
,Kultur' denkt er auch an die Kultur der Neuzeit. Meines Erachtens hat sich
Bockel mit seiner Auffassung wichtige Beobachtungsobjekte, die sog. Kunstlieder
im Volksmunde, entgehen lassen. Die Psychologie des Volksliedes vermögen wir
gerade aus den Umgestaltungen, die sie erfahren, gut zu ergründen. — Aus-
gezeichnet wTeiss der Verfasser die Entstehung des Volksliedes aus dem im Affekt
ausgestossenen Rufe darzulegen, feinsinnig zeigt er, wie das improvisierte Ge-
bilde zurechtgesungen wird. Überhaupt bietet er eine Fülle von gesicherten Tat-
sachen und Anregungen. Dass die Darstellung oft skizzenhaft bleibt, ist freilich
nicht zu leugnen. — Am auffälligsten vielleicht erweist dies das Kapitel liber
Volksart und Volksdichtung. Selbst der dürftige Überblick, den ich im Ab-
schnitte 'Die deutschen Landschaften und das Volkslied' meiner 'Volkskundlichen
Streifzüge' gegeben habe, hätte einigen Stoff geboten. Eine Geographie des Volks-
liedes hat für Frankreich Tiersot (Julien) versucht in seiner Histoire de la chanson
populaire en France, Paris 1889. Auch im Vorwort zu Tiersots Chansons popu-
laires des Alpes françaises (Grenoble-Moutiers 15)03) finden sich ein paar treff-
liche Bemerkungen. Colson stellt Wallonia 3, 83 bei Gelegenheit der Besprechung
von Beauquiers Liedersammlung aus Franche-Comté fest: 'Chose curieuse, les
mélodies d'un mouvement vif nous semblent généralement d'un rythme moins
précis que chez nous. Les airs gais eux-mêmes vont rarement sans une
pointe de mélancolie.' Neuerdings macht Alfred Tobler (Das Volkslied im
Appenzellerlande, Zürich 1903, S. 5ff.) volkspsychologische Bemerkungen über
den Charakter der Appenzeller Lieder. In dieses Kapitel gehört auch die Frage
nach dem Anteil der Mundart am Volksliederschatz. Die Stammes- und Volks-
psychologie könnte von einer eingehenderen Behandlung solcher Dinge groszen
Nutzen haben. — Recht anschaulich und lehrreich ist der Abschnitt über die
Volkssänger. Dass man die Blinden als Schöpfer und Verbreiter der Volks-
lieder jetzt im französischen Volksgesange nicht mehr findet (S. 71), stimmt nicht
zu Tiersot, Chansons pop. des Alpes S. 76. Auch Beauquier (Chansons pop. ree.
en Franche-Comté, Paris 1894 S. 9) betont die Bolle der Blinden als 'véhicules
de la poésie et du chant'.
Zu dem Abschnitte über die Frauen und ihren Anteil am Volksgesang, der
am richtigsten mit dem darauffolgenden über die Totenklagen vereinigt worden
wäre, ist an die Mitteilung K. H- Prahls (Das deutsche Volkslied 4) 'Das Volks-
lied an der westpreussischen Wasserkante' zu erinnern, dass er aus dem Munde
Berichte und Bücheranzeigen.
119
seines aus Saspe bei Neufahrwasser gebürtigen Dienstmädchens 12.» Liedei auf-
gezeichnet hat ohne die allbekannten. Mit vieler Sorgfalt wird weiter der Sitte
der 1 otenklagen nachgegangen. Dabei weist der "V erfassei nach, dass den
Männern nur ganz ausnahmsweise die Rolle zufällt, für den Schmerz um den
Verstorbenen dichterisch-gesanglichen Ausdruck zu suchen. Das Kapitel gehört
zu den besten des Buches. Es ist selbstverständlich ein Leichtes, die Ausführungen
zu vervollständigen, und nichts wäre ungerechter, als wenn man hier den Vorwurf
der Lückenhaftigkeit erheben wollte. Die Worte Senecas: „Multum adhuc restât
operis multumque restabit; nec ulli praecludetur occasio aliquid adhuc adjiciendi'
darf auch Boeckel für sich in Anspruch nehmen. So sei denn gleich der Anfang
mit Nachträgen und Berichtigungen gemacht. Aus Herders Volksliedern 2, 93
ergibt sich, dass bei den Grönländern die Totenklage der Frauen erst auf die der
Männer folgte. Die Tatsache der norwegisch-isländischen dräpa als Lobgesang
eines Skalden auf einen Verstorbenen lässt doch wohl auf eine volkstümliche
L1 bung bei Männern schliessen (vgl. den Anfang vom 6. Buch der Historia Danica
des Saxo Grammaticus). Ein Überrest der in Dialogform gekleideten Totenklage
liegt noch im Departement Ille-et-Vilaine vor (Ad. Orain, B^olk-Lore de lTlle-et-
Vilaine 2, 292). Dass die italienische Sitte der berufsmässigen Totenklägerinnen
auch bei den nach Nordamerika (New York) ausgewanderten Italienern nicht ver-
loren ist, berichtet Karl Knortz (Was ist Volkskunde.....? 3 117). Am gleichen
Orte erwähnt er denselben Brauch bei den Iren in New York. Irrig ist die Auf-
lassung, dass in Sardinien (im Gegensatze zu Korsika) die Rachewut in der
Totenklage beinahe völlig fehle. Francesco Poggi, Usi natalizi, nuziali, funebri
della Sardegna (1897) widerlegt S. 105 ff. diese Ansicht. Nach ihm sind die
prefiche in Sardinien gewöhnlich Mitglieder der Familie. Portugiesische Verhält-
nisse behandelt M. Abeking, Der Urquell, N. F. 2, 168ff. Die dialogische Form
(Duettform) der Totenklage bei den Rumänen der Bukowina schildert auch
Ad. Flachs, Rumän. Hochzeits- und Totengebräuche, Berlin 1899, S. 51. Über
die Klage seitens der dazu bestellten Weiber, der Mutter oder Schwiegermutter
bei den Armeniern der Bukowina (sie findet hier auf dem Wege zur Kirche oder
zum Friedhof statt) schreibt Demeter Dan, Zs. f. österr. Volkskunde 10 (1904),
106. — Die Stätten des Volksgesanges weiss der Verfasser sehr gut zu schildern.
Dass er für die viel verkannte Spinn stub e ein gutes Wort einlegt, soll nament-
lich hervorgehoben sein. Der Ausdruck 'Spinnchte' (S. 134) ist in Sachsen sicher
nicht weit verbreitet, Hutzenstub darf nicht bloss als vogtländisch, sondern als
zentral-erzgebirgisch gelten. Bei dieser Gelegenheit hätte auch daran erinnert
werden können, dass in einigen Teilen des Obererzgebirges und Vogtlandes die
gemeinsame Arbeit im Klöppeln besteht. Die Quelle spielt als Ort, wo der Volks-
gesang erschallt, auch bei andeien als den S. 1 >> 1 f. genannten Völkern und
Stämmen eine Rolle. Nicht minderen Reiz bieten die Ausführungen über die
Lebensfähigkeit (Dauer, Zähigkeit) des Volksliedes. Einige Altersbestimmungen
bei Georges Doncieux, Le romancero populaire de la France, Paris 1904, hat sich
der Verfasser entgehen lassen. Dieses Buch würde auch für den folgenden Ab-
schnitt über die Wanderungen der Lieder Stoff geliefert haben. Nicht erwähnt
sind die Mischstücke aus zwei Sprachen. -— Beim Kapitel über die Wirkung des
Volksgesanges hätten die sprachlichen Gleichungen zwischen Singen und Zaubern
in ausgedehnterem Masse berücksichtigt werden dürfen. Gerade hier wird manches
nicht zur Sache Gehörige erwähnt. — Dass der Volksdichtung unverwüstlicher
Optimismus innewohne, sucht Bockel in einem weiteren Abschnitte zu zeigen.
Der Nachweis scheint mir nicht gelungen zu sein. Es ist das Gegenteil richtiger.
120
Reuschel, Boite:
Robert Petsch hat zweifellos unsere "Kenntnis durch seinen Vortrag über Volks-
dichtung und volkstümliches Denken (Hessische Blätter für Volkskunde 2) viel
besser gefördert. Dem Satz: „Die Volksdichtung kennt kein Niemals!" (S. 207)
kommt trotz der grossen Sicherheit, mit der er ausgesprochen wird, keine all-
gemeine Geltung zu. Übrigens war zu der Umschreibung von 'niemals' noch auf
Oskar Weises Aufsatz im 3. Bande der Zs. für hochdeutsche Mundarten auf-
merksam zu machen und zum Bilde vom Rosengarten (S. 214) auf die Arbeit von
Ed. Jacobs in den Neujahrs blättern, hg. von der hist. Kommission der Provinz
Sachsen, 21 hinzuweisen. Über das französische Lied 'Jésus-Christ s'habille en
pauvre' (S. 223) ist Doncieux S. 360ff. zu vergleichen. Die Verwendung von Ver-
kleinerungswörtern mit dem Optimismus des Volksliedes in Verbindung zu bringen,
wie es S. 231 ff. geschieht, dürfte recht gewagt sein.— Ein sehr dankbares Gebiet
behandelt der Abschnitt Mensch und Natur, in dem sich reichster Stoff übersicht-
lich angeordnet findet. Der Liebesgruss durch den Wind kommt beiläufig bemerkt
auch im holländischen Indien vor. Bei Bezemer, Volksdichtung aus Indonesien
(Haag 1904) ruft ein Jüngling (S. 206): „Ich habe weder Ruhe noch Rast und
beauftrage jeden Windhauch, dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe." Vermisst
w7ird eine Hindeutung auf den Aufsatz von Eliz. Marriage in Birlinger-Pfaffs
Alemannia 26. — Mehrfach berührt sich das Kapitel über das Gefühlsleben im
Volksliede mit schon früher Erörtertem. Der S. 278 herausgehobene Vierzeiler
I hâb allweil g'mant, Und hiaz háb is datrâgn.
1 tra gats gâr nia, Abr fragt mi nit wia,
ist doch wohl ein Stück Heinrich Heine im Volksmunde. Zum Steigerungsmotiv
(S. 290) wäre z. B. auf A. Wirth, Typische Züge in der schottisch-englischen
Volksballade Teil 1 (Progr. Realgymnasium Bernburg 1903) S. 5 und S. 16ff.,
Talvj, Volkslieder der Serben 1 (Halle 1825), 05f. und Holger Pedersen, Zur
albanes. Volkskunde, Kopenhagen 1898, S. 123 hinzuweisen. — Am breitesten
angelegt hat der Verfasser den Abschnitt über Humor und Spott. Dass alles
hier Gesagte am rechten Platze sei, lässt sich nicht behaupten. So bleibt es
unklar, was der Satz (S. 316): „Das Volkslied hat schon lange vor Schiller ge-
wusst, dass in der kleinsten Hütte die Liebe Raum hat" in dem Kapitel soll.
Wenn der Müller im ganzen ungünstige Beurteilung erfährt (S. 336), so wird er
doch im französischen Volkslied (nach Morf in Herrigs Archiv 111, 1-15) als Ge-
liebter sehr begehrt. — Entschieden zu weit geht die Schlussbemerkung im
Kapitel über Geschichte und Volksdichtung: „Das Volkslied ist als Geschichts-
quelle unbrauchbar: es besteht weder geschichtlicher Sinn noch das Bedürfnis
danach, geschichtliche Ereignisse im Volksliede festzuhalten. Es ist deshalb auch
unmöglich, von einer Gattung geschichtlicher Volkslieder zu reden." Ich berufe
mich auf meine Volkskundlichen Streifzüge S. 13-1. Um nur ein paar Beispiele
zu nennen, das von Bockel an anderer Stelle angeführte Fluchtlied „Mit Mann
und Ross und Wagen" darf doch fast den Wert einer Geschichtsquelle bean-
spruchen. Oder wie stellt sich der Verfasser zu dem französischen Sang von der
Gefangenschaft des Königs Franz (Doncieux S. 53)? S. 354 fragt er sich, ob das
Andenken an den Seeräuber Störtebeker in der Volkssage erloschen sei. Nein,
wie A. Haas, Rügensch e Sagen und Märchen 3 (Stettin 1903) 190 und Sagen und
Erzählungen von den Inseln Usedom und Wollin (Stettin 1901) 194 zeigen. — Mit
den Abschnitten über das Kriegslied und das Hochzeitslied beschliesst Bockel
seine Einzelausführungen. Im ersteren liesse sich wieder eine bessere Anordnung
denken. Das Gebotene ist sehr reichhaltig. Munjoie tritt als französischer
Schlachtruf schon im Rolandslied auf, nicht erst bei Simon von Montfort
Berichte unci Bücheranzeigen.
121
(S. 361). — Wie der Verfasser angesichts des grossieri Teils der Hochzeitslieder
seine Meinung vom Optimismus der Volksdichtung aufrecht erhalten kann, ist
schwer verständlich. Mit Recht betont Paul Fink (Das Weib im französ. Volks-
liede, Berlin 1904, S. 69) die durchaus pessimistische Auffassung der Ehe in fast
allen Volksliedern Frankreichs. Auch sonst überwiegt jedenfalls die Schilderung
des Blässlichen, das die Frau im Ehestand erwartet, bedeutend.
Das meiste, was die beiden letzten zusammenfassenden Kapitel enthalten,
verdient volle Zustimmung. Dass es Bockel mit seiner Sorge um die Erhaltung
des schönen Volksgesanges tief ernst ist, gibt er in treffenden, oft zu Herzen
gehenden Worten zu erkennen. Voll reifer nationalökonomischer Einsicht weiss
er hier wie auch sonst in dem Buche die nahen Beziehungen zwischen Volks-
dichtung und A olkswohlfahrt zu schildern. Ob er mit seiner Hoffnung auf er-
neute Pflege des Volksliedes recht behalten wird? Das grosse Unternehmen der
Sammlung aller Volkslieder in Österreich war übrigens bereits 1902 in die Wege
geleitet, noch ehe der deutsche Kaiser eine ähnliche Anregung gab. Nach welcher
Pachtung hin sich die Wiederbelebung des Volksgesanges bewegen wird, ist mir
seit dem Sommer dieses Jahres nicht mehr zweifelhaft. Da habe ich beobachtet,
wie die ansprechenden Lieder des wackeren Sängerdichters Anton Günther
(Gottesgab am Fichtel- und Keilberge) überall im Erzgebirge heimisch geworden
sind. Hunderte, ja Tausende von Gebirgswanderern tragen sie hinaus, und schon
hört man sie auch in der sächsischen Schweiz. Leid und Freud' des Gebirgs-
bewohners drücken sie sinnig aus, Vaterlandsliebe und Heimatsliebe wecken sie.
Vertraut mit Hunderten von fremden Liedern hat Anton Günther seine eigenen
geschaffen und alte Dinge in neue Form gekleidet. Für Sachsen wenigstens, so-
weit überhaupt noch Platz für das Lied übrig ist, und für das nördliche Deutsch-
böhmen ist er der Volksdichter und -sänger geworden. — Das Buch über die
Psychologie der Volksdichtung musste in manchen Punkten zur Kritik heraus-
fordern. Der Stoff, der zu behandeln war, ist riesengross und schwer übersehbar
Darum finden sich zuweilen Wiederholungen, selbst Widersprüche. Wenn auch
die Anordnung nicht immer genügt, die Einzelurteile sind fast sämtlich Ergebnisse
eifrigsten Nachforschens und demnach zuverlässig. So hat das aus Begeisterung
und treuer Sorgfalt hervorgegangene Werk als eine wertvolle Gabe zu gelten
Möchte es auch nichtgelehrte Kreise für das Volkslied gewinnen!
Dresden. Ivarl Reuschel.
Paul SéMUot, Le folk-lore de France, tome troisième: La faune et la
flore. Paris, E. Guilmoto 1906. 2, 541 S. 18 Fres.
Mit besonderem Vergnügen begrüssen wir den dritten Band von Sébillots
erstaunlich reichhaltigem Werk (vgl. oben 15, 36*2. 16, 118), welcher die franzö-
sischen Volksmeinungen zusammenstellt, die sich auf die Tier- und Pflanzenwelt
beziehen. Der verdiente Forscher konnte sicli hierbei auf die grossen Sammel-
werke von E. Rolland (Faune populaire de la France, 6 Bände; Flore populaire,
•J Bände) und A. de Gubernatis (Mythologi© zoologitjue; Mythologie plantes)
stützen; doch weicht er von ihrer Methode insofern ab, als er auf mythologische
Spekulationen verzichtet und nicht jedes Tier und jede Pflanze für sich behandelt,
sondern grössere Gruppen bildet, in denen die ähnlichen abergläubischen Vor-
stellungen und Sagen übersichtlich ™sammengefasst werden: wilde und zahme
Säugetiere, wilde und zahme Vögel, Reptilien. Insekten, Fische, Bäume, kleinere
122
Boite, Lucas:
Pflanzen. Er bespricht jedesmal zuerst die dualistischen Schöpfungssagen, die
den Teufel als ungeschickten oder boshaften Nachahmer Gottes nach dem Menschen
einen Affen, nach dem Schaf den Wolf, nach dem Adler die Eule, nach der Biene
die Wespe, nach dem Aal die Schlange, nach dem Weizen den Buchweizen er-
schaffen lassen, die verschiedenen Beziehungen zum Menschen, der aus dem An-
gang der Tiere, aus den Blättern der Pflanzen Vorzeichen kommender Ereignisse
herausliest oder dämonische Wesen in ihnen vermutet, ferner die Verwendung
zur Zauberei und Heilkunde, das Vorkommen in Gebräuchen und Spielen, in
Sagen und Märchen u. a. Dagegen treten die Namen und Sprichwörter, die bei
Rolland eine grosse Rolle spielen, verhältnismässig zurück. Die wohldurchdachte
Anordnung und die knappe, sachliche Darstellung haben es ermöglicht, einen ge-
waltigen Stoff auf engem Räume zu vereinigen; neben systematischen Umfragen,
die nicht immer erfolgreich waren (S. 217), hat Sébillot auch die Literatur früherer
Jahrhunderte, z. B. die Contes de fées und Restif de la Bretonne, zur Ergänzung
der volkskundlichen Werke herangezogen. — Um einen Begriff von der Viel-
seitigkeit des Inhalts zu geben, greife ich aufs Geratewohl einige Einzelheiten
heraus: Taufnamen der Tiere (S. 1!). 97. 152. 179), Heilige der Haustiere (107),
Wolf hingerichtet (27), Kröten gemartert (280), Segen wider Wolf und Schlangen
(33. 277), für Pferde und Bienen (110. 133. 317 f.), Psalmen zur Beschwörung
rezitiert (87. 107. 277 f. 310), Anreden an zauberkräftige Kräuter (494), Seele als
Maus oder Kröte (58. 266. 281), Tiere und Bäume als Abbilder des Jenseits
(151. 211. 429), Hufeisen (125), Wünschelrute (399), Übertragung von Krankheiten
auf Pflanzen (412. 497), Durchkriechen (417), benagelte Bäume (425), Saat- und
Erntebräuche, Gruss beim Säen (459), Beschütten des Brautpaares (401. 51C>),
Johannisnacht (105. 475), Maibaum (402. 5 "25), Gänsegreifen (246), Kinderspiele
(326. 407. 520), Blumensprache (403. 517) usw. Der Brauch des Vielliebchen-
essens heisst französisch Philippine (411). Die Kartoffelkrankheit von 1845
schrieben (nach S. 461) die Wallonen der Einführung der Polka zu; denn dieser
Tanz sei bei Christi Verurteilung von den Juden getanzt worden. Lebhaft
wünschen wir dem Verfasser zur Fortsetzung des trefflichen Werkes weitere
Rüstigkeit und Ausdauer. J. B.
II. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen. Leipzig, Teubner
1906. 1728°. 5 Mk.
Im achten Bande des Archivs für Religionswissenschaft1) hatte Reitzenstein
einleuchtend gezeigt, dass der sog. 'Hymnus der Seele' der Thomasakten in Wahr-
heit ein heidnischer Mythus, eine Unterweltsfahrt, ist. Die Erweiterung dieser
Untersuchungen hat zu dem vorliegenden Buche geführt, welches unternimmt, die
hellenistische Wundererzählung in ihrer Entwicklung zu verfolgen und ihren Ein-
fluss auf die frühchristliche Literatur nachzuweisen. Jene Literaturgattung benennt
der Verfasser Aretalogie (ursprünglich Preis der Wundertaten eines Gottes,
späterWundererzählung überhaupt) und bezieht in. deren Bereich heidnische Er-
zählungen (Satire, Roman, Philosophen- und historische Viten), sowie altchrist-
liche Wundergeschichten (Evangelien, Apostelakten, Mönchserzählungen). In einem
zweiten Hauptteil werden zwei hervorragende Beispiele solcher Aretalogien, der
Hymnus der Seele und das Hochzeitslied aus den Thomasakten, ausführlicher be-
1) S. 167ff., mit geringen Veränderungen wieder abgedruckt in dem neuen Buche
S. 103-122.
Berichte und Bücheranzeigen.
123
handelt und der Zusammenhang zwischen heidnischer und christlicher Wunder-
erzählung, ihre Abhängigkeit von ägyptischer Literatur dargelegt.
Bei den bekannten Vorzügen des Verfassers, seiner ausserordentlichen Be-
lesenheit, Kombinationsgabe und frischen Energie in der Bewältigung neu auf-
tauchender literaturgeschichtlicher Probleme, wie sie die noch immer zuströmende
Fülle der Papyri aus den ägyptischen Gräbern bringt, ist es selbstverständlich,
dass auch diese Schrift reich ist an einleuchtenden Beobachtungen und an-
regenden Gedanken, und es darf dem Buche nachgesagt werden, dass es, als
Ganzes, einen entschiedenen B^ortschritt der Wissenschaft bedeutet und niemand
es ohne lebhaften Dank aus der Hand legen wird. Dennoch soll nicht verhehlt
werden, dass auch viele Aufstellungen des Verfassers sowie seine oft zu rasche
Schlussfolgerung zu starkem Widerspruch herausfordern.
Schon die Hauptsache, auf die es dem Verfasser vor allem ankam, ist als
misslungen zu bezeichnen: der Beweis, dass jene zahlreichen, von ihm heran-
gezogenen Literaturerzeugnisse Aretalogien geheissen haben und eine eigene
Literaturgattung darstellen, ist ganz und gar nicht erbracht. Aus den S. 8f. zu-
sammengestellten Belegen für das Wort «.perctloiia. und Verwandtes1) geht mir
vielmehr mit Gewissheit hervor, dass das Wort niemals geschriebene Erzählung
bedeutet, also im eigentlichen Sinne Literatur, sondern immer nur mündliche
Äusserungen (auch das Philodemzitat ist nicht anders aufzufassen). Dem ent-
spricht auf der anderen Seite, dass unter all den zahlreichen Literaturwerken,
denen R. allzu bereitwillig den neuen Namen anhängt, es auch kein einziges
gibt, das nachweislich irgendwo als apéraloytx bezeichnet worden wäre. Es ist ja
auch nicht abzusehen, warum die Lebensbeschreibung eines Heiligen oder eines
Philosophen (wie Apollonios von Tyana) aus einem abergläubischen Zeitalter, die
ja erklärlicherweise mit Wundergeschichten durchsetzt sein muss, wegen dieser Zu-
taten aufhören sollte, eine Biographie (z. T. allerdings in enger Berührung mit dem
Roman) zu sein und eine neue Gattung bilden müsste. Dasselbe gilt von der ernsten
und parodistischen Satire2), dem Roman und den anderen Gattungen, die der Verf
ohne jeden Beweis für das einzelne als Aretalogien in Ansprueh nimmt. — lch
vermute übrigens, dass neben der ursprünglichen technischen (religiösen) Be-
deutung von Aretalogos (Priester, der die Wundertaten seines Gottes auslegt oder
verkündet), die dann schliesslich abgeschwächt wurde zu Fabulist, Lügner, Schwätzer,
sich mit der Zeit eine zweite technische Bedeutung entwickelt habe: berufsmässiger
Märchenerzähler, wie man sie ja noch heute in orientalischen Ländern (Tunis)
findet, wofür manche Stellen (wie Sueton, Div. Aug. 74) zu sprechen scheinen
(vgl. die Äusserungen von R. selbst, S. 8. 17. 19, 2). In diesem Sinne würde ich
auch Lucians Wahre Geschichten, die erste wirkliche Münchhausiade, als eine
Aretalogie auffassen, d. h. eigentlich nicht das rhetorisch aufgeputzte, parodistisch
übertreibende Schriftwerk, sondern die mündliche Volkserzählung, aus der Lucian
ohne Zweifel geschöpft hat.
Statt aber Einzelheiten zu kritisieren, welche mir anfechtbar vorkommen, er-
scheint es zweckmässiger, einige Stellen von besonderem volkskundlichen Interesse
hervorzuheben oder durch kleine Nachträge dem Dank für das Gelesene Ausdruck
zu geben.
1) Sie sind auch gesammelt und zutreffender gewürdigt von Crusius in dem Artikel
Aretalogoi bei Pauly-Wissowa, Realencycl. II, 1 gp_ 670f. °
2) Dass neben der Satire 18 des Horas auch Sat. I 1, Iff- und 15ff. Aretalogien
sein sollen (S. 25 f.), wird schwerlich vielen Beifall finden.
Lucas:
Zu den S. ¿if. im Anschluss an Radermacher (Rhein Mas. 1905, 315f.) be-
handelten Geschichten von Schlangenbeschwörungen möchte ich erinnern an
Kreutzvvald, Ehstnische Märchen S. 26ff. (Schlangenkönig mit Krone im Schlangen-
haufen), ferner an die von R. selbst (S. 115) angezogene ägyptische Zauber-
geschichte, bei Maspero, Contes pop. de l'Egypte anc. 3 p. 112, jetzt auch bei
Wiedemann, Altägyptische Sagen und Märchen S. 127 f. (Der Volksmund, Bd. ti,
Leipzig 1906). — S. 5, 3: Zu der durch Goethe bekannten Geschichte vom Zauber-
lehrling aus Lucian, Philopseudes c. 35 f. lässt sich Aelian, nat. anim. IX 33 als
Parallele stellen. — Die burleske Fiktion Lucians (S. 21) im Icaromenipp (c. 15),
dass Menipp zum Monde emporgeführt wird, von dort in das Innere der Häuser
blickt und sieht, was darin für Schandtaten getrieben werden, mag das Vorbild
abgegeben haben für die Einkleidung neuerer Romanerzählungen, wie Lesages
Hinkender Teufel (mit Anlehnung an den Spanier Guevara) und Dickens Weihnachts-
abend.
S. 32, 2 werden mit Unrecht in einem Passus eines ägyptischen Märchens
(Märchen von den zwei Brüdern, jetzt Wiedemann S. 73 f.) Seelenwanderungs-
vorstellungen pythagoreischen Charakters angenommen und die Fortpflanzung des
ägyptischen Märchens bis in die neuere Zeit behauptet. Das Motiv, dass
die treulose Frau die Tötung des Stieres erbittet, worin ihr Gatte verzaubert ist,
dass aus zwei Blutstropfen des Getöteten zwei Perseabäume erwachsen usw.,
ist ein ganz geläufiges Märchenmotiv; ich führe nur an: v. Hahn, Griech. M. I
S. 272 (vgl. L 70. 163. 166). Schmidt, Griech. M. S. 74. Kunos, Türk. Volksm.
S. 208. Maspero, Contes p. XVII. Ob diese Züge volkstümlicher Überlieferung
und ähnliche, wie Verwandlungssagen (griech. Metamorphosen; Dähnhardt, Natur-
geschichtl. Volksmärchen), Verwandlung des Getöteten in einen Vogel (z. B.
Grimm, KHM. 47 'Machandelbaum', womit wir in das umfangreiche Kapitel von den
Seelentieren kämen), in ihrem letzten Grunde nicht doch auf eine Art von primi-
tiven, dem Menschengeiste angeborenen Seelenwanderungsvorstellungen zurück-
gehen (Bertholet, Seelenwanderung, Religionsgeschichtl. Volksbücher III 2, S. 20ff.),
kann man hier auf sieb beruhen lassen. Jedenfalls sind dem Märchenerzähler
solche weiten Perspektiven von einem Kreislauf der Lebewesen unbekannt und
unbewusst. — Überhaupt legt der Verf. gar zu gern einfachen märchenartigen
Zügen einen tieferen mystischen Sinn bei. So wTerden die ein Zauberbuch ein-
schliessenden sieben Kisten von wertvollem, aber verschiedenartigem Material in
einem anderen ägyptischen Märchen (Wiedemann S. 125. 128) S. 115 f. bezogen
auf die „sieben Himmelstore und Himmelsräume, aus deren Innerstem der Prophet
seine Weisheit holt". Ich kann darin nichts anderes finden, als etwa was Schwartz,
Sagen der Mark S. 25 erzählt: Bestattung eines Riesenkönigs in goldenem, silbernem
und eisernem Sarge (vgl. Schwartz S. 152 und 173 und etwa noch den Glassarg
Schneewittchens). In gewisser Hinsicht lässt sich auch hierher beziehen das be-
kannte Märchenmotiv der „Seele des Riesen", welche z. B. in einem Ei in einer
Ente in einem Widder unter einem Stein unter der Schwelle verborgen ist.1)
Sehr merkwürdig ist die Verwandtschaft der S. 66 erzählten Geschichte von
dem Asketen Serapion (aus der Historia Lausiaca)2) mit den oben 16, 133—138
von Zachariae mitgeteilten salomonischen Urteilen aus Indien. Der auf seine
1) Auch „der Mann ohne Herz" (Bechstein, Märchenbuch S. 84) oder „das verborgene
Leben" (Simson, Melcager). Vgl. R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 158ff. (57. 348. 404). v. Hahn,
Griech. M. 1, 56f. n. 31 („Skyllaformel"). Radermacher, Das Jenseits im Mythus der
Hellenen S. 141 ff. Kunos, Türk. M. n. 17. 22. 41. Afanassjew, Russ. M. n. 34. 35.
2) Über diese vgl. Berliner Pliilol. Wochenschrift 1906, 678ff.
Berichte und Bücheranzeigen.
125
Heiligkeit eifersüchtige Sarapion stellt in Rom eine ihm als besonders tugendhaft
gerühmte Asketin auf die Probe, indem er sie sich nackt ausziehen und so, die
Kleider auf der Schulter, hinter ihm her durch die Stadt ziehen heisst. Ihre
Schamhaftigkeit weist das als unmöglich zurück, worauf er sich als überlegen
erklärt, da er der Welt mehr abgestorben sei. Das Urteil R.s über diese Ge-
schichte muss danach modifiziert werden. — Der hübsche Zug von dem weiber-
feindlichen ländlichen 'Herakles' Agathion (S. 71), aus einem Briefe des Herodes
Atticus (bei Philostrat, Vitae Sophist. II p- 62 Kays.), welcher ihm angebotene
Milch mit den Worten zurückweist: „Die Milch ist nicht rein, denn eine Frauen-
hand fasst mich an", worauf angestellte Nachforschungen die Richtigkeit seiner
Empfindung erweisen, reiht diese Figur unter die 'scharfsinnigen Leute' des
Märchens, die ja auch schon bei den Griechen begegnen.1) — Die S. 75f. aus der
Historia Lausiaca mitgeteilte Geschichte vom „Aschenbrödel im Nonnenkloster41
hat in Wahrheit nichts mit dem Aschenbrödel des Märchens zu tun, sondern
gehört in die erste Gruppe der von Simrock, Der gute Gerhard und die dank-
baren Toten gesammelten Erzählungen (S. 21 aus Herders Legenden) [R. Köhler,
Kl. Sehr. 2, 392 und oben 11, 465].
Den für die Volkskunde wichtigsten Abschnitt des Buches bilden die Dar-
legungen über den „Hymnus der Seele" aus den Thomasakten, der S. 107f. nach
einer syrischen Fassung mitgeteilt wird. Ein Prinz wird von seinen Eltern weit
nach dem Westen, nach Ägypten geschickt, um eine Perle zu gewinnen, die
eine Schlange im Meere hütet. Unterwegs wird er von den Ägyptern überlistet
und durch eine Speise in tiefen Schlaf2) versenkt. Man bemerkt dies zu Hause
und sendet einen geflügelten Brief, der den Jüngling aufweckt, worauf dieser (wie
Jason) die Schlange durch Zauber einschläfert, die Perle gewinnt und nach Haus
bringt, nachdem er ein herrliches Prunkgewand angelegt, dessen Bedeutung absolut
unklar bleibt (irrig die Erklärung S. 119). Es ist ein Verdienst R.s, diesen
Hymnus, der in seiner Umgebung, der Geschichte des Apostels Thomas, als
Zauberhymnus aufgefasst und auf Christus bezogen wird, als weltliche Wunder-
erzählung erkannt zu haben. Es ist eine jener zahlreichen Volkserzählungen,
welche, in verschiedener Gestalt als Märchen oder Sagen auftretend, im Grunde
eine Fahrt in die Unterwelt zur Erlangung eines Kleinods (goldenes Vliess, goldene
Äpfel, goldene Haare, Rinder, Wasser des Lebens usf.), oft unter Bedrängung
durch Dämonen, schildern und ursprünglich gewiss mythische Bedeutung haben.
Ich verweise nur auf die Märchen Grimm n. 29, 57 und 973) und die Sagen von
1) Rolide, Griech. Rom.2 S. 588f.. bes. 589, 3. Dazu noch zu stellen Herodot I 47 f.
(Lucian, Jupiter confut. 14, Bis accus. 1). Vgl. ferner: Die sieben weisen Meister Cap. 4.
Cento novelle ant. n. 3. Hamlet, bei Simrock, Quellen des Shakespeare 1, 112f., dazu
131 f. v. d. Leyen, Indische Märchen S. 05. 149# Preindlsberger-Mrazovic, Bosnische
Yolksm. S. 68ff. Dunlop-Liebrecht S. 212 u. 487 Anm. 282. Òesterlev, Baital Pachisi
S. 162 ff. u. 212ff. Heisenberg, Verhandl. der 47. Philologen-Vers, zu Halle (1904), S. 66.
Endlich, um der Kunstmärchen nicht zu vergessen, Hauffs Geschichte von Abner, dem
Juden, der nichts gesehen hat. [Wetzel, Die Reise der Söhne Giaffers ed. Fischer
». Bolte 1896 S. 198 f.]
2) Wie' Psyche auf ihrer Unterweltsfahrt, iln(l der lyrische Herakles (Hahn, Griech.
M. 1, 33).
3) Besonders schön n. 29 „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren". Vgl. die
Anmerkungen 3, 56 f. und R. Köhler, Kl. Sehr. 1 402. 466. Zu dem zweiten Teil
des Märchens, auf den es uns hier allein ankommt — der erste enthält das Kyros-
Romulus Motiv — notiere ich noch: Hahn, Griech. M. 26 vgl 1, 60 n. 40). Gonzenbach,
Sicil. M. 64 (vgl. 2, 241 f.). Chalatianz, Armen. M* 5. Schreck, Finn. M. 16. Usener,
.126
Lucas: Berichte unci Bücheranzeigen.
lason, Theseus, Herakles (Hesperiden, Geryones, Alkestis), Gilgamesch, Thors
Fahrt nach Hymirs Kessel u. a. Man kann daher als möglich zugeben, dass der
in Form einer Erzählung auftretende ägyptische Wundzauber1), welchen R. S. 104 f.
aus einem demotischen Papyrus mitteilt: Errettung des auf einer Fahrt von den
Feinden getöteten Horus durch seine Mutter Isis vermittels eines zauberkräftigen
Gegenstandes (Herz?), letzten Endes auch eine Untervveltswanderung gewesen sein
mag; aber weiter darf man nicht gehen. R.s Bemühungen, diese beiden Ge-
schichten (den griech. Hymnus und den ägypt. Zaubersegen) und gar das Fragment
eines manichäischen Liedes (S. 111), das mit der Sache absolut nichts zu tun hat
und nur übereinstimmt in den formelhaften Anfangsworten, einander anzugleichen,
durch ihre Kombinierung eine einheitliche Fassung zu gewinnen und die ägyptische
als die originale hinzustellen, sind völlig verfehlt. Daran ändern auch nichts die
mannigfachen interessanten und an sich nützlichen Parallelen aus den ägyptischen
Totenbüchern. Übrigens einen vollen Sinn in die lückenhafte und nicht ganz
verständliche Horusgeschichte hineinzubringen, wird wohl niemals gelingen. Denn
als Zauberspruch konnte schwerlich eine Geschichte dienen, die für jedermann
verständlich war. Viel wäre "vielleicht, vermute ich, für diese Geschichte zu ge-
winnen aus dem merkwürdig verwandten ägyptischen Zaubersegen bei Erman
. Krebs, Aus den Papyrus der Kgl. Museen S. 257 f.
In der Beurteilung dagegen des in den Thomasakten von dem Apostel bei
der Hochzeit einer Königstochter gesungenen Hochzeitsliedes und des darauf
folgenden Vorganges wird man II. (S. 134if.) zustimmen müssen. Thomas wird
nach seiner Beglaubigung durch eine Wundertat von dem König in das Braut-
gemach geführt, um durch sein Gebet Christus herabzuziehen. Dieser erscheint,
predigt den Vermählten Enthaltsamkeit, und die Braut erklärt sich am folgenden
Morgen als in einer höheren Ehe Gott vermählt. Auch darin wird R. recht
haben, dass die dieser Erzählung zugrunde liegende Anschauung, Gott und Mensch
müssten zusammenwirken bei der Zeugung eines künftigen Königs, auf die be-
kannten Vorstellungen der Ägypter von dem König als Sohn des Gottes zurück-
gehen. Er erinnert treffend an die Rolle des Ägypters Nectanebus in der Sage
von der Geburt Alexanders des Grossen (Zacher, Pseudokallisthenes S. 114). Ähn-
liche Vorstellungen begegnen aber auch sonst bei den Griechen: s. Marx, Griech.
Märchen von dankbaren Tieren S. 122. Die interessanten, S. 141, 1 gesammelten
Erzählungen von lüsternen Priestern, die unter der Maske eines Gottes Zugang
finden zu leichtgläubigen Frauen, und denen ich noch den 10. Brief des Aeschines
(erzählt aus Ilion, Magnesia und Epidamnus) hinzufügen möchte, bringen mich
auf die Vermutung, dass der Kern der bekannten Novelle des Boccaccio IV n. 2
(hierzu Landau, Quellen des Dek. S. 293 f., der schon richtig Nectanebus heran-
zieht, und Lovatelli, Rom. Essays S. 195), Masuccio I 2, Cent nouv. nouv. 14
schon antik ist, also wahrscheinlich eine griechische (milesische?) Novelle war.
Chai'lottenburg. Hans Lucas.
Rhein. Mus. 1901, 485ff. Singer, Schweizer M. 1) 59. Kadermacher, Das Jenseits im
Mythos der Hellenen S. 78ff. Ferner, etwas anders: Kreutzwald, Ehstnische M. 14.
1) Bekanntlich haben Zaubersprüche oft die Form von Erzählungen, wie die be-
kannten Merseburger Formeln, die Sprüche bei Grimm, DM. x, Anhang p. CXXYIff. n. X.
XI. XVIII. XLVII, und die ägyptischen bei Erman u. Krebs, Aus den Papyrus der
Kgl. Museen zu Berlin S. 257 ff'.
Ebermann, Minden, Boite: Protokolle.
127
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 26. Oktober 1906. Der Vorsitzende widmete dem am 19. Juli
d. J. verstorbenen Mitgliede, Herrn Geheimrat Dr. Alb. Voss, einen warmen Nachruf.
Darauf legte Herr Stadtverordneter H. Sökeland einige für die Kgl. Sammlung
liir V olkskunde erworbene Gegenstände aus Schlesien und Thüringen vor, dar-
unter einen Spinnwirtel aus Glasmosaik, Frauenhauben, einen bemalten Schellen-
bogen und ein zu Taschenspielerkünsten benutztes Messer. Über die Steine von
Rietz und den Schwurstein von Müschen sprach Herr Hermann Maurer. Ein
näheres Eingeben auf den Inhalt des gehaltvollen Vortrages ist an dieser Stelle
nicht möglich, da der ganze Vortrag demnächst an anderem Orte gedruckt werden
soll. Herr Dr. Eduard Hahn erstattete Bericht über den Anthropologenkongress
in Görlitz. Die zahlreichen Photographien, mit denen der Herr Redner seine Dar-
stellungen veranschaulichte, wurden der Kgl. Sammlung für Vkd. überwiesen.
Freitag, den 23. November 1906. Der Vorsitzende berichtete über die
seitens des Vorstandes und Ausschusses getroffenen Vorbereitungen zur Tagung
des Verbandes deutscher volkskundlicher Vereine, die zu Pfingsten 1907 in Berlin
stattfinden soll und schilderte näher die volkskundliche Abteilung der jüngsten
Dresdener Kunstgewerbeausstellung. — Herr Oberlehrer Dr. E. Samter legte eine
Reihe trefflicher Photographien aus dem Engadiner Museum zu Ponteresina vor._
Fräulein Elisabeth Lemke hielt einen Vortrag über das menschliche Haupthaar.
Sie besprach die Volksmeinungen über Farbe und Art des Haares, die Haartrachten
des Altertums, Mittelalters und der neueren Zeit und den Haarersatz der höheren
Stände, für den die in Europa wie in China und Japan unter dem niederen Volke
herumziehenden Händler sorgen müssen. In Frankreich hat z. B. die Vertreibung
der geistlichen Orden Einfluss auf den Haarmarkt ausgeübt. Den Beschluss machte
eine Musterung des an die Haare sich knüpfenden Zauberwesens und der noch
vor 50 Jahren beliebten, aus Haaren hergestellten Zierrate. In der darauf folgenden
Besprechung vertrat Herr Prof. Dr. Schulze-Veltrup die Ansicht, dass die
Redensart „Haare auf den Zähnen haben" mit haaren = schärfen, dengeln zusammen-
hänge. — Endlich sprach Herr Dr. H. Michel über Volksetymologie, deren Begriff
vor etwa 50 Jahren durch den kürzlich verstorbenen Ernst Förstemann in die
"Wissenschaft eingeführt worden ist. Wir verfügen über ein ansehnliches Material
von "Wörtern, die durch Volksetymologie entstanden sind oder doch entstanden sein
können; aber es fehlt an einer Systematik, die die typischen Faktoren erkennen
lässt. Nicht kulturgeschichtliche Prinzipien dürfen hier massgebend sein, wie in
dem bekannten und als Stoffsammlung sehr schätzbaren Buche vonAndresen; viel-
mehr müssen der psychische Vorgang bei der Volksetymologie und sein Ergebnis,
die neueWortform, die Hauptkriterien liefern. Der Vortragende teilte demzufolge
alle Volksetymologien in fünf Klassen ein und erläuterte die theoretische Um-
schreibung jeweils durch praktische Beispiele. Er sah in der Volksetymologie weit
mehr als „eine drollige Phantasiegestalt, die sich an die Schleppe der prosaischen
Wissenschaft hängt", wie sie neuerdings Rudolf Thurneysen in seiner sonst ganz
vortrefflichen Rede 'Die Etymologie' (Freiburg 1905. S. 32 f.) genannt hat. Nicht
128
Ebermann, Minden, Boite: Protokolle.
nur manche Wortbildung1, sondern auch manche Sagenbildung haben wir der
Volksetymologie zu verdanken.
Freitag*, den 28. Dezember 1906. Herr Dr. K. Brunn er legte aus der
Kgl. Sammlung für Volkskunde einen Pfahl aus einer Baumschule zu Lübeck vor,
auf dem in eigenartiger Zifferschrift die Zahl der Bäume eines bestimmten Feldes
eingekerbt war, ferner eine von dem Kgl. Konservator Herrn Ed. Krause geschenkte
kleine tönerne Kochmaschine in Form eines Kanonenofens, wie sie in Barmen die
Kinder als Spielzeug zu Weihnachten erhalten, und zwei ebendaher stammende
Teigpuppen mit Tonpfeifen (Klaskerle). — Herr Dr. E.Hahn zeigte einige Gebäck-
formen, die seit 1550 in der Familie v. Bezold im Gebrauch sind, uud Herr Stadt-
verordneter H. Sökeland besprach eine aus München stammende hölzerne Marien-
statuette, welche die Himmelskönigin mit schwarzer Hautfarbe darstellt. Solche
schwarzen Marienbilder existieren z. B. auch in Czenstochau, Moskau, Kasan, Prag,
in Köln, Würzburg, Regensburg, Altötting, Einsiedeln, und man erzählt zur Er-
klärung bisweilen, dass das Bild aus einem Kirchenbrande unversehrt, aber ge-
schwärzt hervorgegangen sei oder dass damit eine Anspielung auf das Hohelied 1,4:
„Nigra sum, sed formosa" beabsichtigt sei, während der Pariser Gelehrte Pommerel
(1901) die schwarze Färbung aus dem heidnischen Kulte der Magna mater oder
der Isis ableiten will. Der Vortragende dagegen suchte diese Eigentümlichkeit
auf die byzantinische Malerei zurückzuführen; da nach dem von Didron heraus-
gegebenen Malerbuche vom Berge Athos die Gestalten der Heiligen zuerst rot
umrissen und dann mehrmals schwarz unterlegt wurden, bevor die Fleischfarbe
darüber aufgetragen wurde, so konnte die letztere oder der Firnis später leicht nach-
dunkeln und so eine Erinnerung an jene längst auf Maria bezogenen Worte des
Hohenliedes wachgerufen werden. — Endlich hielt Herr Dr. E. Hahn einen Vor-
trag über den Hirse im deutschen Volksleben. Während der Getreidebau der
alten Welt sich auf Europa, Nordafrika, Vorderasien und Nordchina beschränkt,
ist das Gebiet des Hirses bis in die Tropen und bis Nordjapan ausgedehnt, und
sein Anbau ist älter als der unserer Getreidearten. Verdrängt ist der Hirse, der
einst eine grosse Rolle in der Kultur spielte und in Indien, China und Japan zu
den heiligen Pflanzen gehörte, bei uns durch drei Faktoren: als Morgenspeise
durch den Kaffee, als Mittags- und Abendgericht durch die Kartoffel und als Fest-
gericht bei Hochzeit, Taufe, Leichenmahl, Neujahrsfeier durch den Reis. Während
die vier Getreidearten, Erbsen, Linsen, Rüben zum Ackerbau des Mannes gehören,
ward der Hirse, der Spatenkultur erfordert und gejätet werden muss, im Garten
der Bäuerin angepflanzt und steht in besonderem Verhältnis zum Lein- und
Hanfbau. In den römischen Sakralvorschriften wird er nicht der Ceres, sondern
der Pales zugewiesen. In der Schweiz ward in der Fastnachtszeit der Hirse
öffentlich gekocht und an die Narren verteilt (Hirsnarr, Hirsmontag, hirsen = sich
vermummen, Reise des Zürcher Hirstopfes nach Strassburg). Heut wird in Deutsch-
land und Ungarn nur noch wenig Hirse gebaut, unser El irse kommt meist aus
Südrussland. An der dem Vortrage folgenden Besprechung beteiligten sich ins-
besondere die Herren Maurer, Schulze-Veltrup, W einitz, Roediger. — Die Ver-
sammlung wählte den bisherigen Vorstand durch Zuruf für das Jahr 1907 wieder.
0. Ebermann, G. Minden, J. Bolte.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
Von Oskar Dähnhardt.
II. Naturdeutung und Sagenentwicklung.
(Vgl. oben S. 1—16.)
B. Märchen.
1. Strohhalm, Kohle und Bohne.1)
Ein bekanntes Grimmsches Märchen, das plattdeutsch auch von
Wisser in Ostholstein aufgezeichnet wurde (Wat Grotmoder verteilt,
X. F. 87), erzählt folgende tragikomische Begebenheit: Strohhalm, Kohle
und Bohne reisen zusammen und kommen an einen Bach. Der Strohhalm
legt sich als Brücke hinüber. Die Kolile betritt ihn, der Halm zerbrennt
die Kohle fällt ins Wasser, zischt und ertrinkt. Die Bohne aber muss
dermassen lachen, dass sie platzt. Zum Glück kommt ein Schneider des
Weges, der näht sie wieder zu, aber mit schwarzem Zwirn, und seitdem
haben die Bohnen die bekannte Naht.
Dieser Schluss ist nichts als anekdotenhafter Aufputz, wie sich aus
einer Durchmusterung der Varianten ergibt. Ich beginne mit einem
russischen Märchen, das mir die beste und ursprünglichste Gestalt zu
bieten scheint (Afanasjev 1, 146). Die Übersetzung, die ich Herrn
Geheimrat* Leskien verdanke, stammt aus einem umfangreichen Manu-
skript, das dieser einst für eine von Reinhold Köhler geplante Märchen-
sammlung angefertigt und mir in freundlichster Weise überwiesen hat.
Es heisst dort:
Es gab einmal eine Blase, einen Strohhalm und einen Bastschuh; die gingen
in den Wald, Holz zu schlagen, kamen an einen EHuss und wussten nicht, wie
sie hinüberkommen sollten. Da sprach der Bastschuh zur Blase: Blase> lass uns
auf dir hinüberschwimmen! — Nein, Bastschuh, besser ist es, der Strohhalm
streckt sich von einem Ufer zum andern, und wir gehen auf ihm hinüber. Der
Strohhalm streckte sich, der Bastschuh ging auf ihm hin und brach durch. Der
Bastschuh fiel ins Wasser, die Blase lachte und lachte so heftig, dass sie platzte.
1) Grimm, KHM. 18. Waldis, Esopus 3, 97.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907.
9
130
Dähnhardt:
Diese Geschichte ist völlig einwandsfrei und unverdächtig. Das
spannend anhebende Abenteuer der drei seltsamen Wanderer hat sich in
nichts aufgelöst; der Verblüffungshumor, der im Yolke eine so grosse
Rolle spielt, hat seinen Trumpf hingegeben, die Komik bedarf keines
weiteren Zusatzes. Auch ist das Platzen der Blase ein so natürlicher1)
Yorgang, dass sie offenbar besser als die Bohne zum Abschluss des
Ganzen geeignet ist. Eine Bestätigung dieses Abschlusses gewährt über-
dies eine wendische Variante (Haupt und Schmaler 2, 160), auf die
schon in den Grimmschen Anmerkungen aufmerksam gemacht ist.
Drei gute Kameraden, Köhlchen, Bläschen und Strohhälmchen, gingen zu-
sammen in die Fremde. Unterwegs auf ihrer Reise kamen sie an einen Pferde-
tritt voll Wasser und wussten lange nicht, wie sie über das Meer kommen sollten.
Zuletzt fassten sie aber doch den Beschluss, dass sich Strohhälmchen querüber
legen solle, und die anderen wollten auf ihm das Meer überschreiten. Das
Köhlchen ging voran. Als es aber bis zu Strohhälmchens Hälfte gekommen war,
wollte es sich ein Weilchen umsehen, durchbrannte aber hierbei Strohhälmchen,
und beide ertranken. Bläschen, dem schon sonst alles lächerlich war, fing an.
hierüber so sehr zu lachen, dass es zerplatzte. Und Steinchen, welches zusah,
sagte: „Ja doch, ja; jemandes Schaden, jemandes Spott. Aber bisweilen gerät
es den Spöttern doch auch übel."
Diese Variante, deren moralischer Zusatz natürlich ein ganz junges
Anhängsel ist, darf auch nach anderer Hinsicht als bemerkenswert gelten.
Sie zeigt die Änderung, dass statt des Bastschuhes die Kohle auftritt.2) In
der Tat, eine sehr glückliche Änderung, da die tragische Notwendigkeit
des Unglücksfalles gesteigert wird. Das Umgekehrte, dass etwa die
wendische Fassung älter und die russische eine Verschlechterung wäre,
ist freilich wohl denkbar — aber was ist wahrscheinlicher: dass man den
Schuh durch die viel drastischere Ivohle ersetzte, oder dass man statt der
Kohle ohne jede Nötigung den Bastschuh nahm?
Auf deutschem Boden, in der Schweiz und in Holland macht
der Stoff eine neue Wandlung durch: zwar verbleiben Strohhalm und
Kohle, aber die Blase verschwindet, und an ihre Stelle werden Maus
oder Bohne gesetzt.
1. Glüh ko hie und Maus kommen an einen Bach, über dem ein Strohhalm
als Brücke liegt. Der Halm verbrennt unter der Kohle, sie fällt hinein und macht
zsch! Die Maus lacht, dass ihr der Pelz platzt. Daran schliesst sich ein
Häufungsmärchen, worin die Maus schliesslich den Schuster dazu bringt, ihr den
Pelz zu flicken (Schweiz. Sutermeister Nr. 5). An diese Version erinnert ein
lateinisches Gedicht des Mittelalters (Hdschr. in Strassburg), dessen In-
1) Ebenso natürlich iu folgendem kleinen Märchen bei Afanasjev: Einmal gingen
zwei Alte des W eges und traten in ein leeres Hüttchen, um sich auf dem Öfchen zu
wärmen: Bläschen und Fläumchen. Bläschen schickte Fläuinclien hin: „Geh, schür das
Feuerchen!" Fläumchen ging, blies ins Feuerchen und loderte auf. Bläschen aber
lachte und lachte so heftig, dass es vom Öfchen fiel und platzte.
2) [Auch in einer russischen Variante (Permski sbornik 7, 121) erscheint, wie Herr
Prof. M. Boehtn mitteilt, ein Köhlchen statt des Bastschuhes].
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
131
halt in den Grimmschen Anmerkungen angedeutet ist. Dort reisen ebenfalls Maus
und Kohle. Beide wallfahrten in die Kirche, um ihre Sünden zu beichten
(mönchische Ausschmückung!); beim Übergang über einen Bach fällt die Kohle
hinein, zischt und verlischt.
2. Statt der Maus erscheint die Bohne: wie bei Grimm, Wisser und Burk-
hard Waldis, nach dem vermutlich die lateinischen Yerse der Nugae venales
vom Jahre 1648 (siehe Grimms Anm.) gedichtet sind, so auch im Nieder-
ländischen. Vgl. Rond den Heerd 7, 397; Joos, Vertelsels 1, 23 Nr. 1 (nur
dass dort der Schuster der lachenden Bohne Pech ins offene Mäulchen wirft und
daher der schwarze Fleck der Bohne kommen soll); Mont en Cock, Vlaamsche
Vertelsels S. 115, doch ohne den Handwerker („das Lachen muss arg gewesen
sein, denn noch sieht man das Mal davon.")
Eine neue Änderung in einem elsässischen Märchen besteht darin, dass
statt der Kohle die Katze auftritt. Offenbar dienten hier andere Märchen, in
denen Katze und Maus zusammen agieren, als Vorbild. Der Strohhalm als Brücke
der Katze zerbricht unter ihr, die Katze fällt ins Wasser. Die Maus lacht, dass
ihr der Bauch platzt (Stöber, Elsäss. Volksb. 95).
Trotz der mehrfachen Veränderung- ist die Handlung in einem Punkte
-überall gleich: das Zerbrechen des Strohhalmes erweist sich als ein un-
bedingt notwendiges Ereignis, das zum plötzlichen Ende hintreibt. Auch
in einem anderen Grimmschen Märchen (Nr. 80) führt die gefährliche
Halmbrücke zum Tode des Ertrinkens. Sie ist ein echtes und rechtes
Märchenerfordernis.
Es gibt nun noch eine letzte Variante, eine siebenbürgische, in der diese
Brücke fehlt. Dort kommen Ente, Frosch, Mühlstein und Glühkohle an einen
Fluss, die Ente trägt alle hinüber, aber mitten drin taucht sie unter, um einen
Fisch zu fangen, und Mühlstein und Kohle ertrinken. Ente und Frosch lachen
darüber, und seitdem lachen sie noch heute, die Ente, wenn sie schnattert, der
Frosch, wenn er quakt. (Haltrich, Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen
S. 90 = Volksmärchen 4 S. 26G.)
Diese A ersion ist die schlechteste von allen; die Gründe der Ent-
stellung liegen auf der Hand. Demselben Bestreben nach überraschender
Zuspitzung, welchem das Grimmsche Märchen den Witz von der Bohnen-
naht verdankt, ist die Deutung des Sehnatterns und Quakens entsprungen.
Ente und Mühlstein stammen aus dem Märchen von Herrn Korbes (Grimm
Nr. 41), der hrosch sowie das Motiv des Untertauchens aus der Fabel vom
Frosch, der die Maus über das Wasser trägt. Wenn Herr Professor
S. Singer in seiner Schrift über 'Schweizer Märchen' (S. 46) gerade dieses
Motiv als basis unseres Märchens ang0jjommen und daran sogar A er-
mutungen über die ursprüngliche Gestalt der Batrachomyomachie geknüpft
hat, so ist das zwar recht interessant und hübsch ausgedacht, aber es fehlt
jeglicher Beweis.
Die Vergleichung der einzelnen Varianten hat gezeigt, dass die Er-
klärung der Bohnennaht eine Pointe ist, auf die das Märchen ursprünglich
gar nicht hinauslief. Zur weiteren Stütze dieses Ergebnisses sei noch auf
9*
132
Dähnhardt:
ein ganz ähnliches Beispiel solcher Pointensucht hingewiesen, eine Ge-
schichte von der Erbsennaht.
Jedermann kennt Grimms Märchen (Nr. 23) von dem Mäuschen,
Vögelchen und der Bratwurst, die zusammen einen Haushalt führen.1)
Die Maus holt Wasser, der Yogel Holz, und die Wurst kocht das Gemüse.
Um es schmackhaft zu machen, windet sie sich ein paarmal hindurch.
Der Yogel aber ist mit seiner Beschäftigung nicht zufrieden: er will
Wasser holen. Da geht denn die Wurst in den Wald nach Holz, aber
ein Hund frisst sie unterwegs auf. Die Maus will, wie einst die Wurst,
durch das Gemüse schlüpfen und verbrüht. Der Yogel endlich ertrinkt
mit dem schweren Eimer im Brunnen. Mit allen dreien ist's aus, genau
so aus und vorbei wie mit Strohhalm, Bastschuh und Blase. Hier wie
dort ist der Yorwitz bestraft, die abenteuerliche Wanderung und die
törichte Yertauschung der Ämter. Solche Ähnlichkeit mag wohl mit dazu
beigetragen haben, dass sich die willkürliche Naturdeutung auch dieses
zweiten Märchens bemächtigte. Es gibt folgende preussische Variante:8)
Wurst, Maus und Erbse wohnten zusammen in einem kleinen Häuschen. Die
Woche über hatte jeder sein Geschäft und bekümmerte sich nicht viel um den
andern; jedoch Sonntags — so machten sie es unter sich aus — sollte gemein-
schaftlich Rüche gehalten werden und eines von ihnen zu Hause bleiben, um
Kohl zu kochen, indem die anderen beiden nach der Kirche gingen. Nun traf
sichs immer, wenn das Würstchen zu Hause blieb und Kohl kochte, dass derselbe
ganz vorzüglich gut schmeckte. Und das Mäuschen konnte sich nicht enthalten,
das Würstchen zu fragen: Wie maakst du doch datt, leevet Worstke, datt dien
Kohl ömmer so schön schmeckt, wenn du koakst? — Na, seh' ee mahl, öck maak
ett so — sagte das Würstchen: wenn hei so recht ömm Kaake öss, denn lopp
öck so ee paarmal dorch, on denn schmeckt hei so goot! Das Mäuschen war
hierauf ganz still, und am nächsten Sonntage, da gerade an ihr die Reihe war,
Kohl zu kochen, machte sie es ebenso, wie sie vom Würstchen gelernt hatte, er-
trank aber und zerkochte im Kohltopfe. Das Würstchen und Erbschen kamen
nach Hause und suchten und suchten, fanden aber das Mäuschen nicht. Würstchen
war ganz untröstlich. Erbschen aber sagte: Ah, haal ehr dei Dievel, mi hungert,
göff man dem Topp her! Als sie nun den Kohl auf die Schüssel gössen, da
fanden sie die Knochen von dem Mäuschen. Die Erbse fand dieses so lächerlich,
dass sie loslachte, bis ihr das Hinterteil platzte. Sie musste zum Schuster gehen
und sich einen Flicken aufnähen lassen. Und seit der Zeit haben auch noch
alle Erbsen einen schwarzen Flecken. — Hieran schliesst sich ein Häufungs-
märchen.3) Das Würstchen setzt sich auf die Türschwelle und beweint das
Mäuschen. Ein Hund kommt dazu und fragt: Worstke, watt grienst du? Antwort:
Na, sull öck nich griene? Muuske öss ömm Kohltopp versaape! Der Hund bellt
dem Zaune zu. Von diesem nach der Ursache befragt, antwortet er: Na, sull öck
nich belle? Muuske öss ömm Kohltopp versaape, Worstke sött opp dei Schwell
on grient. Sull öck denn nich belle? Der Zaun fällt um und wird vom Baum
1) [Vgl. dazu oben 15, 344.]
2) Neue preuss. Provinzialblätter 1, 226 (1846), mitgeteilt von Funck.
3) [Vgl. R. Köhler, Kleinere Schriften 1, 364. 3, 355 f. Sklarek, Ungar. M. Nr. 31.]
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
133
befragt. Der Baum lässt sein Laub fallen, der Brunnen lässt das Wasser laufen,
die Magd schlägt den Eimer entzwei, der Herr schlägt den Wagen entzwei. Der
Knecht endlich schliesst die Tragikomödie mit den Worten: Ah, denn wöll öck
renne bött öck steert! On nu rennt hei noch, wenn hei nich schons gesteert öss.
Auffallend ist die grosse Ähnlichkeit mit dem Schweizer Märchen
von Strohhalm, Kohle und Bohne, da ja auch dort Bohnennaht und
Häufungshumor zusammen vorkommen. Nur ist der Inhalt der Häufungen
verschieden. Die des Schweizermärchens gehören zu Grimm Nr. 80 (vom
Iode des Hühnchens; gemeinsames Motiv: Hilfe wird erst dann gewährt,
nachdem eine Gefälligkeit erwiesen ist), die des preussischen Märchens
gehören zu Grimm Nr. 30 (Läuschen und Flöhchen; beide führen eben-
falls gemeinsamen Haushalt, Läuschen fällt in die Eierschale, in der sie
Bier brauen. Flöhchen schreit, Tür knarrt, Besen kehrt, Baum schüttelt
sich, Magd zerbricht Wasserkrug, Brunnen fliesst, und in dem Wasser er-
trinkt alles). In beiden Fällen hat also die Willkür des Erzählers mit
den gleichen Mitteln gearbeitet, um den Stoff zu erweitern und neue
Wirkung zu erzielen. Bei der Beliebtheit des Häufungsmotivs lag es
nahe, gerade dieses zu verwenden.
Ein Rückblick auf die hier besprochenen Varianten zeigt, dass die
einfachste Form, die russische, als die beste zu gelten hat. Wo man
aber die Heimat des Märchens suchen soll, lässt sich nur durch Herbei-
ziehung der osteuropäischen oder noch weiter östlichen Quellen lösen
Für die Darlegung des Einflusses der naturgeschichtlichen Ätiologie Ge-
nügt es, die vermutlich echte Urform festzustellen.
2. Der fliehende Pfannkuchen.
Auch hier stelle ich eine vorzügliche Fassung aus Russland an die
Spitze und schreite dann weiter nach Westen vor.
1. Russisches Märchen (Afanasjev 1, 54.1) Übersetzt von Leskien).
Es war einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann bat: Backe einen Pfann-
kuchen2), Alte. — Woraus denn backen? Wir haben kein Mehl. — I was, Alte!
Kratz den Mehlkasten aus, kehr den Scheunenverschlag aus (einen in der Scheuer
abgeteilten Raum zum Korneinschütten)! Es wird schon Mehl zusammenkommen. —
Da nahm die Alte einen Flederwisch, kratzte den Mehlkasten aus, und es kamen
noch so zwei Hände voll Mehl zusammen. £)as rührte sie mit Milch an> buk es
in Butter und setzte das Gebäck ins ienstcr zum Abkühlen. Der Pfannkuchen
lag dort eine Weile, auf einmal rollte er hinab, vom Fenster auf die Bank, von
der Bank auf den Ï ussboden, am Boden hin zur Tür, sprang über die Schwelle
in den Hausflur, vom Flur auf die Vortreppe5 von der Treppe in den Hof, vom
Hof zum Tor hinaus und lief immer weiter. g0 roHte der Pfannkuchen den Weg
1) Gubernatis, Die Tiere in der indogerm. Mythologie 2 S. 438 Anni. nennt Af. IV, 18.
2) Für das russ. Kolobok, eine Art rundlichen Milchbrotes. Pfannkuchen ist hier
in dem Sinne des kugeligen Gebäckes genommen, das man Mitteldeutschland so
nennt. Leskien übersetzt: Topfkucheü.
134
Dähnhardt:
entlang-. Da begegnete ihm ein Hase: Pfannkuchen, Pfannkuchen, ich will dicht
essen. — Du sollst mich nicht essen, schief beiniges Häschen; ich will dir ein
Liedchen singen, sagte der Pfannkuchen und hub an:
Aus dem Kasten kratzt' man mich,
Aus dem Verschlage kehrt' man mich,
Mit der Milch mischt' man mich,
In der Butter buk man mich,
An dem Fenster kühlt' man mich,
Bin dem Alten weggelaufen,
Bin der Alten weggelaufen:
Dir, Häschen, kann ich leicht entlaufen.
Damit rollte er weiter, und der Hase verlor ihn aus den Augen. Auf dem weiteren
Wege begegnete ihm ein Wolf .... Es wiederholt sich nun dieselbe Szene mit.
dem "Wolf und noch einmal mit einem begegnenden Bären. Das Lied wird dem-
gemäss bei dem Wolfe fortgesetzt:
Dem Hasen bin ich entlaufen:
Auch dir, Wolf, kann ich leicht entlaufen;
bei dem Bären:
Dem Hasen bin ich entlaufen,
Dem Wolf bin ich entlaufen,
Dir, Bär, kann ich leicht entlaufen.
Endlich begegnet dem Pfannkuchen ein Fuchs, der ihn anredet: Guten Tag, Pfann-
kuchen, wie bist du hübsch! — Darauf begann der Pfannkuchen sein Lied:
Aus dem Kasten kratzt' man mich usw.
Dem Bären bin ich entlaufen,
Dir, Fuchs, werd ich erst recht entlaufen.
Was für ein schönes Liedchen, sagte der Fuchs, aber weisst du, Pfannkuchen,
ich bin alt geworden und höre schlecht. Setz dich doch auf meine Schnauze und
sing noch einmal ein bisschen lauter! Der Pfannkuchen sprang dem Fuchs auf
die Schnauze und stimmte dasselbe Lied an. — Danke, Pfannkuchen. Das Lied
ist wunderschön, ich möchte noch zuhören. Setz dich doch auf meine
Zunge und sing es noch einmal her, zum letztenmal! — So sprach der Fuchs
und steckte seine Zunge heraus. Der Pfannkuchen in seiner Dummheit hüpfte
ihm auf die Zunge, und der Fuchs schnappte zu und verspeiste ihn.
2. Deutsche Märchen ohne naturdeutenden Schluss (sämtlich
H änfun gsm är ch en).
a) Aus Ostpreussen (E- Lemke, Volkstüml. in Ostpreussen '2, 218).
Drei Mädchen backen zusammen ein Kuckelchen. Keine hat Lust, es
aus dem Ofen zu neh men. Während sie darüber beraten, wer es tun soll,,
entläuft das Kuckelchen. Es begegnet einem Fuchs, der es fragt: Bruder Kuckel,
wo läufst du hin? Es antwortet: Fuchs-Puchs, ich bin drei faulen Mägden
weggelaufen, ich werd auch dir weglaufen. Darauf trifft es nacheinander einen
Hasen (Has-Pas), einen alten Hund und ein Schwein. Das rief ihm zu:
Bruder Kuckel, wo läufst du hin? Nun wurde aber mein Kuckelchen schon un-
geduldig und sagte ärgerlich: Ach, du dummes Schwein, ich bin drei faulen
Mägden weggelaufen, ich bin dem Fuchs-Puchs weggelaufen, ich bin dem Has-
Pas weggelaufen, ich bin dem alten Hund weggelaufen, ich werd auch dir weg-
laufen. — Was? fragte das Schwein und richtete sich auf. Was erzählst du da?'
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
135
Ich kann nicht gut hören. Komm doch ein bisschen näher und sag
mir's noch einmal!
Mein Kuckelchen ging richtig näher heran — ja du mein Gott! Da schnappte
das Schwein zu und verschlang es.
Variante (Neue Preuss. Provinzialblätter 1, 446. 1846):
Twey olle Wiwerkens beckte sich enmool ene Pankok. Als sei ober
fertig weer, un sei em op dei Schettel legde, so wer gerad dei Deer ope, un hei
leep ene weg. Do begegend sei enen Holthauer, dei Holthauer segt: Pankok, wo
rennst hen? — I, eck si entlope twey olle Wiewer, un di Holthauer dem
Schedder wer eck uck woll entlope. — Begegend sei enen Redder, dei segt:
Pankok, wo rennst hen? — I, eck si entlope twey olle Wiewer, Holthauer dem
Schedder, un di Ritter dem Redder war eck woll uck entlope. — Begegend sei
enem Hos, dei segt: Pankok, wo rennst hen? — I, eck si entlope twey olle
Wiewer, Holthauer dem Schedder, Ritter dem Redder, un di Ploske Wepersch
war eck woll uck entlope. — Begegend sei ene olle Su, dei segt: Pankok, wo
rennst hon? — I, eck si entlope twey olle Wiewer usw., und di ole Su wer eck
woll uk entlope. — Do segt de Su: Wat segst du, lewer Pankok? Eck si
e beske dof, seg doch noch e mol! Do well dei Pankok der Su dat ent
Ohr sege, aber do schnapt dei Su to, un fret em op. Da wer met em aller.
b) Aus der Niederlausitz (Gander, Niederlaiisitzer Yolkssagen
S. 122, Nr. 319).
Zwei Frauen in Jetzschko buken einen Eierkuchen, und als er ziemlich
gar war, bekamen sie Streit um ihn, weil jede ihn ganz haben wollte. Die eine
sagte: Den Eierkuchen nehm' ich mir! Die andere: Nein, den will ich ganz
haben. Ehe sie sich's versahen, bekam der Eierkuchen Füsse, sprang zum Tiegel
heraus und lief fort. Da begegnete er dem Fuchse. Dieser sagte zu ihm:
Eierkuchen, Eierkuchen, wozu? wozu? Der Eierkuchen erwiderte: Ich bin zwei
alten Weibern fortgerannt, dir werde ich auch fortrennen! Darauf begegnete er
einem Häschen. Das rief auch: Eierkuchen, Eierkuchen, wozu? Dieser ant-
wortete: Ich bin zwei alten Weibern fortgerannt, dem Fuchse-Kanell, und dir
werde ich auch fortrennen. Der Eierkuchen lief weiter und kam an ein Wasser.
Auf dem kam ein Schiff mit Leuten geschwommen. Diese schrien auch:
Eierkuchen, Eierkuchen, wozu? Er sagte wieder: Ich bin zwei alten Weibern
fortgerannt, Fuchse-Kanell, Hasen gar schnell, und euch werde ich auch fort-
rennen. Jetzt begegnete ihm ein grosses Schwein, das rief ihn auch an: Eier-
kuchen, Eierkuchen, wozu? wozu? — Ach, sprach er, ich bin zwei alten Weibern
fortgerannt, Fuchse-Kanell, Hasen gar schnell, Schiffe mit Leiten, dir werd ich
auch noch entschreiten! Das Schwein sagte: Eierkuchen, ich höre nicht gut,
du musst mir's ins Ohr sagen. Da ging der Eierkuchen nahe heran, und
waps! waps! hatte das Schwein ihn weg und frass ihn auf, und damit hat
die Geschichte ein Ende.
c) Aus Pommern (Blätter f. pomni. Yolksk. 9, 62).
Dat waie diei Mäkens, dei backde sich Pannkoken und were dab i in~
schlapen, un dei Pannkok dei leip en weg. Da kam ein Holthauger und
seggt: Fett Pannkok, wo leppst du hen? Dei Pannkok säd: Ick bin drei fule
Mäkens weglope, un di l0p ick uck . . . pjg f0]gen Hund, Katze, Bäcker,
Ochs. Da kam ein Ochs un seggt: Fett Pannkok, wo leppst du hen? Dei
Pannkok säd: Ick bin drei fule Mäkens weglope, lIolthauger' Hundehauger, Katt-
136
Dähnhardt:
miauger, Klitskebäcker, un di lop ick uck. Dei Ochs seggt: Wat seggst du?
Ick kann nich recht here! un ging neger to den Pannkok ran. Wat seggst
du? un schnappt to un schluckt em up. De drei Mäkens wagde up un
hadden nischt up de Pann. — Hierzu gehört die Rügensche Redensart: En oll
ful Wiew un twe oll fule Dierns löppt de Pannkoken weg. (Eine Alte und
zwei Mädchen kommen in der unten angeführten Fassung aus Ditmarschen vor,
sie müssen aber auch in Rügen so vorgekommen sein.)
d) Mecklenburg. Vielfach vorhanden (Mitteilung von Richard
Wossidlo).
e) Aus Hannover (Colshorn Nr. 57 = Dähnhardt, Deutsches Märchen-
buch 2, 23).
Der dicke, fette Pfannkuchen entläuft drei alten Weibern und begegnet dem
Häschen Wippsteert, dem Wulf Dicksteert, der Zicke Langbart, dem Perd
Plattfaut, der S u Haff. Jedesmal Frage und Antwort mit entsprechender Häufung.
Zuletzt kommen drei arme Waisenkinder und bitten: Lieber Pfannkuchen, bleib
stehen! Wir haben noch nichts gegessen den ganzen Tag. „Da sprang der dicke,
fette Pfannkuchen den Kindern in den Korb und Hess sich von ihnen essen."
f) "Vom Niederrhein. Märchen mit Lokalnamen (Dülkener
Mundart).1)
Fei Jenneken bocket eene Kook. Du woar deä so fett, dotte ute Pann loope
geng. Du leip e bi Heumoon, den aa Gries. O, säät deä, do kömmt Brauär
Kook! — O, säät Brauär Kook, ich bön Fei Jenneke loope gegange, ich sali dich
aa Gries ooch wähl loope goan. — Du leip e bi Schmecken Bellken. On du säät
di ooch allwerr: 0, doa kömmt Brauär Kook! Ho, ich bön Fei Jenneke loope
gegange, on ich bön Heumoon den aa Gries loope gegange, on sali dich Schmecken
Bellken ooch wähl loope goan. — On du leip e werr bis bi Bokkese Puus, on du
säät dö Puus: Ho, doa kömmt Brauär Kook! — Du säät e: Ich bön Fei Jenneke
loope gegange, ich bön Heumoon den aa Gries loope gegange, ich bön Schmecken
Bellken loope gegange, ich sali dich, Bokkese Puus, ooch wähl loope goan. —
Du leip e en der Muäsel. On du koam der decken Töller on reip: Halt, halt, halt,
doa kömmt Brauär Kook. — Du säät e: Ich bön Fei Jenneke loope gegange, ich
bön Heumoon den aa Gries loope gegange, ich bön Schmecken Bellken loope ge-
gange, ich bön Bokkese Puus loope gegange, ich sali dich decken Töller ooch
wähl loope goan. — Du leip e, du leip e on koam en öt Goostes bi Frinkes-
männken, deä koam möt dör Carabiner on wau örn duät scheiten. Du säät e:
0, ich bön Fei Jenneken loope gegange, ich bön Heumoon den aa Gries loope
gegange, ich bön Schmecken Bellken loope gegange, ich bön Bokkese Puus loope
gegange, ich bön Bokkese Puus loope gegange, ich bön den decken Töller loope
gegange, on du Frinsmännken ki'iggs mich ooch neit. -— Du leip e werr bös an
dö Poart Du koam der Kuur (Nachtwächter) Päsers Friddes möt öt Hoaren on
wau öm öt Hoaren drop schloan. Du koam e Friddes ooch derduär on leip de
Poart ut bis an et brook bi de Wäschwiever on säät: Ich bön Fei Jenneken loope
gegange, ich bön Heumoon usw., ich bön Päsers Iriddes loope gegange, on ör
Wäschwiever kriggt mich ooch neit. Du koamen dö Wäschwiever möt de Geit-
1) Hans Zurmühlen, Niederrheinische Volkslieder (.2. Ausg. von Des Dülkener Fiedlers
Liederbuch) 1879, S. 145. Den Hinweis auf diese versteckte Variante verdanke ich
Rieh. Wossidlo.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung. 137
klömp on leipen öm noa on kriägen öm doch neit. Du leip e bis an öt Helgen-
hiisken an öt Reulen-Enk. Du koam ed aat Buremännken on säät: O Brauär
Kook, kömras du ooch. Jong! Nu welle wör os get setten on os räesten.
Du trock dot Buremännken höäschkes e Knippken ut de Teäsch on
schniät Brauär Kook medsen duär on oat öm op.
3. Norwegisches1) Märchen. Asbjörnsen, Norske Folke-Eventyr, liy
Sämling 1871 Nr. 104: 'Pandekagen' = Norske Huldre-eventyr og Folkesagn
18<0 — Auswahl norwegischer Volksmärchen, übers, von Denhardt 1881
S. 53. (I1 ran und sieben Kinder laufen dem flüchtigen Kuchen nach; er
trifft einen Mann, Henne, Hahn, Ente, Gans, Gänserich, Schwein. Das
Schwein erbietet sich, ihn über den Bach zu setzen, nimmt ihn auf den
Rüssel und verschlingt ihn).
4. Dänische Märchen, a) Grundtvig, Gamie danske minder 1861
1, 214 nr. 252: Dien stor Kag (fra Haderslev-Amt). — b) Ebd. 2, 123
nr. 119: Kagen pâ Yandring.
c) Skattegraveren udg. af E. T. Kristensen 2 (Kolding 1884), 31
nr. 233: De tre lade moer. (Die faulen Schwestern hören nicht auf den
Pfannkuchen, der sie auffordert, ihn umzuwenden; er klettert aus dem
Schornstein, begegnet einem Fuchs und einer Sau, entläuft ihnen und
bleibt in den Brennesseln stecken.) — d) Ebd. 2, 127 nr. 663: Pande-
kagen. (Der Pf. begegnet einem alten Manne mit Brennholz, einer
Butterfrau, Eierfrau, Sau. Raps, sagt die Sau und frisst ihn.) _ e) Ebd.
12 (1889), 220 nr. 804: Kagen. (Frau und fünf kleine Kinder. Der
Kuchen begegnet einem Fussgänger, Reiter, Fuhrmann, Hasen, Fuchs
Wolf; der Wolf heisst ihn sich auf seinen Rücken, Nacken, Kopf, Nase,
Schnauze setzen und frisst ihn.) u
î) Kristensen, Danske Dyrefabler og Kjgederemser 1896 S. 58
nr. 113: Kagen, der lob sinArej. (Der Kuchen begegnet einer Henne mit
Küchlein, Hahn, Hase, Fuchs, Sau mit Ferkeln, ist müde und setzt sich
auf den Rücken der Sau. „Ich falle, ich falle." Setz dich auf mein
Kinn, Schinken, Ohren, Schnauze! „Ich falle, ich falle." Ja, fall nur;
du warst so schlecht gegen die kleinen Kinder und bist ihnen entlaufen.
Der Kuchen fällt ins Wasser, und nun frisst ihn die Sau.) — g) Ebd.
S. 224, nr. 597: Kagen og Soen (Wanderer, Reiter, Fuhrmann, Hase,
Fuchs, Sau). — h) Ebd. S. 225 nr. 598: Kagen, der blev slugt. (Frau
und sieben kleine Kinder. Kuchen entflieht und trifft Henne, Hahn, Ente,
Gans, Gänserich, Fuchs. Der Fuchs heisst ihn sich auf seinen Schwanz
setzen, auf den Rücken, Nacken, kopf5 Nase und verschlingt ihn.) —
i) Ebd. S. 226 nr. 599: Pandekagen og R^yen. (Frau und sieben Kinder.
Torf träger wirft seinen Torf nach ihm, Eierfrau ihre Eier, Sau, Fuchs.
Fuchs will ihn auf der Schnauze übers Moor tragen, lässt ihn fallen und
1) Sämtliche nordische Varianten hat mir Herr Prof. Bolte freundlichst mitgeteilt.
138
Dähnhardt:
verzehrt ihn.) — k) Ebd. S. 227 nr. 600: Mosjö Pandekage. (Drei alte-
Frauen. Der Pf. trifft Mann mit Brennholz, Eierfrau, Buttermann, die
ihre Last nach ihm werfen; die Sau macht 'Grabs').1)
5. Aus England und Schottland.
a) Aus Chambers, Popular rhymes of Scotland p. 82 = Brueyre, Contes
pop. de la Grande-Bretagne 1875 p. 349.
1. Aus Ayrshire: Eine alte Frau bäckt zwei bunnocks (Haferkuchen). Ihr
Mann kommt und bricht einen durch, der andere läuft weg. Die Frau
ihm nach. Er läuft in ein Haus, drei Schneider sitzen am Ofen. Die Frau ruft:
Fangt ihn, so geb ich euch Milch! Sie können ihn aber nicht erreichen. Der
bunnock trifft darauf einen Weber mit seiner Frau, ein Weib, das buttert, einen
Müller, einen Schmied, läuft in mehrere Farmhäuser, deren Bewohner ihm nach-
eilen, und gerät zuletzt, als es dunkel wird, in ein Fuchsloch. Der Fuchs frisst
ihn auf.
2. Aus Dumfriesshire: Der bunnock, dem Topf und Pfanne nachgeworfen
werden, entläuft Mann und Frau, begegnet zuerst zwei Brunnenwäschern und
entläuft ihnen mit dem Lied:
I fore ran
A wee wee wife and a wee wee man
A wee wee pot and a wee wee pan,
And sae will I You, an I can.
Es begegnen ihm mehrmals Bauern und Arbeiter, je paarweise, und es wiederholt
sich das Entlaufen mit jedesmal verlängertemLiede. Endlich frisst ihn der Fuchs.
3. Aus Selkirkshire: Der bunnock entläuft Mann und Frau, die sich
streiten, und begegnet dem Schaf, der Ziege, dem Fuchs. Das letzte
Häufungslied lautet dann:
I 've beat a wee wife,
And I 've beat a wee man,
And I 've beat a wee sheep,
And I 've beat a wee goat,
And I '11 try and beat Ye too, if I can.
Der Fuchs sagt: Steig auf meinen Rücken, ich will dich tragen. — Nein. — Tu's
nur, ich trag dich über den Bach. — Er tut es. Der Fuchs dreht sich um und
beisst ein Stück von ihm ab. — O du knabberst, du knabberst! — Ich kratze
mich nur! — Er beisst wieder ein Stück ab. Der Kuchen sagt wieder: O du
knabberst, du knabberst! Aber der Fuchs versichert, er kratze sich nur, und
beisst noch ein ganz klein bisschen weiter, und da fällt der bunnock in den Bach.
b) Aus Joseph Jacobs, English Fairy Tales p. 155:
Johnny-cake entläuft und begegnet nach und nach zwei Brunnengräbern, zwei
Grabenarbeitern, Bär, Wolf und Fuchs und macht jedesmal geltend: ich bin
dem und dem entlaufen und kann dir auch entlaufen. Der Fuchs tut, als höre
er nicht gut, lässt ihn immer näher kommen und verschlingt ihn.
c) Aus J- F. Campbell, Popular tales of the West Highlands 3, 100:
1) In diesen skandinavischen Kindermärchen beruht der Reiz auf dem Dialog, in
dem der Pfannkuchen jedem Begegnenden einen reimenden Zunamen gibt: im norwegi-
schen z. B. God Dag, Pandekage, sagde Manden. Gud signe, Mand Brand, sagde
Pandekagen. — God Dag, Hone Pone. — God Dag, Hane Pane, — Ande Vande — Gaase
Vaase — Gasse Vasse — Gylte Grisesylte.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
139
Der Pfannkuchen, der schon anderen entlaufen ist,' trifft zuletzt am Ufer eines
Sees den Fuchs. Dieser erbietet sich, ihn überzusetzen. Als der Pfannkuchen
sich in seinen Mund begibt, frisst er ihn auf.
d) Aus Aberdeen (Moir, Folk-lore Journal 2, 71. 1884: The Bannockie).
Aus all diesen Varianten kann man ohne Mühe erkennen, dass
der Schluss der Urform lautete: Der Fuchs frass den Pfann-
kuchen auf. Was im übrigen echt und unecht in den verschiedenen
Fassungen ist, wird sich später zeigen. Anstatt des Fuchses ist in einigen
Varianten (aus Ostpreussen, der Niederlausitz, Dänemark und Norwegen)
das Schwein gesetzt: es packt zu und verschlingt den Ausreisser. Hier
setzt nun eine Sagengabelung ein, und wir hören den naturerklärenden
Schluss, dass der Pfannkuchen dem Schwein entkam, sich in den
Erdboden machte, und dass das Schwein seit jener Zeit in der Erde
wühlt, um den Kuchen zu finden.
1. Aus Westfalen (Woeste, Volksüberlieferungen der Grafschaft
Mark 1848 = Rochholz, Naturmythen S. 252; vgl. Westfälischer Bauern-
kalender 1882, 126).
Da waren einmal zwei Dirnchen, die buken sich einen Pfannkuchen und
setzten ihn ins Fenster, dass er bald kalt werden sollte. Aber der
Pfannkuchen kniff aus und entlief in die Berge. Da kam ihm ein altes Männchen
entgegen und fragte: Pfannküchelein, wo willst du hin? Da sprach dies: Ich bin
zwei Dirnchen entlaufen, dir Männchen Graubart will ich auch wohl entkommen,
und damit liefs weiter. Auf ein kurzes traf es einen Hasen, der fragt auch:
Pfannküchelein, wo willst du hin? Da sprachs: Zwei Dirnchen bin ich entlaufen
und dem Männchen Graubart; dir Häschen Weisskopp soll ich auch noch wohl
entkommen. Wieder über ein Weilchen kommt ihm der Fuchs Dicksterz ent-
gegen. Darauf das Schwein, das Vögelchen Wicksterz, dann der Wolf
(ohne Beinamen) und der wilde Eber. Alle fragen und erhalten ihren Bescheid.
Aber der letzte schnappt zu und erwischt den halben Pfannkuchen. Die
andere Hälfte entkommt in die Erde, darum wühlen die Säue noch
immer.
Dieselbe Geschichte erzählt Adalb. Kuhn, Sagen aus Westfalen 2, 235,
aber besser, nämlich mit ausführlicher Wiedergabe der Häufungsrede und
mit Weglassung des Schweins, das doch nur eine Wiederholung des
wilden Ebers ist.
2. Aus Ditmarschen (Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder, S. 469).
Der Kuchen entläuft, als er halb gar ist, einer alten Hexe und zwei
schmucken Mädchen, begegnet dem Has Wippsteert, dem Fuchs Dicksteert, dem
Reh Blixsteert, der Kuh Swippsteert. Sie alle wollen ihn fangen, fallón um und
sind tot. Endlich kommt er an die Sau und bohrt sich in den Grund. Do fangt
de oel Sseg an to wrteten (wühlen) unn wull em der heruut hebben, kunn em
awers nich krygen Un vun disse Tyt an wrœten de Swyn noch all inne Grünt
unn Wüllen de Kock heruet söken, hebbt em awer noch nich wedder funden.
Ein wesentlicher Zug, der in den beiden westfälischen Fassungen
noch an die erste, nicht-ätiologische Sagenreihe erinnert, fehlt bei Müllen-
hoff: das Zuschnappen und Erfassen.
HO
Dähnhardt:
3. Eine andere wesentliche Eigenart, die Häufungsrede, fehlt in einer
Variante aus Rügen (Haas, Schnurren von der Insel Rügen 1899 S. 102):
In einem Dorfe lebten mehrere Frauen, die überaus faul waren. Als sie
eines Tages Kuchen buken, waren sie zu faul, den Kuchen, der auf der einen
Seite bereits braun gebacken war, umzuwenden. Schliesslich taten sie es
doch, ohne dabei aufzustehen; dazu waren sie zu faul. Infolge dieser Nach-
lässigkeit riss der Kuchen auseinander, und die eine Hälfte desselben
fiel zur Erde. Alsbald schnappte die Mutt (weibl. Schwein), die dicht dabei
stand, nach dem zur Erde gefallenen Stück und frass es auf. Aber das Schwein
merkte sogleich, dass es nur ein halber Kuchen war, und fing an, nach der
anderen Hälfte umherzuschnüffeln. Da diese aber nicht zu finden war, so
schnüffelt und wühlt es bis auf den heutigen Tag weiter danach.
4. Ein friesisches Märchen1) (W. Dykstra, Uit Frieslands volks-
leven 2, 135: 'Hoe de zwijnen wroeten hebben geleerd' = Volkskunde 8,
187. 1895 — 96) klingt in dem Zwiegespräch zwischen Schwein und Pfann-
kuchen wieder mehr an das russische an.
Eine alte Frau bäckt einen Pfannkuchen, läuft aber davon, um Sirup zu
holen. Da sie lange ausbleibt, wird's dem Pfannkuchen in der Pfanne zu heiss,
er springt durch den Schornstein hinaus und rollt den Weg entlang. Ein Mann
fragt ihn: „Pfannkuchen, wo kommst du her?" Er antwortet: „Ich bin aus der
heissen Pfanne gesprungen und bin einer alten Frau entflohen und werde dir
wohl auch entkommen." Ebenso erwidert er einem Hunde und anderen ihm Be-
gegnenden. Endlich trifft er ein Schwein, das fragt: „Traust du dich wohl, auf
meinem Rücken zu sitzen?" — Warum nicht? sagt der Pfannkuchen und springt
hinauf. — „Traust du dich auf meinem Nacken zu sitzen?" — Gewiss, auch das.
— „Komm mal auf meinen Kopf!" — Denkst du, dass ich das nicht wage? —
„Du bist mutig, das gesteh ich; aber ich weiss, auf meiner Schnauze zu sitzen
traust du dich nicht." — Ach, warum nicht? sagte der Pfannkuchen und setzte
sich auf die Schnauze. Hap! machte das Schwein, biss die Hälfte vom Pfann-
kuchen ab und frass sie auf. Die andere Hälfte fiel auf die Erde und verkroch
sich da. Da begann ,das Schwein danach zu suchen und wühlte mit der Nase so
lange in der Erde herum, bis die Nase entzwei ging. Nun steckte ihm sein Herr
einen eisernen Ring durch die Nase. Solchen Ring tragen die Schweine noch
heut, damit sie nicht in der Erde wühlen; aber sie wollen's doch nicht lassen,
denn sie suchen noch immer nach der anderen Hälfte des Pfannkuchens.
Diese ätiologischen Märchen aus Deutschland und Friesland verdienen
Beachtung- Je weniger das internationale Wesen der Märchenstoffe es
gestattet, irgendwelche Schlüsse hinsichtlich des Charakters eines sie er-
zählenden Volkes zu ziehen, um so sorgfältiger muss die Art der Stoff-
bearbeituüg bei den einzelnen Völkern ins Auge gefasst werden. Das
wird die schöne Aufgabe der Zukunft sein (einer glücklichen Zukunft, die
mit Stoffsammeln nichts mehr zu tun hat!)- Hier haben wir so ein Bei-
spiel, das uns klipp und klar den derb humorvollen Zug der Nord-
deutschen enthüllt. Denn liegt nicht eine köstliche Bauernlaune in dieser
1) Für gütige Übersetzung dieses Märchens bin ich wiederum Herrn Prof. Bolte zu
herzlichstem Danke verpflichtet.
Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
phantastischen Auffassung des grunzenden Wühlers, ein schnurriges Be-
hagen in dem Gedanken, dass es gerade ein Pfannkuchen sein muss, der
da gesucht wird? Das ist ja eine der beliebtesten Mehlspeisen des wohl-
häbigen Bauern. Mit innigem Verständnis mag er also jenes unablässige
Sehnen seines Schweines begreifen, wenn er ihm zuschaut, die Pfeife in
den Mundwinkel gequetscht. Ein für den Grossstädter entzückendes Bild:
dort die geschäftige Sau, hier der Buer in Holsken, und in seinem Kopfe
spukend ein neckisches Märchen. Er ahnt es nicht, dass die Wissenschaft
es kennt — besser kennt als er selber, und er würde den Studierten für
nicht ganz richtig halten, der ihm sagte: Das Märchen ist von Russland,
vielleicht noch weiter her gekommen. Im Ernst, die russische Fassung
ist wiederum die beste.
Hier finden wir Mann und Frau, wie in England, hier finden wir das
Fenster, in das der Pfannkuchen zum Abkühlen gesetzt wird, wie in
Westfalen, hier finden wir nur die Waldtiere, Hase, Wolf, Bär und Fuchs,
die anderswo mit Menschen oder mit Haustieren zusammen erwähnt sind,
hier finden wir die List des Fuchses: Ich höre nicht gut, komm doch
ein bisschen näher usw., wie in so manchen anderen Fassungen auch.
Aber die anderen haben immer nur einzelne dieser Märchenzü^e auf-
zuweisen, das russische hat sie alle zusammen. Interessant ist, wie aus
dem zum Abkühlen weggesetzten Kuchen — also aus dem halbfertigen —
ein halb garer (Ditmarschen, Niederlausitz) oder ein halb braungebackener
(Rügen) wird und nun in weiterer Entstellung die Hälfte dieses Kuchens
herunterfällt und alsdann (wie in der ersten Sagenreihe der ganze Kuchen)
aufgefressen wird (Rügen), wie anderswo wieder die Entstellung resultiert,
dass der Mann den Kuchen durchbricht und die andere Hälfte wegläuft
(Schottland). Interessant ist auch, wie aus der Beratung von Mann und Frau,
WOYon der Kuchen gebacken werden soll (Russland), die Beratung wird,
wer ihn backen soll (Ostpreussen), und wie auf diesem Wege das Motiv
der Faulheit entsteht.
Was endlich die willkürliche Ätiologie betrifft, so ist auf die Vorliebe
für das Suchmotiv, das wir schon oben kennen gelernt haben, noch ein-
mal hinzuweisen.1)
3. Die versenkten Schlüssel.
Nicht nur der Schluss eines Märchens wird mit dieser naturgeschicht-
ichen Fabelei gekrönt. Gelegentlich gefällt's dem Erzähler, auch inmitten
1) Zu den oben S. 13 f. angeführten Märchen von dem geöffneten Sack sind hier
z. B. hinzuzufügen: Lederbogen, Kameruner M. Kr. 31 (Schwein sucht heilende Steine).
Folklore 3, 364 (Huhn sucht verlorene Nadel). Landes, Contes annamites 136—139
(Tümmler sucht ein verlorenes Herz oder Schätze). Büttner Lieder u. Gesch. der Suaheli
S. 127 (Delphin sucht Salomos Ring). Dyer> Folklore of Plants p. 305 (Kormoran taucht
nach untergegangenem Schiff). Revue des trad. p0p. 2, 26 3, 262 (Maulwurf und Fisch
sind verwandelte Kinder, die den Vater suchen).
142
Dähnhardt: Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung.
seiner Geschichte solche Arabesken anzubringen. Ich greife ein Beispiel
heraas, das sich am kürzesten abtun lässt. In den Aufgabenmärchen, in
denen ein Jüngling die schwierigsten Bedingungen zu erfüllen hat, spielt
das Motiv der ins Meer versenkten Schlüssel, die heraufzuholen sind, eine
grosse Rolle (Köhler, Kl. Sehr. 1, 464. Cosquin 1, 32—49). AYenn es
dann heisst, dass ein Fisch die Schlüssel findet und bringt, so hat in den
Küstengegenden, in denen allein die Fischsagen gedeihen, die Lockung
nahegelegen, gerade diesen Einzelzug durch besonderen Schmuck hervor-
zuheben.
In einem dänischen1) Märchen wird also erzählt, dass die Fische
lange suchten, aber nichts fanden. Das tat den Weissfischen so leid, dass
sie zu weinen anfingen. Und daher kommt es, dass sie noch immer rote
Augen haben.2) Allein endlich kam doch ein alter Hornhecht mit dem
Schlüsselbund angeschwommen. Er hatte es zwischen zwei grossen Steinen
gefunden, und dort hatte es so festgesessen, dass er sich den einen
Schnabel abgebrochen hatte, als er es losriss. Und daher kommt es, dass
der Hornhecht noch einen langen und einen kurzen Schnabel hat.
Ein po mm er s ches3) Märchen berichtet, wie Prinz Getreu zum Fisch-
könig fährt und ihn bittet, ihm die ins Meer geworfenen Schlüssel zu
suchen. Der Fischkönig war dazu bereit; er schickte sämtliche Fische
aus, aber sie kamen wieder, ohne etwas gefunden zu haben. Zuletzt kam
ein kleiner Kaulbarsch und trug die Schlüssel auf seinem Rücken. Yon
der Last war sein Rücken aber ganz krumm geworden. Seit der Zeit
haben alle seine Nachkommen krumme Rücken.
Schills s wort.
Nachdem wir die freie Beweglichkeit naturdeutender Märchenmotive
erkannt haben und sowohl in den biblischen Legenden (oben 16, 369 ff.)
und Äsopischen Fabeln (oben S. Iff.), als auch in den Märchen selbst
deren Einfluss auf die Gestaltung der Stoffe dargelegt haben, darf der
Satz aufgestellt werden, dass diese Motive nicht nur überaus flüchtig,
sondern auch fruchtbar sind nnd zu Neubildungen von Sagen ebenso sich
eignen wie anregen. Je beweglicher aber diese Motive sind, um so mehr
Stoffe dürfen als „willkürlich-ätiologische" (oben S. 3) gelten. So ergibt
sich, dass die Natur selbst in weit weniger Fällen, als man annehmen
1) Grundtvig, Danske folkeseventyr, ny samling 1878 Nr. 1: 'Möns Tro' = Grundtvig,
Dänische Volksmärchen, übers, von Strodtmann 2, 1 (1879).
2) Parallelen: Der Fisch Rotauge hei Wossidlo, Mecklenburgische Yolksiiberlieferungen
2, Nr. 96 und S. 344. Rote Augen der Kröte: W ossidlo, ebd. S. 1—20. 321—345. Bl. f.
pomm. Volksk. 1, 146. 164. 8, 150. 9, 41; des Kuckucks: Revue des trad. pop. 3, 262,
Nr. 26; des Truthahns: Journal of Am. Folklore 5, 300. (Ebd. grüne Augen der Holz-
taube.)
3) Bl. f. pomm. Vk. 2, 73f. Vgl. U. Jahn, VW. aus Pommern 1, 59.
Diibi: Drei spätmittelalterliche Legenden.
143
möchte, die unmittelbare Veranlassung der Natursagen gewesen ist,
sondern dass sie nur mittelbar durch fortwährendes "Wandern ätiologi-
scher Motive deren Entwicklung beeinflusst hat. Die Naturliebe des
Volkes, insbesondere die Freude an der Naturdeutung, ist deshalb nicht
geringer zu bewerten. Im Gegenteil, es ist erstaunlich, wie sie alle mög-
lichen Stoffe in ihren Dienst stellt. Und eben darin, dass die Spärlichkeit
einer ursprünglichen, aus der Natur schöpfenden Erfindung durch den
Reichtum unaufhörlicher Stoffverwandlung ersetzt wird, zeigt sich das
lebendige Walten einer wahrhaft naturfreudigen Volksphantasie.
Leipzig. _
Drei spätmittelalterliclie Legenden in ihrer Wanderung
ans Italien durch die Schweiz nach Deutschland.
Von Heinrich Diibi.
(Vgl. S. 42-65.)
2. Vom Ewigen Juden.1)
Ungefähr um die nämliche Zeit, wo die Pilatuslegende in Italien ihre
erste schriftliche Aufzeichnung fand, taucht die Kunde von der Schuld und
Strafe eines anderen A^erfolgers Christi im Abendlande auf. Die Chronisten
von St. Albans in England, Roger von A\ endo wer Qf 1237) und nach
ihm Matthew Paris2) (f 1259), dessen lateinisch geschriebene 'Geschichte
Englands von Wilhelm dem Eroberer bis zum letzten Jahre Heinrichs III.'
1571 in London und 1589 in Zürich bei Froschauer gedruckt wurde, be-
richteu zum Jahre 1228, wie ein zum Besuch der heiligen Reliquien nach
England gekommener Erzbischof aus Gross-Armenien dem Abt und den
Konventualen von St. Albans auf Befragen erzählt habe, dass in Armenien
ein gewisser Cartaphilus noch lebe, der einst bei der Verurteilung Christi
als Pförtner des Pilatus zugegen gewesen sei und dem den Gerichtssaal
verlassenden Jesus mit der Faust einen Stoss in den Rücken gegeben
1) Vgl. Th- traesse, Die Sage vom Ewigen Juden, Dresden und Leipzig 1844;
= Der Tannhäuser und der ewige Jude, Dresden 1861, S. 74 -130; Gaston Paris, Les
légendes du moyen-âge, 2. édition, Paris 1904, g. 149—221: Le Juif errant (1880. 1891);
L. Neubaur, Die Sage vom ewigen Juden, Leipzig- 1884; 2. durch neue Mitteilungen
(24 Seiten) vermehrte Ausgabe, Leipzig 1893; ferner Bibliographie der Sage vom ewigen
Juden im Centralblatt für Bibliothekswesen 10, 249_267. 297—316 (1893).
2) Matthaei Paris, monachi Albanensis, Historia major, a GuiÜelmo conquaestore
ad ultimum annum Henrici tertii. Liguri in of'ficina Froschovia'na 1589 p. 339. Die erste
Londoner Ausgabe von 1571 ist wieder abgedruckt in Matthaei Parisiensis Chronica
malora ed. Luard (London 1880) 3, 161 und 5, 340f. (Besuch von 1252).
144
Dübi:
habe mit den Worten: „Geh schneller, Jesu! Was zögerst du?" Da habe
Jesus mit strengem Antlitz sich umgewendet und geantwortet: „Ich gehe,
du aber sollst warten, bis ich wiederkomme." Seit dieser Zeit wartet
Cartaphilus, der in der Taufe durch Ananias den Namen Josephus er-
halten hat, auf die Wiederkehr Christi, von dem er für seine unwissent-
liche Sünde Verzeihung am jüngsten Tage erhofft. Er verkehrt viel in
beiden Armenien, wird auch dort von Leuten aus allen Ländern besucht,
denen er mit Ernst und Bescheidenheit Auskunft über die heilige Passion,
die Auferstehung und Himmelfahrt, die Aussendung der Apostel usw. gibt.
Er ist ein nüchterner und frommer Mann, verkehrt nur mit Bischöfen
und Prälaten der Kirche, zu deren Tafel er sich ziehen lässt, weist aber
alle Geschenke zurück. Alle 100 Jahre verfällt er in einen ekstatischen
Schlaf, aus welchem erwachend er sich wieder in dem Alterszustand be-
findet, in dem er zur Zeit der Passion Christi war. Als Zeugen für die
Richtigkeit dieser Erzählungen werden zitiert ein französischer Ritter aus
Antiochia, welcher dem Erzbischof als Dolmetscher diente und einem
Diener des Abtes von St. Albans, Heinrich Spigurnel, persönlich bekannt
war, ferner der Ritter „Richard von Argentomium", der als Pilger im
Morgenlande gewesen war, und der Bischof Galeranus von Beyrut in
Syrien. 1252 kamen andere Armenier, darunter ein Bruder des Erz-
bischofs, nach St. Albans und bezeugten, dass Cartaphilus noch lebe.
Für uns ist dieser Bericht darum wichtig, weil sein Inhalt gegen
Ende des 16. Jahrhunderts, kurz vor Erscheinen des ältesten Volksbuches
über den Ewigen Juden, in der Schweiz durch den Druck verbreitet
wurde. An sich gehört diese Legende nur indirekt zum Sagenkreis des
Ewigen Juden. Denn Cartaphilus, in dessen Namen jener Jünger steckt,
der beim heiligen Abendmahl am Herzen Jesu lag und von dem die Rede
unter den Aposteln ging: „Dieser Jünger stirbt nicht", ist als Pförtner
des Pilatus kein Jude, sondern ein Römer oder Grieche; er muss auch
nicht in der Welt herum wandern, sondern bleibt im Orient. Aber Züge
der Josephus-, der Malchus- und der Ahasverlegende sind doch in der
Figur deutlich, und jedenfalls war diese Form in Europa populär, bis sie
durch die italienische von Buttadeo und die deutsche von Ahasver ab-
gelöst wurde oder mit ihr verschmolz. Im gleichen Jahre wahrscheinlich
wie in St. Albans war der armenische Erzbischof auch in Köln und in
Tournai, wo er sich um die Fastenzeit drei Tage lang aufhielt und die
Erzählung von Cartaphilus wiederholte, ohne dessen Namen zu nennen.
Wenigstens kommt er in der um 1243 geschriebenen Chronik des wallo-
nischen Reimers Philippe Mousket1) nicht vor. Über die Versündigung
1) Chronique rimée de Philippe Mouskès, publiée par ]e Baron de Reiffenber^ 9
491 v. 25485 (1838) und MG. Scr. 26, 777. Unsere Stelle ist auch abgedruckt
Graesse (1845) S. 53ff. und bei Neubaur (1884) S. 109.
Urei spätmittelalterliche Legenden. 145
des Cartaphilus lag Mousket eine andere Tradition vor: Als die treulosen
Juden den Sohn Gottes zum Kreuzestode führten, sprach dieser Mann zu
ihnen: „Wartet ein wenig! Ich komme auch mit, um den falschen
Propheten sterben zu sehen." Jesus wendet sich um, sieht ihn an und
sagt. „Sie werden nicht auf dich warten, du aber wirst auf mich warten." —
Diese \ aliante verlegt also den Schauplatz der Yersündigung an den Weg
nach Golgatha, mildert aber die Schuld erheblich, so dass die Strafe fast
unverständlich wird. Ganz klar hingegen sind beide in den Erzählungen,
welche seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Levante und in Italien
umgingen über den Mann, der Christus geschlagen hatte und dafür ver-
dammt worden war, bis zum jüngsten Tage zu leben und zu wandern.
Der erste, der von ihm spricht, ist 1250—55 Sir Felippe de
Novaire1), welcher in seinem 'Livre de forme de Plait', einer Auf-
zählung der Formeln, die in den Gerichtshöfen von Cypern und Jerusalem
im Gebrauche waren, den Jehan Boutedieu als Beispiel aufführt eines
ungewöhnlich lange lebenden Menschen. Dabei scheint angenommen, dass
der Boutedieu, d. h. der, welcher Gott gestossen hat, im Orient lebe. Um
das Jahr 1300 macht Cecco Angiolieri8), der bekannte Feind Dantes
aus Siena, in einem Sonette die nämliche Anspielung. In den Reise-
handbüchern für den Gebrauch der Pilger3) in Jerusalem, die in
Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts vorliegen, wird gleich nach
der Station des Simon von Kyrene und dem Hause des Judas das Haus
des Johannes Buttadeus erwähnt, „welcher den Herrn stiess und schalt,
da er gebunden zum Kreuzestode ging, und dafür bis zum jüngsten Tage
am Leben bleiben muss." In einer handschriftlichen italienischen Pilger-
erzählung4) von 1274 berichtet ein Wallfahrer einem Eremiten seinen
Entschluss, jenen Mann im Orient aufzusuchen, zu dem Christus sagte:
„Ich werde gehen, du aber erwarte mich, bis ich wiederkomme!" In
diesen Erzählungen haftet die Figur des Verbrechers immer noch an dem
Tatorte oder wenigstens dem Erdteile seines Verbrechens. Aber das
Interesse, welches die aus Italien, besonders aus Siena und Florenz,
stammenden Erzähler an dem Vorgang nehmen, beweist doch, dass der
Buttadeo eine in Italien populäre Figur war.
Und in der Tat soll ein Mann dieses Namens 1267 Forli in der
Romagna auf seinem Wege nach San Jago passiert haben. Zeuge dafür
1) Livre de forme de Plait par Sir Felippe de îîovaire im Recueil ^es Historiens
des Croisades 1, 570 (Paris 1841) zitiert nach Neubaur (1893) S. 2 und Gaston Paris
P- 191.
2) Nach Neubaur (1893) S. 2.
3) Z. B. in der nicht publizierten Hs. 63 der Bibliothek von Evreux, genannt Liber
terre sánete, und in dem 1822 zu Florenz gedruckten Viaggio in terra santa fatto e
descritto da Ser Mariano da Siena nel 1431 (vgl. Gaston Parisbp. 198).
4) Hs. der Magliabecchischen Bibliothek iQ jn P(q v Cassini, Bologna 1882;
vgl. Neubaur (1893) S. 1 und Romania 1883, I12. '
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 10
146
Diibi:
ist der berühmte Astrolog Guido Bonatti1) aus Forli, den Dante
(Inferno XX, 118) in die Hölle versetzt hat und der unter den wenigen,
welche „die grossen Jahre Alcocoden gelebt haben", einen gewissen
Ricardus nennt, der behauptete, ein Schildträger Karls des Grossen oder
des Oliver gewesen und 400 Jahre alt zu sein. Bonatti hat ihn selbst zu
Ravenna im Jahre 1223 gesehen. Ferner nennt er den Johannes Butta-
deus, der zur Zeit Jesu Christi gelebt haben wollte usw. wie in der ge-
wohnten Erzählung. — Jener Kicardus war sicherlich ein Betrüger, der
sich darin gefiel, die Rolle des sagenhaften Johannes a Stampis oder
a Temporibus wieder aufzunehmen, der 1139 im Alter von angeblich 341
oder 361 Jahren gestorben war. Aber der Betrüger hat, namentlich durch
die Anerkennung, die er am Hofe Friedrichs II. fand, Schule gemacht.
Sein Nachahmer benutzte die oben angeführten, aus dem Orient stammenden
Legenden, die in Italien besser zogen als die dem Sagenkreise Karls des
Grossen entnommenen. Die leibhaftigen Erscheinungen des Giovanni
Bottadio mehren sich in Italien und nehmen bald eine gewisse Regel-
mässis;keit der Phasen von 100 zu 100 Jahren an. Zwischen 1310 und
1320 soll er in Mittelitalien gewesen sein. Autorität dafür ist Antonio di
Francesco di Andria2), dessen Begegnung mit dem geheimnisvollen
Wanderer zwar erst 100 Jahre später fällt, dem aber die 'alten Leute'
die Wahrheit der früheren Erscheinung bestätigt haben. Um 1400
passierte Bottadio Siena und erklärte ein eben fertig gewordenes Bild des
kreuztragenden Heilandes von Andrea di Yanni für das ähnlichste, das er
je gesehen habe. Dies hat Sigismondo Tizio3), der Chronist von Siena,
von alten Leuten erkundet; was sonst das Volk Wunderbares von Johannes
Buttadeus erzähle, hält er für unglaubwürdig.
Auch in den Berichten von Augenzeugen über die Begegnungen mit
Giovanni Bottadio im 15. Jahrhundert ist Dichtung und Wahrheit so
durcheinander gemischt, dass wir den wahren Charakter der Person,
welche als ewiger Jude die Städte Mittelitaliens durchzog, nicht genau
feststellen können. Jedenfalls hat er seine Rolle gut gespielt. Er nannte
sich lieber 'Servo di Dio' (Knecht Gottes) als Bottadio, welchen Namen
er nicht richtig fand und durch Batté-Iddio (welcher Gott schlug) ersetzt
wissen wollte. Diese Äusserung Giovannis, die Antonio di Andrea in
seinem Tagebuch aufzeichnete, beweist einmal, dass Giovanni doch nicht
alle italienischen Dialekte verstand und sprach, wie man es von ihm be-
hauptete, und ferner, dass ihm über die Misshandlung, welche Christus
erfahren hatte, verschiedene Traditionen geläufig waren. Diejenige, der
1) Guidonis Bonati Foroliviensis Matheinatici de astronomia tractatus X (Basel
3550) p.209. Eine deutsche Ausgabe von dem Trabtat Bonattis erschien in Basel 1572.
Ich zitiere nach Gaston Paris p. 189—91 und Neubaur (1884) S. 11. 71f. 111.
2) Vgl. Gaston Paris p. 207 und Neubaur (1893) S. 3.
8) Ygl. Gaston Paris p. 190.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
147
er selbst den Vorzug 'gab, lautet folgendermaßen: Als Jesus den Berg
Golgatha hinaufstieg, während seine Mutter und andere Frauen ihm unter
Weinen und Klagen folgten, wandte er sich, um mit ihnen zu sprechen.
Da stiess ihn Giovanni mit der Faust in die Rippen und sagte: „Geh
schnell", worauf Jesus antwortete: „Du selbst wirst so schnell gehen, dass
du auf mich warten musst." Ich muss es mir versagen, auf die Aben-
teuer und Gespräche einzugehen, die Giovanni in den Jahren 1416 ff. hatte
Ö 7
auf dem Wege zwischen Borgo a San Lorenzo und Bologna, namentlich
in dem Dorfe Scaricalasino1), in Vicenza, in den Marken von Treviso
und Ancona, in Agliana, wo der Podestà Salvestro Mannini2) ihn einem
Verhör unterzog, und besonders in Florenz, wo er nicht nur die etwas
naiven Gebrüder Andrea, sondern auch Messer Lionardo d'Arezzo, den
gelehrten Kanzler der Signoria, und Giovanni Morelli, den Vikar des
Mugello, durch seine Kenntnisse und geheimen Künste verblüffte* Sie
lesen sich nach dem Urteil von Gaston Paris in den Originalen, welche
S. Mor purgo3) in einer trefflichen Schrift nach zeitgenössischen Auf-
zeichnungen gegeben hat, wie Renaissancenovellen des Trecento und sind
auch von kulturhistorischem Interesse. Ich hebe nur diejenigen Züge
hervor, wrelche der Sage vom ewigen Juden schon vorher angehörten oder
durch Giovannis Auftreten in sie hineingebracht worden sind: Giovanni
ist menschenfreundlich, namentlich gegen Kinder, er geht wunderbar
schnell und heimlich, er trägt Mönchskleider, hat kein Gepäck und geht
barfuss oder trägt nur eine Sandale, er kennt alle Sprachen und Dialekte,
alle Geheimnisse und die Zukunft, gibt gern und uneigennützig den vielen
Fragern guten Rat. Er meidet die Menge nicht, weicht aber indiskreten
Fragen über die heiligsten Dinge geschickt aus. Fr kann sich und seine
Begleiter unsichtbar machen, Ketten und Bande fallen von ihm ab, und
er entschwindet aus dem festesten Gefängnis; er ist gastfrei, lässt sich in
Essen und Trinken nichts abgehen, öffnet dann die Hand und lässt die
dem Wirte zukommenden Münzen herausfallen, die sich immer wieder
ersetzen. Er schläft in keinem Bette und weilt nie länger als drei Tage
in einer Provinz. Er soll alle 100 Jahre wiederkehren und wandern bis
zum jüngsten Tage. — Kurze Zeit nach diesem wiederholten Auftreten
verschwindet der Bottadio aus Italien, aber seine etymologischen Spuren
sind in dem Juan Espera-en-Dios oder Voto-a-Dios spanischer und
portugiesischer Legenden und Theaterstücke des 16. und 17. Jahrhunderts,
dem Boudedeo eines bretonischen Gwerz oder geistlichen Volksliedes, ja
dem Bedeus der Siebenbürger Sachsen noch im 18. und 19. Jahrhundert
erhalten.4)
1) Vgl. Gaston Paris p. 207. Neubaur (1893) S. 4f.
2) Vgl. Gaston Paris p. 218. Neubaur (1893) S. 5.
3) S. Morpurgo, L'Ebreo errante in Italia (Florenz 1891). Vgl- Gaston Paris und
Neubaur.
4) Vgl. Gaston Paris p. 180 188 195 f. 200.
10*
148
Diibi:
In einem kleinen provenzalischen Mysterium des 15. Jahrhunderts1)
figurieren im Personenverzeichnis neben den Henkern Christi Botadieu
und Malchus. Der letztere, im Evangelium ein römischer Kriegsknecht,
dem Petrus das Ohr abhaut, Christus aber es wieder anheilt, ist in der
mittelalterlichen Legende zu einem der Henker geworden, welcher Christus
mit einem eisernen Handschuh ins Gesicht schlägt. Zur Strafe muss er
in einem unterirdischen Gefängnis auf die Wiederkehr Christi oder auf
den jüngsten Tag warten. Manche Pilger haben ihn in Jerusalem in
seinem Verliesse noch lebend gesehen, und die Volksbücher entwerfen
schauerliche Schilderungen von dem Unglücklichen. Andere haben
wenigstens seine verruchte Hand im Tempel Salomonis an einem Pfeiler
hangen sehen. So unter anderen Jan Aertsz2) aus Mecheln, der sich
1484 einer portugiesischen Expedition ins heilige Land angeschlossen
hatte* und dessen Reiseaufzeichnungen in Handschriften des 16. Jahr-
hunderts und in Flugblättern von 1595 und 1652 grosse Verbreitung ge-
funden haben. Er erzählt darin ausser von Malchus Hand auch von einem
zu Jerusalem hinter acht hölzernen und einer eisernen Tür gefangen
gehaltenen Manne, Jan Roduyn oder Baudewyn, der unseren Herrn, als
er mit dem Kreuze beladen vorüberschritt, von der Schwelle seines Hauses
aus mit Scheltworten zu eiligerem Todesgange gehetzt hatte, worauf ihm
Jesus antwortete: „Ich werde gehen, und du wirst stille stehen, und jedes
Jahr wirst du nach meiner Rückkehr fragen." Und in der Tat fragt er
jeden Karfreitag, ob der Mann mit dem Kreuze nicht wiedergekommen
sei. In dieser Erzählung liegt eine Verwechslung in bezug auf die Strafe
mit der Malchuslegende vor, sonst aber beweist sie, dass die Legende von
dem ewigen Juden in Jerusalem haften geblieben war.
In allen bisher besprochenen Wandlungen der Sage ist an dem guten
Glauben der Zeugen, die von ihr sprechen, nicht zu zweifeln, und selbst
der in Italien um 1416 als Bottadio Wandernde war noch ein naiver Be-
trüger. Vom Ende des 15. Jahrhunderts weg kommt aber ein neues
Element in die Legende, das der raffinierten literarischen Fälschung.
Diese findet sich zuerst bei einem verwandten, aus der Pilatuslegende
stammenden Stoffe. Schon das Mittelalter hatte in den Akten des Pilatus,
welche später das Evangelium des Nikodemus heissen, Anläufe zu solchen
Erfindungen gemacht; dahin gehören der Briefwechsel des Pilatus mit
Tiberius, der angebliche Bericht des Herodes an den Senat, die beide
von der Verurteilung Christi handeln. Jetzt aber ging man darauf aus,
die Akten dieses Prozesses, der die ganze Christenheit interessierte, kunst-
gerecht wiederherzustellen. Wer zuerst Hand an dies unnütze Werk ge-
legt hat, wissen wir nicht. Zwar findet sich das Urteil des Pilatus über
1) Vgl. oben S. 143 und Gaston Paris p. 193i-
2) Vgl. Neubaur (1884) S. 12 und 111 und (1893) S. 8.
Drei spätmittelalterliche Legenden. 149
Jesus abgedruckt im 'Reißbuch gen Hierusalem' des Melchior Lussy
(Freiburg im Uechtland, bei Abraham Gemperlin 1590 S. 31—35). Der
Verfasser, der als Laudamman in Nidwaiden seine Reise 1583—84 machte,
berichtet: „Die Abschrifft dieser Urtheil ward mir auf meiner Pilgerfahrt
in Hebräischer Sprach mitgeteilt, welche ich in Frantzösische und volgends
in unser Teutsche Sprach verdollmetschen lassen." Trotz dieser Be-
hauptung ist Lussy nicht der Fälscher; denn L. Neubaur1) hat in seinen
gründlichen Studien über die Sage vom ewigen Juden einen zu Paris
1581 erschienenen 'Trésor admirable de la sentence de Pilate contre
Jésus Christ' und eine in Magdeburg bei Johann Francke 1584 erschienene
'Glaubwürdige, warhaffte ordentliche Yerzeichnus und Beschreibung des
ergangenen unschuldigen Bluturteils usw.' nachgewiesen. Beide Flug-
schriften erzählen, dass die Sentenz des Pilatus in der Stadt Aquila in
einem Marmorkästlein verborgen und mit hebräischen Buchstaben auf
Pergament geschrieben beim Abbruch eines Hauses zum Yorschein ge-
kommen sei. Ähnlich sollten später die Protokolle des Hohen Rates von
Jerusalem über die Yerurteilung Christi, „wie sie auf einer ehernen Tafel
gestanden" von einem Herrn Anton oder Heinrich Rantzau, der 1623 eine
Reise ins gelobte Land machte, abgeschrieben und nach Hause gebracht
worden sein, eine ebenso plumpe Fälschung und Buchhändlerspekulation
wie die, zu der wir jetzt übergehen.
Nachdem das ganze 16. Jahrhundert hindurch keine Kunde von dem
im Abendlande wandernden ewigen Juden erschollen war (denn seine
angeblichen Besuche in Hamburg 1542, in Madrid 1574 und in Danzio-
1599 sind Fiktionen), erschien 1602 die erste Ausgabe des Yolksbudies,
welches diese Figur mit einem Schlage in ganz Mittel- und Nordeuropa
populär machte und eine wahre Flut von Flugschriften, Volksliedern,
Holzschnitten und Abhandlungen in allen Sprachen hervorgerufen hat.
Der schon genannte Sagenforscher L. Neubaur hat 1893 an Ausgaben
dieses Yolksbuches von 1602 bis 1850 zusammengestellt: in deutscher
Sprache 61, in vlämischer 3, in französischer 10, in dänischer 4, in
schwedischer 10; dazu 139 Schriften und Aufsätze über die Sage aus den
Jahren 1604 bis 1893. Aus dieser Flut wollen wir nur einiges heraus-
fischen, was geeignet ist, unsere These von der besonderen Entwicklung
dieser Sage in der Schweiz zu unterstützen. Dabei können wir gleich
mit der ersten Ausgabe beginnen. Diese „Kurtze Beschreibung un<ì Er-
zaehlung von einem Juden mit Namen Ahasvérus" ist angeblich gedruckt
„zu Leyden bei Christoff Creutzer Anno 1602a. Dass dies ein Pseudonym
ist, geht schon aus der Druckernotiz unter der zweiten, in der gleichen
Offizin und mit den gleichen Lettern gedruckten und mit der Editio
princeps genau übereinstimmenden Ausgabe hervor: „Gedruckt zu Bautzen
1) Vgl. oben S. 143 ^
150
Dübi:
bei Wolffgang Suchnach anno 1602." Dass ferner Leyden und Creutzer
Anspielung auf die Passion, Bautzen für 1602 eine anachronistische Ortho-
graphie und Wolffgang Suchnach ein Vexiername sei, ist nachgewiesen.
Gerade der letztere führt uns aber vielleicht auf die richtige Spur. Weller
(Die falschen Druckorte 1858 S. 9) schreibt unter anderem den folgenden
Druck: „Eine newe Zeitung, vom jetzigen Auffruhr und grossen Ent-
börung, in Teutschlandt, wie dieselbige mehrentheils von den zarten
Jesuiten und Pfaffen angespunnen, gedruckt zu Leiden bey Wolffgang
Suchnach 1610" dem Basler Buchdrucker Johannes Schröter zu. Dieser
war, wie mir Dr. C. Chr. Bernoulli freundlichst mitgeteilt hat, aus
Schleisingen in Württemberg gebürtig und wurde 1591 Bürger zu Basel.
Seine Drucke sind von 1597 an nachzuweisen; er war öfter für Ludwig
König tätig, als selbständiger Drucker gab er meistens kleinere Schriften,
wie Disputationen, Leichenpredigten, geistliche Lieder und dgl. heraus.
Leider besitzt die Universitätsbibliothek in Basel die ältesten Ausgaben
des Volksbuches vom Ewigen Juden nicht, so dass man nicht durch
Typenvergleichung herausbringen konnte, ob Schröter der Drucker dieser
ersten Ausgaben ist oder nicht. Was mich aber in meiner, übrigens
schon von Neubaur geäusserten Vermutung, dass Basel die Heimstätte
des Volksbuches über den Ewigen Juden sei, bestärkt, ist folgendes.
Eine der ältesten Ausgaben, angeblich gedruckt „zu Dantzig bei Jacob
Kothen Erben, im Jahr 1602", aber tatsächlich nach einer der Ausgaben
„Bautzen bei Wolffgang Suchnach" gemacht, enthält zum erstenmal den
Zusatz zum Titel: „Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden,
der sich nennet Ahaßverus, aber von Guidone Bonato, einem vortreff-
lichsten Astronomo auß Ursachen Johan Buttadeus genennt wird" und auf
Seite 7 in lateinischer und deutscher Sprache die oben erwähnte Nach-
richt des Bonatti über den Besuch des Buttadeus in Forli im Jahr 1267.
Nun ist die zweite lateinische Ausgabe von Bonattis astronomischem
Traktat in Basel 1550, eine deutsche in Basel 1572 erschienen
Wenn wir also einstweilen annehmen, der unbekannte Verfasser des
Volksbuches sei in Basel zu suchen, so bleibt es rätselhaft, wie er dazu
gekommen ist, den Generalsuperintendenten der evangelischen Landes-
kirche von Schleswig - Holstein zum Hauptzeugen für seine Erfindung zu
machen. Beziehungen des Paul von Eitzen oder seines Landesherrn und
geistlichen Oberhirten, des Herzogs Adolf von Holstein-Gottorp, mit Basel
sind nicht nachzuweisen, und ob Eitzen die von späteren Literarhistorikern *)
ihm zugeschriebene Absicht ausgeführt hat, einen Kommentar zur Passions-
o-eschichte zu schreiben, ist sehr zweifelhaft. An sich ist die formale Er-
-r-i
findung des Volksbuches nicht schlecht. Es berichtet bekanntlich in der
Form eines Briefes, datiert Schleswig den 9. Juni i anno 1564, dass der
1) Moller, Cimbria litterata 3, 236 (nach Neubaur 1893 S. 10).
Drei spätmittelalterliche Legenden.
151
Bischof von Schleswig dem Briefschreiber und anderen Studenten erzählt
habe, wie er als Student zu Wittenberg im Winter 1542 zu seinen Eltern
nach Hamburg gereist sei und dort die Bekanntschaft des ewigen Juden in
der Kirche gemacht habe. In einem Anhang wird beigefügt, dass die im
Auftrage des Herzogs Adolf wegen rückständiger Soldgelder nach Spanien
geschickten Secretarius Christoph Ehringer und M. Jacobus von dort die
Nachricht zurückgebracht hätten, sie hätten den ewigen Juden 1574 zu
Malduit in bekannter Gestalt und Kleidung angetroffen und er habe ein
gutes Spanisch geredet. Am Schluss des Briefes ist noch hinzugesetzt:
„Dieser mann oder Jud, soll so dicke Fußsohlen haben, dass mans ge-
messen, zweyer Zwergfinger dick gewesen, gleich wie ein horn so hart
wegen seines langen gehen und Reysen, er soll auch anno 1599 zu
Dantzig im December gesehen worden sein." In dem nach der Sitte der
Zeit sehr ausführlichen Titel und im Text wird gerühmt, wie der Ewige
Jude an Paul von Eitzen über das, was sich in den orientalischen Landen
seit Christi Tod zugetragen, über die Taten und den Märtyrertod der
Apostel usw. ausführlichen und guten Bericht gegeben habe. Aber aus
dem Flugblatt selbst gewinnen wir den Eindruck, dass dessen Verfasser
ausser dem, was er bei Paris und Bonatti gelesen hatte, über Ahasver
herzlich wenig wusste und ziemlich arm an Erfindungskunst war. Was
er Neues hinzugefügt hat und warum, wollen wir in Kürze auseinander-
setzen. Der Ewige Jude ist ein Schuster und heisst Ahasver. Dieser
Name ist höchst ungeschickt gewählt, weist aber, wie Gaston Paris be-
merkt, auf einen protestantischen Autor ; ein Katholik würde die Form
der Vulgata Asverus gewählt haben. Seine Verschuldung ist die all-
gemeine der Juden, er habe an der Gefangennahme und Verurteilung
Christi tätigen Anteil genommen, und eine persönliche, er habe sein
Hausgesinde zur Betrachtung des Todesganges aufgefordert und Christus,
da er ausruhen wollte, von seiner Türe weggewiesen und zum Tode
o-ehen heissen. Dem entspricht auch die Strafe; er muss immer wandern,
sieht seine Frau und Kinder nicht wieder, seine Vaterstadt nur in
Trümmern. Nach seiner eigenen Meinung soll er als lebendiger Zeuge
für Christus gegen die Juden und die Ungläubigen dienen, vielleicht bis
zum jüngsten Tage. Deswegen kann er auch Blasphemien nicht aus-
stehen. Als Almosen nimmt er nur 2 Schillinge, die er gleich wieder den
Armen gibt, denn Gott lässt es ihm an nichts fehlen. In der Kirche
macht er sich auffällig durch seine Devotion. Dass er getauft sei, be-
hauptet er nicht, spricht aber von der Passion wie ein Christ.
Das ist, wie man sieht, ein ziemlich ärmlicher Inhalt, und aus diesem
protestantischen Traktätlein gegen Juden und Atheisten wäre sicherlich
nicht die populäre Legende entstanden, wenn in der "Weiterentwicklung
nicht die volkstümlichen Züge der Sage, wie sie in Italien umgingen, sich
auf unbekannten Wegen wieder in dem Volksbuch, ja in den Streit-
152
Diibi:
Schriften der Gelehrten für und wider den ewigen Juden eingefunden
hätten. Diese Entwicklung müssen wir nun im Fluge durcheilen, nur
da verweilend, wo wir für unseren Hauptzweck Belehrung finden. Denn
dieser ist eben nicht, die ganze Sage auszuschöpfen, sondern ihre
schweizerischen Formen zu erklären.
Die neue Kunde verbreitete sich ausserordentlich rasch, und mit ihr
mehrten sich schneeballartig die Erscheinungen Ahasvers und die Flug-
schriften, die diese beschrieben.1) Zum 14. Januar 1603 notierte sich der
Lübecker Jurist Anton Colerus2) in sein Tagebuch, dass der ewige Jude
in der Stadt gewesen sei; im Jahre 1604 war es nach Cluver2) all-
gemeines Gerede, dass der ewige Jude sich in Sachsen zeige. Im näm-
lichen Jahre erklärte der Pariser Advokat Rodolphe Bouthrais3), dass
ganz Europa den ewigen Juden kenne und das Yolk in Frankreich allent-
halben von ihm spreche. In der Tat ist eine 'Complainte en forme et
manière de chanson' über die Thema, zu singen nach der Melodie 'Dames
d'honneur usw.', dem 1610 zu Bordeaux erschienenen 'Discours véritable
d'un juif errant'4) einverleibt, welcher nichts anderes ist als die Über-
setzung des deutschen Volksbuches mit geringen Änderungen des Lokals.
Dagegen bestreitet der Jesuit Jules César Boulenger5) 1604, dass Ahasver
je in Paris gewesen sei. Aber noch im gleichen Jahre im Oktober sah
ihn der Jurist Louvet6) mit anderen Personen in Beauvais beim Ver-
lassen der Kirche, wie er Kinder zum Respekt vor den heiligen Dingen
mahnte, kam aber nicht dazu, selber mit ihm zu sprechen. Besser scheint
dies zwei Edelleuten geglückt zu sein, die ihm ebenfalls 1604 in der
Champagne begegneten.7) 1614 wird er in Fontainebleau, Châlons-sur-
Marne und Isle-de-France gesehen, wo er auf den Prinzen Condé stösst
1) Die Editio princeps des Volksbuches von Ahasver ist wieder abgedruckt bei
Graesse, Die Sage vom Ewigen Juden (1845) und bei Neubaur 1884 S. 53—65. Faksimile
des Titels der Ausgabe von 1619 bei Koenig, Geschichte der deutschen Literatur 1, 253
(1893). [Zu Neubaurs Nachweisen sei noch ein 1616 verfasstes Gedicht Daniel Suder-
manns im Berliner Ms. germ. fol. 86, Bl. 422 a nachgetragen.]
2) Henricus Bangertus, Cotfimentarius de ortu, vita et excessu Ant. Coleri leti
Lubecensis und Cluver, Historiarum totius mundi epitome a prima rerum origine usque
ad annum Christi 1630 (Breslau 1673) p. 713; zitiert nach Neubaur 1884 S. 114 und 115.
3) Rud. Botereius, Commentariorum de rebus toto paene orbe gestis (1594—1609)
liber XI, p. o85; zitiert nach Neubaur 1884 S. 119.
4) Vgl. Neubaur 1893 S. 15 f.
5) I. C. Boulenger, Historia sui temporis (Paris 1604) p. 357; vgl. Gaston Paris
p. 173 und Neubaur 1884 p. 120.
6) Louvet, Histoire et antiquités du diocèse de Beauvais (Beauvais 1635) 2, 677;
zitiert nach Gaston Paris p. 173 f.
7) (P. V. P. Cayet), Chronologie septénaire de l'Histoire de la Paix entre les Roys
de France et d'Espagne, Allemagne etc. depuis Ie C0Iïlmencement de l'an 1598 jusques
à la fin de l'an 1604. A. Paris 1605, Bl. 442— 446 (zum Jahr 1604): 'Histoire d'un
Juif errant'.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
153
und ihm Vorwürfe macht, dass er die Waffen gegen seinen König und
dessen Mutter führe.1) Dies ist meines Wissens der einzige Fall, wo sich
Ahasver in politische Dinge mischt, wTie das Bottadio in Italien regel-
mässig tut. Aber in Prankreich hat die Legende überhaupt die volks-
tümliche Form wieder gewonnen, wie die sprichwörtlichen „cinq sous du
Juif errant" und sein in Yerse gebrachter Dialog mit dem „bon homme
Misere"a) beweist. Cyrano de Bergerac zählt in seiner „Lettre pour les
Sorciers" und damit übereinstimmend in einer Szene des Pedant joué
unter den ihm bekannten dämonischen Erscheinungen neben dem Paladin
Hugo von Tours, dem Teufel Yauvert und dem wilden Jäger aus dem
Walde von Fontainebleau auch den Ewigen Juden auf.3) Um die nämliche
Zeit, wo Cyrano dies niederschrieb, 1644, will der angebliche 'Türkische
Spion an den christlichen Höfen von Europa' (diese gefälschten Briefe
sind von dem Italiener «I. P. Maraña4) 1689 verfasst) den Ewigen Juden
unter dem Namen Michob Ader in Paris am Hofe Ludwigs XIY. an-
getroffen haben. Als Isaac La que dem5) begegnet er im Sonienwalde,
wo es auch sonst nicht geheuer ist, 1640 zwei Bürgern aus der Gerber-
strasse in Brüssel und erzählt ihnen sein Erlebnis mit Christus und seine
wunderbaren Abenteuer in aller WTelt. 1681 soll er sich als Wallbruder
mit dem Namen Ahasvérus in der Pfalz6) herumgetrieben haben. 1694
tauchte der alte Cartaphilus7) wieder in England auf und mystifizierte
die hohe Gesellschaft, wie die Herzogin von Mazarin nach Frankreich
schrieb. Der Betrüger hatte Matthew Paris gelesen, gab sich aber
moderner und vornehmer, für einen 'Offizier des hohen Rates von Jeru-
salem' aus. Aber nicht nur die Namen, sondern auch die übrigen
Personalien des Ewigen Juden werden sagenhaft verändert. Im Volks-
buche von 1602, wird er, ich glaube, zum ersten Male als Schuster be-
zeichnet. Die Folge war, dass in späteren Auflagen desselben (der Zug
ist für 1625 bezeugt, vielleicht schon wesentlich älter) Ahasver den Christus
1) La Rencontre faite ces jours passez du Juif errant, par Monsieur le Prince,
ensemble les Discours tenus cntr'eux. Paris, Anth. du Breuil 1615; vgl. Neubaur 1884 S. 35
und 120. . . .
2) Dieser Dialog ist skizziert bei Neubaur 1884 S. 85f. und zum Teil abgedruckt
1893 S. 17.
3) Vgl. H. Diibi, Cyrano de Bergerac, sein Leben und seine Werke (Bern, Francke
1906) S. 27 und 52. Cyrano hat seine Nachricht wohl aus Charron, Histoire universelle etc.
(Paris 1621) c. 142.
4) (J. P. Maraña), L'Espion du Grand SeigQeur daDS ¡es cours ¿es prjnces Chrestiens,
Paris 1684. Vgl. Gaston Paris p. 187.
5) Dieser aus dem Hebräischen fabrizierte Name kommt noch in einer augeblich
1774, vielleicht aber erst 1800 entstandenen französischen 'Complainte und in einem
vlämischen Volksliede vor. Vgl. Gaston Paris p. 176f
6) Joh. Georg Hadecus, Nathanielis Christiani Relation eines Wallbruders mit Namen
Ahasvérus, eines Juden 1681. Vgl. Neubaur 1884 S. 117.
7) Dom. Calinet, Dictionnaire de la Bible 2, 472.
154
Diibi:
mit seinem Handwerkszeug, einem Leisten schlägt. Deswegen empfängt
er in der Taufe den Namen Buttade us. Eine andere Überlieferung, in
welcher die Erzählung von Aliasver verknüpft ist mit den Legenden vom
Kreuzweg, von Judas, Veronica, Longin usw. und die uns in dem noch
aus dem 17. Jahrhundert stammenden französischen Volksbuch: 'Histoire
admirable du Juif errant'1) vorliegt, macht den Ahasver zum Sohne eines
Zimmermanns aus dem Stamme Naphthali. Die 'Histoire admirable legt
grosses Gewicht auf die Wanderungen des Ewigen Juden, was dem Ver-
fasser Gelegenheit gibt seine phantastischen Kenntnisse in Geographie und
Kuriositäten auszukramen. Für die Sage von Ahasver lernen wir daraus
nichts, dagegen wohl aus einer Bemerkung des deutschen Alchimisten
Libavius.2) Dieser polemisiert in seiner 1604 gedruckten 'Praxis
Alchymiae' gegen die Meinung von der Langlebigkeit des Ahasver, die
er mit den Fabeleien vergleicht, die die Adepten über Paracelsus er-
zählen. Er findet Widersprüche in der Tradition; denn man behaupte,
Ahasver habe nach seiner Tat nicht mehr nach Jerusalem zurückkehren
dürfen, und doch finde er die Stadt nach einigen Jahrhunderten so ver-
wüstet, dass er sie nicht wieder erkannte; ferner habe er die Geschichte
aller Ereignisse im Orient erzählen können, während er doch nach einigen
Jahrhunderten in eine Gegend kam, die er nicht wieder erkannte; endlich
nennen ihn einige Ahasver, andere Buttadeus oder noch anders. Den
ersten Widerspruch, der keiner ist, schöpfte Libavius aus seiner Lektüre
des Volksbuches, den zweiten aber konnte er weder dort noch bei Bonatti,
den er offenbar kennt, finden. Wir begegnen hier der ersten Anspielung
auf den gewiss sehr alten Sagenzug, wonach der ewige Wanderer immer
nach hundert oder mehr Jahren die früher durchwanderte Gegend zum
Schlimmeren verändert findet. Diese Form ist besonders in den schweize-
rischen Sagen stark entwickelt.
Diese periodischen Veränderungen im Klima der Gegenden, durch
welche Ahasver kommt, sind der italienischen Legende von Bottadio
unbekannt; es ist auch nirgends eine Andeutung dafür vorhanden, dass
der verfluchte Ahasver andern Schaden bringe, wie dies im Koran von
Samiri, dem Verfertiger des goldenen Kalbes, erzählt wird, dessen Nähe
Fieber erzeugt. Auch geben die Worte Christi an den Verdammten dazu
keine Veranlassung. Sie lauten in dein Volksbuch von 1602: „Ich will
stehen und ruhen, du aber solt gehen"; die Verballhornung, welche ihnen
der angebliche Chrysostomus Dudulaeus3j) aus Westfalen in einer un-
1) Die bekannteste Ausgabe ist 'Histoire admirable du Juif errant' etc., Bruges 1710.
Vgl. Gaston Paris p. 175 f. und Neubaur 1884 S. 33—36 und 121.
2) Libavius, Praxis Alchymiae, Frankfurt 16°4 p. 637. Neubaur 1884 S. 114.
3) Der Name ist offenbar fingiert; wober er stammt und zu welchem Zwecke er
erfunden wurde, ist bisher nicht herausgebracht worden. Abgedruckt ist diese Autlage
des Volksbuches als No. 10 bei Neubaur 1884 S. 53—65.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
155
datierten Ausgabe des Volksbuches hat angedeiheu lassen, lautet: „Ich
will alhie stehen und ruhen, aber du solt gehen biß an den jüngsten tag."
Als "Wanderer, der nicht sterben kann, war übrigens Ahasver dem Volks-
buch schon aus Paris und Bonatti bekannt. Auffällig ist, dass sich in
einer angeblich „Zu Schleßwig bey Niclaus Wegener anno 1502 (sie!)"
gedruckten, aber von der Bautzener Ausgabe von 160*2 abhängigen Aus-
gabe des Volksbuches hinter der Erzählung von dem Auftreten des
.luden in Madrid noch der Zusatz findet, dass ein vornehmer Bürger der
Hansestadt Bremen, seines Amtes ein Buchführer, in seiner Jugend in
Danzig gewesen und daselbst den Juden in der Pfarrkirche vor dem
Kruzifix habe stehen sehen und bezeugen hören, „das er die gantze
Christenheit durchgezogen und noch keines gesehen, das dem Herren
Christo so gleich und ehnlich gewesen, wie dasselbige." Diese Erzählung,
die für Danzig und 1546 gar keinen Sinn hat, muss auf Umwegen aus
der Chronik von Siena und von 1400 stammen und bestätigt unsere
Meinung, dass die an Bottadio anknüpfenden Sagen auch in Deutschland
bekannter waren, als man glauben sollte. Sagenhafte Züge aber kommen
auch bei anderweitigem Auftreten des Ewigen Juden in Deutschland vor,
auf die wir jetzt noch einzugehen haben.
Nach handschriftlichen Aufzeichnungen eines Kantors der Peter-Pauls-
kirche in Naumburg, die der thüringische Theolog Mitternacht1) um
1630 aufgefunden haben will, soll sich in einem unbekannten Jahre der
ewige Jude in eben dieser Kirche so auffällig benommen haben, dass
ihn die einen für einen Verrückten, die anderen für einen Betrüger hielten,
Als man ihn am anderen Tage verhören wollte, war er verschwunden.
Ebenso taucht um das Jahr 1642 in Leipzig ein eisgrauer Mann in der
Tracht des Ewigen Juden auf und verschwindet spurlos, als man ihn ver-
haften will.
Aus dem 18. Jahrhundert haben wir nur wenige gleichzeitig bezeugte
Sparen von dem Ewigen Juden in Deutschland. Am 22. Juli 1721 wird
er am Isartor in München nicht eingelassen, treibt sich dann hausierend
in der Umgegend herum und erklärt das von dem Hofbildhauer Gabriel
Loidl zu München aus Blei gegossene Kruzifix auf dem Gasteigberg für
die „rechte Abbildung unseres Herrn und die Länge und in allen gleich." 2)
Diese einem Münchener Diarium einverleibte Notiz ist sichtlich eine
Dublette aus dem erweiterten Volksbuch, auf lokale Verhältnisse und eine
spätere Zeit übertragen. Ein andermal soll der Ewige Jude auf der
Frankfurter Messe erschienen sein, um einen mit Pelz gefütterten Rock
gefeilscht und dem Pro dl er eine Goldmünze mit dem Bildnis des 1 iberius
1) J. S. Mitternacht, Dissertationes de Johannis XXI Paragr. 22 Apud Mart.
Müllerum 1665. "Vgl. Neubaur 1884 S. H5 und 117,
2) Nork in Scheibles Kloster 12, 428.
156
Diibi:
dafür gegeben haben, die er vor 1400 Jahren (sie!) in Rom erhalten haben
wollte. Diese Legende ist zwar erst im 19. Jahrhundert notiert worden1),
aber dass Interesse, welches der junge Goethe der Figur entgegenbrachte,
scheint doch zu beweisen, dass Ahasver im 18. Jahrhundert in Frank-
furt a. M. populär war. Nach einer Quelle, deren Alter ich nicht kon-
trollieren kann (ich habe die Notiz wie die meisten der vorhergehenden
aus L. Neubaurs Schriften), soll der Ewige Jude die Neujahrsnacht von
1766 in einem Schafstall im Dorfe Altbach am Neckar in Württemberg
zugebracht und sich durch eine noch 10 Jahre später vorhandene Inschrift
für die Herberge bedankt haben. Zwei Jahre später finden wir ihn zum
ersten Male in der Schweiz und zur Darstellung dieses den Erforschern
der Sage nur ungenügend bekannten Besuches wollen wir nun über-
gehen.
Der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Ulrich2) berichtet darüber in
seiner 'Sammlung jüdischer Geschichten in der Schweiz' folgendes:
„Die zweyte Merkwürdigkeit, die wir von Bern zu berichten haben, betrift
den ewigen oder unsterblichen Jud ; wir haben schon in verschiedenen Helvetischen
Reis-Beschreibungen wackerer Männer gelesen, daß man auf der Bernerischen
Bibliothek einige Denkmahle vom unsterblichen Jud aufbehalte. Über dasjenige
(hinaus), was wir schon aus diesen geschriebenen Reisebeschreibungen wußten,
meldete uns noch unlängst ein hoher Gönner folgendes: Ich habe gestern mit
dem Hr. N. H., der sich dermalen hier in Zürich befindet, geredt und Er-
läuterung begehrt über jüngst verdeutetes kostbares Stück, so auf der Oberkeit-
lichen Bibliothek zu Bern unter anderen aufbehalten wird, welches aus einem
Stecken und einem paar Schuhen von dem Ewigen Juden bestehet. Er sagte mir,
es seye wahr, daß diese köstliche Überbleibsel sich alldort befinden, und müsse
man aus der Bibliothek etliche Tritte herunter in ein Souterain steigen, allwo ein
Türkischer Habit zu sehen, den ein Herr Heerport dahin verehret. In gleichem
Kabinet befinden sich auch des unsterblichen Juden Stecken und Schuhe. Der
Stecken seye ziemlich grob und stark (vielleicht ist es Samgars Ochsen-Stecken),
die Schuhe seyen auch ungemein gross, und von hundert Bietzen zusammen-
gesetzet, und scheinen ein Meisterstück von einem Schuhmacher zu seyn, weil sie
mit vieler Mühe, Fleiß und Geschicklichkeit aus gar vielen lädernen Theilen zu-
sammengeflickt worden." — Über die Sage von Ahasver sagt Ulrich: »Die Sache
ist nach der alten Tradition kurz folgende: Als unser Herr zum Tod des Creutzes
ausgeführt worden, befände sich in Jerusalem ein Bürger, seines Handwerks ein
Schuster, namens Ahasvérus. Dieser wollte nicht zugeben, daß der ermüdete
Heiland für seiner Haußthür etwas ausruhete, sondern schlüge den Heiland mit
dem Leist, den er eben in der Hand hatte; worauf ihn Christus mit zornigem
Angesicht angesehen, und zu ihm gesagt habe: Ich zwar will hier ruhen, du
aber solst gehen bis ich wiederkomme! Darauf der Jud sogleich sein kleines
Kind, so er auf dem Arm gehabt, niedergesetzt, Christo zur Richtstatt nach-
1) Aus 'Souvenir d'un pèlerinage eu l'honneur de Schiller', mitgeteilt von Baron de
Reiffenberg im Annuaire de la Bibliothèque royale de Belgique 3, 200 f. 1842. Ygl.
Neubaur 1884 S. 116.
2) J. C. Ulrich, Sammlung jüdischer Geschichten in der Schweiz (1. Aufl. Basel 1768).
2. Aufl. Zürich 1770 S. 154.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
157
gefolget, sein Leiden und Tod selbst mit angesehen, nachdeme aber nicht nacher
Jerusalem wieder zurückkehren dörffen. Er habe also sein Weib und seine Kinder
nicht mehr zu sehen bekommen, sondern seye in der Welt herumgereiset, habe
sich tauffen lassen, und seye ein Christ worden, wandere aber noch bis auf den
heutigen Tag umher."
Ulrich kennt und zitiert von der oben besprochenen Literatur den
Mathaeus Paris, den Brief des Dudulaeus, datiert Reval 1614 und die
'Relation' des Pfälzer Predigers J. G. Hadecus von 1681, verweist im
übrigen seine Leser auf die umständlichen Berichte bei Schudt und
Iiolberg. Was er also nicht von diesen Gelehrten hatte (und dies ist
gerade der Besuch Ahasvers in Bern) verdankte er seinem ungenannten
Korrespondenten und dieser gewiss der in Bern umlaufenden Sage. Dass
es Sage ist, was von den Reliquien des Ewigen Juden in Bern berichtet
wird, geht aus dem Umstände hervor, dass in keiner der zahlreichen
gedruckten Reisebeschreibungen (die 'geschriebenen' sind eine Flunkerei
Ulrichs) von 1621 ab, wo Martin Zeiller in Bern war, bis 1768 unter den
Merkwürdigkeiten der Bibliothek in Bern die Schuhe und der Stecken
Ahasvers figurieren, ebensowenig in den Akten der Stadtbibliothek selbst,
die allerdings gerade für 1765—1774 lückenhaft sind. Aber die Sage
blieb auch nach 1770 geschäftig. Der etwas unkritische Sagenforscher
E. L. Rochholz weiss in seinen 1856 erschienenen Schweizersasen aus
o
dem Aargau 2, 306 zu berichten, dass Ahasver Wanderstab und Schuhe
bei seinem Weggang aus Bern, wohin er über das Matterjoch und die
Grimsel gekommen sei, zurückgelassen habe und dass der Züricher Pfarrer
Ulrich sich beides daselbst habe zeigen lassen. Wie die zweite Nachricht
nachgewiesenermassen falsch ist, so beruht auch die erste nur auf einer
Kombination. Das nämliche muss auch der Fall sein mit der Notiz in
dem 1854 zu Leipzig erschienenen 'Schweizerischen Sagenbuch' von Kohl-
rusch 1, 93. „Als zur Sage von Ahasver auf der Grimsel gehörig, muss
schliesslich hier noch eines alten, aus ledernen Riemen geflochtenen Schuhes
erwähnt werden, der in einer Plunderkammer unter der Bibliothek in Bern
liegt und von dem es heisst, eben bei jener Wanderang über die Grimsel
habe ihn Ahasver von seinem Fuss verloren." Ich widerstehe der Ver-
suchung in diesem einen Schuh1) Ahasvers die eine Sandale des Bottadio
wiederzuerkennen, von der oben die Rede war, denn ich glaube nicht,
dass Kohlrusch die Tradition unbefangen und ungeschminkt wiedergibt.
Ebenso möchte ich auch die wohl nur im Scherz vorgebrachte Tradition
verwerfen, von der Professor K. Pabst in seinem Vortrag über Gespenster
in Sage und Dichtung (Bern 1869) sprach und wonach Ahasver Stab und
Schuhe als Pfand für Zechschulden hätte zurücklassen müssen.
Aber sagenecht und für unsere These von der grössten Bedeutung sind
die Erzählungen über die Wanderungen des Ewigen Juden in der Schweiz.
1) [Auch in Ulm erzählte man von dem Schuh Ahasvers. Sartori, oben 4, 292.]
158
Diibi:
Fast ausnahmslos gehen diese Wanderungen von Süden nach Norden, von
den Alpen oder Voralpen ins Flachland hinaus; sie erfolgen in regel-
mässigen Perioden und der „ewig Alte" konstatiert dabei, wie Chider,
der „ewig Junge", dass die Welt immer schlechter wird. Aufgeschrieben
worden sind diese Sagen in der Schweiz erst spät, aber sie haben dennoch
ein altertümliches Gepräge und einen lokalen, sozusagen alpinen Charakter.
'Beim ersten Überschreiten des sagenberühmten Matterjochs1) fand Ahasver
dort eine Stadt, in welcher ihm die Herberge verweigert wurde, beim
letzten eine unwirtliche Schnee- und Eiswüste. Auf seinem Wege von
hier zur Grimsel sollen die Bauern häufig den Ewigen Juden im Goms,
der obersten Stufe des Khonetals gesehen haben.2) Als er zum ersten-
mal die Maienwang oberhalb des Rhonegletschers emporstieg, fand er
oben einen Weinberg, das zweitemal einen Tannenwald, das drittemal
eine Schnee- und Felswüste. Yon den Tränen, die er über diesem
Anblick vergoss, entstand der See beim Hospiz.3) In dem 1827 in den
'Alpenrosen' anonym erschienenen Artikel „Schattierungen zum Licht-
gemälde der Grimsel und der Grimselstrasse" erzählt der Verfasser,
Pfarrer J. J. Schweizer (S. 392) von seinem Ausflug zum Aaregletscher
am 23. August 1825 in Begleitung des Spittlers und eines Gemsjägers:
„Bei dem Abschwung wies uns der Gemsenjäger in tiefer Eiskluft die soge-
nannte Jägerhütte, eine schauerliche Felsenhöhle; er erzählte, dass Ahasvérus, der
Ewige Jude, bey seiner ersten Durchreise gerade hier unter einer Rebenlaube
geruhet, und in seiner Umgebung nur einen unermeßlichen Weinberg gesehen, bei
seiner Wiederkunft dann hier unter Waldgebiiscben gesessen und die Gebirge mit
Tannen, Fichten und Erlen bekränzt angestaunt; zum drittenmal kommend, die
Herberge mit starrem Eise verrammelt und nichts als Schnee- und Eisfelder an-
getroffen, dann aber prophezeit hätte, dass er beim vierten Kommen von Brienzer-
see weg auf einem Gletscher nach dem Wallis wallfahrten werde."
Dass er schon dreimal die Grimsel überschritten habe, erzählte nach
H. Pröhle (Deutsche Sagen 1863 S. 166—170) Ahasver auch in Leissigen
am Thunersee, wo er im sogenannten Heidenhaus um die Weihnachtszeit
einkehrte und ruhelos in seinem Zimmer bis zum Morgen auf- und abging.
In Gsteig bei Saanen kam er vor langer Zeit einmal vorbei und sagte,
wenn er noch einmal komme, werde es daherum so wild sein, wie oben
auf dem Sanetschpass (Th. ^ ernaleken, Alpensagen, Wien 1858, S. 12).
Yon einer Verschuldung der Einwohner, die solche Veränderung hervor-
gerufen hätte, ist hier nicht die Rede; wohl aber in einer anderen in der
gleichen Sammlung (S. 13) aufgezeichneten Sage: Die Kirche des Dorfes
Blumenstein (in der Nähe von Thun) soll früher zu einer Stadt gehört
1) Brüder Grimm, Deutsche Sagen Nr. 344 (Berlin 1865) und Tscheinen und Ruppen,
Walliser Sagen (Sitten 1872) S. 95 f.
2) L. Stehler, Das Goms und die Gomser S. 8 (Beilage zum Jahrbuch des Schweizer
Alpenklubs 38. 1902).
3) C. Vogt, Im Gebirg und auf den Gletscher11 (Solothurn 1844) S. 42.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
159
haben. Zum ersten Male als der Ewige Jude diese Gegend bereiste, sei
sie eingesegnet worden; das zweite Mal habe er die Stadt wegen ihrer
Sittenlosigkeit zu einer unfruchtbaren Wilde verwünscht, und wenn er
das dritte Mal wiederkomme, so werde diese Gegend zu Gletscher werden.
Veranlassung zu dieser Sage hat wohl der Umstand gegeben, dass die
Kirche von Blumenstein, eine ehemalige Burgkapelle, ziemlich weit entfernt
und über dem Dorfe lieo-t* aber es ist doch charakteristisch, dass die
Motivierung an den Ewigen Juden und dessen Prophetengabe geknüpft
wurde. Übrigens lag Blumenstein an seinem Wege, wenn er vom Sanetsch
her kommend nach Bern wollte. Wiederholt ist er auch durch das Entle-
buch (bei Luzern) gekommen.1) Hier erhebt sich südwestlich vom Dorfe
Flickli der langgedehnte Bergstock des Schratten. Beim ersten Besuche
Ahasvers war der Schratten ein Weinberg, hernach eine Alp und zuletzt
teilweise nur noch ein kahler Fels. Schuld daran ist die Sünde der
Schrattenjungfrau (Lütolf, Sagen aus den fünf Orten S. 58). Hier ist
also das Schicksal Ahasvers kombiniert mit dem einer anderen Ver-
dammten. Wir haben schon gesehen, dass er gelegentlich mit Pilatus
zusammenfällt-, wir werden später sehen, dass im Entlebuch auch der
Tannhäuser einheimisch ist.
In den aargauischen Dörfern Lengnau und Endingen, wo Juden-
gemeinden sind, sowie im katholischen Frickthale ist, wie Rochholz2)
bezeugt, der nämliche Pilger, der im Suhrtale als Pilatus gilt, unter dem
Namen des Ewigen Juden bekannt. Wenn er diesen Landstrich und die
angrenzende Basellandschaft bereist, so übernachtet er stets in seinem
gleichen Wirtshause, obschon er die Nacht ausser dem Bette zubringt und
immerwährend bis zum Morgen in seiner Stube herumläuft. Ln Baselland
erzählt er, er habe, als er das erste Mal in diesen Rheinwinkel gekommen
sei, wo nun Basel stehe, nur einen schwarzen Tannenwald, das zweite
Mal nur ein breites Domengestrüppe, das dritte Mal aber eine vom Erd-
beben zerrissene grosse Stadt vorgefunden. Wenn er zum letzten Male
dieses Weges komme, werde man stundenweit gehen müssen, um Reiser
zu einem Besen zusammenzufinden. Auch im Kanton St. Gallen ist, wie
0. Henne-Am Rhyn (Die deutsche Volkssage 1874 S. 378f.) berichtet, der
Ewige Jude gewesen. In den Gemeinden Gaiserwald und Andwil erschien
er als uralter Mann, der Almosen sammelte und beim Essen hin und her
o-ino\ Zu Niderbüren wollte man gesehen haben, wie sein Schatten eine
^ ® * . i
halbe Stunde weit reichte. Damit und mit manchen anderen Zügen kommt
Ahasver in der Schweiz anderen ewigen Wanderern heidnisch-mytho-
logischen Ursprungs nahe und wenn auch die Parallele, die Rochholz
zwischen ihm und Wuotan gezogen hat, in dieser Ausdehnung unrichtig
1) E. Osenbriiggen, Wanderstudien aus der Schweiz 1, 256f. (1867).
2) L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau 2, 306.
160
i
Bartels:
ist, so darf doch gesagt werden, dass die Ahasversage in der Schweiz von
dem Traktätlein von 1602 weniger beeinflusst wurde, obschon es wahr-
scheinlich hier entstand, als von der älteren Legende über den Bottadio,
deren Einwanderung wir freilich nicht so verfolgen können, wie die der
Legende des Pilatus.
Das deutsche A7olksbuch vom Ewigen Juden ist natürlich auch in der
Schweiz sehr verbreitet gewesen, und wenn die seltsame Frau Margret in
G. Kellers 'Grünem Heinrich' den sie besuchenden Trödeljuden weiss-
machen wollte, sie hätte selbst vor zwölf Jahren einmal zwrei Stunden
vor dem Wirtshaas zum „Schwarzen Bären" in Zürich vergeblich auf den
darin übernachtenden Ahasver gepasst, da er schon vor Tagesanbruch
weiter gewandert sei, so hatten die Juden das Recht ungläubig zu
schmunzeln; denn diese Anekdote ist schwerlich durch die lebendige
Tradition, sondern durch die Lektüre des Arolksbuches veranlasst, wie die
Geschichte, welche Julius Mosen aus seiner Kindheit (um 1810) von dem
Besuch des Ewigen Juden zu Marieney im Vogtland erzählt (Sämtl.
Werke 2, 261. 1880). Aber auch dort findet Ahasver ein Dorf, wo 1000 Jahre
früher nichts als Wälder gewesen seien, ein Zeichen, dass die Sage dank
den uralten' Elementen, die sie enthält, im Yolksmunde lebendig ge-
blieben war.
Fortpflanzung, Wochenbett nnd Taufe in Brauch und
Glauben der weissrussischen Landbevölkerung.
Nach Angaben von Frau Olga Bartels auf Koslowka, Gouv. Smolensk,
zusammengestellt von Paul Bartels.
Im Jahrgang 1904 (Bd. 63,120—156) der „Etnograficeskoje obozrenije"
(Ethnogr. Rundschau) veröffentlichte Fräulein Yera Charusina in Moskau
ein 'Programm zur Erforschung ¿er auf Geburt und Taufe bezüglichen
Gebräuche bei der bäuerlichen Bevölkerung und den andersartigen Völker-
schaften Russiands'. Diese Schrift war mir zunächst nur aus einem
Referate bekannt geworden, das Prof. Stieda (Königsberg) im Zentral-
blatt für Anthropologie 1906, S. 149 —152 erscheinen liess. Der freund-
lichen Vermittelung meiner Tante, Frau Olga Bartels, Besitzerin des
Gutes Koslowka im Gouvernement Smolensk, und der Gefälligkeit von
Fräulein Ch. verdanke ich es, dass mir diese Arbeit, die mir für eine
neue Auflage des früher von Ploss und meinem verstorbenen Vater
herausgegebenen Werkes 'Das Weib in der Natur- und Völkerkunde'
Brauch und Glauben der weissrussischen Landbevölkerung. Ißl
von Wichtigkeit erschien, auch im Original zugänglich wurde; da ich
aber leider der russischen Sprache nicht mächtig bin, so wäre mir auch
damit noch wenig gedient.gewesen, wenn nicht mein Schwager, Herr cand.
phil. Rudolf Fuchs (Berlin), die grosse Freundlichkeit gehabt hätte, die
ziemlich umfangreiche Schrift durchzuarbeiten und mir wenigstens die
wichtigsten Stellen, vor allem die sämtlichen 256 Fragen des der Schrift
beigegebenen Fragebogens, zu übersetzen. Ich spreche auch an dieser
Stelle meinen herzlichsten Dank für alle mir zuteil gewordene Förderung
aus; vor allem aber Frau Olga Bartels, die auf meine Bitte es unter-
nommen hat, einen (von ihr ausgewählten) Teil dieser Fragen Mitgliedern
der weiblichen Bevölkerung1) des Gutes und Dorfes Koslowka vorzulegen
und mir ihre" Antworten zu vermitteln.
Frau Olga Bartels hat bereits früher auf eine Bitte meines Vaters
hin einiges „Aus dem Leben der weissrussischen Landbevölkerung im
Gouvernement Smolensk" mitgeteilt (Zeitschr. f. Ethn. 1903, S. 650 - 667);
und zwar waren es neben einer kurzen Zusammenstellung der „Geburt,
Hochzeit und Sterben" betreffenden Gebräuche und Vorstellungen haupt-
sächlich Angaben über „das Bauernjahr", über die Bedeutung der einzelnen
Tage des Jahres im Glauben und Leben des weissrussischen Bauern, die
in dieser Schrift abgehandelt wurden.
Es ist gerade aus der russischen Volkskunde, wenigstens soweit die
hier berührten Fragen in Betracht kommen, noch verhältnismässig wenig
bekannt. In dem genannten Werke von H. Ploss und M. Bartels, in
welchem ja mit möglichster Vollständigkeit gerade auch die sogenannten
abergläubischen Gebräuche und A orstellungen, soweit sie das Leben des
Weibes betreffen, berücksichtigt sind, finden sich denn auch nur ziemlich
spärliche Angaben aus der Volkskunde Russlands. Und das hat seinen
Grund darin, dass die russischen Forscher ihre Veröffentlichungen meist
in ihrer Muttersprache gegeben haben, während z. B. schon die süd-
slawische Volkskunde durch hervorragende, in deutscher Sprache ge-
schriebene Arbeiten (ich nenne z. B. nur Krauss) allgemeiner bekannt
und damit besser verwertbar gemacht worden ist. So glaube ich, dass
die folgenden Mitteilungen mancherlei enthalten, was für. die Kenntnis der
russischen Volkskunde als 'neu' wenigstens in dem Sinne betrachtet werden
darf, als es bisher in keiner der drei Weltsprachen im Original oder in
irgend einer Zusammenstellung veröffentlicht worden ist.
Bei der Anordnung des Stoffes habe ich mich nur teilweise und nur
im groben nach der von V. Charusina befolgten Einteilung (sieben
Kapitel mit 256 Fragen) gerichtet. Im übrigen darf man aber aus dem
Folgenden weder auf die Reihenfolge noch auf die Anzahl der von
V. Charusina vorgeschlagenen Fragen schliessen. Ich muss übrigens
1) Darunter eine alte „Babka" (Hebamme) des Dorfes.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907.
11
162
Paul Bartels:
gestehen, dass eine so ins einzelne gehende Fragestellung (Kapitel Y
umfasst allein 104 Fragen), die wesentlich aus den Angaben der speziellen
Literatur zusammengestellt zu sein scheint (wobei, nebenbei gesagt, aus
der deutschen Literatur vor allem Ploss' Werk über das Kind genannt
wird, während das Werk über das Weib der Verfasserin wohl nicht
bekannt war), nach meiner Ansicht manches Bedenkliche hat. Es liegt
die Gefahr vor, dass der Fragende, wenn er nicht Fachmann ist, in gleicher
Weise wie der Gefragte ermüdet wird und das Interesse verliert, und
andererseits durch die vielen Spezialisierungen der Fragen manches heraus-
gefragt wird, was nicht von wesentlicher Bedeutung ist; über die Mängel
dieser Methode ist sich Y. Ch. auch vollständig klar. Immerhin darf
dieser Versuch als eine wertvolle Anregung, die auch in unserem Falle
sich als fruchtbringend erwies, mit Dank begrüsst werden; noch dankbarer
würden wir freilich der Arerf. sein, wenn sie nun auch ihrerseits uns mit
möglichst vielen Antworten aus dem grossen Russland, in tatsächlicher
Ausführung ihrer Gedanken, die bisher nur Vorschläge sind, erfreuen würde.
1. Unfruchtbarkeit; uneheliche Kinder.
Ist einer Ehe der Kindersegen versagt, so gilt dies als ein
Unglück. Man lässt es die Frau zwar nicht gerade entgelten, indem man
ihr etwa mit Geringschätzung entgegentritt, wie bei den Südslawen
(Krauss), aber es entstehen ihr doch Nachteile daraus; sie ist z. B.
im Falle des Todes ihres Mannes nicht erbberechtigt und hat keinen
Anspruch an seinen Landanteil, wenn sie ihm keinen Sohn geboren hat.
So sucht eine solche Frau denn durch Gelübde und strenge Buss-
übungen die Gnade des Himmels zu gewinnen: während des Gottes-
dienstes steht sie regungslos in der Kirche; sie unterwirft sich strengem
Fasten, nicht nur Mittwochs und Freitags, sondern auch am Montag; sogar
das Wasser wird nicht genossen bis Sonnenuntergang. Im Frauenkloster
zu Smolensk befindet sich eine Puppe1); am Himmelfahrtstage pilgern
viele Bäuerinnen dort hin, die keine Kinder haben und sich solche
wünschen, und wiegen dann diese Puppe in den Armen, während eine
1) Auf meine Bitte hat Frau 0. Bartels mittlerweile einen Aufenthalt in Smolensk
dazu benutzt, um das Kloster zu besuchen und diese Puppe womöglich zu sehen. Letzteres
gelang freilich nicht, auch war es nicht möglich, eine Abbildung zu erhalten. Es Hess
sich dort nur in Erfahrung bringen, „dass es wirklich einen Holzengel geben soll (als
Kontrebande natürlich, da die Kirche nur Heiligenbilder duldet), der eine Abbildung des
Engels sein soll, der auf dem Grabe Christi sass und die Auferstehung des Herrn ver-
kündete; es ist ein kleiner Holzengel, der auf einem Stein sitzt. Diese Puppe (die keine
Reliquie ist), wird nur am Himmelfahrtstage, an dem grossen Wallfahrtsfeste, dem Volk
zugänglich gemacht." — „Wer Knaben haben will, opfert dem kleinen, mit einem Brokat-
hemdchen bekleideten Popanz ein männliches Kleidungsstück, welches er ihm überwirft;
wer Mädchen haben will, opfert ein weibliches Kl^ungsstück. Wer eine grössere Spende
gibt, bekommt sogar ein geopfertes Kleidungsstück als Reliquie mit nach Haus."
Brauch und Glauben der weissrussischen Landbevölkerung. jß3
N onne neben ihnen Gebete liest, in denen um Befreiung von dem Unglück
der l nfruchtbarkeit gebeten wird. Man glaubt, dass Kinderlosigkeit
durch bösen Zauber hervorgerufen werden kann, auch durch Über-
tretung kirchlicher Gelübde.
Die ausser eheliche Schwangerschaft gilt dagegen für eine
Schande, weniger bei einer Frau, als bei einem ledigen Mädchen. Wenn
durch drei Generationen hindurch uneheliche Kinder geboren wurden
(Grossmutter, Mutter und Tochter), so ist die dritte Person ein Zauberer
oder eine Hexe. Ein uneheliches Kind wird spöttisch bezeichnet als Find-
ling, Vaterloser, Brennnesselbub, doch lässt man es sonst den
Fehltritt der Mutter nicht entgelten. Diese dagegen muss Schimpf und
Spott erdulden. So singt man dort:
„Die Mutter hat der Tochter verboten, sich weiss und rot zu schminken
und sich mit den Knaben abzugeben. Sie hat der Mutter nicht gefolgt, hat sich
weiss und rot geschminkt und hat sich mit den Knaben abgegeben."
„Das Mädchen kam erst zu sich, als sich's ihr im Leibe regte; es begann
zu weinen, als es in der Wiege krähte; und das ganze Leid lernte sie erst
kennen, als es auf ihren Armen zu hüpfen begann."
In einem anderen Yerse ruft die Arme:
„Yäterchen, hilf, hilf! Mache mir eine Wiege!
Brüderchen, hilf! winde die Stricke zur Hängewiege !
Mütterchen, hilf! bereite die Windeln!
Schwesterchen, hilf! reiche das Wickelband!"
Unter den Vorzeichen bedeutet der Schrei einer Eule die Geburt
eines unehelichen Kindes; auch der Kuckucksruf soll keine gute Vor-
bedeutung sein.
2. Schwangerschaft.
Der Angabe von V. Charusina, dass im Olonetzschen Gouvernement
drei Tage als der Zeitabschnitt angesehen werden, den der Keim braucht,
um sich zu bilden, sei die in Koslowka gegebene Antwort auf eine ent-
sprechende Frage angereiht, nach der diese Zeit zwölf "Wochen betragen
soll; ich kann allerdings den Verdacht nicht unterdrücken, dass damit in
diesem Falle die Zeit gemeint war, nach der man (für den Hausgebrauch)
mit einer gewissen Sicherheit darauf rechnen kann, dass das Eintreten
der Schwangerschaft mehr als ein blosser Verdacht war.1) Dass eine Frau
ein Mädchen zur Welt bringen wird, erkennt sie daran, dass sie die
Frucht links fühlt; rechts entstehen Knaben, also ähnlich wie die
1) Eine mittlerweile erneute Anfrage eigab, dass drei Tage als der Zeitraum be-
trachtet werden, die der Same brauche, um in das Ei zu dringen. Das Werden des
Kindes, die weitere Entwicklung, vergleichen die Bauern dann mit der Entstehung eines
Gewebes, bei dem zuerst die Kette in langer, mühseliger Arbeit gemacht werden muss,
ehe durch das Herstellen des Einschlages das eigentliche Weben beginnen kann; den
Ausdruck für das Herstellen der Kette gebrauchen die Bauern, um die erste Entwicklung
zu bezeichnen: „molodoje ssnujiotsia 12 nediel", d h. ¿as junge, Zukünftige, kettet
sich 12 Wochen.
11*
164
Paul Bartels:
bekannte, schon bei griechischen Philosophen und auch in den alten
geburtshilflichen Schriften unseres Vaterlandes vorkommende Anschauung,
dass die rechte Seite, „als die stärkere, heiligere und glücklichere"1
(Ploss-Bartels 8. Aufl. 1, 770) für die Erzeugung der Knaben, die linke
für die der Mädchen bestimmt ist. Knaben sind schwerer zu tragen,
weil sie meist grösser sind, und sie werden zwei Wochen länger getragen.
Die Frau zeigt ihren Zustand mit Stolz, wenn sie jung ist; die ältere
Frau freilich verbirgt ihn, solange sie kann. Man schont sie nach
Möglichkeit und sucht ihr schwere Arbeiten zu ersparen; in armen
Familien ist man allerdings oft weniger rücksichtsvoll. Ihre Gelüste
sucht man zu erfüllen. Vor Gemütsbewegungen, besonders vor heftigem
Schreck, muss sich die Schwangere zu bewahren suchen. Heftiges Er-
schrecken bei Feuerschaden bewirkt, dass das Kind mit einem Feuermal
zur Welt kommt; letzteres entsteht an denjenigen Körperstellen, welche
die entsetzte Frau mit der Hand berührt hat. Haben die Eltern die
Enthaltsamkeitsgesetze, welche die Kirche, allerdings nicht sehr erfolgreich,
für die Fastenzeiten und die Vorabende der grossen Feste vorschreibt,
übertreten, so können sie durch die Geburt von Zwillingen oder eines
missgestalteten Kindes gestraft werden; besonders der Buckel wird
dieser Übertretung zugeschrieben. Man erzählt, dass eine Frau ein Kind
mit einem Pferdekopf geboren habe; ein anderes Kind soll ein Frosch-
gesicht und Froschaugen gehabt haben (vielleicht ein Anencephalus!)
Hexen und Zauberer sind imstande, solches zu bewirken; noch vor der
Trauung können sie die junge Frau verderben, dass sie kinderlos bleibt
oder die Kinder nicht austragen kann. Die Schwangere darf über keinen
Strick treten, sonst legt sich der Nabelstrang um den Hals des Kindes,
ein auch sonst in Europa verbreiteter Glaube. In allen ihren Anliegen
wenden sich schwangere Frauen, wie auch sonst in Russland, an die
Muttergottes und die heilige Anastasia-Fessellöserin, deren Tag
am 22. Dezember ist. Uni eine leichte Entbindung zu bewirken,
wird folgendes Verfahren angewendet: Bei der Einweihung eines Hauses
wird je ein Wachslicht an jede Wand des zu weihenden Hauses geklebt;
ein solches Lichtstiimpfchen wird über der Schwelle angesteckt und die
Schwangere dreimal darüber hinweggeführt. Übrigens kann die junge
Frau schon in der Brautnacht dafür Sorge tragen, dass die Geburts-
schmerzen auf den Mann mit übergehen, indem sie sich dreimal
über ihn herüberwälzt. Auch können Zauberer schon bei der Trauung
bewirken, dass der Mann alle Beschwerden der Schwangerschaft, Übelkeit^
Erbrechen, Kreuzschmerzen, mitempfinden muss. Die Schwangere ist im
allgemeinen irgendwelchen Beschränkungen nicht ausgesetzt. Doch ver-
meidet sie es, eine Patenschaft zu übernehmen, und zwar wird das
damit begründet, dass das Kind ihr im Leibe erdrückt werden könne,
wenn sie den Täufling darüber hielte. Dies erscheint mir recht inter-
Brauch und Glauben der weissrussischen Landbevölkerung. ^65
•essant, denn es steht in naher Beziehung zu dem yon R. Andree (Braun-
schweiger Volkskunde S. 210) für Braunschweig geschilderten Gebrauche:
„Eine Frau, die guter Hoffnung ist, soll nicht Gevatter stehen, das schadet
dem Täufling und ihrer Leibesfrucht, ja, beide können infolgedessen zu-
grunde gehen. Dem kann aber vorgebeugt werden, wenn die schwangere
Patin zwei Schürzen statt einer während des Taufaktes anzieht." Diese
Verdoppelung der Schürze soll also offenbar einen Schutz für das un-
geborene, darunter verborgene Kind darstellen. In Russland wTird nun
eine rein körperliche Ursache, der Druck des darüber gehaltenen Täuflings,
-als die Schädlichkeit angesehen. Ob nicht vielmehr, da die Frauen doch
sonst nicht allzu ängstlich wegen körperlicher Anstrengungen sind, es
mehr der Umstand sein mag, dass etwas Ungetauftes, also Unheiliges, der
eigenen Leibesfrucht nahe gebracht wird, wird sich nicht sicher entscheiden
lassen, erscheint mir aber wahrscheinlicher. Nicht unerwähnt soll bleiben,
dass mein Yater (Ploss-Bartels, Das Weib, 8. Aufl. 1, 860) die Meinung
ausgesprochen hat, dass ursprünglich die Schwangere, als eine gewisser-
massen nicht ganz normale, daher nicht vollgültige Persönlichkeit, von
der Patenschaft ausgeschlossen bleibt, wie ihr auch vielfach verwehrt ist,
als Zeugin vor Gericht aufzutreten, und dass erst später die mystische
Ursache, die Gefährdung des Ungeborenen und des Täuflings, vom Volke
als Erklärung angeführt wurde; ich möchte allerdings eher diese mystische
Ursache, die Nähe von etwas Ungeweihtem, für das ursprünglichste
halten.
Wie überall in Russland, so glauben auch in Koslowka die Bauern,
dass die Seele dem Kinde von den Engeln gegeben wird.
3. Geburt.
Die Geburt findet an einem abgesonderten Orte statt, im Sommer
meist in der 'Banja', der Badehütte, oder in einem leeren Stall, im Winter
im eigenen Hause, oder, wenn die Familie dort zu gross ist, viel Männer
und Kinder in der Hütte sind, .in dem Hause einer Nachbarin, die keine
Familie hat oder deren 'Männer (d. h. männliche Familienangehörige)
abwesend sind. Die Badehütte von Koslowka ist, nach Aufnahmen
meines Täters, abgebildet im 'Weib' 2, Fig. 429 u. 430. Es liegt in dem
Brauche der Absonderung der Gebärenden, wie mein Yater vermutungs-
weise ausgesprochen hat (2, S. 44), sowie doch wohl auch in der Sitte,
dass die Entbundene 40 Tage lang vom Kirchenbesuch ausgeschlossen
ist, gewiss noch eine Andeutung der ursprünglich bestehenden Anschauung
von der Unreinheit der Wöchnerin. Das Yolk ist sich dessen freilich,
in Koslowka wenigstens, nicht bewusst, wie ausdrückliche Nachfragen er-
gaben. Auch bei den Südslawen durfte die Niederkunft, früher wenigstens,
nicht im Hause stattfinden (Krauss S. 537). Die Hilfe leistet die
'Babka' (Hebamme), auch 'Babussja1, 'Babussjenlca' (Grossmütterchen,
166
Paul Bartels:
Grosschen) genannt. Die Anwesenheit anderer Personen ist nicht
erwünscht, junge Mädchen dürfen auf keinen Fall bei der Entbindung
zugegen sein. Einen Wanderer, der etwa zu dieser Zeit an die Hütte
klopft, vermeidet man einzulassen, aus Furcht vor dem bösen Blick. Die
Babka zündet ein Lichtchen vor den Heiligenbildern an, spricht Gebete
oder Beschwörungen als Mittel gegen das böse Auge, meist über dem
Wasser, das sie der Leidenden reicht. Eine solche Beschwörungs-
formel lautet:
„Heute haben wir einen gerechten Tag, den heiligen Sonntag (oder einen anderen
Tag). Da schöpfte der Frau Helene die Magd Alexandra, unserere Königin
das Wasser.1)
Der Fluss entschwand im lichten Glanz, mit ihm die steilen Berge, die
steilen Ufer, der gelbe Sand, und die kühlen Quellen. Darin haben wir alles
Schlechte abgewaschen.
Kommt ihr Engel zur Hilfe und beschwört mit mir allen bösen Zauber, den
männlichen, weiblichen und kindlichen, und behütet uns vor dem grauen Auge
und dem schwarzen Auge, vor allem Neid, aller Missgunst bis zu diesem Tage,
bis zu dieser Stunde, dem lichten gerechten Sonntag!
Komm Herrgott, nimm meine Fürsprache gnädig an und sende der Helene
gute Gesundheit bis zum heutigen Tage und dieser Stunde!"
Die Tätigkeit der 'Babka' schildert das folgende Lied:
„Ach die Prossitschka (Name der Gebärenden) wandert im Vorhaus umher
Und Grosschen führt sie an der Hand.
Du stolze 'Babussja', mit Deiner Hilfe ist das Gebären leicht.
Ich schenke Dir ein buntes Ferkel,
Bähe Du mir das schmerzende Kreuz!
Ich schenke Dir sieben Scheffel Hanfsamen,
Eichte mir dafür den kranken Leib zurecht!"
Kamillentee, viel Branntwein mit Pfeifer, auch Mutterkorn, werden
als geburtsfördernde Mittel gegeben; auch lässt man die Gebärende stark
in eine Flasche blasen (bei den Südslawen in ein Glas, ein Rohr
[Krauss S. 540]), nach dem so weit verbreiteten Glauben der Hebammen,
dass das Mitpressen auch schon vor der Austreibungsperiode von ISTutzen
sei, während es doch nur dazu dient, die Leidende zu erschöpfen. 1st
die Geburt schwer, so löst man, nach auch sonst vielfach geübtem Brauch,
(s. a. Krauss, Südslawen S. 539), alles Verschliessende auf: die Ge-
bärende und ebenso die Mädchen im Hause lösen die Zöpfe, der Ehe-
mann seinen Gürtel, auch sein Hemd; der Gebärenden werden alle
beengenden Kleidungsstücke abgenommen. Man öffnet Kisten, Schieb-
laden, Ofentüren, löst alle Knoten, nimmt der Gebärenden die Ringe, die
Ohrringe ab. Man führt sie um den Esstisch, wo sie an jeder Ecke ein
Körnchen Salz nimmt. Sie tritt über einen leeren Sack, über das Hemd
des Mannes, in verzweifelten Fällen über diesen selbst. (Letzteres ist ab-
gebildet, nach der russisch geschriebenen Arbeit von Pokrowsky, im
1) Das Wasser ist die Königin; tzaritza-woclitza ist der Klang im Russischen.
Brauch und Glauben der weissrussischen Landbevölkerung.
167
'Weib' 2, Fig. 505). Schliesslich bittet man den Popen, die Tür des
Allerheiligsten zu öffnen, und ein 'entbindendes' Gebet zu sprechen; auch
legt man der Leidenden einen Gegenstand, etwa ein Hemd, über, welches
man erst auf das Muttergottesbild gelegt hat, man gibt ihr Wasser zu
trinken, mit dem man das Heiligenbild benetzt hat. Endlich, und hier
kommen wohl uralte Erinnerungen zum Vorschein, lässt man die Ge-
bärende das helle Licht und die Erde sowie alle Familien-
mitglieder um Verzeihung bitten.
Ist endlich das Kind zur Welt gekommen, so durchschneidet die
Babka den Nabelstrang mit einem Messer und unterbindet ihn mit
einem Leinfaden und dem Haare der Mutter. Damit gute Heilung der
Wunde eintrete, muss man sie öfter mit der Muttermilch befeuchten.
Wenn der Nabelschnurrest abfällt, legt man ihn in das Astloch einer
Eiche und spricht dazu: „Werde stark wie die Eiche und lebe so lange,
wie der Eichbaum stellt!"1) Ist das Kind etwa scheintot zur Welt ge-
kommen, so bläst man ihm ins Ohr. War es in der sog. Haube (bei
uns und vielfach sonst 'Glückshaube') geboren, so ist dies ein gutes Zeichen:
Die Mädchen werden gute Hausfrauen, Knaben gute Wirte, bei denen alles
Vieh gedeihen wird. Wenn der Vater des Kindes das Häubchen mit aufs Feld
zum Säen des Getreides nimmt, so gibt es eine gute Ernte. Kopf und Glieder
werden dem Kinde von der Babka 'gereckt', sie badet es, wickelt es;
dann wäscht sie ihre Hände mit Hafer, ebenso die Wöchnerin und
alle Anwesenden; hierbei sagen sie: „Ich wasche meine Hände und du
vergib mir meine Schuld." (Also wTohl auch ein Anklang an eine
Reinigungszeremonie.) Das Badewasser wird fortgeschüttet, die Nach-
geburt von der Babka vergraben, meist in der Banja unter der Diele,
wobei sich die Hebamme nach allen vier Himmelsrichtungen verbeugt;
dabei bekreuzigt sie sich aber nicht, sondern hält die Hände auf dem
Rücken, denn die Banja ist ein ungeweiliter Raum.2)
Kindern erklärt man das Erscheinen des neuen kleinen Weltbürgers,
indem man sagt, die Babka hat uns eine Puppe mitgebracht — was
annehmbar ldingt, da die Geburt in einem abgelegenen Räume stattfand.
In dem Hause wird dann das Licht gelöscht, eine besondere Bewachung
der Wochenstube, wie sie vielfach, z. B. auch bei den Südslawen, in
der ersten Nacht üblich, findet nicht statt, und alles geht zur Ruhe.
4. Die Wöchnerin un¿ ¿er Säugling.
40 Tage ist, wie schon erwähnt, ¿ie junge Mutter vom Kirchen-
besuch ausgeschlossen; auch muss sich der Mann so lange von ihr fern-
1) Also eine Form des Verpflöckens. Bei Hellwig, Das Einpflöcken von Krank-
heiten (Globus 1906 Bd. 90, Nr. IG) finde ich in der reichen Zusammenstellung das hier
verpflöckte Objekt nicht erwähnt.
2) Nb: und der Brauch wohl älter als das Christentum!
168
Paul Bartels:
halten. Sie empfängt nun die Besuche, niemand darf kommen, ohne
ein Geschenk an Esswaren mitzubringen; meist sind es 'Blini', Buch-
weizenfladen oder eine Art Weizenkuchen, Weissbrot oder Kringel. Auch
dem Kinde werden Geschenke gemacht. Zur Stärkung erhält die
Wöchnerin schwarze Johannisbeeren, auf Branntwein gestellt. „Neun
Tage", heisst ein Sprichwort, „steht das Grab der Wöchnerin offen." Am
dritten Tage werden Mutter und Kind in der Banja gebadet. Schiesst
die Milch zu, was manchmal erst am dritten Tage geschehen soll, so legt
die Mutter das Kleine an, nachdem sie es bekreuzigt und ein Gebet ge-
sprochen hat. Die fremde Brust bekommt das Kind nur dann, wenn
die Mutter keine Milch hat. Sie nährt es je länger desto besser (auch
bei den Südslawen sehr lange; Krauss S. 544, 545), meist zwei Jahre;
nur falls eine zweite Schwangerschaft dazwischen kommt, setzt sie es ab.
Für sehr schädlich gilt es, nach Absetzen des Kindes nach einigen
Tagen wieder mit dem Nähren zu beginnen: solche Kinder be-
kommen den bösen Blick (bei den Serben werden sie Hexen, und haben
solche Macht, dass sie durch einen einzigen Blick einen Reiter vom Ross
hinabstürzen können. Krauss S. 545). Verliert die Mutter die Milch,
so taucht sie das Tragholz, an dem die Eimer hängen, in den Brunnen,
und trinkt die Tropfen, die beim Herausnehmen von dem Tragholz fallen. —
Sie schneidet abends schweigend ein Stück von einem ganzen Laib Brot
ab, trägt es zum Brunnen oder zur Quelle, legt es dort ein und lässt es
über Nacht daselbst liegen. Am anderen Morgen muss sie als erste vor
Tau und Tag am Brunnen sein und das B"rot essen. Wenn die Milch
dann doch nicht wiederkommt, so ist eben noch jemand vor ihr am
Brunnen gewesen, der das Mittel unwirksam gemacht hat. —
Erkrankt die Brust, stellen sich Schmerzen, Verhärtung ein, so
reibt man die kranke Brust mit einem Schleifstein oder einem leicht
bröckelnden Stein (sie!), wirft ihn dann zwischen den Beinen hindurch
in einen Winkel und spricht: „Zerfalle (vergehe), du Schmerz, wie dieser
Stein zerfällt!" Beim Absetzen des Kindes näht die Mutter den Schlitz
des Hemdes auf der Brust zusammen, kocht dem Kinde Grütze im Töpfchen,
bekreuzigt das Kind und spricht: „Hier hast du jetzt Salz und Brot; nähre
dich von dem, was wir essen; deine Zeit ist um!"1)
1) Einen ganz ähnlichen, aber anders motivierten Brauch beschreibt Krauss (S. 545)
bei den Südslawen: Die Mutter muss in den Busenlatz von oben nach unten eine Nadel
stecken, damit auch die Milch nach unten sich verlaufe. So recht ein Beispiel für die
nicht seltenen Fälle, wo man sich verlockt fühlt, der Frage nachzugehen, ob beide Ver-
sionen, was wohl unwahrscheinlich, unabhängig voneinander entstanden, oder auf eine
alte Form zurückgehen, ob die eine oder die andere die primäre, und welche Motivierung
also, infolge Nichtverstehens eines alten Brauches oder seines Rudimentes, die unrichtige,
erst später erdachte, sei! Bei den Südslawen knetet übrigens die Mutter mit eigener
Milch einen kleinen Kuchen an, bäckt ihn und gibt ihn dem Kinde zu essen; bei den
Weissrussen aber heisst es, ähnlich und doch anders: Tss, was wir essen!
Brauch und Glauben der Weissrussischen Landbevölkerung.
169
War das Kind bei Neumond oder zunehmendem Monde geboren,
so ist dies ein gutes Vorzeichen für sein Gedeihen; bei abnehmendem
Monde geborene Kinder gehen zugrunde. Zahnt das Kind früh, so werden
ihm bald Geschwister folgen. Sehr sündhaft ist es, wenn die Mutter den
Namen des Teufels nennt, oder das Kleine schimpft: die Kinder
können dem Blödsinn anheimfallen oder zu Krüppeln werden. Einmal
hat der Böse ein Kind fortgeholt, weil die Mutter dieses in der Banja,
dem ungeweihten Räume, zum Teufel gewünscht hat. Yon dieser Tod-
sünde handelt der letzte Vers des folgenden Liedes:
«In der Kirche, der Kathedrale, vor Gottes heiligem Altare, versammeln sich
die sündigen Seelen.
Da sprach die eine Seele:
Am Georgstage (23. April) bin ich in der Frühe aufgestanden, habe das
Vieh auf den Gottestau getrieben, habe den Kühen die Milch genommen und
diese unter die weisse Birke gegossen. Dafür iindet meine Seele keine Ver-
gebung, keinen Ablass meiner Sünden!
Die andere Seele sprach:
Ich bin am Johannistage in der Frühe aufgestanden, habe im Roggen einen
..Saloni"1) gebrochen; auch dafür findet meine Seele keine Vergebung, keinen
Ablass meiner Sünden!
Die dritte Seele sprach:
Ich habe im Leibe die Frucht verllucht, habe sie ein ungetauftes Geschöpf
geriannt. Ach. und dafür finde ich nie Vergebung, nie Ablass meiner Sünden!"
Einer unfrommen Mutter, die ihr Kind nicht bekreuzigt, kann der
Böse das Kind gleichfalls fortholen und dafür Holzklötze hinlegen.
Ist ein Kind nicht wohl, so nimmt man zunächst an, dass es
sich „erschreckt" hat. Dagegen wird der folgende interessante Brauch
angewendet (übrigens auch bei Erwachsenen):
Man stellt den Kranken in die Sonne, dass sein Schatten auf die
Diele oder draussen auf die Erde fällt. Sodann kratzt man mit dem
Messer etwas Schmutz oder Erde von dem Schatten des Hauptes, der
Glieder, des ganzen Leibes ab, und legt alles in einen Scherben. Hierauf
misst man Länge und Breite des Körpers, sowie aller Glieder mit einem
Leinenfaden und legt diese Masse auch in den Scherben. Dann bestreut
man den Kranken mit Asche, besprengt ihn mit Wasser, sammelt dann
die feuchte Asche, ballt sie zu einem Klümpchen und sucht darin nach
einem Haar. Findet man ein Menschenhaar, so war ein Mensch die
Ursache des „Schrecks"; findet man das Haar eines Tieres, so war dieses
Schuld daran. Schliesslich wird alles zusammen auf Kohlen verbrannt,
der Kranke damit geräuchert und eine Beschwörung gesprochen. (Erst
1) „Salom" ist ein böser Zauber. Iin R°ggen wird ein kleiner Kreis ausgetrampelt,
und der Roggen in der Mitte entzweigebrochen und verdreht. Das soll dem Eigentümer
Unheil bringen.
170
Paul Bartels:
eine Reihe unverständlicher, sinnloser, unübersetzbarer Worte, dann
heisst es):
„Alexandra räucherte den Peter vor dem tollen Kopf, vor dem heissen Blut,
der schwarzen Leber, den hellen Augen, den schwarzen Augenbrauen, und dem
verlogenen Herzen, bis auf diesen Tag, bis zu dieser Stunde. Komm uns, Herr,
zur Hilfe, ihr Engel zum Schutz! Steige hernieder, grosser Gott, und nimm
meine Fürbitte gnädig an. Gib dem Peter gute Gesundheit bis zum heutigen
Tag, bis zu dieser Stunde!"
In Krankheitsfällen wendet man sich meist an die Hebammen
oder an Männer, die verschiedene Krankheiten wirksam besprechen
können, seltener schon an einen Arzt. Wenn das Kind Hitze hat, un-
ruhig ist, so bestreicht man ihm die Schläfen mit Muttermilch. (Auch
grösseren Kindern gibt man etwas Muttermilch mit Salz zu trinken.)
Oder man gibt Wasser, in welchem drei glühende Kohlen gelöscht sind,
innerlich oder als Waschung.
Stirbt die Wöchnerin, so legt man, wie bei allen Toten, 40 Tage
lang ein Handtuch auf die Fensterbank und stellt ein Gefäss mit Wasser
hin. Stirbt das Kindchen, so bettet man ihm so lange die Wiege auf.
War die tote Mutter eine Zauberin, so besucht und nährt sie ihr Kind
sechs Wochen lang. Dies verhindert man, indem man durch den Geist-
lichen Beschwörungen vornehmen lässt. Stirbt eine Frau mit dem Kinde,,
so legt man ihr Windeln mit ins Grab. Hat eine Frau das Unglück
gehabt, ihr Kindchen im Schlafe zu erdrücken, so glaubt man, dass der
„Verfluchte" dies verursacht hat, weil die Mutter versäumte, vor dem
Schlafengehen das Kind, seine Wiege und die vier Wände des Raumes
zu bekreuzigen. Es gilt für eine schwere Sünde, die mit hohen Kirchen-
strafen belegt wird. Früher wurden solche Frauen zur Nacht in die Kirche
gebracht und mussten so lange und so oft dort bleiben, bis ihnen das
tote Kind erschien und Vergebung brachte.
5. Taufe.
WTird das Kind abends oder nachts geboren, so wird es erst am
folgenden, anderenfalls noch am selben Tage getauft, und zwar auf den
Namen des betreffenden Heiligen. Die Babka übergibt das Kind der
Patin, die es zur Kirche bringt, und zwar in einem Hemde des A aters,
wenn die Kitern wünschen, dass das nächste Kind ein Knabe, in einer
Schürze der Mutter, wenn es ein Mädchen sein soll.1) Nach der Rück-
kehr aus der Kirche wird auf der Fensterbank ein Pelz ausgelegt;
der Pate nimmt den Täufling aus den Armen der Patin, legt ihn auf den
Pelz, hebt ihn von dort mit dem Pelz empor und bringt ihn dem Vater
mit den Worten: »Hier ist euer Neugeborenes, unser Täufling. Möge
1) Über den Zauber mit männlichen und weiblichen Kleidungsstücken vergleiche
mau auch das oben gelegentlich der Puppe zu Smolensk Gesagte.
Branch und Glauben der weissrussischen Landbevölkerung.
171
es wachsen uns zur Freude, euch zum Nutzen. So rein, wie es jetzt an
seinem Tauffeste ist, möge es auch am Hochzeitstage sein!" (russich:
unter clem Kranz wie unter dem Kreuz). Der Vater übergibt dann das
Kleine der Mutter. Darauf folgt ein Imbiss, man trinkt ein Gläschen
Branntwein. Das eigentliche Taufessen kommt erst am Abend, es wird
geschmaust, reichlich Schnaps getrunken, auch die Dorfjugend, die
draussen an der Tür lärmt1), wird mit Grütze bedacht, lustige Lieder
werden gesungen. Pate und Patin, die nun in ein verwandtschaftliches Ver-
hältnis treten, beschenken einander; sie erhält x/2 Kübel, er ein gesticktes
Handtuch. Die Babka sowie die Mutter bekommen gleichfalls ein kleines
Geldgeschenk vom Paten „für Seife". Pate und Patin trinken ab-
wechselnd dreimal aus demselben Glase und küssen sich dann. — Vor
den Paten geniesst die Babka der grössten Achtung; das Kind tritt zu ihr
in ein verwandtschaftliches Verhältnis, es wird ihr Enkel. Bei seiner
Hochzeit sitzt sie später am Ehrenplatz, an der Schmalseite des Tisches,
während Pate und Patin an der Breitseite unter den Heiligenbildern
sitzen. Sollte das Kindchen sterben, so sind Pate und Patin die Haupt-
personen und sitzen nebeneinander auf dem Ehrenplatz beim Totenmahl.
Ist der Pate ein Zauberer, so kann er dein Kinde schaden, wenn er sich
auf der Fahrt zur Kirche seiner Kraft erinnert; denkt er aber erst auf
der Rückfahrt daran, so hat er die Macht, dem Kinde zu schaden, ver-
loren. Doch gibt es jetzt schon weniger Zauberer als früher. —
Ich schliesse hiermit diese Mitteilungen ab. Der Versuchung, mich
auf die Anführung von Parallelen oder auf Deutungen in noch weiterem
Umfange, als bereits geschehen, einzulassen, die bei einzelnen Gelegen-
heiten, z. B. dem Schattenzauber, dem Baumzauber u. a., besonders gross
war, habe ich widerstehen zu sollen geglaubt, weil unsere Kenntnisse,
selbst aus dem eigenen Vater lande, noch allzu lückenhaft sind, und nur
o-rosse Vergleichsreihen geeignet sein können, das Verständnis dieser
Gebräuche und Anschauungen, in denen sich offenbar uralter Besitz,
vielleicht auch Neuentstandenes, mit kirchlichen und modernen Vorstellungen
o-emischt hat, zu erscliliessen. Möchte bald recht viel neues Material, nach
V. Charusinas Vorschlägen in gründlicher Weise gesammelt, dazu bei-
tragen, über die vielen dunklen oder schwer verständlichen Äusserungen
der Volksseele auf diesem gerade die lebenswichtigsten Vorgänge be-
rührenden Gebiete Licht zu verbreiten.
Berlin.
1) Siehe 0. Bartels, Zeitschr. f. Ethnol. 1903, S. 650.
172
Zachariae:
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
Yon Theodor Zachariae.
1. Die Aufgabe, Stricke aus Sand zu winden.
Unter den Rätseln und Aufgaben, deren Lösung König Pharao von
dem weisen Haikar (Achikar, Akyrios) verlangt, erscheint auch die
Forderung, Stricke aus Sand zu drehen. In der syrischen, arabischen
und slawischen Yersion1) der Haikargeschichte pariert Haikar diese
Forderung zunächst mit der Gegenforderung: 'Lass mir einen Strick aus
■deinen Magazinen bringen, dass ich dir einen gleichen drehe' (1001 Nacht,
übers, von Henning 22, 30). Mit dieser Erwiderung ist König Pharao
jedoch nicht zufrieden; und nun erfüllt Haikar des Königs Forderung in
einer überaus gekünstelten Weise: er bohrt Löcher in die Mauer des
königlichen Palastes, sammelt Sand vom Flussbett und tut ihn darein, 'so
dass, wenn die Sonne aufstieg und durch den Zylinder schien, der Sand
im Sonnenlicht wie Stricke aussah' (Henning a. a. 0.).
Wie längst bekannt, findet sich eine ganz gleiche Aufgabe auch in
der Geschichte von Mahausadha und Yisäkhä im tibetischen Kandschur
(Schiefner-Ralston, Tibetan Tales 1882 p. 137 f.). Die Forderung des
Königs Janaka, einen hundert Ellen langen Strick aus Sand zu schicken,
beantwortet Mahausadha mit der Gegenforderung einer Elle als Muster.
Diese Erwiderung empfiehlt sich, wie Cosquin ausgeführt hat, durch ihre
Einfachheit und Ursprünglichkeit; was in der Haikargeschichte noch folgt,
die künstliche Erzeugung eines Bildes von gedrehten Stricken, nimmt
sich wie ein Zusatz des gelehrten Yerfassers der Haikargeschichte aus.
^Immédiatement', schreibt Cosquin, 'reparaît le littérateur2), avec la trans-
formation qu'il essaie d'un jeu d'esprit, d'une riposte preste et dégagée
de tout pédantisme en une lourde machine à prétentions scientifiques'
(Revue biblique 8, 72; vgl. Paul Marc, Studien zur vergi. Literatur-
geschichte 2, 408. L. Ginzberg, Jewish Encyclopedia 1, 289 a). Indien,
so scheint es, ist die Heimat der Sandstrickaufgabe (um sie kurz so zu
bezeichnen) und ihrer einfachen Lösung. Denn die tibetische Geschichte
von dem klugen Mahausadha geht auf indische Quellen zurück. Welches
sind diese indischen Quellen? Lässt sich ihr Alter feststellen? Da ich
1) The Story of Ahikar from the Syriac, Arabic, Armenian, Ethiopie, Greek and
Slavonic versions, London 1898, p- 20. 78. 111. Mark Lidzbarski, Die neu-aramäischen
Handschriften der Kgl. Bibliothek zu Berlin 2 (1896), S. 33. In der syrischen Version
werden fünf, in der arabischen zwei Sandstricke gefordert. Über die Sandstrickaufgabe
in der armenischen Version vgl. The Story of Ahikar p. 50- p. Vetter in der Theo-
logischen Quartalschrift 86, 358.
2) Zu diesem 'littérateur' vgl. Cosquin, Revue biblique internationale 8 (1899), p. 70.
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
173
in den zahlreichen Arbeiten, die in den letzten Jahren über die Haikar-
geschichte erschienen sind, einen Hinweis auf diese Quellen vermisse, so
soll es der nächste Zweck dieser Zeilen sein, die indischen Werke, in
denen die Sandstrickaufgabe vorkommt, namhaft zu machen. Daran
mögen sich einige Bemerkungen über das sonstige Vorkommen der Auf-
gabe anschliessen.
Zunächst findet sich die Sandstrickaufgabe, zusammen mit einer
ganzen Reihe von ähnlichen Aufgaben, in dem umfangreichen Mahäum-
maggajätaka (Kr. 546 in dem von Y. Fausböll herausgegebenen Jätaka-
buche; Bd. 6, S. 329—478). Eine englische Übersetzung dieses Jätaka
lieferte T. B. Yatawara1), aber nicht nach dem Pali-Original, sondern
nach der singhalesischen Übersetzung des Jätakabuches, die ums Jahr
1300 n. Chr. in Ceylon angefertigt wurde. Das Mahäummaggajätaka,
wohl das wichtigste von alleu Jätalcas2), besteht aus einer Menge von
kürzeren oder längeren Geschichten und entspricht im ganzen und grossen
der Geschichte von Mahausadha und Visäkhä bei Schiefner - Ralston,
Tibetan Tales Nr. 8. Eine vollständige Inhaltsangabe des Jätaka kann
hier nicht gegeben werden. Ich analysiere nur den Anfang des Jätaka,
der allein von Interesse für uns ist.
In Mithilä regiert König Vede ha. Seine Berater sind die vier Pandits
(klugen Leute) Senaka, Pukkusa, Kävinda und Devinda. Einst sieht der
König einen wunderbaren Traum. Senaka deutet ihn dahin: es wird ein fünfter,
unvergleichlicher Pandit geboren werden, der die vier Pandits, Senaka usw., über-
treffen und in den Schatten stellen wird. — Dieser fünfte Pandit ist kein anderer
als der Bodhisatta (Buddha) selbst, der in dem Dorfe Yavamaj j haka8) östlich
von Mithilä, als Sohn des Kaufmanns Sirivaddhaka und seiner Gattin SumanädevT,
zur Welt kommt. Von dem wunderkräftigen Heilmittel, das ihm der Gott Sakka
(Indra) verleiht, erhält er den Namen4) Osadhakumära5) oder Mahosadha
(grosses Heilmittel). Erste Tat des jungen Mahosadha: unter seiner Anleitung
wird für ihn selbst und die mit ihm zugleich gebornen tausend Knaben eine Halle,
mit Teich und Garten, erbaut. Nach Ablauf von sieben Jahren gedenkt König
Vedeha seines Traumes und sendet vier Minister aus, um den Pandit, dessen
Geburt ihm prophezeit worden war, zu suchen. Der Minister, der die Stadt durch
das östliche Tor verlässt, entdeckt den Mahosadha, den berühmten Erbauer der
1) Ummagga Jätaka (the story of the tunnel), London 1898.
2) So urteilt J. J. Meyer in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Dasakumâra-
carita S. Jb.
3) Im Jätaka werden vier Dörfer (Vorstädte, Marktflecken) namens Yavamajjhaka
unterschieden: ein östliches, ein südliches, ein westliches und ein nördliches, btatt
Yavamajjhaka finden wir Yavakacchaka im Mahâvastu 2, 83, 17; Pürnakaccha in den
Tibetan Tales p. 132. Die Namensform Yavamajjhaka ist inschriftlich bezeugt: siehe
Oldenberg, Zs. der deutschen morgenl. Gesellschaft 52, 643.
4) Das Jätaka (6, 332, 1) spielt hier aui die alte Sitte an, einem Kinde den Namen
des Grossvaters beizulegen. Vgl. dazu W. Crooke, Popular Religion 1, 179. Vincent
A. Smith im Indian Antiquary 35, 125. 291. A. Dieterich Mutter Erde 1905 S. 24. Wilhelm
Schulze in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 40, 409ff.
5) Vgl. Buddhist Birth Stories transi, by T. \y. Rhys Davids p. 67.
174
Zachariae:
wunderbaren Halle. Es ist klar, dass Mahosadha der Gesuchte ist. Der König
fragt den Senaka, ob er den Mahosadha kommen lassen solle. Der eifersüchtige
Senaka erwidert, die Erbauung der Halle sei keine Leistung, die zur Führung des
Titels Pandit berechtige. So beschliesst denn der König, den Mahosadha durch
seinen Minister auf die Probe stellen zu lassen.
Es folgen nunmehr zunächst neunzehnx) einander mehr oder weniger ähnliche
Geschichten, 'in denen einmal nach dem anderen der weise Mann mit immer dem-
selben Scharfsinn einen unentscheidbaren Streit entscheidet, ein unlösbares Rätsel
löst oder irgend etwas Unmögliches möglich macht und so jedesmal von neuem
alles Volk in immer dasselbe höchste Erstaunen versetzt' (H. Oldenberg, Die
Literatur des alten Indien 1903 S. 129). Die einzelnen Geschichten (im Pàli:
pañha d. h. Frage) sind:
1. Ein Habicht hat ein Stück Fleisch gestohlen und fliegt damit auf und
davon. Die Spielkameraden des Mahosadha verfolgen den Vogel, um zu be-
wirken, dass er seine Beute fahren lässt. Dies gelingt ihnen nicht. Mahosadha
aber läuft, ohne in die Höhe zu sehen, schnell wie der Wind, tritt auf den
Schatten des Habichts, klatscht in die Hände und schreit laut. Der geängstete
Vogel lässt das Fleischstück fallen; Mahosadha fängt es in der Luft auf.
2. Wie Mahosadha einen Ochsendieb entdeckt. Diese Geschichte ist kurz
mitgeteilt worden in dieser Zeitschrift 16, 145.
3. Mahosadha überführt eine Frau, die einer anderen ein Halsband gestohlen
hat. Er stellt nämlich fest, dass der Schmuck nicht nach dem Parfüm riecht,
womit ihn die Diebin parfümiert zu haben vorgibt, sondern nach dem, den die
rechtmässige Eigentümerin immer zu gebrauchen behauptet.
4. In ähnlicher Weise entdeckt Mahosadha die Diebin eines Baumwollen-
knäuels. Übersetzung der Geschichte, nach dem singhalesischen Text, bei
W. Geiger, Literatur und Sprache der Singhalesen S. 7 (Grundriss der indo-
arischen Philologie 1, .10).
5.- Das salomonische Urteil. Oft mitgeteilt; z. B. von Rhys Davids,
Buddhist Birth Stories p. XIV (nach dem singhalesischen Text) und von H. Olden-
berg, Literatur des alten Indien S. 114 (nach dem Pälitext).
6. Mahosadha entscheidet den Streit zwischen Golakäla und Dïghapitthi, der
ersterem dessen Frau, namens Dlghatälä, entführt hat. Vgl. oben IG, 145, wo
bereits auf die ähnliche Geschichte bei Schiefner-Ralston, Tibetan Tales p. 134—136
verwiesen worden ist.
7. Mahosadha entscheidet den Streit zwischen dem Eigentümer eines Wagens
und dem Götterkönig, Sakka, um den Besitz dieses Wagens. Siehe oben 16, 139,
Anm. 3.
8. Mahosadha zeigt, welches von den beiden Enden eines Stabes die Spitze
und welches die Wurzel ist. Eine sehr verbreitete, in verschiedener Weise gelöste
Rätsel aufgäbe. Benfey, Kl. Sehr. 3, 165 f. 171. 174f. 199f. Schiefner-Ralston,
Tibetan Tales p. 120, 165. Pullè, Un progenitore Indiano del Bertoldo 1888
p. 7. 21. Polívka im Archiv für slavische Philologie 27, 617. 626. The Jewish
Encyclopedia 1, 290a.
9. Mahosadha entscheidet, w*elcher von zwei Köpfen, die der König zu den
Bewohnern des östlichen Yavamajjhaka sendet, einem Manne, und welcher einem
1) Die auf die ersten 19 Geschichten folgenden weiteren Geschichten können hier
nicht berücksichtigt werden- Ich bemerke noch, dass die zu den einzelnen Geschichten
von mir angeführten Nachweise durchaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
175
Weibe angehört. 'Die Nähte1) an dem Kopfe eines Mannes sind gerade, die an
dem Kopfe eines Weibes sind krumm'. — Entfernt ähnlich eines der Rätsel der
Königin von Saba. Sie bringt männliche und weibliche Wesen herbei, alle von
gleichem Aussehen, gleicher Grösse und gleicher Kleidung, und spricht zu Salomo:
'Sondre mir die männlichen von den weiblichen!' W. Hertz, Zs. f. deutsches
Altertum 27, 1—33 = Gesammelte Abhandlungen 1905 S. 413—455.
10. Mahosadha entscheidet, welche von zwei Schlangen das Männchen und
welche das Weibchen ist. Das Männchen hat einen dicken Schwanz, das Weibchen
einen dünnen; bei jenem ist der Kopf dick, bei diesem lang; jenes hat grosse,
dieses kleine Augen usw. Vgl. Benfey, Kl. Sehr. 3, 174; Schiefner-Ralston, Tib.
Tales p. 165 (in der Auflösung abweichend).
11. Der König fordert einen Stier, der ganz weiss ist, Hörner an den Füssen
und einen Höcker auf dem Kopfe hat usw. Mahosadha erklärt, dass ein weisser
Hahn gemeint sei.2)
12. Wie aus Jätaka 5, 310, 17 bekannt ist, hatte Sakka einst dem König
Kusa einen wunderbaren Edelstein geschenkt (vgl. Köhler, Kl. Schriften 1,
523). Der Faden, woran dieser Edelstein hängt, ist alt und schlecht geworden;
niemand aber vermag, den alten Faden herauszuziehen und durch einen neuen zu
ersetzen. Mahosadha bringt es zustande: er beschmiert das Loch in dem Stein,
wo der Faden hindurchgezogen ist, an beiden Seiten mit Honig, dreht einen Woll-
faden beschmiert ihn an dem einen Ende gleichfalls mit Honig und schiebt ihn
ein Stück in die Öffnung des Steines hinein. Den Stein legt er in einen Ameisen-
haufen. Die Ameisen, von dem Duft des Honigs angezogen, verzehren den
Honig mitsamt dem alten Faden und ziehen zugleich den neuen Faden durch die
Öffnung hindurch.
13. Der König sendet einen dicken, scheinbar trächtigen Stier; der soll ent-
bunden und mit seinem Kalbe zum König gebracht werden. Mahosadha pariert
diese Forderung mit einer ähnlichen Gegenforderung5); ein Mann muss weinend
und klagend vor den König treten und sagen: 'Mein Yater hat schon seit sieben
Tagen die Wehen und kann nicht niederkommen, gib mir ein Mittel an, das ihm
zui"3 Entbindung verhilft!' — Siehe Schiefner-Ralston, Tibetan Tales p. 140f. Fast
noch näher steht Radioff, Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme Süd-
sibiriens 1, 198—200 (Järän Tschätschän schickt dem Vater des klugen Mädchens
einen fetten Ochsen zu. Von diesem Ochsen soll der Greis ein Kalb gebären
lassen).
14. Es soll Reis unter acht Bedingungen gekocht und zum König gebracht
werden; gekocht z.B. ohne Wasser und Feuer, gebracht weder von einer B>au
noch von einem Manne, und nicht auf einem Wege. — Aufgabe und Lösung
stimmen ziemlich genau zu Schiefner-Ralston, Tib. Tales p. 138, vgl- S. XL Vi
1) Vgl. Julius Jolly, [Indische] Medicin, Strassburg 1901, S. 44.
2) Der Titel oder das Stichwort dieser 'Frage' lautet 'Hahn'. Man beachte, dass in
den später zu erwähnenden Jaina-Texten unter diesem Stichwort eins durchaus ab-
weichende Geschichte erzählt wird: Pullè, Un progenitore p. 4 19-20. stucli italiani di
filologia indo-iranica 2 (1898), p. 4.
3) So auch sonst; z. B. in der Sandstrickaufgabe (Nr. 15). Dies ist der so häufige
'trick of proving the impossibility of a thing by sb0wing the impossibility of another
thing'; Journal of the Anthropol. Soc. of Bombay G, 141. Benfey, Kl. Sehr. 3, 209.
Köhler, Kl. Sehr. 1, 458. 533. Chauvin, Bibliographie arabe 6 39. 201 (Réduction à l'absurde).
Boite in seiner Ausgabe von Jakob Freys Gartengesellschaft 1896, S. 279. Siehe auch
Uhland, Schriften 3, 213. Lüders, Zs. der deutschen morgenl. Gesellschaft 58, 703.
176
Zachariae:
und namentlich Köhler, Kl. Sehr. 1, 445—456 (wo die tibetische Geschichte an-
geführt ist). 3, 514. In der jinistischen Überlieferung zerfällt die buddhistische
Geschichte in zwei Geschichten: 1. es soll Milchreis ohne Feuer gekocht werden;
2. der junge Rohaka, von dem noch die Rede sein wird, soll unter verschiedenen
Bedingungen zum König kommen, z. B. nicht durch die Luft und nicht zu Fuss1),
nicht auf einem Wege und nicht ausserhalb eines Weges. Siehe Pullè, Un pro-
genitore Indiano del Bertoldo p. XXIX. 6. 21.
15. Die Sandstrickaufgabe. Der König wünscht sich auf seiner Schaukel
zu schwingen; der Sandstrick aber, an dem die Schaukel hängt, ist zerrissen. Da
lässt der König den Bewohnern des östlichen Yavamajjhaka sagen: sie sollten ihm
einen neuen Sandstrick senden, sonst müssten sie 1000 Gulden Strafe zahlen.
Mahosadha beruhigt die besorgten Dorfbewohner, lässt ein paar redegewandte
Männer kommen und heisst sie zum König also sprechen: '0 König, die Dorf-
bewohner kennen das Mass des Strickes nicht, sie wissen nicht, ob er dick oder
dünn ist. Sie bitten daher um ein Stück des alten Sandstrickes, eine Spanne
oder vier Daumenbreiten lang; danach werden sie dann einen neuen Strick drehen'. —
Tibetisch: Schiefner-Ralston p. 137f. Über eine jinistische Parallele spreche ich
weiter unten.
16. Der König verlangt von den Dorfbewohnern, dass sie ihm einen neuen,
mit fünf Lotusarten bedeckten Teich bringen. Ähnlich wie in Nr. 15 schickt
Mahosadha einige redegewandte Leute mit triefenden Haaren und Kleidern, mit
Schlamm bedeckt, Stricke, Stöcke und Erdklösse in den Händen tragend. Diese
Leute müssen dem König sagen: 'Wir hatten einen für dich passenden Teich
aus dem Walde geholt; als der aber die Stadt sah mit ihren Mauern, Gräben und
Türmen, wurde er von Furcht erfasst, zerriss die Stricke und floh wieder in den
Wald zurück. Wir haben ihn mit Erdklössen und Stöcken bearbeitet, vermochten
aber nicht, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Gib uns doch den alten Teich mit,
den du aus dem Walde geholt hast! Wir wollen beide zusammenbinden und
dann hierher bringen!' — Zu dieser und der folgenden Aufgabe vgl. Schiefner-
Ralston, p. 139f., sowie Pulle, Progenitore p. 6. 20, wo es sich zuerst um das Herbei-
schaffen eines Brunnens2) mit klarem und süssen Wasser handelt.
1) Diese Forderung findet sich auch in der rumänischen Version (und nur in dieser,
soweit ich sehe) der Haikargeschichte. Als König- Pharao von der Hinrichtung des weisen
Arkirie hört, da sendet er einen Boten zu König Sanagriptu: er solle ihm einige Arbeiter
senden, denn er wünsche ein Schloss zu erbauen, das weder im Himmel noch auf der
Erde ist; und diese Arbeiter sollen weder zu Fuss noch reitend, weder an-
gekleidet noch nackt zu ihm kommen. (Journal of the Royal Asiatic Society 1900,,
307 f.)
2) Man wird an das erinnern dürfen, was die Weisen Athens (oder des Athenaeums
in Rom) zu dem Rabbi Josua Ben Chananja, einem Zeitgenossen Hadrians, sagen: 'Wir
haben auf der Wiese einen Brunnen; bringe ihn uns herein!' Da holte er Kleie und
warf sie vor ihnen mit den Worten hin: 'Drehet mir Stricke aus Kleie, so will ich
inn euch hereinbringen'. Darauf sie: 'Wer kann Stricke aus Kleie drehen?' Darauf er:
'Wer kann einen Brunnen, der auf der Wiese ist, hereinbringen?' (Der babylonische
Talmud in seinen haggadischen Bestandteilen übers, von A. Wünsche 2, 4, 65. Leipzig
1S89.) Zu der Aufgabe, die die Weisen stellen, bemerkt Wünsche jn seiner Rätselweisheit
bei den Hebräern, Leipzig 1883, S. 37 : '¡Sie wollten damit andeuten, ob Israel seinen
alten Glanz jemals wieder herstellen könne'. Vgl- s°nst Singer in dieser Zeitschrift 2,.
296. Meissner in der Zs. der deutschen morgen!- Gesellschaft 48, 195. L. Ginz-
berg, The Jewish Encyclopedia 1, 289a. P. Vetter, Theologische Quartalschrift 87.
365 ff.
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
177
17. Eine Variante von Nr. 16. Der König verlangt einen neuen, mit schön
blühenden Bäumen besetzten Garten. (Im Dhammaddhaja-Jätaka Nr. 220 muss
der Bodhisatta auf das Geheiss des Königs Yasapäni erst einen Garten, dann einen
Teich, ein Haus usw. hervorzaubern.)
18. Eine längere Geschichte, die hier nicht ausführlich wiedergegeben werden
kann. Mahosadha zeigt, dass unter Umständen der Sohn mehr wert ist als der
Vater. — Nahe steht Schiefner-Ralston, Tibetan Tales p. 141—144.
19. In einem Krähennest auf einem Palmbaum am Ufer eines Teiches be-
findet sich ein kostbarer Edelstein. Der Widerschein dieses Edelsteins auf dem
Teiche erweckt den Glauben, dass der Edelstein im Teiche liegt. Senaka soll
den Stein zur Stelle schaffen. Er stellt Leute an, die das Wasser des Teiches
ablassen und den Grund aufgraben müssen; aber der Stein will sich nicht finden.
Mahosadha, vom König befragt, zeigt zunächst, dass der Stein ebensogut in einem
Wassertopf wie in dem Teiche erscheint und dass sichs also nur um einen Wider-
schein handelt; dann gibt er an, wo der Stein zu finden ist. — Vgl. Schiefner-
Ualston, Tibetan Tales p. 165 gegen Ende.
Die Frage nach dem Alter der vorstehenden Erzählungen lässt sich
nicht trennen von der Frage nach dem Alter der Jätaka-Erzählungen
überhaupt, einer Frage, die hier kaum angeschnitten, geschweige denn
erledigt werden kann. Die Jätakas bestehen aus Versen (gäthäs) und
Prosa. Jene, die Verse1), hatten von alters her einen festen Wortlaut;
sie bilden ohne Zweifel den ältesten Bestand des Jätakabuches. Die
Prosaerzählung dagegen stand nicht nach ihrem Wortlaut, sondern höchstens
nach ihrem Inhalt fest; die Ausführung im einzelnen war dem freien Er-
messen des Erzählers überlassen. Überliefert ist die Prosa nur durch
einen aus späterer Zeit stammenden Kommentar (Atthakathä). So etwa
nach Oldenberg, Literatur des alten Indien l.)U3 S. 125, wo noch hinzu-
gefügt wird: Demnach kommt der Überlieferung der Prosa in der Tat
nicht dieselbe volle Authentizität zu wie derjenigen der Verse. In
wenigen, vielleicht in vielen Details ist gewiss für die Überlieferer der
echte Inhalt der Prosapartien verwischt gewesen oder haben sie sich ihrer-
seits unberechenbare Freiheiten genommen. Im ganzen ergeben doch die
Prüfungen, die wir hier anstellen können, ein für die Überlieferung
durchaus günstiges Resultat.2)
Es treten nun für das verhältnismässig hohe Alter der obigen
19 Geschichten auf indischem Boden, sowie überhaupt für das Alter
des Mahäummaggajätaka, das diese Geschichten enthält, folgende zwei
Umstände ein.
1) Von den oben analysierten Erzählungen enthalten die dritte und die achtzehnte
je einen Vers.
2) Ebenso spricht Oldenberg auf S. 103 die Überzeu^un«- aus, dass die literatur-
geschichtliche Betrachtung das Recht babe, sich auch auf die Prosabestandteile der
Jatakas zu stützen. Vgl. sonst die von Oldenberg S 291 zitierte Literatur und jetzt
namentlich noch den wichtigen Aufsatz von H. Lüd^rs üher die Jätakas un i di(* Epik in
der Zs. der deutschen morgenländischen Oesellschaft 58 687 714 und die Mitteilung von
J. Hertel ebendaselbst 60, 399—401 und in der vorliegenden Zeitschrift 16, 262f.
Zeitschr. d. Vereins f.Volkskunde. 1907. io
178
Zachariae:
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die 19 Geschichten durch drei
Halb verse1) eingeleitet werden, in denen die Titel oder die Stichwörter
der einzelnen Geschichten aufgezählt sind. Die erste Geschichte führt
den Titel 'Fleisch', die zweite den Titel 'Ochse' usf.; die fünfzehnte, die
Geschichte von den Sandstricken, den Titel 'Sand1. Diese Memorial-
verse — wie man sie mit Recht benannt hat — sind ohne Zweifel alt.
Es finden sich solche Memorialverse auch in anderen Literaturen oder
Literaturgattungen1®); so z. B. in der Chronik von Ceylon, dem Dlpa-
vamsa ('Inselchronik'). Ob nun freilich die einzelnen, zu den Titeln
'Fleisch1 usw. gehörenden, im Kommentar erzählten Geschichten in
alter Zeit ebenso erzählt worden sind, wie sie später schriftlich fixiert
wurden, muss nach dem oben Bemerkten dahingestellt bleiben. Ich für
mein Teil bin jedoch geneigt, die meisten Geschichten hinsichtlich ihres
Inhalts für alt zu erklären, in erster Linie die fünfzehnte, die die Sand-
strickaufgabe enthält. In dem einen oder anderen Falle mag ja an die
Stelle der altüberlieferten Geschichte eine neue getreten sein.
Weiter haben wir für die frühe Existenz des Mahäummaggajätaka, in
das die 19 Geschichten hineinverwebt sind, das beste Zeugnis, das man
sich wünschen kann: ein inschriftliches. Unter den Skulpturen des
berühmten Stüpa von Bharhut (Barähat), die aus der Zeit um 200
vor Chr. stammen, findet sich die Darstellung der folgenden Szene. In
der Mitte sitzt ein Mann in königlichen Gewändern; zu seiner Linken
steht eine Frau, die auf drei offene Körbe hinzeigt, aus denen sich
Köpfe erheben; zwei Männer zu seiner Rechten tragen einen vierten, noch
geschlossenen Korb; einige Gestalten um den König herum stellen sein
Gefolge dar.3) Der russische Orientalist Minayeif hat zu einer Zeit, wo
das Mahäummaggajätaka nocht nicht im Druck veröffentlicht war, in
glänzender Weise erkannt und nachgewiesen, dass die auf dem Stüpa dar-
gestellte Szene in den engsten Beziehungen zu einer Geschichte in jenem
Jätaka steht.4) Diese Geschichte lautet in einem kurzen Auszuge wie
folgt (Jätaka 6, 368, 14-370, 24):
Nachdem erzählt worden ist, wie Mahosadha seine Frau, die kluge Ama-
rad e vi, gewinnt5), heisst es weiter: Senaka merkt, dass es ihm und seinen drei
1) Auf eine Kritik dieser Verse (die vielleicht das Ergebnis haben würde, dass es
ursprünglich nur 18 Geschichten waren) kann ich mich hier nicht einlassen.
2) W. Geiger, Dlpavamsa und Mahävamsa und die geschichtliche Überlieferung in
Ceylon, Leipzig 1905, S. 8. R. Pischel in den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1891, 356.
3) A. Cunningham, The Stüpa of Bharhut: a Buddhist monument ornamented with
numerous sculptures illustrative of Buddhist legend and history in the third century B. C.
(London 1879.) Plate XXV, fig. 3.
4) Minayeff, Recherches sur le Bouddhisme, Paris 1894, p. 148—151 (Annales du
musée Guimet; Bibliothèque d'études, Tome 4).
5) Jätaka 6, 363, 25—308, 14. Eine Übersetzung dieser in Dandins Dajsakumä-
racarita wiederkehrenden Geschichte hat J. J. Meyer in der Einleitung zu seiner Über-
setzung des Dasakumäracarita S. 96—1Q3 geliefert. Es gibt eine Anzahl von näher oder
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
179
Genossen (Pukkusa, Kävinda, Devinda) nicht so leicht gelingen wird, des Maho-
sadha Herr zu werden; hat doch Mahosadha eine Frau genommen, die noch
klüger ist als er selbst. Senaka schlägt daher seinen Genossen vor, ihren gemein-
samen Gegner bei König Vedeha zu verleumden. Zu diesem Zwecke stehlen
sie vier Schmuckgegenstände des Königs und befördern sie auf geschickte Weise
in Mahosadhas Haus; doch errät Amarâdevï, in deren Hände die Schmucksachen
zunächst gelangen, sehr wohl die Absicht der vier Hofleute. Eines Tages fragen
die Hofleute den König, warum er die Schmucksachen nicht trage. Es ergibt
sich, dass die Gegenstände nirgends zu finden sind. Da bezeichnen die Hofleute
den Mahosadha als den Dieb. Mahosadha, davon in Kenntnis gesetzt, ersucht den
König um eine Audienz, um sich vor ihm zu rechtfertigen. Der König verweigert
die Audienz und befiehlt, den Mahosadha gefangen zu nehmen. Mahosadha wird
gewarnt und ergreift die Flucht. Er verlässt in Verkleidung die Stadt, begibt sich
nach dem südlichen Yavamajjhaka und betreibt dort das Töpferhandwerk im
Hause eines Töpfers. Schnell verbreitet sich das Gerücht, dass Mahosadha ge-
flohen ist; und nun beschliessen die vier Hofleute, die Abwesenheit ihres Gegners
zu benutzen und seiner Gattin die Tugend zu rauben. Ohne einander davon
wissen zu lassen, schicken sie der Amarädevi Geschenke. Diese nimmt die
Geschenke an und bestellt einen jeden auf eine bestimmte Zeit. Als die Hofleute
ankommen, schert sie ihnen das Haupt kahl, wirft sie in eine Senkgrube1), quält
sie auf alle mögliche Weise und steckt sie in Körbe, die aus Matten zusammen-
gefügt sind. Dann lässt sie die Hofleute und die Schmucksachen in den Palast
des Königs schaffen. Vor dem König weist sie nach, dass die Sachen nicht von
Mahosadha, sondern von Senaka und seinen Genossen gestohlen worden sind.
Der König befiehlt den Hofleuten, ein Bad zu nehmen und nach Haus zu
gehen. — Als der König später die Hofleute zu sich entbietet, weigern sich diese
zunächst zu erscheinen: sie seien kahl geschoren und schämten sich deshalb über
die Strasse zu gehen. Da sendet ihnen der König vier Kappen2) zu, die sie auf
den Kopf setzen sollen. Damals, so wird im Jätaka hinzugefügt, sind diese
Kappen entstanden (in die Mode gekommen).
Die in die vorstehende Jätaka-Erzählung hineinverwebte Erzählung
von der Amarâdevï und den vier ihr nachstellenden Hofleuten ist, bei-
läufig, eine berühmte, im Orient wie im Okzident gleich weit verbreitete
ferner stehenden Parallelen zu der Jataka-Geschichte. Da Meyer nicht eine einzige
nennt, so will ich (nach Oldenburg, Journ. R. Asiatic Society 1893, 338) die folgenden
anführen: Schiefner-Raiston, Tibetan Tales p. 155—162; die als Jätaka bezeichnete Ge-
schichte von der Amará, der Tochter eines Schmiedes, im Mahävastu 2, 83—89: das
Sücijätaka (d.h. Nadel-Jataka) Nr. 387; 'The story of the Nobleman who became a
Needlemaker' bei S. Beai, Romantic Legend of Säkya Buddha from the Chinese-Sanscrit
1875 p. 93—% (dazu Schiefner-Ralston p. 360) Un(i Divyävadäna 521 f. Die Kunstfertig-
keit, die der Bodhisatta als Nadlei in den vier zuletzt genannten Geschichten ent-
wickelt, erinnert an die Kunstfertigkeit der Nähnadelfabrikanten von Birmingham in einer
von Masius, Deutsches Lesebuch11 1, 11' ^^^ßteilten Geschichte.
1) Auch die Dienerinnen der Devasmitä werfen die vier Kaufleute, die ihrer Herrin
nachstellen, in eine mit Unrat gefüllte Grube: Kathäsaritsägara 13, 148 (Tawneys Über-
setzung 1, 90).
2) In der Geschichte von der Devasmitä legen die vier Kaufleute Binden um ihre
Köpfe, um die Hundefüsse zu verdecken, womit sie o-ebrandmarkt worden sind (Köhler,
Kl. Sehr. 2, 462).
12*
180
Zachariae:
Erzählung.1) Im Jätaka erscheint sie freilich 'sous la forme d'un rapide
sommaire', um Minayeffs2) Ausdruck zu gebrauchen; anderswo wird sie
viel besser erzählt. Aber daran kann kein Zweifel bestehen, dass der
Künstler, dem das oben beschriebene Relief verdankt wird, mit dem
Jätaka bekannt war. Dies ergibt sich zum Überfluss auch noch aus der
Überschrift, die er über das Relief gesetzt hat. Diese lautet: Yavamajha-
kiyam Jätakam. Das ist nun allerdings nicht der offizielle Titel des
Jätaka in der grossen kanonischen Sammlung der Jätaka-Erzählungen.
Aber derartige Diskrepanzen kommen auch sonst vor.3) Wenn der
Künstler die Bezeichnung 'Jätaka von Yavamajjhaka' statt 'Mahäummagga-
jätaka' gebraucht, so benennt er das Jätaka nach dem östlich von
Mithilä belegenen Dorfe Yavamajjhaka, aus dem, wie wir oben gesehen
haben, Mahosadha stammte; oder etwa nach dem Dorfe Yavamajjhaka
nördlich von Mithilä, aus dem Amarâdevï, die Heldin der auf dem
Stüpa dargestellten Szene, gebürtig war (Jätaka 6, 364, 8).
Alles in allem wird man sagen dürfen: Geschichten, wie die, in denen
Mahosadhas Scharfsinn auf die Probe gestellt wird, oder Geschichten, wie
die von der klugen und tugendhaften Amarädevi, kursierten in Indien
bereits in den vorchristlichen Jahrhunderten.4) Ist die Sandstrickaufgabe
nicht in Indien erfunden, sondern von Westen her nach Indien einge-
führt worden, so muss dies in ziemlich früher Zeit geschehen sein.
Nun aber treffen wir die Sandstrickaufgabe, zusammen mit einer
ganzen Reihe von ähnlichen Aufgaben, nicht nur in der buddhistischen
Literatur (im Jätakabuche und im tibetischen Kandschur), sondern auch
in der jinistischen Literatur, in der Literatur der Jainas. Und zwar
liegen die Yerhältnisse hier ähnlich wie in der buddhistischen Literatur:
ein bemerkenswerter Umstand, der nur geeignet sein dürfte, das Urteil,
das wir bisher über das Alter der Sandstrickaufgabe gewonnen haben, zu
bekräftigen.
Was ich über das Vorkommen der Sandstrickaufgabe in der jinistischen
Literatur zu sagen habe, findet man fast ohne Ausnahme in Fr. L. Pullès
1) Indische und andere Parallelen z. B. bei Cunningham, Stupa of Bharhut p. 53—58.
J. J. Meyer in seiner Übersetzung des Dasäkumäracarita S. 103. W. A. Clouston, The
book of Sindibäd 1884 p. 244—247. 311—322. R. Köhler, Kl. Sehr. 2, 444—464. Amalfi
in dieser Zeitschrift 5, 71—76. Lidzbarski, Neuaramäische Handschriften 2, 188—195.
Siehe auch Weinhold, Altnordisches Leben S. 256.
2) Recherches sur le Bouddhisme p. 150. Vgl. p. 151, wo Minayefí bemerkt: Il se
peut que dans la rédaction que lisait ou entendait l'artiste, l'épisode de cette galanterie
manquée ait eu dans le cycle entier des récits une importance plus considérable que celle
que lui attribue le canon pâli.
3) Vgl. z. B. The Jätaka together with its commentary vol. 7, p. XV. Oldenberg,
Zs. der deutschen morgenl. Gesellschaft 52, 643.
4) As these tales have been represented at an early period under the form of reliefs,
tbey must have been widely circulated and well known (Dines Andersen im siebenten
Bande der grossen Jätaka-Ausgabe, London 1897, S. XV).
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
181
Schrift: Un progenitore Indiano del Bertoldo, Yenezia 1888. Ich kann
mich daher kurz fassen. In der genannten Schrift hat Pullè eine Anzahl
von Geschichten aus einem jinistischen Werke, dem Antarakathäsamgraha
des Räjasekhara (etwa 14. Jahrh. n. Chr.) in Text und Übersetzung ver-
öffentlicht.1) In der ersten Reihe dieser Geschichten (Pullès Übersetzung
S. 17—22) fungiert als kluger Rätsellöser Rohaka, ein Sohn des Schau-
spielers Bharata2), der in einem Schauspielerdorfe3) nahe bei der alt-
berühmten Stadt Ujjayinï wohnt. Dann folgen noch weitere sieben
Geschichten verwandten Inhalts. Wegen der einzelnen Geschichten ver-
weise ich auf Pullès Übersetzung. Hier sei nur die Geschichte aus-
gehoben, die die Sandstrickaufgabe enthält (Pullè S. 20), damit man sehe,
wie nahe die jinistische LTberlieferung der buddhistischen steht.
Nach Ablauf einiger Tage schickte der König abermals (an die Bewohner des
Dorfes) einen Befehl (folgenden Inhalts): 'In der Nähe eures Dorfes gibt es
allenthalben überaus schönen Sand; macht mir daher ein paar Stricke aus starkem
Sand und sendet sie mir!' Auf diesen Befehl hin versammelte sich alles Volk
ebenso (wie in den vorhergehenden Fällen) und fragte den Rohaka um Rat.
Dieser gab folgende Rückantwort: 'Wir sind Schauspieler, wir verstehen uns
wohl auf Tanz u. dgl., aber nicht auf das Drehen von Stricken. Dennoch muss
der Befehl des Königs unbedingt ausgeführt werden. Nun der Palast des Königs
ist gross; da werden sich doch wohl ein paar aus alter Zeit stammende Sand-
stricke vorfinden. Schicke einen von diesen als Ebenbild (Muster), damit auch
wir danach Sandstricke machen!' Dies wurde von Männern, die man beauftragte,
dem König gemeldet. Und der König, der darauf nicht antworten kann, verhält
sich schweigend.
Die von Pullè veröffentlichten Geschichten sind aber nicht die eigene
Erfindung des Räjasekhara, eines sehr späten Autors. Nicht nur, dass die
meisten dieser Geschichten in anderen, älteren Literaturwerken ihre Ent-
sprechung haben4): Räjasekhara selbst sagt uns, er habe sie dem Kommentar
des Malayagiri zur Nandï entlehnt (Pullè p. XYI—XIX). Die Geschichten
finden sich ausserdem, wie ich nach einer Mitteilung Leumanns hinzu-
fügen kann, in den Kommentaren zum Ävasyaka.5) "Wenn nun auch die
1) Den Text findet man auch in den Studi italiani di filologia Indo-iranica 2
(Firenze 1898), 1—18.
2) Über diesen Namen vgl. Leumann, Zs. der deutschen morgenländischen Gesell-
schaft 48, 65—83.
3) Vgl. dazu Bühler, Epigvaphia Indica 1, 38}.
4) Vgl. oben meine Analyse der 19 Geschichten aus dem Mahäummaggajätaka. —
Zu der ersten Geschichte bei Räjasekhara (Pullè S. 17) hat Pullè bereits auf Kathäsarit-
sagara 14, 37-56 (Tawney 1, 96) verwiesen; vgl. noch Sukasaptati, textus ornatior 50
(Spiegelungsmotiv: F. v. d. Leyen, Archiv für neuere Sprachen 115, 2832). Auch zu
der Geschichte von dem Widder, der so gefüttert werden soll, dass sein Gewicht weder
zu- noch abnimmt (Pullè S. 19) hat Pullè S. XXV Parallelen nachgewiesen. Ich bemerke
dazu, dass es auch im Mahäummaggajätaka (Jätaka 6, 349-355) eine 'Widder-Frage'
gibt. Diese ist aber von der jinistischen Erzählung bei Räjasekhara ganz verschieden.
5) Genauer: im neunten Kapitel der Avasyakaniryukti, d.h. des ältesten, vielleicht
nochjder vorchristlichen Zeit angehörenden Kommentares zum Ävasyaka. — Die Nandï und
das Ävasyaka gehören zu den heiligen Schriften (Siddhänta) der Jainasekte.
182
Zachariae.
Aufzeichnung der Geschichten in den genannten Kommentaren nach-
weislich einer späteren Zeit angehört, so muss doch sicherlich eine dieser
Zeit voranliegende Periode der mündlichen Überlieferung angenommen
werden: Geschichten, wie die erwähnten, und viele andere dienten einst
zur Erläuterung der jinistischen Lehrsätze, zur Belebung des Unterrichts.
Beweisend aber für das hohe Alter der Geschichten ist die Tatsache, dass
bereits jenen alten Texten, der Nandi und dem Ävasyaka, Memorial-
verse (Gäthäs) eingefügt sind, in denen die Titel oder Stichwörter der
einzelnen Geschichten aufgezählt werden. Wir haben also hier, worauf
ich bereits hinwies, ähnliche Verhältnisse wie in der buddhistischen Literatur.
Der Memorialvers, der für uns hier in Betracht kommt, ist bereits von
Pullè S. 33 mitgeteilt worden.1) Ich habe daher nur noch ausdrücklich
zu bemerken, dass das Stichwort 'valua' d. h. Sand in dem Yerse ent-
halten ist.
So viel über die indischen Werke, in denen die Sandstrickaufgabe
erwähnt wird. Aber die Sandstricke spielen auch sonst in allerhand
Geschichten eine Rolle. Im Anschluss an Cosquin, Revue Biblique 8, 71
will ich zunächst die Fälle nennen, wo die Forderung, etwas Unmögliches
zu leisten, z. B. aus einem Stein ein Kleid zu nähen, mit der Gegen-
forderung, Stricke (oder Fäden) aus Sand zu drehen, beantwortet wird.
Nach dem Vorgang anderer macht Cosquin aufmerksam auf die jüdische
Geschichte von dem zerbrochenen Mörser, den ein Athener zu einem
Schneider bringt, damit er ihn zusammennähe.2) Der hebt eine Hand
voll Sand auf und spricht: 'Drehe mir daraus Fäden, so will ich ihn zu-
sammennähen' (A. Wünsche, die Rätselweisheit bei den Hebräern 1883
S. 38 Anm.). In diesem Zusammenhang sei auch nochmals auf die Stricke
aus Kleie hingewiesen, die der Rabbi Josua Ben Chananja verlangt, als
man ihm zumutet, einen Brunnen von der Wiese hereinzubringen
(Wünsche S. 37). Ferner verweist Cosquin auf die Erzählung aus Süd-
1) Vgl. sonst A. Webers Verzeichnis der Berliner Sanskrit- und Prükrt-Hand-
schriften 2, 676.
2) Mit dieser Aufgabe vergleicht sich die letzte Aufgabe, die dem weisen Haikar
gestellt wird. Haikar soll einen zerbrochenen Mühlstein zusammennähen. Da verlangt er,
dass die Schubflicker aus einem anderen Stein, den er liegen sieht, Schusterahle, Nadeln
und Schere beschaffen (1001 Nacht, übers, von Henning, 22, 30f.). Aufgabe und Lösung
kehren im Talmud wieder (Wünsche, Rätselweisheit S. 38). Cosquin erinnert auch an die
Geschichte vom Sandelholzhändler und dem blinden alten Mann im persischen Sindbad-
buche, wo die Forderung, aus einem Stück Marmor ein Paar Hosen und ein Hemd zu
verfertigen, mit der Gegenforderung, aus Eisen den Nähfaden zu weben, beantwortet wird
(W. A. Clouston, The book of Sindibäd 1884 p. 101. 103. Die von Cosquin zitierte Quelle:
Clouston, Popular Tales and Fictions 2, 106 ist mir nicht zugänglich). Nach dem
Vorgang von Chauvin, Bibliographie arabe 8, 61 verweise ich noch auf Henri
A. Junod, Les chants et les contes des Baronga àe la Baie de Delagoa p. 295f., wo
zum Zusammennähen eines zerbrochenen Steines Nadeln und ein Faden aus Erde verlangt
werden.
Zur Geschichte vofn weisen Haikar.
183
Sibirien bei Radioff, Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme Süd-
sibiriens 1, 197—204 ('Die beiden Fürsten'). Die Aufgabe1) lautet liier:
Ein alter Mann, der Vater eines klugen Mädchens, soll in drei Tagen aus
drei Steinen Stiefel verfertigen. So hat der Fürst Järän Tschätschän befohlen.
Am dritten Tage kommt Järän Tschätschän, mit seinen Räten und Grossen kommt
er. Auf dem Wege, auf dem er kommen wollte, wartete sie (das kluge Mädchen).
Als sie den Järän Tschätschän kommen sah, scharrte das Mädchen Sand zu-
sammen und goss ihn in einen Sack. Järän Tschätschän kam, nachdem er das
Mädchen Sand sammeln gesehen, sprach er: 'Was machst du da, mein Kind?'
Das Mädchen sprach: 'Ich sammle Sand'. 'Was willst du mit Sand machen?'
Das Mädchen sprach: 'Zwirn will ich machen.' 'Wer hat denn jemals aus Sand
Zwirn gemacht?' Das Mädchen sprach: 'Wer hat denn jemals aus Steinen Stiefel
gemacht?' Järän Tschätschän lachte innerlich, freute sich und kehrte zurück.
Hinzuzufügen ist das hürkanische Mäi'chen in Schiefners Ausführlichem
Bericht über Baron P. v. Uslars hürkanische Studien (Mémoires de l'Ac.
des Sciences de St. Pétersbourg 7, 17 Nr. 8) S. 99—101: 'Der vom
Armenier gesehene Traum'. Vgl. dazu die musterhafte Analyse dieses
Textes und der verwandten Texte von Polivka im Archiv für slavische
Philologie 27, 614—629 (hier namentlich S. 621; s. auch Köhler, Kl.
Sehr. 1, 459).
Der hürkanische Text enthält drei Rätselaufgaben: 1. Der Sultan sendet drei
Kisten, in deren Innerem sich ein altes Weib, ein junges und ein Mädchen be-
finden. Es soll bestimmt werden, was in jeder Kiste befindlich ist. Der Jüngling
entscheidet die Frage dadurch, dass er die Kisten wiegt. 2. Der Sultan sendet
drei Stuten: es soll ermittelt werden, welche die Mutter ist, welche das Kind ist
welche des Kindes Kind ist. Der Jüngling entscheidet auch diese Frage; wie
wird nicht gesagt. 3. Der Sultan sprach: Aus dem grossen Stein nähe mir ein
Kleid! Der Jüngling sprach: Lass mich hinausgehen! Der Jüngling ging hinaus
grub und brachte Sand herbei und gab ihn dem Sultan: Mache du Zwirn, sagend.
Der Sultan sagte: Kann man denn solchen Zwirn machen? Solche Kleidung
kann man nur mit solchem Zwirn nähen, sagte der Jüngling.
Die eigentliche Sandstrickaufgabe aber, und zwar genau in der
Form, wie sie in den indischen Texten erscheint, ist mir nur noch ein
einziges Mal vorgekommen.
Es gibt eine Anzahl von Geschichten, in denen gezeigt wird, auf
welche Weise die einst allgemein verbreitete Sitte, die alten Leute zu
töten, abgekommen ist; in denen, um Sartoris2) Worte zu gebrauchen, der
Gedanke von der Nützlichkeit der Greise und der Notwendigkeit ihrer
Erhaltung ausgedrückt und zugleich der historische Yerlauf (des allmäh-
1) Radioff 1, 200. Vorher geht die Aufgabe; 'Vom Ochsen möge er ein Kalb ge-
bären lassen', die mitsamt ihrer Lösung der 13. Geschichte des Mahäummaggajätaka
entspricht (s. oben). Dass der Anfang der von Radio# mitgeteilten Erzählung im Tibe-
tischen (Benfey, Kl. Sehr. 3, 169ff.) seine Entsprechung hat, ist bekannt.
2) P. Sartori, Die Sitte der Alten- und Krankentötung (Globus 67, 129 b). Sonst
vgl. namentlich Köhler, Kl. Sehr. 2, 324. 401, und die reiche Literatur bei Bolte zu Freys
Gartengesellschaft Kap. 129. [B. Schmidt, NJb. f. Phü. u 623 (1903).]
184
Zachariae:
lichen Aufhörens jener Sitte) in einen Akt zusammengedrängt ist. Einige
von diesen Geschichten sind so gewendet: In einer Stadt beschliessen
die jungen Leute, ihre alten Yäter zu töten, um deren Plätze in der
Ratsversammlung einzunehmen. Ein einziger Jüngling lässt seinen Yater
am Leben und versteckt ihn. Ein fremder König, der sich der Stadt be-
mächtigen will, prüft zunächst die Weisheit ihrer Bürger. Er stellt
Rätselfragen und Aufgaben; diese werden von jenem Jüngling, der seinen
Abater um Rat fragt, gelöst. Man erkennt den Nutzen der Greise und
hebt die Altentötung auf. — So oder ähnlich bei Joh. Pauli, Schimpf
und Ernst Nr. 442 vgl. 446, und bei Jakob Frey, Gartengesellschaft
Kap. 129. Es lässt sich nicht verkennen, dass diese Form der Geschichte
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem zweiten Teil der Haikargeschichte
besitzt.1) Und da ist es nun nicht zu verwundern und, meine ich, von
nicht geringem Interesse, dass die Sandstrickaufgabe in zwei slawische
Parallelen2) zu der oben skizzierten Geschichte eingedrungen ist. Diese
Parallelen sind mitgeteilt von G. Polivka in seinem Aufsatz: Seit welcher
Zeit werden die Greise nicht mehr getötet? (oben 8, 25—29).
Die erste Parallele ist ein bulgarisches Märchen, aufgezeichnet in Ochrida in
Mazedonien. Der Anfang verläuft so wie in der obigen Skizze. Als sich in der
Ratsversammlung, so heisst es weiter, nur junge Leute einstellen, fragt der Vor-
steher erstaunt, wo die Yäter sind. Die sind an Krankheiten gestorben, sagen die
Jünglinge. Der Vorsteher will ihnen zeigen, wie nötig sie die Ratschläge ihrer
greisen Väter brauchen. Es sei vom Kaiser der Befehl gekommen, für die
Pferde3) Stricke aus Sand zu beschaffen. Niemand vermag die Aufgabe zu
lösen. Nur der Jüngling, der das Leben seines Vaters geschont hat, weiss eine
Antwort: es gebe zwar solche Handwerker, die Stricke aus Sand machen; hierzu
aber brauchten sie Mauleselsmilch4), mit etwas anderem lasse sich der Sand
nicht anmachen. Stricke würden weiters sehr wenig begehrt, daher auch nicht ver-
fertigt, so dass die Handwerker schon vergassen, wie sie gemacht würden; er
bitte also um ein Stück von einem solchen Strick als Muster. — Der Vorsteher
erkennt, dass aus dem Mund des Jünglings die Weisheit eines Greises spricht;
der Jüngling muss gestehen, dass er seinen Yater am Leben gelassen hat. Der
Vorsteher zeichnet ihn sehr aus; die anderen Vatermörder tötet er.
Die zweite Parallele ist in Veles in Mazedonien aufgezeichnet. Die Maul-
eselsmilch wird in, dieser Variante gar nicht erwähnt; es wird bloss um das
Muster eines Sandstrickes gebeten, da man nicht wisse, ob der Kaiser einen
1) Siehe Joh- Bolte zu Freys Gartengesellschaft Kap. 129 S. 263. [Frey benutzte
vielleicht Geilers Navícula fatuorum 1510 Bl. Q6b, Turba 45, 2.]
2) In einer anderen Parallele (oben 8, 27) erscheint auch eine wohlbekannte, von
mir bereits erwähnte Aufgabe. Der Sohn (eines greisen, von ihm versteckten Vaters),
der Richter werden will, soll in der Frühe kommen, weder barfüssig noch beschuht,
weder zu Fuss noch zu Pferd.
3) In der rumänischen Version der HaikargesChichte sagt der weise Arkirie zum
König: 'Send and tie the foals up quickly with that rope, so that I may twist another.'
(Journ. of the R. As. Society 1900, 308.)
4) Siehe Bolte zu Frey, Gartengesellschaft S. 263.
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
185
dicken oder dünnen Strick wünsche (ähnlich wie im Jätaka, Bd. 6, S. 341, 16*
und im MS. Canon der armenischen Version der Haikargeschichte: The Story of
Ahikar p. 50 n.). Als der Kaiser erfahren hat, dass diese Antwort von einem
hundertjährigen Greise stammt, verbietet er, hinfort die Greise zu töten.
Ein paar Worte noch über das sonstige Vorkommen der Sandstricke
in der Literatur. Stricke aus Sand, wie auch Stricke aus Spreu u. dgl.1)
gehören zu den zahllosen Ausdrücken, womit unmögliche, ungereimte,
unnütze Dinge bezeichnet werden.2) Zunächst sei auf eine Stelle in
Butlers Hudibras hingewiesen, die Eiselein, Sprichwörter und Sinnreden
des deutschen Volkes 1840 S. 539 angeführt hat. Butler sagt von dem
Helden seines Gedichtes:
For he a Rope, of Sand cou'd twist
As tough as learned Sorbonist.3)
Die Geschichte, auf die Butler in dieser Stelle angespielt haben soll,
ist nicht ohne Interesse. Ich lasse sie nach Zacliary Greys Ausgabe des
Hudibras (Dublin 1744) 1, 21 hier folgen.
A Gentleman of Paris, who was reduced in Circumstances, walking in the
fields in a melancholy manner, was met by a Person in the habit of a Doctor of
the Sorbon; who enquiring into his case, told him, that he had acquired so much
by his Studies, that it was in his power to relieve him, and he would do it,
provided the Gentleman would be at his devoirs, when he could no longer
employ him? the agreement was made, and the Cloven Foot soon began to
appear; for the Gentleman set the Sorbonist to fill a Sieve with Water which
he performed after stopping the holes with Wax: Then he ordered him to make
a Rope of Sand, which the Devil not being able to do scratch'd his Head, and
march'd olf in confusion.
Ferner treffen wir die aus Sand, Spreu u. dgl. gedrehten Stricke im
Lügenmärchen; im Volkslied, in den Liedern yon unmöglichen Dingen4);
im Sprichwort. So lässt sich in dem Lügenmärchen bei Grimm, KHM. Nr. 112
(vgl. Köhler, Kl. Sehr. 1, 322 f.) ein Bauer an einem Seil, das er aus
Haferspreu gedreht hat, vom Himmel auf die Erde herab. Bereits
1) Seide von Haberstroh gesponnen: Uhland, Schriften 3, 213 f. [Müller-Fraureuth,
Die dtsch. Lügendichtungen 18S1 p. 87.]
2) Auf indischem Boden begegnen Ausdrücke wie: der singende Affe, der auf dem
Wasser schwimmende Stein (vgl. L bland, Schriften 3, 217), die im Westen aufgehende
Sonne, der auf Bergeshöhen wachsende Lotus.- Unmöglich ists, Öl aus Sand zu pressen;
unmöglich, Milch aus einem Stein zu melken (vgl, Pigphel, Festgruss an R. von Roth 180.)
S. 116; Leben und Lehre des Buddha 1906 S. 58). sehr häufig wird ein Unding mit dem
Ausdruck 'Hasenhörn' bezeichnet (z. B. Somadeva übers, von Tawney 1, 370. Auch das
Pferdehorn kommt vor: Journal of the Pâli Text Society 1887, 74). Eine &anze Reihe
von unmöglichen Dingen am Schluss des Atthänajataka (Nr. 425); vgl. Schiefner-Ralston,
Tibetan Tales p. 234. Ein Marathï-Sprichwort lautet: String cannot be made from stone
(Journ. of the American Or. Soc. 27, 262)-
3) Hudibras 1, 1, 157; Variante: And with as delicate a hand Cou'd twist as tough
a Rope of Sand. ■ .
4) Siehe oben 12, 47 f. 407 f. Uhland, Schriften 3, 213 ff. Kö'der, Kl. Sehr. 3, 515.
186
Zachariae:
Grimm hat in der Anmerkung zu KHM. 112 auf die anderwärts vor-
kommenden Seile aus Sand hingewiesen.1)
Über Sandseile im Yolkslied vgl. Grimm a. a. 0. und Uhland,
Schriften 3, 336 Anm. 263. [Erk-Böhme 3, 34f.]
Die Griechen sagten sm rwv âôvvdrœv, nach dem Zeugnis der Paroemio-
graphen: êÇ äjujuov o%olvlov tiXéxelv. Siehe die Stellen bei Leutsch zu
Gregorius Cyprius M. 3, 46 (Corpus Paroemiographorum Graecorum 2, 114)
und bei A. Otto, Die Sprichwörter der Römer 1890 S. 160. Über Stricke
oder Seile aus Sand im deutschen Sprichwort vergleiche man das Deutsche
Wörterbuch 10, 1, 209 (Seil) und Wander, Deutsches Sprichwörterlexikon 3,
1861 f. 4, 518. 912. Französisch: tresser des cordes de sable; Quitará,
Etudes sur les proverbes français (1860) p. 199. Maurer, Island. Yolkssagen
p. 160. Liebrecht, Germ. 2, 245. 5, 121. W. Scott, Poetical works 1, 277
(Lord Soulis).
2. Der Ursprung der Haikargeschichte.
Zu der Geschichte vom weisen Haikar, von der wir ausgegangen
sind, kehren wir noch einmal zurück. Trotz der eingehenden Unter-
suchungen von Meissner, Lidzbarski, J. Rendel Harris und anderen2)
herrscht keine Einigkeit über die ursprüngliche Heimat der Geschichte,
über die Sprache, worin sie ursprünglich abgefasst war, über das Ver-
hältnis der verschiedenen Versionen zueinander. Nur ist Benfeys Hypothese
von dem indischen Ursprung der Geschichte neuerdings stark erschüttert,
ja, ganz verworfen worden. Die Haikargeschichte geht, so bemerkt
Meissner an einer wenig beachteten Stelle (Archiv f. Religionswissen-
schaft 5, 234f.), ohne Zweifel auf ein altes babylonisches Original zurück.
Die Entstehungszeit möchte Meissner etwa ins Jahr 2000 v. Chr. setzen.
Ähnlich haben sich Th. Reinach, Revue des études Juives 38, 10 und
P. Vetter, Theol. Quartalschrift 87, 352. 540 geäussert. Nicht Indien ist
die ursprüngliche Heimat der Haikargeschichte; vielmehr ist der Stoff,
oder sind die verschiedenen im Haikarbuche vereinigten Stoffe nach
Indien eingewandert. So Meissner, Zs. der deutschen morgenl. Ges. 48,
196; Harris, The story of Ahitar p. XXI; Vetter, Theol. Quartalschrift 87,
539. Dennoch hat wieder Cosquin in einem bemerkenswerten Aufsatze
(Revue Biblique 8, bes. S. 62 — 72) für den Rahmen der Geschichte
sowohl wie für einzelne Episoden indischen Ursprung behauptet. Auch
Marc ist für den indischen Ursprung wenigstens des zweiten Teiles der
1) Zu der von Grimm aus der Edda angezogeneu Stelle vgl. Niedner, Zs. für
deutsches Altertum 31, 254.
2) Einen Überblick über die verschiedenen Untersuchungen zur Haikargeschichte
gewährt Paul Marcs Aufsatz: Die Achikarsage, ein "Versuch zur Gruppierung der
Quellen (Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 2, 393—411. Ein Nachtrag
ebenda 3, 52 f.).
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
187
Haikargeschichte eingetreten.1) Unter diesen Umständen möge es ge-
stattet sein, hier auf eine Einzelheit hinzuweisen, die bisher noch nicht
beachtet worden ist. Sollte das Haikarbuch wirklich aus Indien stammen;
sollte wenigstens der Stoff sozusagen durch indische Hände gegangen sein:
so müsste sich doch eine Spur davon in den vorliegenden Versionen ent-
decken lassen.2) Eine solche Spur glaube ich gefunden zu haben.
Ich gehe von den Zahlenangaben aus, die sich im weisen Haikar
vorfinden. In allen Erzeugnissen der Volksliteratur werden gewisse
Zahlen mit Vorliebe gebraucht, auch da, wo es auf eine bestimmte An-
gabe gar nicht ankommt. Allgemeine Angaben wie: einige, mehrere^
viele (z. B. Söhne) genügen dem Erzähler, dem Hörer oder Leser nicht.
Feste Zahlen dienen als Schmuck der Rede, sie befördern die An-
schaulichkeit.3) Viele von diesen 'typischen' Zahlen mögen ursprünglich
bedeutungsvoll gewesen sein: in der Volksliteratur dienen sie meist nur
daza, eine unbestimmte Vielheit auszudrücken. Ferner sind gewisse
Zahlen ausserordentlich weit verbreitet und in den verschiedensten
Literaturen anzutreffen; andere wieder, so scheint es, sind auf ein engeres
Gebiet beschränkt. Durchmustern wir nun die Geschichte vom weisen
Haikar, so treffen wir da, unter anderen, die sehr gewöhnliche Zahl 40.
Nachdem Haikar aus dem Gefängnis befreit worden ist, muss er sich zu-
nächst auf das Geheiss des Königs Sanherib 40 Tage lang ausruhen.
Dann erbittet er sich noch eine Frist von 40 Tagen, um sich auf die
Lösung der Aufgabe, die König Pharao dem Sanherib gestellt hat, vor-
zubereiten (1001 Nacht 22, 21 f. in Hennings Übersetzung; vgl. Zs. der
deutschen morgenl. Ges. 48, 174). „Man findet die Zahl 40", bemerkt
Lidzbarski4), „unverhältnismässig häufig in allen literarischen Erzeugnissen
der Semiten, besonders in der Volksliteratur. Sie spielt bekanntlich in
der Chronologie der Bibel eine grosse Rolle, und wie beliebt sie bei den
Arabern ist, zeigt der Umstand, dass ein Bibliograph nicht weniger als
1) Studien z. vgl. Lit. 2, 406 ff. Marc zerlegt die Haikargeschichte in zwei Teile:
1. Die Geschichte von dem Verrat und der Bestrafung des undankbaren Adoptivsohnes;
2, Die Geschichte von dem in Ungnade gefallenen Minister, der aus seinem Gefängnis
wieder hervorgezogen wird, um die seinem König gestellten Aufgaben und Bätsei zu
lösen, und der zu diesem Zweck eine Beise zu dem fremden König unternimmt
(S. 400. 405).
2) Marc, Stud. 2, 40o bemerkt allerdings: lu den uns vorliegenden Versionen hat
die Länge der Zeit und die internationale Wanderung die ursprünglichen Charakteristika
nivelliert und die Merkmale der Heimat ausgelöscht.
3) Wilhelm Knopf, Zur Geschichte der typischen Zahlen in der deutschen Literatur
des Mittelalters (Oiss. Leipzig 1902) S. 96. — Über die Zahlen in den modernen indischen
Märehen vgl. Steel and Temple, Wide-awake Stories (Bombay 1884) p- 431—436; über die
Zahlen, die bei den Buddhisten beliebt sind, vgl. l Feer Annales du musée Guimet 2,
485-489.
4) Die neuaramäischen Hss. der Kgl. Bibliothek zu Berlin (1896) 2, 67. Vgl. sonst
W. Knopf S. 81- 84. Oben 16, 244. Zs. für Völkerpsychologie 18, 476.
Zachariae:
60 arabische Schriften nennt, die den Titel 'Vierzig' haben .......
Yon den Arabern ans drang die Vorliebe für sie auch zu anderen
asiatischen und halbasiatischen Orientalen."
Eine andere, gleichfalls sehr beliebte Zahl, die Zahl 60, treffen wir
gleich im Anfang der Haikargeschichte. Haikar hat 60 Frauen geheiratet
und ihnen 60 mächtige Schlösser errichten lassen. Er ist schon 60 Jahre
alt geworden; und noch immer hat er keinen Sohn (Lidzbarski, Neu-
aramäische Hss. 2, 5. The Story of Ahikar p. 24). „Die Bevorzugung
der Zahl 60", meint Vetter, Theol. Quartalschrift 87, 364, „ist an-
scheinend babylonisch, weil mit dem babylonischen Sexagesimalsystem
zusammenhängend1), sie kann aber auch talmudisch2) sein." In jedem
Falle ist die 60 eine runde, die unbestimmte Vielheit ausdrückende Zahl.3)
Wenn die Zahl von Haikars Frauen als 60 angegeben wird, so finden
wir ähnliche hohe oder noch höhere Zahlen gerade in solchen Geschichten,
die ebenso wie die Haikargeschichte mit dem Motiv der Kinder-
losigkeit beginnen. Im hebräischen Text des Sindbadbuches werden
dem König Bibor 80 Frauen zugeteilt. Im spanischen Text hat Alcos
90 Frauen. Im neupersischen Text (Sindbäd Name) hat der König von
Indien 100 Frauen in seinem Harem. Im Dsanglun Kap. 13 wird erzählt,
dass in früher längst vergangener Zeit hier auf Dschambudwip ein König
namens Mahäschakuli [d. h. Mahäsakunij lebte, der über 500 Vasallen-
fürsten4) herrschte. Er hatte zwar 500 Gemahlinnen, aber von ihnen
keinen einzigen Sohn als Nachfolger auf dem Throne.5) 500 Gemahlinnen
hatte auch Rinpotsche gotscha (Dsanglun Kap. 23); 20 000 hatte Schingta
1) Th. Reinach, Revue des études juives 38, 10.
2) The Jewish Encyclopedia 1, 288 a: In the Aramaic folk-lore of the Talmud the
number sixty is a favorite one and usually denotes any large number.
3) Joh. Schmidt, Die Urheimat der Indogermanen und das europäische Zahlsystem,
Berlin 1890, S. 41.
4) Die Zahl 500 ist in buddhistischen Geschichten ausserordentlich häufig. Doch
kommt sie auch sonst vor. So in der armenischen Version des weisen Haikar: von
Ägypten bis nach Ninive, heisst es da, sind es 500 Meilen. In dem von Zacher heraus-
gegebenen Alexandri Magni iter ad Paradisum besteigt Alexander mit 500 der Aus-
erlesensten seiner Leute ein Schiff- Ein japanisches Märchen spricht von einem Fels-
block, den 500 Menschen kaum hätten heben können (S. Lüttich, Über bedeutungsvolle
Zahlen, eine kulturgeschichtliche Betrachtung. Naumburger Programm von 1891, S. 34).
Siehe sonst Knopf S. 92—94. Archiv f. siav. Philologie 25, 459.
5) Die Stellen aus dem tibetischen Dsanglun hat Paulus Cassel, Mischie Sindbad,
Berlin 1888 S. 67, angeführt. Sie dienen ihm dazu, den buddhistischen Ursprung der Ein-
leitung zum Sindbadbuche zu erweisen. Anderer Ansicht ist Harris (The Story of
Ahikar p. LXXIX). Für ihn ist das 'model of composition', wonach der Verfasser des
Sindbadbuches die Einleitung formte, vielmehr — der Anfang der Geschichte vom weisen
Haikar. Ich komme darauf zurück. pür ¿en indischen Ursprung des Sindbadbuches ist
neuerdings wieder Warren eingetreten in seinem Aufsatz: Het indische origineel van den
griekschen Syntipas (Verslagen en Mededeelingen der K. Ak. van Wetenschappen
te Amsterdam, Afd. Letterkunde 4, 5, 41—58).
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
189
nimo (Kap. 13). König Okkäka hatte 16 000 Frauen (Kusajätaka Nr. 531 ;
viele 1000 Frauen: Mahävastu 2, 424, 14); desgleichen Käsiräja im Müga-
pakkhajätaka Nr. 538. Siehe auch Benfey, Pantschatantra 1, 595.
Während somit das Vorkommen der Zahlen 40 und 60 in der Haikar-
geschichte nichts Auffallendes hat, so wird man das gerade Gegenteil von
einer anderen Zahl sagen dürfen, die gleichfalls im Anfang der Geschichte
begegnet: von der Zahl acht. Haikar hat seinen Neffen Nadan adoptiert.
Der war noch jung an Jahren und ein Säugling. Daher überantwortete er
ihn acht Ammen und "Wärterinnen, ihn zu nähren und aufzuziehen. Und
sie zogen ihn bei der erlesensten Kost mit leckerster Speise auf und
kleideten ihn in Zindel, Scharlach und Karmesin, und er sass auf seidenen
Plüschdecken. — So in 1001 Nacht.1) Auch die syrische Yersion erwähnt
die acht Ammen. Die armenische sowie die slawische Yersion lassen sie
allerdings aus. Dennoch werden wir zu der Annahme berechtigt sein,
dass die acht Ammen zu dem ursprünglichen Bestand der Haikargeschichte
o-ehören.2) Diese acht Ammen aber weisen uns mit Sicherheit nach
Indien; es sei denn, dass ein Zufall sein Spiel treibt. Fest steht, dass
sich nur in der indischen und in der von dieser direkt abhänffio-en
ö Ö
Literatur eine Achtheit von Ammen sehr oft nachweisen lässt. Mindestens
wird man die acht Ammen für ein 'Zusatzmotiv' halten dürfen, das von
Indien her in die Haikargeschichte eingedrungen ist.
Zunächst über die Zahl 8 ein paar Worte. Ich habe bereits oben 15
77, wo ich von den acht glückbringenden Dingen handelte, daraufhin-
gewiesen, dass die 8 bei den Indern eine sehr beliebte Zahl ist. Mit Yorliebe
wird sie, wenn auch nicht ausschliesslich, von den Buddhisten gebraucht
Dies hat schon Benfey, Pantschatantra 1, 595 bemerkt. Auch S. Lüttich3)
1) Henning 22, 6. In der neuaramäischen Version, wo die Erzählung in der ersten
Person gehalten ist, sagt Haikar von sich selbst: 'Ich zog ihn gross mit Öl, Honig
und Sahne, kleidete ihn in Seide und Purpur und liess ihn auf weichen Teppichen und
Sammetstoffen liegen. Aber die acht Ammen, die den Knaben säugen und erziehen
sollen, werden auch hier erwähnt (Lidzbarski, Neuaramäische Hss. 2, 6). Ebenso im
Beiruter Text (Zs. der deutschen morgenl. Ges. 48, 172).
2) Harris freilich ist geneigt, alles, was in den Texten über die Erziehung des jungen
Nadan gesagt wird, dem Ur-Haikar abzusprechen. Eine im Britischen Museum befind-
liche, fragmentarische Iis. des syrischen Textes enthält nämlich kein Wort über
Nadans Erziehung (The account of the earlier years of Nadans bringing up is omitted;
if indeed it existed in the first iorm of the story. _ The Story of Ahikar
p. 56 n.). Mir scheint die Annahme des englischen Gelehrten nicht genügend gestützt zu
sein. — Eine auffällige Anzahl von Ammen kommt sonst noch in der neuaramäischen
Version der Haikaigeschichte vor. Haikar sagt Zu sejner Gattin: 'Gib die beiden uns
gehörenden Knaben Nabuchal und Tabschalim sieben Ammen dass sie sie säugen und
grossziehen' (Lidzbarski, Neuaram. Hss. 2, 25). In ¿er armenischen Version ist an der
entsprechenden Stelle nur von zwei Ammen die Rede.
3) Über bedeutungsvolle Zahlen, Naumburg 1391 g 32, Hier weist Lüttich unter
anderem darauf hin, dass die 8 auch in den Märchen der Japaner auffallend oft auftritt.
Vgl. sonst AV. Knopf, Zur Geschichte der typischen Zahlen S. 49—52. Hahn, Sagwissenschaft-
liche Studien; Register unter Zahlen. Archiv für slavische Philologie 25, 456.
Zacharias:
betont, dass die 8 im Buddhismus eine grosse Rolle spielt. Julius
Weber bezeichnet die 8 als eine bei den Buddhisten heilige Zahl
(Zs. der deutschen morgenl. Ges. 45, 5862). Sonst mag man vergleichen
P. Cassel, Mischie Sindbad S. "218, die Verhandlungen des neunten
Orientalistenkongresses 1, 245ff. und die Zusammenstellungen von Feer,
Annales du musée Guimet 2, 487.
Übrigens ist die 8, so oft sie auch vorkommt, keine primäre, sondern
eine abgeleitete Zahl. Mit Recht fasst sie Lüttich S. 31 f. als eine Ver-
doppelung der 4 auf.1) Weitere, öfters vorkommende Steigerungen der 4 oder
8 sind, wie Liittich ebenfalls zeigt, 16, 24, 32 u. s. f. Maitrakanyaka, so
heisst es in einer sehr verbreiteten buddhistischen Legende2), verdiente
im Kleinhandel 4 Kärsäpanas (Otterköpfchen) täglich, als Parfumerie-
händler 8, als Goldschmied erst 16, dann 32 Kärsäpanas. Nachher ver-
brachte er viele Jahre in vier verschiedenen Städten; in der ersten
leisteten ihm 4, in der zweiten 8, in der dritten 16, in der vierten
32 himmlische Mädchen Gesellschaft.
Nun zu den acht Ammen. Einem Kinde eine grössere Anzahl von
Ammen zuzuteilen, ist, soweit meine Beobachtungen reichen, durchaus eine
Eigentümlichkeit der buddhistischen und jinistischen Schriften. Ich
habe das in den Göttingisehen gelehrten Anzeigen 1892, 645—648 aus-
führlich dargetan. Was im weisen Haikar oder auch anderwärts ver-
einzelt dasteht, ist in den genannten Literaturen die Regel. Und so
finden wir denn zunächst die acht Ammen, denen der junge Nadan an-
vertraut wird, sehr oft wieder in der nordbuddhistischen Literatur.
•Eine genügende Zahl von Belegen habe ich a. a. O., S. 647 gegeben.
Hier will ich nur verweisen auf Scliiefner-Ralston, Tibetan Tales p. 52.
257. 273. 279 und auf das Avadänasataka, eine Sammlung von 100
buddhistischen Leg-enden, die Léon Feer in einer französischen Uber-
ö '
Setzung bekannt gemacht hat (Annales du musée Guimet 18. Paris 1891).
1) Ich kann es mir nicht versagen, hier eine Äusserung Leumanns über die bei den
Jainas ebenso wie bei den Buddhisten beliebten Zahlen 4 und 8 wiederzugeben. 'Die
Vierzahl oder auch Achtzahl von Personen, welche als Kameraden, Gattinnen oder sonst
irgendwie die nähere Umgebung von jemand bilden, ist in der Jaina-Literatur eine
typische Erscheinung..... Meist sind es himmlische Wesen, deren Gefolge in der ange-
deuteten Weise normiert ist. Da nun unter jenen die Deifikationen der Weltgegenden in
vielfältigster Weise wiederkehren, so ist klar, dass die stereotype Tetras von Freunden,
ja sogar wohl auch sonstige Tetraden und Oktaden von Personen ihre numerische
Fixierung in letzter Linie einer Übertragung von himmlischen auf irdische Phantasien
verdanken: Die Vierer-Konzeption ist augenscheinlich von den vier Haupt- und vier Neben-
richtungen der Windrose ausgegangen; von da wird sie, weil jene Richtungen von alteis
her personifiziert wurden, erst in die Kombinationen über Zusammensetzung des Götter-
staates eingedrungen und schliesslich auch auf menschliche Verhältnisse Anwendung ge-
funden haben' (Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 6, 35, mit einigen Aus-
lassungen. Vgl. auch 37).
2) Bhadrakalpävadäna 28; vgl. Oldenburg, Buddhistische Legenden S. 40—43. 79—80
und die Studie von Feer im Journal Asiatique, 7. Série 11, 360 —443.
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
191
Die Entstehung des Werkes setzt Speyer1) um das Jahr 100 unserer
Ära. Eine chinesische Übersetzung des Avadänasataka wurde zwischen
223 und 253 n. Chr. verfasst. Wie in anderen buddhistischen Texten, so
finden sich auch im Avadänasataka eine Reihe von fast gleichlautenden,
oft wiederkehrenden Stellen. Diese hat Feer auf S. 1—14 seiner Über-
setzung unter dem Titel 'lieux communs Bouddhiques et développements
divers1 übersichtlich zusammengestellt.2) Einer von diesen 'Gemeinplätzen'
kommt, wenn ich recht gezählt habe, nicht weniger als 27mal im
Avadänasataka vor und lautet nach Feers Übersetzung S. 3:
L'enfant N... fut confié à huit nourrices, deux pour le tenir sur les
genoux, deux pour lui donner le sein, deux pour le laver, deux pour le faire
jouer3); ces huit nourrices l'élèvent, le font grandir (nourri) de lait, de lait
caillé, de beurre frais, de beurre clarifié, d'extrait de beurre clarifié, et d'autres
aliments chauffés et de premier choix: il croît rapidement comme un lotus dans
son étang.
Soweit ich sehe, ist 8 die am öftesten vorkommende Zahl. Doch
werden in nordbuddhistischen Texten auch 4 oder 32 Ammen genannt
(GGA. 1892, 646. 648). Im Mügapakkhajätaka Nr. 538 erhält Temiya-
kuinära 64 Ammen; desgl. Yessantara im Vessantarajätaka Nr. 547. Die
birmanische Übersetzung des Mügapakkliajätaka hat 240 Ammen statt der
■64 des Päli-Originals:
And for the youthful Bodhisat they searched out 240 young vvetnurses with
good breasts of milk, pleasant and sweet; four were appointed for each hour of
the sixty hours of the day and night; one to hold the baby, one to wash it, one to
dress it, and the other to fondle and play with it. (Journal of the Royal Asiatic
Society 181)3 p. 3(>3.)
Es fragt sich jetzt, ob sich ausser den acht Ammen noch andere
Einzelheiten im Anfang der Haikargeschichte finden, die man ebenfalls
an indische Vorbilder anknüpfen könnte.
1) Verslagen en Mededeelingen der K. Ak. van Wetenschappen, Afd. Letterkunde 4,
3, 384. Eine Ausgabe des Avadänasataka veranstaltet jetzt Speyer in der Bibliotheca
Buddhica.
2) Vgl. auch Feers Bemerkungen über die 'développements répétés' im Karma-
sataka: Journal Asiatique, 9. Sér. 17, 59 (1901).
3) Wörtlicher: Das Kind wird acht Ammen übergeben, zwei Tragammen, zwei
Milchammen, zwei Schmutzammen, zwei Spielammen. (Aus dieser so oft wiederkehrenden
Stelle geht klar hervor, dass 4 die ursprüngliche Zahl der Ammen ist.) l)ie genaue
Angabe der Obliegenheiten der Ammen findet sich auch sonst; so in Beals
Romantic Legend of Säkya Buddha 1875 p. 316 (His parents procured for him the best
nurses for the various purposes required-viz., to fondle, to feed to accompany in out-of-
door walks, to play and laugh) und in der Geschichte 'Cams' im Siebenmeisterbuche
(z. B. in der Historia septem Sapientum ed. G. Buchner 1889 p. 16í Miles tantum in-
l'antem dilexit, quod. III. nutrices pro pueri custodia ordinauit: pnma tutrix, ut eum
aleret; secunda, ut eum a sordibus lauaret; tercia, ut eum ad dormiendum alliceret).
Sind auch im weisen Haikar Spuren davon erhalten? Vo^ z- 1^01 Nacht
(Henning) 22, 6.
192
Zachariae:
Für die folgende Betrachtung ziehen wir, nach dem Vorgang von
Harris, The Story of Ahikar p. LXXIX, den Anfang des Sindbadbuches
in der syrischen Version mit heran. Die syrische Erzählung vom weisen
Sindban beginnt, nach Baethgens Übersetzung:
Es war einmal ein König, der hiess Kures. Er hatte sieben Frauen; aber er
war schon alt geworden und hatte noch keinen Sohn. Da stand er auf, betete,
tat ein Gelübde und salbte sich. Und es gefiel Gott, ihm einen Sohn zu geben.
Der Knabe wuchs und schoss empor wie eine Zeder.1)
Harris ist nun der Meinung, dass der Autor des Sindbadbuches den
Anfang der Haikargeschichte nachgeahmt habe. Er bemerkt: The opening
of the story is common matter to an Eastern novelist, but there are
allusions which betray the use of a model of Composition. To put
Ahikar into the form Cyrus was not difficult in view of the Slavonic
Akyrios for the same name; 'seven wives' is the modification of a later
age on the original 'sixty wives' of Ahikar; but what is conclusive for
the use of the earlier legend is the remark that the king's son 'shot up
like a cedar'. — Einige Versionen der Haikargeschichte (es sind die-
selben, die dem Nadan acht Ammen zuteilen) lassen nämlich den jungen
Nadan aufschiessen 'wie die schlanke Libanonzeder', oder 'wie die ge-
priesene Zeder'. Und am Schluss der Geschichte sagt Haikar zu Nadan:
'O mein Söhnlein, ich lehrte dich und pflegte dich in sorglichster Pflege
und liess dich wachsen wie die hohe Zeder des Libanon' (1001 Nacht 22, 34
Henning).
Es entzieht sich meiner Beurteilung, ob der Ausdruck 'wachsen wie
die Zeder des Libanon' so auffällig und selten ist, dass er in der Frage
nach der Abhängigkeit des (syrischen) Sindbadbuches vom weisen Haikar
als entscheidend angesehen werden kann. Man vergleiche immerhin
Psalm 92, 13. Aber was Harris für das Sindbadbuch annimmt: 'a model
of composition', das muss, meine ich, im Prinzip auch für das Haikar-
buch zugestanden werden; mindestens für den uns hier allein beschäftigenden
Passus des Haikarbuches, für den Passus, der von der Jugenderziehung
des Nadan handelt. Hat doch Harris, wie wir bereits gesehen haben, die
Vermutung ausgesprochen, dass der Bericht über die ersten Jahre von
Nadans Erziehung in der Urform des Haikarbuches nicht gestanden hat
(The Story of Ahikar p. 56). Unter allen Umständen scheint mir die
Tatsache bemerkenswert zu sein, dass die oben genannten nord-
buddhistischen Texte an derselben Stelle ein Gleichnis gebrauchen, wo
im Haikarbuche das Wachstum Nadans mit dem einer Zeder verglichen
wird. Anstatt der 'gepriesenen Zeder' erscheint in jenen Texten, wie
sich von selbst versteht, ein berühmtes Gewächs der indischen Flora.
1) Der griechische Syntipas: coç ôsvôqov aqiorov ^v^rjvs xfj f¡hxíq. Harris vermutet,
dass ôévÔQov cÍQioTov ein blosser Fehler für xéôqoç a-QÍozr¡ ist.
Zur Geschichte vom weisen Haikar.
193
Ich wiederhole kurz den oben schon angeführten, so oft wiederkehrenden
Gemeinplatz: Das Kind N. N. wird acht Ammen übergeben, die es nähren
und grossziehen mit Milch usw.: und so wächst es schnell heran wie ein
Lotus im Teiche.1)
Statt des Lotus findet sich aber auch, genau wie im weisen Haikar,
das Bild eines Baumes. Als Buddhas Mutter Mäyä gestorben ist, über-
nimmt ihre Schwester Mahäprajäpati Gautami die Pflege des Kindes.
Ausserdem werden 32 Wärterinnen angestellt (eight to nurse the child,
eight to wash him, eight to feed him, eight to amuse him). Dann heisst
es weiter: So the child gradually waxed and increased in strength; as
the shoot of the Nyagrodha2) tree gradually increases in size,
well-planted in the earth, till itself becomes a great tree, thus did the
child day by day increase, and lacked nothing (S. Beai, Romantic Legend
of Säkya Buddha from the Chinese-Sanscrit 1875 p. 64. Ygl. Mahavastu 2,
423, 12: Es gedeiht der Tugendhafte wie der Nyagrodha auf einem guten
Platze). Ganz ähnlich der Bericht über die Jugenderziehung des
Mahävira, des Stifters der Jainasekte. Mahävlra wird fünf Ammen8)
anvertraut: eine gibt ihm Milch, eine sorgt für die Reinlichkeit, eine
kleidet ihn, eine spielt mit ihm, eine trägt ihn auf dem Schosse. So
wächst er heran wie der Campaka-Baum in einer Bergschlucht
(Äyäramgasutta 2, 15, 13; Sacred Books of the East 22, 192).
Um es zusammenzufassen: dass ein Kind einer bestimmten Anzahl
von Ammen übergeben und dass sein Wachstum mit dem einer Pflanze
(eines Baumes) verglichen wird, das ist vereint schwerlich irgendwo
so häufig, so gewöhnlich wie in der indischen, speziell buddhistischen
Literatur; es ist, um Feers Ausdruck zu gebrauchen, ein buddhistischer
Gemeinplatz. Sollte dieser Gemeinplatz von Indien nach dem Westen
gewandert sein?
Wer die Möglichkeit dieser Wanderung zugibt, der könnte noch
einen Schritt weiter gehen und auch für das erste, bis zu Nadans
Adoption reichende Stück der Haikargeschichte ein indisches Muster an-
nehmen. Die Haikargeschichte beginnt mit dem Motiv der Kinder-
losigkeit. Das ist ein sehr oit, zumal in orientalischen Geschichten,
wiederkehrendes Motiv, wie schon Benfey, Kl. Sehr. 3, 182 und Harris
betont haben. Ich erinnere an die ''loroQÍa yjv^cocpsXijg von Barlaam und
Joasaph. König Abenner, der gross ist an Reichtum und Macht, hat rò
ifjç axexviaç xaxov zu beklagen ); eqfjfiog vnáq^cov tkxlòov-, àta cpqov-
1) Im Original: hradastham iva pankajam. Es ist vielleicht beachtenswert, dass di^se
Worte den Ausgang eines Verses bilden. Vgl. Divyavadäna 589, 7.
2) Nyagrodha, die Baniane (Ficus indica), wohl der berühmteste Baum der indischen
Flora.
3) In den mir bekannten Jainatexten wird die Zahl der Ammen immer als fünf an-
gegeben. Gött. gel. Anzeigen 1892, 648.
4) Vgl. dazu P. Cassel, Aus Literatur und Symbolik S. 155#-
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 13
194
Zachariae: Zur Geschichte vom weisen Haikar.
riôoç £Ï%£ noÀlfjg öncog, tov toiovtov Av&elg ôeojuov1), téxvcov xXrj&eir] jxcnrjQ,
Ttgäyjua roïç noXXoïg evxxaióraxov. Und im Syntipas heisst es von König
Kyros: f¡v ôè änaig' ö'&ev xal naiòcov ogsyó/uevog2) fisojuorarcog JiaQeyÁXei
to ïïeïov tov tf¡g âjiaiôeiag Xvïïrjvai ôsojuov. Es gellt kaum an, irgend einer
Literatur, etwa der indischen, das Motiv der Kinderlosigkeit als besonders
eigentümlich zuzusprechen. Dennoch möge es gestattet sein, im Anschluss
an den bereits angeführten buddhistischen Gemeinplatz hier noch auf
einen zweiten hinzuweisen und den Anfang der Haikargeschichte damit
zu vergleichen. Der Gemeinplatz ist ausgehoben von Feer in seiner
Übersetzung des Avadänasataka S. 4, unter der Überschrift 'Manière
d'obtenir des enfants.' Mit nur geringen Varianten kommt die Stelle
achtmal im Avadänasataka vor3) und lautet in ihrem Anfang ungefähr
wie folgt:
N. N. (ein reicher Mann, ein mächtiger König) hat keinen Sohn, keine
Tochter. Die "Wange auf die Hand gestützt, sitzt er da, in Gedanken versunken:
'Viele Schätze habe ich in meinem Hause aufgehäuft, aber ich habe weder einen
Sohn, noch eine Tochter; nach meinem Hinscheiden wird mein ganzes Ver-
mögen, da ich keinen Sohn habe, an den König fallen' (oder auch, wenn sichs
um einen kinderlosen König handelt: 'nach meinem Hinscheiden wird das Königs-
geschlecht erlöschen'). Da sprechen die Sramanas und Brähmanas, die Wahr-
sager, seine Freunde und Verwandten zu ihm: 'Huldige den Göttern; dann
wird dir ein Sohn zuteil werden.' Der nun, sohnlos, Söhne begehrend,
fleht den Siva, Varuna, Kubera, Indra, Brahman usw. an, und andere besondere
Gottheiten (die einzeln aufgezählt werden).
Diesem buddhistischen Gemeinplatz steht am nächsten der Anfang
der arabischen, in 1001 Nacht vorliegenden Version der Haikargeschichte.
Alle anderen Versionen weichen mehr oder weniger ab; so auch die neu-
aramäische Übersetzung des arabischen Textes, die Lidzbarski veröffent-
licht hat (Die neuaramäischen Hss. der Kgl. Bibliothek zu Berlin 2, 5).
Diese lässt die Zauberer, Sterndeuter und Wahrsager dem Haikar, als er
noch jung war, prophezeien, dass er keinen Sohn haben werde.
Ähnlich der syrische und der slawische Text. In 1001 Nacht ist davon
keine Rede. Hier fordern vielmehr die Astrologen und Zauberer den
kinderlosen Haikar auf, den Göttern zu opfern und ihre Huld zu er-
flehen. Die Frage, ob wir berechtigt sind, den Anfang der Geschichte,
wie er in 1001 Nacht vorliegt, für einen treuen Reflex der ursprünglichen
Fassung zu halten, vermag ich nicht zu entscheiden. Dass sich der
1) Man beachte diesen (an und. für sich autfälligen?), dem griechischen Barlaam und
dem Syntipas gemeinsamen Ausdruck. Beide, Abenner und Kyros, wünschen von der
Fessel der Kinderlosigkeit erlöst zu werden.
2) Es entsprechen Stellen wie Divyävadäna p. 1} ß so 'putrah putrftbhinandi
Sivavarunakuverasakrabrahmúdín ayacate (der, söhn los, Söhne begehrend, fleht den
Siva, Varuna, Kuvera, Sakra, Brahinan usw. an).
3) Auch sonst; vgl- z. B. Divyävadäna lff» 57. 439f. Schiefner im Bulletin der
Petersburger Akademie 20 (187o), 382. Schiefner-Ralston, Tibetan Tales p. 50f.
Andree: Kleine Mitteilungen.
195
arabische Text im weiteren Verlauf der Geschichte von der ursprüng-
lichen Textgestalt entfernt, hat P. Vetter, Theol. Quartalschr. 87, 357
dargelegt; s. auch Cosquin, Revue biblique 8, 54, n. 4.
Die Geschichte von Haikar dem Weisen beginnt in Hennings Über-
setzung von 1001 Nacht (22, 5; mit einigen Kürzungen) wie folgt:
In den Tagen des Königs Sancharib lebte ein Weiser, namens Haikar, ein
Grande von übergrossem Reichtum und unbegrenztestem Vermögen; und dabei
war er klug und weise, ein Philosoph, und begabt mit Wissen, Rat und Er-
fahrung. Er hatte GO Frauen geheiratet, für deren jede er in seinem Palast ein
eigenes Gemach gebaut hatte; jedoch hatte er keinen Sohn, den er hätte pflegen
können (But with it all he had no child by any of these women, who might be
his heir; The Story of Ahikar p. 87, nach SaU.iäni, Contes Arabes p. 1), so dass
er deshalb schwer bekümmert war und eines Tages die Sachverständigen,
Astrologen und Zauberer, versammelte und ihnen seinen Fall vortrug, sich über
seine Unfruchtbarkeit beklagend. Sie antworteten ihm: 'Geh hinein, opfere
den Gottheiten, frag sie um Rat und flehe sie um ihre Huld an; sie
werden dir dann vielleicht das Geschenk eines Kindleins gewähren.'
Der Weise tat, wie sie ihn geheissen hatten, und brachte Opferspenden und
Schlachtopfer vor die Bilder, ihre Hilfe erflehend und sich in Bitte und Gebet
demütigend.
Halle a. S. •
Kleine Mitteilungen.
Der grüne Wirtshauskranz.
Welcher grüne Strauss
Hat keine Blümelein? —
'Der Strauss an dem Wirtshaus
Hat keine Blümelein',
heisst es in einem älteren, in „Des Knaben Wunderhorn" mitgeteilten Rätsel-
liede1), und ein von Studenten noch vielgesungenes Lied Wilhelm Müllers beginnt
„Im Krug zum grünen Kranze, da kehrt ich durstig ein", wobei an das nieder-
deutsche Krug, Krog, Kraug für Wirtshaus zu denken ist, nicht etwa an den
Krug, urceus. Schon diese Lieder ) deuten auf die weit in Deutschland ver-
breitete Sitte hin, die Schenke mit einem 'Büschen' oder grünen Kranze zu
schmücken, zum Zeichen, dass man dort Einkehr halten und einen frischen
Trunk, sei es Wein oder Bier, erhalten kann. &\)er nicht nur über deutsche
Lande ist der grüne Wirtshauskranz verbreitet; auch bei den Nachbarvölkern
1) [2, 407 = 2, 418 ed. Birlinger-Crecelius =] Reclams Ausgabe S. 584.
2) [Vgl. Erk-Böhme, Liederhort 2, 688: 'W0 ^nt ihr denn Wein hernehmen?'
sprach die alte Schwieger. „Wo der Weinkranz hängt, da wird Wein geschenkt", sprach
das junge Mädchen wieder.]
13*
196
Andree:
finden wir ihn, und es ist gesagt worden, dass er schon bei den alten Römern
za Hause war. Mag es sieh da nicht verlohnen ihn einmal durch die Zeiten und
Länder zu verfolgen, dem Ursprünge nachzugehen und zu zeigen, wie mannigfache
Formen diese Einladung zur Stillung des Durstes angenommen hat? Die nach-
folgenden Zeilen sollen dazu einige Beiträge liefern; denn nur auf weiten Reisen
und bei regem Sammeln in Europa liesse sich einigermassen die Verbreitung
feststellen, was dem einzelnen kaum gelingt. Die Literatur hat sich auch noch
nicht eingehend mit diesem freundlichen Symbol beschäftigt, wobei ich als Aus-
nahme einen Aufsatz von H. C. Bolton1) hervorhebe, der mir Anregung gegeben
hat und zur Vervollständigung weiter hier mitgeteilten Merke benutzt ist.
In der Tat ist der Kranz, wie ich kurzweg zusammenfassend sagen will, über
o-anz Deutschland verbreitet und selbst wo man ihn in natura nicht mehr
O
heraussteckt und durch frisches Laub erneuert, ist oft wenigstens der Name als
Wirtshausschild geblieben. Schon im Mittelalter ist der ausgesteckte Kranz als
Wirtshauszeichen neben einem Passreifen oder einer Kanne nachgewiesen. Fischart
erwähnt ihn ausdrücklich zu solchem Zwecke, und es gibt auch alte Abbildungen,
auf denen er erscheint.2) Oft genug sehen wir den Kranz abgebildet auf nieder-
ländischen Schenken bei den Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts und unter
ihm die raufenden und betrunkenen Bauern.3)
Bei der Vergänglichkeit und dem schnellen Eintrocknen des frischen Laubes
traten bald Ersatzmittel an seiner Stelle. Weit verbreitet, zumal in den Alpen-
ländern, benutzt man daher Hobelspäne, die, lustig im Winde flatternd, die
Schenken anzeigen. Aber auch diese genügen nicht und werden durch noch
festeren Stoff ersetzt, durch hobelspanartige Eisenbändchen, die künstlich zu einer
Art Krone zusammengesetzt werden, dabei aber in Bayern, den Ursprung be-
zeugend, 'Bierboschen' heissen. Sie finden aber auch bei Weinschenken Ver-
wendung und zu Marburg an der Drau sah ich das in Abb. 1 abgebildete Wirts-
zeichen, welches den Bierboschen aus Eisen (ganz wie in Bayern) und den aus
Blech fein säuberlich gestalteten Kranz von Weinlaub und Trauben vereinigt.
Noch andere Zeichen treten an die Stelle des Kranzes, diesen ersetzend. Am
häufigsten das Pentagramma, der in einem Zuge gezogene fünfeckige Stern,
1) The Journal of American Folk-Lore 20, 40.
2) M. Heyne, Das deutsche Wohnungswesen. 1899. S. 195. [Fischart-, Bienenkorb
(nach Marnix) 1588 Bl. 89b: „Gleich wie daselbs gemeinlich ein Iieyff oder ein grüner
Krantz oder Kandt außhengt, anzuzeigen, daß diß Hauß ein Wirtzhauß seye"... In den
Niederlanden bestand im 16. Jahrhundert für die Wirtshäuser geradezu die gesetzliche
Verpflichtung, „ein Zeichen oder einen Kranz", in späterer Zeit auch zwei Kannen oder
zwei Fässchen auszuhängen (J- van Lennep en J. ter Gouw, De Uithangteekens 1868
1, 25. 63. 86f. 123). Auch ein grüner Zweig, Busch oder Maien genannt, diente als
Zeichen (ebenda 1, 143 2, 379. Schweizerisches Idiotikon 4, 4). Vom Oberrheine be-
richtet Mone (Zs. f. d. Gesch. des Oberrheins 3, 267. 1852 = Alemannia 4, 49. 1877):
„Solche zeitweise Schenken hiess man Busch- oder Strausswirtschaften, weil ein solcher
Bauernwirt statt des Schildes einen grünen Ast oder Busch über seiner Tür hiuaus-
streckte. In früheren Zeiten wurde statt des Strausses auch ein Reif oder Kranz vor die
Tür gesteckt, woher noch die Kranzwirtschaften rühren." Im Etschlande bedeutet
Busch en auch eine Schenke (Zingerle, KHM. aus Süddeutschland 1854 S. 323). Im
Elsass wird noch jetzt neuer Wein durch einen Kranz aus Rebenranken angezeigt (Martin-
Lienhart, Wtb. der elsäss. Mundarten 2, 238). Las Zeichen der Bierschenken war neben
einem Kranze oder Reise auch ein Stroh wisch oder ein Kegel (Grimm, DWb. 2, 2. 5, 386.)]
3) Z. B. : Auf einem Bilde von Isaak van Ostade (1621 — 1649; in der alten Pinakothek
zu München Nr. 379. [Hirth, Kulturgeschichtliches Bilderbuch 1, Nr. 303. 326.]
Kleine Mitteilungen.
197
welcher zugleich Zauberschutz gewährt, aber zuweilen durch einen sechseckigen
vertreten wird. Seine Anwendung als Wirtshauszeichen soll auf die Pythagoräer
zurückgehen, wenigstens erzählt Wuttke ohne nähere Quellenangabe1), dass ein
sterbender Pythagoräer dem Wirte, den er nicht bezahlen konnte, das Penta-
gramma als Erkennungszeichen für vorbeiwandernde Genossen hinterlassen habe,
um ihn so durch frische Kundschaft schadlos zu halten. Zu solchen Stell-
vertretern gehört auch ein Kranz aus Holzkugeln gebildet, den in meiner Heimat
Braunschweig die einst dort zahlreichen kleineren Brauereien an einer Stange
aussteckten, wenn bei ihnen das 'Süssbier' zu haben war. Das alles sind nur
einige Beispiele über das heute noch vor-
handene Vorkommen des Kranzes, die sich
leicht durch weiteres Nachforschen in deutschen
Landen vermehren lassen.
In der Schweiz ist der Kranz so gut
wie bei uns vertreten. Im Hinterlande von
Luzern hängt das Aufsetzen des Wirtshaus-
busches nicht vom Wirte ab, sondern findet bei
der Kirchweih der Buben (Buebechilbi) unter
besonderen Feierlichkeiten statt. Niemals wird
dabei ein gewöhnliches Restaurant berück-
sichtigt, sondern er prangt nur an einer Wirt-
schaft, wo man Gäste beherbergen kann, die
Tavernenrecht besitzt. Der 'Chilbi-Chranz' wird,
meterbreit, aus Hasel-, Eschen-, Eichen- oder
Weidenzweigen dicht gewunden, mit gefärbten
Hobelspänen und bunten Fähnchen geschmückt
und in seinem Innern vom Küfer mit einem
Fässchen versehen. Dann wird er da, wo die
Kirchweih abgehalten wird, über der 'Tafäre'
(Wirtshausschild) befestigt, wo er mehrere Jahre
aushalten mass.2)
Auch in Frankreich ist der aus Hülsen
(Ilex), Buchs, Epheu und selbst aus Stroh ge-
bildete 'bouchon de cabaret' verbreitet; er gilt
selbst als Bezeichnung einer Kneipe schlecht-
hin, wie aus der Redewendung „II n'y a dans
ce village qu'un mauvais bouchon" hervorgeht,
ti. C. Bolton hat gefunden, dass schon in einem
Erlasse des Königs Karl VI. vom Jahre 1415 die couronne oder der cerceau nur
da geführt werden durften, wo. der Wein mit Salbei oder Rosmarin gewürzt
wurde.3)
In Italien erblicken wir den Wirtshausbusch als eine ganz gewöhnliche
Erscheinung, wenn auch in recht verschiedener Form. In den Städten an der
Adria beobachtete ich ihn meist als frischen Lorbeerzweig oder Zweig eines anderen
1) Der deutsche Volksaberglaube3 S. 181. [A.q ¿er Hauptstelle über das Penta-
gramma der Pythagoräer, Luciaa Pro lapsu in salutando c 5 steht nichts davon; eben-
sowenig bei A. G. Lange, Vermischte Schriften 1832 S. 152" Der Drudenfuss.]
2) Schweizerisches Archiv für Volkskunde 10, 257.
3) [laverniers mettront enseignes et bouchons heisst es io der 'Ordonnance de
Louis XIV', chap. 7, art. 23.]
1. Weinlaubkranz aus bemaltem
Blech, darunter der Bierbuschen
(Marburg in Steiermark).
198
Andree:
immergrünen Gewächses und in Norditalien, wo solches nicht immer zur Hand
ist, kann man auch statt des Büschs die Hobelspäne sehen, die vielleicht entlang
den Eisenbahnen aus den Alpenländern dorthin vorgedrungen sind. Sie finden
sich auch in Venedig und wenn man diese Frasca über den Türen der Osterien
näher untersucht, so sieht man, dass die graziös herabhängenden Hobelspäne alle
am Grunde mit einem Holzknopfe natürlich zusammenhängen, dass sie also, um
als Wirtshausbusch zu dienen, besonders vom Tischler hergestellt sein müssen;
auch der Übergang dieser vergänglichen Hobelspäne zu nachgeahmten, solideren,
eisernen, wie in Bayern oder Kärnten, kann im Yenetianischen beobachtet werden.
Mannigfaltiger sah ich die Einladung zum Weintrinken in mittelitalienischen
Städten und an der Westküste. Traditionell bedeutet dort für den Analphabeten
ein schwarzer Kreis, der auf einem Brette vor der Osteria angebracht ist, einen
Soldo und aus der Zahl dieser Kreise erkennt er, wieviel Soldi der Liter kostet
(Abb. 2). Zuweilen ist da noch ein R oder B hinzugefügt, was darauf deutet,
dass es sich um vino rosso oder bianco handelt. Mannigfaltig und hübsch heraus-
geputzt, mit einfachen Mitteln, sind die in Terracina ausgesteckten Tafeln, von
denen ich einige zeichnete. Hat der Verkäufer nichts anderes zur Hand, so
nimmt er ein paar Bogen weisses Papier, gestaltet sie zu Tüten und hängt sie
als Schmuck an die Tafel, auf welcher das Wort Vino prangt; lustiger sieht es
aus, wTenn er frisches Fenchelkraut daran hängt, am schönsten, wenn er einige
frische Orangen samt dem Laube benutzt und dazwischen buntfarbige Papier-
spiralen, die im Winde flattern (Abb. 3—5).
Im übrigen glaubt der Italiener, dass auch ohne unser Zeichen der gute
Wein von selbst Absatz habe, wie das Sprichwort bezeugt: 'Al buono vino non
bisogna frasca.'1)
Der grüne Kranz ist auch nach England hinübergewandert, und hier lautet
das dem italienischen wörtlich entsprechende Sprichwort 'Good wine needs no
bush.' Die englische Literatur ist reich an Hinweisungen auf diesen Busch, und
hier muss ich auf die von H. C. Bolton gesammelten Belege hinweisen. Schon
bei Chaucer findet er den entsprechenden 'Ale-stake' belegt, der sich (1532) bei
Thomas More wiederholt. In der Zeit der Königin Elisabeth ist der Epheubusch
als Zeichen der Weinschenken oft wiederholt, und Shakespeare benutzt das gang-
bare Sprichwort im Epilog zu 'As You like it', indem er sagt: „If it is true that
good wine needs no bush, It is true that a good play needs no epilogue." Im
weinreichen Istrien und Dalmatien, wo es gleichfalls an Analphabeten nicht
fehlt, wie in Italien, hat man auch die schwarzen Kleckse zur Bezeichnung des
Weinpreises eingeführt, nur dass sie hier Kreuzer bedeuten und auf weissem
Papierbogen vor den Wirtshäusern prangen.
Und nun zum Ursprung unseres Kranzes. Es lässt sich ja nicht ohne
weiteres abweisen, dass er hier und da ohne Entlehnung selbständig entstanden
sein kann. Wenn wir aber annehmen, dass er mit dem Weinbau nach Deutsch-
land usw. gekommen ist, zuerst an Weinwirtschaften (den noch im Namen in
Süddeutschland erhaltenen römischen Tavernen) dem Zecher winkte, wenn der
Germane sah, wie der Legionär unter diesem Zeichen sein Seidel (situla) trank,
und ihm nachahmte, so mag er auch mit vielen anderen Wörtern auf den Wein
zurückgehen, den römische Legionare im dritten Jahrhundert an den Rhein ver-
1) [Ebenso im Deutschen: 'Guter Wein darff keines außgesteckten Reyffs (Busches,
Kranzes)' und in vielen anderen Sprachen; Wander, Sprichwörterlexikon 5, 97. — Aus
Spanien sei das Sprichwort angetührt: 'Quien ramo pone, su vino quiere render'
(Wander 2, 1587).]
Kleine Mitteilungen.
199
pflanzten, deren Sprache noch nachklingt in unserer Kelter (calcatura), dem Spund
(puncta), dem Most (mustum), dem Essig (acetum), dem süddeutschen Ausdruck
für Kelter 'Torkel' (torculum)'und im Worte Wein selbst.
Q
2. Weinschild für Analphabeten, mit
der Bezeichnung- von 3 und 4 Soldi
(Terra ci na).
VINO
3. Weinschild mit Papiertüten (Terracina^
JÛL
VINO
4. Weinschild mit Irischem Fenchelkraut 5. Weinschild mit Orangen und farbigen
(leiracina). Papierspiralen (Terracina).
Nun fragt sich, ist der Kranz als Wú'tshauszeichen auch bei den alten Römern
belegt? Ist er etwa aus dem Epheukranze des Bacchus hervorgegangen, dem zu
Ehren man solche Kränze trug? Häufig finden wir angegeben, das man dem
200
Andree, John:
Bacchus zu Ehren Epheukränze trug. So heisst es z. B. im F'estkalender (III, 767)
von einer Alten:
Epheu schmückte sie. Epheu ist des Bacchus Behagen,
und im zweiten Buche der Makkabäer (6, 7) wird erzählt, dass die Römer die
Juden zwangen, am Bacchusfeste Epheukränze dem Gotte zu Ehren zu tragen.
Oft kehrt in den Ornamenten antiker Trinkschalen der Epheu wieder. Nun will
H. C. Bolton in der angeführten Abhandlung den Nachweis führen, dass der Wirts-
hauskranz schon sicher bei den alten Römern vorhanden gewesen sei, und zieht
dafür die Sentenzen des Publius Syrus und das Werk Columellas De re rustica
an. Allein, so sehr ich mich auch bemühte in beiden Schriftstellern und in den
verschiedensten Ausgaben derselben die von Bolton angeführten Zitate zu finden —
ich kann nur sagen: sie sind an beiden Stellen nicht vorhanden, und damit fällt
der Nachweis, dass — wenigstens nach diesen Quellen — der grüne Wirtshaus-
busch bei den Römern vorhanden und der Vater des unserigen gewesen sein könne.
Aber wiederholt wird in älteren Werken gesagt, bei den Römern sei es Redensart
gewesen, dass man da keinen Epheu habe auszustecken brauchen, wo es guten
Wein gäbe.
Ich verweise hier auf das für seine Zeit recht tüchtige Lexikon von Zedier1),
wo es heisst: „Man pflegte auch vor denen Häusern Epheu-Cräntze, als ein
Zeichen zu hängen, allwo Wein sollte verkauffet werden. Hinc vino vendibili non
opus est suspensa hederá." Leider fehlt auch bei Zedier die Angabe, wo bei
irgend einem klassischen Schriftsteller diese Redensart vorkommt, so dass ich es
einem besser beschlagenen Philologen überlassen muss, deren Ursprung nach-
zuweisen.2) Dass der römische Epheukranz nach dieser Stelle nicht vonnöten ist
einen guten Wein an den Mann zu bringen, stimmt wörtlich überein mit den oben
angeführten deutschen, italienischen, französischen und englischen, noch heute ge-
brauchten Redensarten. Bestätigt sich, dass die Römer den Epheukranz schon
als Wirtshauszeichen verwendeten, dann kann dieses heute noch bei uns gebrauchte
Symbol auf das ehrwürdige Alter von zweitausend Jahren zurückblicken.
München. Richard Andree.
1) Grosses vollständiges Universallexikon 8,1361 unter Epheu. (Halle und Leipzig 1734).
2) [An dem antiken Ursprünge dieses zuerst bei dem Italiener Angelo Poliziano
(.t 1494) in einem Briefe an Ermolao Barbaro (Epistolae 1, 11 = Opera, Paris 1519 1,
Bl. 7a) auftauchenden Sprichwortes möchte auch ich zweifeln. Erasmus hat es zwar
in seine Adagia (Basel 1513 Bl. 158a nr. 1521 = Frankfurt 1599 S. 164) aufgenommen,
bemerkt aber in seinen Collectanea adagiorum veterum (Argentorati, M. Schürer 1512
Bl. 32b. Zuerst 1509) darüber: „Vino vendibili suspensa hederá nihil opus. E medio
sumptum videtur et recentius. Hoc enim tempestatis vinariis tabernis huiusmodi signum
praetenditur. Apud Politianum legitur. Quam sententiam Plautus in Poenulo [I, 2,
v. 128] lepidissimis verbis extulit:
Invendibili merci oportet ultro emptorem adducere,
Proba merx facile emptorem recipit, tametsi in abstruso sita est."
Irrig schreiben F. Michel und E. Fournier (Histoire des hôtelleries 1, 100. 1859) wie auch
Bolton das Sprichwort dem Publilius Syrus zu; nirgends, wo in der neueren wissenschaft-
lichen Literatur von antiken Wirtshauszeichen die Rede ist (z.B. Becker-Göll, Gallus 3,
45. 1882), wird es angeführt; Zedier mag es aus Martin Mylius (Hortus philosophicus,
Görlitz 1597 S. 321 unter 'Hederá') und dieser wieder aus Erasmus entlehnt haben. —
Auch die antike Redensart 'sub corona vendere' (als Sklaven verkaufen) bezieht sich
nicht etwa auf einen aufgehängten Kranz, sondern nach Gellius 7, 4, 3 darauf, dass die
Kriegsgefangenen selber (wie Opfertiere) bekränzt wurden. — J. Bolte.]
Kleine Mitteilungen.
201
Das Fahnenschwingen der Fleischer in Eger.
Das diesjährige Fahnenschwingen der Fleischer in Eger am 12. Februar 1907
war vom schönsten Wetter begünstigt und hat durch einige glückliche Erweiterungen
und Ausgestaltungen des alten Brauches zu einem Festspiel sehr gewonnen.
Bekanntlich geht dieser Brauch zurück auf einen mittelalterlichen Fehdezug, den
die Egerer i. J. 1412 gegen die Raubfeste Neuhaus im Selber Walde unter-
nahmen. Die Feste wurde gebrochen, die Gebrüder Forster gefangen genommen
und die auf der Burgzinne prangende „Goldene Sonne" im Triumph nach Eger
geführt. Bei diesem Zuge hatte sich die Zunft der Fleischer besonders aus-
gezeichnet. Deshalb gewährte ihr der Rat zu Eger das Privileg, am Faschings-
dienstag die Zunftfahne vor das Haus herauszuhängen, diese mit dem roten Feld-
zeichen zu zieren und sie unter Trompetenschall neunmal zu schwingen. Dieses
Das Fahnenschwingen der Fleischer zu Eger.
Vorrecht des Fahnenschwingens der Fleischerzunft, das in einigen Jahren
schon 500 Jahre alt wird, hat sich nun in der Stadt Eger bis heute lebendig
erhalten, wiederum ein Zeichen, dass gewisse Bräuche, mögen sie auch in der
Ungunst der Zeiten zuweilen versiegen, in Epochen nationalen Aufschwungs eben-
falls wieder neues Leben und erhöhte Bedeutung gewinnen. Ursprünglich wurde
dies Privilegium in der allereinfachsten Weise von Meisterssöhnen und Jung-
meistern ausgeübt, als interner Zunftbrauch vor dem Hause des jeweiligen Zunft-
meisters, woran sich abends ein Tanz in der „Auflage" (einem Wirtshause) schloss
und am anderen Tage ein fröhlicher Umzug m¡|; von einem Meister zum
anderen, wobei Fleisch gesammelt und der Ertra«- dann verzehrt wurde. Diese
Feier fand alljährlich statt und war derart bekannt dass sie nur wenig Neugierige
versammelte.
In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts trat eine Änderung ein.
Der bisher nur im Kreise der Zunft gepflegte Brauch sprengte jetzt diese engen
Bande, trat offen hinaus, und das Fahnenschwingen wurde zu einem historischen
202
John: Kleine Mitteilungen.
Feste erweitert, das auf öffentlichem Marktplatze unter dem Zusammenströmen
einer grossen Menge Einheimischer und Fremder stattfand. So geschah es zum
ersten Male im Jahre 1886 und dann jedes weitere fünfte Jahr, immer am Faschings-
dienstag (1891, 1896 und 1901, im letzteren Jahre ausnahmsweise am 3. Sep-
tember). In dieser Form wurde das Fahnenschwingen wiederholt geschildert (so
in „Unser Egerland" 3, 4 und 5, 38), in Photographien verherrlicht und in einer
eigenen Festschrift beschrieben (Eger 1901, Verlag der Egerer Fleischerzunft).
Schon im Jahre 1901 wurde in dem Festzug, der jedesmal nach Beendigung des
Fahnenschwingens durch die Strassen Egers zog, ein Festwagen mitgeführt, der
die Feste Neuhaus darstellte. Man hat nun in diesem Jahre versucht, sich nicht
bloss auf den Brauch des Fahnenschwingens, auf das Ausüben eines alten Privi-
legiums zu beschränken, sondern das ganze Bild eines mittelalterlichen Fehde-
zuges zur Darstellung zu bringen, so dass man sich mitten im Leben und Treiben
Alt-Egers wähnen konnte. Dieser Versuch ist sehr gut gelungen. Der Faschings-
dienstag (12. Februar) 1907 war ein Festtag für Eger. Schon am frühen Morgen
strömte die Bevölkerung von nah und fern zusammen, und jeder Bahnzug brachte
ganze Schwärme Fremder und Neugieriger. Die Idee des vorbereiteten Fest-
spieles: Siegreiche Heimkehr der Egerer aus dem Fehdezug — Empfang des
Zuges auf offenem Marktplatz durch die Bürgermeister und den Rat der Stadt,
Begrüssung desselben und Verlesen des Privilegiums durch den Stadtschreiber —
schliesslich das Fahnenschwingen — wurde vortrefflich gelöst und sehr gut zur
Darstellung gebracht.
Um 9 Uhr waren auf der Tribüne des oberen Marktplatzes bereits der Senat
von Eger vom Jahre 1412 mit den vier Bürgermeistern und dem Ratsschreiber
versammelt, alle in ernstes Schwarz gekleidet mit weissen Halskrausen, und schon
kam es auch von allen Strassen mit schmetternder Musik heran, umzog den
Marktplatz und nahm dann Aufstellung. Der siegreich heimkehrende Fehdezug
der Egerer wurde von mehreren Herolden eröffnet, dem IG Trommler und Pfeifer
folgten, die einen alten Siegesmarsch spielten. Dann kam ein Zug Mannen,
reisiges Fussvolk, mit Spiessen und Hellebarden, ein Festwagen mit der Burg
Neuhaus und der von der Spitze gebrochenen „Goldenen Sonne", eine Abteilung
Reitervolk, dann, von Hellebardierern begleitet, die zwei gefangenen Raubritter,
schliesslich Rüstwagen, mit Beute und Proviant reichlich beladen, wiederum Fuss-
volk und Berittene. Diesem historischen Zug folgte die Zunft der Fleischer,
voran die Schützenmusik, dann zwölf Meister zu Pferde mit schwarzrotgoldenen
Schärpen und zwei Züge Gesellen (56 Mann, Ausrüstung: weisse Janker, weisse
Schürzen, grüne Samtkappe, blauroten Schlips und das Beil, das Zeichen der
Fleischerinnung auf der Schulter) mit der Zunftfahne, die man vom Zunft-
meister abgeholt hatte. Nachdem die beiden Züge sich geordnet und vor dem
Senate Aufstellung genommen, berichtete der Anführer des historischen Zuges von
der siegreichen Erstürmung der Feste Neuhaus und übergab die Trophäe „die
Goldene Sonne von Neuhaus", die Gefangenen und die übrigen Beutestücke in
die Hände des Bürgermeisters und Rats. Der Bürgermeister hielt hierauf
eine begrüssende Ansprache, und liess dann durch den Stadtschreiber die be-
treffende Pergamentrolle verlesen, welche der Fleischerzunft das Privilegium des
Fahnenschwingens verleiht. Hierauf begann das Fahnenschwingen in der üblichen
Weise.
Mittags fand ein Festessen im Hotel „Zu den zwei Prinzen" statt, um 2 Uhr
ein Festzug der Zunft und der sämtlichen historischen Gruppen durch die
Strassen der Stadt. Dann folgten noch Reigtmspiele des F'ussvolkes am Markt-
Boite: Berichte und Bücheranzeigen.
203
platz, das Spiel mit dem wilden Mann u. a. und abends ein Festball im Schützen-
hause. Diese Ausgestaltung und Erweiterung des alten Brauches zu einer Art
historischen Pestspiels muss als vollkommen gelungen bezeichnet werden. Die
zum Teil vom Verein „Deutsche Heimat" in Wien gestellten Kostüme waren
wohl etwas farbenbunt, wirkten aber im Gesamteindruck gut, ja einzelne Gestalten
kamen vollendet zur Geltung.
Eger. Alois John.
Berichte und B ucherali zeigen.
Neuere Arbeiten über das deutsche Volkslied.
Die umfänglichste und wichtigste Arbeit allgemeiner Art, die seit unserem
letzten Berichte (oben 15, 350—356) über das deutsche Volkslied erschienen ist,
bietet das bereits von Reuschel ausführlich charakterisierte (oben S. 116), von
grosser Sachkenntnis und warmer Liebe zum Gegenstande zeugende Werk
O. Böckels1), das namentlich durch die umfassende Heranziehung der aus-
ländischen Volksliteraturen eine erfreuliche Weite des Blickes für das Echte und
Ursprüngliche erhält. Die Keime der Dichtung bei den Urvölkern beleuchtet
Erich Schmidts2) ausgezeichnete obwohl knappe Übersicht, der auch ausge-
wählte Literaturangaben nicht mangeln, während Andree3) die dichterische Tätig-
keit der Frau an den Wiegen-, Liebes-, Klage- und Arbeitsliedern der Naturvölker
darlegt. Die seit alters bei der Leichenwache und beim Begräbnis angestimmten
Lieder mustert Blüm ml4) in einer lehrreichen Übersicht; als Inhalt der noch im
11. Jahrhundert bezeugten 'diabolica carmina et saltationes' (ahd. sisuua) der Ger-
manen vermutet er eine Beschreibung des Weges, den der Tote einzuschlagen
hat, wie sie auch in einem Totenliede des Rigveda 10, 14 gegeben wird. In
christlicher Zeit kommt zu den naheliegenden Motiven der Klage um den Ver-
storbenen und der Lobpreisungen, die z. B. in den lateinischen Planctus des Mittel-
alters stehend sind, die Fürbitte. Angehängt sind die Texte 42 neuerer Toten-
lieder aus dem Pustertal, in drei Gruppen geordnet: der Tote spricht, die Hinter-
bliebenen reden, oder die Qualen des Fegfeuers werden geschildert. Grossenteils
stammen diese Dichtungen übrigens, was nicht gesagt wird, aus gedruckten Gesang-
büchern oder sind bekannten Liedern nachgebildet. Da die wichtigen Bücher
1) Bockel, Psychologie der Volksdichtung. Leipzig, Teubner 1906. V, 432 S. 7 Mk.
2) Erich Schmidt, Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven
Völker. 27 S. (= Die Kultur der Gegenwart hsg. von P. Hinneberg 1, 7. ebd. 1906). —
[Bespricht: Poetische Triebe, Rhythmus, chorische Urpoesie, Urformen, Gattungen
chorischer und individueller Lyrik (Gebet, Rätsel, Kosmogonie, Ackerlieder, Erotik, Tier-
poesie, Frauen, Arbeit, Kampf, Totenfeier, Satire) Ausblick auf das Drama, auf das
Epos.]
3) R. Andree, Frauenpoesie bei Naturvölkern (Korresp.-Blatt der d. Ges. f. Anthro-
pologie 37, Nr. 9—11. 1906).
4) E. K. Blüinml, Germanische Totenlieder mit besonderer Berücksichtigung Tirols
(Archiv f. Anthropologie n.F. 5 149—181. 1906).
204
Boite:
John Meiers über Kunstlied und Volkslied bereits oben 16, 364 angezeigt wurden,
wenden wir uns von den allgemeinen Arbeiten gleich zu den Textpublikationen.
Für das ältere Volkslied hat wiederum A. Kopp1) drei recht wertvolle Ver-
öffentlichungen gespendet: neben einem Bericht über eine Kölner Hs. des 16. Jahr-
hunderts zunächst eine Übersicht der interessanten, über 200 Lieder und Melodien
enthaltenden Handschrift, die der Student Petrus Fabricius um 1605 in Kiel an-
legte, dann eine Untersuchung des um 1700—1710 in Sachsen gedruckten Berg-
liederbüchleins, das mit seinen 233 Nummern die wichtigste und reichhaltigste
Volksliedersammlung in dem Zeitraum von 1600 — 1770 darstellt und daher bereits
von Uhland, Erk und Böhme ausgebeutet wurde, und der nur in einer Kopie
erhaltenen Sammlung galanter und schäferlicher Modedichtungen, die 1740—1792
von der aus Pommern stammenden, im Schwarzburgischen ansässigen Frau Sophie
Margarete v. Holleben angelegt wurde. Endlich beschreibt K. das 51 Nummern
enthaltende Heft v. J. 1747 'Gantz neu entsprossene Liebes-Rosen', auf das schon
Hoffmann v. Fallersleben hingewiesen hatte. Wie in früheren Fällen fügt er dem
Verzeichnis einen Nachweis der Quellen und Parallelen sowie den Abdruck der
bemerkenswerten Stücke ein. — Einzelne Texte aus älterer Zeit und Bemerkungen
zu solchen gaben Blümml2) und Bolte.3) — Der hübsche und wohlfeile Neu-
druck des 'Wunderhorns', den E. Grisebach4) zu dessen hundertjährigem Jubiläum
erscheinen liess, zeichnet sich durch sorgfältige Textbehandlung und eine sach-
kundige Einleitung aus; ohne Kürzungen, Änderungen und kritische Zutaten er-
halten wir nier das Werk so, wie es einst auf die Zeitgenossen wirkte. Der ge-
lehrte Benutzer freilich muss sich darein finden, dass die Zusätze der Ausgabe
von 1845—1846 nicht aufgenommen sind, und wird noch mehr bedauern, dass die
Seitenzahlen der alten Originalausgabe nicht am Rande angegeben sind und so
die Auffindung von Zitaten erleichtern. — Eingehender und mit Benutzung von
Steigs und Lohres Forschungen charakterisiert J. E. V. Müller3) die Tätigkeit
der beiden Sammler des Wunderhorns, die beide produktiv veranlagt, ihre Texte
nicht mit wissenschaftlicher Treue gaben, sondern zustutzten, ergänzten und durch
Einschaltung eigener Dichtungen mehrten, Arnim mehr als unbefangener Drauf-
gänger auf die Gegenwart gerichtet, Brentano in literarischen Dingen urteilsfähiger
und zu künstlicher Nachahmung älterer Sprache geneigter. Ihr Verhältnis zu den
Vorlagen wird in der 'EinzelUntersuchung' von zehn Liedern dargelegt.
1) A. Kopp, Die Darmstädter Handschrift nr. 1213 (Zs. f. dtsch. Philologie 37,
509-515). — Die Liederhandschrift des Petrus Fabricius (Archiv f. neuere Sprachen 117,
1—16. 241-255). — Ältere Liedersammlungen, 1. Sächsisches Bergliederbüchlein, 2. Der
Frau von Holleben (geb. v. Normann) Liederhandschrift. Leipzig, G. Schönfeld 1906.
VI, 213 S. geb. 4,50 Mk. (= Beiträge zur Volkskunde hsg. von E. Mogk, 4. Heft). — Liebes-
rosen 1747 (Hess. Blätter f. Volkskunde 5, 1—26).
2) E. K. Blümml, Volkslied-Miszellen II (Archiv f. neuere Spr. 115, 30—66). —
Johanneslied (Mitt. f. d. Gesch. der Deutschen in Böhmen 44, 270—272). — Genovefalied
aus Steiermark (Die Kultur 1906, 204—209). — Notizen zum steirischen Volksliede (oben
16, 324—328. 436—440). — Zur Motivengeschichte des deutschen Volksliedes, 1: Die Lilie
als Grabespflanze (Studien zur vgl. Litgesch. 6, 409—427).
3) J. Bolte, Zum deutschen Volksliede 22—30 (oben 16, 181-190).
4) Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. v. Arnim
und C. Brentano. Dm Teile in einem Bande. Hundertjahrs-Jubelausgabe hsg. von
E. Grisebach. Mit Nachbildung der fünf Kupfertitel der Original-Ausgaben. Leipzig,
Max Hesse 1906. XXI, 888 S. geb. 2 Mk.
5) J. E. V. Müller, Arnims und Brentanos romantische Volkslied-Erneuerungen, ein
Beitrag zur Geschichte und Kritik des 'Wunderhorns', I. Progr. d. Hansaschule in Berge-
dorf 1906. 74 S. 8°.
Berichte und Bücheranzeigen.
205
Yon neuen Sammlungen, die das ganze deutsche Sprachgebiet betreffen, seien
erwähnt das für den Schulunterricht bestimmte, 55 ältere Lieder mit guten Er-
läuterungen enthaltende Werkchen von J. Sahr1), die bescheiden auftretende, mit
Kenntnis der Literatur und Geschmack ausgewählte Lese volkstümlicher Kinder-
lieder von Maria Kühn2) und das Volksliederbuch für die deutschen Männerchor-
vereine3), das auf Befehl Kaiser Wilhelms IL von einer unter der Leitung des
Freiherrn Rochus von Liliencron und seines Vertreters Max Friedlaender
stehenden Kommission von Musikern und Musikgelehrten bearbeitet worden ist.
Das letztgenannte Werk sollte nach der mehrfach verkannten Absicht des hohen
Auftraggebers nicht etwa alle aus dem Volke hervorgegangenen oder im Volks-
munde lebenden Liedertexte und Weisen für die Wissenschaft fixieren, sondern
den Gesangvereinen eine Auswahl des Besten aus dem Liederschatze des letzten
Jahrhunderts wie der älteren Zeit bieten, die sie vor Verkünstelung und Einseitig-
keit bewahre. Dabei sollte es sich nicht auf die eigentlichen 'Volkslieder'
beschränken (denn von jeher haben, wie R. v. Liliencron in seiner trefflichen
Einleitung ausführt, Kunstgesang und Volksgesang in Wechselwirkung gestanden),
sondern auch volkstümliche, d. h. solche Kunstlieder aufnehmen, die durch die
charakteristischen Eigenschaften des Volksgesanges, Unmittelbarkeit, Wahrheit,
Einfachheit, Schlichtheit, Innigkeit, auch schlichten Menschen verständlich und
ergreifend werden. Nach ihrem musikalischen Werte wurden aus etwa 15 000 Liedern
schliesslich 610 Nummern ausgewählt und rund 2/3 davon für den Männergesang
neu gesetzt; sie sind dem Inhalte nach in zwölf Gruppen geschieden und mit An-
merkungen über ihren Ursprung und Geschichte versehen; neben Volksliedern
des 15. bis 19. Jahrhunderts erscheinen Kompositionen von Orlando Lasso,
H. Albert, Händel, Mozart, Beethoven usw. bis auf Begar und R. Strauss. í^ür
den vierstimmigen Satz, durch den das schlichte Volkslied an sich schon in die
Sphäre der Kunst gehoben wird, galt als Ziel, nicht nur einfachen und kleinen
Chören, sondern auch grösseren und leistungsfähigen Vereinen lohnende und reiz-
volle Aufgaben darzubieten. Vierzig Künstler verschiedener Richtung haben sich
daran beteiligt; wieweit das Erstrebte erreicht ist, mögen berufene Richter ent-
scheiden.
Eine einheitlich organisierte Aufzeichnung und Sammlung der lebenden Volks-
lieder der einzelnen Landschaften ist erfreulicherweise in Österreich wie in der
Schweiz in die Wege geleitet worden. Für die vom Wiener Kultusministerium
berufene Kommission, die aus den Herren Prof. A. Hauffen, O. Hostinski, A. Ive,
E. Mandyczewski und J. Pommer besteht, hat J. Pommer4) den 1905 aus-
1) J. Sahr, Das deutsche Volkslied ausgewählt und erläutert. 2. Auflage. Leipzig,
Göschen 1905. 189 S. geb. 0,80 Mk
2) Maria Kühn, Macht auf das Tor! Macht auf das Tor! Sammlung deutscher
Volks-Kinderlieder, Reime, Scherze und Spiele. Mit Melodien. Düsseldorf, Langewiesche
[1905]. 231 S. 1,80 Mk. (= Lebende Worte und Werke 6).
3) Volksliederbuch für Männerchor, hsg. auf Veranlassung Seiner Majestät des
Deutschen Kaisers Wilhelm II. Partitur. Leipzig, c. F. Peters [1907J. XV, 816 und III,
792 S. 6 Mk. — Vgl. die Besprechung von K. Nef, Schweizerische Musikzeitung 1907,
S. 101-103.
4; Das Volkslied in Österreich. Anleitung zur Sammlung und Aufzeichnung. ^Irage-
bogen 24 S 16° o. 0. u. J. = Das deutsche Volkslied 8 (Wien 1906), S. 105—107. 125f.
141-143. 157-159. - Vgl. auch J. Pommer, Über das älplerische Volkslied, und wie
man es findet (Das dtsch. Volkslied 8, 3 . 22f. 41 f. 54—56. 74f. 89—91. 109f. löOf.
9, 5-7. 25 f. 43-45).
206
Boite:
gearbeiteten 'Grundzügen' 1906 eine recht praktische 'Anleitung zur Sammlung und
Aufzeichnung' nebst Fragebogen folgen lassen, die von den Arbeitsausschüssen für
Steiermark, Niederösterreich, Mähren und Schlesien angenommen ward. Auf-
gezeichnet werden soll mit grösster Treue alles, was das Volk auswendig singt,
ohne dass es ihm durch Schule oder Gesangverein vermittelt wäre; die Scheidung
zwischen Volks- und Kunstlied zu machen wird den Aufzeichnern nicht zu-
gemutet. Für Böhmen1) ist bereits durch die 'Gesellschaft zur Förderung deutscher
Wissenschaft' in den Jahren 1894—1900 systematisch gesammelt worden, so dass
es höchstens noch einer probeweisen Nachforschung in besonders abgelegenen
Gegenden bedarf, und hier wird A. Hau (Ten im Verein mit H. Rietsch,
H. Tschinkel, H. Weyde, A. Kahler und R. v. Procházka eine Gesamtausgabe der
deutsch-böhmischen Volkslieder veranstalten. In ähnlicher Weise haben sich in
der Schweiz die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, der Schweizerische
Lehrerverein und der Verein Schweizerischer Gesang- und Musiklehrer zu einer
Sammlung der deutschen Volkslieder und Volksmusik vereinigt und eine Kommission
gewählt, die unter dem Vorsitze von John Meier im November 1906 zu Basel
zusammentrat und einen Aufruf und Fragebogen herausgab2); sie besteht aus
Prof. E. Hoffmann-Krayer, John Meier, A. L. Gassmann, O. v. Greyerz, K. Nef,
S. Rüst, Ryffel; das Volksliedarchiv befindet sich in Basel, Augustinergasse 8.
Wir begrüssen diese schönen Anfänge mit wärmster Teilnahme und wünschen,
dass den rüstigen Arbeitern das verständnisvolle Interesse der weitesten Kreise zu
Hilfe komme. Möchten nun auch im deutschen Reiche die verschiedenen Vereine
für Volkskunde sich zu gleichem Zwecke die Hand reichen und mit derselben
Tatkraft und Ausdauer die Schätze des Volksliedes heben! Dann wird aus
all den Einzelarbeiten einst ein grosses Liederwerk aufgebaut werden können, das
die gesamte deutsche Volksdichtung in ihrem Werden, ihrer Ausbreitung und
Mannigfaltigkeit vorführt.
Inzwischen hat die Veröffentlichung einzelner Lieder und Liedergruppen nicht
gerastet. Ich muss mich allerdings wiederum auf die Heraushebung einiger Arbeiten
beschränken. Als ersten Band einer billigen, nett ausgestatteten Sammlung 'Der
Volksmund' lieferte F. S. Krauss einen Abdruck der 1844 von Tschischka und
Schottky3) in 2. Auflage herausgegebenen österreichischen Volkslieder, den wir
dankbar willkommen heissen; nur hat Krauss leider übersehen, dass diese 'ver-
besserte und vermehrte' "2. Auflage, um für die neuen Stücke Raum zu schaffen,
einfach 43 Lieder des ersten Druckes von 1819 weglässt4) und auch in der An-
gabe der Melodien minder genau verfährt. 300 Ausseer Schnaderhüpfel, die
1) A. Hauffen, Das deutsche Volkslied in Böhmen I. (Deutsche Arbeit 6, 69—71.
1906).
2) John Meier, Sammlung schweizerischer Volkslieder (Vortrag im Schweizerischen
Lchrerverein). 6 S. — Aufruf zur Sammlung deutsch-schweizerischer Volkslieder (Basel,
Nov. 1906). 3 S. — Sammlung deutsch - schweizerischer Volkslieder, Fragebogen
(Basel 1906). 8 S.
3) F. Tschischka und J. M. Schottky, Österreichische Volkslieder mit ihren
Singweisen, nach der zweiten verbesserten und vermehrten Auflage hsg. von F. S. Krauss.
Leipzig, Deutsche Verlagsaktiengesellschaft 1906. XXIII, 160 S. 1 Mk. (Der Volksmund,
alte und neue Beiträge zur Volkstorschung hsg. von F. S- Krauss 1).
4) Darunter gerade recht hübsche, wie S. 96: 'Sizt a schens Vegerl afm Dânna-
bam' (= Erk-Böhme, Liederhort 3, 406) oder S. 122: 'Den Bûam, den i nid mag, Den
siäch i alli Dág; Dear mi voñ Hearzn gfrait, Dear is goar waid.' Dazu oben 12, 53.
Berichte und Bücheranzeigen.
207
Krauss 1883 aufzeichnete, hat Blümml1) jetzt mit fleissigen Parallelennachweisen
und einem Anhang von einem weiteren Hundert Vierzeiler zum Druck befördert;
beigegeben hat er einen Abschnitt über die Verspottung des Schneiders im Vier-
zeiler. In einer metrischen Untersuchung über 1'25 von Liebleitner publizierte
Kärntner Vierzeiler geht Blümml2) auf Reim, Strophenbau und Rhythmus ein und
stellt im Gegensatze zu Brenner (1896) drei Typen auf: die aus zwei 3/4-Takten
bestehende monopodische Kurzzeile, die dreitaktige monopodische Langzeile und die
viertaktige dipodische Langzeile. Viele einzelne Lieder aus Österreich, auch in
mehrstimmigem Satze, bringt wiederum die schon bis zum 9. Jahrgange gediehene
Zeitschrift des unter J. Pommers Leitung stehenden Deutschen Volksgesang-
vereins in Wien 'Das deutsche Volkslied'. Eine dritte Nachlese zu den oben
15, 353 rühmend erwähnten 'Volksliedern aus Tirol' Hess Kohl3) erscheinen.
Ein besonderes, bisher selten betretenes Gebiet, das der obszönen Lieder, haben
Krauss, Reiskel und Blümml4) in Angriff genommen; ihre ausschliesslich für
den wissenschaftlichen Benutzer bestimmten Publikationen enthalten erotische,
nicht selten witzige und bilderreiche Vierzeiler, deren Vorfahren schon in den
Carmina Burana zu finden sind, ferner schmutzige Parodien bekannter Lieder und
endlich Erzeugnisse städtischer Bordelle, von denen man sich mit Ekel abwendet. -—
In Siebenbürgen, wo A. Schullerus und G. Brandsch eine Sammlung der
Volkslieder vorbereiten, hat der letztere5) sich mit der fortwährenden Umwandlung
der Volksmelodien in ihrem tonalen und rhythmischen Bestände beschäftigt. Er
zeigt, das im 17. Jahrhundert neben die dipodischen Versmasse und die zwei-
taktigen (4/4 oder 6/4) Melodien (vielleicht durch Einwirkung romanischer Tanz-
weisen) der monopodische 3/4-Takt trat, der sich in den süddeutschen Schnader-
hüpfeln mit daktylischem Textmetrum, in Mitteldeutschland aber auch mit dem
alten iambisch-trochäischen Masse verbindet. Mehrfach hat sich der 6/a-Rhythmus
aus dem 4/4-Takt entwickelt, doch auch die umgekehrte Wandlung des Tripel-
taktes in den geraden kommt vor. Anlass zur Verlängerung der Melodiezeile
bietet oft die Unterlegung eines neuen Textes. Weitere Beobachtungen des Auf-
taktes, der Schlussdehnung, der metrischen Wortverkürzung und der Cäsur unter-
richten uns über die Abweichungen, die das Normalschema der zweitaktigen
Melodiezeile im lebendigen Volksgesange erleidet. Eine reichhaltige und über-
sichtlich geordnete Sammlung siebenbürgischer Kinderlieder, teils hochdeutsch,
1) E. K. Blümml und F. S. Krauss, Ausseer und Ischler Schnaderhüpfel. Als
Anhang: Vierzeiler aus dem bayrisch - österreichischen Sprachgebiet. Mit Singweisen
gesammelt und hsg. ebd. 1906. IX, 161 S. 1 Mk. (= Der Volksmund 3).
2) E. K. Blümml, Das Kärntner Schnaderhüpfel, eine metrische Studie (Beiträge
z. Gesch. der dtsch. Sprache 31, 1 - 42).
3) F. F.Kohl, Volkslieder aus Tirol, dritte Nachlese, für gemischten Chor gesetzt.
Wien, Last 1907. 48 S. 1,50 Kr. (27 Nr.).
4) E. K. Blümml, F. S. Krauss und K. Reiskel, Erotische Lieder aus Österreich
(Anthropophyteia 2, 70 — 116. 1905). K. Reiskel, Schnadahüpfeln und Graseltänze
{ebd. 2, 117-121). — E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutsch-Österreich mit
Singnoten, gesammelt und hsg. Privatdruck. 183 S. o. O. u. J. (Wien 1907. — Vgl. zu
S. 18 oben 11, 104 und 15, 45 Nr. 93: 'Dein und Mein.' Zu S. 30 Nicolai, Feyner kleyner
Almanach 1, Nr. 12: 'Guten Morgen, libes Lyserl,' Zu S. 93: 'Einst gmg *ch am Ufer'
Lewalter, Niederhessen 5, 84 und Treichel, Westpreussen Nr. 17)-
5) G. Brandsch, Zur Metrik der siebenbürgisc]^.¿eutschen Volksweisen (Progr. des
Seminars in Hermannstadt). Nagyszeben, Krafft 1905 43 S. 1 Mk. — Über Werden und
Vergehen der Volksweisen (aus den Akademischen ' Blättern 1906, Nr. 8). Ebd. 20 S
0,30 Mk.
208
Boite:
teils mundartlich, mit Ausnutzung der älteren Werke von Schuster und Haltrich,
doch ohne gelehrten Apparat, gab Höhr.1) Aus der Bukowina sind Lieder-
aufzeichnungen von Kaindl (oben 15, 260—274), aus dem östlichen Böhmen
solche von Langer2) zu erwähnen. — Auch in der Schweiz fehlt es trotz der
Vorbereitungen zu der grossen Volksliedersammlung nicht an Einzelpublikationen.
Durch Reichhaltigkeit und Sorgfalt zeichnet sich Gassmanns3) Ausgabe von
254 Liedern und Melodien, sowie einiger Jodler der Wiggertäler im Kanton
Luzern aus; es sind fast alle Gattungen des geistlichen und weltlichen Volksliedes
und des volkstümlichen Liedes vertreten, insbesondere viele alte Balladen. Die
nötigen Parallelennachweise zu den Texten s:ibt John Meier in den Anmerkungen,
die auch manche wertvolle Bemerkung über die Verbreitung der Melodien ent-
halten; ins Register sind nicht bloss die Anfänge der Lieder, sondern auch die
aller Strophen aufgenommen. Aus einem grossen, durch verschiedene Sammlerinnen
und Sammler aufgezeichneten Materiale von Schaffhauser Kinderliedern stellt
P. Pink4) die typischen Formen recht übersichtlich zusammen unter den Über-
schriften: Wiegen- und Koseliedchen, Kniereiterliedchen, Volksweisheit, Abzähl-
reime, Neckereien, spielerische Reimereien, Kinderspott, Liebes- und Tanzliedchen,
Tierreich, Feste und erläutert sie mehrmals durch französische Seitenstücke.
Statt einer solchen Übersicht greift Fräulein Züricher5), der wir schon eine
hübsche Sammlung bernischer Kinderlieder (1902) verdanken, ein einzelnes Knie-
reiterliedchen „Ryti, ryti, Rössli", heraus, um durch eine Darlegung und Er-
läuterung sämtlicher Varianten eine Probe des geplanten grossen Werkes über die
schweizerischen Kinderlieder zu geben; sie schreibt dem Stücke schweizerischen
Ursprung zu und stellt der herkömmlichen mythologischen Deutung der drei darin
erwähnten Jungfrauen (Marien, Nonnen) auch die Abstammung aus einer von ihr
rekonstruierten Ballade als möglich gegenüber.
Unter den reichsdeutschen Landschaften nimmt das Elsass eine gesonderte
Stellung auch hinsichtlich seiner Volkslieder ein. Die von Mündel dort (18S4) ge-
sammelten 256 Stücke unterzieht Teichmann6) einer methodisch wertvollen Be-
trachtung. Ein Drittel davon, das in anderen deutschen Sammlungen nicht zu finden ist,
scheint wenigstens teilweise elsiissischen Ursprunges zu sein. Ins 16. Jahrhundert
reichen nur einige Liebeslieder zurück; die meisten heut gesungenen Lieder, unter
1) A. Höhr, Siebenbürgisch-sächsische Kinderreime und Kinderspiele, gesammelt und
erläutert. Progr. des Gymn. in Schässburg (Segesvár). Hermannstadt, Krafft 1903. IX,
143 S. 4°.
2) E. Langer, Stundenrufe (Deutsche Volkskunde aus dem östlichen Böhmen 4,
66-70). Tuschlieder (ebd. 4, 70-72 180-191. 274—280. 5, 58-64. 194-200). Hochzeits-
tänze (ebd. 4, 245—248). Kirmeslieder (ebd. 4, 274. 5, 57 f.).
3) A. L. Gassinann, Das Volkslied im Luzerner Wiggertal und Hinterland, aus dem
Volksmunde gesammelt und hsg. Basel 1906. XI, 215 S. (Schriften der Schweizerischen
Gesellschaft für Volkskunde 4). — [Zu Nr. 62 vgl. noch Erk-Böhme Nr. 914: Der Tod
von Basel; zu Nr. Hl oben 15, 341: 'Peine Familie'; zu Nr. 113 oben 15, 271 Nr. 20:
'Wochenlied'. Der in Nr. 112 genannte Iwo ist natürlich der 1303 verstorbene heilige
Ivo von Orleans, der Advocatus pauperum ]
4) P. Fink, Kinder- und Volkslieder, Keime und Sprüche aus Stadt und Kanton
Schaffhausen, gesammelt von Elise Stoll. Zürich, Schulthess & Co. 1907. 93 S.
5) Gertrud Züricher, Das Ryti-Rössli-Lied, vorläufige Probe aus der im Werk be-
griffenen Sammlung schweizerischer Kinderlieder und Kinderspiele. Bern, A. Francke 1906.
39 S. 0,80 Mk.
6) Wr. Teichmann, Unsere elsässischen Volkslieder (Jahrbuch f. Gesch. Elsass-Loth-
ringens 20, 130—160).
Berichte und Bücheranzeigen.
209
denen viel Mittelgut steckt, stammen aus dem Ende des 18. und dem Beginne des
19. Jahrhunderts; auch ein paar Übersetzungen aus dem Französischen erscheinen.
Neue Aufzeichnungen in Baden machten Meisinger1), der 13 Nummern aus dem
Wiesentale gab, Pecher, der 22 Soldatenlieder mit den nötigen Nachweisen ver-
öffentlichte, und Kahle2), der mehrere erzählende Gedichte untersuchte. Aus
Schwaben stammen die von Beck (oben 16, 432—436) aus früheren Nieder-
schriften hervorgezogenen geistlichen und erotischen Stücke; Balladen aus dem
Münsterlande, aus Holstein und Schlesien haben Schönhoff (oben 16, 440f.),
Wisser (oben 15, 331—36) und Pradel3) mitgeteilt, während wir Wehrhan4)
eine Lese von 226 Kinderliedern aus dem Lippischen verdanken.
Wenn wir zum Schlüsse noch einen Blick auf die stammverwandten germa-
nischen Länder werfen, so haben wir zunächst des rüstigen Fortschrittes zu ge-
denken, den die schon wiederholt (oben 12, 371. 15, 464) gewürdigte grosse
niederländische Liedersammlung des trefflichen vlämischen Forschers Fl.
van Duyse5) seither genommen hat. Vom dritten und letzten Bande, der die
geistlichen Lieder vor und seit der Reformation enthält, sind 11 Lieferungen mit
den Nr. 475—695 erschienen und somit das Ganze dem Abschlüsse nahegerückt.
Wir kommen demnächst darauf ausführlich zurück. Da von den durch R. G h es-
quié re zusammengebrachten vlämischen Kinderliedern bereits oben (16, 117) die
Rede war, verweise ich nur noch auf verschiedene hergehörige Artikel in der
Genter Zeitschrift 'Volkskunde' (ed. P. de Mont & A. de Cock, 18. Jahrgang 1906)
und in den Utrechter 'Driemaandelijksche Bladen uitg. door de Yereeniging tot
onderzoek van taal en volksleven in Nederland' (ed. K. Later, 6. Jahrg. 1907).
Auch zum dänischen Volksliede sind zwei interessante Arbeiten erschienen.
Der Londoner Professor Ker6) sucht durch eine Betrachtung der formalen Be-
sonderheiten der dänischen Balladen zu ihrer Entstehung vorzudringen. Die ein-
fache oder doppelte Kehrzeile zeigt hier den ursprünglichen Charakter des Tanz-
liedes deutlicher als in den englischen und deutschen Liedern, sie stammt aber
nach Jeanroy (Origines de la poésie lyrique en France 1889) direkt aus der mittel-
alterlichen französischen Dichtung, deren Strophenbau in Dänemark begieriger als
in England oder Deutschland nachgeahmt und nicht bloss für ausländische Stoffe,
sondern auch für solche der eigenen Geschichte verwendet ward. In einer
methodisch wichtigen Arbeit nimmt E. v. d. Recke7) das schwierige Problem
i
1) 0. Meisinger, Volkslieder aus dem Wiesentale (Volkskunde im Breisgau hsg.
von F. Pfaff, Freiburg i. B., Bielefeld 1906, S. 135—148). — K. Pecher, Marschlieder
(ebd. S. 107-134). [Zu S. 113 vgl. Erk-Böhme Nr. 1318: 'Ein preussischer Husar'; zu
S. 122 Erk-Böhme Nr. 1428.]
2) B. Kahle, Über einige Volksliedvarianten (1. das Volkslied vom Eisenbahn-
unglück. 2. Die Mordtat des Soldaten. 3. Der heimkehrende Soldat. 4. Vor der Ein-
stellung). Alemannia n. F. 6, 49 56. Zu 1 vgl. Jungbauer, ZföVk. 12, 215 — 217.
3) F. Pradel, Schlesische Volkslieder (Mitt. der schles. Ges. f. Volksk. 14, 94—104).
4) K. Wehrhan, Lippische Kinderlieder (Zs. f. rbein. Volksk. 2, 55—73. 98 — 127).
5) F. van Duyse, Het oude nederlandsche Lied. Lieferung 30—42. 's Gravenhage,
M. Nijhoff 1905-1907 (= Teil 3, S. 1837-2668). ^ ' Die Lief.°l,90 Fr.
6) W. P. Ker, On the danish ballads (The Scottish historical review 1, 357-378.
1904) = Om de danske folkeviser (Danske studier 1907 1—24).
7) Ernst von der Recke, Nogle folkeviseredaktioner, bidrag til visekritiken.
Kobenhavn, Gyldendal 1906. 208 S.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 14
210
Boite, Brückner:
auf, aus den zahlreichen, von S. Grundtvig musterhaft gesammelten Varianten der
dänischen Kämpeviser ihre ursprüngliche Fassung zu rekonstruieren, schwierig
deshalb, weil die Entstehung der besten von ihnen in die Zeit von 1200—1350
fällt und die frühesten Aufzeichnungen erst aus dem 16. Jahrhundert stammen.
Grundtvig selber hat in seiner 1882 erschienenen 'Auswahl' die verschiedenen
Passungen meist so zusammengearbeitet, dass er aus jeder deren besondere Züge
aufnahm; v. d. Recke aber misst der Tradition, die willkürlich ändert, uniformiert
und ausschmückt, nicht soviel Wert bei wie anderen Kriterien, der inneren
Einheit, dem Zeugnis anderer skandinavischer Versionen, Metrum, Reime, der
Sprache usw., und untersucht namentlich die verschiedenen Balladen gemeinsamen
Strophen, um zu entscheiden, wo diese ursprünglich, wo formelhafte oder gedankenlose
Wiederholung sind. Daher enthält seine Rekonstruktion von 'Ribold und Guld-
borg' nur 48 Strophen gegen 105 bei Grundtvig. Im ganzen analysiert er zehn
von den nahezu 500 Nummern des Grundtvigscnen Werkes1) ausführlich, zunächst
vier mit der genannten Entführungsgeschichte in Verbindung stehende Lieder und
die doch wohl mit der deutschen Ballade vom grausamen Bruder (Erk-Böhme
Nr. 186) zusammenhängende von 'König Waldemar und seiner Schwester', der
eine an eine Grabschrift im Kloster Vestervig angeknüpfte, ganz unhistorische
Ortssage zugrunde liegt, dann Aage und Else, Sivard und Brynild, Jon Remorsens
Tod, Peters Tod und gibt von allen eine kritisch hergestellte Passung, die vielleicht
nicht in allen Einzelheiten unanfechtbar ist, aber jedenfalls grosse Sachkenntnis
und poetischen Sinn offenbart.
In England endlich ist eine ausserordentlich nützliche und handliche Be-
arbeitung von Childs trefflicher zehnbändiger Sammlung der englischen und
schottischen Volksballaden erschienen2), welche sämtliche 305 Nummern enthält,
aber meist nur eine Version jeder Nummer mitteilt, Einleitungen, Anmerkungen
und Glossar erheblich kürzt und den kritischen Apparat fortlässt. Die Einleitung
handelt bündig über den Begriff der Ballade, die Entstehungszeit und die Um-
wandlung der einzelnen Stücke in den Uberlieferungen, die Kehrzeile, stehende
Formeln, die Sänger u. a. Neue Versionen und Forschungen hat insbesondere
das 'Journal of american folklore' gebracht, während mir von dem Wirken der
1904 gegründeten Londoner Folksong Society bisher leider keine genauere Kunde
zukam.
Berlin. Johannes Bolt e.
Neuere Arbeiten zur slawischen Volkskunde.
I. Polnisch und Böhmisch.
Im letzten Jahresbericht (oben 16, 202) ist einiges bloss bibliographisch ver-
zeichnet, was näheres Eingehen verdiente. Zumal eine Publikation, die ganz in
die pommersche Landeskunde hineingehört, die 'Slowinzischen Texte', hsg. von
Dr. Friedrich Lorentz (Petersburg, Akademie 1906. VI, 150 S.).3) Slowinzen nennt
1) Zuletzt erschien: A. Olrik, Daninarks gamie folkeviser efter forarbeicler af
Svend Grundtvig udgivne 8, 1. Kobenhavn, Wro blew ski 1905. 128 S. 4° (enthält Nr. 467 bis
475, darunter Paris og dronning Ellen, David og Solfager, Allegast, Tistram o g Isold).
2) Helen Child Sargent and George L. Kittredge, English and Scottish popular
ballads, edited from the collection of Francis James Child. London, D. Nutt. Boston,
Houghton, Mifflin & co. 1905. XXXII, 729 S. Il Mk.
3) Vgl. auch Polívkas Besprechung, oben 16, 461—464,
Berichte und Bücheranzeigen.
211
man die Kaschuben im Kirchspiele Garde und Schmolsin im pommerschen Kreis
Stolp; im Garder Kirchspiel hat allerdings das Slowinzische (Kaschubische) nirgends
mehr Leben, auch nicht in Familienkreisen, weil es nur der ältesten Generation
bekannt ist; auch im Schmolsiner Kirchspiel wird es nur noch bisweilen in den
sog. Kliicken wirklich gesprochen; alles in allem mag es heute kaum noch
200 Menschen geben, denen das Slovinzische bekannt ist, und bald wird es, wie
z. B. seit 1898 in Vinthow, überall ausgestorben sein, da die slowinzisch Sprechenden
nur der älteren Generation angehören und seit fast einem halben Jahrhundert es
niemand mehr neu gelernt hat. Mit anderen Worten, es geht mit dem Slowin-
zischen, wie es dem 'Drawenischen' im Lüneburger Wendlande vor bald drei Jahr-
hunderten ergangen ist, und doppelt sind daher die Mühen von Dr. Lorentz zu
schätzen, der sozusagen im letzten Augenblick noch alles aufgeboten hat, um den
Sprachbestand aufzuzeichnen und vor dem sicheren, baldigen Untergang zu retten.
Auf seine ausführliche Grammatik dieser 'Sprache' (es handelt sich nur um lokale
Dialekte) lässt er jetzt Texte in Prosa und Versen folgen. Es war nicht leicht
sie zu sammeln; die wenigen Erzähler verfügen über ein gar geringes Repertoir,
aus manchen ist überhaupt zusammenhängende Rede nicht mehr herauszubringen,
sie verfallen immer wieder ins Deutsche; deutsch sind ja Gedanken, Satzverbin-
dung, Syntax, die nur einen polnischen Mantel, d. i. Laute und Formen, um-
hängen. Denn um einen altpolnischen Dialekt handelt es sich in der Tat; auf den
ersten Blick muten ja einen die Texte fremdartig an, das macht aber nur die
phonetische Transskription, die in aller Konsequenz angewendet, die Etymologie,
d. i. den Zusammenhang der Worte ganz verdunkelt; man denke nur, wie fremd
dem ungewohnten Deutschen streng phonetisch niedergeschriebene deutsche Texte
vorkommen. Sowie man sich hineingelesen hat in die vielen krausen, neu ' er-
fundenen Zeichen oder sich nur die Texte laut liest, merkt man sofort den Ursprung
und Zusammenhang der angeblichen „Sprache", richtiger des Dialektes.
Was aufgezeichnet ist, erinnert ganz an niederdeutsche Überlieferungen. Die
'Unterirdischen' (nur unter diesem deutschen Namen bekannt) spielen eine grosse
Rolle, dann Riesen, Mahren, Wehrwölfe; sogar Rübezahl, alle mit ihren deutschen
Namen natürlich; Hexen, die den Kühen Milch rauben, der Zauberer mit seinem
'Spiegel', in dem man den Dieb und die Hexe sieht; Glockensagen, brennende
Schätze, verwunschene Schlösser, die Müllerstochter und die Räuber, Diebes-
streiche, Schildbürgerstreiche, mit denen man die Nachbarn hänselt, Tiersagen
(Wolf und Fuchs). Vieles ist kurz und wiederholt sich fortwährend, doch gibt
es auch seitenlange Erzählungen, vom tapferen Schneider, vom Glasberg, Ton der
schweigenden Königin und den sieben Raben, ihren Brüdern, die sie vom Tode
retten1) u. a. Die Texte sind mehrfach gar dürftig. Freilich, die Verse sind es
ungleich mehr, kaum ein und das andere Volkslied, stark gekürzt, ist erhalten,
sonst nur Spottverse, auch gemischtsprachig, deutsch und slowinzisch. Die Samm-
lung beansprucht Interesse, meist aber der Sprache wegen, die trotz ihrer Germa-
nismen vieles Eigenartige, Alte bietet, im Wort- und noch mehr im Formenschatz,
der letzte Rest des alten Pommerschen, das v0m Polnischen einst nur wenig
abwich und förmlich auf einer Lautstufe desselben erstarrte. Die peinliche
Genauigkeit der Aufzeichnung, die für den Druck viele besondere Typen er-
forderte, kann nicht genug hervorgehoben werden.
1) Am häufigsten wird durch den beleidigten oder gekränkten 'Zauberer' der Be-
leidiger am Weiterfahren durch das Auseinanderfallen des Wagens, Unmöglichkeit der
Reparatur u. dgl., gehindert.
14*
'212
Brückner:
Bei dem regen Interesse, das gerade heute in Deutschland allen Runen-
fragen entgegengebracht wird (man vgl. die neuesten Arbeiten von R. M. Meyer,
Grienberger u. a.) darf hier ohne weiteres das Werk von Dr. Jan Leciejewski,
Runy i runiczne pomniki slowianskie (Runen und slawische Runendenkmäler.
Lemberg 1906. V, 207 S.) genannt werden. Man ist geradezu erstaunt, auf
slawischem Boden, bei Russen und Polen, in Pommern und Mecklenburg, keinerlei
Runen zu finden; man hätte sie unbedingt erwartet, von den Normannen in
Nowgorod und Kijew, bei den innigen Beziehungen, die vom 10. bis 12. Jahr-
hundert zwischen Polen, Pommern-Rügen und Skandinavien vorherrschten; wenn
nach Thietmar von Merseburg die slawischen Götterbilder in Radigost (im
Mecklenburgischen) Aufschriften trugen, so können es kaum andere als Runen
gewesen sein. Was 'gefunden' ward, ist leider alles als Fälschung befunden
worden, so die berüchtigten Prillwitzer 'obotritischen' Götterchen, so die Neu-
strelitzer vierzehn Runensteine, die Hagenow 1826 beschrieben hat. Nach einer
sehr guten Auseinandersetzung über Geschichte, Art usw. der nordischen Runen,
gibt Leciejewski eine Übersicht dieser u. a. gefälschter slawischer Runen, um nach
deren Ausscheidung zu den echten zu übergehen. Den Hauptplatz (S. 97—156)
nehmen die Mikorzyner Steine ein, heute in den Sammlungen der Krakauer
Akademie der Wissenschaft befindlich, ausgegraben 1855 und 1856 in Mikorzyn
im Posenschen durch den Besitzer des Rittergutes, Droschewski; im 9. Bande der
Jahrbücher der Posener Gelehrten Gesellschaft (1876) ist der eingehende Bericht
der mit der Untersuchung der Authentizität des Fundes betrauten Kommission
niedergelegt. Der eine der beiden Steine stellt eine menschliche Figur dar, die
in ihrer Linken ein Dreieck hochhält, mit Runen unter ihr; der zweite ein Pferd,
um das herum Runen eingeritzt sind. Bedenken an der Echtheit der Steine sind
gleich bei ihrem Funde geäussert und nie völlig einwandsfrei unterdrückt worden;
auch Leciejewski, der von der Echtheit überzeugt ist, ist dies nicht gelungen. Er
geht davon aus, dass 1855 niemand eine solche Kenntnis der Runen und des Alt-
polnischen gehabt haben kann, dass er hätte derartiges fälschen dürfen; aber das
Altpolnische, das er aus diesen beiden, nach ihm eng zusammenhängenden Steinen
herausgelesen hat, ist einfach unmöglich; und auch in den Runen selbst finden
Kenner gar bedenkliche Anlehnungen an die Zeichen, wie sie gerade in polnischen
Runenwerken, eines Lelewel z. B., vor 1855 veröffentlicht waren. Andere Denk-
mäler, die er heranzieht und erläutert, sind ganz offenkundige Fälschungen, wie
die böhmischen des Krolmus, oder sind ganz rätselhafte Sachen, die alles andere
eher als slawische Runen enthalten mögen; dass der bekannte Brakteat von
Wapno im Posenschen, heute in Berlin (erläutert von Müllenhoff und Henning),
polnisch sein soll, hat er auch nicht erweisen können. Man liest die Aufschrift
als Sabar; „Was ist aber mit Sabar anzufangen," fragt Müllenhoff und bleibt die
Antwort schuldig; Henning verstieg sich zu den Burgunden, als ob diese je in
Wapno gesessen hätten; Wimmer zählt das Stück nicht zu den sicher germanischen.
Der Brakteat ist einfach von irgendwoher nach Wapno verschleppt; Leciejewski
liest die Aufschrift neben dem Helm als Zabaw und bestimmt die Zeit als erste
Hälfte des 9. Jahrhunderts; wohl kommt der Name Zabaw im Evangelium von
Cividale (um 850) vor, aber diese Lesung ist mir zu unsicher, ich bleibe bei
Sabar und bei einer nordischen Herkunft des Stückes. Und das ist das einzige,
unanfechtbare Stück in der ganzen slawischen Runensammlung; alles andere ist
entweder gefälscht oder völlig problematisch. Ein slawisches Runendenkmal ist
somit auch durch diese Publikation nicht erwiesen, so sehr man auch ein solches
gerade auf pommersch-mecklenburgischem Boden erwarten durfte.
Berichte und Bücheranzeigen.
213
Eingetroffen ist, was oben 16, 199 als leider bevorstehend bezeichnet war,
die Warschauer 'Wisla' hat mit dem 19. Bande ihr Erscheinen eingestellt; der bis-
herige Herausgeber, E. Majewski, konnte sie krankheitshalber nicht weiterführen,
und Ersatz war nicht zu beschaffen, auch nicht durch die Lemberger ethno-
graphische Gesellschaft, die mit ihrem eigenen, aus Krakau zurückgekehrten 'Lud'
Yollauf beschäftigt ist. Das Schlussheft des 19. Bandes wurde im Juni 1906
herausgegeben. Es enthält den Schluss der slawischen Ortsnamen von Preussiseh-
Schlesien, die St. Drzazdzynski mit gleicher Sorgfalt, mit der Fülle von urkund-
lichen Belegen und der Unzahl von Parallelen aus slawischer Nomenklatur aus-
gestattet hat, wie die früheren Beiträge; im einzelnen kann freilich die Erklärung
schwanken, so könnte ich keinenfalls Zabelkau (1373 Sabulkow in polonico et in
vulgo Neuschurgerdorf) als poln. Zabkow (von zaba Frosch) mit 'anormalem
1-Einschub' deuten; die heutige Namensform Zabelkow streitet ebenso entschieden
dagegen. Interessant ist z. B. Ottonis villa, vulgariter Ocycy sive Ottyndorf
appellatur; man sieht, wie das patronymische Suffix ici (deutsch -ingen) einfach
possessiv fungiert; oder Silberkopf, eine hybride Bildung, übersetzt das slawische
Srebrnik (von srebro, Silber), nur ist ein (unberechtigtes) -kow auch noch zu -köpf
umgedeutet; man könnte vermuten, dass die ursprüngliche Form srebrniki (Silber-
leute) gewesen ist, mit jener in Deutschland ganz unbekannten, den Slawen desto
geläufigeren Bezeichnung des Ortes nach der Dienstleistung seiner Hörigen, z. B.
koniary Pferdehüter, zduny Töpfer usw. — Der zweite Aufsatz, mit drei Tafeln,
ist einem Kinderspiele gewidmet, Klötzchen verschiedener Grösse und Gestalt,
benannt zum Teil nach Schachfiguren, nachgeahmt Werkzeugen u. a., die die
Knaben von der hohlen Hand aufwerfen und fangen1), die bierki (denselben
Namen trägt auch, im ganzen Osten, bis nach dem Altai, eine Schafart, doch
glaube ich, nur durch Zufall). Es verdient nun hervorgehoben zu werden, wie
schwer es fällt, Ursprung, Verbreitung usw. des Spieles und seiner Namen fest-
zustellen; denn schon die alten sprichwörtlichen Wendungen des 16. und 17. Jahr-
hunderts beweisen, dass es einst nicht auf der Kinderwelt beschränkt, sondern
ein Hazardspiel der Alten war, das sich neben Würfeln behaupten konnte und
erst Karten den Platz räumte. Diesen Aufsatz von Liciriski begleitete H. L opa-
ci ri ski mit sprachlichen u. a. Ausführungen, leider seine letzte Arbeit; denn ein
unglücklicher Zufall raffte im August 1906 den unermüdlichen, vielseitigen, um
die Heimats- und Volkskunde ausserordentlich verdienten Forscher weg; der Tod
von Lopacinski bezeichnet eine durch niemanden wieder zu ersetzende Lücke,
namentlich verliert in ihm Lublin den berufenen Historiker von Stadt und Um-
gebung. Wir wünschen und hoffen, dass, wenn endlich Ruhe in dem heim-
gesuchten Lande eingekehrt ist, auch die 'Wisla' nach dieser unfreiwilligen Pause
wieder zum Leben erweckt wird. Vorläufig bleibt dies ein frommer Wunsch; die
allgemeine Aufgeregtheit und Unsicherheit ist jeglicher wissenschaftlichen Arbeit
feind, und speziell die Volkskunde leidet am empfindlichsten.
Aus dem Nachlass des unvergesslichen Begründers der Wisla, J- von Karlo-
wiez, wird sein grosses dialektisches Wörterbuch fortgeführt; es erschien davon,
im Verlage der Krakauer Akademie, der vierte Band, der Buchstabe P (Slownik
gwar polskich etc., Krakau 1906. 466 S. doppelspaltig), doch waltet über dem
Unternehmen ein Unstern; von den beiden Forschern die es zunächst fortführten,
ist der eine, Taczanowski, in der Mandschurei gefallen, der andere, Lopaciriski,
verunglückte in Lublin; so hat Prof. J. -toé in Krakau die weitere Redaktion
1) [Vgl. dazu oben 16, 64 und 17, 91.]
214
Brückner:
dieser volkskundlichen Quelle ersten Ranges übernommen; denn es ist kein
blosses Wortverzeichnis, sondern bietet durch ausführliche Auszüge erwünschte
Nachweise über Leben, Spiel, Kleidung usw. des polnischen Volkes aller Gegenden.
Dagegen kann das zweite hinterlassene Werk, das grosse Fremdwörterbuch, mit
seinen eingehenden etymologischen und kulturhistorischen Nachweisen leider nicht
zu Ende geführt werden; es ist zwar noch ein drittes Heft (Buchstabe L-M.
S. 333—411. Krakau 1905) herausgegeben, aber auch dieses ist eher nur ein
Torso; es fehlen wichtige Artikel, andere sind unvollständig ausgeführt. — Von
vergleichenden Arbeiten seien zwei genannt; eine ist der Mythologie und Märchen-
kunde entnommen: W. Klinger, Ambrozya i Styks a woda zywa i martwa (Ab-
handlungen der Krak. Akad. d. Wiss., philolog. Klasse 1906. 41, 313—380).
Ambrosia ist nicht, wie Roscher zu beweisen suchte, der Göttermet, sondern das
Lebenswasser und Nektar ist dasselbe, wie es bereits Buttmann und Bergk an-
gedeutet hatten; es werden die Argumente Roschers für die angebliche Naturbasis
der Himmelsspeisen widerlegt; neben dem Göttertrank gab es eine Götterspeise,
die Äpfel der Hesperiden (der Baum wächst ja neben dem Quell des lebenden
Wassers); die himmlischen Verhältnisse, blosse Idealisierung von irdischer Speise
und Trank, sind dann auch in das Seelenheim projiziert worden, deren kühles
Wasser ebenfalls Unsterblichkeit verleiht. Wie dem Lebensbaum der Todesbaum in
der hebräischen Schöpfungslegende (in einer ursprünglicheren Fassung; die er-
haltene verwischt beides) entgegentritt, so ist auch der Styx nur das Gegenteil
der Ambrosia, aber frühe erfolgte die Vermischung des Styx mit der Lethe, die
doch ebenso wie der Cocytus, nur eine Abart, Abzweigung, des Styx selbst ist;
dann erfolgte auch eine Lokalisierung des Styx auf der Erde (zumal in Arkadien)
und eine Vermischung mit dem Acheron, der ursprünglich nur das Wasser war,
über das die Seelen der Abgeschiedenen wandern müssen; den Äpfeln des Lebens-
baumes stehen die Granatäpfel des Aidoneus als Todesfrucht gegenüber. Die
modernen Erzählungen vom Lebens- und Todeswasser beruhen nur auf den
antiken mythischen Konzeptionen. Klingers lichtvolle, wohldokumentierte Dar-
legung wirkt völlig überzeugend. — Gleiches erkennen wir der Abhandlung von
St. Ciszewski über die Couvade zu (Kuwada, studjum etnologiezne. Abhandl.
der Krak. Akad., histor. Klasse 1906. 48, 84—142). Im Gegensatze zu den
phantastischen Annahmen einer Überwindung des Matriarchates durch das
Patriarchat, die sich in dieser sonderbaren Sitte aussprechen sollte, wird durch
eine Fülle von Beispielen aus aller Herren Ländern erwiesen, dass es sich bei der
Couvade um zweierlei handelt: . einmal um prophylaktische Massregeln, im Ver-
halten von Mutter, Vater, sogar von dritten Personen, die mit ihnen in Berührung
kommen, die das Gedeihen der Nachkommenschaft (rasches Wachsen, Gehen,
Sprechen usw.) sichern sollen und die einfach dem weiten Gebiete der Sympathie-
mittel entnommen sind; andererseits um eine Parodie des Geburtsaktes; wie der
Vater das Empfangen verursacht, soll er auch an der Geburt selbst beteiligt
werden, und das kann er nur erzielen, wenn er die realen Schmerzen der
Mutter usw. simuliert. Die Beweisführung ist evident und bringt die Ansichten
eines Starcke (Primitive I^amilie), Ploss u. a. zu ausschliesslicher Geltung; die
Belege sind ausserordentlich reichhaltig, namentlich ist das gesamte slawische
Gebiet in schier unheimlicher Fülle herangezogen. — Von allgemeineren Dar-
stellungen sei noch das treffliche historiosopbische Studium von J. Kochanowski,
Die Menge und ihre Führer (Tiurn i jego przewódcy, Warschau 1906. 60 S.)
genannt; da es aber sowohl in den Annales de Sociologie wie nachher in deutscher,
italienischer u. a. Übersetzung erscheinen wird, sei hier auf diesen Niederschlag
Berichte und Bücheranzeigen.
215
von Beobachtungen in anima vili (während des Belagerungszustandes in Warschau)
nur aufmerksam gemacht; die Rolle einzelner Elemente und Motive bei den ge-
waltsamen Umwälzungen aller Zeiten wird klar auseinander gehalten.
Yon volkskundlichen Publikationen sei zuerst eine kleinrussische genannt,
weil sie viel polnisches Material bringt, die Studie von Dr. J. Franko, Do
istorii ukrainskoho wertepa 18. wika (Zur Geschichte des ukrainischen Krippen-
spieles des 18. Jahrhunderts), Lemberg 1906. 152 S. (aus den Denkschriften der
Szewczenkogesellschaft Bd. 71_73). Das polnische und russische Krippenspiel
(szopka-wertep), hat heute keine Parallele mehr im Westen, aus dem es doch
gekommen ist; es beruht auf einer eigenartigen Verquickung des Marionetten-
theaters mit seinen ganz weltlichen, komisch-satirischen Szenen, und eines Weih-
nachts-, Herodes- und Dreikönigspieles. Von diesem Spiel ist die 'Krippe' im
engeren Sinne (poln. jaselka) völlig zu trennen, die in der Kirche selbst, in
blosser Ausstellung stummer Figuren (der Krippe und ihrer Beigaben) stattfand,
wobei die Andächtigen fromme Weihnachtslieder sangen; die jaselki und szopka,
Krippe und Krippenspiel, werden mehrfach unkritisch zusammengeworfen, obwohl
sie nichts Gemeinsames haben. Der Verfasser sammelt dann Zeugnisse und Texte
des ukrainischen Krippenspieles; sie gehen nicht über den Ausgang des 17. Jahr-
hunderts zurück, gegenteilige Angaben über höheres Alter (16. Jahrhundert) sind
nur irreführend.
Die polnische archäologische und numismatische Literatur müssen wir übergehen ;
wir nennen höchstens die trefflichen Reproduktionen des berühmten Michalower
Goldfundes ('skythisch'), die im Auftrage des Gräflich Dzieduschyzkischen
Museums in Lemberg der Archäolog Hadaczek in Krakau 1904 (23 Tafeln und
30 S. Text) herausgab; die numismatischen Beiträge z. B. eines Mar. Gumowski
in den Krakauer Abhandl., histor. Kl. 1906. 48, 179—259 (Vollständiges Ver-
zeichnis aller polnischen Münzfunde), Studien von demselben über die Wenden-
pfennige u. a. Die Prähistorie ist besonders berücksichtigt in der neuen illustrierten
Geschichte Polens von Prof. W. Czermak (Illustrowane Dzieje Polski, l. Band
Wien 1905. 337 S., nur bis zum 10. Jahrhundert reichend). Ebenso übergehen
wir Kunstgeschichtliches, wofür der neue Band der Berichte der kunsthistorischen
Kommission in Krakau (VII, 4. 1905, mit 138 Abb.) reiches Material liefert
(Untersuchungen von Sokolowski über die rotrussische Kirchenarchitektur,
sowie über die mittelalterlichen inkastellierten Kirchen, die für Polen so
typisch waren, dass hier Kastell Kirche bedeutet; Handschriftenminiaturen; über
den poln. Marmor, in Checiny usw.); doch verdient eine neue Publikation, Muzeum
Polskie (bisher 5 Hefte), besonders genannt zu werden, die hauptsächlich die
Krakauer Kunstschätze reproduziert und erläutert; in der Regel ist je ein Heft
je einem Maler oder Bildhauer gewidmet. — yon historischen Publikationen sei
die treffliche Monographie von J. Warminski, Andrzei Samuel i Jan Seklucjan
(Posen 1906. XVI, 550 S.), hervorgehoben, die die Anfänge des Protestantismus
in Posen, die Geschichte seiner ersten Verkünder, die zu Herzog Albrecht nach
Preussen entwichen, und die literarische Tätigkeit, die Seklucjan von Königs-
berg aus für diese Propaganda entfaltete, abschliessend darstellt und alle Fabeln, die
zuletzt noch Wotschke z. B. in der Posener historischen Zeitschrift vertrat, für
immer beseitigt; ein Werk rastlosen Fleisses, scharfer Kritik und belebter, zugleich
möglichst unparteiischer (der Verf. ist katholischer Geistlicher) Behandlung des
spröden Stoffes; es ist noch ein Beitrag zum Jubiläum des grossen Protestanten,
Mik. Rey, des 'Vaters' der polnischen Literatur. Seinen Namen trug auch die
Tagung, zu der anfangs Juli 1906 in Krakau polnische Literarhistoriker und
216
Brückner:
Philologen sich einfanden, die neben Vorträgen und Berichten über den Stand
der Forschungen Beschlüsse, zumeist über die Herausgabe eines vielbändigen
enzyklopädischen Werkes über Polen, Land und Leute, Kultur und Geschichte,
Literatur und Philologie, gefasst hat; bereits Anfang 1908 wird mit der Druck-
legung begonnen. Den Inhalt historischer Zeitschriften (es sind ihrer zwei,
die Lemberger Vierteljahrsschrift und die Warschauer Revue), anderer Monats-
schriften, historischer Publikationen übergehen wir; doch sei als interessanter
Beitrag zu deutschem höfischen Leben um 1720 erwähnt das im Lemberger
Przewodnik Naukowy i Literacki (Anzeiger von Wissen und Literatur, Bd. 34.
1906) gedruckte Tagebuch des Przebendowski, der den nachmaligen August III.
von Sachsen und Polen auf seiner Reise durch die westeuropäischen Residenzen
begleitete und über jeden Besuch in Bayreuth usw. genau berichtete. Dann das nach-
gelassne Werk von S. Morawski, Die polnischen Arianer (Arjanie Polscy, Lem-
berg 1906. XXVII, 564 S. mit Illustrationen), das auf Grund archivalischer, ge-
richtlicher und geistlicher Protokolle einen trefflichen Einblick in das Leben des
17. Jahrhunderts, die Unsicherheit und Überfälle, die nahenden Glaubens-
verfolgungen gewährt. Als Pendant dazu diene eine Probe aus dem Martyrologium
des polnischen Bauers, die M. Handelsman aus dem Autograph herausgab:
Zywot chlopa polskiego na poczatku XIX wieku (Leben eines polnischen Bauers
zu Anfang des 19. Jahrhunderts), Warschau 1907. 101 S. —Von der altpolnischen
Bibliographie, dem monumentalen Werke von K. Estreicher, ist ein neuer Band
erschienen, der Buchstabe L (Krakau 1906. 550, IX S., doppelspaltig). Ungleich
wichtiger für unsere Zwecke ist eine andere eben abgeschlossene Bibliographie,
Prof. L. Pinkels Bibliografia Historyi Polskiej (B. der p. Geschichte, Lemberg-
Krakaul891—1906. XLVIII, "2150 S., doppelspaltig). Ethnographie, Archäologie usw.,
sind hier vollständig zusammengestellt, die Volkskunde nach dem Schema von
K. Weinhold behandelt; es sind kaum 34 000 Nummern im ganzen, aber manche
Nummer enthält viele Hunderte Positionen (z. B. Verzeichnis der Beschreibungen
aller kirchlichen oder Profanbauten unter je einer Nummer, mit alphabetischer
Ordnung der Belege). Auf einem sehr beschränkten Raum ist eine Riesenfülle
von Material zusammengedrängt, was nur durch stärkste Kürzung von Titel und
bibliographischer Angaben, sowie durch engen Druck erreicht werden konnte;
gegenüber der ausserordentlichen Ausführlichkeit von Zibrts böhmischer Biblio-
graphie mutet die polnische einen oft wie das blosse Skelett einer Bibliographie an.
Trotzdem bleibt sie eine hochverdienstliche Leistung, die das Studium der Ethno-
graphie usw. ausserordentlich erleichtert und die bequemste, wenn auch knappste
Übersicht schafft. Von dem reich illustrierten Werke über polnische Orden und
Ehrenzeichen ist das Schlussheft erschienen (H. Sadowski, Ordery i oznaki
zaszczytne n Polsce, Warschau 1907, S. 95—194, gr. 4°). Die Adelslexika von
Boniecki u.a., von denen oben 16, 203 die Rede war, sowie das grosse Wörter-
buch der polnischen Sprache, das zum ersten Male auch die Volkssprache berück-
sichtigt, werden trotz aller Unruhen in Warschau regelmässig weitergeführt
(letzteres mit Heft 22 bis poko- reichend). — Prof. Ant. Kaiina, der Vorsitzende
der Lemberger ethnographischen Gesellschaft, die von neuem den Lud (Volk) heraus-
gab, ist 1906 verstorben. Der Gesellschaft und Zeitschrift nahm sich Prof. Kallen-
bach an; unter seiner Redaktion erschienen die letzten Hefte von Band 11 und
zwei neue von Band 12; sie enthalten Beiträge von Bruchnalski (Zur Geschichte
der polnischen Volkskunde); vergleichende Aufzeichnungen über Zauberzahlen
(3 und 9), über Volksmedizin; Darstellungen von Fest- und Hochzeitsbräuchen
(Czaja, über den Fasching u. a.); Texte aus alter und neuer Zeit u. a. Der neueste
Berichte und Bücheranzeigen.
217
Band der Krakauer Materialien der anthropologisch-archäologischen Kommission
der Akademie, Krakau 1906, enthält aus dem Nachlass von 0. Kolberg ethno-
graphische Materialien aus Oberschlesien, sowie besonders ausführliche Beiträge zur
Ethnographie Grosspolens (d. i. Posen), 139 Nr. mit fünf kolorierten Tafeln.
Von dem oben genannten Dr. J. Franko sei noch ein wichtiger Beitrag zur
Hagiographie genannt: Der heilige Klemens in Cherson (kleinruss., Lemberg 1906.
317 S. Aus den Denkschriften der Szewczenkogesellschaft, Bd. 46—68). In
zwölf Kapiteln wird unser Wissen über den wirklichen Clemens Romanus, über
den Roman des Pseudoklemens und seinen Nachhall in der späteren christlichen
Literatur (Eustachius-Placidus, sowie die Novelle vom geduldigen Weibe, in ihren
vier Typen; das Motiv der Liebeswerbung mit Hilfe der Magie, Legenden von
Cyprian u. a.) besprochen. Dann Klemens als Papst und die Legende von
Theodora und Sisinius, wie der Papst den blinden Heiden heilt und bekehrt,
woher diese Legende stammt. Es folgen das angebliche Martyrium des Klemens
in Cherson und Ancyra, Jugend und Widersprüche dieser Angaben, die alten
Quellen völlig fremd sind; Untersuchung der Legenden über die chersonesischen
Märtyrer, Zeit und Ziel derselben; das Wunder des Klemens mit dem Knaben auf
dem Meeresgrande, der seiner Mutter heil zugeführt wird. Den Mittelpunkt der
Beweisführung bildet die Wiederauffindung der Klemensreliquien durch den
Slawenapostel Cyrill um 860. Franko sucht nachzuweisen, dass dies eine jüngere
Erfindung ist, dass Cyrill selbst sich dieses Verdienst nicht angemasst hätte. Vgl.
den Bericht im Archiv für slawische Philologie 28 über diese Ausführungen, die
mich durchaus nicht überzeugt haben. Der Klemenskultus in Mähren und Russland
sowie Spuren des Klemenskultus in Westeuropa bilden den Abschluss des inter-
essanten, lehrreichen Werkes, dem Abdruck slawischer und griechischer Texte
beigegeben ist. Freilich bleibt wegen der Lückenhaftigkeit des Materials manches
recht problematisch.
Mit den Namen Lopaciñski und Kaiina ist der Nekrolog von 1906 leider
nicht erschöpft; es starb in Krakau Prof. Piekosinski, der unermüdliche Er-
forscher polnischer Heraldik, Numismatik, Kulturgeschichte (Stadt- und Zünfte-
ordnungen, Urkunden, Gerichtseintragungen des Mittelalters); in Mähren der eigent-
liche Begründer der mährischen Volkskunde, Frant. Bartos, der Herausgeber des
grossen mährischen dialektischen Wörterbuches, Sammler mährischer Lieder und
Bräuche, ein unermüdlicher Popularisator der Volkskunde für Jung und Alt; auch
diese Lücke ist nicht zu ersetzen.
In der böhmischen Literatur gilt es zuerst, eine neue periodische Publikation
vorzuführen. Die Gesellschaft des böhmischen ethnographischen Museums gab
bisher einen Sbornik (Sammelband) heraus, über den wir stets berichtet haben,
zuletzt über den 10., mit den ausführlichen und interessanten Märchenstudien von
Prof. Polivka; der 11. enthält eine stattliche Sammlung von Paul Socháñ, Schnitt-
muster (mit 24 Tafeln) und Hochzeit in Lopasov im Neutraschen Komitat, bei den
Slowaken. Seit 1906 veröffentlicht die Gesellschaft eine Monatsschrift, deren erster
Jahrgang abgeschlossen vorliegt: Národopisny Vëstnik Ceskoslovansky (Böhmischer
ethnographischer Anzeiger; Redaktion J. Jakubec, A. Kraus, J. Polivka), Prag 1906,
10 Hefte, 304 S. Es ist durchaus kein l^onkurrenzunternehmen gegenübei dem
Lid; es verfolgt andere Ziele auf anderen Wegen. Es gibt sich als Fachzeit-
schrift mit längeren Aufsätzen und Studien, ein oder zwei im Hefte, mit einer
geradezu musterhaften Bibliographie, die alles auf Volkskunde im weitesten Sinne
des Wortes, in allen Ländern und Zungen, Was eben erreichbar war, zusammen-
stellt (oft mit Inhaltsangaben und kritischen Bemerkungen); daneben einzelne
218
Brückner:
ausführliche, kritische Besprechungen. Als sehr verdienstlich sei bezeichnet, dass
eine genaue deutsche Inhaltsangabe aller Aufsätze und Rezensionen dem Jahr-
gange beigegeben wurde; der Lid bringt nur kurze französische Sommaires (wie
sie die Wisla gab). Aus dem Inhalte dieses ersten Bandes seien hervorgehoben,
nach der Programmerklärung von V. Tille, die eingehenden kritischen Bemerkungen
zu dem Werke von Rauchberg über den nationalen Besitzstand in Böhmen und
über die Bedeutung der Volksbewegung in Böhmen im Jahrzehnt 1890—1900, die
vor einseitigen, übereilten Schlüssen warnen. Die ausführlichste Studie (mit
Illustrationen) widmete K. Chotek dem slowakischen Cerovo im Elontaer Komitat;
es zieht sich fast durch alle Hefte und erschöpft aus dieser beschränkten Stätte
alles, was über Leben, Bauten, Bräuche, Aberglauben, Feste, Spiele, Lieder und
Melodien, über die sozialen und sanitären Verhältnisse, Lage und Geschichte des
Dorfes sich erkunden liess; nur von der Sprache ist abgesehen. Prof. Polivka
stellt die Erfahrungen zusammen, die man in Österreich durch die sog. Balkan-
kommission der Wiener Akademie und in Russland durch Private mit dem
Phonographen im Dienste der Volkskunde gemacht hat; unsere Erwartungen be-
züglich dialektologischer Ergebnisse sind nicht recht erfüllt; dagegen bewährte er
sich vorzüglich, was Melodien anbelangt, so dass man von der Willkür der Auf-
zeichner, die die Melodien nach ihrem Besserwissen zurechtstutzen, unabhängig wird.
Mit Absicht bevorzugt der 'Anzeiger' allgemeine Themen, beschränkt sich nicht
ausschliesslich auf Böhmisches, wahrt sich einen weiteren Blick und Zusammen-
hang; so schildert der Russe Jacimirskij den Ursprung der Künste, vorläufig der
tonischen, nach alten und neuen Theorien, von Bucher, Anickov u. a. So pflegt
der Anzeiger vor allem auch die Kritik; aus der Reihe eingehender Besprechungen
seien nur zwei genannt, eine von F. Vykoukal, die dem bedeutenden Werke von
A. John, Sitte, Brauch und Volksglaube im deutschen Westböhmen, trotz aller
Einwendungen im einzelnen, volle Gerechtigkeit widerfahren lässt, und die von
Prof. Ni ed eri e über Peisker. Peisker hat in einer ausserordentlich anregenden
Schrift 'Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren und Germanen'
(Abdruck aus der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3. 1905)
seine von den gangbaren völlig abweichenden Ansichten formuliert und begründet;
ihm sind die Slawen immer nur, wie schon ihr Name lehrt, Sklaven der Ger-
manen oder Turkotataren gewesen, verurteilt zu dem erniedrigenden Ackerbau,
während die fremden Herren Jäger und Hirten verblieben, den Slawen eigene
Viehzucht unmöglich machend; ihm wirken diese Verhältnisse noch in den Stamm-
sagen (vom Bauern Przemysl in Böhmen) und in den Einsetzungszerimonien des
Herzogs an dem Kärnthener Feldstein nach, die auf einstige erfolgreiche Revolution
slawischer Bauern gegen fremde Suppanen-Hirten hinweisen, sowie noch in den
sozialen Verhältnissen der Meissener wie der steierischen Suppane des 12. und
13. Jahrhunderts; auch grosses philologisches Rüstzeug, namentlich die uralten
Lehnwörter im Slawischen, aus dem Westgermanischen, nicht Gotischen, wird
hierzu aufgeboten. Niederles Kritik schränkt diese Ausführungen erheblich ein.
In den Rezensionen ist gerade die deutsche Literatur stark berücksichtigt. Das
Januarheft des 'neuen Jahrganges hält sich an dasselbe Schema. Niederle be-
richtigt auf Grund neuen, zuverlässigen Materials seine slowakische Sprachgrenzen
(die der Sbornik 9 gebracht hatte); es folgt eine eingehende Studie über den
Rhythmus der böhmischen Volkslieder, der, gegen die Behauptungen anderer, als
vom Wortakzent unabhängig erwiesen wird; nach allerlei Rezensionen folgt eine
erstaunlich reiche Bibliographie von Märchen, Schwänken, Legenden usw. Aus
der neuen Prager Zeitschrift (in deutscher Sprache) 'Cechische Revue' (1907) sei
Berichte und Bücheranzeigen.
219
ein trefflich orientierender Aufsatz von Niederle 'Das letzte Dezennium der
böhmischen Archäologie' genannt, der den entgegengesetzten Standpunkt, den Pic
gegenüber den Forschungen von Buchtela und Niederle vertritt, scharf beleuchtet;
sowohl Niederle wie Pic sehen in dem Burgwall bei Stradonice an der Beraun
mit seinen reichen Fundschätzen das Marobudum des Markomannen Marbod
(der darüber handelnde Teil in dem grossen Werke von Pic über Böhmens Alter-
tümer erschien 1905 in französischer Übersetzung: Le Hradischt de Stradonitz en
Bohême par J. Pic, ouvrage traduit du tschèque par Le Dechelette, Leipzig 1906).
— L. Niederles Slawische Altertümer (Slovanské Starozitnosti) haben einen be-
deutenden Schritt vorwärts getan; der erste Band 'Ursprung und Anfänge der
Slawen' ist abgeschlossen (XV und 528 S.), und vom 2. Teil 'Ursprung und An-
fänge der Südslawen' (d. i. die Geschichte ihrer Einwanderung auf dem Balkan)
ist 1906 das erste Heft (280 S.) erschienen; Kap. 1 behandelt Land und Leute
des vorslawischen Balkan; Kap. 2 die bisherige Darstellungen des Slawentums auf
dem Balkan (autochthonische und Einwanderungstheorie); Kap. 3 erweist das Vor-
dringen einzelner Slawen an die Donau und Sau schon in früher Zeit, was teil-
weise angefochten werden kann; Kap. 4 behandelt die Einfälle und Niederlassungen
im 5. bis 7. Jahrhundert, Kap. 5 die Heimat und Herkunft der Serbochorwaten.
Die stupende Gelehrsamkeit, das kritisch nüchterne Verfahren, die Vorurteils-
losigkeit des Verfassers kann nicht genug gerühmt werden; nun endlich wird
Safari ks Darstellung, auf die wegen Mangels eines zusammenhängenden Werkes
immer zurückgegriffen werden musste, völlig überholt; dass dem Archäologen vom
Fach die archäologischen Ausführungen bestens gelingen, ist selbstverständlich;
seine kühle Zurückhaltung gegen alle archäologischen Romane und sein begrün-
detes Misstrauen gegen alle voreilige Konstruktionen, mit denen man uns regaliert,
sei besonders betont; für den Balkan steht das archäologische Kapitel noch aus.
Da wir schon bei alter Geschichte sind, sei gegen unseren Grundsatz das
deutsche Werk des böhmischen Historikers Jos. Pekar, Die Wenzels- und
Ludmila-Legenden und die Echtheit Christians (Prag 190G. 443 S.), hier erwähnt.
Auf Grund des Chronisten Christian, der kein Pseudochristian des 14. Jahrhunderts
ist, sondern im 10. Jahrhundert, also lange vor Cosmas schrieb, hatte ich den
Bericht über die Libussa des Cosmas, den Bruderstreit usw. als eine Erfindung
des Cosmas, nicht als echte böhmische Volkssage, hingestellt; Pekar hatte zuerst
Echtheit und Alter des Christian in einer Reihe böhmischer Publikationen er-
wiesen. Er fand Gegner, die ihn namentlich deutsch bekämpften, Bretholz, Bach-
mann u. a.; um nun selbst vor dem deutschen historischen Publikum zu Worte
zu kommen, hat er die äusserst umfassende, sorgfältige kritische Untersuchung
(mit mehreren alten Texten) veröffentlicht, gegen die die ganz unbegründeten Ein-
wände seiner Gegner wohl nicht länger aufkommen werden. Die Echtheit
Christians erweist die Unechtheit der Libussasagen, zu deren Retter sich Schreuer
vergebens aufgeworfen hat. Ich behauptete, dass Libussa ein Mannsname war,
und fand jetzt wirklich einen böhmischen Kleriker dieses Namens im 14. Jahr-
hundert. — Aus dem ersten Heft der böhmischen historischen Zeitschrift (13, 1.
Prag 1907), die die Professoren Göll und Pekar herausgeben, sei die Abhandlung
von Zd. Nejedly, dem trefflichen Kenner der tonischen Künste, über 'Die Reform
des Kirchenliedes durch Hus' hervorgehoben; in seiner Geschichte des böhmischen
Kirchenliedes bis Hus (I) hatte er die Resultate ausführlich bewiesen, die er hier
kurz zusammenfasst, um daran die Fortsetzung zu knüpfen. Ihm verdanken wir
die völlige Aufklärung eines Feldes, auf dem ganz unbegründete Tradition den
Sachverhalt völlig entstellte: es gab kein Kirchenlied vor Hus, eine nationale
220
Brückner:
Hymne bloss seit dem 12. Jahrhundert, zu der im 13. und 14. Jahrhundert je ein
Lied hinzukam, ausserdem im 14. Jahrhundert von den Passionsspielen noch eins,
und in Deutschland war es nicht anders; die Prager Deutschen z. B. hatten kein
deutsches Kirchenlied; die überlieferten religiösen Lieder waren nicht für Volk und
Kirche, sondern für die Erbauung des einzelnen bestimmt. Eine Änderung brachten
die Hussiten und böhmische Brüder, deren Einfluss sich auch das deutsche
protestantische Kirchenlied nicht entzogen hat; doch darüber handelt Nejedly erst
in der Fortsetzung. Fr. Mares schildert das Auftauchen der Wiedertäufer in
Böhmen und Mähren, wie sie aus Böhmen vertrieben in Mähren sich festsetzten
und erst vor der Reaktion nach der Schlacht am weissen Berge nach Ungarn und
der Slowakei auswichen, wo sie die reiche, eigenartige 'Habaner Majolika' ge-
schaffen haben, mit der sie die Länder der Wenzelskrone und Ungarns über-
schwemmten; doch erfahren diese Ausführungen eine Korrektur durch den Aufsatz
von P. Sochañ im böhmischen Ethnographischen Anzeiger 1, 135—143, der
nachweist, dass die Habaner (d. i. Hafner! deutsch) Wiedertäufer die Kunst der
Majolika nicht mit sich aus der Schweiz oder den Niederlanden mitgebracht, sondern
sie erst in der Slowakei von den böhmischen Exulanten, von den Brüdergemeinden,
erlernt und nur weiterverbreitet haben; der treffliche Ton und die Befähigung der
Slowaken für Ornamentierungen haben diesen Erzeugnissen den Weg gebahnt. —
Einmal auf dem Gebiete der Technik angelangt, nennen wir einschlägige Arbeiten
eines gelernten Bierbrauers, Otakar Zachar, dem wir neben zahlreichen Beiträgen
in der Zeitschrift für chemisches Gewerbe, neben einer populären Skizze über
'Handwerker und Zünfte' in Kladno in alter Zeit (bei Kladno liegt seine Brauerei),
1906, Studien und Publikationen über böhmische Alchemie und Alchemiker ver-
danken; dem Abdruck altböhmischer, alchemistischer Traktate ('Der gerechte Weg
in der Alchemie', 'Des Raimund Lullus Praktik des Testamentes', Prag 1904)
und der Studie (im Anzeiger der böhm. Gesellschaft der Wiss. 1902) über den
jüngeren Bavor Rodovsky von Hustifan folgt jetzt 'Laurentius Ventura de ratione
conficiendi lapidis philosophici 1571' in der böhmischen Übersetzung des Rodovsky
vom Jahre 1585, nach einer Leidener Handschrift (Kladno 1907. XV, 210 S.).
Die Ausgaben von Zachar zeichnen sich dadurch aus, dass in umfassenden Ein-
leitungen der Leser in die auf den ersten Blick so befremdende Gedankenwelt
dieser das Lebenselixier und den Stein der AVeisen unermüdlich suchenden, dar-
benden, keuschen, ernsten Männer eingeführt wird, die sich für das Misslingen
ihrer Experimente in einer Phantasiewelt ihrer eigenen Erfindung schadlos hielten.
Zachar beabsichtigt die ganze einschlägige altböhmische Literatur in ihrem Reich-
tum (Rudolf IL in Prag!) uns nach und nach vorzuführen, d. i. ein aufgegebenes
Geschichtsfeld neu zu eröffnen.
Der'Cesky Lid' unter der kundigen, umsichtigen Redaktion von Prof. C. Zibrt
hat seinen 15. Jahrgang beschlossen und den 16. im trefflichen Gedeihen eröffnet.
Nochmals sei der populäre Charakter dieser Zeitschrift betont, die das Interesse
der Menge für das heimische Altertum und Volkstum beleben und erhalten soll.
Diesem Ziel6 dient in erster Reihe der reiche bildnerische Schmuck; Illustration
ist erfolgreicher, wirkt lebhafter als blosser Text, und in richtiger Erkenntnis
davon wendet sich der Lid gerade mit seinen Bildern an die Menge. Bauten und
Trachten nach alten Holzschnitten oder modernen Aufnahmen sind in erstaun-
licher Fülle über jedes Heft ausgestreut; die Mannigfaltigkeit, Abwechslung des
Inhaltes wird durch die Kürze der Texte, die sich daher oft über viele Hefte
hinziehen müssen, erzielt. Aus dem Inhalte sei zuerst ein alter Text hervorgehoben;
die verloren geglaubte Handschrift des Jos. Gallas über die Eigenart der
Berichte und Bücheranzeigen.
221
mährischen Wallachen (d. i. Hirten) im Prerauer Lande ist in den reichen Samm-
lungen des Lemberger Kanonikus, A. Petruszewicz, gefunden und wird hier ab-
gedruckt. Die 'arkadische Natur' dieses Hirtenvolkes "(wir sind ja im sentimen-
talen 18. Jahrhundert), sein Leben, Lieder, Sprache, Glaube usw. wird von einem
trefflichen Kenner, allerdings in idyllischem Schimmer, beleuchtet, mit eigenen
Zeichnungen der alten Trachten. Hierzu passen Beiträge aus der Korrespondenz
der trefflichen Erzählerin aus dem Leben und den Überlieferungen des böhmischen
Volkes, der Frau Bozena Nemcová. Alte Texte druckte Zibrt selbst in Fülle:
das Fragment einer böhmischen Überarbeitung des Dedekindschen 'Grobianus'
aus dem Buche des Tesak Mosovsky von 1601 (in seinem 'Frantrecht' hatte er
das 'Grobiansrecht' nach einem Druck vom Ende des 17. Jahrhunderts veröffent-
licht); die ergötzlichen Etymologien böhmischer Worte des Benesovßky von 1587;
das Interessanteste ist der vollständige Abdruck einer ausführlichen handschrift-
lichen Reimerei aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Nach dem Satze „Je länger,
desto schlimmer wird es" bespricht der Anonymus satirisch strafend alle Verhält-
nisse, namentlich bei den Handwerkern; er lässt deren Vertreter ihre Klagen über
die schlechten Zeiten und grossen Lasten anstimmen, worauf ein 'Einfältiger' in
begründete Vorwürfe über die Handwerker selbst, über ihre Unredlichkeit, Faul-
heit usw. ausbricht, um von einem 'Wortkargen' zurückgewiesen zu werden. So
entrollt sich ein recht buntes Bild des Treibens in den Zünften und auf den
Märkten; aus der Zeit des tiefen Verfalles der böhmischen Literatur ist dies eines der
lebhaftesten und interessantesten ihrer Erzeugnisse. Neben diesen grösseren Auf-
sätzen eine Fülle kleinerer Beiträge aus dem Volksmunde, Lieder (mit Melodien)
und Tänze, Sagen und Märchen; die vollständige Nomenklatur z. B. der böhmischen
Mühle, der Vogelwelt (mit den einschlägigen Sagen und Scherzen, Deutungen der
Rufe), botanische; Beiträge zur Volksornamentik in Web- und anderen Mustern;
die Volksküche (als Gegenstück dazu Zeichnungen der alten Küche nach den
Titelblättern der Kochbücher des 16. Jahrhunderts); urkundliche Beiträge,
Korrespondenzen aus alter Zeit (17. Jahrhundert) und eine Fülle kleiner Mit-
teilungen, wie bibliographischer Berichte. Unter den Illustrationen sei besonders
hervorgehoben der „Block volkstümlicher Lieder und Sprüche", mit Zeichnungen
von Ales, die, wie nicht leicht andere, echtböhmischen Volksgeist, Originalität
atmen. Dem Andenken von Fr. Bartos sind tief empfundene Zeilen gewidmet.
Aber der Lid, der sich durch alle Anfechtungen seiner Neider und gegen die
Gleichgültigkeit weiter Kreise unverdrossen seinen Weg bahnt, ist nur eine der
Publikationen seines unermüdlichen Redakteurs. Auch die böhmische Museal-
zeitschrift (Casopis Musea usw.) wird von ihm allein herausgegeben; es wurde
1906 ihr 80. Band abgeschlossen, der 81. 1907 begonnen. Aus dem reichen In-
halte von Abhandlungen und Besprechungen sei genannt die Anzeige eines klein-
russischen Lucidarius aus dem 17. Jahrhundert, der einem böhmischen, aber bisher
unbekannten rIext entstammt. Simak verzeichnet alle Böhmen, die auf deutschen
Universitäten vom 14. bis 18. Jahrhundert studierten. Zibrt und Flajshans
geben allerlei Bohémica, der letztere mittelalterliches, zumal aus dem reichen
Nachlass von Hus heraus; auf theologische Streitschriften und Streiter des 15. Jahr-
hunderts beziehen sich Beiträge von Svoboda, Skalsky u. a.; Havlik unter-
sucht die Frage von Zeit und Verfasser der „Grazer Handschrift" aus der Mitte
des 14. Jahrhunderts mit vorwiegend religiösen Dichtungen. Prásek beschreibt
Brandeis a. d. Elbe, ein Lieblingsschloss Rudolphs II. Ö Wichtige Beiträge zur
Kulturgeschichte des Landes, z. B. über die auch germanisatorische Tätigkeit des
Bischofs Hay; zur Verfassungsgeschichte, vom Steuerwesen unter den Jagelionen
222
Brückner, Polívka:
angefangen bis zu staatsrechtlichen Fragen von 1898; zur konfessionellen Geschichte
des Landes von den Hussiten bis zur Propaganda des Rungeschen Deutsch-
katholizismus, seien nur im Vorübergehen erwähnt. Aus dem ersten Hefte des
neuen Jahrganges (19(>7) mache ich aufmerksam auf die Abhandlung von
Dr. Kapras über die Landbücher von Oppeln-Ratibor. Auffällig ist, dass Ober-
schlesien (Oppeln-Ratibor) mit seiner ausschliesslich polnischen Bevölkerung, in der
erst nach dem 13. Jahrhundert ein geringer deutscher Einschlag auftrat (ganz
anders als in Mittel- und Niederschlesien), seit dem Ende des 15. Jahrhunderts
böhmisches Recht und Amts- (Gerichts-) spräche so vollkommen aufnahm, dass
die Landesordnung von 1562 jegliche andere Sprache vor Gericht verpönte;
deutsche oder lateinische Urkunden durften an Gerichtsstelle nur mit beglaubigter
böhmischer Übersetzung eingereicht werden; einzelne schlesische (oppelnsche)
Fürsten konnten gar nicht deutsch, sondern sprachen z. B. in Neisse 1497 nur böh-
misch untereinander. Über diese Rezeption des Böhmischen, ihre Gründe und Dauer
(von 1740 stammt das letzte böhmische Rubrum), gibt die Abhandlung treffliche Aus-
kunft. J. Volf handelt über den Anteil der böhmischen Herrscher an den deutschen
Reichsheerfahrten (bis zum Interregnum im 13. Jahrhundert): wie weit ging diese
Verpflichtung, wie wurde sie faktisch geübt? Zibrt gibt die vollständige Inhalts-
übersicht der Bohémica des Jan Jenik, d. i. der grossen Sammlung von Ab-
schriften und Kuriosa jeglicher Art, die sich der Genannte zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts angelegt hatte und die manches Unikum vor dem Untergang bewahrt
hat; das in den Besitz des böhmischen Nationalmuseums gelangte Exemplar ist
die Grundlage anderer Abschriften und Redaktionen dieser Bohémica und daher
besonders wichtig. Anderes (die Korrespondenz des 'Sehers' Drabik von 1627 bis
1671 usw.) übergehen wir, ebenso den reichhaltigen kritischen Anzeiger. — Auch
bezüglich der Fortsetzung der 'Böhmischen historischen Bibliographie', eines
geradezu monumentalen Werkes von C. Zibrt, dessen wir schon öfters gedachten,
begnügen wir uns mit der blossen Hervorhebung des Faktums des Neuerscheinens,
zweier weiterer Hefte.
Berlin. A. Brückner.
2. Südslawisch und Russisch.
Von der unter der Redaktion des Prof. K. Strekelj von dem Verein
'Slovenska Matica' in Laibach herausgegebene Sammlung slowenischer Volks-
lieder wurden seit unserem letzten Berichte (oben 16, 209) zwei neue Hefte
herausgegeben, das zweite und dritte des dritten Bandes (S. 213—648). Sie ent-
halten 1. Reigen- und Tanzlieder (S. 213—231) mit einer Beschreibung der einzelnen
Reigen und Tänze; 2. Hochzeitslieder (232—332), zusammengestellt nach dem
Fortgange der Gebräuche, zugleich mit einer Beschreibung derselben; 3. Trink-
lieder (333—525): a) Lieder zum Lobe der Rebe und des Weines (334—365),
b) Lieder in Instiger Gesellschaft, zum Lob und Dank dem Gastgeber (366—376),
c) Trinksprüche (367—432), d) Trinklieder religiösen Charakters (433—476),
e) Der Trinker als Prahler, lustiger Bruder, armer Teufel (477—500), f) ver-
schiedene Trinklieder (500—525); 4. Totenlieder (526—646): a) Lieder, die bei
der Leichenwache gesungen werden, b) Totenklagen (610—612), die sich nur
bei den Weisskrainern erhalten haben, c) versifizierte Nekrologe, die grösstenteils
von Küstern oder Mesnern verfasst wurden zu Ehren verunglückter Jünglinge oder
Mädchen, u. a. ; hie und da wurde so ein Lied sehr beliebt und in den mannig-
Berichte und Bücheranzcigen.
225
faltigsten Variationen aufgezeichnet, so Nr. 6353—6367 und 6368 — 6400. Im
Anhang dazu wurden noch einige solche Lieder, ohne Zweifel Kunstpoesie, mit-
geteilt aus verschiedenen älteren Sammlungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts. Vielfach sind in den Anmerkungen auch Melodien abgedruckt. Die
beiden Hefte zeichnen sich durch dieselbe Sorgfalt aus, die wir schon in unseren
früheren Berichten rühmend hervorhoben. — Das österreichische Ministerium für
Kultus und Unterricht hat in der neuen Zeit eine Gesamtpublikation des Lieder-
schatzes aller österreichischen Völker in Aussicht genommen und zu diesem
Zwecke besondere Kommissionen bei den einzelnen österreichischen Völkern ge-
bildet. Diese Kommissionen sind mit öffentlichen Aufrufen hervorgetreten, die
slowenische, in der wohl Prof. Strekelj die leitende Rolle haben wird, mit einer
recht eingehenden „Anleitung und Fragebogen zum Sammeln und Verzeichnen
der Lieder, Musik, Tänze des Volkes, wie auch der Gebräuche, die sich darauf
beziehen" (Laibach 1906. 36 S., mit einem Fragebogen). Trotz des grossen
Materials, welches in Strekeljs Publikation vorliegt, ist die slowenische Sektion
der Meinung, dass bisher kaum die Hälfte des slowenischen Liederschatzes auf-
gezeichnet ist, von den Melodien kaum der achte Teil. In der Anleitung (S. 3—28)
wird mit Recht darauf hingewiesen, das Text und Melodie der Lieder mit der
grösstmöglichen Genauigkeit aufgezeichnet und jede Änderung absolut vermieden
werden muss. Besonders sollen die Sammler beim Niederschreiben der Texte
alle phonetischen Eigentümlichkeiten auf das genaueste wiederzugeben suchen,
und zur Wiedergabe der mannigfachen Laute und Lautnuancen wird eine grosse
Reihe verschiedener Schriftzeichen vorgeschlagen; sogar die Satzphonetik soll
peinlichst aufgezeichnet werden. Ich fürchte, dass hier etwas zuviel gefordert
wird, und dass kaum jemand diesen Anforderungen wird genügen können, der
nicht eine besondere linguistische Vorbildung genossen hat. Für die Bestimmung
des Ursprungs eines Liedes, wie auch der Wege seiner Verbreitung hat gewiss
die Beibehaltung der dialektischen Eigentümlichkeiten eine entscheidende Be-
deutung, aber in der Aufzeichnung aller phonetischen Feinheiten wird wohl etwas
eingehalten werden müssen. Es soll ja nicht Material für phonetische Studien
gesammelt werden. Bis in das kleinste Detail gehen die Fragen (S. 21—33); sie
betreffen 1. die Beliebtheit und Art der Verbreitung der Lieder, Musik, Tänze,
ihre Träger, Pfleger und Verbreiter. (Wird etwa Zauber angewendet zur Er-
langung oder Verrichtung des Gesanges, der Musik, des Tanzes?) 2. den Gesang
(Singen Männer und Frauen dieselben Lieder oder verschiedene? Singen mehr
verheiratete oder ledige Personen und welchen Geschlechtes? Gibt es Lieder, die
bloss Kinder singen, verschiedene für Knaben, für Mädchen, für Burschen, ver-
heiratete Männer? Singt das Volk Lieder in einem anderen Dialekt, als es spricht?
Singt es fremdsprachliche Lieder oder makkaronische Lieder u. a. m.). 3. Musik,
Musikinstrumente. -4. lanz, dessen \ erhältnis zu Gesang und Musik, Namen und
Beschreibung der einzelnen Tänze u. ä.
Einen sehr wertvollen Beitrag zur slowenischen Volkskunde lieferte der
Pfarrer Ivan Saselj mit seinem Buche 'Perlenschnüre aus dem weisskrainerischen
Volksschatze' (Rudolfswert. 7, 333 S.). Es enthält Sprichwörter und Redensarten
(S. 3—16), eine ziemlich stattliche Sammlung von Liedern mannigfachen Inhalts
(S. 21—179), Aberglauben, Prognostica, Wetterregeln, Gebräuche (183—209),
Mythologisches (213—220), Erzählungen und Märchen (223—237) und schliesslich
ein Wörterbuch. In der Liedersammlung wird vielfach auf Varianten in Strekeljs
grosser Sammlung hingewiesen, doch wäre es gewiss von Vorteil gewesen, wenn
der Herausgeber noch andere Sammlungen herangezogen hätte, besonders die von
224
Polívka:
der Matica Hrvatska herausgegebenen 'kroatischen Volkslieder' (Bd. 1. 1896);
dort finden wir gerade z. B. Varianten zum Liede von Set. Peter und seiner Mutter
Nr. 21 — 22, S. 506ff., die Schwester des hl. Laurenz Nr. 9 S. 21: 'Der reiche Gavan'
Nr. 31 S. 64, 517ff.; das S. 88 abgedruckte Liedchen Nr. 30 gehört wohl in den
Kreis des bei Kroaten und Serben stark verbreiteten Liedes: 'Die Heiligen ver-
teilen die Gaben', vgl. dort Nr. 5 S. 9. 447 ff. Diese Lieder erzählenden Inhaltes
sind gewiss vielfach serbokroatischen Ursprunges, wie wir aus dem zehnsilbigen
Verse und einigen sprachlichen Eigentümlichkeiten schliessen dürfen. In der Ab-
teilung 'Mythologisches' finden wir eine Sage vom wilden Mann (S. 213), der
gefangen wurde dadurch, dass aus der Quelle, aus welcher er trank, das Wasser
abgeleitet und Wein hineingegossen wurde; dann von böswilligen Geistern (Wind-
geistern?) namens Vidóvin, Vidóvina (S. 215f.), Vilen (S. 21Gf). Erzählungen
Nr. 2 Stiefmutter und Stieftochter, zu Köhler 1, 371 Nr. 2; Nr. 4 S. 224 Kraljevic
Marko führte Krieg mit Christus; Nr. 7 S. 226 Vom reuigen Räuber; Nr. 8 S. 230f.
zu Krauss, Südslaw. M. 1, Nr. 97. Köhler 2, 610; Nr-9 S. 234 Das Märchen vom
goldenen Vogel, verbunden mit dem Märchen von der Schwanenjungfrau. Als der
Held der entschwundenen Pfauenprinzessin naht, versenkt ihn die Königin, die
ihn zu ihrem Schwiegersohn haben will, in tiefen Schlaf, und so muss der Prinz
weiter suchen, wie bei Grimm, KHM. 93. Er findet endlich in einer Burg einen
gefangenen Drachen, stillt seinen Durst und befreit ihn (wie bei Krauss 1, Nr. 76.
79. 81. 88), bekommt endlich die Schöne mit Hilfe des Pferdes, das er sich
erwählt hatte, als er drei Tage Stute und Füllen der Hexe mit Hilfe der Fische,
Füchse und Mäuse gehütet hatte. — Unter den Gebräuchen und Aberglauben
finden wir ein Verzeichnis der glücklichen und unglücklichen Tage (S. 201), Toten-
gebräuche (205), die bei den Serbokroaten und Bulgaren noch häufige Haargod-
schaft (209) u. a. — Im Zbornik der Agramer Akademie 10, 324 ist ein beim Be-
stellen des Weingartens gesungenes Lied aus der südlichen Steiermark abgedruckt.
Dieser die Erforschung des serbischen und kroatischen Volkslebens
pflegende Agramer 'Zbornik' bringt ferner zwei Aufsätze von Frau Jelica
Belo vie; in dem ersten „Über die Entwicklung unserer volkstümlichen
Ornamentik in der Textilkunst" (10, 161—180) versucht die Verf. nach einer
kurzen polemischen Bemerkung gegen Fr. S. Krauss die aus der mythologischen
Zeit stammenden Motive der Ornamentik nachzuweisen und zeigt, wie gewisse
Ornamente bestimmte Anwendung im Aberglauben haben, vor bösen Geistern
schützen sollen u. ä. Trotzdem sie von Ornamenten spricht, die ihre Wiege in
Ägypten haben, dann nach Byzanz und zu den Slawen übertragen wurden, will
sie doch den Anfang der serbokroatischen Ornamente in den Resten „der einst
grossen slawischen Kultur" erblicken, und deren weitere Entwicklung in der Be-
rührung der Slawen mit verschiedenen Völkern. Weiter analysiert sie die Ein-
flüsse des byzantinischen Christentums und der türkischen Zeit und streift nebenher
den italienischen Einfluss in Dalmatien, ohne die Frage aufzuwerfen, ob er weiter
nach Osten reichte. In dem zweiten Aufsatz „Die Stickkunst bei den Kroaten
und Serben" (11, 1—51) beschreibt die Verf. eingehend die Technik derselben
und unterscheidet l. die Stickerei, in der die Fäden gezählt werden ('vez brojem',
die Stickerei durch Zählen) und 2. die Stickerei, bei der das Ornament vorher
aufgezeichnet wird ('vez po pismu'), sowie einige Abarten, die Kreuzstich-
stickerei u. a., und die mannigfaltigsten Muster. Bei einzelnen versucht sie nach-
zuweisen, dass sie slawisch, nicht von den Türken übernommen sind, so bei dem
sog. türkischen Dreieckstich (S. 7), den Spitzenarbeiten (S. 18) und Perlenstickereien
(S. 35). Einzelne Ornamente und Farben haben symbolische Bedeutung im Volks-
Berichte und Bücheranzeigen.
225
brauch und Aberglauben (S. 28. 39 f.). — Abgeschlossen ist nun die ausführliche
Abhandlung über das Volksleben und Gebräuche in der Landschaft Poljica in
Dalmatien von Frano Ivanisevic (10, 180—307; vgl. oben Bd. 16, 211). Es
werden da besonders die poetischen Traditionen des Volkes mitgeteilt, neben
einigen Liedern besonders Märchen, Erzählungen, Schwänke u. a., dazu kurze
Bemerkungen über das Benehmen der Zuhörerschaft. S. 11S ff. zu Grimm Nr. 107:
Der arme Bruder heilt Blinde mit den Lorbeerblättern, besonders eine blinde
Königstochter. S. 191 f. Die einleitenden Motive des Meisterdiebes. Schuh ge-
worfen u.a. S. 192f. Das dumme Weib, ähnlich wie bei Zingerle, KHM. 1, 75;
der Mann geht in die Welt, noch dümmere Leute suchen. S. 193 Des Räubers
Beichte, zu den Sagen vom reuigen Räuber; der verkohlte Weidenstock grünt,
als der Räuber ein Weib getötet hatte, welches gerade den hundertsten jungen
Bräutigam umbringen wollte, ähnlich wie z. B. in den Serbischen Märchen von
Kosta Ristic und L. Loncarski S. 8 Nr. 2. — S. 194 'Sie gingen das Unglück
suchen', d.i. Polyphem. — S. 194f. 'Drei Diebe' tauschen und hintergehen sich
gegenseitig; vgl. Köhler 2, 593 und Roman. Meistererzähler 2, 61 f. — S. 195f.
Der Teufel versucht umsonst unter musterhaften Eheleuten Hass zu säen, ein Weib
erreichts in einem Tage, vgl. Schumann, Nachtbüchlein S. 326. 415. Jak. Ulrich,
Die 100 alten Erzählungen S. XXXIII Nr. 42. — S. 197 Drei Prinzessinnen in
einem verwünschten Schlosse, befreit von drei Brüdern, da wenigstens der jüngste
es dort 3 Jahre 3 Monate aushält, weiter ähnlich wie bei Grimm Nr. 93. — S. 199
Dienstvertrag: Wer zornig wird, Herr oder Knecht, dem wird die Haut vom
Rücken abgezogen. — S. 200 'Zigeuner und Türke', d. i. Unibos. — S. 202 'Lügen-
märchen'. Drei Brüder finden Feuer bei einem Bären, gefangen, freigelassen,
wenn sie eine Lüge erzählen können; ähnlich wie bei Valjavec Nr. 59, Strohal 2,
100. — S. 204f. Zu den Zahlenliedern oben 11, 400. — S. 206 Die Brombeere
vom trunkenen Noah gesegnet. Seit wann die Steine nicht mehr wachsen.
Warum darf der Rabe in den trockenen drei Sommermonaten kein Wasser trinken?
Ähnlich wie der Geier im Sbornik mater, kavkaz 18, Abt. 3, S. 238 u. a. — S. 206
Geschnitten! Geschoren! — S. 207 Fuchs und Wolf, zu Grimm Nr. 74. — S. 207
Fuchs und Rabe, ähnlich Fuchs und Storch. — Schwänke S. 208 z. B. wie Pauli
Schimpf und Ernst. Nr. 324 Spott über Nachbarn. S. 213 z.B. S. 218 Leute von
Brazzo kauften in Venedig Verstand, d.i. eine Maus in einem Gefässe; zu Hause
öffneten sie es am Ufer, die Maus sprang ins Meer einer Insel zu; nun wollten
sie diese mit Stricken packen und zu Brazzo heranziehen; vgl. oben 1, 344. Archiv
f. s lav. Phil. 8, 274. Strohal, Hrvat. nar. pripov. 3, 280. — Rätsel S. 219f. —
Glaube. Über die Entstehung der Welt S. 222 f. Am Anfang, als Gott die Welt
erschuf, waren in der Sonne zehn Strahlen, neun trank der Drache aus, den
zehnten rettete die Schwalbe, mit ihren Flügeln; daher ist es eine Sünde die
Schwalbe zu töten. Sonnenfinsternis (Antichrist), Gewitter. Einst waren 'Giganten'
auf der Welt. Sonne, Mond, die Sterne haben grosse Kraft. Prognostika. Schlangen-
sagen. Der Diener versteht die Sprache aller Pflanzen und Tiere, als er bloss den
Saft des Schlangenbratens gekostet hat (S. 225). Vierblätteriger Klee ("226)- Die
Zigeuner zu ewiger Wanderschaft verdammt, weil sie die Nägel für Jesu ge-
schmiedet haben (227). Zauber und Zauberinnen, die jedes verheimlichte, ge-
stohlene Gut entdecken können u. a. Schlangenbändiger (228). Zaubermittel gegen
Meeresstürme, Gewitter und Hagelschlag, welche der böse Geist hervorruft (*229).
Hexen una ihre Zusammenkünfte (231). Wie und wann eine Hexe zu erkennen
ist (232). Vileñak, ein Jüngling der mit den Vilen (Feen) Umgang hat (239).
V on Priestern, der Macht ihrer Gebete u. a. (240). Der Teufel aus Besessenen
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907 15
226
Polívka :
vertrieben (242). Werwolf (246f.). Vom Fall der Engel, Teufel, böse Geister
auf Erden und in der Luft (254). Vila = Fee (254). Morina = Alb (262). Macie
(265), ähnlich dem Cikavac im Glasnik zera. mus. Bos.-Herceg. 12, 348, dem
kleinrussischen hodovanec oder chovanec (Etnograf. Zbirnyk 15, 96 f. Nr. 171—174.
184. Bd. 16, 375) und dem böhmischen hospodaricek, ein Hauskobold aus einem
Ei von einer ganz schwarzen Henne unter dem linken Arm ausgebrütet. Jrudica
(267), ein böser, weiblicher Geist, der in der Luft und in den Wolken herum-
schweift. Kuga ("268), die Pest. Andere böse, riesenhafte Wesen sind der Drache,
der einäugige, wilde Mann, Ovasar (268) ein anderes Scheusal, Smetiñak, Marii-
morgo (269), Wesen, die sich in die Gestalt eines Esels, Maulesels oder eines
anderen Tieres verwandeln und die Menschen zum besten haben; Gespenster (271),
das jüngste Gericht (278). Die Seelen der Verschiedenen vor Gottes Gericht.
Erscheinungen von Seelen aus der Hölle oder dem Fegefeuer (279).. — Wetter-
prophezeiungen (281). Wahrsagungen (284), nach Träumen (2ö7). Zauber, Be-
schwörungen (287). Der böse Blick, Beschreien und Mittel dagegen; Mittel bei
schwerer Geburt, Epilepsie (290) und andere Krankheiten, verschiedene Be-
schwörungsformeln. Aberglauben bei der Hochzeit, wenn die Frau keinen Knaben
gebären will (294), wie die Hexen zu erkennen sind (294). Von den Heiligen
und ihrer Macht, wie auch Heiligenlegenden (295). Jesus verwandelt den hab-
süchtigen Gastwirt auf ein Jahr in einem Esel (vgl. Krauss 2, Nr. 65); die Flöhe
erschaffen wegen des faulen Weibes (296). Amulette (296). Vorstellungen des
Volkes von der Welt, Sonne, Mond, den Sternen, Donner, Regen (297). Einteilung
des Jahres (300). Geographische und historische Kenntnisse des Volkes (301),
Ansichten des Volkes über Familie, Heimat, soziale und politische Verhältnisse
(303). Sprichwörter (307). — Weiter wird das Leben der Bevölkerung der
Gemeinde Smiljan und Umgebung in der Lika, Kroatien beschrieben (10, 308 bis
322) Haus und Hof, Tracht u. a., dann in zwei Dörfern des Bz. Ogulin, ^usiievo
selo und Cakovac (11, 80—107): Leben in der Familie, Erziehung der Kinder,
Geschlechtsleben der heranwachsenden Kinder (94), Leben und Beziehungen der
reifenden männlichen und weiblichen Jugend, sehr eingehende Schilderungen. — Es
folgt eine Beschreibung der Hochzeitsbräuche in Retkovci, einem Dorfe Slawoniens
(11, 108—128), am Schluss einige Zaubermittel, um frühes oder zu oftes Gebären
abzuwehren, dann die Beschreibung von Weihnachtsgebräuchen in Bosnien
(11, 142) und auf der Insel Cherso (11, 149—155), endlich Brauch im gewöhn-
lichen Leben, besonders Rechtsgebräuche in Montenegro im Bz. Rijeka (11,
52—79), hierbei auch Aberglauben, Mittel gegen Beschwörungen, Bauopfer (56).
„Der Wolf in der Volkstradition in Bukovic'a, Dalmatien" (11, 129—137): aber-
gläubische Gebräuche, um den Wolf abzuhalten; Fabeln, wie der Wolf vom
Fuchs überlistet wird, Wolf und Fuchs bei dem kranken Löwen; in Sprichwörtern.
„Bienen in der Volksüberlieferung" (11, 145—148). Abderitengeschichten von Be-
wohnern des Dorfes Borovica in Bosnien (11, 138—141). Nr. 1 Die Stute, ein
verwünschter Efendi, wie der verwunschene Esel bei Köhler 1, 507 f. Nr. 2
Der Block, zu kurz abgehackt, wird ausgezogen, dass er länger wird. Nr. 4 Nebel
für Baumwolle gehalten, wie Sbornik za. nav. muotvor. 14, Abt. 3, S. 116, und
sonst ein Flachsfeld für das blaue Meer (Köhler 1, 112). — Die Kynokephalen
(11, 157 f.) sind einäugig und haben Ziegenfiisse, weiter ähnlich Grimm Nr. 15.
Endlich finden wir kleinere Berichte über einige Gebräuche, Segnen des Feuers u. a.,
und über Mädchenraub in Val di Canali (Konavle) in Dalmatien (10, 323; 11, 158ff.)-
Ausser diesem volkskundlichen Organe finden wir vereinzelt Beiträge in
anderen Zeitschriften, so im 'Glasnik' des Landesmuseums in Bosnien und Herze-
Berichte und Biicheranzeigen.
227
gowina Bd. 18 (1906) eine Sammlung bosnischer und herzegowinischer Volkslieder
und Melodien von L. Kuba (S. 183_208. 355—366. 499—508), bloss einen kleinen
Teil einer über 1000 Nummern zählenden Sammlung. Vorausgeschickt ist eine
Einleitung besonders über ihre musikalischen Eigentümlichkeiten, beigelegt sind
zwei Druckbogen mit 120 Melodien. Derselbe Glasnik bringt im Bd. 17 eine aus-
führliche Beschreibung der in der oberen Herzegowina gebräuchlichen \ olksspicle
und Tänze von Toma A. Bratic und St. Delie (S. 53 172). St. Delie gibt
weiter noch eine ausführliche, noch nicht abgeschlossene Beschreibung der Hoch-
zeit im Bezirke Gacko (S. 509-540). Von der regelmässigen Hochzeit und ihren
Gebräuchen wird der Mädchenraub unterschieden; wieder etwas anderes ist „das
Stehlen des Mädchens", wenn nämlich das Mädchen mit der Entführung einver-
standen ist, und das 'scheinbare Stehlen der Braut', wie es besonders bei armen
Leuten geschieht, um die grossen Kosten einer ordentlichen Hochzeit zu ver-
meiden; endlich gibt es noch Fälle, wo das Mädchen selbst in das Haus des
Bräutigams kommt. Diese Braut hat dann auch ihren besonderen Namen:
samodoslica, d. h. die Selbstgekommene. Alle diese Fälle kommen bei Ortho-
doxen wie bei Mohammedanern vor. Sie sind durch eine Reihe von Erzählungen
wirklicher Fälle illustriert. Ein kleiner Aufsatz des Dr. Alex. Mitro vie über die
Heirat im nördlichen Dalmatien (aus dem Belgrader 'Archiv' abgedruckt) hat mehr
die sozialen Verhältnisse im Auge, die ein zeitgemässes, eheliches Bündniss un-
möglich machen; vgl. Letopis mat. srpske Bd. 240, S. 107f. Toma A. Bratic
beschrieb ausserdem im Glasnik 18, 229—243 die Volkstracht in der Herze-
gowina, und noch die Weberei in diesem Lande (391—399). Endlich lesen
wir daselbst 18, 114f. eine eigene bosnische Version der bekannten Sage von
Dido, nur dass sich hier der bosnische Held ausbedingt, dass all das Land ihm
gehöre, welches er in einem Tage umreiten könne, und dass sein Pferd vor dem
Ziel erschöpft niedersinkt. Die Zs. Bosanska Vila brachte neben verschiedenen
Volkstraditionen, besonders epischen Liedern, eine Abhandlung über die Behaubung
und Bedeckung des Kopfes der Braut im Volksbrauch und Zeremoniell von
Svetozar Grubac (Nr. 13ff.)- Weiter zeigt im Jahrbuche 'Hrvatsko Kolo' 2, 274 bis
280 St. Banovic, dass Gundulic die Volkslieder gekannt und in seinem epischen
Gedichte 'Osman' auch benutzt hat. Fr. Kuhac druckt daselbst einige kroatische
Lieder mit Melodien ab (S. 375—384); die 'mythologischen' Erklärungen desselben
von dem 'verdienten' Mythologen Dr. Grzetic hätte die Redaktion besser unter-
drückt.
Von den in Serbien erschienenen Arbeiten sind in erster Reihe die von
Andra Gavrilovic gesammelten 'Zwanzig serbischen Volksmärchen' (Belgrad 1906.
104 S.) zu erwähnen, denen der Herausgeber sogar einen 'wissenschaftlichen
Kommentar' beigegeben hat. Leider ist dieser wenig befriedigend ausgefallen;
ohne ausreichende Kenntnis der bisher erschienenen serbischen und südslawischen
Märchensammlungen konnte er weder die nötigen Hinweise auf andere süd-
slawische Fassungen, noch auf die Varianten der anderen Balkanvölker geben,
ebensowenig standen die Arbeiten der westeuropäischen Forscher dem durch seinen
Beruf an eine Landstadt Serbiens gefesselten Herausgeber zu Gebote. Das dürfen
wir ihm nicht sehr verargen, da auch ein in der serbischen Residenzstadt arbeitender
Gelehrter auf diesem Felde mit schier unüberwindlichen Schwierigkeiten zu
kämpfen hat. Hr. Gavrilovic hat nur vereinzelte, ihm zugängliche Arbeiten aus-
genutzt, d. h. aus ihnen die Parallelen ausgezogen, selbständig aber nur wenig
gearbeitet, und wo dies geschah, mit geringem Erfolge. So kennt er, Nr. 6, eine
Version der bekannten Sage von der Geburt Konstantins, des hl. Andreas, weder
15*
228
Polívka:
die Untersuchungen Wesselofskys, Dragomanovs, noch R. Köhlers. Nr. 7 (Der
Hirt heiratet die einzige Königstochter, nachdem die Krone sich dreimal auf
seinen Kopf gesetzt), Nr. 11, Variante zu der von Köhler behandelten Legende
vom verzückten Mönche (vgl. Zbornik za nar. zivot juznih Slavena 1, 2ff. 10, Iff.);
Nr. 18, vom zerbrochenen Milchtopf (vgl. Montanus, Schwankbücher ed. Bolte,
S. 603 Nr. 53). Lobend ist hervorzuheben, dass der Herausgeber überall genau
über die Quellen seiner Märchen berichtet. Nur die kleinere Hälfte hat er selbst
gesammelt, die anderen hat er von verschiedenen Seiten bekommen. Leider ist
nicht zu verkennen, dass der echte volkstümliche Ton mehr oder weniger ver-
wischt ist. — Zwei Aufsätze des Dr. S. Trojanovic haben weniger Interesse
für die Volkskunde. In dem einen (Srpski kriiz. Glasnik 17, 104—111) bespricht
er die in einem nun serbokroatischen und grösstenteils katholischen Städtchen
Janjevo, südlich von Pristina, am Amselfeld betriebene Hausindustrie. Aus einem
eigenen Metallgemisch (auf 1 kg Kupfer 400 g Zink) werden Ringe, Ohrringe,.
Heftel, Hängelampe vor Heiligenbildern u. a. Ziergerät verfertigt auf eine recht
primitive Weise. Die Bewohner treiben damit regen Handel weit und breit im
ganzen Südosten Europas, in neuerer Zeit bis nach Russland. In dem zweiten
Aufsatz, der in dem Sbornik zu Ehren des Prof. Lamanskij erschien (St. Peters-
burg 1906. 16 S.), werden die im Volksgedächtnis und in älteren Schriftdenk-
mälern erhaltenen Erinnerungen an den Bos primigenius (tur) und an Bos priscus
(zubar) zusammengestellt und auch das im alten Ragusa gefeierte Maskenfest
(turice) beschrieben, obwohl der Verfasser keineswegs einen Zusammenhang des
Namens turice mit dem serbischen Namen des Auerochsen (tur) beweisen will.
Auch die Bemerkungen über die Ethnographie der Slawen Makedoniens von
Dr. J. Cvijic (Belgrad 1906. 69 S.), die auch in russischer, französischer (Annales
de Geographie Bd. 15) und englischer Übersetzung (London, Horace Cox; s. Peter-
manns Mittig. 52, Litber. 176) erschienen, haben mit der eigentlichen Volkskunde nichts
zu schaffen. Doch wollen wir sie nicht unerwähnt lassen, da sie über die Masse
der 'makedonischen' Literatur ausreichend und objektiv Aufschluss geben, wenn
auch der gelehrte serbische Geograph sein patriotisches Gefühl in dieser brennenden
Frage nicht ganz verleugnen kann. Das sehr ausführliche Buch von I. Ivanic
„Makedonien und die Makedonier" (12, 312 S.), welches neben geographischem,
statistischem Material auch ethnographisches bringt, gehört dagegen in die grosse
Anzahl tendenziöser Werke, wie es ein serbischer Rezensent (Srpski kniz Glasnik 16,
620ff. 699 f.) eingehend darlegt (vgl. auch Cvijic S. 56 Anm.). — Zum Schluss sei
noch erwähnt, dass kürzlich zwei Dozenten für Ethnographie an der Universität
Belgrad ernannt wurden, Dr. Tih. R. Gjorgjevic und Dr. Jovan Er del j anovic,
von denen der erste wohl mehr die Volkskunde, der andere die Ethnologie
pflegen wird. Die Antrittsvorlesung des ersteren 'Über Ethnologie' erschien im
Srpski kiiiz. Glasnik 17, 520—532, die des zweiten über 'Ethnologie, Ethnographie
und verwandte Wisschenschaften' in der Zs. Delo, Oktober 1906 (SA. 13 S.).
Nicht unerwähnt soll noch bleiben eine Studie des Tih. Gjorgjevic über die
Rumänen in Serbien im Srpski kniz. Glasnik Bd. 16 (SA. 93 S.).
Der wichtigste Beitrag zur bulgarischen Volkskunde im verflossenen Jahre
ist der Versuch des Dr. M. Arnandov, eine systematische Übersicht der bul-
garischen Märchen, Erzählungen und Legenden zu geben, im Sbornik za narodni
umotvorenija Bd. 21. Ein bleibendes Verdienst dieser ziemlich umfassenden
Arbeit (110 S.) ist, das in verschiedenen periodischen Publikationen zerstreute
Material in eine gewisse Ordnung gebracht zu haben. Wenn A. aber nach einer
flüchtigen Übersicht der bisherigen Erklärungsversuche über Bedeutung, Entstehung
Berichte und Bücheranzeigen.
229
und Verbreitung der Märchen besonders G. v. Hahns Versuch einer Klassi-
fizierung der Märchen kritisiert, so muss man leider auch seinem Versuche die
Zustimmung versagen; auch ihm eignet höchstens der Wert einer praktischen
Übersicht. Ohne auf die übliche Einteilung in Märchen, Novelle, Schwank usw.
Rücksicht zu nehmen, teilt A. die bulgarischen Prosaüberlieferungen, nachdem er
die eigentlichen Sagen ausgeschlossen, in vier grosse Gruppen: 1. Erzählungen
von den Abenteuern des Helden oder der Heldin, 2. Legenden, •>. Tieifabeln,
4. Anekdoten. Diese Gruppen werden weiter in kleinere Gruppen eingeteilt. Den
Begriff 'Legende' hat er viel zu weit gefasst. Ei zahlt in diese Giuppe alle Er-
zählungen überhaupt, deren Gegenstand die Glaubensansichten und Vorstellungen
des Volkes sind, nicht bloss also biblisch-apokryphische, religiöse, ethische,
sondern auch dämonologische und ätiologische. Danach werden die Legenden in
vier Gruppen eingeteilt, die vierte ätiologische hat dei "V erfassen jedoch nachher aus
seiner Übersicht ausgelassen. So finden wir unter den 'Legenden' z. B. die Er-
zählung vom 'Recht und Unrecht' (S. 32 Nr. 31), den ganzen Kreis vom Schicksal
und dessen Unabänderlichkeit, z. B. vom König und dem neugeborenen Knaben
auf S. 83 Nr. 32 (Köhler 2, 357. 679), Placidus-Eustachius unter Nr. 41. Dagegen
ist die Geschichte vom Mann, Löwe (Schlange) und Fuchs, die doch auch eine
ethische Idee zur Grundlage hat, in die Tierfabeln eingereiht; daselbst der ge-
stiefelte Kater S. 103 Nr. 12 (hier übernimmt der Fuchs die Rolle des Katers).
Den grössten Widerspruch erweckt die erste Hauptgruppe, die nach ganz äusser-
lichen Motiven in kleinere Abteilungen geteilt wird, erstens, je nach dem er oder
sie die Hauptrolle spielt, und dann weiter, wie, auf welche Weise er in den
glücklichen Hafen der Ehe gelangt: a) mit Hilfe der dankbaren Tiere, über-
natürlicher Wesen oder der Wunderdinge, b) mit Hilfe angeborener oder später
erworbener Eigenschaften, c) mit Hilfe der von übernatürlichen oder dankbaren
Wesen erhaltenen Wunderdinge u. a. Jede dieser Gruppen zerfällt wieder in
kleinere Unterabteilungen, so z. B. vom dankbaren Toten, von der verräterischen
Mutter, von der Schwanenjungfrau u. a. In die Unterabteilung von der treulosen
Mutter hat er auch den Stoff vom seltsamen Vogel, Vogel Goldschweif (Haltrich 1856
Nr. 6, Zingerle 2, 260, Grimm Nr. 60, 122 u. a. eingereiht), obwohl jenes Motiv nur
einigen Versionen dieses Stoffes eigen ist. In der Abteilung b, die wieder in vier
kleinere Unterabteilungen zerfällt, finden wir u. a. den Stoff vom Zauberer und seinem
Lehrling, von der zum Reden gebrachten Prinzessin (Benfey, Pantschatantra 1, 489),
von dem Fell der riesigen Laus (Gonzenbach Nr. 22), Varianten zur Reise der
Söhne Giaffers S. 198, Meisterdieb u. a. Einige Stoffe aber, die der Verfasser
nicht einreihen konnte, führt er unter \ aria' an, so die drei Ratschläge, die
Froschprinzessin. Kurz, ohne uns in eine weitere Kritik dieses Aufsatzes einzu-
lassen, müssen wir sagen, dass er keine wissenschaftliche Einteilung der Märchen
liefert und der Übersichtlichkeit ermangelt. Der Verf. hat bloss die bulgarischen
Volkserzählungen gruppiert ohne Rücksicht auf cÜe Versionen der nächsten be-
nachbarten Völker, ohne Rücksicht auf die einzelnen Märchenstoffen gewidmeten
Spezialstudien. Er fügte seinen Anmerkungen Z11 ¿en Auszügen der einzelnen
Märchen auch keine Hinweise auf die Fachliteratur hinzu, nicht einmal auf
Köhlers Kleinere Schriften. — Ausser dieser Abhandlung sind nur einige kleinere
Aufsätze zu erwähnen, der kompilatorische von A. p. Stoilov über die Verehrung des
Feuers (Period. Spisanie 67, 68—85) und M. Pironkov 'Die Schwalbe in unseren
Volkstraditionen' (Izvêstija des Seminars f. slav. Phil an der Universität Sofia
S. 251—262). — Neue Materialien wurden nur in sehr „.eringem Masse mitgeteilt;
im Sbornik za nar. umotvor. Bd. 21 finden wir eine Sammlung von Volksliedern
230
Polívka:
aus der Gegend von Trn (S. 64), und eine Sammlung von Volksliedern samt
Melodien aus der Gegend von Bolgrad in Bessarabien (S. 17), ausserdem noch in
der Zs. 'Rodopski naprêduk' Bd. 4, besonders Lieder der mohammedanischen Bul-
garen. Ebenda lesen wir noch eine Legende, wie Gott faule Leute in Esel ver-
wandelte (S. 133), und Legenden von der Sintflut: die Schlange schickt den Käfer
(sonst die Mücke) aus, zu ermitteln, wessen Fleisch (sonst Blut) das süsseste
wäre; die Schwalbe beisst ihm die Zunge aus (vgl. Carnoy et Nicolaïdes, Tradit.
de l'Asie Mineure p. 229. Revue des trad. pop. 1, 80f.). Die Katze fängt die Maus,
als sie eben ein Loch in die Arche nagen will. — Die grösste Beachtung
widmeten die Herausgeber des 'Sbornik za nar. umotvor.' der Volksmedizin. Einige
Ärzte, Dr. S. Vatev, Dr. S. Petkov u. a. stellen S. 68 „Materialien zur Volks-
medizin in Bulgarien", zusammen, aus verschiedenen Gegenden des Landes, doch
ohne festes Programm. Teilweise wurde auch anderer Aberglauben gesammelt,
Vorstellungen von übernatürlichen Wesen mitgeteilt, ohne dass sie besonders
Bezug auf die Gesundheitsverhältnisse hätten, so von den Schicksalsgöttinnen
(S. 33), Feen 'Samodivi', Rusalien (S. 34), mitgeteilt auch die Sage, wie einem
neugeborenen Knaben bestimmt wurde, dass er zu einer gewissen Zeit am Brunnen
sterben werde, vgl. Arnandov S. 85 Nr. 37. — Hieran schliesst sich ein „Beitrag
zur bulgarischen, botanischen Volksmedizin" von A. Javasev im selben Sbornik 21,
62, d. i. eine botanisch angeordnete Übersicht der in der Volksmedizin gebrauchten
Pflanzen und Kräuter. Ausserdem bringt derselbe Sbornik (S. 28) eine Beschreibung
der Hochzeit in Rhodope von P. Apostolov. Über den Mädchenraub in den
Rhodoper Hochzeitsgebräuchen schreibt St. N. Siskov in Rodopski Naprêdiik 4,
53 f., der ebenda auch Bemerkungen über den Totenkult bei den mohammedanischen
Bulgaren in Rhodope (S. 6) und über einige Rechtsgebräuche (S. 156f.) macht. Über
Hausbau und Tracht im Dorfe Bracigovo schrieb M. Georgijev in den Izvëstija
des Seminars f. slav. Phil, an der Universität Sofia (S. 117), und einige ethno-
graphische Bemerkungen über die Bewohner der Landschaft Debra machte daselbst
(S. 263) L. Dimitrov. Eine ethnographische Charakteristik der Bevölkerung der
Gegend von Kratovo lieferte St. Simic (Srpski kniz. Glasnik 17, 206).
Ehe wir zur Übersicht der letzten Arbeiten zur russischen Volkskunde
schreiten, sei des grossen Verlustes gedacht, den unsere Wissenschaft, die ver-
gleichende Literaturwissenschaft überhaupt, durch den Tod Alexander Wesselofskys
am 23. Oktober 1906 erlitten hat. Die Grundlage zu der grossartigen Sprach-
kenntnis Wesselofskys wurde schon im Elternhause gelegt. Auf der Universität
Moskau weckte Buslajev in ihm Interesse und Liebe zu Grimms Forschungsgebiet,
und diesem blieb er bis zum Schluss der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts
treu. Das äusserte er schon in einer Anzeige von Haupts Zeitschrift für deutsches
Altertum (Lëtopisi russkoj literatury 1859), und auch später, so in seiner Anzeige
italienischer Märchensammlungen im Zurnal min. nar. prosv. Bd. 140. Seine ersten
grösseren Arbeiten, Früchte seiner italienischen Studien, waren der italienischen
Renaissance gewidmet, besonders 'Il paradiso degli Alberti ritrovi e ragionamenti
del 1389, romanzo di Giovanni da Prato' (1867—.68), welche dann noch 1870 in
russischer Sprache bearbeitet wurde (Villa Alberti Novyje materialy dlja
charakteristiki literaturnago i obscestvennago pereloma v italjanskoj zizni 14—15 stol.
Vgl. Liebrecht, Heidelb. Jahrb. f. Lit. 1870, 663). Nur die Untersuchung der in
dem Roman enthaltenen neun Novellen betrifft die Stoffwissenschaft. Dem Studium
der italienischen Renaissance blieb er bis in spätere Jahre treu. Besonders fesselte
Berichte und Bücheranzeigen.
231
ihn Boccaccio; 1891—92 erschien seine Übersetzung des 'Decamerone' und
1893—94 seine zweibändige Monographie 'Boccaccio, jego sreda i sverstniki'. Eine
seiner letzten Arbeiten war 'Petrarca in der poetischen Beichte des Canzionere
gewidmet (1905 in der Moskauer Zs. Naucnoje Slovo). Weit mehr berührt die
Stoffwissenschaft seine erste grössere Arbeit 'Novella della figlia del re di Dacia'
(Pisa I860. Vgl. Felix Liebrecht, Gött. Gel. Anz. 1867, 565). Hier war Wesselofsky
noch im Banne der Grimmschen Schule, doch bald schlug er andere Bahnen ein.
Dazu trieb ihn nicht so sehr der Einfluss von Benfeys Theorie, gegen die er
bereits 1871 in einem Aufsatze 'Neue Beziehungen der Muromschen Legende von
Peter und Fevronia und die Saga von Ragnari Lodhbrok (Zurn. min. nar. prosv.
Bd. 154) Stellung nahm, besonders gegen die angenommenen Wege der Märchen-
wanderung von Indien nach Europa, als vielmehr Dunlops bekanntes, von Liebrecht
bearbeitetes Buch und Pypins 'Skizze einer Literaturgeschichte der alten russischen
Sagen und Märchen' (1857). Dies bekennt Wesselofsky selbst in seiner Auto-
biographie (Pypin, Geschichte der russischen Ethnographie 2, 427). Seinen neuen
Standpunkt vertrat Wesselofsky besonders in seinem Buche: 'Aus der Geschichte
des literarischen Verkehrs des Ostens mit dem Westen, slawische Überlieferungen
über Soloman und Centauras und die westeuropäischen Legenden über Morolf und
Merlin' (1872). Mit vollem Recht konnte V. Jagic (Archiv, f. slav. Phil. 1, 132)
sao-en: „Die umfassendste Belesenheit und seltene Kombinationsgabe zeichnen
dieses Werk in einem solchen Grade aus, dass man es ohne Überschätzung zu
den wichtigsten Monographien der europäischen Literaturen auf dem Gebiete der
vergleichenden Literaturgeschichte zählen darf." Jagic machte wohl mit Recht
Einwendungen gegen Wesselofskys allzu schroffe Beurteilung der süd- und ost-
slawischen Bearbeitung der Salomo-Sage und gegen die Unterschätzung ihrer
Produktivität und Gestaltungskraft (ebd. 1, III). Über die Grimmsche und die
Benfeysche Theorie spricht sich W. klar in der Einleitung aus. Nach seiner
Meinung schliessen sich diese zwei Richtungen durchaus nicht aus, sondern er-
gänzen sich; nur hat der Versuch einer mythologischen Erklärung erst dann an-
zufangen, wenn man mit der historischen Erforschung nicht mehr weiter kommt.
Als eine allgemein anerkannte Wahrheit gilt ihm der Einfluss der orientalischen,
besonders buddhistischen Vorstellungen auf die europäischen; aber er fordert vor
allem, die Umstände, unter welchen jener Einfluss stattfand, wie auch die Wege
der AVanderung genauer festzustellen. Die Übereinstimmung zweier Erzählungen
aus dein Orient und dem Okzident ist an und für sich noch kein Beweis ihrer
historischen Verbindung. Wesselofsky spricht bereits den Gedanken aus, dass
die Übereinstimmung auch Folge einer gleichartigen psychischen Entwicklung sein
kann. Er fordert daher eine genaue Analyse des Stoffes, die Bestimmung der
Wege und Richtungen ihrer Verbreitung, ebenso der kulturellen Bedingungen,
unter welchen er sich verbreitete, änderte, entwickelte oder verfiel. Von dem
Studium der südostslawischen Traditionen erwartet er eine gründlichere Erklärung
der Literatur Westeuropas. Eine grosse Rolle in den literarischen Beziehungen
des Westens zum Osten spielte Byzanz und nach Wesselofsky besonders jene
synkretistischen Sekten, die zu den christlichen Grundlagen die religiösen Ab-
stellungen Irans hinzumischten und den buddhistischen Legenden eine pseudo-
christliche Färbung gaben. Hauptsächlich wies er hierbei auf die Sekte der Bogo-
milen hin, denen man eine ganze Reihe apokrypher Legenden zuschrieb, allerdings,
wie die philologische Kritik später nachwies, mit Unrecht, In der Einleitung
berührt Wesselofsky noch eine Reihe allgemeiner Fragen über die west-
europäischen Literaturen im Mittelalter, die wir hier übergehen. Vom Herbste 1870
232
Polívka:
an war Wesselofsky an der Petersburger Universität tätig-, zuerst als honorierter
Dozent des neugegründeten Lehrstuhls für vergleichende Literaturgeschichte, seit
1872 als ausserordentlicher, seit 1879 als ordentlicher Professor. Seit 1876 gehörte
er der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Petersburg an, zuerst als
korrespondierendes Mitglied, von 1877 als Adjunkt, 1879 als ordentliches Mit-
glied. Im Herbst 1901 trat er endlich an die Spitze der Abteilung für
russische Sprache und Literatur, an der er mit dem grössten Eifer arbeitete.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten erschienen grösstenteils in den Publikationen
der Akademie, ausserdem besonders im Zurnal minist, nar. prosv., auch in
der bekannten Revue 'Vëstnik Evropy' u. a. Deutsche Auszüge aus seinen
Arbeiten veröffentlichte er vielfach in der 'Russischen Revue' (seit 1873), im
'Archiv f. slav. Phil.' (seit 1876), seltener anderwärts. Seine wissenschaftliche
Produktivität war grossartig, extensiv und intensiv. Grössere Untersuchungen und
kleinere Aufsätze wechselten mit umfangreichen und gedankenreichen Rezensionen
der wichtigsten westeuropäischen und russischen Werke auf dem Gebiete der ver-
gleichenden Literaturwissenschaft, Stoffkunde und Volkskunde. Seine wichtigsten
Arbeiten waren: 'Versuche über die Geschichte der Entwicklung der christlichen
Legende' (Zurnal min. nar. prosv. Bd. 178. 183. 189. 191), 'Untersuchungen im
Bereiche des russischen religiösen Epos' (Sbornik der Abteilung f. russ. Spr. u.
Lit. Bd. 20. 21. 28. 32. .46. 53), 'Südrussische epische Lieder' (ebd. Bd. 22. 36),
'Bemerkungen zur Literatur und den Volkstraditionen' (ebd. Bd. 32), 'Kleinere
Bemerkungen zu den epischen Liedern' (Zurnal min. nar. prosv. Bd. 242. 252.
263. 268. 269. 306) u. a. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den Romanen,
die teils durch byzantinische Vermittlung, teils aus den romanischen Literaturen
zu den Südslaven und dann nach Russland kamen, wie die Geschichte von Troja,
die Romane von Tristan, Bovo d. i. Bueves d'Hanstone, Attila. Von solchen
literatur- und stoffwissensehaftlichen Arbeiten schritt W. zu rein theoretischen vor.
Er beabsichtigte eine 'historische Poetik' zu schreiben, doch veröffentlichte er von
1894—1898 nur Proben davon (Zur. min. nar. prosv. Bd. 293. 302. 310. 312. 313).
In SA. erschienen 1899 'Drei Kapitel aus der historischen Poetik': Zur Geschichte
des Epithetons, epische Wiederholungen als ein chronologisches Moment, Der
psychologische Parallelismus und seine Firmen in den Reflexionen des poetischen
Stiles, Der Synkretismus der ältesten Poesie und die Anfänge der Differenzierung
der Gattungen der Poesie, Vom Sänger zum Poeten, Die Sprache der Poesie und
die Sprache der Prosa. In den letzten Lebensjahren zog ihn die neuere russische
Literatur an; neben kleineren akademischen Arbeiten über Puschkin beschäftigte
er sich mit V. A. Zukovskij, dem eifrigen Vermittler westeuropäischer Poesie mit
Russland; eine ausführliche Monographie über diese sympathische Gestalt (1904)
und ein Aufsatz über Zukovskij und A. J. Turgenev in den literarischen Kreisen
Dresdens 1826—27 beschlossen seine reiche literarische und wissenschaftliche
Tätigkeit. Eine bibliographische Übersicht aller Arbeiten Wesselofskys und eine
kleine biographische Skizze mit gutem Register veröffentlichte unlängst P. K. Simoni
(St. Petersburg 1906. 20 + 55 S.). Die Petersburger Akademie der Wissenschaften
beschloss gleich nach dem Tode des grossen Gelehrten, an eine Gesamtausgabe
seiner Werke zu gehen; wir wünschen diesem Beschlüsse baldigste Ausführung.
Unter den neuesten russischen volkskundlichen Werken ragt am meisten
hervor E. V. Anickovs Buch: 'Las Lied des Frühlingskultus im Westen und bei
den Slawen', dessen erster Teil 'Vom Kultus zum Lied' oben 15, 220 besprochen
wurde. Aus dem zweiten Teile 'Vom Lied zur Poesie' (Petersburg, Akademie
1905. 12 + 404 S.) berühren uns eigentlich nur Kapitel 1—3: Die Frühlingsspiele
Berichte und Bücheranzeigen.
233
und Unterhaltungen (S. 1—99), Die Liebesmotive in den Frühlingsliedern und
Spielen (S. 100—209) und das Verhältnis des Frühlingskultus zur Ehe (S. 210 bis
304), wogegen das vierte Kapitel 'Die Entstehung der Poesie' (S. 305—380) das
engere Gebiet der Volkskunde verlässt. Wie im ersten Teil vergleicht A. die
Lyrik der alten Troubadours, Trouvères und Minnesänger mit den ost- und süd-
osteuropäischen Volksliedern,' z. B. Nitharts von Riuwental Lieder mit einem klein-
russischen (S. 39), und versucht danach ein Bild der Volkspoesie des frühen Mittel-
alters im romanischen und germanischen W esten zu entwerfen. In diesen Reigen-
liedern sind dargestellt die künftige Lage der Teilnehmerinnen an diesen Frühlings-
reigen in der Familie, die Lieder des verheirateten AVeibes (hierbei scheint das
Motiv des Mädchenraubes in den Hochzeitsgebräuchen mitzuwirken, S. 59), der
Kampf der Tanzfreude mit dessen Gegnern, der Streit der Mutter mit der Tochter,
die in deutschen und rassischen Reigenliedern auftretenden Gestalten des Mönches
(Priesters) und der Nonne (S. 65) u.a. Dann geht der Verfasser zu den männ-
lichen Spielen über (Kampfspiele S. 72), untersucht den mittelalterlichen Mairitt
und dessen noch erhaltene Reste (Maigraf) und weist gegen Mannhardt nach, dass
er ein reines Kriegerspiel ist, das in den Gebräuchen der mittelalterlichen feudalen
Gesellschaft wurzelt, und für das mythologische Erklärungen nutzlos sind. Hieran
schliessen sich das Papageischiessen, Wettlaufen u. a., hobby horse and Robin
Hood in England (S. 93). Den Ursprung der Maigrafen sucht der Verfasser in
Westeuropa und zwar im Kreise der Städte; der Osten kennt ihn garnicht. Die
Untersuchung der Liebesmotive in den Frühlingsliedern und Spielen (S. 100) führt
zu den Quellen des poetischen Schaffens. Diese erotischen Motive sucht A. im
Kampfe der Tanzfreudigkeit mit ihren Widersachern und im Streite zwischen
Mutter und Tochter. Der Zusammenhang Nitharts mit dem Langtanz des 17. Jahr-
hunderts besteht trotz Bielschowskys Einwendungen (S. 109). Das Motiv der
'mal mariée' erklärt A. gegen Jeanroy mit G. Paris vorzüglich, wenn nicht aus-
schliesslich als ein Tanzmotiv, wie schon das westeuropäische Mittelalter zeigt.
Weiter untersucht er das von Novati herausgegebene italienische Lied des 15. Jahr-
hunderts, das provençalische 'A l'entrade del tens ciar', endlich 'Les répliques de
Marion', wo er gegen Nigra den tragischen Schluss für später hält (S. 139), und
bespricht das Verhältnis der mittelalterlichen Frühlingslieder zur antiken Erotik
(S. 146). Ist die Vorstellung der mittelalterlichen Kunstlyrik von dem Frühling
als der Zeit der Liebe auch volkstümlich? Der Frühlingskultus der Venus im
alten Rom war ursprünglich orientalisch und später nach Rom übertragen, und die
Vorstellung vom Frühling als der Liebeszeit drang auf literarischem Wege zu den
Troubadours. Nun wendet sich der Verfasser zu den Frühlingsfesten (S. 171)
und untersucht den Brauch des Maiensteckens, gegen Mannhardt polemisierend
(S. 182), der Mailehen und Mädchenversteigerung (S. 184), verschiedene erotische
Spiele und Unterhaltungen (187), den slawischen Brauch, Kränzlein in den Fluss
zu werfen und daraus den Zukünftigen zu erraten (195), die Gevatterschaft oder
Bruderschaft, die im Frühjahr zwischen Jünglingen und Mädchen geschlossen
wird. Es gibt eine Übersicht von der Jahreszeit der Eheschliessungen nach
Westermarck (S. 206), ohne ein endgültiges Urteil über den erotischen Charakter
der Frühlingsgebräuche zu fällen (209). Im dritten Kapitel wendet er sich zur
Beziehung der Frühlingskulte zur Ehe. Er zeigt, wie sich religiöse und wirt-
schaftliche Ansichten gegenseitig durchdringen, besonders in Beziehung auf die
Eheschliessung und das eheliche Leben. Das Weissrussische Spiel Teieskas Heirat,
das in der Zeit nach Weihnachten bis zur Fastenzeit aufgeführt wird, vergleicht
er mit den Saturnalien der oberindischen Stämme (216). Im Mai und im Frühjahr
234
Polívka, Michel:
werden keine Hochzeiten abgehalten, weil die Vorräte bereits aufgezehrt sind (229).
Unter den eheverheissenden Liedern sind einige deutsche und französische Balladen
wahrscheinlich ausLiedern dieses Frühlingskultus hervorgegangen, deren symbolischer
Charakter später eine realistische Deutung erfuhr. Er analysiert besonders das Lied
'L'anneau perdu' (S. 265), dann das deutsche von der Losgekauften (S. 269), wo
der Schiffer nur ein Symbol für den Bräutigam sein soll. Da die Frühlings-
liebeslieder das künftige Familienglück schildern wollen, sind die Symbole der
Frühlingsbegrüssungslieder nahe verwandt mit den Hochzeitsliedern. Dass der
Frühling die Zeit des Freiens war und die Ehe erst nach der Ernte gefeiert
wurde, zeigt ein Lied bei Bujeaud, Chants de l'Ouest 1, 180. Für einige slawische
Reigenlieder verwirft er die mythologische Erklärung und vermutet, dass die
Grundlage derartiger erotischer Unterhaltungen freie, geschlechtliche Beziehungen
waren (S. 299). Da nach Einführung des Ackerbaues das Eheschliessen im Früh-
jahr und Sommer unmöglich wurde, sank die Frühlings-Erotik zu einem blossen
Spiel herab. Das vierte Kapitel behandelt die Entstehung der Poesie (S. 305 bis
360). Das Lied ist nicht das Resultat einer nutz- und ziellosen Richtung der
Lebensenergie, sondern eine Hauptrichtung und zweckbewusste Tätigkeit. Der Ent-
wicklungsprozess des ursprünglichen Liedes zeigt, wie sich in dieser künstlerischen
Tätigkeit das ästhetische Bewusstsein entwickelt. Dieses entspringt bei dem
traditionellen Begehen der Feste, wobei das Lied den letzten Anstoss bekommt,
sich in Poesie zu verwandeln. Dann behandelt A. das Verhältnis des Volks-
sänger» zum Dichter (S. 351) und legt dar, wie in der romanischen und
deutschen Poesie des Mittelalters anfangs die Volkspoesie hervortritt und später
im 13. Jahrhundert das Interesse für diese wieder auflebt (S. 354). Er bespricht
die Entstehung der persönlichen Poesie (S. 355) und der aristokratischen Poesie
aus dem Volks-Frühlingsliede (S. 357), die Weltanschauung der mittelalterlichen
Lyrik (S. 362), das unaufhaltsame Aussterben der Volkspoesie (S. 371). Den
Gebrauch dieses inhaltreichen, gedankenreichen und anregenden Buches erleichtert
ein genaues Sach- und Namenregister und ein Verzeichnis aller in dem Buche
analysierten Lieder,
Prag. Georg Polívka.
(Fortsetzung folgt.)
Friedrich Kluge, Unser Deutsch. Einführung in die Muttersprache.
Leipzig, Quelle & Meyer 1907. VI, 146 S. 8°. 1 Mk.
Die in diesem Büchlein vereinigten Vorträge und Aufsätze beschäftigen sich
zumeist mit der Geschichte des deutschen Wortschatzes. Nicht alles, was der
Verfasser sagt, kann ich unterschreiben: so scheint er mir in der Ablehnung der
Fremdwörter zu weit zu gehen — übrigens nur in der Theorie, denn in der
Praxis scheut er sich verständigerweise durchaus nicht, Wörter wie 'Adepten',
'Organe', 'Motto, 'Kategorien', 'Charakteristik' usw. zu gebrauchen. Aber es ist
hier nicht der Ort, bei der vielverhandelten Fremdwörterfrage zu verweilen. Eine
Geschichte des Fremdwortes im Deutschen, wie sie Kluge (S. 19) fordert, wäre
jedenfalls äusserst wünschenswert. Für unsere Zwecke kommen besonders die
fünf Aufsätze in Betracht, die den Standes- und Berufssprachen gewidmet sind.
Hier ist der Verfasser ganz in seinem Element. Niemand hat sich der Erforschung
unserer Standes- und Berufssprachen, deren Wichtigkeit bereits Leibniz (im Ein-
vernehmen mit Schottelius) erkannt hat, mit solcher Energie angenommen wie er;
\
Berichte und Bücheranzeigen.
235
seine 'Deutsche Studentensprache' (Strassburg 1895), sein noch nicht abgeschlossenes
Werk über die Gaunersprache ('Rotwelsches Quellenbuch'. Strassburg 1901) und
mancher Beitrag zu seiner 'Zeitschrift für deutsche Wortforschung' legen davon
Zeugnis ab. Auf die Studentensprache und die Gaunersprache geht auch das
vorliegende Büchlein ein. Daneben enthält es lehrreiche Ausführungen über die
Seemannssprache und die Weidmannssprache. In einer zusammenfassenden Über-
sieht über die bemerkenswertesten deutschen Standes- und Berufssprachen betont
Kluge, dass unsere Schriftsprache so gut wie unsere Umgangssprache sich stets aus
diesen Sprechweisen erneuern. So stammen z. B. heute allgemein übliche Wörter, wie
'naseweis' und'vorlaut' aus derWeidmannssprache, 'Ausbeute' und 'Fundgrube' aus der
Bergmannssprache, 'Hängematte' aus der Seemannsprache, 'Dietrich' aus der Gauner-
sprache. Auch Übertragungen von einer Standessprache zur andern kommen nicht selten
vor; 'flott', ursprünglich seemännisch, und 'prellen, ursprünglich weidmännisch, sind
zunächst in die Studentensprache und wohl aus dieser in die Umgangssprache ein-
gedrungen. So hat jedes AVort seine Geschichte, und in diesem Sinne beruft sich
Kluge (S. 73) auf den Goetheschen Vers: „Der Deutsche ist gelehrt, wenn er
sein Deutsch versteht" (der Stammvater des Verses ist, nebenbei bemerkt, der
Freiherr von Canitz, wie Michael Bernays, Schriften 2, 217f. gezeigt hat). Und
bescheiden fügt er hinzu: „Aber niemand fühlt sich von der Erfüllung dieses
Dichterwortes weiter entfernt als eben der Sprachforscher." Nun, wenn alle an
der Verwirklichung dieses Ideals mit gleichem Eifer arbeiteten wie Kluge, wir
würden ihm in einiger Zeit eine gute Strecke näher kommen.
Berlin. Hermann Michel.
Otto Klemm, G. B. Vico als Greschichtsphilosopli und Völkerpsycholoo-.
Leipzig, Wilhelm Engelmann 1906. XII und 235 S. 8°. 5 Mk.
Über Vico (1668—1744) ist in Deutschland verhältnismässig wenig geschrieben
worden. Das hängt mit der sibyllinischen Art seines Philosophierens zusammen
die das Eindringen in seine unruhig hin- und herwogende Gedankenwelt be-
trächtlich erschwert. Er lässt sich am besten mit unserem Hamann vergleichen,
wie schon Goethe (Italiänische Reise 5. März 17<S7) getan hat. Das Problem, an
dem sich beide — schliesslich doch erfolglos — abgemüht haben, ist philosophisch
und philologisch zugleich, denn es betrifft das Verhältnis von Sprache und Er-
kenntnis. Dass dieses gewaltige Problem tatsächlich den Mittelpunkt des
Hamannischen Denkens bildet, hat vor einiger Zeit Rudolf Unger in seinem aus-
gezeichneten Buch über 'Hamanns Sprachtheorie' (München 1905) gezeigt. Mag
auch Vicos Geistesrichtung nicht in so eminenter Weise von der Rätselfrage nach
den Beziehungen zwischen Sprechen und Denken beherrscht worden sein wie
Hamanns, so wäre es doch sehr verdienstvoll gewesen, auch bei ihm dies
Problem zum Ausgangspunkt zu nehmen und seine Lösungsversuche achtsam zu
. verfolgen.
Der Verf. des vorliegenden Buches hat sich eine andere Aufgabe gestellt
oder vielmehr stellen lassen, denn der Titel gibt das Thema einer Preisarbeit
wieder, die die philosophische Fakultät der Universität Leipzig vor wenigen
Jahren ausgeschrieben hat. Ob es nicht gefährlich ist, mit so modernen Begriffen,
wie Geschichtsphilosophie und Völkerpsychologie an einen Denker vergangener
Zeiten heranzutreten, mag unentschieden bleiben Auch ob der Verf. in der An-
wendung Wundtischer Termini und Klassifizierungen nicht zu weit gegangen ist,
236
Michel, Lohre, Paul Bartels:
will ich unerörtert lassen. Man kann aus diesem Buche so viel lernen, dass man
die Mängel, die ihm anhaften, leicht in den Kauf nimmt. Nur dass der Yerf.
einem so namenreichen Werke kein Personenregister beigegeben hat, möchte ich
ernstlich rügen. Im übrigen hat er es wahrlich nicht an Fleiss und Eifer fehlen
lassen. Zu einer ausführlichen Besprechung ist hier nicht der Ort. Lediglich
einen Punkt möchte ich herausgreifen.
Vicos Stellung in der Geschichte der Philosophie ist bestimmt durch seine
Polemik gegen Descartes und den Cartesianismus. Der geometrischen Methode
stellt Yico die Methoden der einzelnen Wissenschaften, dem Rationalismus einen
Historismus entgegen, der nicht nur in der Überlieferung eine besondere Erkenntnis-
quelle sieht, sondern für den auch alles, was geschichtlich entstanden ist, ein
besonderes Erkenntnisgebiet abgibt. So finden wir in dem System Yicos einen
der frühsten Versuche zu einer logischen Begründung der Geisteswissenschaften.
Der Hauptgedanke dieses Systems lautet: es ist möglich, das Leben der Völker
nach wissenschaftlichen Prinzipien darzustellen, mithin eine allgemeine Völker-
wissenschaft zu schaffen, sofern es gelingt, das Wesen der Dinge aus ihrer Ent-
stehung zu begreifen und die beiden Erkenntnisquellen des Menschen (Vernunft
und Überlieferung) zu vereinigen. 'Entstehung der Dinge' bedeutet aber bei Vico
zweierlei: zunächst den realen Ursprung der Dinge, sodann aber auch die psycho-
logische Entwicklung unseres Wissens von den Dingen. Der Verf. meint, es wäre
ungerecht, wollte man sagen, dass Vico diese beiden Begriffe verwechselt habe, da
er sich ihres Unterschieds gar nicht bewusst geworden sei. Aber eben das ist
meines Erachtens der Grund gewesen, weshalb Vico trotz unzweifelhaft genialen An-
sätzen doch nie zur Klarheit gekommen ist. Hätte er noch Kants Kritik der
Herderischen Geschichtsphilosophie erlebt, ihm wären vielleicht die Augen auf-
gegangen. So sehr er nämlich dem oberflächlichen Blick gerade ein Vorläufer
Herders zu sein scheint, die tiefsten Wurzeln seiner Geistesrichtung berühren sich
weit mehr mit denen Kants. Denn sie liegen in der Platonischen Ideenlehre.
Berlin. Hermann Michel.
H. Günter, Legenden-Studien. Köln, Bachem, 1906. IX, 19*2 S.
Ernst Lucius, Die Anfänge des Heiligenkultes in der christlichen
Kirche, hsg. von Gr. Anrieh. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1904. XI,
526 S.
Das auf einer ausgebreiteten Kenntnis der hagiographischen Quellen basierte
Werk des lübinger Historikers Günter hat zum wesentlichen Thema den Prozess
fortschreitender Übermalung der historischen Heiligengestalten durch die Legende.
Um hiervon eine klare Vorstellung zu vermitteln nimmt der Verf., anders als die
retrospektive Darstellung Delehayes (vgl. oben 16, 123), den Ausgang von den
authentischen Märtyrerakten, hebt sorgsam diejenigen Stellen aus ihnen heraus,
die, ohne Wunder sein zu wollen, doch des Auffallenden genug hatten, um für
eine vergröbernde Auffassung Wunder zu werden, und zeigt dann, zu welch
krausen und krassen Gebilden die nachkonstantinische Legende derartige Keime
aufquellen liess. Da die Phantasterei und Vergröberung vornehmlich dem Wunder
galt, ist diesem ein besonderer Abschnitt gewidmet; aber auch die sonstige roman-
hafte Entstellung der ursprünglichen schlichten Berichte wird an gutgewählten und
ausführlichen Vergleichen (z. B. dem von Hrotswitha behandelten Dulcitius-Stoffe)
gezeigt. Der Einbürgerung der nach G. wesentlich orientalischen Märtyrerlegende
Berichte und Bücheranzeigen.
237
im Abendlande gilt ein besonderes Kapitel; der umfangreiche Schlussabschnitt über
die Bekenner-Vita lägst nicht nur die mannigfache Verwandtschaft mit der Märtyrer-
legende, sondern auch die charakteristischen Eigenheiten der Gattung erkennen,
die durch die neuen Erscheinungen des wirklichen Lebens (Merowingische Mystik)
vor Versteinerung bewahrt blie°b. Der Historiker als Verfasser verleugnet sich
nicht in dem Streben nach exakter chronologischer Fixierung der einzelnen Stadien
der Legendenentwicklung: im vierten Jahrhundert noch einfache Auffassung,,
authentische Akten; im fünften und sechsten Jahrhundert Entstehung und Aus-
breitung des phantastischen Typs; im siebenten Jahrhundert Einbürgerung im
Abendlande. Als Historiker hält sich der Verf. durchweg an das Dokumentarisch-
Belegbare; er vermeidet, das Werden der Legenden im dichtenden Volke im
einzelnen zu beschreiben. Bleibt durch diese Zurückhaltung sein Buch ärmer an
eigentlich volkskundlichem Materiale wie Delehaye, so werden doch auch frucht-
bare, dem Folkloristen ferner liegende Gesichtspunkte geltend gemacht; so bei der
ausführlichen Besprechung der Frage, wie die Gruppe der 14 Nothelfer sich zu-
sammengefügt habe, die Bemerkung: „Endgültig wird die Frage erst an der
Hand einer Statistik der deutschen Kirchenpatrone des Mittelalters zu beantworten
sein" (S. 125).
Das nachgelassene Werk des Strassburger Theologen Lucius (f 1902) hat
mit der Legende nur vorübergehend zu tun, da es dem Heiligenkult überhaupt
gilt. Diesen schildert es nach der ganzen Breite der Erscheinungsformen, die er
im christlichen Altertum ausbildete, und vor allem nach seinen Voraussetzungen
in der griechisch-heidnischen Religion. Über diese letzteren Zusammenhänge
dürfte kaum irgendwo anders ein so reiches Material zusammengetragen sein wie
hier; Kleines und Grosses, kultische Einzelheiten wie metaphysische Grundlagen,
werden gleicherweise berücksichtigt. Eine nicht geringe Zahl christlicher Heiliger
wird als direkte Erben antiker Gottheiten wahrscheinlich gemacht. Bei der
Schilderung der Heiligenfeste wird auch die weltliche Seite (Gelage bei den
Gräbern; Vergnügungen, Märkte) gelegentlich einbezogen. Der Wert der Legende
wird einsichtig an der sonstigen zeitgenössischen Literatur gemessen; ein Vergleich
der Märtyrerlegende mit der Heldensage wird durchgeführt (S. 83f.), der allerdings
von einem etwas ad hoc gemodelten Begriffe der Heldensage ausgeht. Die ge-
drängte, gute Charakteristik der Legende glaubt feststellen zu können, dass die
Farben für die Schilderung der Verfolgungen, soweit nicht blosse Phantasterei
waltet, wesentlich den diokletianischen Verfolgungen entlehnt sind. Im ganzen
ein sehr anregendes Buch; die Darstellung hält sich den Quellen so nahe, dass
beinah jeder Satz seine Belegstelle unter dem Strich erhält, bleibt aber dabei
vorzüglich lesbar. Diese gewissenhafte Angabe der Belege und ein sorgfältiges
Register machen das Buch zu einem guten Hilfsmittel auch für Spezialstudien.
Berlin. Heinrich Lohre.
Alfred Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen. Nebst einem
Beitrage zur Geschichte der deutschen Wasserheilkunde. Jena,.
L. Diederichs 1906. 448 S. 4° mit 159 Abbildungen. 14 Mk.
In diesem Werke sind mit bewundernswerter Belesenheit die Materialien zu
einer Geschichte des deutschen Badewesens zusammengestellt, und nicht nur
durch eine sehr grosse Menge von Belegstellen für all die vielen Einzelheiten
(das Literaturverzeichnis umfasst 700 Nummern), sondern auch durch Repro-
238
Paul Bartels, Andree:
duktionen zahlreicher gleichzeitiger Abbildungen die geschilderten Verhältnisse
ins rechte Licht gerückt. Nach einem kurzen Überblick über das "Wenige, was
über den Gebrauch der Bäder bis zur Karolingerzeit bekannt oder zu vermuten
ist, (die ursprüngliche Bedeutung des [nach M. Heyne] echt deutschen "Wortes
Stube als Raum zur Erzeugung von stiebendem Wasser, Badestube, die weite
Verbreitung der Badestube z. B. auch bei den slawischen Völkern, die gelegentlich
zu Taufen verwandten Badegeräte, Baderäume im Kloster St. Gallen usw\) werden
zunächst „Badebräuche, die dem Urgermanentum entstammen", geschildert (S. 10 bis
38): das Frühlingsbad, genauer das Maibad, noch spezieller das in der Walpurgis-
nacht gehaltene mit seiner Wunderwirkung, das Johannisbad, auf deutschem
Boden zuerst durch Petrarca für Köln beglaubigt, und zwar hier, wie es scheint,
speziell als ein jährliches Reinigungsfest der Frauen, das Osterbad, werden in
ihrer Verbreitung und in ihrer mit uralten mythischen Vorstellungen zusammen-
hängenden Wunderkraft geschildert; heilige Quellen (z. B. Schwesternbrunnen =
Nornenbrunnen nach Panzer), überhaupt die Heiligkeit des Wassers unter be-
sonderen Umständen (heilvâc = Weihnachtswasser; Osterwasser; Taufwasser; das
Wasser zur Urteilsfindur.g und Urteilsvollstreckung usw.) ausführlich besprochen.
Das „Baden und Schwimmen unter freiem Himmel" (S. 39—64), zu allen Zeiten,
besonders von der Jugend, gern geübt, war oftmals, z.B. im 13., 16., 17.,
18. Jahrhundert, durch obrigkeitliche Verfügung aus den verschiedensten Gründen
zuweilen eingeschränkt oder ganz verboten, bis es in der Neuzeit, z. T. auf Be-
treiben der Ärzte, wieder zu höherer Blüte gelangte. In den „die ehehaften
Badestuben und das Badergewerbe" (S. 64—102), „die privaten Bäder" (S. 103 bis
143) und „die Vorgänge in den öffentlichen Badestuben" (S. 144—171) behandelnden
Abschnitten wird ein recht lebendiger Beitrag zur Sittengeschichte geliefert, der
nicht nur für den Kulturhistoriker und den Arzt, sondern für jeden Gebildeten
von Interesse sein dürfte. Während die Schilderung der Entwicklung der Bade-
stubeninhaber und -Diener zu Zünften, der Verleihung von Badestubenprivilegien
('ehehafte' Badestuben), der Verbreitung der öffentlichen und privaten Badestuben
und ihre Einrichtung in den verschiedenen Jahrhunderten von historischem Werte
ist, findet der Arzt einen belehrenden Überblick über die ersten Anfänge und die
weitere Entwicklung des Badergewerbes, seine Rechte und Pflichten, seine Tätig-
keit und seine Hilfsmittel; von ganz allgemeinem Interesse aber ist das ab-
geschlossene Bild, das jeder Leser von den uns oft naiv anmutenden mittelalter-
lichen Badesitten, die freilich schliesslich zu Unsitten sich auswachsen, erhält;
noch mehr vielleicht ist dies der Fall in dem nächstfolgenden Abschnitte über
„Badeleben im späteren Mittelalter und in nachmittelalterlicher Zeit" (S. 172 bis
195). Auch besonderen Zwecken dienende Einrichtungen von Bädern werden
erwähnt, die Sitte der Braut- oder Hochzeitsbäder, Kindbettbäder, Seelenbäder
(Stiftungen freier Bäder für Arme, als gutes Werk oder als Busse); auch die
Judenbäder werden besprochen, hier aber als solche, die heut noch sich erhalten
haben, nur die Anlagen von Friedberg i. H. und Speyer genannt, das Judenbad in
Worms a. Rh- aber, das dritte heut noch in Deutschland vorhandene, ist unerwähnt
geblieben. „Rückgang und Aufhören der öffentlichen Badestuben" (S. 196—221)
ist bedingt z. T. durch die zunehmenden Missbräuche, z. T. durch die grossen
Seuchen (Aussatz, Pest, Syphilis). „Die deutschen Mineralbäder im Mittelalter
und die aus diesem in die Neuzeit hinübergenommen Badegebräuche" (S. 222 bis
271) und „die Gesundbrunnen in nachmittelalterlicher Zeit bis zum dreissigjährigen
Kriege (S. 272—351) bilden zwei Abschnitte, die, wie mir scheinen will, teilweise
etwas gar zu ausführlich gehalten, wieder für die Sittengeschichte der Zeit von
Berichte und Bücheranzeigen.
239
grossem Interesse sind, das durch die reiche Zusammenstellung einer Menge wert-
voller Abbildungen immer von neuem angeregt wird. Mit dem dreissigjährigen
Kriege tritt eine völlige Änderung des Badelebens ein, wie ja diese Zeit überhaupt
in dem gesamten Leben und Denken unseres Volkes oder doch der Gebildeteren
eine Wende bezeichnet. Vorbei ist es mit dem üppigen Leben m den Badern,
das allerdings allmählich zu einem öffentlichen Scha en sici en wie'e a e, wie
uns die gleichzeitigen Berichte nnd Abbildungen, auch manch kräftiger Spottvers
lehren (wie z.B. das [allerdings spätere] im Liebenzeller Badehause unter einem
Gemälde befindliche Gedicht von dem Ehemanne der seine Frau wegen ihrer
, . . . „ A „„uînL-t „nd das mit den Worten schliesst: „Weiss nicht
Kinderlosigkeit ins Bad schickt, una aas um i»
, j;_ s tu n H Schwangrer ward das Weib, die Magd und der
wie es ging, gut war die btuna, oonwduBe &
Hund") Die neue Gestaltung, die sich nun herausbildet, wird im letzten Kapitel
die deutschen Mineralbäder seit dem dreissigjährigen Kriege. Die Wasserheil-
kunde" (S 352—398) abgehandelt, das besonders für den Arzt von Wert ist.
Hier findet sich der Versuch einer ausführlichen Darstellung, der teils durch die
Mode teils durch die Portschritte in der wissenschaftlichen Erkenntnis beeinflussten
Anschauungen, die schliesslich zu einer vernünftigen Verwertung der Badekuren
und zu den guten Erfolgen, die die ärztliche Wissenschaft mit der sachgeraässen
Anwendung der Wasserheilkunde erreicht hat, indem sie sie den Händen der
Laien entzog, geführt haben; auch die „Luft"- und „Sonnenbäder11, übrigens wie
die Priessnitz-Kur" schon lange vor ihrer „Erfindung" einmal eine Zeitlang geübt
oder in Mode, werden kurz erwähnt. Die letzten 50 Seiten enthalten Nachträge,
Literatur-, Abbildungs-, Namen-, Ortsverzeichnisse, und geben durch ihren Umfang
einen Begriff von der Grösse der vom Verfasser geleisteten Arbeit, die ihm
hoffentlich durch eine weite Verbreitung des interessanten Werkes, dem ich nur
bei einer Neuauflage eine Erhöhung der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit durch
Abwechslung im Druck und durch Kürzung mancher Abschnitte, sowie alphabetische
Anordnung des Literaturverzeichnisses wünschen möchte, gelohnt werden wird.
Berlin. Paul Bartels.
Eine schwedische kulturgeschichtliche Zeitschrift.
Mit dem Beginne des verflossenen Jahres ist im Nordischen Museum, unter
Leitung von Professor Bernhard Salm, eine neue kulturgeschichtliche Zeitschrift
ins Leben getreten, d e den Titel Fatabureu führt, was man etwa Vorrat
kammer« übersetzen kann.') Wie alle wissenschaftlichen Arbe¡ten v<m
Schweden ausgehen, ist auch diese neue Zeitschrift durch Gründlichkeit und
schöne Ausstattung ausgezeichnet; vorzügliche Mitarbeiter zeio-en in ihren Ab-
handlungen nie nur überall die tüchtig Sachkenntni^f dem eigenen
schwedischen Gebiete, sondern beherrschen auch völlig die einschlägigen Arbeiten
des Auslandes namentlich die betreffende deutsche Literatur. Es ist zu beklagen,
Erhält6' ""wwe°„Ci schwedische Sprache noch
verhältnismässig w©nig vorstcindon wird • • i i
liehe Schätze heben können! ^ W'r dor' re'Che w,ssenschaf<-
1) Nordiska Museet. Fatabureu, kulturhistorisk tidskrift, utgifven af Bernhard Salin,
Museets styresman. Stockholm, O. A. Lüjegrens bokhandel 1906. 252 S. (4 Hefte).
240
Andree, Heusler:
Der Inhalt ist ein sehr mannigfaltiger, bietet aber bisher vorherrschend volks-
kundliche Arbeiten, wie aus der hier folgenden kurzen Übersicht der wichtigsten
Artikel zu erkennen ist. Mit den alten Sitten und Gebräuchen von Hornborg By
in Westergotland, wie sie noch bis zum Jahre 1860 ungetrübt bestanden, be-
schäftigt sich Jesper Svedenborg, wobei auch das Klotspel, eine Art Kegelspiel,
eingehende Berücksichtigung findet. Über die Ausstattung der Bräute in Härjedalen
erfahren wir Näheres durch N. Keyland. Hier ist es die hohe, mit künstlichen
Blumen, Flittergold u. dgl. auf einem Drahtgestell errichtete Brautkrone, welche
zu Vergleichen auffordert; denn nach Form und Stoff gleicht sie jenen, die durch
einen grossen Teil Mitteleuropas verbreitet sind und die Hottenrot in seinem
Trachtenwerke ohne die geringste Berechtigung auf slawischen Ursprung zurück-
führen wollte. Von Belang ist auch, was uns Nils Lithberg über Brautsitten,
Brautlauf u. dgl. in Gotland mitteilt; und hier treffen wir auf die Errichtung einer
Ungmansstang, Jungmännerstange (in Kyrkbinge;, welche in ihrer Form, und bis
20 Ellen hoch, mit Fichtenkränzen und B^ichtengewinde geschmückt, völlig den
Eindruck der Maibäume macht, wie wir sie in jedem oberbayerischen Dorfe treffen.
Auch in Schweden ist die Verteilung der Ostereier (Paskäggen, vom jüdischen
Passah) weitgehender Brauch, und in einer umfangreichen Abhandlung sucht Louise
Hagberg deren heidnischen Ursprung nachzuweisen. Wie bei uns das Osterei
in heidnischen Sarkophagen bei Worms von Köhl gefunden wurde, so in den
heidnischen Gräbern von Birkö am Mälarsee. Die Verfasserin gibt einen guten
Überblick über die weite Verbreitung des Ostereies und der damit verknüpften
Sitten in slawischen und deutschen Gegenden, begleitet von vielen Abbildungen,
wobei die Bemalung der schwedischen Ostereier gegenüber den anderen auffällt:
sie sind sehr naturalistisch mit Kornähren bemalt. Auch über alte Musikinstrumente,
die ehemals in Dalarne gebräuchlich waren, erhalten wir Auskunft. Nur in wenigen
Exemplaren haben sich diese Instrumente erhalten, die teils einer Laute, teils der
mit dem Bogen gestrichenen Kantele gleichen, die in Finnland noch vielfach im
Gebrauche ist. Volksweisen und Tanzmelodien aus Westergotland mit Noten teilt
Samuel Landtmanson mit, die zum grossen Teil ein recht originelles Gepräge
zeigen, während die drei mitgeteilten Polkamelodien Entlehnung verraten. Es ist
dabei zu bedenken, dass wir die Erfindung dieses Tanzes durch die tschechische
Bäuerin Anna Chadim aus Petrowitz um das Jahr 1830 herum ganz genau kennen;
von ihr aus hat er seinen Gang durch die Welt gemacht, und mit den Polen hat
er nichts zu tun, wie das alles in Prof. C. Zibrts schönem Werke Jak se kdy
y Cechách tancovalo (Prag 1895) urkundlich belegt nachzusehen ist.
Auch das Haus und seine Einrichtung sind in dem ersten Jahrgange der neuen
Zeitschrift berücksichtigt. Besonders bemerkenswert ist der Aufsatz von A. Roland
über die sogenannten „Mesulakonstruktionen", die ein Mittelding zwischen Block-
haus- und Fachwerkbau darstellen und von einer Säule in der Mitte getragen
werden. Sie sind in Westergotland zu Hause und werden unter Beigabe zahl-
reicher Abbildungen genau beschrieben. Was die innere Einrichtung der Häuser
anbetrifft, so ergibt sich hier, wenn vom Bauernhausrat abgesehen wird, der allge-
meine Kulturzusammenhang mit den übrigen europäischen Ländern. Wenigstens
vermag ich in den von Axel Romdahl abgebildeten, im nordischen Museum be-
findlichen Sesseln und Stühlen aus dem 17. Jahrhundert nicht den geringsten
originellen Zug zu entdecken, und ähnlich verhält es sich mit den von Sune
Ambrosiani beschriebenen eisernen Kachelöfen, d. h. Öfen mit eisernem, aus
Platten zusammengesetztem Heizraume und darüber errichtetem Kachelofen. Die
gegossenen Platten sind mit Darstellungen aus der biblischen Geschichte, Wappen usw.
Berichte und Biicheranzeigeii.
241
genau so versehen, wie die Harzer Ofenplatten aus Gittelde; es kommen auch
solche mit deutschen Inschriften vor. Die späteren Windöfen mit eisernem Heiz-
kasten zeigen dagegen ein mehr schwedisches Gepräge, und die Übergänge vom
Kachelofen zum vollständigen Eisengussofen des 18. Jahrhunderts werden in sehr
lehrreicher, durch Abbildungen belegter Art nachgewiesen.
In die alten schwedischen Jagdzeiten und Jagdmethoden tühit uns eine aus-
führliche Arbeit von Nils Key land. Hier mache ich besonders auf die Konstruktion
der Fallen (für Bären, Ottern usw.) aufmerksam, die oft sehr sinnreich konstruiert
sind. Das Gebiet des Pallenstellens ist noch nicht zusammenhängend und ver-
gleichend behandelt worden, und doch ergeben sich hier, wenn man einige Sach-
kenntnis auf diesem Gebiete hat, merkwürdige Übereinstimmungen. Wie weit da
auf Entlehnung zu schliessen, wie viel auf selbständige Erfindung zurückgeht,
ist eine zu lösende Frage. Ich vermag z. B. zwischen malayischen, sehr sinnreich
hergestellten Fallen und solchen aus Amerika schlagende Übereinstimmung nach-
zuweisen, wobei natürlich von Entlehnung keine Rede sein kann. In das Gebiet
der Jagd gehört auch was uns Adolf Pira über alte Urhörner mitteilt. Während
sich die Skelette des Bos primigenius massenhaft erhalten haben, die Hornzapfen
stets vorhanden sind, ist das eigentliche Horn überaus selten, so dass z. B. ein
Fund Nehrings im Torfmoore bei Treten in Pommern, welcher Zapfen und Horn
brachte, Aufsehen erregte. Da der Ur, wie wir wissen, ziemlich spät ausstarb,
so wurden in alter Zeit seine Hörner noch benutzt, und solche, ein Pulverhorn
in der Stockholmer Rüstungskammer und ein Jagdhorn mit polnischer Inschrift
von 1620, sind es, die hier behandelt werden.
Noch erwähne ich einen ausführlichen Aufsatz von Gunnar Budberg über
die Mühlsteinbrüche von Lugnâs und deren Betrieb und die merkwürdigen
plastischen Darstellungen von Aalen und Löwen in der Stockholmer Hauptkirche
von Otto Rydbeck, denen sich ähnliche mittelalterliche Figuren in der Lunder
Domkirche anschliessen. Wir wissen ja, wie lebhaft die Phantasie der Stein-
metzen in romanischer Bauzeit war und wie deren Erzeugnisse (z. B. an S. Jakob
in Regensburg) und Tiergestalten dem Architekten wie Kirchenhistoriker schwierige
Aufgaben stellen. Dahin gehören auch Löwe und Löwin durch einen Aal ver-
bunden in der Stockholmer Kirche, über denen eine spätere plattdeutsche Inschrift
steht, die uns allerdings auch nicht weiter führt und die (hochdeutsch) lautet:
„Der Aal ist fett, auch ein starker Fisch. Mit ledigen Händen ist er nicht gut
zu fangen, das ist sicher. 1521. Wer ihn will verwahren, darf Säcke oder Kisten
an ihm nicht sparen." [Vgl. dazu die fischende Katze bei Montanus, Schwank-
bücher 1899 S. 623 f.]
München. Richard Andree.
Danske Vidßr og Vedtaegter eller gamie Landsbylove og Byskrâer udgivne
at' Foul Bjerge, Hejskoleherer, og Thyge J. Söegaard, Oberstlojtnant.
I. Gerne veci Poni Bjerge. Kj0benhavn, Lehmann & Stage, 1904 bis
1906. XII, 504 S. 8°.
Die zwei Herausgeber haben sich vereinigt, um ¿¡e dänischen Dorfweistümer,
Bauersprachen, Mark Ordnungen, ¿je bäuerlichen Genossenschaftsrechte zu sammeln.
Das meiste lag noch ungedruckt in den Bibliotheken und Archiven der Städte und
Dörfer, und die Ausbeute übertraf die Erwartungen Söegaard hat Jütland über-
nommen, das Material von den dänischen Inseln legt Bjerge in dem jetzt voll-
endeten ersten Bande vor.
Zeitschr. ci. "Vereins f. Volkskunde. 1907. jß
242
Heusler, Boite:
Zur Aufzeichnung dieser bäuerlichen Gewohnheitsrechte schritt man vom
16. Jahrh. an. Das älteste Stück der Sammlung ist von 1554. Sie ziehen sich
bis ans Ende des 18. Jahrh. hin. Ihr Inhalt gilt einerseits dem gemeinsamen
Landwirtschaftsbetriebe: Satzungen über Weidegang, Instandhaltung der Zäune,
Grenzfrevel, über den Dorfhirten, den Dorf bullen u. a. m.; anderseits regelt
die Genossenschaft ihre Zusammenkünfte, die Trinkgelage, die von denen der
mittelalterlichen Zünfte abstammen, sowie ihre Ehrenämter, den Oldermann, den
'Stuhlbruder'. Das Gelage erscheint so recht als das Lebensorgan dieser Dorf-
gemeinden: die Bussen sind meist in Bier als dem nervus rerum zu entrichten.
Man geht mit Pfändung gegen den Schuldigen vor, selbstherrlich im engen Kreise;
die Gesetze und Gerichte des Landes halten sich gleichsam im Hintergrunde, auf-
gespart für den Ernstfall; unsere Dorfrechte sind eine Verfassung für sich, die
das Alltagsleben beherrscht. 'Nur als Mitglied der Genossenschaft konnte der
einzelne zur Geltung kommen, sich Recht verschaffen, auf Hilfe zählen bei Krank-
heit oder Feuersnot und schliesslich zu einem ehrlichen Begräbnis gelangen'
(S. XI).
Die Volkskunde empfängt aus diesen Quellen einen nicht allzu abwechslungs-
reichen, aber unbedingt echten, ersthandigen Stoff. Das Register mit Wort-
erklärungen, das für den zweiten Band versprochen wird, ist willkommen; Kalkars
altdänisches Wörterbuch reicht nicht immer aus.
Berlin. Andreas Heusler.
Alessandro d'Ancona, La poesia popolare italiana, studj. 2. edizione
accresciuta. Livorno, R. Giusti 1906. VIII, 571 S. 8°.
Die Studien zur italienischen Volksdichtung, die der hochverdiente Pisaner
Literaturhistoriker von neuem in die Welt sendet, sind, obwohl sie fast 100 Seiten
mehr als die 1878 erschienene erste Ausgabe enthalten, in der Anlage unverändert
geblieben. Nicht systematisch beschreibend, sondern streng historisch vorgehend,
zeigt der Vf. mit ausgebreiteter Materialkenntnis, dass bereits im 12. und 13 Jahr-
hundert ein italienischer Volksgesang existierte, der sowohl politischen, geistlichen,
moralischen wie erotischen Inhalt hatte und dessen Nachwirkungen sich z. T. bis
heut fortgepflanzt haben. In den Florentiner Chroniken des 14. bis 16. Jahr-
hunderts, in den Komödien, den Novellen, in den Melodieangaben der geistlichen
Gesänge (laude) treffen wir auf zahlreiche Liederspuren, und oft haben Kunst-
dichter wie der elegante Polizian und der derbere Pulci die Formen des Volks-
liedes nachgeahmt, dem sie gleichzeitig neue Gedanken und Motive zuführten;
1550 setzte der Maler Agnolo Bronzino seine Serenata quodlibetartig aus bekannten
Volksliederanfängen zusammen. Unter den eingeflochtenen Texten und Einzel-
untersuchungen befinden sich auch zwei Balladenstoffe, deren italienische Herkunft
wohl unanfechtbar ist: Donna Lombarda, der D'Ancona ein höheres Alter als
Gaston Paris zuschreibt, und La bella Cecilia, über die oben 12, 64 zu vergleichen
ist. Die zweite Hälfte des Buches (S. 209 — 474) ist der Betrachtung der Liebes-
lyrik, der Geschichte ihrer Formen, der Verbreitung einzelner Lieder durch alle
italienischen Landschaften und ihrer Heimat gewidmet. Für eine grosse Zahl von
Liedern erweist der Vf. aus Sprache, Reim und anderen Indizien, dass ihr
Ursprung nicht in Toscana, sondern in dem liederreichen Sizilien zu suchen ist,
dessen dichterischer Ruhm bis in die Zeit des Hohenstaufenkaisers Friedrich II.
zurückgeht. In Toscana wurden sie einer sprachlichen Umwandlung (toscaneg-
Berichte und Bücheranzeigen.
243
giamento) unterzogen und drangen von hier aus in die anderen Provinzen. Auch
die Entwicklung der Form des Rispetto oder Strambotto bestätigt diese Wahr-
nehmung. Aus der ursprünglichen sizilischen vierzeiligen Strophe entstand sowohl
die mit einer Coda versehene Strophe Toskanas, wie die nur zwei Reime ent-
haltende Ottava siciliana aus der dann die gewöhnliche Ottave hervorging; die
dreizeiligen Stornelli aber sind in Toskana zu Hause. Bei der hohen poetischen
Begabung des italienischen Volkes, das seinen Ariosi, Tasso und Berni teilweise
auswendig weiss, und bei der gegenseitigen Beeinflussung von Kunst- und \ olks-
poesie (D'A. vergleicht sie S. 472 zwei getrennt nebeneinander fliessenden Strömen,
die sich bisweilen vereinen und dadurch einer etwas von des andern tarbe an-
nehmen) ist natürlich eine Scheidung zwischen "Volkslied und Kunstlied oft
schwierig; trotzdem kennzeichnet DA. verschiedene Stücke in den Sammlungen
von Tigri und Giannini als unecht und weist für viele Nummern der hsl. und ge-
druckten Liederbücher des Volkes den literarischen Urspiung nach Man sieht,
auch der deutschen Volksliedforschung bietet die mit sicherer Methode geführte
Untersuchung, der noch umfängliche Liedertexte und A erzeichnisse aus dem
15 bis 17. Jahrhundert angehängt sind (S. 175—5G1), wertvolle Parallelen. Dass
der Vf. dabei selten über die Grenzen seines Landes hinausblickt, die Heimat-
frage für internationale Balladenstoffe (wie die Grossmutter Schlangenköchin
S. 124) nicht aufwirft und die musikalische Seite des Volksliedes unberührt lässt,
kann unsere Dankbarkeit für das Gebotene nicht schmälern. Zu vielen von ihm
behandelten Motiven (S. 103 Kettenreime, 98. 258 Vogel als Bote, 231. 399 Ver-
wandlungen des Liebhabers, 225 trauernde Taube, 285 Sieben Schönheiten,
239 Und wenn der Himmel war Papier usw.) hätte er bei Uhland. R. Köhler
und anderen deutschen Porschern weitere Nachweise finden können.
Berlin. J. Bolte.
E. M. Kronfeld, Der Weihnachtsbaum. Botanik und Geschichte des Weih-
nachtsgrüns. Seine Beziehungen zu Volksglauben, Mythos, Kultur-
geschichte, Sage, Sitte und Dichtung. Mit 25 Abbildungen. Olden-
burg und Leipzig, Schulzesche Hofbuchhandlung o. J. [1906], VIII,
233 S. 8°. 4 Mk.
Keine erschöpfende wissenschaftliche Untersuchung bietet uns der Wiener
Botaniker, aber eine anmutig zu lesende und durch Quellennachweise genügend
fundierte Sammlung von allerlei Wissenswertem über die mit der Weihnachts-
feier in Zusammenhang stehenden Pflanzen: die Christrose (Nieswurz), die
blühenden Kirsch- und Apfelbaumzweige, die immergrüne Tanne, Pichte, Föhre,
Eibe, Mistel, Stechpalme, den Mäusedorn und ihre Verwendung im Kultus und
Volksgebrauch, um sich endlich der Geschichte des mit Lichtern und Äpfeln be-
hängten Weihnachtsbaumes zuzuwenden. Wenngleich die reichlich eingestreuten
Dichterzitate dem Stile eine feuilletonistische Färbung verleihen, so ist doch her-
vorzuheben, dass die allmähliche Verbreitung des um 1600 zuerst in Strassburg,
im 18. Jahrhundert im protestantischen Mitteldeutschland erscheinenden und im
19. Jahrhundert auch in die katholischen Gegenden eindringenden Weihnachts-
baumes sorgfältig geschildert wird; mit gutem Erfolge hat K. selbst eine Reihe
von bejahrten Leuten in Österreich darüber befragt und z. B. festgestellt, dass in
Wien die ersten Weihnachtsbäume seit 1817 durch die Gemahlin des Erzherzogs
16*
244
Boite: Berichte und Bücheranzeígeíi.
Karl, eine hessische Prinzessin, durch den Maler Rudolf Alt aus Prankfurt und
den Schauspieler Anschütz eingeführt worden sind. Peilbergs grosses Werk 'Jul"
(1904) blieb dem Vf. leider unbekannt; auch unsere Zeitschrift hätte ihm ver-
schiedene Notizen geliefert. J. B.
Volkskunde im Breisgau, herausgegeben vom Badischen Verein für Volks-
kunde durch Prof. Dr. Fridrich Pfaff. Freiburg i. B., J. Bielefeld
1906. 189 S. 8°. 3 Mk.
Diese dem badischen Pürstenpaare zum goldenen Hochzeitsfeste dargebrachte
Gabe besteht aus acht Abhandlungen, die sämtlich von Volksüberlieferungen des
badischen Landes ausgehen. P. Pfaff erläutert umsichtig die Sage vom Ursprung
der Herzoge von Zähringen, die der 1523 verstorbene Freiburger Kaplan Joh. Sattler
aufgezeichnet hat, aus den historischen und örtlichen Verhältnissen und aus der
Verbindung mit der Dietrichsage, die ja auch in der Anknüpfung der Harlungen
an Breisach zu Tage tritt. — Weiter schildert Pfaff das alte volkstümliche Kraft-
und Scherzspiel 'Katzenstriegel' oder Strebekatze, bei dem zwei Kämpfer, die
Hände auf die Erde gestemmt, niederknieten und an einem Handtuche zogen, das
sie entweder mit den Zähnen packten oder um den Nacken gelegt hatten. Hierzu
hätte P. weitere Zeugnisse finden können bei Bolte und Seelmann, Niederdeutsche
Schauspiele 1895 S. *->1—*34; Philo vom Walde, Schlesien in Sage und Brauch
1883 S. 141 (Strabelkatze', Vöges, Sagen aus Braunschweig 1895 Nr. 170. Ver-
wandt ist das 'jeu de panoye', bei dem die Gegner die Püsse gegeneinander
stemmen, bei Moerkerken, De Satire in de nederlandsche Kunst der Middeleeuwen
1904 S. 198 und in einer kleinen Bronzegruppe des finnischen Bildhauers Rob.
Stigett, die ich auf der diesjährigen Berliner Kunstausstellung sah. Der Name
erklärt sich wohl aus einem Scherze, zwei wirkliche Katzen zusammenzukoppeln
und dann gegen einander zu hetzen. — P. Lamey beschreibt in seinem Artikel
'Pastnachtsgebräuche aus Bernau bei St. Blasien', wie die Burschen am Sonntag
invocavit eine 'Hexe' genannte Strohpuppe verbrennen und glühend gemachte
runde Holzscheiben den Berg hinunterschleudern. — 0. Haffner bringt 337
Volksrätsel aus ganz Baden in der von E. H. Meyer vorgeschlagenen stofflichen
Gruppierung und mit sorgsamen Verweisen auf Wossidlos und andere Sammlungen
zum Abdrucke, das Ergebnis einer 1893 bei den badischen Volksschullehrern ver-
anstalteten Umfrage. — Schon oben S. 209 erwähnt wurden die beiden Lieder-
sammlungen von K. Pech er, der 22 Marschlieder des 5. Badischen Infanterie-
Regiments Nr. 113 samt den Melodien aufgezeichnet hat. und von 0. Meisinger,
13 Volkslieder aus dem Wiesentale. — P. Kluge verfolgt die Geschichte der 1777
von Wieland als schwäbisch bezeugten 'lieblichen Wortbildung' Anheimeln bis auf
Bismarck, Rosegger un(j Heinrich Seidel, und E. Eckhardt analysiert drei 'alte
Schauspiele aus dem Breisgau', nämlich das 1599 geschriebene, aus einem Fron-
leichnams- und einem Passionsspiele zusammengesetzte Freiburger Drama, das
z. T. auf diesem beruhende, aber auch durch den protestantischen Schweizer Ruef
beeinflusste zweite Freiburger geistliche Spiel von 1604 und endlich das Endinger
Judenspiel, das K- v- Amira 1880 herausgab. Zu S. 176 bemerke ich, dass die
Namen der Wächter am Grabe Christi auf den Engländer Grimald zurückgehen
(Archiv f. neuere Sprachen 105, 9). J. Bolte.
Notizen.
245
Notizen.
O. Arnstein, Volkskunde (Bibliographie für 1903. 1464 Nr.). Jahresberichte für
neuere deutsche Literaturgeschichte 14, 36—75.
R. Brandstetter, Ein Prodromus zu einem vergleichenden Wörterbuch der malaio-
polynesischen Sprachen für Sprachforscher und Ethnographen. Luzern, E. Haag 11)06.
74 S. (In origineller, für jeden Sprachwissenschaftler interessanter Weise stellt der Vf.
neue theoretische Forderungen für ein vgl. Wörterbuch des durch W. v. Humboldt be-
rühmt gewordenen Kawi und 11 neuerer malaio-polynesischei Sprachen auf, behandelt
zur Probe die Benennungen von 20 Körperteilen und sondert endlich unter diesen die
höflichen, euphemistischen, poetischen und derben Ausdrücke. An sieben frühere Hefte
von Bs. Malaio-polynesischen Forschungen, die zumeist Übersetzungen von Erzählungen
bieten, sei hierbei erinnert).
A. van Gennep, De l'héraldisation de la marque de propriété et des origines du
blason, étude ethnographique (aus Revue héraldique). Paris 1906. 23 S. (Nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Russland, Ägypten, Arabien, Japan ist die Hausmarke oft
zum Wappen geworden; selbst das Totemtier eines Stammes wird bisweilen als Eigentums-
marke gebraucht. Der Ursprung des Wappens ist offenbar polygenetisch.)
Max Gerhardt, Der Aberglaube in der französischen Novelle des 16. Jahrhunderts.
Rostocker Diss. Schöneberg, Langenscheidt 11)06. XII, 158 S. (Die fleissige und gut-
oeordnete Materialsammlung bietet ein Seitenstück zu Roemers Diss, über den Aber-
glauben im frz. Renaissancedrama 1903 : die beigegebenen Erläuterungen sind etwas ungleich
ausgefallen, Sébillots Folklore de France wird nirgends herangezogen. Ein Sachregister
erhöht die Brauchbarkeit.)
Franz Heinemann, Teil-Bibliographie, umfassend 1. die Tellsage vor und ausser
Schiller (15. bis 20. Jahrhundert) sowie 2. Schillers Teil-Dichtung (1804—1906). Bern,
K. J. Wyss 1907. 189 S. 4ML (Der Verf. der oben 13, 110 besprochenen trefflichen
Tell-Ikonographie gibt eine Übersicht über die Ausgestaltung der Teilsage und die
Geschichte des wissenschaftlichen Streites, indem er viele Buchtitel mit einer kurzen
Charakteristik versieht, und bringt im zweiten Teile eine wertvolle nachträgliche Gabe
zum Schillerjubiläum).
E. Hoffmann - Krayer, Schweiz, Volkskunde. Geographisches Lexikon der
Schweiz 5, 33—-4S. 1907 (behandelt kurz, aber mit Angabe der Literatur die Sitten,
Bräuche, Feste, Spiele sowie die Volksdichtung).
R F. Kaindl, Völkerkunde, Volkskunde und Völkerwissenschaft. Österreichische
Rundschau 4, 143—150.
Gerh. Kropatschek, De amuletorum apud antiques usu capita duo. Greifswalder
Diss. 1907. 72 S. (Sammelt übersichtlich die antiken Stellen über Schutzmittel gegen
böse Geister und Krankheiten und die heilkräftigen Pflanzen, die man als Amúlete
trug, statt sie zu verzehren. Über die erhaltenen antiken Amúlete will der Vf. später
handeln).
Franz Frhr. v. Lip per h ei de, Spruchwörterbuch, Lief. 9-20. Berlin, Expedition
des Spruchwörterbuchs 1906. S. 385 - 960. Lief. je o,60 Mk. (Heiraten-Wahrheit. Die
oben 16, 365 angezeigte sehr beachtenswerte Sammlung schreitet rüstig dem Abschluss
zu ; nur noch zwei Lieferungen stehen aus.)
E. Rabben, Die Gaunersprache (chochum loschen) gesammelt und zusammengestellt
aus der Praxis für die Praxis. Hamm i. W., Breer & Thiemann 1906. 167 S. (Ein Polizei-
beamter veröffentlicht ein in der Praxis gesammeltes Vokabular, oline Kenntnis der von
Kluge verzeichneten lrüheren Literatur [oben 15, 467]; er unterscheidet die süddeutsche,
norddeutsche und jüdische Gaunersprache.)
A. Schullerus, Kalender des Siebenbürger Volksfreundes für 1907. Hermannstadt,
J. Drotleft. 176 S. 0,50 Kr. (Darin u. a. Lebensskizzen von Friedrich Teutsch und
0. v. Meltzl. E. Sigerus, Sächsische Leinenstickereien. A. Schullerus, Das Brot im
Spiegel unserer Mundart).
246
Notizen. Brunner:
K. Spiess, Das Sprichwort (Preuss. Jahrbücher 125, 270—288. Berlin 1906). —
Volkskunde und Volksleben (Grenzboten 1906, 3, 670-677).
J Leite de Vasconcellos, Ensaios ethnographicos, vol. 8. Lisboa, Imprensa
Lucas 1906. VIII, 408 S. (Die hier gesammelten Zeitschriftenartikel sind teils Anzeigen
volkskundlicher Literatur von 1881 — 84, teils betreffen sie portugiesischen Aberglauben
(1879—81) und Festkalender (1880—81); ferner liefert der Vf. Nachträge zu seiner ver-
dienstlichen, oben 14, 858 erwähnten Bibliographie der portugiesischen Volkskunde.)
J. Leite de Vasconcellos, Religiôes da Lusitania na parte que principalmente se
refere a Portugal, vol. II. Lisboa, Imprensa nacional 1905. XVIII, 373 S. (.Dem oben
9, 345 besprochenen prähistorischen Teile folgt die ebenso gründliche und gelehrte Unter-
suchung über die Religion Portugals in protohistorischer Zeit, d. h. bis zum Erscheinen
der Römer auf der iberischen Halbinsel. Neben den vereinzelten Notizen antiker Schrift-
steller fliessen hier reichlicher die monumentalen Quellen, gesammelt im Berliner Corpus
inscriptionum lat. II, vom Vf. aber sorgfältig nachgeprüft und in guten Abbildungen und
Karten vorgeführt. Da erscheinen die Gottheiten Endovellicus, Ategina, Matres, Lares,
Nymphae, Genius, Navia, Trebaruna, Runesocesius u. a., deren Besprechung der Vf. ein-
leitende Kapitel über die Geographie und Ethnologie Portugals, den Kultus der Gestirne,
Berge, Wälder, Küsten, Flüsse, heiligen Tiere, auch über den von den Phönikiern ein-
geführten Herakles-Melqart voraufschickt. Weitere Ausführungen über Totenkult, Opfer,
Standbilder usw. sollen im dritten Bande folgen.)
Ans den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 25. Januar 1907. Herr Professor Ludwig berichtete über
Reste volkstümlicher Überlieferungen und Aberglauben bei der Fischerbevölkerung
in Horst an der Ostsee. Er gab auch Beispiele der dortigen Volksmedizin durch
Besprechung und Bestreichen. Herr Dr. Ebermann wies darauf hin, wie schwer
es sei, alte Segensprüche in Deutschland chronologisch zurückzuverfolgen, während
es in Frankreich eine bis ins 16. Jahrhundert zurückzuführende Tradition gebe;
auch bei den Rezeptbüchern volkstümlichen Charakters sei keine Tradition vor-
handen. Herr Prof. Dr. Schulze-Veltrup wies auf 'Albertus Magnus' als Quelle
für Segensprüche und Rezepte hin, Herr Prof. Dr. Roediger auf den sogen.
'Feurigen Drachen', ein wohl ironisch gemeintes Handbuch für Zauberkünste,
Herr Prof. Dr. Bol te legte das oben S. 91 abgebildete Fangespiel aus ge-
schnitzten Hölzchen vor und besprach das in einem Berliner Theater aufgeführte
Tiroler Krippenspiel von Greinz. Herr Maurer führte zu dem Hölzchenspiel eine
Parallele aps Südafrika an. Herr Oberlehrer Dr. Fuchs sprach ausführlich über
die Keule im Kasten, die bekannte Sage von den undankbaren Kindern, denen
die Eltern ihr Erbe schon bei ihren Lebzeiten übergeben haben. Die bekannteste
Fassung der Sage lehnt sich an das Wahrzeichen von Jüterbog, die Keule, an;
auch in anderen norddeutschen Orten sind Erinnerungen an solche Wahrzeichen
erhalten. Der Sagenstoff ist aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in be-
nachbarten und ferneren Ländern bekannt, so in Frankreich, England, Spanien usw.
Die Variationen beziehen sich besonders auf den Behälter, worin der Vater,
nachdem er die Undankbarkeit seiner Kinder erkannt, seine angeblichen Schätze
Protokolle.
247
bewahrt; bisweilen leiht er von seinen Kindern einen Scheitel, in dem er nachher
einiges Geld zurücklässt; an Stelle der Keule erscheint in England ölter ein Hammer.
Das Alter dieser Sage wird durch das Schachbuch des Jakobus di Cessolis
(12. Jahrhundert) bezeugt; die älteste niederdeutsche Fassung des Spruches. „Wer
seinen Kindern gibt das Brot usw." in drei Reimen des IG. Jahrhunderts stammt
aus Rostock. Dass Hammer oder Keule eine Erinnerung an die alte bitte dar-
stelle, untaugliche Greise zu erschlagen, bestritt der \roitiagende duichaus, viel-
mehr hielt er die Keule für eine spätere und überflüssige Zutat. An dei Diskussion
beteiligten sich Herr Bolte und Roediger. In den Ausschuss wuidcn füi das
Jahr 1907 gewählt; Fräulein El. Lemke und die Henen Behl end, Ptiedel, Götze,
Hahn, Heusler, Lemke, Ludwig, Maurer, Mielke, Samter, Schmidt. Als Schrift-
führer für Herrn Oberlehrer Dr. Ebermann ward der Unterzeichnete kooptiert.
Freitag, den 22. Februar 1907. Der Vorsitzende machte Mitteilung vom
Hinscheiden des Prof. A. Kirchhoff in Halle und legte den von Herrn
Mielke erstatteten Bericht über den erfreulichen Fortgang der 'Landeskunde
der Provinz Brandenburg' vor. Den Vortrag des Abends hielt Herr Postdirektor
Esslinger aus Leer in Ostfriesland über ostfriesländisches Kunstgewerbe unter
Vorlegung vieler ausgezeichneter Stücke aus seinen reichen Sammlungen. In
vielen Beziehungen zeigt das ostfriesländische Kunstgewerbe Verwandtschaft mit
Westfriesland. Da die Ostfriesen von alters her Seefahrer sind, so kann man
unter den Erzeugnissen des alten Kunstgewerbes vielfach Erinnerungen an aus-
ländische Natur- und Kunstgebilde bemerken. In der Marsch sind durch den
Reichtum, den daraus folgenden Luxus und die Neuerungssucht die alten Über-
lieferungen sehr verblasst, während die Geestbewohner noch manchen alten Hausrat
sich bewahrt haben. Zugleich mit dem allgemeinen Rückgange des Handwerks
im 19. Jahrhundert hat auch das ostfriesische Kunstgewerbe viel von der alten
Frische und Kraft eingebüsst. Das alte Geschlecht der Kunsthandwerker, die nach
Jahrhunderte alten Vorlagen in Musterbüchern arbeiteten, ist jetzt ausgestorben.
Ihre Erzeugnisse zeichneten sich durch grosse Stilreinheit und "Wahrhaftigkeit in
der Verwendung des Materials aus, Grundsätze, auf welche das moderne Kunst-
gewerbe zurückgegriffen hat. Auf der dritten deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung
in Dresden 1906, wo Herr Esslinger grosse Teile seiner Sammlungen vorgeführt
hatte, wurden diese charakteristischen Vorzüge allgemein anerkannt. Die Trachten
der Ostfriesen wurden durch zwei Anzüge beider Geschlechter und mehrere
Frauenhüte veranschaulicht. Die Frauentracht erinnert an die holländische der
tnsel Marken. Eine grosse Sammlung von Modellen für Schuhschnallen bewies,
mit welcher Gründlichkeit der Redner das Gebiet des ostfriesischen Kunstgewerbes
durchforscht hat. In früherer Zeit war die Leinenweberei in Lehe sehr bedeutend
und ihre Erzeugnisse wurden weithin ausgeführt. Die Regierung Friedrichs des
Grossen liess sich auch hier die Seidenraupenzucht angelegen sein. Unter den
Korbwaren befand sich ein originelles stuhl förmiges Gerät zum Anwärmen und
Trocknen der Kinderwäsche. Hochentwickelt war die Holzschnitzerei der oft blau,
rot und grün bemalten Möbel und der Lehnen der zweiräderigen Wagen, die aber
nur im Sommer benutzt werden konnten. Mit Kerbschnitzerei verziert waren die
sog. Schultafeln, kleine Holzkästen mit Deckel und Handgriff, die gleich unseren
Schulmappen zur Aufnahme der Schulbücher dienten" und vom Dorfmaler
schön geschmückt waren. Die Sitte der Geschenkfenster wurde durch einige be-
malte Scheiben veranschaulicht, wie sie bei festlichen Gelegenheiten (Fenster-
bieren) die Bauern einander schenkten. Die Zinn- und Gelbgiesser schmückten
Küche und Stube mit getriebenen Tellern mit biblischen Darstellungen und mit
248
Brunii er. Protokolle.
den langgestielten Bettpfannen, die man an die Wände hängte, nachdem abends
die Hausfrau damit alle Betten durchwärmt hatte. Eiserne Schmiedearbeiten von
grosser Schönheit stellten den alten ostfriesischen Grob- und Kleinschmieden ein
ehrenvolles Zeugnis aus: feinziselierte Wurströsten, Huthalter in der Art der Vier-
länder, Kessel- und Lampenhaken, Zangen zum Backen der Neujahrskuchen,
Wetterfahnen, Fischergeräte und der den Marschbauern eigentümliche zweigespitzte
'Patstock', der als Waffe und als Springstock diente. Hervorragendes leisteten
die Goldarbeiter in der Herstellung feiner und eigenartiger Schmucksachen. Ihre
Filigrantechnik, die sie wohl von Holländern überkamen, zeichnet sich durch grosse
Feinheit und schwungvolle Linienführung aus. Seine grossen Sammlungen wünscht
der Redner in einem neu zu begründenden öffentlichen ostfriesischen Museum zu
vereinigen, wofür er seine derzeitigen Landsleute zu gewinnen sucht.
Freitag, den 22. März 1907. Der Unterzeichnete legte Photographien von
Kacheln eines Winterthurer Fayence-Ofens von 16G5 aus der Sammlung für deutsche
Volkskunde vor. Das Mittelschild enthält die Namen der Besteller und das Mono-
gramm des Hafnermeisters Hans Heinrich Graf. Die Kacheln sind mit Dar-
stellungen der zehn Lebensalterstufen des Mannes von 10 bis zu 100 Jahren in
farbiger Malerei versehen. Symbolische Tiere und Pflanzen fehlen bei diesen Dar-
stellungen, dagegen ist ihnen ein Spruch beigefügt, der dem von A. Englert oben 17,
32 unten zitierten entspricht. Ferner legt derselbe eine Reihe von Neuerwerbungen
vor, welche sich auf die Geschichte ,der Volkstracht im Fürstentum Schaumburg-
Lippe beziehen. An den Beispielen der in Bückeburg, Lindhorst und Frille zur-
zeit üblichen Frauenhaube wurden drei Trachtengruppen in Schaumburg-Lippe
besprochen, welche vor etwa 50 Jahren weit weniger unterschieden waren als
heute, wie an der Hand älterer Abbildungen gezeigt wurde. Herr Prof. Bolte
machte auf Darstellungen der Altersstufen an Fayence-Öfen im Germ. Mus. in
Nürnberg aufmerksam. — Herr Dr. P. Bartels machte interessante Mitteilungen
über Volksglauben, Volkslieder und Sagen der Weissrussen. Herr Dr. jur.
A. H ell wig sprach dann über Verbrechen und Aberglauben. Er zeigte an zahl-
reichen gerichtsbekannten Beispielen, wie noch heute der Glaube an Hexerei,
Wahrsagerei, bösen Blick, an die Zauberkraft von Amuletten, Wünschelruten u. dgl.
in Stadt und Land nicht ausgestorben sei. Da der Aberglaube oft zu Verbrechen,
ja zu Mord führt, ist seine Kenntnis auch für Juristen von der grössten Bedeutung.
Denn häufig ist es möglich aus den Spuren, welche der Verbrecher in aber-
gläubischem Wahn am Tatorte hinterliess, den Täter zu ermitteln. Vielfach wird
man auch bei Vergehen wie Baumbeschädigungen aus der Kenntnis der sym-
pathetischen Kuren mildernde Umstände für den Frevler ableiten dürfen. Bei
schweren Verfehlungen dürfte allerdings abergläubische Gesinnung des Verbrechers
nicht immer als Unzurechnungsfähigkeit gelten. Der Kampf gegen den Aberglauben
ist zwar schwer zu führen, weil die Betrogenen sich meist schämen, ihre Torheit
einzugestehen, aber er ist eine Kulturaufgabe ersten Ranges, die nicht den einzelnen
deutschen Staaten überlassen werden darf, sondern vom Reiche aus organisiert
werden muss. In der folgenden Diskussion vermisste Herr Dr. Fiebelkorn eine
wissenschaftlich genügende Definition des Begriffes Aberglauben, da z. B. der
Glaube an die Wünschelrute als Aberglaube angesehen würde, während nach seiner
Meinung die Frage nach ihrer Wirksamkeit oder Unwirksamkeit noch nicht ent-
schieden sei. Herr Prof. Roediger wies darauf hin, dass für gerichtliche Ver-
folgung des Aberglaubens wohl nur der etwa angerichtete Schaden und die
daraus folgende Entschädigungspfiicht in Frage kommen dürfte.
Steglitz. K. Brunner.
Drei spätmittelalterliche Legenden in ihrer Wanderung
aus Italien durch die Schweiz nach Deutschland.
Yon Heinrich Diibi.
(Vgl. S. 42—65. 143—160.)
3. Frau Yrene und der Tannliäuser.x)
Man nimmt gewöhnlich an, dass die durch Wagners Oper so bekannt
■gewordene Legende von dem Ritter, der im Yenusberge gewesen war
und dafür vom Papste verflucht wurde, wie sie an einen deutschen Namen
anknüpft, so auch deutschen Ursprunges und an irgend einem Berg in
deutschen Landen einheimisch sei. Der Hörselberg in Thüringen freilich
ist erst im 19. Jahrhundert der Ehre gewürdigt worden, der Schauplatz
auch dieses legendären Ereignisses zu sein, wie er schon vorher andere
Helden der Yolkssage beherbergt hatte. Aber weder der Stoff noch das
Lokal der Tannhäusersage sind, wie Gaston Paris in seinen 'Légendes
du moyen âge' (2e édition, Paris 1904) S. 116f. nachgewiesen hat, ur-
sprünglich germanisch; deutliche Spuren weisen darauf hin, dass der
erstere ursprünglich keltisch ist. In der Form aber, wie und nach dem
Orte, wo sie zuerst literarisch verarbeitet erscheint, gehört die Tann-
häusersage in den Kreis der Legenden, welche sich in Italien an den
Namen der Sibylle anknüpfen. Aus Italien ist die Legende durch Ver-
mittlung der Schweiz nach Deutschland gelangt. Diesen schon von Gaston
Paris S. 135 vermuteten Weg der Sage zu beweisen, ist der Zweck der
nachfolgenden Erörterungen.
Der Minnesinger 'Herr Tannliäuser'oder 'der Tanhûsasre', über
dessen Lebensschicksale (1205 12^0) wir nur sehr ungenügend uiitei-
richtet sind (dass er aus einem salzburgischen Adelsgeschlecht stamme,
1) Vgl. Erich Schmidt, Tannhäuser in Sage und Dichtung (Nord und Süd 1892,
]Sfov. = Charakteristiken, 2. Reihe 1901 S. 24—50). A Soederhjelm, Antoine de la Sale
et la légende du Tannhäuser, in Mémoires de ]a société néo-philologique à Helsing-
fors 2, 107 ff (1897); Gaston Paris, Légendes du moyen âge 1900 p. 17—109: 'Le
paradis de la reine Sibylle' (1897) und p. 113—145; 'La légende du Tannhäuser' (1898).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 17
250
Diibi:
ist unsicher; spätere Tradition machte ihn zu einem fränkischen oder
schwäbischen Ritter), nennt in seinen sinnenfrohen, in der Art Neidharts
von Reuenthal gedichteten Liedern weder Frau Venus noch den Minneberg.
In dem gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen 'Wartburg-
krieg'1), einem poetisch fast wertlosen Produkt des ausgehenden Minne-
singertums, ist die Rede von Felicia, der Tochter der Sibylle, die mit
Juno und Artus in einem hohlen Berge lebt. Woher der Verfasser,
wahrscheinlich ein Mainzer Meister, die seltsame Notiz hat, ist nicht be-
kannt. Sie mag aus der Yolkssage stammen, ist aber in diese importiert,
wie auch der bretonische König Artus. Ich darf wohl schon hier darauf
aufmerksam machen, dass, nachdem 1838 der aus dem 'Wartburgkrieg'
stammende, aber durch die Novelle von E. T. A. Hoffmann umgemodelte
Heinrich von Ofterdingen für identisch mit dem Tannhäuser des Volksliedes
erklärt war, R. Wagner es war, der diese neue Figur mit dem Kreise
der Wartburg einerseits, des Hörselbergs anderseits in Verbindung setzte.
Der im Wartburgkrieg noch unbekannte Berg und die Grotte der
Sibylle-Venus wird 1391 in Italien benannt, lokalisiert und genau be-
schrieben. Es geschieht dies in dem 5. Buch des Prosaromans 'Guerino
il Meschino' von Andrea dei Magnabotti.2) Der Verfasser mag die
in altfranzösischen Fableaux vorkommenden Schilderungen des Liebes-
gartens gekannt haben, ist aber doch im wesentlichen von der an Ort
und Stelle vorhandenen Tradition abhängig, die er oifenbar selbst er-
kundet hat. Sein Held ist, wie Telemach, auf der Suche nach seinem Vater
und begehrt Auskunft über ihn von der Sibylle, die, wie man ihm sagt, nicht
mehr bei Cumä, sondern im Apennin bei Norcia haust. Die Bewohner
von Norcia wollen ihn von seinem Vorhaben abwendig machen, indem sie
ihm erzählen, dass nach einer Schrift Messire Lionel de France vergeblich
versucht habe in die Grotte einzudringen, indem er durch einen schreck-
lichen Wind zurückgetrieben worden sei. Auch ein anderer Mann habe
es versucht, sei aber nie wiedergekommen. Guerino bleibt bei seinem
Vorhaben, gelangt über Schloss Castelluccio zu frommen Eremiten, die ihn
mit ihrem Rate stärken, ersteigt schreckliche Felsen über gähnenden Ab-
gründen und kommt schliesslich zu einer Höhle mit vier Eingängen. Er
verfolgt, eine Kerze in der Hand, einen unterirdischen Gang bis zu einer
metallenen Türe, auf deren Flügeln lebenswahr gemalte Dämonen die
Inschrift tragen: 'Wer zu dieser Pforte eingeht und innerhalb eines Jahres
nicht wieder herauskommt, muss darinnen bleiben bis zum jüngsten Tage
und ist dann verdammt'. Guerino klopft an und findet Einlass. Der
Aufenthalt bei der Sibylle und ihren Frauen wird als ein paradiesischer
geschildert. Aber Palast, Reichtümer und Garten beruhen auf Zauberei.
1) Der Wartburgkrieg, herausgegeben von K. Simrock (Stuttgart und Augsburg
1858) S. 111. Über Felicia und den Freudenberg s. unten S. 2631.
2) Vgl. Gaston Paris p. 88-91.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
251
Jeden Samstag verwandeln sich die Bewohner in Schlangen und Skorpionen
und bleiben in dieser Verwandlung bis Montag zu der Stunde, wo der
Papst seine Messe beendigt hat. Die Sibylle sucht Guerino zur Liebe zu
verführen, er widersteht ihr, aber es gelingt ihm auch nicht, ihr ihre
Geheimnisse zu entlocken. Am letzten Tage des Jahres verlässt er sie
und kehrt an die Oberwelt zurück. Über die Eremitenklause und Norcia
begibt er sich nach Rom, wo ihm der Papst in Ansehung seiner löblichen
Absicht und seines tugendhaften Benehmens die Absolution erteilt.
Guerino ist eine Romanfigur; Andrea dei Magnabotti ist vielleicht
nie auf dem Monte della Sibilla, wie der Bergzug, man weiss nicht seit
welcher Zeit, heute noch lieisst, gewesen, und die 'Schrift', welche von
Messire Lionels Besuch in der Grotte handelte, hat nie jemand gesehen.
Aber aus dem 15. Jahrhundert sind eine Reihe von Besuchern mit und
ohne Namen bekannt. Man wird sich erinnern, dass wir dies auch
(oben S. 57 f.) für den dem Sibyllenberg benachbarten Pilatussee nach-
gewiesen haben, und es sind grösstenteils die nämlichen Autoritäten, die
wir für beide profane Wallfahrtsziele zu zitieren haben.
Ich beginne mit dem Züricher Chorherrn Felis Hemmerlin oder
Malleolus1), weil sein Zeugnis das älteste ist und er am deutlichsten den
Zusammenhang beider Sagen zu ahnen scheint. In der Tat verweist er am Ende
von cap.23,in welchemerdenPilatussee und seine dämonischenErscheinungen
schildert, auf das, was er in cap. 26 seines Dialogs zwischen dem Edelmann und
dem Bauern über die ähnlichen Erscheinungen am Venusberg berichtet habe.
Dieser in ziemlich barbarischem Latein abgefasste Bericht lautet in Kürze
folgendermassen: Nahe bei der Stadt Norcia und dem Kastell 'Montifortino'
liegt der Sibyllenberg, wo durch das Hinschweifen der Menschen über
diese Berge, ähnlich wie dies bei Luzern geschieht, Stürme und Hagel-
wetter entstehen, die für die umliegenden Orte sehr lästig sind. Wie
Hemmerlin deutlich gesehen und von Ortskundigen erfahren hat, sind
diese Berge voll von Höhlen und Grotten, die bis ins Innere des Berges
reichen, und unpassierbaren Gängen. Der Berg heisst gemeiniglich
Yenusberg, weil Venus, die Gattin des Vulcan, hier ihr vom Feuer
unzertrennliches Wesen treibt. In diesen Grotten sind dämonische Wesen,
Incubi und Succubi, in der Gestalt schöner Weiber, die von irgendwoher
gekommene Männer betören. Zur Zeit, wo der Papst Johann XXIII.
mit der Kurie in Bologna verweilte, hat Hemmerlin einen 'einfalten
(simplicianus) Mann aus Schwyz gesehen, der bekannte, dass er in diesen
Bergen bei den unsauberen Geistern ein Jahr in Wollust zugebracht habe.
Wegen seiner aufrichtigen Reue und mit Worten und Geberden bezeugten
Zerknirschung über die mit Verläugnung der gebenedeiten Jungfrau und
1) Vgl. oben S. 552 und Felix Hemmerlin De nobilitate et rusticitate dialogue
(Basel 1497) cap. 26, S. XCIIIL
17*
252
Diibi:
aller Heiligen und Verzicht auf die Gnade Grottes verknüpften Sünde
wurde ihm auf Veranlassung Hemmerlins durch einen päpstlichen Beichtiger
in der Kirche des h. Petronius zu Bologna die Absolution zuteil. Auf
Befragen berichtete er ausführlich, wie er mit zwei Gefährten aus
Deutschland (Alemania) in die Grotten eingedrungen sei. Sie fanden
darin einen reizenden, ebenen Platz. Er glich einem von dem Kreuzgang
umschlossenen grossen Klostergarten, mit zwölf Türen im Hintergrunde,
durch welche man nach freier Wahl zu zwölf nach den Monaten klimatisch
wechselnden Gärten gelangte. Und obwohl der 'Simplicianus' im März
in den Berg gedrungen war, fand er beim Öffnen der Türe einen mit
allen Früchten des Septembers gezierten Obstgarten. Ebenso frei und
wechselnd ist der 'tröstliche' Verkehr mit den schönen Frauen und der
Genuss eines mit allen Reizen jugendlicher und weltlicher Lustbarkeit
geschmückten Lebens. Aber ein wohlmeinender Greis warnt beim Eintritt
den Schwyzer und seine Gefährten, nicht liber ein Jahr zu verweilen,
sonst müssten sie immer in dem Berge bleiben. Er wiederholt die
Warnung nach einem Jahre, das den Erschrockenen wie ein Monat ver-
flossen ist. Während seine Gefährten, durch die wunderbaren Erzählungen
der Frauen verführt, bleiben, entrinnt der Schwyzer einzig. Er hat auch
drinnen verschiedene zu ewigem Bleiben verdammte Personen aus ver-
schiedenen Ländern, namentlich aus England, gesehen, unter anderen
einen alten (antiquum) Mann und seinen Sohn, die an der allgemeinen
Freude keinen Anteil nahmen.
Diese bisher fast unbeachtete Erzählung, welche auf die Jahre
1410—13 zurückgeht, scheint mir auf das allerdeutlichste zu beweisen,
dass die Sage von Tannhäuser im Venusberg mit vielen später bekannten
Einzelheiten, den getreuen Eckart eingeschlossen, um die Wende des
14. Jahrhunderts in Italien ausgebildet war und von dort durch Vermittlung
der Schweiz nach Deutschland gelangte. Hemmerlins Pamphlet war
handschriftlich schon 1456, vielleicht früher, verbreitet (begonnen ist es
1440), ist aber erst durch einen Basler Wiegendruck von 1497 allgemein
bekannt geworden.
Der prophetische Charakter der Sibylle, der noch im Guerino hervor-
tritt, ist in dieser Erzählung fast ganz verwischt. Die Schilderung des
üppigen Lebens in der Venusgrotte ist in für einen Geistlichen recht leb-
haften Farben gehalten; die Yergebung erfolgt wie im Guerino, nur dass
der Papst durch einen Stellvertreter ersetzt wird. Viel deutlicher und
dem Tannhäuserlied sich nähernd ist die Rolle des Papstes in der Er-
zählung des Antoine de la Sale.1) Wie wir oben S. 58 berichtet haben,
wurde die 'Salade', in welcher auch der Abschnitt über das Paradies
der Königin SibyHe zu den 'guten und schmackhaften Kräutern' gehört,
1) Vgl. oben S. 581 und Soederhjelm S. 111 ff-
Urei spätmittelalterliche Legenden.
253
zwischen 1438 und 1442 niedergeschrieben. Gedruckt ist die 'Salade' aber
erst im 16. Jahrhundert, zuerst ohne Datum, dann 1527 zu Paris. Beide
Ausgaben sind sehr selten; allgemein zugänglich sind aber nun die
Auszüge, welche Professor Sœderjhelm seinem vorzüglichen Artikel:
'Antoine de la Sale et la legende de Tannhäuser' in den Mémoires de la
société néo-philologique àRelsingfors,tome2 p. 107 ff.,nach einem Manuskript
der Bibliothèque royale in Brüssel aus dem 15. Jahrhundert beigegeben
hat. Antoine de la Sale hat seinem Reisebericht, der vom Mai 1420
datiert ist, eine Karte beigefügt, die für jene Zeit recht gut ist und
beweist, dass ihr Yerfasser die Gegend des Pilatussees wie der Sibyllen-
grotte aus Autopsie kennt. Wir müssen es uns hier versagen, die
topographischen Einzelheiten der Reise, die für die Geschichte des Berg-
steigens und des 'landschaftlichen Auges' Bedeutung haben, zu wieder-
holen, und beschränken uns auf das, was de la Sale von der Grotte selbst
und der Sage zu erzählen weiss.
In Begleitung eines Doktors aus der Gegend, Messire Jehan de Sore, und
einiger Leute aus dem Städtchen Monte Monaco, die als Führer dienen, gelangt
er von der Felsterrasse des Gipfels, in welchem die Grotte liegt, durch
einen trichterförmigen, schmalen und niedrigen Einschlupf in eine 10 bis
12 Fuss im Geviert messende und ebenso hohe Höhle, die durch ein Loch
in der Decke ein spärliches Licht empfängt und mit in den Seitenwänden
eingehauenen Sitzen versehen ist. Yon hier aus gehört, klang das "Wiehern
der am Fuss der Felskuppe auf einer schönen Wiese zurückgelassenen
Pferde wie das Geschrei eines weit entfernten Pfaus. Dass es Stimmen
aus dem „Paradies der Sibylle" (wörtlich so) seien, wie seine Begleiter
meinten, will der skeptische Franzose nicht glauben. Auch weist er es
ausdrücklich von sich, dass er in die Geheimnisse der Grotte weiter als
bis zu der ersten Kammer eingedrungen sei oder habe eindringen wollen.
Eine Möglichkeit, durch einen Ausgang der Ecke der Kammer weiter vor-
zudringen, kennt er, hat sie aber für seine Person nicht benutzt, weil er
da nichts zu suchen hatte und die Sache ihm gefährlich schien. Dagegen
hat er gehört, dass fünf junge Wagehälse aus Monte Monaco, versehen
mit Lebensmitteln, Laternen und Stricken dies versucht hätten; zwei von
ihnen hat Antoine selbst gesprochen. Nach ihren Berichten erweiterte
sich das Loch nach Armbrustschussweite so, dass man darin aufrecht
stehen und 2—3 Mann nebeneinander gehen konnten. Nachdem sie so
etwa 3000 (Fuss oder Schritte?) hinabgestiegen waren, stiessen sie auf eme
Erdspalte, der ein so starker Wind entströmte, dass sie ihr Vorhaben auf-
geben mussten. An diesen kärglichen, aber nüchternen Bericht schliesst
de la Sale nun die Erzählungen an, welche die Leute von Monte Monaco
ihm überlieferten. Ein Priester des Ortes, Messire Antoine Fumé, wollte
weiter gegangen sein. Die Windspalte erwies sich als kurz und ungefähr-
lich, desgleichen eine lange, anscheinend nur fussbreite Brücke, unter der
254
Dübi:
ein Giessbach brauste. Auf breitem Wege, an zwei künstlichen feuer-
speienden Drachen vorbei kommt man auf ein viereckiges Plätzchen vor
eine metallene Tür, deren Flügel unaufhörlich zusammenschlagen. Don
Antonio Fumato ging nicht weiter. Zwei Deutsche, die er bis vor die
eherne Türe geführt hatte, wagten es, kehrten aber nicht wieder zu dem
ihrer harrenden Priester zurück. Wenn schon der Umstand, dass Don
Antonio Fumato als nicht ganz gesund im Kopfe galt, Zweifel an seiner
Glaubwürdigkeit erregte, so findet de la Sale die Geschichten von anderen,
die durch die metallene Pforte eingedrungen sein sollten, schwer zu
glauben, obschon er sie mit wenigen Einzelheiten auch in anderen Ländern
gehört hat. Folgendes haben ihm die Leute in der Gegend erzählt: Ein
deutscher Ritter (die Deutschen sind auf solche Abenteuer besonders er-
picht) drang einst mit seinem Knappen ein und gelangte durch das
metallene Tor vor ein kristallenes. Auf ihre Anmeldung werden sie ein-
gelassen, reich bekleidet und unter dem Klang von Instrumenten und
Gesängen durch prächtige Hallen und Gärten voll von Rittern und Damen
vor die Königin geführt, welche sie in ihrer Muttersprache anredet. Denn
alle Bewohner des Berges sprechen nach 330 Tagen Aufenthalt jede
Sprache der Welt; nach 9 Tagen verstehen sie wenigstens jede. Die
Königin erklärt ihnen nun die Geheimnisse des Lebens im Berge. Man
darf 9 oder 30 oder 330 Tage lang bleiben. Wer den letzten Termin
verstreichen lässt, muss ewig im Berge bleiben. Ritter und Knappe
müssen jeder eine Gefährtin wählen, was namentlich dem Knappen sehr
behagt. Aber auch dem Ritter gefällt das paradiesische Leben, bei dem
ein Tag nur eine Stunde scheint, zunächst ganz gut. Zwei Dinge nur
beunruhigen ihn. Die Königin will nicht mit der Sprache herausrücken,
was aus ihr und ihrem Hofstaat am Ende aller Dinge werden wird, und
jeden Freitag um Mitternacht werden sie und ihre Frauen zu Ottern und
Schlangen und bleiben so 24 Stunden lang. Nachher kehren sie freilich
um so schöner zu ihren Kavalieren zurück. An diesem Zeichen und
einem Winke Gottes (durch Traum?) erkennt der deutsche Herr die Ge-
fahr und entzieht sich ihr am letzten erlaubten Tage. Sie nehmen Ab-
schied von der Königin und ihren Gefährtinnen, die darüber sehr betrübt
sind. Die des Ritters übergibt ihm einen Talisman in Form eines goldenen
Ringes. Sie erhalten ihre früheren Kleider wieder und finden mit Hilfe
von zwei Kerzen, die nachher von selbst auf immer erlöschen, den Wreg
zur Oberwelt zurück. Der Ritter eilt nach Rom, um seine Sünde ab-
zubüssen, aber kein Beichtiger will ihn absolvieren, er wird an den Papst
gewiesen. „Nach den einen wäre dies Innocenz YI. vom Jahre 1352, nach
den andern Urban Y. vom Jahre 1362 oder YII. vom Jahre 1377 ge-
wesen." Der Papst ist erfreut über die Reue des Sünders, verweigert
aber, um ihn noch mürber zu machen, die Absolution und jagt ihn fort.
Ein Kardinal legt sich ins Mittel, aber unterdessen weiss der Knappe, der
Drei spätmittelalterliche Legenden.
255
sich nach den Freuden des Venusberges zurücksehnt, seinen Herrn durch
das Vorgeben, sie seien mit einem Ketzerprozess bedroht, zur Rückkehr
in den Berg zu überreden. Als der Papst die Flucht aus Rom vernimmt,
bereut er seine Härte und schickt Boten mit der Absolution aus. Aber
diese finden nur die Hirten, welchen der Ritter weinend seinen Entschluss,
in den Berg zurückzukehren, und den Grund dafür mitgeteilt hat, und
bringen dem Papst den für den Stadthauptmann von Monte Monaco zu-
rückgelassenen Brief, der in Kürze lautet: „Allen denjenigen, welche
Nachricht wissen wollen von dem Ritter, dem der Pabst nicht hat ver-
zeihen wollen, kund und zu wissen, dass man mich im Paradies der
Königin Sibylle finden wird." Hierauf nennt de la Sale ausdrücklich
Innocenz YI. als denjenigen, welcher die Absolution verweigerte, den
Brief des Ritters verbrennen liess und den Zugang zur Grotte ungangbar
machte. „Aber", fügt er hinzu, „dennoch steigt man immer noch hinauf,
wenn auch mit grossen Beschwerden".
In der Tat fand Antoine de la Sale selber an den Wänden des von
ihm besuchten Teils der Grotte Inschriften, von denen er zwei notierte:
„Herr Hans Wanbanbourg (so das Mscr.; im Druck steht Wanbranbourg)
Borg intravit" und ^Thomin de Pons" oder „de Pous" (de la Sale konnte
wegen der Verwitterung die Buchstabenform nicht entscheiden). Von
dem ersteren meint de la Sale wegen des 'Intravit', dem kein exiit bei-
gefügt sei, das sei vielleicht der deutsche Ritter und Thomm de Pons,
der gar nichts beifügte, sein Schildknappe. Anderseits aber kommt ihm
dieser Name französisch oder englisch, d. h. normannisch vor. De la
Sale hat dann seine eigenen Namen und seine Devise 'Il convient' ein-
gekratzt; jetzt sind alle drei Namen längst verschwunden. Für die Sage
von Bedeutung sind noch zwei Erzählungen Antoines.
Ein sehr alter Mann, Colle de la Mandelée, hat vor etwa 40 Jahren
einen Grandseigneur aus Languedoc Namens de Pacs oder de Pacques
in die Grotte geführt, wo derselbe nach einem verschwundenen Bruder
forschte, der von einer Reise, die ihn mit anderen Edelleuten nach Ancona
gebracht hatte, aus unbezwingbarer Neugierde zum Sibyllenberg gegangen
und von dort nicht heimgekehrt war. Der Name stand auch richtig an
der Wand, der betrübte Bruder liess ihn auskratzen, wurde dann aber
durch einen Traum in der Grotte, wo er in Ohnmacht gefallen war, ge-
tröstet und belehrt, dass der verloren Geglaubte gerettet sei.
Ferner: Als de la Sale 1422 in Rom war, schwur ihm ein gewisser
Gaucher de Ruppes, dass ein Onkel seines Vaters behauptet habe, im
A enusberg gewesen zu sein. In der Familie sei man überzeugt, dass er
dahin zurückgekehrt sei. De la Sale konnte mit gutem Gewissen er-
klären, dass er davon nichts wisse. Die Leute von Monte Monaco hatten
ihm versichert, dass seit dem obrigkeitlich erlaubten Besuch des Seigneur
de Pacques niemand mehr in der Grotte gewesen sei bis auf ihn, Antoine
256
Dübi:
de la Sale, der für seinen Besuch, „le XYIIIme jour de may l'an mil
IIIIC XX" ebenfalls den Geleitsbrief des Podestà von Monte Monaco mit-
gebracht hatte. Diese Erlaubnis war offenbar notwendig, weil Innocenz VL
(1352—1362) alle diejenigen exkommuniziert hatte, „welche hierund beim
See der Sibylle gewesen waren, wenn sie nicht zu wahrer Reue und
apostolischer Absolution zurückkehrten". De la Sale schliesst seinen Be-
richt, den er nur zum Spass und Zeitvertreib geschrieben haben will, in-
dem er seinen Zögling und dessen junge Gattin, die Dame de Calabre,
zu einem Besuch der Grotte auffordert.
Solche Besuche haben in der Tat das ganze 15. Jahrhundert hindurch
stattgefunden, namentlich von Deutschland aus. Der schon früher als
Zeuge für den Besuch des Pilatussees bei Norcia zitierte Pietro Razzano
(fl492)1) berichtete in seinen unediert gebliebenen Schriften, dass sich
mehrere Betrüger gerühmt hätten, in der Sibyllengrotte gewesen zu sein
und deren Wunder geschaut zu haben.
In einem Brief an seinen Bruder, den Juristen Georg Piccolomim
schreibt Aeneas Sylvius2), der spätere Papst Pius II: „Überbringer
dieses ist eben zu mir gekommen, um mich zu fragen, ob ich nicht einen
Yenusberg in Italien wüsste, in welchem magische Künste gelehrt würden,,
nach denen sein Herr, ein Sachse und grosser Astronom, grosses Verlangen
trage. Ich sagte, ich kenne einen Porto Tenere bei Luna an der Ligurischen
Küste, an welchem Ort ich auf der Reise nach Basel drei Nächte zu-
gebracht habe. Auch fand ich, dass in Sizilien ein der Yenus geweihter
Berg Eryx sei, aber ich wüsste nicht, dass dort Magie gelehrt werde.
Während des Gespräches aber kam mir in den Sinn, es gebe zu Umbrien^
im alten Herzogtum Spoleto, nahe bei Norcia einen Ort, wo unter einem
steilen Berg eine grosse Grotte liege, in welcher Wasser fliesse. Hier,,
erinnere icli mich gehört zu haben, seien Hexen und Dämonen und nächt-
liche Schatten, wo kühne Leute Geister sehen und besprechen und magische
Künste lernen können. Das habe ich selbst weder gesehen, noch sehen
wollen; denn was man nur mit Sünde lernt, lässt man besser ungekannt-
Aber der des Zivilrechts kundige Savinus, der im Wirtshaus bei der
Camilla wohnte, hat mich versichert, dass dies wahr sei, hat mir den Ort
genannt und beschrieben; aber mein Gedächtnis ist schlüpfrig wie ein
Aal; deshalb bitte ich Dich, dass Du, wenn Sabinus noch lebt, diesen
Mann zu ihm führest und ihm empfehlest. Dies wird mir ein grosser
Dienst sein; denn sein Herr ist der Leibarzt des Herzogs von Sachsen,
1) Die Notiz des P. Razzano ist wiedergegeben von Fra Leandro Alberti (siehe
oben S. 60*) in dessen 1550 herausgekommener Descrittione di tutta l'Italia, terzadecima
regione, Marca Anconitana, fol. 273 der Ausgabe Venedig 159G.
2) Aeneas Sylvius, Epistolae 1, 46= Opera (Basel 1551) p.531. Auf diesen Brief
hat aufmerksam gemacht Alfred Reumont in seinem mir leider unzugänglich gebliebenen
Artikel 'Il monte di Venere in Italia' in 'Saggi di storia e letteratura' (1880) p. 389.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
257
ein reicher und mächtiger Mann." Dieser auch wegen einer darin stehen-
den Nachricht über ein uneheliches Söhnlein des Enea Silvio pikante
Brief, der kurz nach 1431 geschrieben sein muss, beweist uns, dass da-
mals die Deutschen den Yenusberg in Italien suchten, die Sage also in
Deutschland noch nicht lokalisiert war. Sie ist es auch noch nicht 1453,
wo Hermann von Sachsenheim1) in der 'Möhrin' den verzauberten Berg
beschreibt, wo paradiesische Freuden in einem ewigen Frühling herrschen
und wo 'der Tanhuser uß Franckenlant' der Gemahl der Königin Yenus
ist. Ebensowenig in dem um die gleiche Zeit entstandenen Meisterlied
vom Tann h aus er2), wo dieser seine Reue darüber ausdrückt, dass er in
den Yenusberg gegangen sei, und erzählt, der Papst Urban IY. habe ihm
die Absolution verweigert, er hoffe aber auf die Gnade Gottes. Ich trete
nicht in die Frage ein, wie und warum Urban IY. in die Sage vom Tann-
häuser hineingekommen ist; jedenfalls ist diese Angabe spät und vereinzelt,
beweist also nichts für deutschen Ursprung der Sage. Dagegen tritt die
Härte und Ungerechtigkeit des Papstes hier stärker hervor, als in der
offenbar absichtlich abgeschwächten Erzählung des Antoine de la Sale.
Dass der Papst damit sich selber verdammt, ist ein Zug, der erst in der
Reformationszeit und nördlich der Alpen scharf zum Ausdruck kommt;
aber in der Reue, die der Papst empfindet, ist er doch schon im 15. Jahr-
hundert vorgebildet.
In diesem fahren, wie gesagt, die Besuche im Sibyllenberge fort.
Luigi Pulci3) rühmt sich im zweiten Gesänge des 'Morgante maggiore'
seines Besuches bei der Sibylle als eines guten Witzes (bel gioco),
während er in einem seiner Briefe ihr Andenken herzlich schlecht macht.
Bernardino Bonavoglia4) scheint in seinen Predigten zu Foligno auch
von fremden Besuchern der Sibyllengrotte gesprochen zu haben (siehe
oben S. 57). Ein solcher war der Ritter Arnold von Harff5) aus Köln,
der 1497 mit Freunden die Grotte besuchte. Er erzählt davon in einem
handschriftlichen, erst 1860 gedruckten Reisebericht. Der Kastellan von
Castellucio führte sie dahin; aber sie fanden nichts Merkwürdiges oder
Wunderbares. Wichtig für uns ist, dass Harff hergekommen war, weil er
so viele seltsame Geschichten über diesen Yenusberg in Deutschland ver-
nommen hatte.
Um die Geschichte der Sibyllengrotte in Italien zu beendigen, er-
wähnen wir aus dem 16. Jahrhundert, dass Ariosto6) der 'von Dämonen
1) Hermann von Sachsenheim, Die Mörin v. 3900 — 8911 (herausgegeben von Ernst
Martin 1878 S. 165).
2) Abgedruckt von K. Goedeke 1883 in der Germania 28 44 f- Dacl1 der We™arer
Folio-Hs. 418, Bl. 670 (von Wolf Bauttner geschrieben).
3) Vgl. oben S. 578 und II Morgante maggiore Canto 24, v. 112 f.
4) Vgl. oben S. 574.
5) Vgl. oben S. 603 und Reumont, Saggi p. 390 ft
6) Ariosto, Orlando furioso Canto S3, St. 4.
258
Diibi:
bewohnten Nursinischen Grotten' gedenkt; dass der arge Spötter Pietro
Aretino1) irgendwo von einem verhexten Brunnen sagt, es wohnen dort
die Schwestern der Sibylle von Norcia und die Tanten der Fata Mor-
gana; dass dem trefflichen Benvenuto Cellini2) ein Nekromant die Berge
von Norcia und deren Bewohner als besonders zauberkundig zum Besuche
empfahl; dass Trissino3) im vierundzwanzigsten Gesang seines grossen
Epos 'L'Italia liberata da'Goti' den Besuch des h. Benedikt von Norcia
in der Grotte, den Berg Vittore, „der an Höhe jeden anderen Berg
übertrifft" (heute noch heisst die höchste Erhebung der Monti Sibillini
Monte Vettore), den Ort Gallo (gemeint ist Santa Maria in Gallo) erwähnt
und „die hohe und tiefe Grotte" als den Sitz der ältesten Sibylle und der
wahren Weissagung preist. Etwas länger müssen wir uns bei der Schil-
derung aufhalten, welche Fra Leandro Alberti4) 1550 in seiner 'Des-
crittione di tutta l'Italia' im Abschnitt über die Mark Ancona von der
gleichen Gegend gibt, weil die Schilderung Sagenzüge enthält, die uns
bisher noch nicht begegnet sind. „Nicht weit von Santa Maria in Gallo
befindet sich die grosse und schreckliche Grotte der Sibylle, von der die
Tradition oder vielmehr eine unsinnige Fabel behauptet, dass hier der
Eingang zur Sibylle sei, welche in einem schönen Königreich wohnt,
geziert mit Palästen, in denen Männer und schöne Frauen sich den Freuden
der Liebe ergeben. So ist es am Tage, des Nachts aber verwandeln sich
alle in schreckliche Schlangen, auch die Sibylle, und diejenigen, welche
das Königreich betreten, müssen sich zuerst die Liebkosungen dieser
scheusslichen Reptile gefallen lassen. Keiner ist gezwungen, über ein
Jahr zu bleiben, nur dass jedes Jahr einer von den Eingetretenen bleiben
muss. Die Austretenden aber werden von der Sibylle für den Rest ihres
Lebens reich beschenkt." Alberti will diese Ammenmärchen in seiner
Jugend gehört haben. Direkt von Alberti abhängig, also für uns als
Quelle wertlos, ist die Notiz in der Cosmographia generalis5) des Holländers
P. van Merle 1602; dagegen bietet der Umstand für uns Interesse, dass
der holländische Geograph A. Ortel6) 1570 in die Sibyllengrotte den
„Danielken", d. h. den niederländischen Tannhäuser, hineinbringt.
Das darf uns aber nicht wundernehmen; denn bereits seit 1515 ist
die Vulgata7) des Tannhäuserliedes ausgebildet. Ich darf ihren Inhalt
1) Weder J. Burckhardt, Kultur der Renaissance32, 297 noch Reumont, Saggi
p. 385 geben ein genaueres Zitat aus Aretins Werken.
2) Vgl. oben S. 602 und Cellini, Vita 1. 1, c. 61.
3) Vgl. oben S. 604.
4) Vgl. oben S. 60
5) Vgl. oben S. 605.
6) Zitiert nach Gaston Paris, Légendes p. 96 Anni. 2.
7) Eine gute Vorstellung von der Vulgata des Tannhäuserliedes in der Schweiz
gibt das Stück Nr. 57 im ^ Saminelband Wiedmer der Stadtbibliothek in Bern (Sign.
Rar. 63. Alte Lieder). Die Überschrift lautet: Der Dannhauser / wie er in Frauw
Drei spätmittelalterliche Legenden. 259
als bekannt voraussetzen; für unsren Zweck ist nur zu betonen, dass die
Geschichte von dem dürren und wieder grünenden Stab in keiner ita-
lienischen oder französischen Erzählung angetroffen wird. Es finden sich
in diesen auch keine Ansätze zu dieser Auszweigung der Legende; denn
die 'yerjette d'or', welche die 'compagne' dem deutschen Ritter zum Ab-
schied gibt, ist nach dem Sprachgebrauch Antoine de la Sales ein Ring,
nicht eine Zauberrute. Wann dieser den Charakter des ganzen um-
gestaltende Zug in die Tannhäusersage kam, ist schwer zu sagen, aber
vermutlich ist dies in der Schweiz oder in Süddeutschland geschehen,
wohin die ältesten Formen des Tannhäuserliedes und andere Spuren weisen.
Der Züricher Dominikaner Felix F ab er1), der 1480 und 1483 von
Ulm aus Pilgerfahrten ins Heilige Land unternahm und darüber in seinem
'Evagatorium' berichtet, erzählt bei Anlass seines zweiten Besuches von
Cypern, dass er einmal daselbst Paphus, die Stadt der Venus und ihren
Garten (viridarium), in welchem jetzt die Kirche des heiligen Paulus
steht, und den Berg, in welchen sie, wie die Ungebildeten glauben, nach
ihrem Tode versetzt worden ist", besucht habe. Er zeigt sich auch wohl
vertraut mit den lokalen Uberlieferungen und macht Andeutungen über
das, was wir heute den Zusammenhang der Yenus- mit der Sibyllensage
nennen würden. Nach dem Beispiel dieses ersten Yenusberges und seiner
Grotten seien dann in heidnischer Zeit überall Yenusberge gesehen und
in ,Historien' genannt worden. Auch in 'moderner' Zeit fable das un-
gebildete Yolk von einem Berg in der Toskana, unweit von Rom, in
welchem die Frau Yenus mit gewissen Männern und Frauen den Lüsten
fröhne. Auf diesen beziehe sich ein Yolkslied, das allgemein in Deutsch-
land gesungen werde, wonach ein schwäbischer Ritter, Danhuser von
Danhusen bei Dunkelspüchel, eine Zeitlang in dem Berge bei Yenus ge-
wesen sei, hernach, weil ihm der Papst die Absolution verweigerte, dahin
zurückgekehrt sei und in Freuden darin lebe bis zum läge des Gerichtes.
Und so verbreitet sei diese Sage, dass viele Loren dorthin pilgern. Wenn
Venus Berg gezogen/ und wie es jm aida ergangen ist/ usw. Im Thon wie das Frewlin
mit dem Krug. Dann folgen 26 vierzeilige Strophen und die Unterschrift: Getruckt zu
Basel bey Samuel Apiario 1584. Sprachlich stimmt dieser Druck mit den drei unten zu
erwähnenden Volksliedern überein, ist aber für keines derselben direkte Quelle. Übrigens
ist dieser Druck weder der älteste noch der einzige schweizerische aus dem 16. Jahr-
hundert; aber ich habe die (mindestens) zwei anderen nicht gesehen. [Bibliographie bei
E. Grisebach, Der neue Tannhäuser, Editio ne varietur 1885. Vgl. auch Erk-Böhme,
Deutscher Liederhort 1, 39. Zs. f. dtsch. Altert. 35, 439.J
1) Fr. Fei. Fabri, Evagatorium in Terrae sanctae, Arabiae et Egypti peregiinationem,
hsg. von C. D. Hassler 1843-49. Eine gekürzte deutsche 'Eigentliche Beschreibung
der Hin- und Wider Fahrt zu dem Heiligen Landt gen Jerusalem' usW* erschien in Ulm
1556. Die den Venusberg bei Paphos betreffenden Notizen stehen im Evagatorium 1, 171
und 3, 221—222. Die Szene wird von Gaston Paris, Légendes p. 131 Anm. 1, der sich aut
E. M. de Vogüé, Syrie, Paléstine, Mont Athos p. 25 beruft, fälschlich auf den Möns
S. Crucis bezogen, der von Fabri (siehe 1, 175) zwar besucht wurde, dessen Legenden
aber den Tannhäuser nicht angehen.
260
Diibi:
dann einer stirbt, fabeln seine Freunde, er sei von Venus in den Berg
entrückt worden usw. Daher habe der Papst Nikolaus Y. Yerbóte gegen
den Besuch erlassen, und reissende Hunde bewTachen den Zugang zu dem
verdächtigen Orte."
Ähnliches berichtet der Junker Melchior Zurgilgen aus Luzern,
der 1519 mit Werner Steinerund anderen eine Pilgerfahrt nach Jerusalem
unternahm und auf der Rückreise starb, in seinen Reiseaufzeichnungen.1)
Nachdem er von 'Yeneris gart' gesprochen, bei welchem 'Palas, Juno und
Venus ein gezenk haten der schenheit halb', sagt er: „By derselben stat
(Paphos) lit ein hocher Berg, wurd genant frow Yenusberg, wan da hat
sy gewonet und das land Tustraam (?) also genant nie gesechen. Da
ettlich lüt sie vermeinend im berg verschlosen sin und gros lust und freud
darin haben, daran doch nichts ist". Tannhäuser ist hier als Grast der
Frau Venus nicht genannt, aber wir werden ihn in Verbindung mit dem
Tiergarten und Berg der Venus in der Schweiz wiederfinden.
Nach Eintragungen im Luzerner Turmbuch2) lag Hans Wohl-
gestanden aus dem Etschland 1599 da im Gefängnis, weil er sich für
einen fahrenden Schüler, der im Venusberg gewesen, ausgegeben haben
soll, und um 1600 erklärte Hans Meyer von Hallau bei Schaff hausen zu
Protokoll: „Das er angegeben in Venusberg gsin sye und in Rootenmeer
gebadet, seye nit, denn er darvon nütt wiisse, vil weniger an denen Ortten
gsin. Nit weniger denn das Er mit J. Niclaus von Mülinen im Jordan
gsin, gan Hierusalem auch wollen, aber nit dahin kommen mögen."
Beide Nachrichten weisen auf Überlieferungen im Orient, zeigen aber
auch, dass die Tannhäusersage in der Schweiz ungemein lebendig war.
Wir haben nun noch zu beweisen, dass sie in der Schweiz auch lokalisiert
war, lange bevor das in Deutschland geschah und dass sie hier individuelle
Züge zeigt, die dort nicht vorkommen.
Das Tannhäuserlied ist in der Schweiz in drei alten Varianten
bekannt aus dem St. Galler Oberland, dem Entlebuch und dem Aargau.
Sie sind abgedruckt bei Lütolf (Sagen aus den fünf Orten, S. 87),
Rochholz (Drei Gaugöttinnen 1870, S. 147—149) und L. Tobler (Schwei-
zerische Volkslieder 1, 102 und 2, 161). Wir wollen sie im folgenden
unter den Bezeichnungen G (St. Gallen), E (Entlebuch) und A (Aargau)
besprechen und unsre Nachweise daran anknüpfen. Aufgeschrieben sind
sie alle erst im 19. Jahrhundert, aber direkt aus dem Volksmund und für
G und E lässt sich die Tradition bis ins 16. Jahrhundert hinauf verfolgen,
während A sonst sehr alte Formen zeigt. In einer bald wieder ein-
gegangenen Lokalzeitschrift 'Die Ostereier' (Luzern 1862) wird sogar die
Vermutung aufgestellt, das Entlebucherlied möchte von dem Freiherrn
Johann von Ringgenberg (1283—1335) gedichtet worden sein. Das ist
1) Die Notiz ist abgedruckt bei A. Lütolf, Sagen aus den fünf Orten, 1862, S. 87.
2) Beide Notizen sind abgedruckt bei A. Lütoli, Sagen S. 88.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
261
natürlich, ganz abgesehen von der Sprache, unmöglich; die erhaltenen
Sprüche des Ringgenbergers atmen einen ganz anderen Geist. Das
Tannhäuserlied inuss aber im Entlebuch schon im 16. Jahrhundert ge-
sungen worden sein. Nach Lütolf (S. 86) kam 1576, den 19. Juni, „Hans
Sager von Kilchdorff im Bernpiet, sonst in der Kilchhöri Willisau gsessen",
wegen Hexerei zu Luzern in den Turm. Das oben angeführte Turmbuch
notiert: „Deß Rütters halb uß frow Yenusberg ist er gichtig (i. e. ge-
ständig), wie der Brieff zugibt." Der Name lautet in E Danhuser und in
Strophe 1 wird er als „ein ritter guet" bezeichnet. In Strophe 14 ist er
in „Frau A^renen Berg, wolt Gottes gnad erwarten". Dass „Yerena oder
Yreneli mythologisch mit der römischen Yenus identisch" sei, ist im
Schweizerischen Idiotikon 1, Sp. 917 nachgewiesen. Tannhuser ist ein noch
vorkommender Geschlechtsname in Malters, Kanton Luzern. Ein Gabriel
Tannhuser war 1640 Pfarrer in Marbach, ein ,Tannehus' gab es in
Escholzmatt, wo der Chorherr Stalder 1830 das Tannhäuserlied aufzeichnete
und dem Freiherrn von Lassberg mitteilte. (Danach ist es in Mones
Anzeigerl, 240 abgedruckt.) Nach einer Anmerkung von A. Lütolf, deren
Quelle ich nicht kenne, ist ein Christen Tannhuser urkundlich in Grau-
biinden 1515 nachzuweisen. Der nämliche Sagenforscher weist S. 87 darauf
hin, dass „zu Uffhausen bei Freiburg i. B. am Fuss des Schinberges ein
Yenusberg sich befindet, wo auch die Tannhäusergeschichte lokalisiert ist",
und verweist auf H. Schreibers Taschenbuch für Geschichte und Altertum
in Süddeutschland (1839) S. 348. In der Tat ist hier folgendes zu lesen:
„Der Yenusberg bei Uffhausen, am Fuss des Schinbergs, eine Stunde von
Freiburg, jetzt ein Rebhügel. Die Sage erzählt: Oben auf der Schnew-
burg lebte ein Ritter, der jahrelang grosse Verbrechen beging. Da ihn
kein einheimischer Priester freisprechen wollte, pilgerte er nach Rom zum
Papst. Dieser versagte die Absolution: eher werde des Papstes Stab
Rosen tragen, als dass der Ritter Verzeihung für seine Sünden finde.
Als der Ritter bei seiner Rückkehr zur Schnewburg den Eingang zum
Yenusberg offen fand, stürzte er sich mit seinem Pferde hinein und ward
nicht mehr gesehen. Nach zwei Jaliien trug der Stab des Papstes Rosen.
Der Witwe des Ritters auf Schnewburg wurde Bericht gegeben. Sie liess
im Yenusberg nachgraben. Man fand den Ritter tot auf seinem Pferde
sitzend. In neuerer Zeit gelange man bei Grabungen nie mehr bis zum
Saale der Frau Yenus, die Arbeiter werden immer durch irgend etwas
abgeschreckt." Die Sage, die ähnlich auch im Badischen Sagenbuch1)
1) (F. Pfaff), Badisches Sagenbuch, Freiburg i. ß. iggg, S. 77. Ebenda S. 275
Anm. die Notiz, dass der getreue Eckart vor den Venusberg bei Uffhausen verbannt
sei, weil er aus Rache den falschen Ermenrich, den Mörder der Harlungen, erschlagen
habe. Nach Erkundigungen, die ich durch meine Frau an Ort und Stelle habe einziehen
lassen, lebt zu Uffhausen die Sage von Tannhäuser und der Frau Venus noch im Volks-
munde. [F. Panzer, Deutsche Heldensage im Breisgau. Heidelberg 1903. Vgl. auch
Wickram, Werke 5, XLVIII. 8, 351.]
262
Diibi:
erzählt wird, muss schon früh in dieser Gegend lokalisiert worden sein;
denn die Schnewburg wurde 1315 von den Freiburgern zerstört und das
Schloss auf dem Schinberge wurde 1349 von Werner von Hornberg dem
Stift von St. Gallen vergabt, welches das Lehen an verschiedene Edelleute
der Gegend verlieh bis 1621, wo das Stift das Lehen zurückkaufte. Wegen
dieser Verhältnisse und der Ähnlichkeit der Namen mehr als der Sagen-
züge, gestatte ich mir die Vermutung, dass auch hier eine Einwanderung
aus Italien durch die Schweiz vorliegt; denn ein Uffhusen liegt bei
Willisau (Kt. Luzern), und im Entlebuch gibt es einen Schymberg. Er
steht mitten inne zwischen der Schrattenfluh, die wir aus der Ahasversage
kennen und dem Pilatus. Es stossen also hier auf einem verhältnismässig
engen Raum unsre drei Legenden zusammen, wie sie von einem solchen
in Italien ausgegangen sind.
In der Wendung; welche die Tannhäusersage im Entlebucherlied ge-
nommen hat, treten neben den schweizerischen die aus Italien stammenden
Elemente stark hervor. Danhuser will grosse Wunder schauen und geht
in den grünen Wald hinaus zu 'den schönen Jungfrauen.' Die heben
einen Tanz an, bei dem ein Jahr ist wie eine Stunde. Damit er bei
ihnen bleibe, will Frau Vrene dem Danhuser ihre jüngste Tochter zu
einem ehelichen Weibe geben. Danhuser verschmäht sie, weil in ihren
Augen das Höllenfeuer brennt. Ein Traum unter einem Feigenbaum
mahnt ihn, von Sünden zu lassen. Die Wallfahrt nach Rom geschieht
mit 'blutten Füßen'. Der Papst versagt die Absolution mit dem be-
kannten Symbol des dürren Stabes. Im Schluss der Erzählung ist die
Frömmigkeit des Danhuser und seine Zerknirschung stark ausgemalt, und
die letzte Strophe spricht den eigentlich ketzerischen Gedanken aus:
„Der Sünder mag sein, so gross er will, kann Gottes Gnade erlangen."
Diese Moral ist, wie die Erzählung vom wieder grünenden Stab, im Norden
der Alpen dazu gekommen, aber der Zug, dass der Papst, wenn es zu spät
ist, verzeihen will, ist alt und italienisch.
Die dem Entlebucherlied nahe stehende Aufzeichnung aus Baden im
Kanton Aargau (A) hat doch wieder ihre Besonderheiten. Tannhäuser ist
hier 'ein junges Blut.' Er klopft an die Pforte von Frau Vrenelisberg
und begehrt Einlass in deren Orden. Aber vor der angebotenen 'Gespilinn'
graut ihm: „Sie ist obem Gürtel wie Milch und Bluet und drunter wie
Schlangen und Chrote." Da der Papst ihm den Ablass weigert mit dem
Hinweis auf den dürren Stab, so kehrt er alsbald zu Frau Vrene in den
Wald und auf den Berg zurück. Nach dritthalb Tagen grünt der Stab
nicht nur, sondern er trägt drei schöne Blumen. Die Strophen 11—13
sind dialogisch gehalten. Die Boten des Papstes, die den Ablass bringen,
klopfen an die verschlossene Pforte und erhalten aus dem Innern des
Berges verneinende Antwort. In den Strophen 14—15 ist Tannhäuser zu
dem Kaiser geworden, dessen Bart dreimal um den steineren Tisch wächst.
Drei spätmittelalterliche Legenden.
263
Da dieser auch in Luzernersagen vorkommt, so brauchen wir nicht anzu-
nehmen, class die Tannhäusersage urgermanisch und der Tannhäuser ein
verzauberter Gott, etwa Wuotan sei. Eher ist darauf zu schliessen, dass
eine ursprünglich fremde Sage hier angeklittert worden sei.
Sehr altertümliche Formen zeigt das Lied G. Im St. Galler Ober-
land, zwischen Sargans und Ragaz, an der alten Römerstrasse, wo einst
heidnische Opferstätten und im Mittelalter eine Gerichtsstätte war, lag
einst ein Hügel Thierget oder Thiergarten, von alten Leuten Frau Yrenes
oder Yenesberg genannt. Ein 80 jähriges Mütterchen aus der Gegend er-
innerte sich um das Jahr 1864, dass das Danuserlied in ihrer Jugend als
'Tiergetlied' allgemein bekannt gewesen sei. Heute gibt es an dieser
Strasse oberhalb Mels noch einen Tierget und etwas abwärts von der
Ruine Freudenberg1) einen 'Bühl' und nach einer mir von Stadtarchivar
F. Jecklin in Chur freundlichst nachgewiesenen Urkunde verkaufte 1519,
am 25. Januar, 'Anthoni Tig' Landammann in Sarganserland, an das
Gotteshaus Pfäfers zwei Gulden Churer Münze jährlicher ewiger Gült von
und ab seiner eigenen unter dem Tiergart gelegenen Wiese genannt
Buchserau usw. Im 'Tiergetlied' schaut Danuser, der 'wundrige Knab'
erst zu einem Fensterlein hinein und geht dann in den Berg zu Frau
Yrene und den drei schönen Jungfrauen: „Die sind die ganze Wuche gar
schö, mit Gold und mit Side behänge, händ Halsschmeid a und Maiekrö
(Blumenkronen), am Suntig sinds Otre und Schlange." Nach fast 7jährigem
Aufenthalt schlägt ihn das Gewissen. Der Traum unter den Feigenbaum,
der auch in A vorkommt, ist in G nur durch den Yers angedeutet:
„Und wie des Morgens Tag es war." Danhuser will zunächst einem Pfarrer
beichten; dieser weist ihn an den Papst. Durch Kürze undeutlich ist die
Darstellung der Szene vor dem Papst; man wird fast zu der Meinung ge-
drängt, der dürre Stab sei nicht das Zepter des Papstes, sondern der
Pilgerstab des Tannhäuser selbst. Kecker noch als in A ist die Haltung
des Danuser nach seiner Yerdammung; er scheint sich auch vor dem
jüngsten Tag nicht zu fürchten. Nach dritthalb Tagen grünt das 'Stäbli'
nicht nur, sondern es trägt drei rote Rosen. Die Boten des Papstes
können den Danuser nicht finden; 'Er lit wol uf der Frau Yrenes Berg
bi dene drî schöne Kinde.' Aber nach kaum einem halben Jahre ist der
Papst tot und in Ewigkeit verdammt. Und das Lied schliesst mit der
Mahnung: „Drum soll kei Bischof (kein Kardinal A), kei Papst nid mehr
kei arme Sünder verdamme; gross Gwalt git nu Straf (ostscliweizerisch
für Leid, Unehre), nit Ehr. In nomen Domini. Ame."
Dass in dem St. Galler Yolksliede cüe Spuren der italienischen
Legende ganz besonders deutlich sind, wird dem aufmerksamen Leser
nicht entgangen sein. Ich will kein besonderes Gewicht auf das 'Fensterli'
1) In Italien findet sich in der Nähe des Venusberges ein Castellimi Felicitatis, das
wie der Freudenberg ein Benediktinerlehen gewesen zu sein scheint.
*264
Schläger:
legen, das an die kristallene Pforte des Messire Anthoine Turné erinnert,
es könnte immerhin blosse Ausschmückung sein oder aus einem anderen
Sagenkreise stammen. Aber der Zug, dass die drei schönen Jungfrauen
sich jeden Sonntag in Schlangen verwandeln, stammt direkt aus der
Sibyllensage und findet sich in keiner der deutschen, niederländischen
und dänischen A^arianten des Tannhäuserliedes. Dass der Reuige sich
zuerst an einen Priester wendet, hat schon Magister Hemmerlin aus Italien
nach Hause gebracht. In E erinnert, um dies hier nachzuholen, die Ge-
berde des Danhuser: „er kneuet für das Kreuzaltar mit außgespannten
Armen" und sein rührender Abschied von „Unsrer lieben Frauen" wört-
lich an die Reueäusserungen des Simplicianus bei Hemmerlin. Da nun
diese Züge, wie der vom Traum unter dem Feigenbaum, von dem „langen
Tanz", Wendungen wie „ein Jahr war ihnen ein Stunde" nachweisbar
aus Italien und aus der Sibyllensage stammen und dort von Schweizern
schon früh aufgenommen worden sind, so ist wohl auch für diese Legende
der Schluss erlaubt, dass sie aus Italien durch die Schweiz nach Deutsch-
land gewandert sei. Und mehr habe ich nicht beweisen wollen.
Bern.
Nachlese zu den Sammlungen deutscher Kinderlieder.
Von Georg Schläger.
In den folgenden Blättern übergebe ich den Freunden unserer Volks-
überlieferung das Ergebnis einer ziemlich langen, aber häufig unter-
brochenen und nicht eben planmässigen Beschäftigung. In früheren
Jahren war es mir ein lieber Gedanke, den mir zuwachsenden Stoff ein-
mal richtig und zur eigenen Befriedigung verarbeiten zu können; diese
Hoffnung ist mir leider im Amte längst geschwunden. Dennoch war ich
der Meinung, dass wenigstens der grössere Teil des Gesammelten einen
gewissen Wert beanspruchen dürfe, und so hab ich mich entschlossen,
diesen Teil in Druck zu geben. Dabei hat mich das Bestreben, überhaupt
einmal fertig zu werden, veranlasst, nicht noch weitere Entsprechungen
aufzusuchen, als ich es bis zum vorigen Jahre schon getan hatte: es ist
ja bekannt, wie sehr sich gerade auf diesem Felde immer eins ans andere
hängt. Ich hoffe jedoch, die vorhandenen Nachweise sind schon aus-
reichend; andere Quellen werden sich mit geringer Mühe vergleichen
lassen.
Über die Herkunft jedes einzelnen Stückes jetzt noch genaue Rechen-
schaft abzulegen, ist mir nicht möglich, wäre wohl auch belanglos, dagegen
will ich die wichtigsten Gruppen kurz nach Zeit und Herkunft aufführen.
Deutsche Kinderlieder.
265
Das allermeiste stammt unmittelbar aus Kindermunde, aufgezeichnet ist
alles seit 1890, weniges nach 1900. Die Weidaer Stücke sind mir grössten-
teils aus meiner eigenen Kindheit geläufig, nur wenige erst später bekannt
geworden, sie gehören alle in die Zeit zwischen 1876 und 1891; einige
als älter bezeichnete Texte kenn ich durch meine älteren Geschwister, sie
gehen etwa bis 1865 zurück. Was sonst aus dem Neustädter Kreise aus-
drücklich als alt angeführt ist, wurde von meiner Mutter beigesteuert und
gehört in die Zeit um 1840. Noch etwa zehn Jahre älter sind die wenigen
von meinem Yater mitgeteilten Stücke aus Wiegendorf bei Weimar. Der
Aufzeichnung gleichzeitig (1890) sind alle Texte aus Halle und Griebich enstein,
Kothen, Arnstadt, Gelsenkirchen, auch die meisten aus Osnabrück, die ich
Herrn und Frau Lehrer Heuer dort verdanke. Ungefähr gilt dies auch
von denen aus Lehnstedt (Herr Pfarrer Linschmann), Grossschwabhausen
(Herr Pfarrer Alberti), Kunitz (Herr Pfarrer Grobe), Löbstedt (Frl. Zimmer-
mann), Jena (Frl. Müller); etwas älter sind die aus Sarnsthal i. d. Pfalz
(Frl. Hauck), Holstein (Dr. Hallier), Koburg und Umgegend (stud. Zöller),
Grossmölsen bei Erfurt und Rothenstein a. d. Saale (Frl. Ett), Remda und
Stadtilm (Frl. Ziegler). Um 1860 mögen die von Herrn Pfarrer Alberti
aus Wolfsgefährt beigesteuerten Stücke anzusetzen sein, ebenso die von
Herrn Scholz in Jena vermittelten schlesischen Sprüche. Die aus See-
hausen i. d. Altmark stammenden Stücke verdank ich Herrn Rektor Franck
dort, sie sind im September 1890 im „Anzeiger für den Amtsgerichts-
bezirk Seehausen" gedruckt. Ganz frisch aus dem Kindermunde ge-
schöpft sind die Spiellieder aus Oberstein, für deren Vermittlung ich
Herrn Lehrer A. Müller zu danken habe. So bin ich nach vielen Seiten
hin verpflichtet — leider trifft mein Dank manchen nicht mehr unter den
Lebenden.
Yon der Buntheit der kindlichen Überlieferung gibt meine Sammlung,
denk ich, ein getreues Bild. Neben vielem ursprünglichen Kindergute lassen
sich Spuren der Kinderliteratur, des Gassenhauers, der Operette, des Tingel-
tangels und der ernsthaften Literatur, in weit höherem Masse aber solche
des älteren Gesellschaftsspiels und unmittelbare Nachklänge des Volks-
liedes verfolgen. Die letzteren sind nach ihrer Zahl so überwältigend,
dass der engste Zusammenhang mit dem Volkslied auf der Hand liegt
und auch für die grosse Mehrzahl allei anderen Stammgruppen der Durch-
gang durch die "V olksüberlieferung zu behaupten ist, wie er denn z. B.
für die geschichtlichen Erinnerungen (Nr. 4, 55 168, gewisserniassen auch
46) keinem Zweifel unterliegen darf. Ich kann diesem Verhältnis hier
nicht weiter nachgehen, will aber meinen in langer und genauer Be-
trachtung gewonnenen Standpunkt dahin in Worte fassen : das Kinderlied
stellt den letzten Niederschlag, die. Restverdichtung der Volksüberlieferung
mit Einschluss aller darin zusammengeflossenen Strömungen dar. Un-
mittelbare Einflüsse anderer Art, wie in Nr. 243 der des Struwelpeters,
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. lg
266
Schläger:
sind so verschwindend selten und räumlich so eingeschränkt, dass sie gar
nicht in Betracht kommen; aber auch was man als ursprüngliche Kinder-
dichtung ansprechen möchte, ist bei näherem Zusehen mit Yolksliedresten
durchwachsen. Auf diese Zusammenhänge, wie auf die Gleichartigkeit
der Schicksale — wir finden im Kinderliede ganz dieselben Teilungen,
Yerwachsungen, Verkürzungen, Umdeutungen, wie sie das Hauptkenn-
zeichen des echten, rein mündlich fortgepflanzten Volksliedes bilden —
liab ich besonders geachtet, und ich hoffe, dass diese Seite meiner Arbeit
eine kleine Bereicherung unserer Kenntnis bedeutet. Besonders tritt es
klar hervor, wie unbedingt die Dichtung auch hier unter dem Zwange
der Tradition steht, und wie diese durch die fortwährende wechselseitige
Verankerung immer mehr formelhaft verengt wird. Wir können be-
obachten, wie eine festgewordene Form, z. B. die des Schnaderhüpfels,
nicht nur in die Welt des Kinderliedes eingedrungen ist (Nr. 209), sondern
auch offenbar kindliche Neudichtungen hervorgerufen hat (Nr. 170). Ander-
seits fehlt es nicht ganz an bewusster Umdichtung gegenüber der sonst
durchaus herrschenden Abschleifung, aber es ist gewiss nicht zufällig,
wird vielmehr im tiefsten Wesen begründet sein, dass ein Stück wie 197
keine weitere Verbreitung gewinnt; und doch sehen wir wieder grad an
dieser Parodie, dass die alten metrischen Gepflogenheiten des Volks-
liedes, durch Taktmässigkeit und Melodie gestützt, selbst bis dahin fort-
dauern.
Jener Standpunkt bringt denn auch ein ganz bestimmtes Urteil über
den wissenschaftlichen Wert der Kinderliedforschung mit sich: sie hat vor
allem unsere Anschauungen über die Volksüberlieferung klären und ver-
tiefen zu helfen. Auch die vielumstrittene Frage nach dem mythischen
Gehalte des Kinderliedes schneidet er ohne weiteres mitten durch, er nötigt
zu der bündigen Entscheidung, dass Mythisches nur in dem Umfang und
mit der Bedeutung im Kinderlied erwartet werden darf, wie es aus der
Volksüberlieferung in Lied und lebendigem Aberglauben hergeleitet
werden kann. Damit fällt der ganze altgermanische Götterhimmel, den
man so oft im Kinderliede hat finden wollen, sogleich in sich zusammen,
und es bleibt neben christlichen und abergläubisch gewendeten, nicht aber
dem Heidentum entstammenden Gestalten wie Petrus usw. im wesentlichen
nur das zeitlose Gebiet der niederen Mythologie übrig; und ich meine,
dass sich dies mit einer unbefangenen Betrachtuno; des Vorhandenen am
o O
besten verträgt. [Vgl. S. Singer, oben 13, 49f.]
Bei meinem jüngsten Beutezug unter die Obersteiner Jugend hat
mich der Reichtum an älteren und neueren, aber unverkennbar volks-
tümlichen Balladen überrascht, die zum Gesänge mimisch aufgeführt
> O O
werden und so eine Mittelstellung zwischen Lied und Spiel einnehmen.
Manches dieser Art war mir ja schon bekannt (Nr. 52, 91, 98, 99, 101,
195, 238; von 98 kann ich freilich nicht sagen, ob es wirklich gespielt
Deutsche Kinderlieder.
267
wurde), aber daneben fanden sich hier noch einige Texte, die sonst
wohl nirgends verzeichnet sind: Nr. 85, 92, 100, 241. Dabei tragen
die meisten dieser Stücke deutlich die Spuren der Umwandlung im
Kindermunde, so dass an der Echtheit ihrer Überlieferung nicht zu
zweifeln ist. Es erhebt sich die wichtige Frage, wie weit wir solche
Aufführung, die doch etwas anderes ist als blosser Schlussübergang in
ein Spiel wie vielfach bei Nr. 91, hinaufrücken dürfen. Ich will dabei
erwähnen, dass neuerdings ein höchst geistreicher, wenn auch nicht
in allem einzelnen überzeugender Versuch gemacht worden ist, für die
altfranzösische Lyrik Ähnliches zu erweisen und Stücke, an deren Er-
klärung man zu verzweifeln anfing, durch die Annahme begleitender
dramatischer Darstellung begreiflicher zu machen1), und will die Frage
stellen, ob dergleichen auch für die ältere deutsche Dichtung erlaubt sein
möchte. Zwar kann man unsere Beispiele nicht unmittelbar dafür ins
Treffen führen, denn sie stellen deutlich eine jüngere Entwicklungsstufe,
keinen ursprünglichen Zustand dar. Aber es liegt auf der Hand, dass es
ältere Vorbilder hierfür gegeben haben muss, und für die lässt sich jene
Frage wohl aufwerfen; wir können dabei an die grosse Anzahl bekannter,
oft sehr altertümlicher Kinderspiele erinnern, bei denen Gesang und
Handlung anscheinend von Anfang an zusammengehören, wie bei dem
Spiele von der Königstochter im Turm oder der Spinnerin auf dem
Weidenbaum oder unseren Nr. 44, 88, 143, 275, während es daneben reine
Tanz- oder Reigenlieder wie unsere Nr. 280 gibt, Ketten- und Nach-
ahmungsspiele aber, wie Nr. 13, 25, 39, 97, 108, 216, 279, kaum verglichen
werden können. Allerdings darf man wiederum den Unterschied nicht ausser
acht lassen, dass wir es bei den verglichenen szenischen Spielen nicht mit
Erzählungen zu tun haben, wenigstens nicht in den heut erreichbaren
Fassungen; und es lässt sich weiter fragen, ob nicht auch jene kleinen
Singdramen auf dem Wege zu derselben Entwicklung sind und vielleicht
einmal kurze, verdunkelte, formelhaft gewordene Spiele ergeben werden;
im ganzen strebt ja die kindliche Überlieferung danach, die Handlung
zu vereinfachen und die Wechseliede vorwiegen zu lassen, wie unsere
Nr. 238 sehr lehrreich zeigt. Ja, ein Stück wie 99, bei dem der Inhalt
verdunkelt ist und die Ausführung auf keine bestimmte Grundlage
deutet, lässt sich wohl als ein formelhaft gewordener Rest ansprechen.
Es ist auch nicht zu verkennen, dass manche Texte den Keim zum Spiele
von Anfang an in sich tragen, wie unsere Nr. 166.— In alledem liegt noch
viel Stoff zum Nachdenken verborgen, an bisher wenig gerührt
worden ist.
1) J. Bédier, R. Meyer, P. Aubry, La Chanson de Bele Aelis. Paris, Picard 1904. —
J. Bédier, Les plus anciennes danses françaises. Revue des deux Mondes 31 (Jahrgang 76,
1906), 398-424.
18s
268
Schläger:
Folgendes sind die ständig angezogenen Werke:
Böhme, Deutsches Kinderlied und Kinderspiel. Leipzig 1897.
Bockel, Deutsche Volkslieder aus Oberhessen. Marburg 1885.
Ditfurth, Deutsche Volks- und Gesellschaftslieder des 17. und 18. Jahrhunderts. Nörd-
lingen 1872.
Drosihn, Deutsche Kinderreime und Verwandtes (hsg. v. Bolle und Polle). Leipzig 1897.
Dunger, Kinderlieder und Kinderspiele aus dem Vogtlande. 2. Aufl. Plauen 1894.
Erk-Bolirne, Deutscher Liederhort. 3 Bde. Leipzig 1893—1894.
Er lach, Volkslieder der Deutschen. 5 Bde. Mannheim 1834—1837.
Handelmann, Volks- und Kinderspiele aus Schleswig-Holstein. Kiel 1874.
Lewalter, Deutsche Volkslieder, in Niederhessen aus dem Munde des Volkes gesammelt.
5 Hefte. Hamburg 1890—1894.
E. Meier, Schwäbische Volkslieder. Berlin 1855.
H. Meier, Ostfriesland in Bildern und Skizzen. Leer 1868.
Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogt. Schleswig und Holstein. Kiel 1845.
Müller, Volkslieder aus dem Erzgebirge. 2. Ausg. Annaberg 1891.
Reifferscheid, Westfälische Volkslieder in Wort und Weise. Heilbronn 1879.
Rochholz, Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Leipzig 1857.
Sachse, Über Volks- und Kinderdichtung. Progr. Berlin 1869.
Schollen, Volkstümliches aus Aachen. Aachen 1881.
Schlossar, Deutsche Volkslieder aus Steiermark. Innsbruck 1881.
Schumann, Volks- und Kinderreime aus Lübeck und Umgegend. Lübeck 1899.
Simrock, Das deutsche Kinderbuch. 3. Aufl. Basel o. J.
Stöber, Elsässisches Volksbüchlein. 2. Aufl. 1. Bändchen. Mülhausen 1859.
Süss, Salzburgische Volkslieder mit ihren Singweisen. Salzburg 1865.
Wegener, Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland. 1. Heft: Aus dem Kinderleben.
Leipzig 1879.
Hierbei ist zu beachten, dass eine blosse Ziffer hinter dem Verfassernamen stets die
Nummer bezeichnet; bei Böhme ist dann immer der erste Teil gemeint, während beim
zweiten Seite und Nummer angegeben sind.
1. ABC,
Die Katze lief in Schnee,
Der Hund hinterdrein,
Purzelten sie alle beide den Berg nein.
Thüringen. Vgl. Böhme 1429f., Simrock 197 f., Sachse S. 17, Stöber 280, Dunger 135.
Grossschwabhausen i. Th. nach Z. 3:
Biss er se ins Bein,
Da blutte se wie e Schwein.
Ähnlich als Heilspruch, so im Neustädter Kreise:
2. Heile, heile Kätzchen! Hatte's rote Höschen an.
Das Kätzchen Hef den Berg hinan, Sprang ihr ein andrer nach,
Wie's wieder runter kam, Fielen sie alle beide in Bach.
Oder statt der vier letzten Zeilen echter:
Wie's wieder runter kam,
War's wieder geheilt.
Hierzu Böhme 240f., Wegener 202, Rochholz S. 340f.; ferner unsere Nr. 104. [Wossidlo,
Mecklenburgische Volksüberlieferungen 3, 108 nr. 566.]
Deutsche Kinderliecler.
269
3. Abraham und Lot,
Die warfen sich init Kot.
Da kam ein Hirte schnell heran
Und ging Loten mit zur Hand.
Lehnstedt b. Weimar.
Abraham jedoch nicht faul
Warf seinen Bruder in das Maul.
Da heulte Lot gar sehr,
Sie warfen sich dann nicht mehr.
Vgl. Schumann 340£f.; Simrock 880, Böhme 1725.
4. Ach du meine Mütze, Wern mer mitjenumm
Sagte Müllerfritze, Un in Sack jesteckt
Wenn dee Hussen kumm, Un mit fortjeschleppt.
Kunitz b. Jena. — Die Hussen sind wohl eine Kreuzung aus Russen und Husaren —
oder gar Hussiten? Deutlicher ist's, wenn ein bekannter Abzählreim in Remda begann:
1-20
Die Russaren hielten Tanz usw. (vgl. Nr. 67).
Für den Inhalt vgl. einen Vierzeiler aus Sarnsthal i. d. Pfalz :
S S N
-N--V
4-
S—N—N—N"
Pil
aus Ainmerbach bei Jena gibt
Ach ich bin so müde,
Ach ich bin so matt,
Meine Krinoline
Hat 'sen dicke satt.
5. Gestern sin de Russe kurame,
Hän mei Schätzel mitgenumme.
Kreuzsapperlott,
Jetzt isch mei Schätzel fort.
6 a. Ach ich bin so müde,
Ach ich bin so matt,
Möchte gerne schlafen gehn,
Morgen wieder (früh) aufstehn.
Weida, Gotha, Kunitz. — Eine schnöde Umdichtum
«ine Strophe zur Einleitung:
6 b. Und nun ist der Ball vorüber,
Sitzen wir zu Hause dann,
Legen uns ins Bettchen nieder,
Stimmen dann das Liedchen an:
Eine Parodie hat auch Schumann Nr. loS. In Koblenz die zweite Hälfte verbunden
mit einem anderen Verse, zu dem Simrock 929f. und Böhme S. 446 zu vergleichen:
7. Eierkranz, Meister, Meister, schlofe ginn,
Wat gilt dä Schanz? Morge fröh wieder ofstinn,
Eine decke Dahler. Wen* die Pipcher lege
Wer soll bezahle? Und die Hähncher kräge:
Glöckelche of der Mauer Kikerikiki!
Schlägt zwölf Auer.
8. Adam un Eve
Sassen auf der W efe (= Garnweife).
Da ging die Wefe klipp klipp klapp,
Un beide fiel'n in Käsesack.
Lehnstedt bei Weimar. — Vgl. Böhme 1726; Schollen 56.
9. All min Gösseln, kom to Hus! Legt Eier
Worum denn? worum denn? Wo veel?
Pief bit sößtein -V
All min Gösseln, kom to Hus!
De Wulf is doa, de Wulf is doa.
Wakt mokt he denn?
270
Schläger:
Holstein. — Bekanntes Durchlaufspiel, hier in der zweiten Hälfte wohl mit einem
anderen Spiele verwachsen. Zu vergleichen: Simrock 940, Böhme S. 572f.; Müller S. 199;
Handelmann S. 77 f., Möllenhoff S. 487; Firmenich 1, 124. 129. 131; Lewalter Heft 5r
Nr. 58; ohen 9, 394 Nr. 71.
-i—™,—^I—
---.-„-I # ~__I —-—-——.
10a. Als ich einmal reiste, Schöne (Viele) Herrn und Damen
Reist ich nach Tirolerland, Standen (Kamen) davor meiner (meine) Tür,.
Da war ich die kleinste Wollten sich (mich) beschauen
In dem ganzen Land. Das kleine (Armes) Murmeltier.
Murmeltier kann (muss) tanzen,
Eins, zwei, drei und vier,
Murmeltier kann (muss) tanzen,
Das kleine Murmeltier (Eins, zwei und drei).
Giebichenstein, Abweichungen aus Osnabrück. Böhme S. 502f., Lewalter Heft 5, Nr. 6L
— Literarischer Ursprung wahrscheinlich. Rochholzens Reimpaar S. 305, Nr. 703 gehört
wohl zu demselben Liede; die ganze erste Strophe kehrt anscheinend ursprünglicher in
einem ganz anderen Volksliede wieder, Ditfurth 49, und dieser mutmasslichen Grundform
steht der Anfang des Murmeltierliedes bei Gerhardt und Petsch, oben 9, 392 Nr. 65
noch näher. Zu vergleichen auch Lewalter Heft 2, Nr. 39.
In Osnabrück ist eine Strophe nach der Weise „Kommt ein Yogel geflogen" vorgesetzt:
IIa. Die Tiroler sind lustig,
Die Tiroler sind froh,
Verkaufen ihr Bettchen
Und schlafen auf Stroh.
Ähnliches gibt Sachse S. 16 in einer Art Quodlibet; dazu auch Wunderhorn, Anhang
S. 66 = Simrock 209.
Anderes und als selbständiges Lied bei Lewalter Heft 2, Nr. 20, dazu folgende Thüringer
Fassung:
Kölleda.
11c. Tiroler sind lustig,
Tiroler sind lein,
Sie nehm'n sich ein Weibchen
Und tanzen dabei.
Jena.
11 b. Die Tiroler sind lustig,
Die Tiroler sind froh,
Sie sitzen beisammen
Und unterhalten sich froh.
Erst dreht sich das Weibchen,
Dann dreht sich der Mann,
Dann fassen sich beide
Und tanzen zusamm.
Erst dreht sich das Weibchen,
Dann dreht sich der Mann,
Dann tanzen sie beide,
Dann geht der Mann.
Dieses Kinderlied (Anfang auch Dunger 98) entstammt einem sogenannten Volks-
liede bei Erlach 4, 376, das seinerseits auf eine Operette von Jacob Haibel 'Der Tyroler
Wastl' 1795 zurückgeht, s. Buch der Lieder (Kollektion Litolff 864) Nr. 154, und Gerhardt-
Petsch oben 8, 410 Nr. 10. [Böhme, Vtl. L. 187. Schweiz. Archiv 5, 42.] — In Oberstein
wird das erstere Lied in folgendem Wortlaute mit mimischen Bewegungen gesungen:
-fr—fr---
=2C#-#—
■i ' .1;-•* 1 rll
10 b. Als ich einst reiste
Durchs Afrikanerland,
War ich die kleinste,
Sehr unbekannt.
Ein blauer Kittel
Und ein Hut mit Borsten (oder: Quasten)
War meine Bitte [dran
Fürs Schweizerland.
Deutsche Kinderlieder.
271
Ihr Herrn, ihr Damen
Und ihr Mädchen vor der Tür,
Kamen zu schauen
Ihr kleines Murmeltier,
Gaben zu speisen
Und zehn Pfennig in der Hand
Für meine Reise
Durchs Japanerland.
Str. 2: Über Brust und Kopf gestrichen. 3: Wiederholte Bewegung beider Hände
von der Brust nach vorn und unten, bei „Murmeltier" wiegende Bewegung der Arme.
4: Essen und Geldgeben nachgeahmt; zum Schlüsse wird ein Kreis gebildet und nach
derselben Melodie auf „La la la . . ." getanzt.
Hier stimmen die beiden ersten Strophen deutlich mit Ditfurths zweiter Fassung
überein, die als Ganzes folgenden Wortlaut hat:
Als ich einstmal reiste
In das Sachsenweimarland,
Da war ich der reichste,
Das ist der "Welt bekannt.
12. (Auf die Frage: Was?)
Alt Fass!
Wenn's regnet, wird's nass,
Mit meim zerrissnen Kittel,
Jacken und Kamisol,
Das waren meine Mittel,
Da reiste ich davon.
Wenn's schneit, wird's weiss,
Wenn's gefriert, wird's Eis.
(Und du bist ein kleiner Naseweis).
Thüringen, sehr verbreitet. Ganz ähnlich Simrock 102, Böhme 457, Dunger 199;
dazu Schumann 286, Stöber 175, Rochholz S. 113; bei Wegener 173 abweichend und ohne
die erste Zeile mit einem Kettenreime verbunden. Bei Fischart, Aller Practick Gross-
mutter 1876 S. 4 heisst es: „Nach wind kompt regen, wann es regnet ist's nass, glaubst
du das?"
N N N N !
----1---i H ~ H--—4--Nf--
._|NAAA.
-0-0-0—P--0-
■V-P-P-#—
Ii
13 a. An einer Gartenmauer (Da oben auf dem Berge)
Da lag ein blauer Stein ( liegt )
Und wer den Stein verloren hat (— wer ihn hat verloren)
Der hol' ihn wieder 'rein (kriech' ins Loch hinein).
Ich gebe dir die Hand
Mit Freuden und gewandt ( unbekannt)
Tirai lai a tediala tirallalallala. (Vidirallala . . .)
Nun aber muss ich scheiden,
Das tut mir herzlich leide,
Tirallala usw.
Ich gebe dir 'nen Ivuss
Mit Freuden und Genuss,
Tirallala usw.
Arnstadt, Abweichungen von Osnabrück, wo die Weise der bei Böhme S. 487, Nr. 220
sehr ähnlich ist. In Kothen ist die Weise wesentlich dieselbe wie in Arnstadt; der
Anfang lautet mit einer weiteren Spielstrophe:
13 b. Dort oben auf dem Kirchenturm, Ich nehm vor dir das Mützchen ab
Und sag dir guten Tag,
^itirallala usw.
Da steht ein blauer Stein,
Und wer seinen Schatz verloren hat,
Der nimmt sich einen rein.
Ähnlich bei Lewalter, Heft 4, Nr. 32. — Die Weise ist mit grösseren oder geringeren
Abweichungen auch sonst häufig, vgl. z- Erk-Böhme 1, 117e, zweite Melodie; 2, 527*>?
272
Schläger:
909. 1038. Dem Inhalte nach vergleichen sich andere Tanz- und Spieltexte wie Erk-
Böhine 2, 975ff.
14. Anna Mariechen, Wo die Husaren sein.
Wo willst du hin? Ei ei ei,
Immer nach Sachsen nein, Anne Marei!
Gegend von Bürgel-Eisenberg, älter. Ganz ähnlich Müller S. 144. Zugrunde liegt
wohl Erk-Böhme 2, 621.
15. Armer Sünder, zu bedauern,
Wie du da stehst und musst lauern,
Bis dass einer kommt und dich schlägt.
Einmal hat er's nicht geraten,
Ei so mag er's noch einmal sein.
Einmal hat er's jetzt geraten,
Ei so braucht er's nicht mehr zu sein.
Arnstadt. Drosihn 290 ganz ähnlich, doch wohl aus Pommern. Schwerlich volks-
tümlichen Ursprungs.
16. Auf dem Berge Sinai
Sitzt eine Frau und macht Mini.
Da kommt der Jude mett mett mett
Und nimmt den Yogel nach dem Fett.
Thüringen, Gegend von Plaue. — Zum Anfang vgl. Müller 211 f.; Böhme 1736;
Schumann 390 b; oben 5, 201 Nr. 12f.
17. Auf der Juchhöh,
Da kochen se Kaffee,
Da tun se was nein,
Da schmeckt er wie Wein.
Niederpöllnitz. Spott auf einen ärmlichen Ort des oberen Vogtlands.
18 a. Bergmann, Bergmann,
Wir sind auf deinem Berge,
Fressen deine (kleine) Zwerge.
Womit soll ich (Mit was soll mer) grasen?
Mit deiner (der) langen Nase.
Löbstedt, Jena. — Ist der »Bergmann" ein zwergisches Bergmännlein, wie man nach
Pauls Grundriss der germ. Phil. 1, 1032 wohl vermuten kann? Einen „Zwergberg" gibt
es nach Grimms Deutschen Sagen Nr. 33 bei Jena, wahrscheinlich haben die Gipsschlotten
(„Teufelslöcher") am Wege nach Wöllnitz zu allerlei Sagen Anlass gegeben. — Ob der
Schlussreim mit dem übrigen zusammengehört, ist zweifelhaft, da die lange Nase sonst
den Regenwolken zugehört (Simrock 564, Uhlaud, Schriften 3, 344 Anm. 307'). „Burck-
hart mit der Nasen, komm helff mir grasen" in Fischarts Spielverzeichnis (Geschichts-
klitterung, Kap. 25) hängt sicherlich damit zusammen, aber wie? Der Vers verdiente nähere
Nachforschung.
1) Doch ist es möglich» dass in diesem Falle die Bedeutung anders liegt: in Ost-
thüringen bezeichnet die 'lange' Nase vielfach eine solche, die tropft.
Deutsche Kinderlieder.
273
Folgendes ist doch wohl eine Umarbeitung:
18b. Mer sin in Amtmanns Garten; Mit der lang Nase.
Wenn der Amtmann kimmt, Amtmann kimmt noch lange nicb,
Nimmt er uns de Sichel ab; Bis de Zeit vergangen is.
Mit was soll mer grase?
Grossschwabhausen bei Jena.
19. Bettel bettel, meine Hand,
Der Engel hat mich abgesandt.
Nicht zu gross und nicht zu klein,
"Wie der halbe Mühlenstein.
Neustadt a. Orla, älter. Vollständiger ein gleichfalls älterer Vers, mit dem in Auma
die Kinder am ersten Weihnachtstage „frische Grüne peitschen" gingen, d. h. die Lang-
schläfer mit Fichtenreisig kitzelten:
20. Frische Grüne hübsch und fein, Nicht zu gross und nicht zu klein,
Pfefferkuchen, Branntewein. AVie ein halber Mühlenstein.
Sollst mir eine Gabe geben
Hiervon die beiden Anfangszeilen bestanden in meiner Kindheit noch in Weida:
anders gewendet sind sie mir aus Culmitzsch mitgeteilt worden:
21. Guten Morgen! frische Grüne!
Pfefferkuchen und Branntewein,
Das soll meine Gabe sein.
In Kunitz für die letzte Zeile: Steck mir tausend Taler ein.
In Stadtilm hies es dagegen am Neujahrstage:
22. Ich klinge das neue Jahr ein
Mit Pfefferkuchen und Branntewein
Und einem Korb Äpfel hinterdrein,
wobei sich das „Klingen" an dem „Klingeltage" gleichfalls aui das Peitschen mit Ruten
beziehen soll, s. Weim. Jahrb. 2, 128. — P^in anderer Weidaer Frischegrüne-Reim lautet:
23. Frische Grüne peitsche ich,
Ich peitsche sie zu Lohne,
Ich peitsche sie zur Fröhlichkeit
Und für dem Herrn N. seine Gesundheit.
Vgl. noch Böhme 1719, Müller 165.
24. Bibel babel Quätschchenmuss,
Gänseschnabel, Wern de Kinner all bald gruss.
Hahnefuss,
Grossschwabhausen. — Wohl aus dem Anfang eines Abzählreims weitergebildet:
Böhme 1738, Drosihn 222.
25. Blauer, blauer Federhut Jungfrau, sie soll stille stehn,
Steht dem Mädchen gar zu gut. Soll sich dreimal umsehn.
Jungfrau, sie soll tanzen Jungfrau, sie soll knien,
Mit ihrem schönen Kranze. Soll sich einen ziehen.
Schorkendorf b. Koburg. In Weida roissverstanden: 1 Finger^iu^' ^ ^em
blauen Ranzen. Äusserst verbreitetes Spiel, hier iu vereinfachter Form; vgl. Böhme
S. 473ff., Lewalter Heft 3, Nr. 22, Simrock 932; Erk-Böhme 2, 969- 975, auch die fol-
genden; Dunger 374f.; aus einem ganz fremden Liede Müller S. 63, Z. 9f., Bockel 102.
274
Schläger:
— Die Eingangsformel, vielfach auch als Kehrreim gebraucht, findet sich in Brentanos
Geschichte vom braven Kasperl unci der schönen Anna in folgender Gestalt:
Rosen die Blumen auf meinem Hut,
Hätt ich viel Geld, das wäre gut,
Rosen und mein Liebchen.
Dazu Simrock 933, wo es anscheinend missverstanden heisst: Rosen auf mein
Hütchen. [Yan Duyse 2, S. 1385. Ghesquiere S. 35.] Die oben gegebene, landläufige Ein-
gangsformel stammt vielleicht aus einem ganz anderen Versehen, Schumann 345.
26. Böttcher, Böttcher bum bum bum,
Mach mir meine Nase krumm,
Mach sie wieder grade,
Bist auch meine Pate (oder: Sonst sag ich's meiner Pate).
Weida, auch sonst Thüringen. — Dunger 210; ähnlich Simrock 452 = Böhme 1347;.
der Anfang kehrt wieder Schumann 390, während 314 dem Inhalte nach nahesteht.
27. Bussel, Bussel, beiss mich nich!
Ich bin von Neckerode;
Ich will e Musikante wem
Und kenn noch keene Note.
Lehnstedt i. Th. — Fischart gibt im Spielverzeichnis (Geschichtklitterung, Kap. 25)
eine ähnliche Zeile: Wolff beiss mich nicht, die aber jedenfalls zu einem anderen Vers
gehört: Böhme 687 (die Weise ist offenbar fehlerhaft aufgezeichnet), 688.
28 a. Christkind, komm in unser Haus,
Leer dein goldig Säckel aus,
Stell den Esel auf den Mist,
Dass er Heu und Hafer frisst.
Sarnsthal i. d. Pfalz, ganz ähnlich Böhme 1578. — 28b. Ravensberg-Minden Z. 2:
Deine Taschen: Z. 3: Das Pferdchen untern Tisch usw. Dann folgender Zusatz:
Heu und Hafer frisst es nicht, Will Vater und Mutter gehorsam sein. —
Zuckerplätzchen kriegt es nicht. — Christkind, komm, Mach mich fromm,
Ich will auch immer recht artig sein, Dass ich in den Himmel komm!
Dieser Zusatz hat dreierlei Ursprung. Die beiden ersten Zeilen (auch Böhme 1577
mit der Hauptstrophe verbunden) finden sich in anderem Zusammenhange Drosihn 215
(mit weiteren Nachweisen) und Böhme 871 = Simrock 610. Das folgende aus zwei Kinder-
gebeten: von dem ersten ist mir nur die zweite Zeile aus Simrock 996 bekannt geworden,
das zweite steht selbständig bei Simrock 275, Böhme 1542, Stöber 112, Dunger 128,
ähnlich, aber auf die Rute bezogen, Böhme 469 b, mit Erweiterung Simrock 292 = Bobine 1579;
zu vergleichen auch Böhme 1556 a.
29. Da droben aufm Berge
Da steht e Franzos,
Der will mich derschiess
Mit em Erdöpfelklos.
Witzmannsberg bei Koburg—ygl, e, Meier S. 63, Rochholz S. 305 Nr. 705, Erk-Böhme 2,
S. 794 Nr. 1056, 29.
30. Dat Schipp, dat Schipp na Holland geiht
Un het'n goden Wind.
Schipper, wilt du wiken,
Stürmann. wilt du striken ?
Sett de Segel op den Top
Un fohr damit na Holland rop.
Deutsche Kinderlieder.
275
• Un as dat Schipp in Holland kam, Dat Peerd fung an to brusen,
Do was do niims to Hus Stenner ut'n Husen,
As de olle Kluckhehn. Hehn op't Heck
De Kluckhehn wusch de Schütteln up, Fall mit de Nees in Dreck.
De Fleddermus de fegt dat Hus, Krai op'n Stoken
Un in de grote Schiin Full mit de Nees in Hoken.
Do döschen se de Kopiihn (so), Kam oll Wif, wull ok mol sehn,
Do döschen se Kopphawerstroh; Un full mit de Nees in Rinnsteen.
Holstein. Eigentümlich ist hier die Verbindung der beiden sonst getrennten Teile,
die eine Veränderung des ersten, zu den Rummelpottliedern gehörigen hervorgebracht
hat (Böhme 1709 f., Schumann 561, Simrock 984). Der zweite Teil ist ein Lügenmärchen,
wohl ursprünglich zu einer Tierhochzeit gehörig; es enthält hier neben wenigem Selb-
ständigen ein paar Fehler und Lücken, die mit Hilfe der anderen Fassungen leicht zu
bessern sind: vgl. bes. Böhme 1255f., Schumann 561, Wegener 325—330, 334, 335.
31. De guldne Schnur gieht im das Und ei de liebe Kerche gieht,
Haus; Setzt se siech hien an ihren Ort
Es guckt ne schiene Jumfer raus, Und hieret still uff Gottes Wort.
Sie is wie eine Tugend, ja Tugend. Se werd siech wull bedenken
Des Sonntags, wenn se früh ufstieht Und werd ins och was schenken.
Gegend von Breslau. Sehr ähnlich Böhme 1612, auch 1615. Unser 'Tugend' ist
aus 'Tocke' missverstanden, wozu u. a. Weim. Jahrb. 3, 327 zu vergleichen. Sehr eigen-
artig und an alte Rechtsbräuche erinnernd ist das Einhegen des Hauses mit der goldenen
Schnur, an deren Stelle sonst auch eine goldene Kette, ein Seidenfaden erscheint (Erk-
Böhme 3, 1184, Mannhardt S. 677 und sonst, Reifferscheid S. 93; Böhme 1632 f., 1636,
1646, 1693, 1706, 1715c). Es ist wohl anzunehmen, dass beim Heischen wirklich mit
einer Schnur abgesperrt wurde, ähnlich wie in meiner Heimat (Weida) die Hochzeits-
wagen noch heute mit einem Faden aufgehalten werden und sich auslösen müssen.
Anders steht's mit dem goldenen Wickelbande für das Kind, das Simrock 983, Böhme 1616,
Wunderhorn, Anhang S. 37 der Frau gewünscht wird.
Die Schlussformel erscheint noch öfter, z. B. Böhme 1610ff. ; so auch in einem
anderen Ansingelied aus Hirschberg i. Sehl.:
32. Die Frau N. N. hot an roda Rock,
Sie greift gor gärn in Eertopp.
Sie ward sich wull bedenka
An ward mer au wos schenka.
Der Rock, zwar nicht ein roter, spielt seine Rolle auch in den genannten Versen
bei Böhme usw.; zu vergleichen ist auch Simrock 9iS, Wunderhorn, Anhang S. 31, wo
ein goldener Rock gewünscht wird. Lin anderer schlesischer Heischespruch (aus
Landeshut) sei angeschlossen:
33a. Rute Rusen wachsen ufm Stengel;
Der Herr is schien, die Frau is wie a Engel!
A Tiechel lässt se fliegen,
An Reichen werd se kriegen
(hierzu Drosihn 407). Oder statt der letzten Zeilen:
Der Herr der hot ne huche Mitze,
A hot se vull Dukate sitze;
A werd sich wull bedenka
Und werd mer och was schenka.
Hierzu Böhme 1613, Erk-Böhme 3, 1225, auch Simrock 998, Wunderhorn, Anhang
S. 31. Der Anfang erinnert an den bekannten Erfurter Ansingevers in Falckensteins
276
Schläger:
Historie von Erfurth (Uhland, Schriften 3, 49 f., Anm. 62 zu Kap. 1 der Abhandlung;
Böhme 1656).
Eichen ohne Gerten!
"Wir kamen vor ein Tälelein
Rote Rosenblätterlein usw.,
wozu freilich auch Uhland, Schriften 4, 11 (Anm. zu Volksl. 3) zu vergleichen ist. Er
kommt auch sonst überaus häufig in Heischeliedern, übertragen auch in Kiltsprüchen vor,
vgl. Weim. Jahrb. 2, 126. 3, 327, Alemannia 4, 5. Etwas verändert lautet die Eingangs-
formel in Niedergebra bei Bleichrode (Aus der Heimat 1889 Nr. 42):
33b. Die Rose
Die sitzt an einem Stengel;
Der Herr ist schön,
Die Frau ist wie ein Engel.
Noch mehr verkürzt in Hirschberg i. Schi, mit weiteren Wunschzeilen:
33c. Roten, roten Stengel! Sonder Gott beschere,
Der Herr ist schön, Beschere Gott,
Die Frau ist wie ein Engel. Dass's ein rechtes Glücke hat.
Dass sie Gott ernähre,
Die Lobpreisung des Mannes oder cler Frau hat eigentlich wohl den Sinn, die andere
Ehehälfte günstig zu stimmen, wie Simrock998 zeigt ; von Haus aus dürfte demnach nur die
eine statthaben.
Das Eingangswort des oben angezogenen alten Erfurter Verses hat es sicher nicht
mit dem Eichbaume, sondern mit dem Ei zu tun, das ja vor allem beim Friihlings-
heischelied eine grosse Eolle spielt; der Anfang scheint mit dem des Kreuznacher Brunnen-
eierliedchens (Gärtlein, Gärtlein, Brunneneier, s. Wunderhorn, Anhang S. 40) ur-
sprünglich eins zu sein. Hierzu sei noch ein riesengebirgischer Ansingereim mitgeteilt:
34. Summer, Summer, Mela (Mailein?)!
Gatt mer ock a Eia,
Lusst miech ock ne lange stiehn,
lech muss a Häusla wetter giehn!
Zum Anfang vgl. Simrock 989, auch Stöber 20; der Schluss erscheint sonst vorzugs-
weise im Dreikönigsspruche, s. unsere Nr. 163.
35. De Kukuk un de Kiwitt De Kukuk nehm en Steen
De danzen beed am Butendiek. Un smet den lütten Swed ant Been.
Do käm en lütten Swed, Do schrie de lütte Swed:
Wüll't Spillwark ok mol sehn. Au au, lot noh, 't deiht weh!
Holstein. Sehr ähnlich Simrock 667, Böhme 726, Wegener 288; auch Schumann 181
und Anhang 181b. Statt 'Swed' ist 'Spreen' = Staar einzusetzen. — Der Schluss erinnert
sehr an Nr. 63, 67 b, c, 174.
36. Der Baubau fiel vom Dache Der Baubau musste brummen
Und brach sich das Genick, Dreihundert Jahre lang,
Da kam die Schutzmannswache Und als die Zeit vergangen,
Und nahm den Baubau mit. Da war kein Baubau da.
Weissenfeis. Jungen Gepräges, aber offenbar im Kindermund entstanden.
37. Der Blumenkohl Der (Emil)
Das ist die schönste Pflanze. Der geht wohl um das Haus.
Und wrenn (Mariecbens) Hochzeit ist, Was macht er?
Dann wolln wir alle tanzen. Er stehet da und lauscht.
Deutsche Kinderlieder.
277
Berlin. Die zweite Strophe ist wohl nur ein Stegreifzusatz ohne weitere Verbreitung.
Die Eingangsformel häufig an Tanzliedchen, z. B. Simrock 516 f., Böhme 658, 1635,
S. 494, Nr. 237 III = Lewalter Heft 5, Nr. 34, Schumann 155, 697, am ursprünglichsten
vielleicht Rochholz S. 184, No. 312. — Die erste Strophe auch in Oberstein nach Le-
walters Singweise, zum Schlüsse wird dann herumgehüpft mit 'Juchheirasa'.
38. Der Kuckuck ist ein Freiersmann, Die sechste deckt den Tisch,
Der alle Jahr zwölf Weiber nahm. Die siebente schenket Bier und Wein,
Die erste kehrt die Stube aus, Die achte streicht die Taler ein,
Die zweite trägt den Kehricht naus, Die neunte schüttelt's Bettstroh auf,
Die dritte schürt das Feuer an, Die zehnte wirft die Kisschen drauf,
Die vierte setzt das Töpfchen dran, Die elfte bettet weich und warm,
Die fünfte siedet den Fisch, Die zwölfte schläft in Kuckucks Arm.
Gegend von Arnstadt, beim Stricken gesagt. Vgl. Erk-Böhme 2, 881, Reifferscheid
S. 147; Böhme 727, Wegener 287, Müller S. 215.
39a. Der Schneider hat eine Maus. Er kauft sich einen Bock.
Was macht er mit der Maus? Er reitet in den Krieg.
Er zieht ihr ab das Fell. Er schlägt sie alle tot,
Was macht er mit dem Fell? Er schlägt sie alle mi-mi-mausetot.
Er flickt sich einen Sack. Was macht er mit dem Tod?
Was macht er usw. (so jedesmal). Er scharrt ihn in den Sand.
Er tut hinein sein Geld.
Löbstedt b. Jena. Das Ganze wird gesagt, lässt aber bei Zeile 10, der ursprüng-
lichen Schlusszeile, die ältere Ausführung uud zwar wohl eine gesangmässige erkennen.
In Remda, wo der Spruch schon bei Zeile 9 zu Ende ist, ist die Ausführung anders:
39 b. Es war einmal ein Mann,
Es war einmal ein mi-mu-Mausemann.
Der kauft sich eine Maus,
Der kauft sich eine mi-mu-Mausemaus usw.
Den Grundstock bildet ein Kettenreim, vielleicht als Spottlied entstanden und jeden-
falls mit Nr. 97 verwandt; in diesem Umfang auch Simrock 1035 und Böhme 1239,
Lewalter Heft 3, Nr. 28. Die Löbstedter Erweiterung könnte auf früheren Gebrauch beim
Todaustragen weisen. Sie kommt auch in Nordhausen vor (Aus der Heimat, Sonntagsblatt
zum Nordhäuser Courier, 1889 Nr. 19); dort leitet die letzte Zeile 'Ergräbt ihn in ein mia-
inia-Mauseloch' wieder zum Anfange zurück: Was macht er mit der Maus?' so dass eine
endlose Kette entsteht wie in dem bekannten Liede 'Wenn der Topp aber nu ein Loch
hat'. — Eine Fassung aus Leipzig oben 5, 202 Nr. 24. [Kopp, oben 14, 71f. Unten S. 310.]
In Oberstein entspricht der Text wesentlich dem bei Lewalter, nur folgende Ab-
weichungen:
39 c. Str. 1 Ein Schneider hatt' _
Str. 7 Er zählt hinein _
Str. 11 Er reitet —
Str. 13 Da schiesst man —
Auch die Singweise geht ein wenig anders:
•7 -#■ *
278
Schläger:
40. Dort drunne, dort drowe, Dort steht die Grete]
Wo de Beerebaam steht, Mit fröhlichem Mut
Dort wo mer ins Nachbers Und steckt ihrem Hansel
Garte neigeht, E Striiussel an de Hut.
Sarnsthal i. d. Pfalz.
41a. Dreh dich nicht rum.
Der Plumpsack geht rum.
Denn wer de rumsieht oder lacht,
Dem wird der Buckel vollgekracht.
Hirschberg i. Schi.
41b. Dreht euch nicht herum,
Der -Fuchs geht rum,
Sonst tanzt er auf dem Buckel rum.
Grossschwabhausen i. Th. So auch Kunitz, nur Plumpsack statt Fuchs; Zeile 3
Er wird euch auf den Buckel komm. — Böhme S. 556, Nr. 366; Handelmann S. 58ff.,
Dunger 347. Ygl. Rochholz S. 411, Nr. 29. Das Spiel ist schon für 1663 bezeugt, s.
Bolte oben 4, 184, danach Böhme S. 519.
42a. Dreie sechse neune, Anna Marie Rumpelkasten.
Hinter Löfflers Scheune Wer wird nu die Lumpen waschen?
Harn sie e kleines Kind gebracht. Ich oder du,
Wie soll das nu heissen? Raus bist du!
Dresden. Verkürzt in Koburg:
42b. Anna Maria Rumpelkasten,
Wer will meine Windel waschen?
Ich oder du,
Möckerle möckerle muh.
42c. Dreie sechse neune, Wie soll das Kindlein heissen?
Im Hofe steht die Scheune, Karl, August, Liese,
Im Felde blüht der Weizen. Du musst für alle büsse.
Lehnstedt.
Dieser verbreitete Abzählreim steht zu vielen Fassungen des Liedes von den drei
Jungfrauen oder Mareien (Nr. 167) in Beziehung. Vgl.: Böhme 369,' 371 ff., 1758c, 1821,
1856 b. Rochholz S. 129, Nr. 263. Simrock 177, 178, 185; 870; 871 (für den Anfang).
Drosihn 244 = Schumann 392 a. Dunger 283, dazu 30, 32,33. Müller S. 206. Süss S. 10,
Nr. 38. Ursprünglich hat er natürlich nichts damit zu tun. Meist bildet das Lied von
den drei Jungfrauen den Ausgangspunkt, dann ist das Auffinden des Kindes der einen
zugeschoben. Indes kommt auch die umgekehrte Anordnung vor, wobei die Verknüpfung
äusserlicher durch ein Haus anstatt oder ausser der Scheune hingestellt wird, so in einem
Braunschweigischen Spruch (Aus der Heimat 1889, Nr. 28):
43. Dreie sechse neune, Der andre wickelt Seide,
Im Garten steht die Scheune, Der dritte schliesst den Himmel auf
Im Garten steht ein Hühnerhaus, Und lässt ein wenig Sonne heraus,
Da gucken drei weisse Engel heraus. Ein wenig lässt er drin.
Der eine-spinnt Seide, Annemarie, spinn!
Ähnlich Böhme 1742—45, 1817, Drosihn 243, Dunger 282. Das Aufschliessen des
Himmels, obwohl sehr häufig (Simrock 179, 183f., Wegener 129, 206, Rochholz S. 145)
gehört ursprünglich doch nicht in diesen Zusammenhang, sondern ist dem Petrus und
allerlei Himmelstierchen eigen: vgl. Simrock 545, 557,563, auch 825, unsere Nr. 138,175.
Deutsclie Kinderlieder.
279
Die Schlusszeile endlich gehört mit der von Danger 312 = Böhme 1852 allem Anscheine
nach zu unserer Nr. 58, wenn wir annehmen dürfen, dass oben die Schlusszeile durch
das Vorhergehende herbeigezogen und verändert worden ist.
"K—N"
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44a. Dreimal um den Kessel rum, (Anna), du mein liebes Kind,
Ich weiss nicht, was ich (es) soll? Komm häng dich an mein Schleier,
Da kam ein wackres (schönes) Und wenn der Schleier in Stücken
Mädchen, geht (reisst),
Und die sprach so: So falln wir alle um.
Weida, Abweichungen aus Koburg. Ausführung: ein Mädchen geht um den Kreis
und holt sich nach und nach Genossinnen, die an ihr Kleid fassen und ihr nachziehen.
— Die unteren Noten gelten für Gelsenkirchen, wo der Wortlaut ist:
(Anna), du mein liebes Kind,
Komm fass mir an den Schleier,
Und wenn der Schleier stolz zerbricht,
So falln wir alle. Eia!
44 b. Dreimal um das Kästchen,
Ich weiss nicht, was da flog?
Da flog ein schönes Mädchen,
Die sprach so:
Ostheim vor der Rhön:
44 c. Dreimal um den Kessel,
Man weiss nicht, was da flog'¿
Da flog ein armes Mädchen,
Das war so:
(Anna), du mein liebes Kind,
Geh hinter meinem Schleier,
Und wenn der Schleier stecken bleibt,
Da falln wir alle um.
(Anna), du mein liebes Kind,
Geh ab von meinem Schleier,
Sonst fallen alle Eier.
Ganz ähnlich Oberstein. Anfang: Dreimal ums Haus herum, Ich weiss nicht was
da floh? Schluss: Komm hinter meinen Schi., ..... Dann machen wir alle so (springen
in die Höhe).
Sehr verderbt endlich Remda:
44d. Dreimal um das Gärtchen
Flog ein schönes Mädchen,
Das sprach so:
Ähnlich Böhme S. 467, Nr. 166.
Aus Oberstein ist (ausser der Mischform Nr. 281) noch eine Ausartung zu ver-
zeichnen, bei der die Eingangszeilen, freilich veiändert nach Böhme S. 443, Nr. 73f., zu
einem gaüz anderen, mir sonst nicht begegneten Lied überleiten:
44e. Kreis, Kreis, Kessel, Mein \ater hat mich lieb gehabt
Ich weiss nicht, was da sang.J Und hat mir alles mitgebracht.
Da sang ein kleines Mäuschen: Kreis, Kreis, Kessel!
Meine Mutter hat mich geschlagen,
Gesungen wie die ersten beiden Zeilen unserer Nr. 281.
45. Driba uf der Tenne (Der Mann: Was singst du denn da?)
Liegt ane gebrotne Henne Bist du nich a dumme1" Man,
Unter an Gebindel Struh gesteckt Mer singt da Kindern, wos mer kân.
An mit a Sammel zugedeckt.
280
Schläger:
Hirschberg i. Schi. Die Frau hat ihrem Liehhaber eine Henne gebraten und will
es ihm in Gegenwart ihres Mannes zu verstehen geben. Ygl. Wegener 95, Schumann
641; Erk-Böhme 902. Ähnliches in Boccaccios Decainerone 7, 1; ob die deutschen Yerse
auch in eine Schwankerzählung gehören? [Bolte, Singspiele der engl. Komödianten 1898
S. 451. 188. Hoffmann v. F., Findlinge 1, 118 und Ndl. Volkslieder 156. Brunk,
Garzigar S. 23 und Beiträge z. Gesch. Pommerns 1898, S. 260 Nr. 8. Jahrb. f. d. Landesk.
Schleswigs 4, 169. 7, 378. Kristensen, Skjämtesagn 1900, S. 124. Afzelius, Schwed. Volks-
sagen 1842 2, 279. Volkskunde 2, 49. 5, 20. Kryptadia 2, 115. Revue des trad. pop.
3, 352. 13, 439. Lambert, Chants du Languedoc 1, 8.]
46. Ehreson, Ehreson Wer mit will fahren,
Fuhr in seinem Luftballon Steig- nein in Kahn,
In die Höh, in die Höh Ridirudirallala.
Mit der Jungfrau Salomo (so!).
Gegend von Koburg. Erweitert aus Böhme 620; Dunger 112 gibt eine andere Er-
weiterung, wohl nach dem bekannten ABC-Verse vom Kätzchen, das mit weissen Höschen
aus dem Schnee kam; ich selber hörte in meiner Kindheit iu Weida folgenden Schluss:
Als sie wieder runter kam,
War sie eine jung Madam.
Über die geschichtliche Herkunft (Robinson = Robertson,) vgl. Böhme a. a. 0.; der
Vers wird einem Kouplet entstammen.
47a. Eia popeia, was nistelt im Stroh?
Das sind die kleinen Gänschen, die haben keine Schuh.
Der Schuster hat Leder, keinen Leisten dazu,
Da kriegen die kleinen Gänschen noch lange keine Schuh.
Neustadt a. 0., alt. Statt Z. 3 und 4 auch:
Müssen wir in die Stadt nein laufen
Und den kleinen Gänschen Schuhe kaufen,
was ich in den mir bekannt gewordenen Texten noch nicht gefunden habe. Anderseits
hat das Liedchen in Grossschwabhausen i. Th. eine noch nicht aufgezeichnete Weise:
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-tflt-•—0-0-- d d 9 :-"p—ts— 1 • 1 « 1 » « ! Li=_J —©— -j
47 b. Eichen popeichen, was raschelt im Stroh?
Sind die Wullegänschen, die ham keine Schuh.
Schuster hat Leder, kein Leisten dazu,
Gehn die Wullegänschen ohne Schuh.
48. Eichen eichen eichen,
Koch dem Kindchen ßreichen
Und ein bisschen Zuckerchen nein,
Schmeckt dem Kindchen gar zu fein.
Arnstadt. Echt thüringisch mit ¿en gehäuften Kosesilben. Vgl. Wunderhorn, Anhang
S. 65, Str. 4 = Siflirock 217, Böhme 553, 94, [Wossidlo 45]; anders ist der Ausgang Süss
S. 22, Nr. 96, Wegener 22, Drosihn 31, wozu auch folgender Jenaer Vers:
49 a. Eie beie bisch bisch bisch,
Morgen kochen wir Fisch Fisch Fisch,
Tun ein Stückchen Zucker dran,
Dass das Kind hübsch babbeln kann.
Deutsche Kinderlieder.
281
Hier liegt natürlich eine Kreuzung vor, der zweite Spruch heisst in der Gegend von
Koburg, mit Abweichungen von Grossschwabhausen:
49 b. Heia popeia wisch wisch wisch (Eie beie bisch b. b.),
Morgen essen (kochen) wir Fisch Fisch Fisch,
Übermorgen Schweinebraten,
Da wird Herr N. N. eingeladen (Da woll'n wir das Kind zum Gast
einladen).
Kunitz: Heie buie bisch. Da wird der N. N. zu Gaste geladen. Hierzu
Dunger 13, zu vergleichen auch Simvock 211, Wegener 17 Aum. — 48 und 49a erinnern
übrigens sehr an eine alte Weihnachtsstrophe: Simrock, Deutsche Weihnachtslieder
S. 109, Str. 4.
50a. Ei Herí- Papa Jäner, Das hat er lassen stehn.
Wie hat er sich versehn! Hat's falsch gemacht,
Das allerschönste Mädchen, Drum wird er nun auch ausgelacht.
Seehausen i. d. Altmark. Zum Papagenospiel s. Drosihn 288f., Böhme S. 630,
Nr. 516. — In Jena mit einem fremden, aber ganz passenden Eingang versehen, der bei
Drosihn Nr. 100 selbständig erscheint:
50b. Es zogen viele Vögelein Ei ei, der Papa Gerio,
Durch einen grünen Wald, Wie hat er sich versehn!
Die sangen ihre Liederlein, Er hat die schönsten Yögelein,
Dass alles wiederhallt. — Die hat er lassen sehn (so!)
51. Ein alter Postmeister mit sechzig Jahren
Der wollt mit sechs Schimmeln in Himmel nein fahren.
Die Schimmel, die Lümmel, die machten Trab Trab
Und warfen den alten Postmeister herab.
Berga a. d. Elster (alt). Zu Böhme 426 = Simrock 189, Dunger 37. Das Versehen
gehört offenbar zu den sogen. Knieliedern, der Schluss ähnelt denn auch dem von
Nr 234a. [Wossidlo 489.]
-H—b---}-----1-£--—
52 a. Ein Bauermädchen in der Stadt, Ein reicher Herr gegangen kam,
Die Apfel zu verkaufen hat, ^er ^ie Äpfel abnahm.
Sie ging die Strasse auf und ab: -^ch Kind, ach Kind, Sie irren sich,
Wer kauft mir meine Äpfel ab? Äpfel schmecken säuerlich.
Ach Herr, ach Herr, Sie irren sich,
Mit saurer Ware handl' ich nicht.
.....
Kothen und Giebichenstein ; an letzterem Oite fand ich die Weise völlig gleich der
von „Du grünst nicht nur zur Sommerzeit" usw. Eine andere Melodie gibt Lewalter
Heft 4, Nr. 11. — Mit einer Fortsetzung findet sich das Lied im sogenannten Leipziger
Kommersbuch; vielleicht stammt es wirklich aus dem Studentenliede? Jn 0^ei'stein, wo
es mimisch aufgeführt wird (und zwar muss das Mädchen, der landläufig011 Art des Korb-
tragens entsprechend, die Hände auf dem Kopfe halten), klingt die Weise deutlich an die
des Gaudeamus an, die freilich auch sonst im Kindermunde zu finden ist (vgl. Nr. 144bc):
a
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 19
282
Schläger:
52 b. Es ging ein Mädchen durch die Stadt,
Das Äpfel zu verkaufen hatt.
Di hollali di hollala
Ein reicher Herr gegangen kam, Ach nein, ach nein, die mag ich nicht,
Die Äpfel von dem Kopfe nahm usw. Die Äpfel sind so säuerlich.
Ach nein, ach nein, Sie irren sich,
Die Äpfel sind nicht säuerlich.
53 a. Eine kleine weisse Bohne Und der Schlüssel abgebrochen.
Ging einmal nach Engelland; He—ru—ri—raus sein.
Engelland war zugeschlossen
Arnstadt, Abzählreim. Dazu Simrock 823, 924, 926, Böhme 1752ff., Mannhardt,
Germanische Mythen, S. 328ff., Schumann 429. — Eine Schlusserweiterung bietet eine
alte Leipziger Fassung:
53 b. Eine kleine weisse Bohne Vier Pferde vor dem Wagen,
Ging mit mir nach Engelland; Hätt ich die Peitsche, wie wollt ich sie
Engelland war zugeschlossen schlagen!
Und der Schlüssel abgebrochen.
Ebenso Böhme 1754, 1759, Dunger 295; auch Rochholz S. 398, Nr. 16. Sie erinnert
an einen anderen Abzählreim, dessen Grundform schwer zu erkennen ist; eine Kieler
Fassung lautet:
54. Eie mele meklesohn, Knacks de Liis op't Teller dod.
Ha'k en Stock, denn wull'k di slohn Wull'ns nich knacken,
Op dat Käs- un Botterbrod, Sloh's an de Backen.
Hierzu Schumann 411, auch Drosihn 207, Simrock 142; man vergleiche auch Nr. 125
Häufiger ist die Verbindung mit einem Vierzeiler, der Wunderhorn, Anhang S. 85,
Simrock 692, Böhme 665, 1358, Stöber 116, Erk-Böhme 2, 775 Anm. selbständig steht.
In Weitramsdorf b. Koburg:
55. Enne wenne winne wanne, Dass er mich nicht beissen kann.
Geht der Herr nach Engelland? Beisst er mich, so straf ich dich,
Engelland ist abgeschlossen Tausend Taler kost es dich,
Und der Schlüssel ist zerbrochen. Oder e Bündel Reisig.
Bauer, bind dein Pudel an,
Vgl. Simrock 822, Böhme 1731 f., 1755; Jahrb. des Ver. für niederd. Sprachf. 10, 113;
Schumann 429b. — Die Schlusszeile der obenstehenden Fassung erklärt sich wohl aus
Stöber 116: Beisst er mich, so straf ich dich Um e Guider drîssig.
56. Einen Glinzerglanz, Einen Birnenstiel —
Einen Firlefanz, Merk auf, wen ich dir geben will!
Einen Radenkranz,
Culmitzsch im Neustädter Kreise, alt. Ein Ratespiel: im Anschluss an den Vers
wird eine Person mit Merkmalen bezeichnet und muss gefunden werden. Z. 3 mag ein
Erinnerung ans Kranzsingen enthalten, vgl. Uhlands Abhandlung zum Volksliede, Kap. 3.
57. Ein Kätzchen kommt gegangen,
Das wollt' das Mäuschen fangen;
Doch kommt das Kätzchen in das Haus,
Läuft schnell das Mäuschen wieder hinaus.
Jena, Weida. Katz- und Maus-Spiel, klingt wenig volkstümlich.
Deutsche Kinderlieder.
283
58. Ein Reiter wollt sein Pferd Mädel um die Scheune,
beschlagen, Mädel um den Ring,
Wieviel Nägel muss er haben? Alte Hexe, spring!
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. neune,
Norddeutschland. Zusammengewachsen aus zwei Abzählreimen. Der erstere, ge-
legentlich in anderen Verbindungen, Simrock 866 f. (vgl. dazu 154—157 mit Anhang),
Böhme 295 f. 1777 f. u. S. 634, Nr. 525; Drosihn 59, Schumann 434, Dünger 27—29, 286,
Müller S. 176, Süss S. 18, Nr. 73. Etwas andere Form in Gossel b. Plaue:
59. Mein Vater liess einmal ein grosses Rad beschlagen;
Wieviel braucht' er Nägel dazu?
Das rate einmal du!
Hierzu Müller S. 210, H. Meier, Ostfriesland S. 234. Der zweite Teil selbständig
Drosihn 245, vgl. auch Simrock 871, Böhme 1777 f. und allem Anscheine nach Dunger 312
= Böhme 1852, ferner unsere Nr. 42f.; Schlusszeile Böhme 1833.
60a. Eins, zwei, drei, Eins lag unterm Tisch,
Bicke backe bei, Kam die Katze und frass den Fisch.
Bicke backe Ohren, Kommt die Mutter mit der Rute,
Es wurden mal zwei Kinder geborén. Schlug das Kätzchen auf die Pfote,
Eins lag auf dem Tisch, Schrie das Kätzchen miau.
Grossmölsen i. Th. Ähnlich Simrock 842, Dunger 255; Z. 1—4 Simrock 843
= Böhme 1790, vgl. Rochholz S. 131. — Einen anderen Eingang, der bei Nr. 213b auf-
geführt ist, hat eine Jenaer Fassung mit folgendem Fortgang:
60b. ... Eins unterm Tischchen, Schlug das Kätzchen auf die Leber.
Zwei gebratne Fischchen. Mie mau muff,
Kam das Kätzchen, wollte naschen; Schlag nur immer druff!
Kam der kleine Leineweber,
Bis auf den hier geänderten Schluss entsprechen dem Böhme 1766, Dunger 254; bei
Schumann 365, Müller S. 205, Drosihn 229 Anni, statt Leber wohl richtiger Leder. —
Keiner von den beiden Eingängen gehört wohl von Haus aus zu diesem Reime. Die ge-
läufigste Form findet sich bei Simrock 841 — Löhme 1789, W underhorn, Anhang S. 84.
Zu vergleichen sind noch: Simrock 840 = Böhme 176.J wegen des Schlusses; Drosihn 223;
Niederdeutsches Korrespondenzblatt 8, 35, Jahrbuch 10, 112; Sachse S. 15.
61. Eins, zwei, drei,
Bicke backe hei,
Bicke backe Hiftendorn,
Ich oder du musst schnorrn.
Culmitzsch im Neustädter Kreise, alt. Der Eingang beim folgenden Verse; die
Schlusszeile mit anderem Eingange Dunger 277, allerlei Erweiterungen dazu unter Nr. 68.
62. Eins, zwei, drei, Schnitzt er mir 'ne Taum (Daube?),
Bicke backe hei, Wer will's glaum?
Bicke backe Hiftendorn, Ich oder du
Ist mein Vater ein Schnitzler worn; Oder die Kuh?
Rossach (Koburg). Z. 5 ff. anders Böhme 1791 (dazu 1831) nacl1 Simrock 846 und
'Wunderhorn, Anhang S. 85, Dunger 256, Schumann 372, Stöber 124. - Öfters begegnet Ver-
19*
284
Schläger:
wachsung mit einem ganz anderen Spruche, so Stöber 123 und Böhme 1849e aus dem
Elsass, auch in Franken (Weitramsdorf b. Koburg, Abweichungen von Ummerstadt):
63. Enne benne (Bicke backe) (U. : Droben sassen drei lose Buben,
Hiftendorn, Die assen alle gelbe Ruben.)
Ist mein Vater ein Schnitzer worn, Der erste wollt mich mit lass essen,
Schnitzt er mir eine lange Schnur, Der zweite hat mich ganz vergessen,
Dass ich nauf zum Himmel fuhr. Der dritte nahm die Schüssel
Sitzen drei Engel hinterm Tisch, Und schlug mich auf den Rüssel.
Essen drei gebackne Fisch.
Das Hauptstück daraus Müller S. 183 und 222, Dunger 330 in anderem oder vielmehr
ausser Zusammenhange, mit glaubhafterer Einleitung Dunger 1*26. — Die Verwandtschaft
mit unserer Nr. 60 ist nicht leicht zu greifen. Dagegen ist das Stück im Grund offenbar
gleich unserer Nr. 174, zum Eingang vgl. Nr. 104.
64. Eins, zwei, drei, s Messer liegt daneben.
Hicke hacke hei, Wer essen will, muss beten.
Hicke hacke Löffelstiel, Beten, beten kann ich nicht,
Alte AVeiber essen viel, Beten liegt zu Hamburg nicht.
Die jungen müssen fasten. Hamburg ist ne grosse Stadt,
's Brot liegt im Kasten, Wo mein Schätzel gheirat hat.
Sarnstlial i. d. Pfalz. Das erste Stück (Z. 1—7) mit anderem Eingang und mit einer
Schlusszeile „Ei was ein lustig Leben" : Wunderhorn, Anhang S. 37f. = Simrock 82, Böhme
215; dazu Böhme S. 704, Nr. 19 eine Erweiterung, uns aus Nr. 153, Z. 6 f. bekannt; zu
vergleichen noch Simrock 83 = Böhme 216, Böhme 1843; Z. G u. 7 in Klopfanliedern:
Böhme 1688, Weim. Jahrb. 2, 128. — Z. 8: vgl. Simrock 87 = Böhme 446. Für den an-
geflickten Schluss weiss ich keine Entsprechung1. — Die Eingangsformel mit der Reimzeile
erinnert an unsere Nr. 212 in der Fassung Müller S. 1P4, Nr. 28 und Dunger 165; ferner
hat denselben Eingang ein Thüringer Reim bei Böhme 222, mir aus Grossmölsen, Gross-
schwabhausen und Kunitz mit etwas anderer Schlusszeile bekannt: Arme Leute essen Dreck;,
in Ammerbach bei Jena ist die ganze zweite Hälfte anders:
65. Leier Jeier Löffelstiel,
Arme Leute hann nicht viel,
Keine Kuh und keine Ziege,
Müsscn's bloss vom Bäcker kriege.
66. 1,2,3,4,5,6,7,8
Die Kirche kracht,
Das Haus fällt ein,
Und du musst es sein.
Koburg.
67a. 1—20 Die Soldaten mussten rennen,
Die Soldaten gingen zum Tanz. Ohne Strumpf und ohne Schuh
Da fing es an zu brennen (sonst auch: Rannten sie der Heimat zu.
Moskau fing an usw.),
Jena. Tanz aus Danzig, statt Soldaten lieisst es meist Franzosen. So Simrock
877, Böhme 1827, Drosihn 247 f., 250, Dunger 278, Schumann 395, dazu Wegener 51, 60.
In Remda: Die Russaren hielten Tanz (vgl. bei Nr. 4), Der Tanz fing an.., Die R____
— Das Stück enthält sicherlich echte geschichtliche Erinnerungen, aber diese gehen über
das nächstliegende Ereignis hinauf, wie sie sich anderseits auch mit späteren verschmolzen,
haben (Böhme 1827 c). Die beiden letzten Zeilen führen in einem Schweizer Reime,
Rochholz S. 57, Nr. 130 i11 die Zeit der französischen Revolution, und ihr Erscheinen in.
Deutsche Kinclerlieder.
285
einem historischen Volksliede bei Ditfurth Nr. 124 und 126, Erk-Böhme 2, 356 lässt ge-
nauere Beziehung auf Jourdans Rückzug durch Franken im Jahre 1798 erkennen; sie sind
anderseits späteren Ereignissen angepasst worden, s. Erk-Böhme 2, 353b — kurz, wir
können hier im kleinen ein wichtiges Stück Leben aller echten Volksdichtung erkennen. —
In Lehnstedt bei Weimar erweitert:
67 b................Das biss den Hauptmann in das Bein.
Liefen sie nach Frankreich zu. Der Hauptmann schrie: O weh, o weh,
In Frankreich war ein wildes Schwein, Mein linkes Bein tut mir so weh!
Ähnlich in Arnstadt, nur dass es hier gleich nach Z. 2 heisst:
67 c.........
In Danzig war ein grosses Schwein,
Das biss den Hauptmann in das Bein.
Da schrie der Hauptmann: Weh, o weh,
Mein linkes Bein das tut mir weh!
Hier ist Zusammenhang mit Nr. 35, 174 nicht zu verkennen, auch Simrock 529 klingt
•entfernt an. Jedoch scheint auch hier eine echte geschichtliche Erinnerung den Zuwachs
herbeigeführt zu haben: man vergleiche Simrock 863 (1 — 7, Wo sind die Franzosen ge-
blieben? Zu Moskau in dem tiefen Schnee; Da riefen sie alle: O weh, o weh, Wer hilft
uns aus dem tiefen Schnee?), Schumann 384 und Rochholz S. 123, Nr. 246a, das deutlich
an ein echtes historisches Volkslied, Erk-Böhme 2, 349, erinnert.
68 a. 1—13
Wer kauft Weizen,
Wer kauft Korn?
Der bleibt vorn.
Greiz. Etwas abweichend von der gewöhnlichen Fassung: diese bei Simrock 875
— Böhme 1825 = Dunger 276, mit leichter Änderung Schumann 394, mit anderer Wendung
■der ganzen zweiten Hälfte Simrock 874, Drosihn 246. Als letzte Zeile erscheint häufig
„Ich oder du musst schnorrn" wie bei Nr. 61, z. B. Dunger 2i7 = Böhme 1820 und mit
Änderung Müller S. 209, Nr. 14; sonst genau der Greizer Fassung entsprechend in Koburg, wo
die Schlusszeile lautet „Der macht sich eine gelbe Schnoirn (offenbar Schnurre = Schnurr-
bart). In Jena und Remda erscheint die Greizer Fassung mit der Reimzeile „Der muss
schnorrn" um folgende zwei Zeilen erweitert: «Wer kauit Asche? Der muss hasche." —
Jn Grossschwabhausen i. Th. ist noch eine ganze Kette zwischeneingeschoben:
0g5_ i_13 Der muss schnorrn.
Wer kauft Weizen? wer kauft Kuchen?
Wer kauft Gerschte? Der muss suchen.
Der kriegt's merschte. Wer kauft Asche?
Wer kauft Korn? Der muss hasche.
Hiervon stammen Z. 7 und 8 aus einem anderen Abzählreime: Simrock 835, Müller
S- 209, Nr. 15.
69. 1—7
Eine alte Bauersfrau kocht Rüben,
Eine alte Bauersfrau kocht Speck,
Und du rührst und schierst dich weg.
Grossschwabhausen. Sonst lautet in Thüringen c^e Schlusszeile den bekannten
Fassungen gleich oder ähnlich : Simrock 864, Böhme 1814, Schumann 389, Rochholz S. 123,
Nr. 246 a.
•286
Schläger:
70. 1—7 Mädchen tragen Myrtenkränze,
Helft mir meinen Schubkarrn schieben Buben tragen Rattenschwänze.
Nach Berlin, nach Berlin, Mädchen kommen ins Himmelreich,
"Wo die schönen Mädchen bltihn. Buben in den tiefen Teich.
Weida. In Sachsen Schiebbock statt Schubkarren; eine ältere Leipziger Fassung
hat nach Z. 4: Mädchen das sind goldne Engel, Jungen das sind Gassenbengel. Vgl.
Müller S. 188, Nr. 26, Dunger 152, Schumann 386, für den Anfang Böhme 1812, auch
Anhang Nr. 47. — In Grossschwabhausen wie oben, nur mit kürzerem Eingang: 1—7 In
Berlin, Wo . . ., in Löbstedt bei Jena: 1—7 In Berlin, in Stettin, Wo . . . Mädchen das
sind reine Engel, Jungen das sind Strassenbengel; Mädchen kommen ins Himmelreich,
Die Knaben drücken wir in die Pfützen gleich. Hier ist wohl eine Eingangsfrage: „Wo
ist denn mein Schatz geblieben?1' ausgefallen, vgl. Böhme Anhang 47 und Schumann 386r
sowie noch Schumann 385, Böhme S. 490, Nr. 227, Erk-Böhme 2, 990, Müller S. 208, Nr. 11
(ebenso Koburg) und folgende Abänderung aus Löbstedt:
71. 1—7
"Wo ist denn mein Schatz geblieben?
In Berlin, in Stettin,
Wo die Rosen zweimal blühn.
Zu den Neckversen, die wohl auch oben nur angeflickt sind, vgl. Nr. 195, auch
Böhme 1279, Erk-Böhme 2, 966 c.
72. 1—7
Lasst mir meine Minna giehn;
Sie kann stricken, sie kann nähn,
Sie kann auch das Spulrad drehn.
Weida. Sehr ähnlich, bis auf die letzte Zeile, Möller S. 208, Nr. 10; sonst zu ver-
gleichen Dunger 40 = Böhme 566, auch Böhme 568ff.; Simrock 352-377, zu 352 Erk-
Böhnie 2, 853, zu 353 (= Wunderhorn, Anhang S. 79; Nicolais Kleiner feiner Almanach
2, 23 und Müller 134, Nr. 26.
73. 1—7
Muss ich vor der Wiege knien,
Muss ich singen: Husch husch husch,
Kleiner Schlingel, halt dei Gusch!
Koburg. Ähnlich Dunger 272, auch 311; Zeile 2 ff. erinnert an das bei Nr. 122b
erwähnte ältere Volkslied Weini. Jahrbuch 3, 311 f., Bockel 40, Müller S. 43 f., Erk-Böhme
2, 536, wozu auch Simrock 248f., Böhme 101—104, Stöber 19, unsere Nr. 219e, Schluss.
74. 1—7 „Liebe Tante, sei so gut,
Petrus Paulus hat geschrieben Schick mir ein Zylinderhut,
Einen Brief Nicht zu gross und nicht zu klein,
Nach Paris: Sonst musst du der Haschmann sein."
Kiel. Id Grossschwabhausen i. Th. nach Z. 2: Nach Berlin, Wir sollen holen Fünf
Pistolen. Zu Böhme 1816, Dunger 275, Schumann 387, Müller S. 207, Nr. 9, auch Simrock
887, Böhme 1727, Dunger 316; hier die Schlusszeilen gleich denen von Böhme 1809,
Dunger 271. Oben 8, 407, Nr. 40 wird eine Verwachsung mit unserer Nr. 70 behandelt.
75. 1—7
Schöne Mädchen muss man lieben.
Liebt man schöne Mädchen nicht,
Kommt man auf das Schiedsgericht.
Hirschborg i. Sehl., nicht als Abzählreim gebraucht.
Deutsche Kinderlieder.
287
76. 1, 2, 3, 4
Hänschen hat das Doppelbier.
Sollt es Hänschen nicht mehr ham,
Hat es Meister Grobian.
Jena.
77. 1, 2, 3, 4
In dem Klavier
Steckt eine Maus,
Und die muss heri—ra—raus.
Remda, ebenso Grossschwabhausen ohne die Verzierung in der letzten Zeile. Mit
geringen Abweichungen sehr verbreitet, vgl. Simrock 873, Böhme 1798, Schumann 377,
Müller S. '207, Nr. 8, auch S. 208, Nr. 13.
78. Ene dene derne,
Gib der Ziege Zwerne (Zwirn),
Gib der Ziege Haferstroh,
Sind die Bauern alle froh.
Culmitzsch im Neustädter Kreis, alt. Vgl. Böhme 1769.
79. Ene dene dus,
Der dicke Moppel inuss.
Remda. Vgl. Simrock 834 = Böhme 1767.
80. Ene klene Wurscht is nich mehr da,
Mechte gerne noch ene grusse ha.
Endschütz im Neustädter Kreise, gesungen nach der Weise von Nr. 266. Zu ver-
gleichen die Heischelieder wie Simrock 981 usw.
81. Engel, Bengel, Zuckerstengel usf.
Weida. Ein Kind wurde dabei von zwei anderen auf verschränkten Händen getragen.
— Zu dem alten Abzähl- oder Kettenreime „Engel, Bengel, lass mich leben" usw. in der
Ballade von der Herzogin von Orlamünde (Wunderhorn 2, 232), dazu Simrock 1032,
Böhme 1520—1524, Altd. Liederb. 501, 508; zu vergleichen auch Simrock 632. In einem
Quodlibet vom Jahre 1610: Ach lieber Igel, 1. m. 1., Ich will dir meine Schwester geben
(Zeitschr. f. deutsche Phil. 15, 52, Weim. Jahrb. 3, 12620). In Grypliius' Peter Scjuenz
(1877, S. 33) sagt Thisbe: 0 lieber Löwe, 1. m. 1., Ich will dir gerne meine Schaube geben.
Auch Kinder- und Hausmärchen Nr. 60 (und 97, auch Anin. zu 108) kommt Ähnliches vor;
Nr. 141 bietet als Abzählreim eine Kette mit dem Anfang: Eneke beneke iat mi liewen,
Will di ock min Vügelken giewen, was denn wohl auch die ursprünglichste Form des
Eingangs ist. — Eine gewisse Ähnlichkeit zeigt sich in folgendem alten, anscheinend
altertümlich-verderbten Abzählreim aus Wiegendorf bei Weimar:
82. Engel wengel Dorchenstengel
(= durch den St.?),
Eisne Bücher (so),
Goldne Tücher,
Eckchen Glöckchen kling,
Naus.
So. Enne wenne wi wa wes, Gspersee di gatter ratter,
Gatter ratter si sa ses, Enne wenne wi wa wes,
Gatter ratter ospersee, Gatter ratter si sa ses.
Koburg. Abzählreim, der eine fremde Sprache vortäuscht.
288
Schläger:
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84a. Es fuhr ein Bauer ins Holz
(viermal).
Der Bauer nahm sich ein Weib.
Das Weib nahm sich ein Kind.
Das Kind nahm sich eine Muhme.
Die Muhme nahm sich eine Magd.
Die Magd nahm sich einen Knecht. —
Da schied der Bauer vom Weibe.
Da schied das Weib vom Kinde
usw. Zuletzt:
Da steht der Knecht alleine.
Kothen. Dazu Erk-Böhme 2, Nr. 987, Böhme S. G73, Nr. 620, oben 5, 202 Nr. 23,
[14, 63], Schollen 38, Lewälter Heft 1, Nr. 22, Dunger 348, Müller S. 203. Die Eingangs-
zeile in einem Quodlibet des Jahres 1610: Zs. f. deutsche Phil. 15, 51; dabei wird auf
Büsching, Wöchentl. Nachrichten 2, 250 und Hoffmann von Fallersleben, Monatsschrift
von und für Schlesien, S. 545 verwiesen, mir nicht zugänglich; vgl. aber Erk-Böhme 1, 149:
es ist ein anderes Lied als das unsere. — Die von Böhme gegebene Weise (= Was kommt
dort von der Höh) ist gebräuchlicher, sie gehört auch zu den folgenden Fassungen:
84b. Es fuhr ein Bauer ins Holz :,:
Es fuhr ein Bauer ins Kirmesholz,
Si sa Kirmesholz,
Es fuhr ein Bauer ins Holz.
usw. Str. 4 ff.:
Das Kind nahm sich eine Magd.
Die Magd nahm sich ein Knecht.
Der Knecht nahm sich ein Pferd.
Das Pferd nahm sich ein Wagen.
Der Wagen nahm sich eine Peitsche.
Der Bauer schied von dem Weib
usw. Schluss:
:,: Nun ist die Kirmes aus :,:
Nun ist die si sa Kirmes aus usw.
Arnstadt. — In Giebicheustein anderer Eingang:
84c. :,: Wir geben dem Bauer die Ehr :,:
Wir geben dem Bauer die Kirmesehr,
Ja ja Kirmesehr usw.
Dann wie gewohnt: Weib — Kind — Muhm — Knecht. Zwei Strophen eingeschoben:
Der Knecht tanzt mit der Muhm; Das Kind tanzt mit dem Weib. Hierauf: Der Knecht
Scheidt von der Muhm usw., zum Schlüsse die Eingangsstrophe noch einmal. — In Gross-
schwabhausen, hei derselben Ausführung, wieder der Anfang: 84d. Es fuhr ein Bauer ins
Holz. Dann: nahm sich ein Weib — Kind — Magd — Knecht; schied; zum Schlüsse
olgt (wie gesungen?):
Hier steht der Gänsedieb
Und ohne Frau
Und schämet sich zu Tode.
Ein andrer Mann, der's besser kann,
Der dreht sich um die Mode (= Magd?).
Hierzu vgl. Nr. 262. — In Oberstein kleine Abweichungen in Text und Weise:
Deutsche Kinderlieder.
289
84 e. Es fuhr ein Bauer ins Holz
Heisa Viktorja, es fuhr . . .
Nun wie 84b bis Knecht. Der Knecht nahm sich ein Huhn. Dann: Hund;
Knochen. Das Wiederaustreten aus dem Kreise (in Kothen dagegen setzte sich, soweit
ich mich erinnere, immer eins auf den Schoss des Vorhergehenden) wie oben mit schied.
Schluss: Da steht der Knochen allein (mit Händeklatschen).
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85. Es ging ein Mädchen Wasser holn
An einem kühlen Brunnen,
Trarira, trarira,
An einem kühlen Brunnen.
Es hat ein weisses Kleidchen an,
Und darauf schien die Sonne usw.
Ein reicher Herr gegangen kam
Und sprach: Du bist ja meine!
Ach nein, ach nein, das kann ich nicht,
Muss erst meine Eltern fragen.
Und wenn du sie gefraget hast,
So bringe mir drei Rosen,
Die erste weiss, die zweite rot,
Die dritte wie Yiolen.
Sie gingen über Berg und Tal
Und konnten keine finden.
Da kamen sie an ein Malerhaus,
Darinnen sass ein Maler.
Ach Maler, wenn du malen kannst,
So male mir drei Rosen,
Die erste weiss, die zweite rot,
Die dritte wie Violen.
Der zog ein langes Messer raus
Und stach ihr in das Herze.
Da war sie tot, da war sie tot,
Da war sie immer tote.
Und als man sie begraben hat,
Da pflanzte man drei Rosen,
Die erste weiss, die zweite rot,
Die dritte wie Violen.
Obersteiii, sonst als Kinderrunde nicht bekannt. Zu Uhland Ilo, Erk-Böhme 117,
wo weitere Nachweise; der Anfang mit anderem Fortgang E.Meier S. 588. Die Schluss-
ausweichung (wohl das Lied von Mariechen und dem 1 ähnrich, Nr. 195), die mit Str. 4
auf Kindermund zu weisen scheint, ist mir sonst nicht begegnet. Die Bezeichnung der
Rosen entspricht der fränkischen Fassung Erk-Böhme 1, ivr. 117e nach Ditfurth, Fränk.
Volkslieder 2, 88, vgl. auch Reifferscheid S. 148. [Ii, Köhler o, 249. Kopp, Ältere
Liedersammlungen 1906 S. 92.] — Ausführung : Im lanzkreis ein Mädchen, bei Str. 3
ein zweites. 7: beide aus dem Kreise. 8. ein drittes Mädchen hockt im Kreise nieder.
9 und folgende: alle drei im Kreise. Pantomime; bei der vorletzten Strophe wird auf den
Kopf der Niedergekauerten getupft. Gesungen wird durchgängig von allen.
86. (Chor.) Es kam ein reicher (Allein, vor einem Mädchen im Kreise
Vogel knieend:)
Aus seinem Nest geflogen; Ich bin so arm und habe nichts,
Er setzt sich nieder auf die Linde: Doch alles, was mein eigen ist,
Das schenk ich meinem Kinde! Das soll ein schwarzbraun Mägdelein,
Das soll (Johanna Schulze) sein.
290
Schläger:
Oberstein. Zu Böhme S. 46G, Nr. 165. Ob unsere Fassung etwa auf Netsch, Spiel-
buch 142 zurückgeht, worauf Böhme verweist, kann ich nicht feststellen. — Es ist nicht
unmöglich, dass die beiden Schlusszeilen in eine Fassung des Liedes „Wir treten auf
die Kette" (vgl. meine Abhandlung in Ztschr. f. d. deutschen Unterricht 1907) eingedrungen
ist, s. Böhme S. 451, Nr. 105.
87. Es lief ein Reh
Wohl durch den Klee,
Den Tipp den Tapp,
Und du bist ab.
Jena. Ygl. Siinrock 886, Wegener 100; Simrock 890, Schumann 427 und 430.
1- «—g—»—0—\—0—?—i|
-®ì—è--fi—T-fr—fr—^—p—F—p—-—*—— ■-«-«-
88 a. Es regnet auf der Brücke,
Es ward (war) nass.
Es hat mich was verdrossen,
Ich weiss schon was.
Komm her, mein liebes Kind, zu mir
Und zeig mir deine Schürze her.
Ei ja freilich,
Wer ich bin, der bleib ich,
Bleib ich, wer ich bin!
Ade (Adje), mein liebes Kind.
Osnabrück, Abweichungen von Löbstedt bei Jena. Die Weise entspricht bis Z. 5
ziemlich genau der von Böhme S. 448, Nr. 96 (Wir treten auf die Kette). Aus Jena ist
mir noch eine ältere Fassung bekannt mit folgenden Abweichungen:
Es
Ich
Ich
88b. Wir treten auf das Brückchen, So komm doch her, mein liebes Kind,
ist nass. Es sind ja nette Leute drin.
hab etwas vergessen, Ei ja.....
weiss wohl (oder nicht) was. Ade, mein Sinn (?).
Z. 6 fehlt in Kothen (88 c):
zzo:—'--Jri^f-ì^E-ì" [——-Hr-V-f-v—b—•-
-0— 0—0—0- ■ h—f~\~»—»—»—-- 0-I—--s-^l
-P—i/—K—--É-
Z. 2. Und es ward — 4. Ich weiss schon — 5ff. Mein schönstes Kind, komm her
zu mir. Ei ja freilich, wer ich bin, der bleib ich, Ich bleibe, wer ich bin, Adje mein
schönstes Kind. Fast genau entspricht in der Weise die Obersteiner Fassung. Text (88d):
Es regnet auf die Brücke,
Und ich werde nass.
Ich hab etwas verloren
Und weiss nicht was.
Komm her, mein Kind!
Was willst du dann?
Ein Küsselein!
Ja, ja, freilich,
Wo . .
Ausführung: Ein Kind im Kreise, bei „komm her" holt es sich aus der tanzenden
Reihe ein anderes dazu, sie schütteln sich bis zum Schlüsse die Hände; das zweite Kind
bleibt sodann bei der nächsten Runde im Kreis.
Deutsche Kinderlieder
291
Der ganze Mittelsatz fehlt in Giebichenstein (88 e):
'-0-0-» ] '* #—* — V--
p=p=fcEjn=t?z='
« — ä~~
Z. 2. Es ward — 4. Weiss nicht — 5ff. Ei ja freilich usw. — Der ganze zweite Teil
von Z. 5 ab ist geändert Böhme S. 470, Nr. 172, mit fast derselben Weise in Kahla, wo
Z. 5 —7 lauten:
(88 f.) Liebes Mädchen hübsch und fein,
Komm mit mir zum Tanz herein,
Lass uns einmal tanzen und lustig sein!
So auch, mit scherzhafter Veränderung von Z. 3 und 4, Simrock 936. — Dieses
reizendste aller Kinderlieder, dessen Weise (in der letzten Fassung) Humperdinck mit
Recht berühmt gemacht hat, schliesst sich an ein altes, aus dem Jahre 1544 teilweis
überliefertes Tanzlied an, s. Erk-Böhme 2, Nr. 943, Böhme S. 470 Nr. 171. Zu vergleichen
noch Böhme S. 469, Nr. 170-179, für den zweiten Teil Anhang Nr. 32; Lewalter Heft 2,
Nr. 6; Dunger 360f ; Drosihn 309, auch 286, Über den Inhalt und die mutmassliche
Entwicklung: M. Gerhardt und R. Petsch, oben 9, 280ff. [Züricher 1902 Nr. 952.]
89. Es regnet grosse Tropfen:
Die Mädchen muss man klopfen,
Die Jungen muss man schonen
Wie die Zitronen.
Gegend von Koburg, ähnlich aus Schwaben in Mörikes Briefen (herausgegeben von
Fischer und Krauss) 1, 281. Zweite Hälfte sonst anders: vgl. Böhme 117, 1272ff., Stöber
157 f., Rochholz 338.
90. Essenkehrer,
Saumährer,
Kehr mir meine Esse aus!
Weida. „Mähren" hat in Ostthüringen unter anderem auch die Bedeutung „im
Schmutze wühlen". Dem Sinne nach trifft der Spottruf mit einem vom Jahre 1610 über-
lieferten zusammen: Schlotfege Hoderlumpen, Hoderlumpen (Zeitschr. f. deutsche Phil, lo,
55). Übrigens konnte man in Weida wohl auch hören: Essenkehre, Saumehre.
:fel
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91a. Es trieb ein Schäfer seine Lämmer Lämmer aus,
Er trieb sie wohl vor eines Edelmannes Haus.
Valleri und vallera
Er trieb sie wohl vor eines Edelmannes Haus. -V
Und der Edelmann, der im Fenster lag,
Der bot dem Schäfer einen schönen guten Tag-
'Herr Edelmann, lassen Sie die Mütze nur oben
Vor einem so lumpigen Schäferssohn!'
292
Schläger:
„Und bist du nur ein lumpiger Schäferssohn,
Und kleidest dich in Sammet und Seide schon?"
'Und was geht es einen lumpigen Edelmann denn an,
Wenn's nur mein Vater bezahlen kann?'
„Und bin ich ein lumpiger Edelmann nur,
So will ich dich werfen in einen Turm."
'Herr Edelmann, verzeihn Sie mir mein Leben,
Ich will Ihnen auch hundert meiner Lämmer geben.'
„Hundert Deiner Lämmer, die sind mir kein Geld,
Du Schäfer musst sterben, weil's mir gefällt."
'Herr Edelmann, verzeihn Sie mir mein Leben,
Ich will Ihnen auch alle meine Lämmer geben.1
„Willst du mir alle deine Lämmer Lämmer geben,
So sollst du meine Tochter zum Weibe nehmen."
'Und deine Tochter, die will ich nicht,
Denn sie ist eine Hexe, das weisst du nur nicht.'
„Und wenn meine Tochter eine Hexe wär,
So wollt ich, dass du mit ihr auf dem Blocksberge wärst."
Arnstadt. Die Ballade ist zum Kreisspiele geworden, bei den letzten Worten niuss
der Edelmann den Schäfer haschen; ähnliche Entwicklung bei Reifferscheid S. 144 (nach
Frischbier), Bockel S. 0XXX11, Müller S. 191. Die Weise ist sehr ähnlich der von Erk-
Bölinie 1, 43 a.
Nehmen wir die von Reifferscheid S. 144 vorgeschlagenen drei Gruppen an, so ge-
hört unsere Fassung zu der ersten Gruppe; sie unterscheidet sich aber, ebenso wie die
bei Müller S. 191 und die unten mitzuteilende aus Kothen, von allen mir sonst bekannt
gewordenen dadurch, dass der Schäferssohn selber, nicht sein Vater, das Lösegeld bietet.
— Auch Müllers Fassung gehört zu Reifferscheids erster Gruppe, sie hat mit der eben-
dort angeführten Nr. 6 gemeinsam, dass vielmehr die Schäferstochter dem Edelmanu an-
geboten wird. Dasselbe findet sich in der Nöthener Fassung, die jedoch am Schlüsse
noch durch die Krone aus Haberstroh erweitert ist. Diese gehört natürlich von Haus
aus nicht dem Schäfer zu, sondern seiner Tochter oder der Liebsten des Schäferssohnes,
wie es in Reifferscheids zweiter und dritter Gruppe vorkommt. R. sieht darin ein Sinnbild
der verlorenen Jungfräulichkeit; es ist aber darau zu erinnern, dass der Kranz aus Haber-
stroh im Volkslied auch eine Abweisung bedeutet, so Uhlands Volkslieder Nr. 51. — Die
Küthener Fassung lautet folgendermassen:
- ß-ß-m. 0mm ■—i—i—r~
;t fU ill Irl 1 n i IT% Hl IM LU Uli. tih-P-U-^rp. :pd F- :F=« Í3—~SE r^4tí--=! ¿ J ■ # -i P ö ]- —i—i—i— -0-0—0— 1 i - r * i
91b. Es schaut ein Edelmann zum Fenster raus:
„Guten Morgen, guten Morgen, Herr Schäferssohn!
Citirallalallala
Guten Morgen, guten Morgen, Herr Schäferssohn!
Ihr geht in Sammet und Seide schon?"
'Was geht es denn den Edelmann an,
Wenn's nur mein \'ater bezahlen kann?
Deutsche Kinderlieder.
293
Das schien den Edelmann zu verdriessen,
Er wollt ihn auf der Stelle erschiessen.
'Ach Edelmann, ich bitt' dich um mein Leben,
Ich will dich fünfzig Schafe geben.'
„Fünfzig Schafe haben für mich keinen Wert,
Und du sollst sterben durch mein Schwert."
'Ach Edelmann usw. meine Herde —
„Deine Herde hat usw.
'Ach Edelmann usw. meine Tochter —
„Deine Tochter, das alte Zigeunergesicht,
Die mag ich nicht, die will ich nicht."
'Ach Edelmann usw. meine Krone —
„Deine Krone hat für mich viel Wert,
Und ihr sollt leben, wie ihr wollt."
Und als man die Krone bei Lichte besah,
Da war sie nur aus Haferstroh.
Eine vergleichbare Weise hat Süss unter Nr. 53 zu einem ganz fremden Liede. Zu
den Literaturangaben bei Reifferscheid, Erk-Böhme und Bockel zu Nr. 80 vgl. noch
Erlach 8, Nr 454; Alemannia 2, 188; Mittler Nr. 184, 188. [Bender nr. 140. Grassmann
nr. 29. Andree, Braunschw. Volkskunde S. .->52. Bl. f. pomm. Yk. 6,145. 9, 95. E. Lemke,
Ytl. aus Ostpreussen 1, 155. Hüser, Progr. Warburg 1898 S. 37. Notholz 1901 S. 44.]
Zu Frischbiers preussischer Fassung gehört das folgende Obersteiner Spiel mit
Wechselgesang und Mimik, wie es für jene bei Reifferscheid S. 144 angegeben ist (der
Kehrreim wird stets vom Chore gesungen):
91c. Es kam ein Bitter geritten daher,
Die Schäfrin weidet die Lämmer daher;
Vollri vollra, vollri vollra,
Die Schäfrin weidet die Lämmer daher.
Der Rittersmann zog sein Hütchen ab
Und wünschte der Schäfrin guten Tag.
'Ach Rittersmann, lassen Sie Ihr Hütchen auf,
Ich bin eine arme Schäfersfrau'.
„Sind Sie eine arme Schäfersfrau,
Wie könn Sie in Samt und Seide gehn?"
'Was geht das den Iumpigen Edelmann an,
Wenn's nur mein Vater bezahlen kann?'
»Dein Vater, der hat nicht so vieles Geld,
Und du musst sterben, wenn's mir gefällt."
(Kniet). 'Ach Rittersmann, lassen Sie mir mein Leben,
Ich will Ihn hundert Taler geben'.
294
Schläger:
„Hundert Taler ist für den Edelmann kein Geld,
Und du musst sterben, wenn's mir gefällt."
(Tausend Taler; all meine Lämmer.)
„Wollen Sie mir all Ihre Lämmer geben,
So soll mein Sohn zum Manne werden."
'Euer Sohn zum Manne, den mag ich nicht,
Er ist ein Verschwender, du weisst es nicht.'
„Mein Sohn ein Verschwender, das glaub ich nicht;
So schert Euch hinaus, ich mag Euch nicht."
--V—NfH-
::ö^:
-0-0-0-
' ' -0-
92. Es war einmal ein kleiner Mann fri fra fra,
Es war einmal ein kleiner Mann, hm hm hm.
Er nahm sich eine grosse Frau usw. Sah der Mann ein Honigtopf.
Die grosse Frau wollt tanzen gehn. Der kleine Mann, der leckte dran.
Der kleine Mann wollt mit ihr gehn. Als die Frau nach Hause kam,
Nein, du musst zu Hause bleiben, Sass der Mann am Honigtopf.
Musst die Teller reine waschen. Warum hast du Honig genascht?
Und als die Frau gegangen war, Dafür sollst du Schläge haben.
Oberstein. Zwei Kinder im Kreise führen das Spiel mimisch auf; bei Str. 7 tritt die
Frau aus dem Kreise, bei 10 wieder herein. — Der Eingang allein bei Erk-Böhme 2, 895;
sonst sind verwandt ebenda 907—909, bei letzterem auch die Weise; auch Schumann 103.
[Köhler-Meier 210. Bender 130. Marriage 195. Kohl 1899 nr. 181.]
93. Es war einmal ein Mann, Da kam ein grosser Riese,
Der hiess Pumpan, Der frass ihr ihre Kliesse,
Und seine Frau hiess Liese, Da musst sie dreimal niese.
Die kochte lauter Kliesse;
Kahla. Ausführlicher als Dunger 160 = Böhme 1192; die Wiese und der Topf mit
Klössen erscheinen auch Dunger 73; sonst vergleicht sich Böhme 1191. In Weida Z. 4ff.:
Die hatte griene Kliesse, Da musst' sie dreimal niese,
Da ging sie auf die Wiese, Und denkt euch nur, der Riese,
Da kam ein grosser Riese, Der frass die ganzen Kliesse.
Der gab ihr eine Prise,
Dass dieser Kettenreim echt vogtländisch ist, wird nicht bestritten werden. Eben-
falls in Weida ist dem Eingang eine nicht ganz säuberliche Fortsetzung gegeben worden,
aus der vielleicht der eine oder andere Mythologist deu ungefügen Donnergott heraus-
finden wird:
94. Z. 3 ff. Pumpan hiess er,
Grosse F . . Hess er,
Kleine gab er zu,
Die frasst du.
Ganz anders lautet eine F ortsetzung zu demselben Eingang in Grossschwabhausen i. Th. :
95. ... Da ging er in de Schenke, Da schoss er en grossen Wurm.
Da sprang er über Tisch un Bänke. Da ging er wieder nach Haus
Da ging er in de Kerche, Un steckte seine Frau zum Hause naus
Da schoss er ene grosse Lerche. (jn setzte sich auf den Kaffeetopf
Da ging er auf den Turm, (Schluss?)
Deutsche Kinderlieder.
295
Mit dieser Kette hängt offenbar eine andere eng zusammen, deren ich mich aus
"Weida erinnere:
96. Ging mal in Keller, Ging ich aufs Rathaus,
Fand ich en Heller. Reckt' den — zum Fenster naus;
Ging ich auf den Mark(t), Kamen die lieben Herrn,
Kauft ich en Quark. Dachten, 's wärn gebackne Bern.
Zu Z. 3 und 4 der Grossschwabhäuser Kette vgl. Wegener 8 und 50, zu Z. 5 der
letzten Weidaer Drosihn 328, zu Z. 3 f. unsere Nr. 204.
97 a. Es war einmal ein Mann
Es war einmal ein Ledermann,
Si sa Ledermann,
Es war einmal ein Mann.
Da schiessen sie ihn tot.
Dann holn sie den Pastor.
Dann weinen sie auf sein Grab.
Da ruht der liebe Sohn.
Dann steht er wieder auf.
Dann sind sie alle froh.
Der Mann nahm sich ne Frau usw.
Die Frau die hat nen Sohn.
Der Sohn musst in die Schul.
Dort lernt er's ABC.
Dann kommt er wieder raus.
Dann musst er in den Krieg.
Seehausen i. d. Altmark. Ygl. K. Müller, oben 5, 203 Nr. 25, desgleichen auch
unsere Nr. 39. — Weise: Was kommt dort von der Höh. Nach Friedländers Kommers-
buch (Leipzig, Peters) zu diesem Liede scheint das Studentenlied mit unserem Kindertexte
geschichtlich verwandt; auch sind daselbst noch andere Lieder verglichen [Kopp, oben 14,
61 f. Unten S. 310]. — Anderer Eingang in Oberstein:
Sí
í
-0—«—
q—•—#—===0=^:
97 b. In Polen steht ein Haus,
In Polen steht ein Ding-ling-Üng hopsasa,
In Polen steht ein Haus.
Darinnen wohnt ein Wirt. Str. 10.
Der Wirt nahm sich eine Frau.
Die Frau nahm sich ein Sohn.
(Nun wie oben;
Str. 7 : Da kam er wieder heim.
„ 9: Da schoss man ihnen tot.)
Der Anfang dieser Fassung findet sich in Brahms ' Volkskinderliedern ' Nr. 7 wieder, aber
mit gänzlich anderem Fortgange; auch die W eise ist ausser der Obersteiner "V erzierung
dieselbe.
—T---
Dann legt man ihn ins Grab.
Dann deckt man ihnen zu.
Dann schrieb man auf den
Stein:
Hier ruht ein guter Sohn.
T—J—Ip-#-. —[--»r-jN-iN---
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✓ *
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98. 1. Es wohnt ein Kaiser (König) an dem (überm) Rhein,
Der hatt drei schöne Töchterlein, Töchterlein,
Der hatt' drei schöne Töchterlein.
296
Schläger:
2. Die erste wollt die reichste sein, 3. Die dritte ins französche Land,
Die zweite zog ins Kloster ein, Da war sie fremd und unbekannt.
4. An einem Wirtshaus klopft' 5. Wer steht denn draussen vor der
sie an, Tür?
Da ward die Tür ihr aufgetan. Eine arme Dienstmagd liegt dafür.
(Und als sie an ein Wirtshaus kam, (Frau Wirtin macht ihr auf die Tür:
Klopft sie mit ihren fünf Fingern an.) 'ne arme Dienstmagd liegt dafür.)
6. So eine Dienstmagd mag ich nicht,
Die mir des Nachts vor der Türe liegt (fehlt.)
7. „So eine Dienstmagd bin ich nicht,
Bin ehrlich und bescheiden (Ich bin ne Jungfer und heirat nicht).
8. Sie nahm sie auf ein halbes Jahr,
Sie aber diente sieben Jahr.
(Frau Wirtin miet sie auf ein Jahr,
Und daraus wurden sieben Jahr.)
9. Und als die sieben Jahr um warn,
Da war das Mägdlein (wurde das Mädchen) schwach und krank.
10. Die Wirtin schenkt ihr (Frau Wirtin schenkt) ein Gläschen
W ein
Und fragt, was (wer) ihre Eltern sein.
11. „Mein Vater ist Kaiser an dem Rhein,
Und ich bin Kaisers Töchterlein."
(„Der Kaiser ist mein Bruder,
Die Kaisrin meine Mutter".)
12. (Ja, Kind,) Das hättst du ehr solin sagen,
Gestickte Kleider (hättst du solln) tragen.
13. „Gestickte Kleider trag ich nicht,
Nach meinem Heiland (meiner Heimat) sehn ich mich."
14. Und als sie nun gestorben war,
Drei Lilien wuchsen auf ihrem Grab.
15. Darinnen (Darunter) stand geschrieben:
Bei Gott ist sie (Sie war bei Gott) geblieben.
Weissenfeis, Abweichungen aus Westthüringen, wo ausserdem Str. 10—13 vor Str. 8
gerückt sind; die Abweichung in Str. 11 erinnert an ein anderes Lied, Erk-Böhme 181.
Sehr ähnlich (Leipzig) oben 5, 204 Nr. 28. — Andere Fassungen Erk-Böhme 1, 182, Bockel
Nr. 95 und Lewalter Heft 5, Nr. 38. [Köhler-Meier Nr. 5. Bender 150. Marriage IG.
Züricher 1902 Nr. 912J. Zu den beiden Schlussstrophen vgl. Simrock 154f., Müller S. 88.
99 a. 1- wollt ein Jäger früh aufstehn,
Dreiviertel Stund vor Sonnaufgehn.
2. Er nahm sein Liebchen an die (bei der) Hand
Und führte 's durch das ganze (sie durchs Vater-)Land.
Deutsche Kinderlieder.
297
3. Ade, ade, mein liebes Kind,
Jetzt muss ich von dir scheiden.
4. In diesem letzten Augenblick
Vergess ich auch das Knieen (dein Küsschen) nicht.
Osnabrück; Abweichungen aus Halle a. S. und Kothen, wo das Liedclien jedoch nach
■der Weise „Du grünst nicht nur zur Sommerszeit" usw. gesungen wird. In den Worten
entspricht fast genau, in der Weise erkennbar, Böhme S. 550, Nr. 35G; sonst finden sich
Anklänge an die Osnabrücker Weise im zweiten Teile von Böhme S. 466, Nr. 165. — Das
Lied ist schwierig zu beurteilen. An einen echten Balladenanfang, zu dem Erk-Böhme
1, 96e Anns, und 96h, Müller S. 90 zu Bockel Nr. 57B und E, sowie das bekannte Volkslied
von den „Brum mei be eren" (Erk-Böhme 1, 121) und das von der verkauften Müllerin
(Erk-Böhme 1, 58) zu vergleichen sind, fügen sich spielmässige Strophen (3 und 4), die an
unsere Nr. 13 und an Erk-Böhme 2, 975ff. erinnern. Die zweite Strophe ist eine rechte
Wanderstrophe: sie ist gleichfalls in den letztgenannten Spielliedern, aber auch in dem
Yolksliede von der Müllerin, z. B. in den Fassungen Weim. Jahrb. 3, 286 und Müller
S. 82—84, am Schluss, enthalten und kommt auch sonst vor, so in einer Fassung von
„Ulrich und Annchen" bei Schlossar S. 340 und in einem ganz anderen Liede, Erk-
Böhme 1, 79. — Vielleicht haben sich die Bestandteile erst im Kindermunde zusammen-
gefunden; die Weise trägt echt kindliches Gepräge, wie übrigens auch die merkwürdig-
verwandt klingende des vorhergehenden Liedes.
In Oberstein wird das Lied nach derselben Weise gesungen und aufgeführt wie
Nr. 52b (wie denn auch die oben gegebene mit der von 52a eng verwandt scheint):
99b. Str. 1: Es wollt ein Müller —
„ 2: — durch sein Vaterland.
„ 4: Und in dem —
— das Küssen nicht.
Ausführung: die ganze Spielreihe kauert 'nieder, zwei gehen mit über der Reihe
gefassten Händen beiderseits auf und ab und senken die Hand taktmässig zwischen je
zwei Köpfen; die beiden Mädchen, bei denen sie zuletzt angelangt sind, geben das nächste
Paar. — Auch das Volkslied von der verkauften Müllerin (Erk-Böhme 1, 58, zur dortigen
Literatur noch Bockel Nr. 67 u. S. XXVI [und oben 15,334]) wird in Oberstein gesungen und
mimisch dargestellt. Die Weise gleicht sehr der benachbarten hochwäldischen ebenda
58 d, die übrigens auch in Thüringen ähnlich vorkommt, der Text zeigt Verkürzungen, die
wir zum Teil wohl dem Kindermunde zuzuschreiben haben.
r- —--I--^-4-Í--IS----K-iN 4-ih'i ~fV --IS;-4-4^-
100. Es wollt ein Müller früh aufstehn,
Wollt in den Wald spazieren gehn,
Wollt sich den Wald anschauen
Lnd als er in den Vi^ald nun kam,
Drei Räuber ihm entgegen kam,
Drei Häuber, ja drei Mörder.
Der erste zog die Gurt heraus,
Dreitausend Taler bot er aus
Dem Müller für sein Weibchen.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 20
298
Brunk:
Der Müller dacht in seinem Sinn:
Das ist kein Geld für Weib und Kind,
Mein Weibchen ist mir lieber.
(6000, 9000 Taler).
Der Müller dacht in seinem Sinn:
Das ist schon Geld für Weib und Kind,
Mein Weibchen sollst du haben.
Und als der Müller nach Hause kam
Und seiner Frau die Botschaft sagt,
Da fing sie an zu weinen.
„Ach Gott, wenn das mein Bruder vvüsst,.
Der in dem Wald der Jäger ist,
Der würd euch drei erschiessen."
Kaum hatt sie dieses Wort gesagt,
Da kam ihr Bruder daher gejagt
Und er erschoss die dreie.
Oberstein a. d. Nahe.
(Fortsetzung folgt.)
Volksrätsel aus Osnabrück und Umgegend.
Gesammelt von August Brunk.
1 a. Tweebeen
Seit uppen Dreebeen;
Dau keimp Veerbeen un woll den Tweebeen bieten,
Dau neimp Tweebeen den Dreebeen und woll den Yeerbeen dormit
smieten.
Das Milchmädchen sitzt auf dem dreibeinigen Stuhle und wirft dann damit nach
dem Hunde. (Umgegend von Bramsche.) Vgl. Wossidlo, Mecklenburgische Volksüber-
lieferungen 1, Nr. 15.
Ib. Tweebeen
Sitt up Dreebeen;
Tweebeen un Dreebeen to fiewe
Sitt unner Veerbeen sien Lie we.
Eine Magd auf einem Melkbock melkt eine Kuh. (Bad Essen.) Wossidlo 15».
2. Steeneken-Beeneken seit up de Bank,
Steeneken-Beeneken föl van de Bankj
Is kien Dokter in Engeland,
De Steeneken-Beeneken heilen kann.
Das Ei. (Westerkappeln-) Wossidlo 20.
Yolksrätsel aus Osnabrück und Umgegend.
299
3. Achter usen Huse Nich Beuten.
Stöhnt sierben Lugen, Nich andern Schlagholt.
Nich Eiken,
Die Siebensterne. (Schinkel.) Wossidlo 40.
4. Rosaroter Garten
Mit weissen Leoparden.
Da regnet es nicht und schneiet es nicht,
Und ist doch immer nass darin.
Der Mund und die Zähne. (Schinkel.) Wossidlo 42.
5. Achter usen Huse 7. Achter usen Eluse
Häng en Krikrakruse. Plöget Kaspar Kruse
Wenn de leewe Siinne schient, Ohne Peerd und ohne Plog.
Use Krikrakruse grient. Raut mol to, wat is dat?
Der Eiszapfen. (Bad Essen.) Der Maulwurf. (Umgegend von Melle.)
Wossidlo 45. Wossidlo 53.
6. Achter usen Huse 8. Wittland hewwe ick,
Do steht ne Krukukuse. Schwatsaut säge ick;
Sei brennt ne ganze Dag De Männlken, de doröwer geht,
Un sticket dat Hus nich an. Weet nich, wat doruppe steht.
Die Brennessel. (Westerkappeln.) Vgl. Papier, Schrift, Feder. (Schinkel.)
Wossidlo 51 u. 378. Wossidlo 70.
9. As ick was jung un Ideen, Däen se mi en Seil ümt Lief.
Drög ick ne blaue Krön. Met Pietsken slagen,
As ick was auld un stief, Von Fürsten un Königen dragen
Der Flachs. (Bad Essen.) Wossidlo 77.
10. Haus voll Essen, Tür vergessen.
Das Ei. (Schinkel.)
IIa. Ick armet Wief mott Schildwach stauhn,
Ick häwwe kien Been, mott immer gauhn,
Ick häwwe kien Am, mott immer slauhn.
Die Uhr. (Umgegend von Bramsche). Wossidlo 87.
IIb. Ick weit ein Ding:
Dat häf kine Föide un kann doch stauhn,
Et häf kine Beene und kann doch gauhn,
Et häf kine Hände und kann doch schlauhn.
Die Uhr. (Leeden b. Tecklenburg). Wossidlo 87.
12. Ick weit ein Ding:
Dat häf 'n Rügge und kann nich liggen,
Et häf twei Plittker un kann nicht fleigen,
Et häf en Been un kann nicht gauhn;
Et kann aber loupen un man kann't putzen
Faken häf't kinen Nutzen.
Die Nase. (Leeden b. Tecklenburg.)
13. Knickerdeknacker
Lop öwer den Acker,
Häww nich mähr Knee
Esse döttig un twee.
Die hölzerne Egge. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 109. ^
300
Brunk:
14. Höllterölltelt
Lop öwer dat Feld.
Wenn ick sau vierle Beene harre asse Höllterölltelt,
Lop ick met Höllterölltelt öwer dat Feld.
Die Egge. (Schinkel.) Wossidlo 110b.
15 a. Plattfötken göng ower de Brüggen,
Hadd'n Landshären sien Bedde up den Rüggen.
Die Gans. (Umgegend von Bramsche.) Wickelwackel . . . Drög'n König sien
Bedde . . . (Schüttorf b. Bentheim.) Wossidlo 112.
15b. Spitzfötken göng ower de Brüggen,
Har'n Landshären sien Speck up den Rüggen.
Das Schwein. (Umgegend von Bramsche.)
16. Lüttken un en Grauten,
Ruwwen un en Blauten;
Acht Föte un eenen Stät.
Is dat wol't Rahen wät?
Frosch und Pferd. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo Ilo.
17. Veer roe Relien,
Twee swatte Kapellen,
Putkebühl un Kniepsack.
Ra es to, wat is dat?
Der Kutschwagen mit Pferd und Kutscher, der eine Peitsche in der Hand schwingt.
(Umgegend von Bramsche.) Wossidlo lllJ.
18. Rabberabberiepe,
Gell is de Piepe,
Schwat is 't Gat,
Wor Rabberabberiepe in satt.
Die Wurzel = Mohrrübe. (Schüttorf.) Wossidlo 121.
19. Achter usen Huse stoh twee Päule, Up de Griepers kuomt twee Kiekers,
Up de Päule sitt'n Fatt, Up de Kiekers kuomt'n Buschk,
Up dat Fatt kuomt twee Griepers, ' Do lopet de Hasen un Fosse herup.
Der Mensch. — (Westerkappeln.) Wossidlo 1G4.
20. "V eer Hängelers 21. Et steht wat uppen Huse
Un tegen 1 engelers; So lang un so graut,
Unnen 'n höltern Jahnup. Häw Beene so lang.
Das Euter, zehn Finger, der Milcheimer. Dat es en Staut.
(Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 167. Der Storch. (Bad Essen.)
22. Es steht auf dem Acker
Und hält sich wacker,
Hat viele Häute,
Beisst alle Leute.
Die Zwiebel. (Schinkel.) Es wächst im Gärtlein, hat viele Röhrlein .... (Schinkel.)
Wossidlo 190.
23. Dor kürop nen roen Riiter uovver usen Hof, sia: „Mötet mi juggen
Hahn un jugge Höhner! Yör jUggen Hund bin ick nich bange vor."
Der Regenwurm. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 215.
Volksrätsel aus Osnabrück und Umgegend.
301
24. Erst weiss wie Schnee,
Dann grün wie Klee,
Dann rot wie Blut;
Schmeckt allen Kindern gut.
Die Kirsche. (Schinkel.) Wossidlo 217.
25. Gröner esse Gras, 26 a. Et wör mol een,
Witter esse Flass, De har mol een,
Heuger esse 'n Hus, 'n dicken fetten
Lüttker esse 'n Mus. Twuschen de Been.
DieWalnuss. (UmgegendvonBramsche.) Der Reiter zu Pferde. (Umgegend von
Wossidlo 219. Melle.) Wossidlo 233a*.
26b. Gon Dag, gon Dag, Här Leene,
Wat häbbet Se tüsken de Beene?
Dick un fett,
Rund ümmeto mit Höre besett.
(Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 233a*.
27 a. Vorne wie ne Gaffel, 27 b. Vorn ist 'n Zirkel,
Mitten wie ne Tonn, Midden ist 'n Pökelfatt,
Achter wie 'n Rissen Flachs. Achtern ist 'n Fliagelstaff (Dresch-
Die Kuh. (Umgegend von Melle.) flegel).
Wossidlo 234. Die Kuh. (Umgegend von Bramsche.)
28. Vodden lebennig, mitten daut,
Achtern macht't wol Speck un Braut.
Pferde, Pflug, Pflüger. (Bad Essen.) . . . Kaise un Braut. (Umgegend von Bramsche.)
Wossidlo 241.
29. Ick kenn en Ding, das der achtern frett un vorren schitt.
Die Häckselmaschine. (Umgegend von Bramsche.) W ossidlo 243.
30. Oben spitzig, unten breit,
Durch und durch voll Süssigkeit,
Weiss vom Leibe, blau vom Kleid,
Kleiner Kinder grosse Freud.
Der Zuckerhut. (Schinkel.) Wossidlo 247.
31. "Van binnen ruww un van buten ruww un sieben Jeilen (Ellen)
in ne Äse ruww. Hau es to, wat is dat?
Ein Fuder Heu (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 262.
32. A'an binnen spitz un van buten spitz un sieben Jeilen in ne
Äse spitz. Rau es to, wat is dat?
Ein Fuder Dornen. (Umgegend von Bramsche.)
33. Isern Perd mit 'n flassen Start. Je düller dat Perd löppt, je
körter werd de Start.
Die Nähnadel mit dem Faden. (Schinkel.) Wossidlo 265.
34. Up enen rauten Hügel
Sitt vierle witte Vögel.
Die Zähne im Munde. (Bad Essen.)
302 Brunk:
35. "Wat geht in 'n Holte hen un her
Un wieset siene Tiände her.
Die Säge. (Umgegend von Bramsche.)
36. Et steht ener in'n Holte un roop un roop un krieg keene
Antwort.
Der Pastor auf der Kanzel. (Rabber, Kr. Wittlage.) Wossidlo 318.
37. Et geht wat achter usen Huse, schlührt d' Ingeweede achterhiär.
Die Henne mit Küken. (Rabber, Kr. Wittlage.) Wossidlo 323.
38. Ick hör'n Vugel relien,
Har kien Feeren noch kien Fellen.
Ick hör' ne wol un seig ne nich;
Ick greip dernau un kreig ne nich.
Der Menscbenwind. (Umgegend von Bramsche.)
39. Ick srniete wat Witt't uppet Hus un et kump der gieil
wier af.
Das Ei. (Umgegend von Bramsche.) Ick schmiet et witt up't Dack un . . (Els-
fleth.) . . dat sali der raut wier af kurmen. (Nahne.) Wossidlo 328.
40. Rot geht's ins Wasser, schwarz kommt's heraus.
Die Kohle. (Schinkel.) Weiss schmeisst man's ius Wasser . . . (Schinkel.)
Wossidlo 330.
41. Ick schmiete wat brennend inne Saut, et kiimp brennend
wier rut.
Die Brennessel. (Schinkel.)
42. Ein Bein schmeisst man aufs Dach, zwei Beine kommen wieder
runter.
Die Schere. (Schinkel.)
43 a. Ick will et kott uppet Hus schmieten, dat sali der lang wier
af kurmen.
Das Seil. (Nahne.)
43 b. Ick smiete wat Rundes uppet Hus, dat kump der lang wier af.
Das Garnknäuel. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 334.
44 a. Bie Dage es et vull, nachts lieg.
Der Schuh. (Bad Essen.) Wossidlo 337.
44 b. Dages vuller Fleesk un ßlout, nachts steiht't un japet.
Der Schuh. (Osnabrück.)
44c. Dages häft'n Mul vull Fleesk, nachts is et'n holten Jahnup.
Der Holzschuh. (Umgegend von Bramsche.)
44 d. Dages geht't den Trippel den Trapp,
Nachens steht't vorn ßedde un gapp.
Der Holzschuh. (Schüttorf bei Bentheim )
45 a. Dages is't 'nen goldnen Knop,
Nachens is't 'nen Frotenhop (Maulwurfshaufen).
Die glühende Kohle, die nachts mit Asche überschüttet wird. (Ledde bei Tecklenburg.)
Volksrätsel ans Osnabrück und Umgegend.
303
45b. Dages schient esse'n golden Ivnaup,
Nachts liehet esse'n Hunneworpshaup (Maulwurfshaufen).
Dasselbe. (Umgegend von Bramsche.)
46. In'n Sommer frett't,
In'n Winter schitt't.
Die Balkenluke. (Westerkappeln.) Wossidlo 341.
47. Ich werfe es in den Brunnen, das können keine hundert Pferde
wieder herausholen.
Der Zucker oder die Nadel. (Schinkel.) Wossidlo 349 vom Zucker.
48. Was ist fertig und wird doch täglich gemacht?
Das Bett. (Schinkel.) Wossidlo 351.
49. Gat an Gat
Un doch gien Dörgat.
Der Fingerhut. (Schüttorf)
50. Baule (bald) graut, baule lüttk, öwer doch jUmmer eenen
Foot lang.
Der Schuh. (Rabber, Kr. Wittlage.)
51. Es geht aus
Und bleibt doch im Haus.
Die Schnecke oder das Feuer. (Schinkel.) Wossidlo 359 von der Schnecke.
52. Was geht owert Strauch un raschelt nich?
Der Schatten. (Umgegend von Bramsche.) Ygl. Wossidlo 372.
53. Et lüppt un lüppt un kummt dock nit von der Steele.
Die Uhr. (Elsfleth.) Wossidlo 376.
54. Et löp wat im Holte. Et löp un löp un kümmp nicks wieder.
Das Spinnrad. (Bad Essen.) Vgl- Wossidlo 377 von der Mühle.
55. Ick bin en Ding, dat heff en Auge un süht nich.
Die Nähnadel. (Schinkel.) Wossidlo 385 b.
56. Der Bauer sieht's jeden Tag,
• Der König sieht's selten,
Der liebe Gott sieht's garnicht.
deinesgleichen. (Schinckel.) Wossidlo 394.
57 a. Wenn man doa wat tolegg, denn wed't lüttker,
Wenn man doa wat afnim, denn wed't grötter
Das Loch. (Rabber, Kr. Wittlage.) Wossidlo 397.
57 b. Je grösser es wird, wenn man nichts dran tut,
Je kleiner es wird, wenn man was dran tut.
Das Loch im Strumpf. (Schinkel.)
58. Alles wed lüttker, wenn nian der wat afnimmt; eens wed
grötter, wenn man der wat afnimmt.
Die Bodenluke. (Umgegend von Bramsche.)
304
Brunk:
59. Es sitt wat up en Klösken
Un luckset sien Fösken.1)
Je länger et luckset,
Je lüttker wed et.
Eine spinnende Magd. (Bad Essen.)
Wossidlo 417.
60a. Achter usen Huse howehawe,
Vor den Füer müwemawe,
Up de Deerlen klippeklappe,
In den Kohstall strippestrappe.
Das Graben und Harken im Garten,
das Schnurren und Miauen der Katze, das
Dreschen, das Melken. (Schinkel.)
60b. In de Piidde schlippschlapp,
Uf de Deele klippklapp
In de Kohstall strippstrapp.
Der Frosch, der Dreschflegel, das
"Melken. (Osnabrück.)
61. Et satt ne Mor up en Steene-
Un keik sick an de Beene
Un dacht: „0 Himmel und Erden,
Wat will do noch ut werden!"
Die Henne auf den Küken. (Nahne.)
6*2. Graute griesegrowwe,
Lig alle Nacht innen Dowwe,
Häf nien Fleesk of Bloot
Un liewet yan allemanns Goot.
Die Windmühle. (Umgegend von
Bramsche.) Wossidlo 436.
63. Ick kenn ein Ding
Wie 'n Pfifferling,
Kann gehn, kann stehn
Und auf dem Kopf nach Hause gehn.
Der Schuhnagel. (Schinkel.) Wos-
sidlo 454.
64. Ein Biinner seuch ein'n Hosen loup'n, ein Lahmer löp en nau>
ein Naketen stock en in de Tasch. Wat is dat?
Eine Lüge. (Leeden b. Tecklenburg.) Wossidlo 467.
65. Im Himmel ist ein Ding, Das haben die Gesellen,
Das ist auch in der Hölle; Die-Königs haben das nicht,
Die Meisters haben's nicht, Das haben die Soldaten.
Der Buchstabe 1. (Schinkel.) Vgl. Wossidlo 473.
66. Vom Felde kommt's in die
Scheune,
Vom Flegel zwischen zwei Steine,
Aus dem Wasser endlich in grosse Glut;
Dem Hungrigen schmeckt's allzeit gut.
Korn, Mehl, Teig, Brot. (Schinkel.)
Wossidlo 483.
67. Auf dem Schnabel läuft's,
Schwarze Farbe säuft's,
Viel Tausenden verdient's das Brot.
Lernst du's gebrauchen, hat's nicht
Not.
Die Schreibi'eder. (Schinkel.) Wos-
sidlo 520.
68. Wecke es de Dümmste im Huse?
Die Milchseihe; die lässt das Beste, die Milch, durch und behält das Schlechteste,
das Unsaubere, für sich. (Bad Essen.) Wossidlo 565.
69. Wat es enem halben Stuorknest am glieksten?
Die andere Hälfte. (Bad Essen.)
70. Wei is de Driesteste in 'n Huse?
Die Feuerzange. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 573.
71. Wei is de Driesteste in de Kirken?
Dat is de Flegen, de sett sick den Pastor up de Niasen. (Umgegend von Bramsche.)
Wossidlo 574.
1) Fösken wird hier allgemein als 'Füchschen' aufgefasst, wie auch in dem obszönen.
Spiel 'Fösken in'n Düstern'.
Volksrätsel aus Osnabrück und Umgegend.
305-
72. Wat blitzt am dullsten inne Kirken?
Der Tropfen unter der Nase. (Bad Essen.) Wossidlo 577.
73. Wecke es am ersten in de Kirken?
Der Schlüssel. (Bad Essen.) Der Klang voin Schlüssel. (Umgegend von Bramsche.)
Wossidlo 578.
74. AVel häww den grötsten Snuffdook?
Das Huhn, das putzt den Schnabel auf der Erde. (Umgegend von Bramsche.)-
Wossidlo 588.
75. Warum fressen die weissen Schafe mehr als die schwarzen?
Weil es mehr weisse gibt. (Schinkel.) Wossidlo 624.
76. Wann tun dem Hasen die Zähne weh?
Wenn der Hund ihn beisst. (Schinkel.) Wossidlo 625a.
77. Wenner lop de Hase owern Stuken?
Wenn der Baum herunter ist. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 638.
78. Wann läuft der Hase über die meisten Löcher?
Wenn er übers Stoppelfeld läuft. (Schinkel.) Wossidlo 640 a.
79. Wo liegt de Hase am wamesten?
In der Pfanne. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 690.
80. Wo wird Heu gemäht?
Nirgends; Gras wird gemäht. (Schinkel.) Wossidlo 708.
81. Wo lange dregt dat Pierd dat Hofisen?
So lange es das Bein hochhebt; sonst trägt das Eisen das Pferd. (Umgegend von
Bramsche.) Wossidlo 713.
82. Wohin geht man, wenn man zwölf Jahre alt ist?
Ins dreizehnte. (Schinkel.) Wossidlo 719.
83. Worüm dragt de Möllers witte Höe?
Um den Kopf damit zu bedecken. (Rabber, Kr. Wittlage.) Wossidlo 723.
84. Wo kümmt de Flauh na Holland hen?
Schwarz. (Rabber.) Wossidlo 737.
85. Warum macht der Hahn die Augen zu, wenn er kräht?
Er weiss alles auswendig. (Schinkel.) Wossidlo 752.
86. Worümme is de Hahnen uppen Tooren und kien Hohn?
Enners mosse de Köster jeden Muoden dor upstiegen un de Egger deraf halen.
(Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 754.
87. Worümme löp de Hase owern Berg?
Weil er nicht durch den Berg laufen kann. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 775.,
88. Worum kiek de Möller ut'n Fenster?
Weil er durch die Wand nicht sehen kann. (Schinkel.) Wossidlo 779.
89. Wer lebt von
W'ind?
Der Müller. (Schinkel.)
90. Wer zieht sein Geschäft in die Länge und wird doch fertig?
Der Seiler. (Schinkel.)
306 Brunk: Volksrätsel aus Osnabrück und Umgegend.
91. Welche Schuhe zerreissen nicht an den Füssen?
Die Handschuhe. (Schinkel.)
92. Welches Futter frisst kein Pferd?
Das Rockfutter. (Schinkel.)
93. Was kann man nie mit Worten ausdrucken?
Einen nassen Schwamm. (Schinkel.)
94. Was tut die Gans, wenn sie auf einem Beine steht?
Sie hebt das andere in die Höhe. (Schinkel.) Wossidlo 865.
95. Was ist schwerer, ein Pfund Federn oder ein Pfund Ble ?
Beide wiegen gleich viel, ein Pfund. (Schinkel.) Wossidlo 878.
90. Woveele Flöh gohet in en Schäpel?
Gar keine; sie springen alle heraus. (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 882f«.
97. Et es weg
Un bliwt weg
Un es doch doar.
Der Weg. (Bad Essen.) Wossidlo 907.
98. 'n Koh un'n Ralf un'n half Kalf half. Woveel Beene heii n
de . . . ef (Deef)?
Ein Dieb hat zwei Beine. (Rabber.)
99. Welcher Spieler verliert kein Geld?
Der Musikant. (Schinkel.) Wossidlo 922.
100. De graute Steen in Höne1), wenn de Hahn kraget, denn
japet he.
Nämlich der Hahn, der beim Krähen den Schnabel öffnet. (Nahne.) Wossidlo 980.
101. Was brennt länger, ein Wachslicht oder ein Talglicht?
Keins; sie brennen beide kürzer. (Schinkel.) Wossidlo 936.
102. Keimp en Käl van Köln,
Har en Hund essen Föll'n.
Ick legge di dat Wurt innen Mund.
Rau to, wo het de Hund?
Er hiess Rauto (oder Wo). (Umgegend von Bramsche.) Wossidlo 952.
103. Kaiser Karl hat einen Hund.
Ich lege dir das Wort in den Mund:
Wie heisst der Hund?
Wie. (Schinkel.) Wossidlo 953 (vgl. 951).
104 a. Ick wör enmol in Engelland,
Engelland was mi bekannt.
Keimen mi dree Landsherren in to Möte
1) Damit sind die sog. Karlssteine im Hohne in der Nähe des Piesberges gemeint,
„das berühmteste Steindenkmal in der Osnabrücker Gegend, das der Sage nach von Karl
•dem Grossen durch einen Schlag mit ¿¡er pappel- oder Weidenrute in Gegenwart des
Sachsenkönigs Wittekind zerstört wurde, um zu beweisen, dass der Christengott dem
Heidengott überlegen sei."
W. Dörler: Kleine Mitteilungen.
307
Un frögen, wat Ideen Hündken sien Nam wör?
Kleen Hündken sien Nam was mi vergierten, was ehr vergierten.
Hevvw et dreernol seggt; sast noch nich wierten?
Der Hund hiess 'Was' = Wasser. (Nahne.) Ick was emal in Pommerland. Pommer-
land .... (Schinkel.) Wossidlo 955.
104 b. Ick was enmaul in Pommerland,
In Pommerland was ick bekannt.
Dau keimen mi dree Hären in to Möte,
Frögen mi, wo mien Namen höte.
Ick sä, mien Namen was mi vorgieten.
Ick häww't dreemaul seggt, schasset noch nich wieten?
Er hiess 'Was'. (Umgegend von Bramsche.)
105. Eine Frau, deren Mann zum Tode verurteilt war, ging zum Gericht. Unter-
wegs fand sie in einem Pferdekopf ein Nest mit fünf Jungen. Hieraus machte sie ein
Rätsel und gedachte, damit ihren Mann zu befreien. Sie sagte zu den Richtern:
Sess Köppe, teggen Beene. Mög ji mienen Mann wol brahen.
Rahet, ji Hären, intgemeene! Könnt ji Hären dat nich denken,
Könnt ji Hären dat rahen, Mög ji mienen Mann mi schenken!
Das Rätsel haben die Richter natürlich nicht raten können, und der Mann
wurde freigelassen.
(Umgegend von Bramsche.) Vgl. Wossidlo 9G7•
10G. Ein Bauer sät Erbsen und sagt dabei:
Kummt se, dann kummt se nich.
Kummt se nich, dann kummt se.
'Se' sind abwechselnd die Saatkrähen und die Erbsen. (Schinkel.) Wossidlo 992.
Osnabrück.
Kleine Mitteilungen.
Volkslieder aus Vorarlberg,
189G in Bregenz (Nr. 3. S—10) und Schwarzach gesammelt von f Adolf Dörler.
I. Der Mädchenräuber.1)
Es reitet ein Reiter wohl über das Ried,
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Er sang ein wunderschönes Lied,
Er konnte so gar schön singen
Ein Lied mit dreierlei Stimmen.
2. Und als er zu singen anfang,
Eine Jungfrau aus ihrem Zimmer sprang
'Ach könnt ich so singen wie er es
»Gibst du mir dein Treu und dein Ehren,
So will ich dich schon lehren."
Ei nahm sie bei dem blauen Rock
Und schwang sie auf das hohe Ross.
4* Sie ritten auch gschwind und auch balde
Durch einen stockfinsteren Walde.
Dem Mädchen war die Weile lang,
--------VY tlJL — '
Da gab ich meine Treu und meine Ehre'. war ihm um das Leben schon ban
1) [Vgl. Erk-Böhme, Liederhort 1, H8 Nr. 41. 'XJlinger'. Schweizerisches Archiv
f. Volkskunde 5, 8. Gassmann, Das Volkslied im Luzerner Wiggertal 1906 Nr. 12.]
308
W. Dörler:
5. Sie kamen zu einer Haselstauden,
Da sitzen zwei junge Turteltauben,
Die tun sich wohl gar schön biegen:
'0 Jungfrau, lass dich nicht betrügen!'
ö. Es fing ihr an zu grausen,
Ihre goldgelben Haare standen
Ihr auf wie krausen.
,,0 Jungfrau, was tust du's bedauern?
7. Bedauerst du dein Vatersgut?
Bedauerst du dein stolzen Mut?
Bedauerst du dein Ehrenkranz?
Er ist zerbrochen und wird nimmer ganz."
8. 'Ich bedaure nicht mein Vatersgut,
Ich bedaure nicht mein stolzen Mut,
Ich bedaure nicht mein Ehrenkranz,
Weil er zerbrochen und nimmer wird ganz.
9. Ich bedaure nur selbige Tannen,
Wo elf Jungfrauen hangen'.
„Das lass dir nur nicht traurig sein!
Die zwölfte die musst du sein."
10. 'Ach, Reiter, lieber Reiter mein,
Lasst mir drei Bitten schrein!'
„Das erlaube ich dir; es wird keiner
Im Walde sein, der es wird hören dein."
11. Den ersten Schrei, und den sie tut,
Den tut sie ihrem Vater zu:
'Ach,Vater, kommt gschwind und auch balde!
Sonst muss ich heut sterben im Walde.'
12. Den zweiten Schrei, und den sie tut,
Den tut sie ihrer Mutter zu:
'Ach, Mutter, kommt gschwind und auch balde!
Sonst muss ich heut sterben im Walde.'
13. Den dritten Schrei und den sie tut,
Den tut sie ihrem Bruder zu:
'Ach, Bruder, komm gschwind und auch balde !
Sonst muss ich heut sterben im Walde'.
14. Ihr Bruder, der ein. Jägersmann
Und alle Tierlein gut treffen kann,
Hörte sein Schwesterlein schreien
Und machte sein Hiindelein schweigen.
15. ErladetPulverbiichse undspanntden Hahn
Und schiesst den jungen Reitersmann:
..Jetzt, Reiter, habt Ihr euren Lohn empfangen,.
Da Ihr wollt meine Schwester hangen."
IG. Er nahm sie bei der rechten Hand
Und führt sie in ihr Vaterland:
„Zu Hause sollst bleiben, zu Hause
Und traun keinem Reiter nicht mehr."
2. Der eifersüchtige Knabe.1)
1. Im Allge, im Allge,
Da waren zwei Liebchen,
Die hattens einander so gern, gern, gern,
Die hattens einander so gern.
2. Der Jung-Graf zog in den Kriege,
Sein Herzliebste steht unter der Tür.
3. 'Grüss di Gott, du Hübsche, du Feine,
Von Herzen gefallest du mir.'
4. „Ich brauchs dir ja nicht zu gefallen,
Denn ich habe schon längstens ein Mann,
5. Und dazu an hübsche, an feine,
Deres mich ernähren kann."
6. Was zog er aus seiner Tasche?
Ein Messer, wo spitzig und lang.
7. Das stach er der Liebsten ins Herz hinein
Dass sie zu Boden sank.
8. Ihr Jungfrauen und Junggesellen,
Nehmt euch ein Exempel daran,
9. Auf dass keines dem andern verspreche,
Was es nicht halten kann!
3. Graf und Nonne.2)
1. Als ich stund auf hohen Bergen,
Schaut hinab ins tiefe Tal,
Da sah ich ein Schifflein schwimmen,
Wo darin drei Grafen waren.
2. Und der jüngste von den Grafen,
Die da in dem Schifflein waren,
Der gab einmal mir zu trinken
Einen Wein aus einem Glas.
3. Und er zog von seinem Finger
Ein goldnes Ringelein:
'Nimm es hin du hübsche Feine!
Dies soll ein Denkmal sein.'
4. „Ich weiss von keinem Andenken,
Weiss auch von keinem Mann:
In ein Kloster will ich gehen,
Will werden eine Nonn."
1) [Vgl. Erk-Böhme 1, 103 nr. 48. Die erste Strophe aus dem Liede ebd. 1, 170
nr. 49; vgl. Marriage, Badische Volkslieder nr. 19. Gassmann, Wiggertal 190G nr. 18.]
2) [Vgl. Erk-Böhme 1? '>L> nr. 89. Köhler-Meier, Volkslieder von der Mosel nr. 97.
Marriage nr. 3.]
Kleine Mitteilungen.
309
5. 'Willst du in ein Kloster gehen,
Willst du werden eine Nonn,
So will ich die Welt umreisen,
Auf bis dass ich zu dir komm.'
6. Und der Herr sprach zu dem Knechte:
'Sattle mir und dir ein Pferd!
Dann wollen wir die Welt umreisen,
Denn der Weg ist reisenswert'.
7. Als sie zu dem Kloster kamen,
Klopften sie ganz leise an:
'Gebt heraus diejenige Nonne,
Die zuletzt gekommen an!'
8. „Es ist keine angekommen,
Dürfte wohl auch keine heraus.'* —
'Das Kloster wollen wir erstürmen
Samt dem schönen Gotteshaus.'
9. Da kam sie herbeigeschlichen,
Schön weiss war sie gekleidt,
Ihre Haare abgeschnitten,
Und sie war zur Nonn geweiht.
10. Sie hiess den Herrn willkommen:
„Bist kommen aus fremdem Land?
Und wer hat dich heissen kommen,
Wer hat dich hergesandt?"
11. Der Herr fing an sich zu grämen,
Da ihn diese Red verdross,
Und ihm eine heisse Träne
Über die Wange floss.
12. Da gab sie dem Herrn zu trinken
Aus ihrem Becher Wein,
Und in vierundzwanzig Stunden
Schlief der Herr im stillen ein.
13. Und mit ihren zarten Fingern
Grub sie ihm ein Gräbelein,
Und mit ihren zarten Händen
Legte sie ihn selbst darein.
14. Und mit ihrer hellen Stimme
Stimmt sie ihm ein Grablied an,
Und mit ihrer zarten Zunge
Stimmte sie den Glockenton.
4. Der verschlafene Jäger.1)
1. Es wolltes ein Jäger wohl jagen
Drei Viertelstündlein vor Tagen,
Er ging den Wald wohl hin und her, ja, ja,
Er ging den Wald wohl hin.
2. Da begegnet ihm auf der Reise
Ein Mädchen in schneeweissem Kleide,
Sie war so wunderschön.
3. Er tätes das Mädchen wohl fragen,
Ob sie mit ihm nicht wollt jagen
Ein Hirschlein oder ein Reh.
4. 'Das Jagen, das versteh ich nicht.
Ein andres Vergnügen versag ich nicht,
Drum sei es was es sei.'
5. Sie setzten sich beide wohl nieder
Und spielten das Hin und das Wieder,
Bis dass der Tag anbrach.
6. 'Steh auf, du fauler Jäger!
Die Sonne scheint über die Berg,
Dein [!] Fräulein bin ich schon.'
7. Das wolltes den Jäger verdriessen,
Und wolltes das Mädchen erschiessen.
'Verzeihe mir diesmal!'
8. Der Jäger, der tät sich bedenken
Und will das Leben ihr schenken
Bis auf ein anderes Mal.
5. Die Strickerin.2)
1. 'I ka nimma stricke, hab Schmerze a'n Finger,
Sie tun mer so weh.'
„Strick, strick, meine liebe Tochter! j kauf der neu Schueh "
'Gelt, gelt, meine liebe Muttei und Schnalla derzue?' (Jodler.)
2. 'X ka nimma stricke, hab Schmerze a'n Finger,
Sie tun mer so weh.'
„Strick, strick, meine liebe Tochter! I jiauf ^ a Kueh."
'Gelt, gelt, meine liebe Mutter, und 's Kälble derzue?'
1) [Vgl. Erk-Böhme 3, 299 nr. 1438-1440. Köhler-Meier nr. 230. Bender nr. 87.]
2) [Erk-Böhme 2, 640 nr. 838. Bender nr. 136.]
310
W. Dörler, Schütte:
3. 'I ka nimma stricke, hab Schmerze a'n Finger,
Sie tun mer so weh.'
„Strick, strick, meine liebe Tochter! I kauf der a Schoss.1)
'Gelt, gelt, meine liebe Mutter, dann bin i wohl gross?'
4. 'I ka nimma stricke, hab Schmerze a'n Finger,
Sie tun mer so weh.'
„Strick, strick, meine liebe Tochter! I kauf der an Kranz."
'Gelt, gelt, meine liebe Mutter, dann gehn wir zum Tanz?'
6. Abschied von der Liebsten.2)
1. Muss es denn ein jeder wissen, 3. Eh ich mich zum Gehen wende,
Dass so viele Tränen fliessen, Reich mir deine weissen Hände
Dass mein Herz so traurig ist! Und dein schönes Angesicht!
Lebe, lebe wohl und vergiss mein nicht !
4. Auf dem Grabstein kannst du's lesen,.
2. Yater und Mutter wollens nicht leiden, Dass ich's dir bin treu gewesen,
Dass wir voneinander scheiden Treu gewesen bis in Tod.
In ein Land, wo's besser ist. Lebe, lebe wohl und vergiss mein nicht!
1. Die Kirschlein blühen weiss und rot,
Ade, ade, ade!
Die Kirschlein blühen weiss und rot,
Mein Schätzchen lieb ich bis zum Tod,
Ade, ade, ade!
7. Abschied im Frühling.
2. So reisen wir zum Tal hinaus,
Mein Schätzchen schaut zum Fenster heraus.
3. So steigen wir ins Schiff hinein,
Vielleicht soll's unser Grabstatt sein.
8. Die lederne Maus.3)
1. Heut Nacht fang ich a Maus,
Heut Nacht fang ich a lederne Maus,
A u a je lederne Maus.
2. Was tust du mit der Maus?
3. Ich zieh sie aus der Haut!
4. Was tust du mit der Haut?
5. Daraus mach ich ein Bund.
6. Was tust du mit dem Bund?
7. Darans tu ich das Geld.
8. Was tust du mit dem Geld?
9. Daraus kauf ich ein Weib.
10. Was tust du mit dem Weib?
11. Das Weib bekommt ein Bis.
12. Was tust du mit dem Bis?
13. Ich schick ihn in die Schul.
14. Was tut er mit der Schul?
15. Darin lernt er das ABC.
16. Was tut er mit dem ABC?
17. Dann wird er Offizier.
18. Was tust du mit dem Offizier?
19. Dann kommt er in den Krieg.
20. Was tut er mit dem Krieg?
21. Dort schickt man ihm den Tod.
22. Was tut er mit dem Tod?
23. Dann macht man ihm ein Grab.
24. Was tut er mit dem Grab?
25. Dann brennt man ihm ein Licht.
9. Vom Sterben.4)
1. Krank sein ist eine harte, harte Buss,
Gott weiss, wann man sterben muss.
Sterb ich heut, so bin ich morgen tot,
Vergräbt man mich in Röslein rot,
Im grünen, grünen Klee.
Heut sieht man mich, morgen nimmermehr.
1) = Schürze. —- 2) [Vgl. Erk-Böhme 2, -134 nr. 619. Köhler-Meier nr. 65. 177.
Bender, Oberschefflenzer nr- 40.] — 3) [Vgl. Böhme, Kinderlied S. 253: „Der
Schneider . . Kopp, oben 14, 71.] _ 4) [Erk-Böhme 3, 857 nr. 2159—2161. — Zu
Str. 4 vgl. ß. Köhler, Kl. Schriften 3, 293-318. Oben 11, 331. 12, 170.]
Kleine Mitteilungen.
311
2. Es kommen vier Männer ins väterliche Haus,
Sie tragen mich aus dem väterlichen Haus,
Sie tragen mich wohl über die Gassen,
Von jedermann bin ich verlassen.
Sie tragen mich in den Friedhof hinein,
Dort soll mein Grabes schon offen sein.
3. Wär mein Grabes auch noch so tief,
So wär mein Leib deren Würmer doch süss, so süss.
Und wenns der Glockenschall ausgeht,
So gehens die Freunde wieder nach Haus.
Sie teilen das Geld, sie teilens Gut
Und fragen nicht, wo meine Seele ruht.
4. Wenns der Himmel papierepiere war,
Und jeder Stern a Schreiber wär,
Hätt jeder Schreiber hundert Händ, künntens nicht verschreiben,
Was meine arme Seele muss leiden.
10. Die zehn heiligen Zahlen.1)
Guter Freund, ich frage dich:
Guter Freund, was fragst du mich?
Die zehn Gebote Gottes,
Die neun Chöre der Engel,
Die acht Stück zur Seligkeit, (
Die sieben Sakramente,
Die sechs steinernen Wasserkrüge mit rotem Wein,
Gott der Herr schenkts selber ein zu Kanaa Galiläa,
Die fünf Wunden Christi,
Die vier Evangelisten,
Die drei Patriarchen,
Die zwei Tafeln Moses
Und eins ist Gott allein, der da lebt und der da schwebt
im Himmel und aui Erden.
Guter Freund, ich frage dich:
Guter Freund, was fragst du mich.-'
(Nun geht die Reihenfolge zurück.)
Wien. Wilhelm Dörler.
Tierstimmen im Braunschweigischen.
(Oben 10, 211. 13, 91.)
Es ist eine Lust, zu sehen, wie nicht nur der Bauer, sondern auch der
gewöhnliche Arbeitsmann aui dem Lande die Stimmen der Tiere in W orte umzu-
setzen weiss. Ohne Frage ist es ein Zeichen von geistiger Regsamkeit, iönen
Worte unterzulegen. Und mit welcher Geschicklichkeit und wie guter Beobachtung
geschieht dies häufig! Das Gekrächze der Nebelkrähe, die man auf dem Lande
treffend Wamskrähe nennt, deutet man: „Wark wärk" (= wahre dich, nimm dich
in acht), während man den Raben schreien lässt: „Was ich hab', sagt der Rab'".
Den Finken hält der Bauer in manchen Orten mit einer Selbsttäuschung für einen
1; [Erk-Böhme 3, 825 nr. 2130f. Bolte, oben 11, 337. 13, 86.]
312
Schütte, Beck:
Regenverkündiger, wenn er ihn schlagen lässt: ,,'tgütt, 'tgiitt, 'tgiitt" (= es giesst).
Den Wachtelschlag, der in vielen Orten so sinnig gedeutet wird, erklärt man sich
in Hondelage bei Braunschweig als „Pott vull Grütt". Den frechen Spatzen lässt
man als Sittenrichter auftreten, indem man ihn in Hötzum schimpfen lässt: „Ik
Schill 'k" (= ich schelte dich). Des Hahnes Ruf wird in vielerlei Weise gedeutet.
Richtig mag früher die Angabe des Preises für ein Ei gewesen sein:
Eier sind düer,
Ein kost en Drier.
Hat er das Huhn getreten, so fragt er es selbstbewusst und übermütig: „Hat dik
de Hahne hackt?" oder er erklärt ihm seine Freude über die Ausübung seines
Amtes: „Et hat mik behaaaget" oder: ,,'t is wat Raret". Klagt aber das Huhn:
„Mik smarrt min Ars", so antwortet er einmal kurz und ohne Mitgefühl: „'k glob'
et" (= ich glaube es), ein anderes Mal aber tröstet er es halb hoch-, halb platt-
deutsch: „Es verzieht sich, et ward sik wol vertrecken". Wirft ein Junge nach
den Hühnern mit einem Steine, so taken sie erschreckt: „Schöllen 'n Dod von
hebben". Die eine Gans gackert in Wienrode bei Blankenburg a. H. der anderen
zu: „Philipp, Philipp, Zâre, Zâre, wa wulln min Hawern gah". Aber sie ant-
wortet: „Wa wa wa wa dort dat nich".
Von den vierfüssigen Tieren brüllt die Kuh, wenn sie ihr Futter aufgefressen
hat: „Wat en nu?" Auch die Ziege verlangt nach Futter: „Meck, bring mik her",
Bekommt sie nichts Ordentliches zu fressen, so meckert sie: ,,'t is en Ëlenne".
In dieser Weise liess man auch die Ziege des Lehrers in Flechtorf ihre Stimme
erheben; die des Pastors jedoch, die besseres Futter bekam, erwiderte: „Dat glöb:
ik nich". Ein Trunkenbold in Lebenstedt pflegte seiner Ziege und seinem
Schweine die Frage vorzulegen: „Hat de Mutter Geld?" Darauf antwortete die
Ziege stets „nëëëë" und kriegte dafür ihre Schläge, das Schwein aber bejahte die
Frage nach seinem Willen: „Hm, hm". Eine Ziege, deren Besitzer mit Vornamen
Josef hiess, rief diesen, wie er sich einbildete, immer mit seinem Namen. Da
sprach er zu seiner Frau: „Wo mag das Tier von wissen, dass ich Josef heisse?
Das geht nicht mit rechten Dingen zu, ich werde sie schlachten."
Die Katze miaut: „Melk, en bettchen Melk", der Kater: „Mau, ik sett' er op",
oder er ruft der Katze zu: „Kumm doch emal her", aber da sie weiss, was ihrer
wartet, möchte sie nicht kommen und entgegnet: „Deit ja so weih". Bekannt ist,
dass ein altes Schaf auf die Frage eines Lammes: „Blää, haste mine Mutter nich
eseihn?" antwortet: „Nä". In Denstorf bei Braunschweig lässt man aber das
Lamm weiter blöken: „Muttä". Darauf antwortet nun wirklich seine Mutter: „Wat
wutte?" Lamm: „Tittä". Mutter: „Na sau kumm her". Lamm (hell, vor Ver-
gnügen): „Blä". Mutter (recht tief und weniger vergnügt, denn sie wird recht
gezockt): „Blä".
Auf die bekannte Frage der Kuh: „Is de Hochtit nich balle ufe?" antwortet
der Hahn in Querenhorst bei Helmstedt: „Ritt (reitet) dik de Düwel?"
Den grossen und den kleinen Hund stellt das Volk gern gegenüber. Wenn
in Lebenstedt ein grosser Hund selbstbewusst bellt: „Ik bin von en groten Hof,
Hof, Hof", zeiht ihn ein kleiner Hund der Aufschneiderei, indem er berichtigt:
„Hei hat en lütjen Hof, hei hat en lütjen Hof". Ein anderer kleiner Hund ist
viel netter, denn auf das hochmütige Gebell des grossen Hundes, dass er von
einem grossen Hofe sei, erwidert er bescheiden: „Wie het en lütjen Hof, Hof,
Hof, un krieg' ik keine Wost, so krieg' ik doch Slüe, Slüe, Slüe" (= Wurstschale).
Auch dem Froschgcquake hat man bezeichnende Worte untergelegt. Man
lässt die Frösche im Zwiegespräche auftreten. Auf die Frage eines Frosches:
Kleine Mitteilungen.
313
„Vaddersche, wann êr back' ek ek ek?" antwortet diese: „Morgen, morgen,
morgen". Auch ihr Liebesleben hat man beobachtet. Das Männchen bittet das
Weibchen: „Bör mik eraal erop rop rop". Aber da dies kein Verlangen nach ihm
hat, weist es ihn hart ab: „Ik böre dik nich rop, un wenn du glik vorreckeckeckest".
Ein andermal jedoch ist der Frosch nicht zur Liebe geneigt und entgegnet auf die
Bitte der Fröschin „Jakob, Jakob, bör mik emal erop rop rop": „Ik pimpere dik
nich, un wenn du vorreckst".
Und nun noch eine Äusserung des Fuchses, der den Beutel eines Bullen be-
trachtete. Da er ihm lose zu sitzen schien, so dachte er, er würde jeden Augen-
blick abfallen. Daher folgte er dem Bullen bis vor den Stall. Als sich aber
seine Hoffnung nicht erfüllte, rief er enttäuscht aus:
„Dat harre ik doch esworen,
Dat de Bulle härre den Büdel verloren."
Braunschweig. Otto Schütte.
Ein Wettersegen aus dem sechzehnten Jahrhundert.
In einem Buche, das sich im Kapuzinerkloster zu Bregenz befindet und den
Titel führt: 'Thielman Kerver, Höre beate marie virginis, Paris, Gillet Remacle
1520', befindet sich auf den Einschlagsblättern folgender handschriftliche Wettersegen:
£Fur das Vngewitter sprich aliso:
Die Muoter Gottes gieng vberlanndt, | was fuort sy an irer Hand? | Sie fuort
iren trauthen Lieben Sun in ierer gottlicher Hand, j Muoter liebe Muoter mein, |
wier fert so ain schweres wetter dort herein? ¡ Sune lieber sune mein, | Heb auf
dein gottliche Hand | Ynnd sprich den segen vber mich vnnd dich vnnd vber
alle Land | Ynnd trib das wetter in das Rotte meer, | Berg vnnd Spitz, | Da
weder Vieh noch Leüt ist, | in nomine Patris et fily et spiritus saneti Amen. — |
Caspar, Melchior, Baltassar, | Dreybt daß wetter in dai rote meer | Vnnd an die
Spitz vnnd Berg, | Da weder Vieh noch menschen wonen mag, | in nomine patris
et fily et spiritus saneti, Amen. — ¡ Jesus Nazarenus Rex Judeorum, Dreyb das
wetter in das Rote moer Vnnd an die berg Vnnd Spitz, Da weder Vieh noch
Leut ist in nomine patris et fily et spiritas saneti, Amen. — Ich bevilch mein
Vnd meiner nachbauren Leib vnnd Seel Hab vnnd Frucht in den Schiiirm Hand
vnd gwallt Got def Vatters Suns vnd Haiiig gaists Amen.
Der Segen wurde, wie die beigefügte Jahreszahl bezeugt, 1573 ins Buch ge-
schrieben, und zwar von dessen erstem Besitzer, Frater Franciscus Busman,
Parochus, der leider den Namen seiner I fari ei nicht angibt. Er muss übrigens sonst
ein sehr frommer Herr gewesen sein; denn in die Endblätter des Buches schrieb er
eine andächtige 'Praeparatio ad missam' und auf die Innenseite des Deckels klebte
er ein Marienbild, das er im nämlichen Jahre 1573 mit der Inschrift schmückte:
Alma tu am serva Genitriz pia virgo cohortem
Quae te candidula mente togaque colit
Virgo miserere mei: miserere ineorum
Affice me meritis tempus in omne tuum
Im Jahre 1574 fügte er noch die Worte bei: '0 Maria Mater Dei miserere
mei' und im Jahre 1578 den Keimspruch1):
0 dulcis amica Dei, rosa vernans atque decora,
Memor esto mei, dum mortis uenerit hora.
1) [Offenbar zwei leonmische Hexameter; das 0 gehört an den Anfang des zweiten.]
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 21
314
Beck, v. Schulenburg, Abeking, Zachariae, Kaindl:
Wir dürfen darum wohl annehmen, dass er das Abergläubische in seinem
Wettersegen nicht erfasste und diesen optima fide gebrauchte. Wir werden mit
dieser Annahme auch der Mahnung gerecht, die der gute Pfarrer an den Schluss
des Buches setzte: Omnia si perdas, famam servare memento!
Ravensburg. Paul Beck.
Alte Türriegel.
In den alten Bauüberlieferungen (oben 16, 76) bemerkt Herr Mielke: „Da-
gegen ist die spätere verwandte Vorrichtung, durch einen schweren Balken die
Tür zu sperren, welche in den Lagelöchern an Kirchen- und Befestigungstoren
zu sehen ist, ebenfalls schon als Riegel in der Antike bekannt." Solche Türriegel
sind auch heute noch in alten Bauernhäusern im Berchtesgadener Ländchen
zu finden. Wenigstens habe ich wiederholt in einem solchen Hause (das urkund-
lich seit 1389 besteht) gewohnt. Die Tiir, durch die man auf den 'Hausgang'
(Flur) gelangt, ist verschliessbar durch ein eisernes Sehloss. Inwendig, links von
der Tür, etwa in halber Türhöhe, ist ein langes Loch in der Mauer, 85 cm tief
hinein und 8 cm im lichten. Darin liegt ein ebenso langer und fast ebenso starker
hölzerner Klotz, der 'Riegel'. Vorne daran ist ein Leder befestigt, um ihn vorzu-
ziehen. Immer nachts, aber auch bei Tage, zumal wenn Frauen und Mädchen
allein zu Hause sind, zieht man ihn vor die Tür. Will man sie öffnen, schiebt
man ihn wieder in die Wand zurück. Besonders Sonntags vormittags, während der
Kirchenzeit, schliessen sich in Ober bay ern vielfach Frauen und Mädchen, die zurück-
bleiben, sehr sorgfältig ein, aus Furcht vor durchziehenden Strolchen und fahrendem
Volk, wegen der Landstrasse (Mitteilungen der Anthropol. Ges. in Wien 16, 6*2. 1896).
Ein ebensolcher Riegel ist vorhanden für die Tür am anderen Ende des Hausganges.
Zehlendorf. Wilibald v. Schulenburg.
Ein Aberglaube der portugiesischen Seeleute.1)
Die Matrosen von Peniche (nördlich vom Kap da Roca, Estremadura) sind
sehr fromm. Ihre Schutzheiligen, die sie 'Corpo santo' anrufen, sind San Pedro
Goncales und Vicente Ferreira. Bei den alljährlichen grossen Kirchenfesten werden
dem Heiligen Pedro Goncales kleine grüne Wachskerzen in die rechte Hand ge-
steckt und angezündet. Hunderte von solchen Lichtern kommen während des
Gesanges in die Hand des Heiligen und werden danach an alle, die sich zum
täglichen Kampf aufs Meer begeben, verteilt. Jede Barke, jedes der kleinen, ge-
brechlichen Fahrzeuge führt solches Licht, das, beim Unwetter angezündet, den
Schutz der Heiligen gegen Blitzschlag anruft und gutes Wetter herbeiführen soll.
— Corpo santo nannten aber die alten Seeleute die blauen Flämmchen elektrischer
Entladungen, die sich bei Gewittern häutig an den Mastspitzen zeigen (St. Elms-
feuer), und glaubten den Körper des Heiligen darin zu schauen, der gutes Wetter
verkündigt. Daraus entstand im 14. Jahrhundert der Gebrauch, die brennenden
Kerzchen mitzuführen, um jenes Schutzmittel vor Gefahr auch dann zu haben,
wenn sich die elektrische Entladung verzögert oder gar nicht erscheint.
Charlottenburg. Marie Abeking.
1) Nach Antonio Maria. Souto Cervantes, Revista lusitana 1, 91 f. — [Über das St.
Elmsfeuer vgl. Bassett, Legends and superstitions of the sea 1885 p. 302. Sébiilot,
Légendes de la mer 2, 87 (1887).]
Kleine Mitteilungen.
315
Ein merkwürdiger Fall von 'Durchziehen'.
Cäsarius von Heisterbach erzählt in seinem Dialogus miraculorum 2, 26, wie
an einem Judenmädchen auf ihr eignes Ansuchen die heilige Taufe vollzogen
wird; sie erhält den Namen Elisabeth. Einige Tage darauf begegnet ihr ihre un-
gläubige Mutter und versucht, ihre Tochter zum Judentum zurückzuführen: sie
wisse ein Mittel, wodurch sie die Taufe aufheben könne. Auf die Frage der
Tochter, wie sie das machen wolle, erwidert die Jüdin: 'Ego tribus vicibus te
sursum traham per foramen latrinae, sicque remanebit ibi virtus baptismi tui'. —
Quod verbum puella audiens et exsecrans, contra matrem spuit, fugiens ab illa.
Zu dem dreimaligen Durchziehen vgl. diese Zeitschrift 12, 113; zum Durch-
ziehen durch das Loch des Abortes den Brauch norwegischer Frauen, „qui font
passer leur enfant malade par la lunette d'une latrine" (Nyrop bei Gaidoz, Un
vieux rite médical 1892 p. 54).
Halle a. S. Th. Zachariae.
Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes.
I. Drei historische Volkslieder der Bukowiner Ruthenen.
Nichts hat unseren Bauern mehr bedrückt, als der Herrendienst, die Robot.
Die Schilderung ihrer Leiden und die Freude über deren Aufhebung bildet den
Inhalt der folgenden drei Lieder, die wohl zu den wertvollsten Erzeugnissen
unserer Volkspoesie zählen. In ihnen spiegelt sich die Bewegung des Jahres 1848
wieder; sie sind ein Beweis, dass die Quelle und Kraft der Volkspoesie nicht er-
loschen ist, und dass es nur eines starken Anstosses bedarf, um sie wieder an-
zuregen. Den Urtext der Lieder habe ich im Etnograficznyj Zbirnyk 5 (Lemberg)
mitgeteilt. Ich beschränke mich hier daher auf die Mitteilung der Übersetzung
und die nötigen Anmerkungen.
A. Der Bauernaufstand in Toutry.1)
„Hei, hei im Brünnlein ist frisches Wässsilein; zur Zeit des Herrn Armeniers war
der Herrendienst schwer. Und als der Heri Moldauer kam, war's um die Robot (nicht)
leichter: durch die ganze Woche Herrendienst und am Samstag 'Klaba' (ebenfalls eine
Art unentgeltlicher Arbeit); am Sonntag aber, am Sonntaglein, da alle Glocken läuten,
treiben die Watamanen (Aufseher) das ganze Dorf zur Abrechnung. Auch ich kam vor
den Herrn und stellte mich zur Rechnungslegung. Da sagte der Herr: Futajmasa
(Schimpfwort), hast keine Henne gebracht. Ich ging nach Hause und wollte die Henne
fangen; da machte der Geschworene Anstalten, mein Weib für die Czerdaken (d. h. für
1) Toutry ist ein ruthenisches Dorf im Norden der Bukowina. Um das Jahr 1830
war hier der moldauische Bojar Janko Donicz Aga Gutsbesitzer; im Liede erscheint er
als „Moldowan". Dieser liess das Gut zumeist durch Pächter bewirtschaften; einer von
ihnen war der Armenier Holobasz, im Liede kurzwegs Wennenen (der Armenier) genannt.
Infolge der harten Herrschaft dieser Männer kam es in Tontry 1830 zu einem Bauern-
aufstand, der mit Militärmacht unterdrückt werden musste. Der Kreiskommissär Apian
leitete sodann die Untersuchung gegen die Rädelsführer. Einer der Zeugen, ein blinder
Mann, soll vor diesem Kommissär seine Äusserung jn Versform abgegeben haben; dies
soll unser Lied sein. Ob indessen dies sein wahrer Ursprung ist, konnte bisher nicht
festgestellt werden, denn historische Zeugnisse für die behandelten Ereignisse sind bis
jetzt nicht gefunden worden. Vom Liede selbst kann nur Anfang und Ende mitgeteilt
21*
316
Kaindl :
die Vernachlässigung des Grenzwachdienstes1) zu schlagen. Ich eilte in die Stube und
konnte mich kaum niedersetzen, da forderte schon der Zehntmann (Dessetnyk), dass vor
der Hütte den Soldaten Essen gegeben würde....."
Das Lied ergeht sich weiter in ausführlicherer Erzählung über die Bedrückung
des Volkes, seine steigende Unzufriedenheit, den Ausbruch des Aufruhrs und seine
Unterdrückung durch Militärmacht. Auf einen Sieg der Bauern über die Soldaten,
der aber wohl nur ganz vorübergehende Bedeutung hatte, scheinen sich die an-
geblichen Schlussverse zu beziehen:
„Herr Bruder, Herr Bruder, aber (die Soldaten) Hohen, dass sie an den Gesträuchern
ihre breiten Kleider zerrissen".
B. Die Aufhebung der Robot.2)
Der Kuckuck rief von Hain zu Hain, als das Herrendienstlein aus unserem Lande
zog. Als es aus dem Lande floh, fingen es die Herrlein: „Herrndienstlein, unser liebes,
■wie gut haben wir gelebt!" — Popen und Kirchensänger kamen zusammen und begannen
zu lesen: „Kommt, kommt am Mittwoch, den Herrndienst zu beerdigen!" Den Herrn-
dienst haben sie beerdigt und ein Kreuz über ihn aufgestellt. Dabei haben aber alle diese
Toren traurig geweint. — „Weinet nicht, ihr Narren, das wollten wir; bisher arbeiteten
wir die ganze Woche, und niemand nahm Rücksicht auf uns; wir arbeiteten (dem Herrn)
die ganze Woche und für uns bloss am Samstag; kam aber der Herr heraus, so fluchte
er über unsere Faulheit. — Nun werdet ihr Herrlein wissen, wie ihr uns schätzen sollt,
wenn ihr nun selbst das Getreide schneiden werdet und die gnädigen Frauen es binden
werden.3) — Gedankt sei Gott und unserm Kaiser, dass das Herrndienstlein dem ganzen
Lande nachgesehen wurde; gedankt sei Gott und der allerhöchsten Kaiserin, dass das
Herrndienstlein der ärmsten Witwe geschenkt ist; gedankt sei Gott und dem allerhöchsten
Kreuze, dass wir nicht mehr die Garngespunste spinnen und keine Hühner (für den Guts-
herrn) tragen.4)
werden; den ganzen Text vermochte ich bisher nicht zu erhalten. Die Mitteilung, dass
dasselbe schon 1830 in einer Lemberger Zeitung (Rozmaitosci, Beilage zur Lemberger
Zeitung 1830) gedruckt worden sei, hat sich beim Nachsuchen nicht bewahrheitet.
1) Czerdake = Wachhütte. Die Einrichtung und Erhaltung derselben, zum Teil auch
der Wachdienst selbst war Sache der Bauern. Die Überlieferung sagt, dass dieser Wach-
dienst wegen der in Russland ausgebrochenen Pest damals zu leisten war. Tatsächlich
war dies damals der Fall. Vgl. meine Ausführungen im Jahrbuch des Buk. Landes-
museums VII über Friedrich Graf Hochenegg, der damals den Kordon komman-
dierte.
2) Ruthenisch, aus der nördlichen Bukowina. Die Aufhebung des Untertans-
verhältnisses erfolgte im Jahre 1848. Zum Andenken daran wurden in vielen Dörfern
Kreuze aufgestellt, die noch jetzt sorgsam erhalten werden. Die Auffassung, dass es sich
hierbei um eine Beerdigung der Robot handelte, ist interessant und stimmt völlig damit
iiberein, dass vor einigen Jahren, als hier der Branntweinprophet auftrat und gegen die
Trunksucht eiferte, an vielen Orten der Branntwein feierlich zu Grabe getragen, eine
Branntweinflasche verscharrt und darüber ein Kreuz aufgestellt wurde. Man vergleiche
meinen Artikel „Der Prophet" in der Münchener Allgem. Zeitung 1894, Nr. 254 (Morgen-
blatt) und ebenda 1898, Beilage S. 8. Die Bemerkung, dass nur der Samstag dem Bauern
für ihre Arbeit übrig blieb, beruht auf Übertreibung. Man vergleiche meine Schrift
„Das Untertanswesen in der Bukowina" (Wien 1899). Hier auch das Nähere über die
verschiedenen Verpflichtungen der Bukowiner Bauern; zu den Kleingaben gehörten auch
die Garngespunste und Hühner.
3) Tatsächlich wollten die Bauern nach der Aufhebung der Robot im Sommer und
Herbst 1848 auch gegen Bezahlung keine Arbeit verrichten.
4) Den Urtext findet nian im Etnogr. Zbirnyk 5.
Kleine Mitteilungen.
317
C. Yäterclien Kobylycia (Batkio Kobylycia).1)
Hört gute Leute, was ich sagen will, das ist ein neues Lied, das ich singen will.
— Es ist ein neues Lied, das ich singen will: es begannen die Abgeordneten mit den
Herrn zu verhandeln. — Es sagten die Abgeordneten, dass bessere Verhältnisse (für die
Bauern) eintreten werden. Versammeln wir uns; es wird eine Kommission (Untersuchung)
stattfinden. — Also versammelten sich die Bauern in grosser Zahl und gingen zum
Marszewka zur Beratung. — Habt ihr, liebe Leute, schon eine solche Neuigkeit gehört?
Kobylycia hat mit dem Marszewka eine Bittschrift verfasst. — Er hat sie geschrieben und
ans Kreisamt geschickt; aber es kamen zu ihm Soldaten etwa ein halbes Regiment. —
Oj, man sattelt dem Starosten schwarze Pferde und führt nach Putilla zwei Kompagnien
Soldaten. — Oj, sie kamen nach Storonetz, stellten sich dort auf in Reih und Glied; die
Weiber freuten sich dennoch darüber. — O möchtet ihr Weiber von der Krankheit hin-
gerafft werden, dass ihr zu den Soldaten zusammenlaufet wie die Juden in die Schule
(Synagoge)! — Der Apfelbaum mit dürrem Wipfel will nicht Früchte tragen; schon zogen
sie aus, den Kobylycia in Ploska zu fangen. — Dort haben sie ihn überlistet und ihm die
Klage vorgelesen, und haben ihn dort sofort gefesselt. — Sie haben ihn gebunden, hole
ihn der Henker; auch haben sie dem Kobylycia seine Hütte in Krasnodice zerstört. — Sie
haben ihn gebunden mit dünnen Schnüren und haben ihn geführt ilussabwärts nach
Storonetz. — Sie führten ihn nach Storonetz und traten vor dem Herrn; keinen grossen
Ruhm gewann Kobylycia davon. — Es kamen alle Herrlein zusammen, es kamen alle
Heger (Aufseher), und schlugen Kobylycia in eiserne Bande.2) — Ei, Herr Dzurdzuwan,
dir gehört ganz Wiznitz; es geht in Czernowitz (im Gefängnis) Lukien Kobylycia zugrunde.
— Oj Herr Dzurdzuwan, verkauf die grauen Ochsen und löse den Kobylycia aus diesem
Kerker! — O mau schlachtet graue Ochsen, es teilen sich die Soldaten; Herr Dzurdzuwan
ist ein berühmter Herr, ihm tun sie nichts. — Habt ihr gehört, gute Leute, eine solche
Tat? Man eroberte Putilla im grossen Fasten. — Man eroberte Putilla von allen vier
Seiten; man schrieb von Putilla, dass hier lauter Räuber wohnen. — Man eroberte
Putilla im grossen Fasten und nahm alle Erdäpfel weg, so dass nichts für Same übrig
blieb.
2. Das Ortschaftslied.
Das folgende Lied ist eines der interessantesten, die mir begegnet sind.
Seine Form ist zwar unbeholfen, aber sein eigentümlichei Inhalt zeichnet es vor
vielen andern aus- Es werden nämlich m demselben die am Ozeremosz und
dessen „weissen" Quellfluss (weissen Czeremosz) gelegenen Orte aufgezählt und
1) Ruthenisch-huzulisch. Aufgezeichnet ■von Herrn Pfarrer Georg Hanicki in Sergie,
gegenwärtig Konsistorialrat in Czernowitz. Kobylycia stand schon im Jahre 1843 an der
Spitze eines wegen Urbarialstreitigkeiten ausgebrochenen Aufstandes (Vgl. meine Schrift
„Das Untertanswesen in der Bukowina" S. 124). Dann war er 1848/49 der erste Reichs-
tagsabgeordnete aus dem Huzulengebiet; zugleich leitete er einen neuen Aufstand der
Huzulen gegen ihre Grundherrn. Das Nähere über ihn in meiner Schrift „Die Bukowina in
den JahreD 1848/49". Wiznitz, Patilla oder Storonetz, Sergie, Ploska, Krasnodiu sind
Orte im Bukowiner Anteil des Huzulengebirges. Marszewka war offenbar Ortsrichter und
Vertrauensmann der Bauern; Dzurdzuwan Gutsherr.
2) Wörtlich heisst es: „und bestiefelte Kobylycia mit eisernen Hufeisen". Ich wählte
die obige Übersetzung, weil von einer so grausamen Behandlung Kobylyciasj wie sie die
Worte des Liedes andeuten, sonst keine Nachricht vorhanden ist. Dagegen muss fest-
gestellt werden, dass nach mündlichen Mitteilungen ¿es 1891 verstorbenen Finanzrats
Franz Adolf Wickenhauser, des bekannten Bukowiner Historikers, ein Bukowiner Gutsherr
einem Untertan, der mit Klagen in Czernowitz oder Wien gedroht hatte, Hufeisen an die
blossen Füsse annageln liess, mit der höhnischen Bemerkung: «Das 8'ebe ich dir mit auf
den Weg". Vielleicht spiegelt sich in den Worten des Liedes eine Erinnerung an einen
derartigen Vorgang.
318
Kai n dl:
über jeden ein mehr oder weniger charakterische Bemerkung gemacht. Das Lied
stammt von einem Zimmermann aus Alt-Kuty (Galizien), der jahraus, jahrein
seinen Weg längs des Czeremosz hin- und zurückgewandert war. Die lange
Reihe von Ortschaften, die er auf dieser Wanderung berührt und an die ihn allerlei
Beziehungen knüpfen, besingt das Lied.
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Kuty,
Dort kann man sich im Herbst auf den Hochzeiten gut unterhalten.
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Tudiow,
Sie (die Tudiower) holen sich Knoblauch zahnweise aus Kuty.1)
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Gross-Rozien,
In dem man zu keinem Hause mit einem Wagen gelangen kann.2)
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Rostoki,
Dort habe ich vier Ziegen verdient, und alle waren an den Seiten weiss.
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Hubki,
Wo sich so stolze Leute versammelt haben.
Es gab nichts und wird nichts geben über Bilobereska,
Wo man zur Marie den Steg nicht finden kann.
Es gab nichts und wird nichts geben über Chorocow,
Wo mir das Mädchen Paraska gefallen hat.
Es gab nichts und wird nichts geben über Barwinków,
Weil dessen Bewohner mit dem in der Klause wohnenden Milcewicz
den Weg hinter dem Berg gemacht haben.
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Uscieryki,
Wohin ich auch gehe, ich kehre immer beim Seelchen (d. h. bei der
seelenguten) Marika ein.
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Stebne,
Wo es wohl vier Ochsen bei der Hütte gibt, aber nicht ein Hälmchen
Heu.
Es gab nichts und wird nichts geben über Dolhopole,
Welche Schmerzen habe ich Armer um eines Mädchens willen!
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Fereskul,
Wo mir Wohlgefallen hat ein Mädchen namens Paraska,
Es gab nichts und wird nichts geben über Jablonitza,
Es trat ein Zigeuner auf die Strasse und entblösste den H.....
' Es gab nichts und wird nichts geben über Jablonów3),
Ich singe da ein bischen und gehe nach Hause.
Es gab nichts und wird nichts geben über das Dorf Hryniawa,
Vier Ochsen treibe ich mir auf die Alm,
O ich treibe, treibe, am Hramitne-Bach werde ich ruhen,
Das Pferdchen werde ich absatteln und mir eine Kulescha4) kochen.
Es gab nichts und wird nichts geben über Holoszyna,
Wro ich lieben lernte ein Mädchen Wasylyna.
Es gab nichts und wird nichts geben über Szekmaniuka,
Wo mir wohlgefiel eines reichen Wirtes Tochter.5)
1) Tudiow liegt unmittelbar neben Kuty; die Tudiower können also jederzeit in
dieser Stadt sein und brauchen nicht grosse Vorräte heraufzuschaffen.
2) Vor einigen Jahrzehnten galt dieses Merkmal von den meisten Huzulendörfern;
gegenwärtig gibt es aber fast überall gebahnte Wege.
3) Gehört nicht in c^e Reihe der Ortschaften am Czeremosz; dieser Ort geriet nur
wegen seiner Namenähnlichkeit zu Jablonitza hierher.
4) Dicker Maisbrei, nichtigstes Nahrungsmittel der Landbevölkerung in diesem
Gebiete.
5) Das Original des Liedes habe ich im Etnograficzny Zbirnyk veröffentlicht.
Kleine Mitteilungen.
319
3. Sagen vom Herrn Kaniowski.1)
Einst stand Herr Kaniowski (Fan Kaniowski) im Winter am Fenster, da sah
er einen Juden vorübergehen. „Kannst du, Jude, wie ein Kuckuck rufen?" fragte
Kaniowski. „Ja, Herr!" lautete die Antwort; denn niemand wagte dem Mächtigen
zu widersprechen. „So steig auf jenen Baum und rufe!" Der Jude tat es. Darauf
schrie Kaniowski zum Fenster hinaus: „Was für ein Kuckuck ist das, der im
Winter ruft? Solch einen dulde ich nicht"; er ergriff sein Gewehr und schoss
den Juden vom Baume. [Vgl. die oben 6, 74 angeführten Märchen.]
Ein andermal geschah es, dass zu einem Kirchweihfest viele Leute an seinem
Hause vorbeizogen. Da trat Kaniowski vor die Tür und lud einen Zug der Vor-
übergehenden ins Haus. Hier liess er sie bei einem reichgedeckten Tisch Platz
nehmen und befahl ihnen zuzugreifen. Dieser Aufforderung leisteten die Leute
mit Freude Folge. Sie waren aber unsorgfältig und verdarben eine Menge von den
Speisen. Als sie sich an dem Essen gesättigt, noch mehr aber verderbt hatten,
wollten sie Abschied nehmen. Da rief aber Herr Kaniowski seine Kosaken herbei,
liess die bösen Gäste ergreifen und jedem derselben eine Tracht Prügel verab-
reichen. Später stand Herr Kaniowski wieder vor dem Hause und lud eine neue
Schar ein. Trotzdem schon die Kunde sich verbreitet hatte, wie er seine früheren
Gäste behandelt hatte, wagten die Eingeladenen nicht auszuschlagen. Nachdem
sie gegessen und getrunken hatten, blieben sie bei der Türe stehen. „Warum geht
ihr nicht?" fragte Kaniowski. „Wir haben gehört, dass Ihr Eure Gäste nach der
Bewirtung zu prügeln pflegt", antworteten jene demütig. „Das tue ich nicht
ordentlichen Leuten, sondern nur Lumpen, welche die Gaben Gottes nicht schonen.
Jene haben mehr verderbt als genossen, ihr aber habt nur gegessen und getrunken,
um Hunger und Durst zu stillen. Geht mit Gott!"
So hat Herr Kaniowski bald mutwillige Streiche ausgeführt, bald trat er aber
für Recht und gute Sitte ein, ganz wie es ihm gerade einfiel. Besonders gern
schützte er die Armen gegèn die Bedrückung durch die Reichen. So geschah es
einmal, dass ein armer Teerhändler, der durch die Dörfer zog und den Bauern
Wagenschmiere für ihre hölzernen Wagenachsen verkaufte, auf der Strasse einher-
fuhr. Im Wäglein lag sein Teerfass, das sein ganzes Vermögen enthielt. Da
kam ein Pope mit stattlichem Gespann rasch herangefahren. Der Bauer konnte
ihm nicht schnell ausweichen, da fuhr der Pope mit seiner Deichsel in das Fass
und stiess diesem den Boden aus. Aller Peer lloss nun auf die Strasse, und
wehklagend stand der arme Händler neben seinem A\agen; der Pope aber fuhr
rasch davon. Es währte indessen nicht lange, da kam Herr Kaniowski mit seinen
zehn Kosaken, die ihn stets begleiteten, geritten. „Warum klagst du?" fragte er
den Mann. Dieser erzählte das Geschehene. Da befahl Kaniowski sofort seinen
Kosaken, dem Popen nachzueilen und ihn herbeizuholen. Dies geschah; nach
einiger Zeit führten die Reiter den Lbeltäter herbei. „Was hast du getan?"
1) Erzählt von dem Arbeiter Josef Krzysztalowicz aus Husiatyn (Galizien). Kaniowski
ist eine historische Persönlichkeit. Sein eigentlicher Name war Nikolaus Potocki; er lebte
1712—1782 und war Starost (hoher polnischer Beamter) von Kaniów. Nach diesem Ort
iührt er seinen Beinamen. In Ostgalizien hatte er reiche Besitzungen; in Buczacz hielt er
sich gern auf. Daher wird in diesen Gebieten viel von ihm erzählt. Husiatyn und Sniatyn
liegen auch hier. Mitteilungen über ihn findet man im Etnogr- Zbirnyk 6, 285 ff. 8,
133ff., ferner Zapyski der Lemberger Sevcenko-Gesellschaft 41, Miscellanea S. 4ff. In
den Erzählungen spiegelt sich ein gutes Stück der ungezügelten Macht und Willkür der
polnischen Starosten und Gutsherren. Übrigens sind auch diese Volksüberlieferungen
Zeugnisse moderner Sagenbildungen.
320
Kaindl, Adrian:
fragte Kaniowski. „Warum ist er mir nicht beizeiten ausgewichen?" antwortete
der Pope trotzig. „Das hättest du leichter tun können; nun steig vom Wagen
herab und schlüpfe in das Fass!" Vergebens versuchte der Pope den Herrn
Kaniowski zur Zurücknahme seines Befehles zu bewegen. Er musste in das Fass
schlüpfen und wurde mit diesem umhergewälzt, bis er über und über mit Teer
bedeckt war. Darauf musste er den Schaden des Teerhändlers ersetzen, und erst
dann durfte er seines Weges weiterziehen.
Einst liess Herr Kaniowski in Husiatyn eine schöne Kirche bauen. Als diese
fast fertig war, fragte er die Meister, ob sie wohl noch ein stattlicheres Gottes-
haus bauen könnten. „Warum denn nicht", antworteten diese, „sobald wir mit
diesem fertig sein werden, wollen wir an einem anderen Orte eine viel grössere
und schönere Kirche bauen." Dies verdross den Herrn. Als die Meister oben
am Turmdach beschäftigt waren, liess er die Gerüste abtragen, so dass sie nicht
herunterkommen konnten. Da verfertigten sich die Meister Flügel aus Holz und
versuchten mit deren Hilfe herabzugelangen. Einige von ihnen retteten sich auf
diese Weise; andere fielen aber in den Fluss und ertranken.1)
Einst lud den Herrn Kaniowski der Kaiser ein, dass er nach Wien komme,
doch sollte er im Schlitten gefahren kommen, trotzdem Sommerzeit war. Da liess
Kaniowski in allen Zuckerbäckereien den Zucker aufkaufen und bestreute damit
die Gassen. So fuhr er zum Kaiser. Nach anderer Meinung musste Kaniowski
zum Kaiser weder bekleidet noch nackt, wTeder reitend noch zu Fuss kommen.
Da hüllte er sich in ein Fischernetz und setzte sich auf einen grossen Hund, so
dass die Füsse auf dem Boden schleiften. [R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 446f.]
Ein allgemein verbreitetes Lied erzählt folgendes: Auf einer Tanzunterhaltung
in Sniatyn war auch eine junge Bodnariuna (Fassbinderin) erschienen. Kaniowski
kam zum Feste und tat ihr schön. Sie verstand aber keinen Spass, gab ihm einen
Schlag und ergriff dann die Flucht. Von den Kosaken des Herrn erreicht, zog
sie es vor, zu sterben, als sich dem Herrn zu ergeben. Mit den Klagen um die
Tote und der Schilderung der Leichenfeier endet das Lied.
4. Totenhochzeit.
In dem eben erwähnten Liede von der Fassbinderin und Herrn Kaniowski
heisst es, dass man die Tote für die Beerdigung „wie zur Trauung" kleidete.2)
Das ist keine blosse Phrase. Es sei gestattet, zur Erläuterung folgende von mir
schon einmal im „Globus" gebrachten Mitteilungen zu wiederholen:
Bekanntlich hat 0. Schräder in seinem Vortrag 'Totenhochzeit' (Jena 1904)
den Beweis erbracht, dass schon in der indogermanischen Urzeit bei den Leichen-
begängnissen auf das weitere Schicksal des Toten im Jenseits Rücksicht genommen
wurde, insbesondere Unverheirateten auch ein Weib mit aller Feierlichkeit an-
getraut wurde. Schräder verweist auch auf allerlei Beweise, aus denen hervor-
geht, dass bei den Slawen die symbolische Darstellung einer ganzen Hochzeit bei
Leichenbegängnissen üblich war. [Oben 15, 232.] Zu diesen Ausführungen hat im
Zentralblatt für Anthropologie 10, 147 f. A. Brunk (Osnabrück) aus Pommern einige
Nachträge gebracht. Auch ich möchte zu dieser höchst interessanten Arbeit, die
in schlagender Weise die hohe Bedeutung volkskundlicher Forschungen dartut,
1) Vgl. ähnliche Überlieferungen aus Wassileu am Dniester (Bukowina), mitgeteilt
von mir in der Zeitschr. f- österr. Volksk. 8, 238f.
2) Pisîaly starenku w selo po berwinok, tak ubraìy bodnariwnu jak do slubu diwku,
d. h. sie schickten die Alten ins Dorf um Immergrün und kleideten die Fassbinderin wie
ein Mädchen zur Trauung. Immergrün dient zur Herstellung des Brautkranzes.
Kleine Mitteilungen.
321
aus meinem engeren Studiengebiete einige Mitteilungen machen. Bei den Huzulen
(Gebirgsruthenen in den Karpathen) sind Gebräuche üblich, die deutlich auf die
Totenhochzeit weisen. Ich habe darauf schon in meinen „Huzulen" (Wien 1894)
hingewiesen. „Ausser den sonstigen Vorbereitungen zur Beerdigung wird, wenn
der Verstorbene ein Kind oder doch ledig war, für denselben noch ein Kranz ge-
flochten und ein Bäumchen (deryuce) mit weisser und roter Wolle geschmückt,
Vorbereitungen, die man, wenn der Verstorbene es erlebt hätte, für seine Hoch-
zeit gemacht haben würde. Das Bäumchen wird neben die Leiche gestellt, auf
dem Wege zur Kirche und zum Friedhofe aber der Leiche vorangetragen, um
schliesslich auf dem Grabhügel aufgesteckt zu werden." Über die Holle des
Bäumchens bei der Hochzeitsfeier wolle man den betreffenden Abschnitt in den
„Huzulen" nachlesen. Ferner ist hier der Text eines huzulischen Klageliedes, das
einem Kinde gilt, zu erwähnen. Es lautet: „0, du silberner, goldener Engel,
warum hast du uns verlassen...? Warum hast du dir solch eine Hochzeit ge-
wählt? Warum wolltest du mir nicht die Augen zudrücken, sondern ich musste
dir diesen Dienst erweisen? Warum willst du zu mir nicht sprechen...?" In
Czernowitz und Umgebung pflegt man bei den deutschen, rumänischen und
ruthenischen Einwohnern der schlichteren Volksklasse das verstorbene Mädchen
ganz „wie eine Braut" zu kleiden, insbesondere flicht man den Brautkranz und
Brautschleier ins Haar. Auf einem Pölsterchen wird ebenfalls ein Kranz von
einem Burschen dem Sarge voran- oder nachgetragen, während zwei andere, rechts
und links gehend, die Bänder desselben halten. Burschen tragen die Bahre, wenn
diese nicht auf einem Leichenwagen geführt wird. Im letzteren Falle gehen zwei
Burschen zu beiden Seiten des Sarges. Neben den Burschen gehen Mädchen. Es
sind dies gewissermassen die Brautführer und die Brautführerinnen; daher sind sie
auch gerade so mit Sträusslein geschmückt wie zur Hochzeit. Auch Musik und
Schmaus werden wie bei Hochzeiten besorgt. Ganz ähnlich sind die Bräuche bei
Jünglingen. Knaben werden von Mädchen zu Grabe getragen.
Czernowitz. Raimund Friedrich Kaindl.
Volksbräuche aus dem Chiemgau.
(Vgl. oben 16, 322.)
2. Die Rockenfahrt.
Von der Station Übersee im Süden des Chiemsees führt eine Sackbahn im
Tale der Grossen Ache über Marquartstein nach Unterwessen. An dieser liegt
auch der stattliche Pfarrort Gr as s au, der Schauplatz der Rockenfahrten, eines
eigentümlichen Brauches, der die Idee des A olksgerichtes, wie manche ähnliche
bajuvarische Sitte, in sich birgt. Im Winter, wenn die Feldarbeit ruht, rüstet sich
das weibliche Hausgesinde in althergebrachter Weise zum Spinnen; um aber in
die etwas eintönige Beschäftigung einige Abwechslung zu bringen, kommt man
jeden Tag in einem anderen Hause in der Nachbarschaft zusammen- Da wird
sehr fleissig gesponnen, aber nicht weniger fleissig gesprochen, und worüber?
Hauptsächlich über die 'Buam', deren gute und schlechte Eigenschaften gründlich
zerlegt werden. Hat sichs einer einfallen lassen, in den vergangenen Sommertagen
mit einer 'Herrischen' auf die Alm zu gehen oder beim Schuhplatteln im Sommer-
keller das 'Stadtfräulein' mehr in die Höhe zu heben als die etwas schwerfälligere
Landschöne, dann wehe ihm; es wird bei der Unterhaltung, die man als Rockenfahrt
bezeichnet, kein gutes Haar an ihm gelassen. Es darf daher niemand wundern,
322
Adrian:
wenn sich die männliche Dorfjugend verbündet, um sich für die oft an Ver-
leumdung grenzende Unterhaltung zu rächen. So eine Rockenfahrt beginnt ge-
wöhnlich um ein Uhr mittags und dauert bis fünf Uhr abends. Um drei Uhr
wird von der Bäuerin eine grosse Schüssel voll dampfenden Kaffees aufgetragen,
den man im geselligen Kreise gemeinsam verzehrt. Bei dieser Mahlzeit wird
unter dem Gebote strengster Verschwiegenheit verabredet, in welchem Hause sich
am nächsten Tage die Spinnerinnen treffen. Es ist nun Aufgabe der Burschen*
herauszubringen, wo diese Zusammenkunft stattfindet; entweder erlauscht es einer
der Verschworenen durch das Ofenloch von der Stubenkammer aus, oder beim
abendlichen Heimgange gelingt es der List und Schmeichelei, das sorgsam gehütete
Geheimnis zu entreissen.
Ist der Ort der Schauerhandlung entdeckt, so werden gleich nach dem Mittag-
essen auf verschiedenen am Wege gelegenen Verstecken Posten aufgestellt, die
auf die mit Spinnrad und Werg daherkommenden Rockenfahrerinnen zu 'passen'
haben. Wird einer der Späher dieselben gewahr, so gibt er als Signal einen
Pistolenschuss ab, worauf es ringsum lebendig wird. Aus den Scheunen, Häusern*
Backöfen und anderen Verstecken stürzen die Burschen heraus und verursachen
mit Kuhglocken, Giesskannen, Blechtafeln, Gewehren, Karfreitagratschen usw. einen
solchen Höllenlärm, dass er das Haberfeldtreiben noch übertrifft. Sie begleiten
dann mit der Musik zum Gaudium des ganzen Dorfes die Rockenfahrerinnen zum
Haus. — Wird das Treiben zu arg, so mischt sich wohl die Gendarmerie in die
Sache; doch auch für diesen Fall ist gesorgt, denn an verschiedenen Ecken stehen
Leute als Aufpasser, welche beim Herannahen der berufenen Hüter der gesetz-
lichen Ordnung ein vorher vereinbartes Zeichen geben, worauf sich die Schar
schleunigst zerstreut und in den Häusern verschwindet; wird aber der eine oder
andere um die Ursache des Lärmens befragt, so stellt er sich recht dumm und
lässt kein Sterbenswörtchen verlauten. Öfter als einmal wiederholt sich dieses
Treiben im Laufe des Winters. [Schmeller 2, 47.]
3. Der Hoarer.
Bei der Drischleg spielt der 'Hoarer' eine besondere Rolle; so wird nämlich
der genannt, der beim Dreschen mit dem Dreschflegel den letzten Schlag macht.1)
Volksetymologisch wird dessen Name von 'harren' (warten) abgeleitet, und es
dürfte in dem Falle damit auch das richtige getroffen worden sein. Soviel Ge-
treide, als auf einmal zum Dreschen auf der Tenne ausgebreitet wird, nennt man
ein 'Stroh'; es ist die Menge, die zu einem Schaub zusammengebunden wird. Das
'Stroh' hat gewöhnlich vier 'Ruhen', d. h. es wird in vier (manchmal auch drei)
Absätzen ausgedroschen und inzwischen drei- oder zweimal umgewendet.
Wenn nun das letzte 'Stroh' auf der Tenne liegt und die letzte 'Ruhe ge-
droschen wird, ist schon alles begierig, wer wohl der 'Hoarer' oder 'Hoarling'
werden oder den 'Hoarer' bekommen wird. Nur der Vordrescher oder Tenn-
meister hat das Recht, aufzuhören, vor ihm darf niemand seine Tätigkeit ein-
stellen. Ehe man nun beim letzten Gange (bei jeder Ruhe wird zweimal auf- und
abgegangen) an dem Ende, wo regelmässig aufgehört wird, anlangt, hält der
Tennmeister unvermutet den Dreschflegel hoch. Wer dieses übersieht oder die
'Drischl' nicht mehr aufhalten kann, so dass sie noch mit lautem Schlag nieder-
saust, der ist nun der 'Hoarer1. Zunächst wird dieser recht ausgelacht, bespöttelt,
geneckt und in jeder Weise gehänselt. Ungezählte Male muss er sich 'Hoarer'
1) [Vgl. E. H. Meyer, Volkskunde 1898 S. 287. Mannhardt, Mythol. Forschungen
1884 S. 61. Oben 4, 130. 5, 455. Die dtsch. Mundarten 6, 145: 'Harrer'.]
Kleine Mitteilungen.
323
rufen lassen; er wird mit Russ bemalt, mit Wasser getauft und mit alten Kuh-
glocken behangen, schliesslich auf einen Schlitten gebunden und in der Nachbar-
schaft herumgeführt, wobei ihm noch die Aufgabe zufällt, sämtliche Nachbarn für
den Abend einzuladen. Doch für all die Neckereien, die sich der 'Hoarer' ge-
fallen lassen muss, findet er auch einige Genugtuung. Beim Abendessen wird er
besonders gut beköstigt; er bekommt den 'Hoarlingsküchel', der wohl drei- bis
viermal so gross ist wie die übrigen Küchel, auf einem grossen, mit gedörrtem
und grünem Obst, Blumen u. dgl. verzierten Teller vorgesetzt, wobei freilich die
übrigen nicht ermangeln, im rechten Augenblicke sich etwas von den Verzierungen
anzueignen. Der 'Hoarer' braucht sein Küchel nicht gleich zu verzehren, sondern
darf es, nachdem er mit den übrigen Dreschern gegessen, mit nach Hause nehmen.
Nach dem Abendessen finden dann noch Spiele und Tänze statt, ganz in der
Art der Drischlegspiele, wie sie in der Südostecke Bayerns, im Innviertel und im
nördlichen PJachgau Salzburgs zu Hause sind.1) Zum Beispiel gibt jemand vor, er
könne ein Gefäss an die Zimmerdecke mit Hilfe eines kleinen Hölzchens anheften.
Zu dem Zwecke steigt er auf eine Bank, dreht und schiebt das Gefäss an der
Decke hin und her, wobei ihm wie zufällig das Hölzchen entfällt. Ein Un-
erfahrener, der, in unmittelbarer Nähe stehend, mit gespannter Aufmerksamkeit die
Bewegungen des Zauberers verfolgte, bückt sich, um das Hölzchen aufzuheben;
aber in dem Augenblick ergiesst sich ein Strom kalten "Wassers aus dem Gefässe
über sein Haupt und ein allgemeines Gelächter erfolgt, in das schliesslich auch
der Gefoppte mit einstimmt. — Manchmal wird auch ein Sterngucken ver-
anstaltet. Einer stellt ein Licht auf einen erhöhten Platz, z. B. auf ein Gesims,
und lässt nun durch einen Joppenärmel gucken, wobei er beteuert, dass man auf
diese Weise das Licht als den schönsten Stern erblicke. Jeder muss einen Ver-
such machen, und alle bestätigen, dass es sehr schön sei. Wenn dann der Nichts-
ahnende sich an dem schönen Schauspiel erfreuen will, so schüttet man ihm,
kaum dass er den Kopf in den Ärmel gesteckt hat, ein mit Wasser gefülltes
Geschirr in den Nacken.
Bei diesen Unterhaltungen fehlen nicht einige Leckerbissen als Nachtisch,
z. B. Obst, Branntwein, Gebackenes und ähnliches, bis endlich in ziemlich später
Abendstunde eine gewisse Abspannung zum Schluss mahnt und die Leute aus-
einander gehen. Die Auswärtigen begeben sich heim. Ist der 'Hoarer' unter
ihnen, so wird ihm mit Kuhglocken das Geläute (!) gegeben und der Abschieds-
gruss 'Hoarer', solange er sichtbar bleibt, nachgerufen.
4. Flodererfahren und Kreisfangen.
Ein hervorstechender Charakterzug des Landvolkes bajuvarischen Stammes ist
die Lust, seinen Mitmenschen bei allen möglichen Anlässen zum besten zu haben;
auch die Sitte des 'Flodererfahrens' und 'Kreisfangens' wurzelt in diesem Grunde.
Im bayerischen Achental gilt das Flodererfahren2) als einer der lustigsten und
gelungensten Scherze, dessen Opfer stets ein Neuling, ein Fremder wird, der erst
in letzter Zeit eingewandert ist und \on dem man weiter voraussetzen kann, dass
er diesen Spass nicht gar zu übel aufnimmt. Eingefädelt wird die Sache im
Wirtshaus. Wenn der hierfür Erkorene am Tische sitzt, beginnen zwei aus der
Gesellschaft sich über die morgen statthabende Flodererfahrt zu unterhalten, ein
dritter mischt sich ein, und in- andeutungsweisen Sätzen, im halblauten Tone wird
darüber gesprochen. Der unkundige Fremde wird stutzig und auf das Gespräch
1) [Vgl. H. v. Prehn, oben 14, 867.]
2) [In der Gaunersprache bedeutet 'Fl atterfahr er' einen Wäschedieb.]
324
Adrian, Neubauer:
aufmerksam. Er fängt an, sich nach dem merkwürdigen Fahrzeug zu erkundigen;
anfangs beachtet man seine Frage kaum und lässt durchblicken, dass es eigentlich
eine geheime Sache sei, die man nicht gern ausplaudere. Nachdem aber der
Fragende, dessen Neugierde beinahe unbezähmbar ist, immer dringender den
Wunsch äussert, in dieselbe eingeweiht zu werden, lässt man sich endlich herbei
und erklärt ihm, das Fahrzeug sei eine Maschine, die sich in der Luft fortbewegt,
und zwar sehr geschwind; es lasse sich lenken nach jeder Richtung und werde
mit dem sogenannten 'Schleudererpech' in Betrieb gesetzt; der Wagen lasse sich
nur im Gebirge verwenden und verkehre jeden zweiten Tag zwischen den beiden
Nachbarorten. Dabei wird nicht vergessen, den Fremden zu einer Fahrt einzuladen.
Im Falle nun der Fremde der Geschichte nicht recht glauben will, geht man
von dem Gespräch wieder ab. In vielen Fällen aber lässt es dem Fragenden
keine Ruhe, und durch allseitige Beteuerungen der angerufenen Zeugen, welche
sämtlich die Glaubwürdigkeit bestätigen, wird der Betreffende endlich so weit ge-
bracht, dass er seine Zusage zu einer Fahrt gibt. Jetzt wird er weiter unter-
wiesen, wie er sich für eine solche ausrüsten soll. Die Fahrt erfolgt nämlich in
der Nacht bei rasender Geschwindigkeit, zudem sei es schon tief im Spätherbst,
da möge er sich besonders mit warmer Kleidung versehen. Vor allem ist ein
wrariTier Mantel, am besten ein Kutscherpelz, notwendig, ferner dürfen ein Fuss-
sack und eine Decke nicht fehlen. Als Ort der Auffahrt wird ein einsamer, von
der Ortschaft mehr als dreiviertel Stunden entfernter Platz genannt; dort soll er
sich am nächsten Abend um halb neun Uhr pünktlich einstellen. Zur angegebenen
Zeit sammeln sich die Verschworenen am bezeichneten Orte und erwarten mit
Spannung den Fahrgast. Eilig kommt dieser herangestolpert, unter der Last des
schweren Pelzmantels keuchend; erst nach manchen Fragen und einigen Irrgängen
ist's ihm gelungen, den abgelegenen Platz zu finden. Wie er sich nähert, erkennt
er bereits, dass hier keine besondere Einsteighalle für Flodererfahrten vorhanden
sei. Noch klarer ersieht er aber aus den Gesichtern der Versammelten, die ihn
mit schallendem Gelächter begrüssen, dass er gefoppt ist. Wohl oder übel muss
er gute Miene zum bösen Spiel machen und still nach Hause gehen; auch tut er
gut, die Gesellschaft einige Zeit zu meiden, weil er sonst der Zielpunkt schlechter
AVitze sein dürfte. Vielleicht findet sich für ihn später Gelegenheit, auch an einer
solchen Verschwörung teilzunehmen und über ein neues Opfer mitzulachen.
Ähnlich der Flodererfahrt ist auch das Kreisfangen.1) Der Kreis ist in
dem Falle der Name für ein Tier, das, ähnlich wie der Fischotter, im Wasser
leben soll, und zwar in einem schwer zugänglichen Gebirgsbach. Beim Floderer-
fahren wird der Handlungsreisende, der Fremde besseren Standes geprellt; beim
Kreisfangen scharen sich die jungen Bürgerssöhne und Bauerburschen um einen
fremden Handwerksgehilfen, der sich durch Grosssprecherei und Prahlerei über
alles, was er schon erlebt und getan habe, auszeichnet und ersehen ihn zum
Gegenstande des Spasses aus. Die Einführung ist ähnlich wie beim Floderer-
fahren. In einem Gasthaus, worin die ganze Burschenschaft verkehrt, teilt sich
diese in zwei Parteien; die eine setzt sich an den Nebentisch und plaudert ganz
geheimnisvoll und leise, dass heute, wo Neumond und eine regnerische Nacht sei,
die günstigste Zeit zum Kreisfangen wäre. Der Betreffende versteht von dem Ge-
hörten nur hie und da ein Wort und fragt seine Kameraden am eigenen Tisch,
was denn die anderen so geheimnisvoll ausmachten.
1) [Vgl. E. Meier, Deutsche Sagen aus Schwaben, 1852, Nr. 100: 'Den Trilpetritsch
jagen'. 101: 'Den Elbertrötsch jagen'. E. H. Meyer, Volkskunde 1898 S. 237.]
Kleine Mitteilungen.
325
Nun hat der Funke gefangen; die Burschen freuen sich bestens darüber und
beeilen sich, ihm möglichst genau das Tier zu beschreiben, indem sie weiter er-
zählen: der Fang dieses Tieres ist sehr schwierig, doch gelingt er manchem, wenn
er die nötige Geduld dazu besitzt. Der Kreis ist sehr wertvoll, für das Fell
werden immer 25 bis 30 Mk. bezahlt; auch das Fleisch ist recht schmackhaft.
Nun könnte er sich wohl auch einmal das Geld verdienen, und gerade heute wäre
die günstigste Nacht dazu. Der aufmerksam Lauschende ist natürlich gleich voll
Eifers dabei. Es erheben sich dann drei oder vier Burschen, um zur Jagd auf-
zubrechen. Jeder nimmt einen grossen Sack, ferner den langen, stachelbeschlagenen
Bergstock, und fort geht es trotz Wind und Regen in die finstere Nacht hinaus;
in ihrer Mitte schreitet erwartungsvoll der Kreissenjäger. Nach langem, beschwer-
lichem Marsch kommt man endlich zu dem tosenden Bach, nicht ohne vorher den
Burschen auf allen möglichen Kreuz- und Irrwegen herumgeführt zu haben. Die
Begleiter flüstern ihm dann in ernstem Tone zu: „Da muss der Kreis kommen,
da ist sein alter Wechsel". Nun wird dem Burschen aufgetragen, den Sack in
das Wasser zu halten und sich nicht zu rühren; es werde freilich ziemlich lange
dauern, bis dass das Tier komme, aber heute sei man sicher, nicht umsonst ge-
gangen zu sein. Die übrigen Teilnehmer wollen ihm behilflich sein und wie
sonst bei Jagden durchtreiben. In der Gesellschaft befindet sich nicht selten ein
Wilderer, ein Umstand, der das Unternehmen noch glaubwürdiger erscheinen lässt.
Der Geprellte bleibt mit seinem Sacke stehen; die anderen schlagen mit den
Bergstöcken an die Bäume, und das Klapp, Klapp wird allmählich immer
schwächer, da sich die angeblichen Treiber nach allen Richtungen entfernen. Der
Kreissenjäger wartet ruhig, und obwohl eine Viertelstunde nach der anderen ver-
rinnt und er längst schon ganz durchnässt ist, will er doch nicht mehr fort, ohne
das Tier gefangen zu haben. Schliesslich geht aber doch seine Geduld zu Ende,
denn er sieht, dass sein Warten umsonst ist, desgleichen schmerzen ihn von der
erzwungenen Haltung alle Glieder; daher entschliesst er sich zum Heimweg.
Nun geht aber erst der Ärger an, denn es ist ihm unmöglich, Weg und Steg
zu finden, weil man ihn vorher absichtlich alle möglichen Umwege geführt hatte.
Es kam öfter vor, dass ein solcherart Geprellter die is acht im Walde verbringen
und den Anbruch des Tages abwarten musste, ehe ci wiedei in das Dorf zurück-
fand. Dort wird er dann mit Fragen bestürmt, wie es ihm ergangen sei, und
nachdem er seine Erlebnisse mit allen Einzelheiten eizählt hat, erfolgt schallendes
Gelächter von seiten seiner früheren Jagdgenossen, denen nie die Zeit zu lang
wird, den Unglücklichen zu erwarten.
Die Freude an einem solch gelungenen Streich dauert oft wochenlang, und
solange sich der Gefoppte in der Gemeinde aufhält, wird er nur als 'Kreissenjäger'
begrüsst.
Salzburg. ' Karl Adrian.
„Einem die Hölle lieiss machen".
Die bekannte volkstümliche Redensart 'einem die Hölle heiss machen',
die weiter nichts besagen soll als: 'einem hart zusetzen', wird, um den bild-
lichen Ausdruck zu erklären, gewöhnlich gedeutet: einem durch Vorstellung der
höllischen Qualen das Gewissen zu rühren suchen" (Sanders), oder: „ihm die
Hölle als heiss vorstellen, d. i. sein Gewissen auf das lebhafteste rühren"
(Adelung), und so ähnlich bei allen Lexikographen oder Erklärern. „Vielleicht",
326
Neubauer:
heisst es bei Borchardt-Wustmann (Die sprichwörtlichen Redensarten usw., 5. Aufl.
1895, S. 231) „stammt der Ausdruck daher, dass die Mönche früher reiche Leute
auf ihrem Sterbelager durch Androhung- von Hölle und Teufel und allerlei Qualen
zu beeinflussen . . suchten. Jedenfalls geht er auf die grellen Schilderungen der
höllischen Feuerqualen zurück, durch die die christliche Geistlichkeit zu irgend
welchen Zwecken auf ihre Zuhörer einzuwirken suchte". Man könnte hierfür auf
andere aus dem kirchlichen Leben herrührende Volksausdrücke, wie 'einem die
Leviten lesen', 'einen gehörig abkanzeln' und ähnliche Wendungen hinweisen.
Es ist aber merkwürdig, dass man nicht erkannt hat, dass bei dieser Erklärung
der Ausdruck höchst ungewöhnlich und in mehr als einer Hinsicht Anlass zum
Anstoss bietet. Zunächst soll darauf kein allzugrosses Gewicht gelegt werden,
dass die Redensart im praktischen Gebrauche gar nicht den strengen Sinn hat:
einen in entsetzliche Angst versetzen, einem qualvolle Vorstellungen wachrufen,
die an sein Gewissen rühren, oder ähnliches, was man annehmen müsste, wenn
hier die wirkliche Hölle gemeint wäre, sondern in dem milden und mehr gemüt-
lichen Sinne verwendet wird, wie die andere, dafür auch gebrauchte Rédewendung
'einem gehörig einheizen, so dass es ihm recht unbehaglich wird. Aber, fragen
wir, gibt es denn in der Hölle bloss Hitze, nicht auch andere Qualen, die ebenso
schrecken? Warum hat man da nicht einfach gesagt: 'einem die Hölle vormalen ,
oder ähnlich, statt des doch recht seltsamen Ausdruckes 'einem die Hölle heiss
machen'? Ist denn die Hölle nicht eben an sich schon nicht bloss heiss, sondern
gerade das allerheisseste, was die Phantasie ersonnen und der Volksglaube sich
denkt? Die Begriffe 'Hölle' und 'heiss' sind in der Volksvorstellung so eng ver-
bunden und eins, dass die alliterierenden Wendungen 'die heisse Hölle1, ebenso
w'ie 'Höllenhitze' (mhd. hellehitze) u ä, altformelhafte feststehende Verbindung
gewesen und geblieben ist. Was soll da der seltsame Ausdruck 'die (heisse)
Hölle heiss machen'? Von jedem anderen denkbaren Raum könnte gesagt werden,
'ihn heiss machen', nur eben von der Hölle nicht. Freilich liebt das Volk die
Übertreibungen in seinen sprachlichen Erfindungen und steigert auch gern noch
den höchsten Grad, wobei es nach der Möglichkeit gar nicht fragt, vielmehr oft
gerade in der Unmöglichkeit den Anreiz zur Bildung eines überraschenden Aus-
druckes findet. So könnte auch hier eine solche volkstümliche Hyperbel vorliegen,
und der Sinn beabsichtigt sein: einem die Hölle heizen, d. h. sie für ihn in
einen noch heisseren Zustand bringen, als sie ohnehin schon hat. Das wäre
möglich, wenn es hier nicht ungereimt wäre: 'einem die Hölle heizen' hätte nur
dann einen guten Sinn, wenn der Betreffende selber darin ist. Aber die Redens-
art soll ja nach der gangbaren Erklärung bedeuten: 'einem die Hölle als heiss
vorstellen', das doch wohl den Sinn haben soll: einem die Hölle, heiss wie sie
ist, vorstellen Die arme Sprache, was muss sie sich hier gefallen lassen! Seit
wann denn kann der Satz: 'einem die Hölle heiss machen' sprachlich bedeuten:
einem die Hölle als heiss vorstellen oder vormalen oder ausmalen? Oder
gar — mit noch grösserer Vergewaltigung des sprachlichen Ausdrucks, indem man
dem prädikativen Adjektiv (heiss) gewaltsam eine attributive Stellung gibt — :
einem die heisse Hölle vormalen? Kann denn der Satz, 'einem ein Zimmer heiss
machen' sprachlich je etwas anderes bedeuten, als entweder im eigentlichen Sinne:
ein Zimmer für jemanden tüchtig heizen, oder in übertragener Bedeutung: einem
ein Zimmer (so) heiss, d. h. unbehaglich, machen, dass er es darin nicht aushält?
— Schon diese Vergewaltigung und Verrenkung des sprachlichen Ausdrucks er-
weist zur Genüge das "V erkehrte der gangbaren Erklärung, ganz abgesehen von
den sonstigen Anstössen-
Kleine Mitteilungen.
327
Die richtige Deutung liegt hier so nahe, dass es eigentlich verwunderlich
ist, dass bisher niemand auf sie gekommen ist. Will man einen Lässigen oder
Gleichgültigen zu seiner Pflicht uns gegenüber indirekt zwingen, so hat die volks-
tümliche Sprache dafür eine Reihe ' von Redewendungen, die alle das gleiche,
vom Feuer entlehnte, Bild enthalten: 'Feuer dahinter legen', 'einem ein Bad be-
reiten, dass er schwitzen soll', 'einem die Streu unter dem Steiss anzünden', 'einem
gehörig heiss machen', 'einem kräftig einheizen', u. a. Sie bedeuten alle das näm-
liche, je nach dem Zusammenhang: einem keine Ruhe lassen, ihm gehörig zu-
setzen und bange machen, ihn in innere Erregung und Hitze bringen, ihm Unruhe
und Sorge bereiten, ihn aus seiner passiven Gleichgültigkeit und Indolenz auf-
jagen, usw., nur dass der eine Ausdruck stärker ist als der andere. Dahin ge-
hört nun auch: 'einem, die Hölle heiss machen'. Es deckt sich völlig mit der
Redewendung 'einem gehörig einheizen', nur dass in unserer Redensart der Aus-
druck etwas individueller geprägt, d. h. sinnlich anschaulicher ist. Wenn das
'Berliner Tageblatt' zu der Lässigkeit, die die marokkanischen Behörden gegen-
über den berechtigten Forderungen Frankreichs zeigen, bemerkt: „Die Herren
Burnusträger lassen sich in orientalischer Gemächlichkeit Zeit. Frankreich wird
ihnen indes wohl bald kräftig einheizen", so ist diese Redensart hier recht glück-
lich verwendet, aber ebensogut hätte auch gesagt werden können, dass Frank-
reich wohl bald ihnen die Hölle heiss machen werde.
Die 'Hölle', die in dieser Redensart gemeint ist, ist die Hölle der alten
deutschen Bauernhäuser, d. h. der mit einer Ruhbank (Höllbank) versehene Raum
hinter dem grossen Kachelofen, zwischen diesem und der Wand, der ein sehr be-
liebter Platz zum Ausruhen und zum Schlafen war. „Der ander lag noch hinder
dem Ofen in der Hell1) und mocht vor Faulkeit nit aufston" heisst es (um nur
■ein Beispiel aus der älteren Litteratur anzuführen) in der Schwanksammlung
'Rollwagenbiichlein' von Georg Wickram (1555 Nr. 22). Diese Bezeichnung, die
mit Moritz Heyne wohl nur als eine 'volkswitzige Übertragung' der Bedeutung
von der eigentlichen Hölle auf diesen engen, dunkeln und heissen Raum angesehen
werden muss, lässt sich schon aus dem 15. Jahrhundert nachweisen (Schmeller2
1, 1080) und ist volksmässig auch jetzt noch weit verbreitet, auch in der neueren
Literatur gelegentlich noch anzutreffen in volkstümlichen Schriften, wie bei
Musäus, Langbein, Holtei, auch bei Gustav Freytag und anderen. Bei dieser
Deutung ist jeder Anstoss beseitigt. Und so kommt nun auch das Bild unserer
Redensart voll zu seinem Rechte: es wird so kräftig eingeheizt, dass dem faulen
Musjö Kehrmichnichtdran, der da hinter dem Ofen in der 'Hölle' sorglos und
gleichgültig behaglich ruht, vor Hitze angst und bange wird, und er, weil er's nun
nicht mehr aushalten kann, endlich erregt aufspringt.
Bedenken erregen gegen diese Erklärung könnte der Umstand, dass Luther
(Jenaer Ausg. 3, 228 b) unsere Redensart einmal in diesem Zusammenhang er-
wähnt: „Wie man itzt spricht: Sie machen uns die Hellen heiss, und den Teufel
schwarz". Der Zusatz „und den Teufel schwarz" beweist, dass Luther hier an
die eigentliche Hölle gedacht hat. Daraus ergibt sich aber, genau genommen, zur
Aufklärung nichts. Die Wendung war schon damals sprichwörtlich, wie Luthers
Worte zeigen „wie man itzt spricht", und kann schon damals irrig auf die
eigentliche Hölle gedeutet worden sein, zumal in Gegenden, wo die Bezeichnung
Hölle für den Platz hinter dem Ofen weniger geläufig sein mochte, denn der
Ausdruck ist immer nur mundartlich gewesen. Auch ist nicht zu vergessen, dass
1) Helle, alte Schreibung für Hölle, das erst im KS. Jahrhundert aufkommt.
328
Neubauer: Kleine Mitteilungen,
Luther es liebt, mit dem Doppelsinn von Worten zu spielen, und das Wort
'Hölle' war für ihn gerade kaum denkbar ohne die Vorstellung des Teufels, das
eine Wort rief bei ihm von selbst das andere wach, so dass der Zusatz 'und den
Teufel schwarz', der ja so wie so der Redensart nicht angehört, recht wohl auch
bloss aus solchem das Wort umdeutenden Spiel mit dem Worte 'Hölle' erklärt
werden kann. AVer in Luthers Schriften belesen ist, der kennt diese seine eigen-
tümliche, ich möchte sagen wuchernde Schreibweise, die nicht gern einen neben-
bei sich zudrängenden Einfall oder Gedanken unterdrückt, zur Genüge. So ist
also Sicheres aus seiner Anführung unserer Redensart nicht zu entnehmen, ausser
dass sie schon damals sprichwörtlich war und vielleicht schon damals falsch ge-
deutet wurde.
Aber freilich, ein leises Bedenken bleibt immerhin zurück, ob unsere Deutung
auf die Ofenhölle hier wirklich das Ursprüngliche trifft. Dass an die eigentliche
Hölle nicht gedacht werden darf, und die gangbare Erklärung, wie oben dargetan,
völlig zu verwerfen ist, bleibt natürlich bestehen. Aber, wie so manche Volks-
ausdrücke und Redensarten in entstellter Form durch die Zeiten umlaufen, die die
ursprüngliche Fassung oft gar nicht mehr erkennen lässt, so ist auch hier eine
solche Möglichkeit nicht abzuweisen, durch die das Seltsame und Auffällige der
Redensart begreiflich würde, vorausgesetzt, dass die Beziehung auf die Ofenhölle
aus irgendwelchen Gründen nicht zulässig wäre. In diesem Falle wäre die Ver-
mutung kaum von der Hand zu weisen, dass die Redensart 'einem die Hölle heiss
machen' einer Entstellung aus einer schon viel älteren Redewendung ihren Ur-
sprung verdankt, die in mittelhochdeutscher Form gelautet haben mag 'einem
hellehei3 machen', was man heute nennt 'einem Himmelangst machen' oder
im modernsten Deutsch 'einem höllisch heiss machen'. Neuhochdeutsche Sprach-
wendungen wie 'einem angst machen', 'einem warm machen' und ähnliche sind
auch dem Mittelhochdeutschen nicht fremd, wie wir z. B. im Parzival 385, 20
lesen: 'bluotec swei3 im machte warm' ('blutiger Schweiss ihm machte warm').
Und das Adjektiv hellehei^ (im Neuhochdeutschen höllenheiss) ist im Mittelhoch-
deutschen eins der zahlreichen mit helle (Hölle) gebildeten Composita. Und
konnte man im Mittelhochdeutschen sagen: 'einem warm machen', so konnte man
auch sagen 'einem heÌ3 machen' oder noch stärker 'einem helleheÌ3 machen',
Dass dann aus lässiger Sprech- oder Schreibweise oder auch aus Missverständnis,
wenn nicht durch eine volkstümliche Umdeutung, wie sie in solchen Dingen be-
liebt war und ist, aus der Fassung 'einem helleheÌ3 machen' leicht die völlig ver-
kehrte 'einem d' (d. i. die) helle heÌ3 machen' entstehen konnte, bedarf keines
besonderen Beweises. Man braucht nur beide Wendungen recht schnell hinter-
einander zu sprechen, und ein fremdes, nicht sehr aufmerkendes Ohr wird kaum
einen Unterschied zwischen beiden heraushören. Um so näher lag das Miss-
verständnis, als die Formen des Artikels, besonders auch diu und die, als blosses d"
meist mit dem Anlaut des folgenden Wortes verschmolzen, wie noch heute in
der Volkssprache (vgl. Grimm, Wörterbuch 2, 973 f.), so dass 'hellehei3' und
'd'belle heij' beim schnellen Sprechen kaum zu unterscheiden waren, und das eine
für das andere verstanden werden konnte. Auch bei dieser Annahme bleibt es
dabei, dass die Redensart mit dem Ausmalen der Höllenqualen nichts zu tun hat,
sondern dasselbe besagt wie 'einem gehörig einheizen'.
Berlin. Richard Neubauer.
Boite: Berichte und Bücheranzeigen.
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Berichte und Biicheranzeigen.
Neuere Märchenliteratur.
An die Spitze unseres diesjährigen Berichts gehört, da ich Mac Cullochs
Childhood of fiction (London 1905) noch nicht zu Gesicht bekommen konnte, eine
kleine Abhandlung des kürzlich (2. Januar 1907) verstorbenen amerikanischen
Gelehrten Newell1), der gegenüber Gummeres etwas mystischer Theorie vom
Ursprünge der Poesie festzustellen sucht, dass die Erfindung eines Märchens oder
eines Liedes auch in der ältesten Zeit immer von einem Individuum ausging und
dass durch die lange mündliche Überlieferung naturgemäss eine Anpassung dieser
Dichtung an die Anschauungen der Volksgemeinschaft stattfand. Für die Märchen-
wanderung hat N. schon 1891 am Beispiele der 'Schwanjungfrau' die Regel ent-
wickelt, dass ihr Weg vom höher kultivierten Volke zum tiefer stehenden geht,
nicht umgekehrt. — Silcher2) berichtet über die neueren Forschungen nach dem
Ursprünge des mittelalterlichen Tierepos. Wenn J. Grimms Ansicht von einer
den lateinischen Tierdichtungen des 10. bis 12. Jahrhunderts zugrunde liegenden
altgermanischen Tiersage vielfach auf Widerspruch stiess und jene mönchischen
Satiren vielmehr aus antiken und indischen Tierfabeln abgeleitet wurden, so haben
seither Sudre und Voretzsch, ohne solche gelehrten Einflüsse zu leugnen, doch
betont, dass sich für viele Bestandteile des Tierepos die älteste Form in den
besonders durch Krohn nachgewiesenen finnischen und estnischen Tiermärchen
erhalten hat, denen jede lehrhafte oder satirische Tendenz fehlt. Natürlich ward
dieser volksmässige Stoff mehrfach umgewandelt: der mit dem Schwänze lischende
Bär ward zum Wolfe, der indische Schakal zum Fuchs. Einzelne Geschichten des
französischen Roman de Benart, die Beuteteilung, den Schinkendiebstahl, die
Buhlschaft des Fuchses mit der Wölfin, bespricht S. im Einklänge mit Sudre, ver-
ficht aber gegen ihn auf Grund der deutschen liernamen Reinhart, Isengrim,
Brun den germanischen Charakter der Tierdichtung. Ein einzelnes Märchen-
motiv, das siegbringende Zauberschwert, das der Held häufig aus einer Höhle
holen muss, verfolgt Priebe3) in einer etwas umständlich angelegten Arbeit durch
die deutschen Märchen und die Heldensage. In letzterer wird meist auch der
Name des Schwertes (Rose, Eckesahs, Nagelring, Mimine, Balmunc usw.) und
seine Herkunft berichtet; als Bewahrer erscheint eine Schlange oder ein Zwerg.
Den Ursprung des Motivs sieht P. richtig in der prähistorischen Periode, wo das
einen kräftigen Hieb ermöglichende Eisenschwert die Bronzewaffen verdrängte
und wo man den Helden ihre Schwerter ins Grab mitgab. Förderlich wäre es
gewesen, wenn er noch etwas weiteie Lmschau gehalten und z. B. das nordische
Tyrfingschwert, die dänische Ballade Or m Ungersvend' (Grundtvig, DgF. 11) oder
1) W. W. Newell, Individual and collective characteristics in folk-lore (Journal of
american folk-lore 19, 1—15). — Vgl- auch ebd. 72 14. io, 337• 17, 59. 18, 33 und The
international Folk-lore congress 1891, papers and transactions p. Gi
2) G. Silcher, Tierfabel, Tiermärchen und Tierepos. Progr. der Oberrealschule zu
Reutlingen 1905. 33 S. 4°.
3) U. Priebe, Altdeutsche Schwertmärchen. Kieler Diss. Stettin 1906. 80 S. 8°. —
Zum Stumpfmachen der Schwerter durch Zauber (S. 45) vgl- obeu 13, 213. 15, 349.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. I907' 99
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den offenbar der Odyssee 10, 535 und der Aeneis 6, 260 zugrunde liegenden
Volksglauben an die Zauberkraft des Eisens berücksichtigt hätte. — Zehn
Schweizer Märchen kommentiert Singer1) in einer Fortsetzung seiner trefflichen
Schrift y. J. 1903 (oben 14, 244), indem er die älteste erreichbare Erscheinungsform
betrachtet und deren Grundlagen in Glauben und Anschauung ferner Vorzeit zu
rekonstruieren sucht. Das hierbei manches zweifelhaft bleibt, liegt in der Natur
der Sache. So wird beim Aschenbrödelmärchen, das Geiler schon 1501 mit der
verwandten Legende von der frommen Hausmagd (oben 11, 465. 17, 125) zu-
sammenstellt, nicht jeder die aus den Benennungen der Heldin gefolgerte Wanderung
des Stoffes für sicher halten, bei der sich aus dem provenzalischen cuou-cendroulet
(Aschenwächter) oder cendrouleto bousoftò (Aschenbläser) einerseits das italienische
cenerentola, andererseits nid. asgat, assepoester, nd. aschenpüster, md. aschen-
puddel, obd. aschengrüdel, slaw. popeljaha usw. entwickelt habe, oder mit Singer
in der Nausikaaepisode der Odyssee das älteste Märchen vom Goldener, dem
männlichen Aschenbrödel, wiedererkennen. Auch das S. 157 angeführte russische
Märchen von Fjodor und Anastasia möchte ich nicht mit der Siegfriedssage in
Verbindung bringen. Überzeugender ist dagegen das Märchen vom Schneider und
Schatz auf einen von Beatus Rhenanus berichteten Baseler Vorfall zurückgeführt,
mit dem die Erlösung einer Schlange durch Kuss, der Spott auf die Schneider
und die Vorstellung der schatzhütenden Schlange in der Überlieferung verknüpft
wurde. An den verbreiteten Stoff des singenden Knochens erinnert die schweizerische
Erzählung vom blutenden Knochen, die aus der mittelalterlichen Bahrprobe ab-
geleitet wird. Eine ausführliche Untersuchung widmet S. der Legende vom jungen
Herzog, der am Hochzeitstage ins Paradies entrückt wird, und den parallelen
Dichtungen vom Bllimelmacher, von der Sultanstochter und von Regina, für die
er auch neues hsl. Material heranzieht, während er zwei Versionen des Schwankes
vom Traumbrode (oben 16, 290) und des 'Bruder Lustig' kürzer bespricht. —
Auch Nyrops2) feinsinnige Abhandlung über Toves Zauberring, der den dänischen
König Waldemar noch an ihre Leiche fesselte, gehört hierher. Abweichend von
Gaston Paris betrachtet N. als älteste Form der im 13. bis 14. Jahrhundert bei
Enikel, im Karlmeinet und bei Petrarca über Karl den Grossen und Fastrada be-
richteten Sage die verwandte um 1190 aufgezeichnete norwegische Erzählung von
Harald Harfagrs Liebe zu Snjofrid, in der allerdings noch kein Ring als Ursache
der den Tod überdauernden Leidenschaft erscheint; und einer kühnen Vermutung
Moes3) folgend, leitet er diese Sage, die durch Wikinger an den Niederrhein
gelangt sei, aus dem verbreiteten Märchen von Sneewittchen her. — Die Er-
örterungen B. Kahles (oben 16, 311—314) über die Erzählung von der freiwillig
kinderlosen Frau und 0. Dähnhardts reichhaltige Untersuchung der aus dem
biblischen Sintflutsbericht entsprossenen ätiologischen Märchen (oben 16, 369—396)
und mehrerer aus reiner oder willkürlicher Naturdeutung hervorgegangener Tier-
fabeln und Märchen (oben 17, i—16. 129 — 143) brauche ich unseren Lesern
nicht eingehender vorzuführen, ebensowenig R. Reitzensteins in die Märchen-
kunde hineingreifendes Buch 'Hellenistische Wundererzählungen', über das H. Lucas
1) S. Singer, Schweizer Märchen. Anfang eines Kommentars zu der veröffent-
lichten Schweizer Märchenliteratur, erste Fortsetzung. Bern, A. Francke 1906. VI, 167 S.
4 Mk. (= Untersuchungen zur neueren Sprach- u. Litgesch. hsg. von 0. F. Walzel, Heft 10).
2) Kr. Nyrop, Toves tryllering. Kobenhavn, Gyldendal 1907. 111 S. (= Nyrop,
Fortids sagn og sänge 1)-
8; M. Moe, Eventyrlige sagn i den seldre historie. Kristiania 1906.
Berichte und Büclieranzeigen.
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oben 17, 122 berichtete. — Die verlorenen Milesiaca des Aristides fasst Lucas1)
nicht als einen Roman, sondern wie E. Rhode als eine Sammlung schlüpfriger
Novellen auf, die aber in eine zu Milet spielende Rahmenerzählung eingeflochten
waren; den Gedanken einer Beeinflussung durch orientalische Vorbilder weist er
zurück, indem er die indische Einschachtelungsmanier, bei der es sich um Rahmen-
erzählungen von selbständiger Bedeutung handle, von der abendländischen Technik
scheidet; doch scheint mir die vergleichende Untersuchung dieser Erzählungs-
technik noch der Vertiefung zu bedürfen. — Den milesischen Märchen gilt auch
eine grössere Arbeit von Amalfi2). Durch ausführliche Darlegung der Ansichten
über den Ursprung der Volksmärchen und der spärlichen antiken Zeugnisse über
diese sucht er die These zu stützen, dass man unter milesischen Märchen münd-
liche Erzählungen erotischen oder schwankhaften Charakters und vermutlich
indischen Ursprunges verstand, die später literarische Bearbeitungen erfuhren; aus
diesen Dichtungen gingen dann die Liebesnovellen des Parthenios wie die antiken
Romane hervor. Verdienstlich sind die stofflichen Nachweise zu einzelnen
Motiven bei Apuleius und Parthenios. — Die antike Novelle von der säugenden
Tochter, die in Gent zur Ortssage und in Deutschland zum Volksrätsel geworden
ist, behandelt A. de Cock3), der auch die verbreitete indische Parabel von der
Anziehungskraft der Frauen auf einen im Walde erzogenen jungen Klausner ver-
folgt. — Über die Geschichte mehrerer indischer Erzählungsstoffe, des Baum-
zeugen, des salomonischen und anderer scharfsinniger Urteile, des Doppelgängers,
der im Haikar-Romane vorkommenden Aufgabe Stricke aus Sand zu flechten, hat
uns Th. Zachariae (oben 16, 129 — 149. 17, 172 — 195) wertvolle Mitteilungen
aus unbeachteten Quellen und eigene Untersuchungen gespendet; und J. Hertel
fügte zu seinem Artikel über den Esel ohne Herz und Ohren (oben 16, 149 bis
156) weitere Berichte über verschiedene Bearbeitungen des ehrwürdigen, um
200 v. Chr. in Kaschmir entstandenen Pañcatantra: oben 16, 249—278 über den
1660 durch den Jaina-Lehrer Mëghavijaya in Kaschmir angefertigten Auszug,
dessen Abweichungen von den übrigen Texten er deutsch wiedergibt, und ferner4)
über einen interpolierten Text der südindischen lassung, der 86 Erzählungen,
also mehr als alle anderen Texte enthält und in einem mangelhaften Sanskrit ge-
schrieben ist Auch hier hat H. die neuen Stücke, die offenbar aus unbekannten
volkstümlichen Bearbeitungen des Werkes kompiliert sind, übersetzt und mit Nach-
weisen orientalischer Parallelen versehen, ich bemerke nur, dass darunter sich
der Belfagor, die dankbaren Tiere und undankbaren Menschen, der seinen Leib
verlierende König,. Maus und Elephant, dei gelöste Tiger befinden, und verweise
zu Bd. 61, S. 39 (Pferd soll die Kuh geboren haben) auf R. Köhler 1, 460. 486;
Frey, Gartengesellschaft S. 279; Chauvin 6, 39, zu S. 57 (Schatzfinder morden
einander) auf Montanus, Schwankbücher S. 564 und Chauvin 8, 100, zu S. 59
schwatzhafte Frau, Krähen) auf Montanus S. 592, Chauvin 8, 168 und zu S. 60
(Rhampsinits Schatz) auf Köhler 1, 200— 209 und Chauvin 8, 185. — Auf mehrere
persische Seitenstücke zu europäischen Sagen (Meldung vom Tode des Lieblings-
1) H. Lucas, Zu den Milesiaca des Aristides (Philologus 66, 16—35).
2) Gaetano Amalfi, Partenio di Nicea e ]e favole milesie, parte 1. Napoli,
G. M. Priore 1906. 57 S. 4o.
3) A. de Cock, De Mammelokker te Gent (Volkskunde 17, 45—61). — Hansje met
zijn gansje (ebd. 17, 185—216).
4) J. Hertel, Über einen südlichen Textus amplior des Paficatanira (Zs. der d.
morgenld. Gesellsch. 60, 769—801. 61, 18—72).
22*
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pferdes, Dido, Tellschuss, empfindliche Prinzess, drei Wünsche) machte
A. Christensen1) aufmerksam. — Aus der wiederum reichlich vertretenen
internationalen Schwank- und Novellenliteratur hebe ich, da mir die zweite Ver-
deutschung von Poggios Facetien durch Floerke und Wesselski (München 1906)
nicht zu Gesichte kam, nur We s sel skis2) gewandte und mit guten stofflichen
Nachweisen versehene Verdeutschung der IG Prosa-Novellen des um 1430 ge-
borenen Antonio Cornazano von Piacenza heraus, die zuerst 1518 im Drucke
erschienen und gleich dem berüchtigten Libro della origine delli volgari proverbi
des Cintio dei Fabrizii ein wirkliches oder angebliches italienisches Sprichwort
durch eine pikante Geschichte erläutern. Nr. 8 ist das Märchen vom Wettlaufe
des Fuchses und Krebses (Grimm 187), die anderen Stücke, die z. T. auf französische
Fabliaux, die Cent nouvelles nouvelles und Poggios Facetien zurückgehen, handeln
ziemlich unverblümt von den Freuden der Liebe. — Auch die von Frischlin3)
veranstaltete Auslese aus den deutschen Facetisten des 16. Jahrhunderts, Wickram,
Frey, Montanus, Lindener und Schumann, bringt den unbändigen Volkscharakter
jener männischen Zeit zum Ausdruck und enthält vor allem derbe Stücke, nach
Ständen geordnet, dazu einige Schauergeschichten; die Ausdrucksweise und Ortho-
graphie blieben im Gegensatz zu Blümml (oben 16, 452) ungeändert, das Nachwort
berichtet kurz über die Anlage des Werkes und die Lebensumstände der Autoren.
Unter den Textsammlungen von Märchen fällt unser Blick zunächst auf
eine für die Kinderwelt bestimmte und hübsch ausgestattete Lese von 33
europäischen, indischen und japanischen Märphen, die Frau Fuchs4) mit Geschmack
aus zuverlässigen Quellen ausgewählt hat, dann aber auf die unvergängliche
Sammlung der Brüder Grimm5), die nach 94 Jahren nun ihre 32. Originalausgabe
erlebt hat. Reinhold Steig, der sie besorgte, hat sich nicht begnügt, einfach auf
die 7. Auflage von 1857 als die Ausgabe letzter Hand zurückzugehen, sondern
hat den Text auch sorgsam mit den früheren Drucken, die von dem zweiten ab
alle die nachbessernde und feilende Hand der Sammler verraten, verglichen und
mehrfach gebessert; der Satz ist weitläufiger und stattlicher geworden, und statt
moderner Illustrationen erscheinen Reproduktionen der alten Stiche von Ludwig
Emil Grimm, die keineswegs bloss historisches Interesse haben, wenn uns auch
unter ihnen besonders das Porträt der Zwehrner Märchenfrau willkommen ist. —
Neue Aufzeichnungen aus dem Volksmunde sind nicht allzu viele zutage ge-
fördert. In Holstein hat der unermüdliche Wis s er6) fünf neue Stücke im
1) A. Christensen, Persiske og nordiske sagn (Danske studier 1905, 213—218).
2) Antonio Cornazano, Die Sprichwortnovellen zum ersten Male verdeutscht von
Albert Wesselski. München, G. Müller 1906. XIII, 176 S. — Zu nr. 2 vgl. Chauvin,
Bibliographie arabe 8, 12: 'Le baigneur', zu nr. 3 Chauvin 6, 180, zum Schluss von nr. 9
Frey, Gartengesellschaft nr. 30.
3) Leonhart Frischlin, Deutsche Schwanke. 79 kurtzweylig Schwenck und Fatz-
bossen gesammlet. Leipzig, J. Zeitler 1906. 190 S.
4) Helene Fuchs, Volksmärchen aus aller Welt, gesammelt und hsg. Berlin, Globus
Verlag [1906]. 240 S.
5) Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen. Originalausgabe mit Herman
Grimms Einleitung nach dem Handexemplare und mit acht Bildern von Ludwig Grimm,
32. Auflage besorgt von R. Steig. Stuttgart und Berlin, J. G. Cotta Nachf. 1906.
XXXVIII, 589 S. — Vgl- Steige Zu Grimms Märchen (Archiv f. neuere Sprachen 118,
17—37).
6) W. Wisser, Volksmärchen aus dem östlichen Holstein, 4: De twölf Swön. 5. De
Prinzessin mit de lang' Nes'. (Niedersachsen 11, 353—357. 12, 335 — 338). — Undank ist
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heimischen Dialekt veröffentlicht. Das erste ist allerdings eine ziemlich will-
kürliche Zusammensetzung der verschiedensten Motive (Wache der drei Söhne auf
dem väterlichen Felde, Raub des Schleiers der Schwanenjungfrau, Wunschbeutel,
wiederholt versäumte Erlösung, ratspendender Greis, hilfreiches Pferd, Erlösung
durch Enthauptung), die anderen aber sind bekannte Themata: Fortunats Wunsch-
beutel, die gelöste Schlange, der alte Fritz und der listige Soldat, endlich eine
aus Kopenhagen stammende, besonders ausführliche Version der 'vergessenen
Braut' (R. Köhler 1, 161—175), in der auch das oben 6, 204 besprochene Motiv
„Setz deinen Fuss auf meinen" vorkommt. — Die von A. Dörler (oben 16,
278—302) in Nordtirol und Vorarlberg aufgezeichneten Märchen und Schwänke
zeigen, dass hier nicht bloss alte Stoffe fortgepflanzt werden, sondern dass der
Volkshumor auch neue Blüten treibt. Ein ebenso trefflicher Beweis für die an-
schauliche Darstellungsweise und das erstaunliche Gedächtnis analphabeter Erzähler
liegt in den von Bünker1) gesammelten heanzischen Märchen und Sagen vor,
die zum Teil unseren Lesern bereits bekannt sind. Denn diese 113 Nummern,
von denen 15 schon in Bd. 7—8 unserer Zeitschrift (mit Anmerkungen von Wein-
hold) und 36 in der ZföVk. 3 — 4 gedruckt waren, stammen sämtlich aus dem Munde
eines einzigen betagten Ödenburgers, Tobias Kern, der des Lesens unkundig ist
und sie teils von seinem Grossvater, teils von niederösterreichischen Arbeits-
genossen hörte. Der Herausgeber hat sie getreu im Wortlaut der Mundart auf-
gezeichnet und alle irgendwie auffallenden Ausdrücke in Fussnoten erläutert. Aus
der letzten Erzählung, die in zwei Aufzeichnungen v. J. 1895 und 1905 vorliegt,
erkennt man, wie sich der Wortlaut in zehn Jahren durchweg verändert hat, der
Inhalt aber im wesentlichen derselbe geblieben ist; ebenso sind Nr. 67. 68 und
71. 96. 98 nur Variationen desselben Themas. Ich hebe einige Stücke heraus, zu
denen keine Parallelen nachgewiesen sind2), und bemerke noch, dass die Er-
zählung 'Ta Taifl hâts Recht valâan' (ZföVk. 4, 28) hier fortgeblieben ist.
der Welt Lohn (Kieler Zeitung 1907, Sonntagsheilage nr. 12 vom 24. März). — De holten
Säwel (De Eekbom 25, 35. 1. März 1907). — Alexander und Annlenore (Deutsche Welt 9,
483—487. 501-504. 5. und 12. Mai 1907).
1) J. R. Bünker, Schwänke, Sagen und Märchen in heanzischer Mundart, bei [!]
Unterstützung der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien aufgezeichnet. Leipzig,
Deutsche Verlagsactiengesellschaft 1906. XVT, 456 S. 8". Über zehn derbe Schwänke,
die B. aus derselben Quelle veröffentlichte, vgl. oben 16, 452.
2) Nr. 1 Schuster als Pfarrer (R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 41. Bolte-Seelmann, Nd. Schau-
spiele älterer Zeit S. *35, ZföVk. 1, 252. 4, 250). — 2 Doktor Allwissend (Köhler 1, 39).
— 3 Fünfmal getötet (Köhler 1, 65. 190. 3, 164). — 4 Vertrag über den Ärger (Köhlerl,
326). — 5 Der alte Hildebrand (Grimm 95. Köhler 1, 386). — 8 Knecht mit ver-
schiedenen Namen (oben 15, 74). — 12 Die dumme Bauerntochter (Gr. 34. Köhler 1,
218. 266). -- 13 Schildbürgerstreiche (Köhler 1, 266). — 14 Meisterdieb (Gr. 192.
Köhler 1, 256). — 15 Listige Streiche (Gr. 61. Köhler 1, 230). — 16 Nein sagen (oben
155 69). — 18 Tambur belauscht ein Liebespaar (Köhler 2, 594). — 19 Ehebrecherin will
ihren Mann blind machen (Montanus, Schwankbücher S. 611. Oben 10, 74). — 20 Narr
und Grossnasiger (Pauli nr. 41. Zum unterschlagenen Uriasbrief oben 6, 169 nr. 75.
Pitrè, Fiabe nr. 156. Domenichi, Facetie 1581 p. ij^ _ ^ Kaiser und Abt (Köhler 1,
267. 492). — 22 INicht nackt und nicht bekleidet (Köhler 1, 447)- ^6 Knabe und
Kruzifix (Grimm, Kinderlegenden 9). - 27 Grabespflame (R. Köhler 3, 278). — 28 Toter
bringt dem Freunde Botschaft (Schönbach, Die Reuner Relationen. SB. der Wiener
Akademie 139, 5. Landau, Quellen des Dekameron 1884 S. 248). — 34 Gutsherr in Pferd
verwandelt (oben 16, 4292). - 36 Greise nicht mehr getötet (oben 8, 25). — 37 In den
Wind stechen (Grimm, Myth.3 S. 599). — 41 Brunzwick (Feifalik, Böhmische Volks-
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Boite:
In den Niederlanden ist von Boekenoogens1) Volkserzählungen eine Port-
setzung erschienen, die durchweg Räubergeschichten bringt; die unter diesen
berichtete List des Knechtes, der dem Räuber unbedacht sein Schwert und sein
Geld gibt und ihn darauf bittet, ihm seine linke Hand abzuhauen, um ihn dabei
von hinten zu packen, vermag ich schon im 14. Jahrhundert bei dem Augsburger
Magister Derrer nachzuweisen.
In Dänemark hat M. Kristensen2) eine Fassung des Märchens vom Kaiser
und Abt aus einer Handschrift des 16. Jahrhunderts veröffentlicht. Zwei Arbeiten
sind den 'Kunstmärchen' Andersens gewidmet, die natürlich ebensogut wie
Musäus und Brentano eine Quellenuntersuchung verdienen. In einem umfäng-
lichen Werke stellt Brix3) sorgsam aus Tagebüchern und Briefen zusammen, was
sich über des Dichters Familie und Lebensgang ermitteln liess, und sucht dann
bei jeder Märchendichtung die einzelne Anregung und die Stimmung, aus der
jene hervorging, festzustellen. Leider aber erfahren wir dabei nichts über
Andersens Verhältnis zu den dänischen Volksmärchen, aus denen er doch nach
seinem eigenen Bekenntnis mehrfach geschöpft hat. Dieser Aufgabe geht dafür
bûcher von Reinfrit von Braunschweig. SB. der Wiener Akad. 29, 83. 37, 322. —
42 Lenorensage (Er. Schmidt, Charakteristiken2 I, 189). — 46 Der Herr Gevatter
(Gr. 42). — 47 Mädchen in Rose verwandelt (oben 13, 72. Schullerus, Siebenbg.
Archiv 33, 433). — 48 Schlange lösen (Köhler 1, 96. 412. Chauvin 2, 120. 233. 9, 18). —
50 Rumpelstilzchen (Grimm 55. Gonzenbach 84). — 51 Der Arme und der Reiche
(Gr. 87). — 52 Fürchten lernen (Gr. 4). — 54 Marienkind (Gr. 3). — 55 Tischleiu deck
dich (Gr. 36). — 56 Vergessene Braut (Gr. 193. Gonzenbach 14). — 60 Das blaue Licht
(Gr. 116). — 67. 68 Bärenhäuter (Gr. 101). — 69 Drei Handwerksburschen (Gr. 120). —
70 Ähnlich Swift, Gullivers Reisen. — 72 Treu und Ungetreu (Köhler 1, 396. 467. 542.) —
73 Schwanenjungfrau (Köhler 1, 444. 2, 413) modernisiert; Schilderung Indiens nnd der
Witwenverbrennung. — 74 Drosselbart (Grimm 54. Gonzenbach 18). — 75 Fischer und
seine Frau (Gr. 19). — 81 Aladdins Zauberriug (Chauvin 5, 55. Köhler 1, 440). —
83 Räuber und Einsiedler (Köhler 1, 403. Oben 13, 70). — 84 Der weisse Wolf (Gr. 88.
Köhler 1, 315). — 85 Prinzessin im Sarg (Köhler 1, 320). — 86 Dankbarer Toter
Köhler 1, 225f.). — 87 Schlächtergeselle (Siinrock, Märchen S. 244. Köhler 1, 304). —
88 Brüder (Gr. 60 mit verändertem Schluss). — 89 Dankbare Tiere (Köhler 1, 397). —
90 Wasser des Lebeus (Köhler 1, 562). — 91 Schmied und Teufel (Gr. 82). — 93 Eiserne
Stiefel abnutzen (Köhler 1, 316. 573); alter Schlüssel wiedergefunden (K. 1, 426x). —
94 Pfefferkern (Köhler 1, 543. Oben 9, 87 nr. 33). — 95. 97 Treulose Schwester (Gonzeu-
bach 26). — 100 Hasenhirt (Köhler 1, 58. 554). — 101 Mädchen ohne Hände (Gr. 31.
Gonzenbach 24) und Genovefa. — 104 Julianus (Frey, Gartengesellschaft S. 280 zu A al.
Schumann 14). — 107 Die schöne Magelone, hier Magtalenna geheissen (Warbeck ed.
Bolte 1894). — no Der fliegende Koffer (aus 1001 Nacht. Chauvin 5, 232). — H2.
113 Räuberbräutigam (Gr. 40).
1) G. J» Boekenoogen, Nederlandsche sprookjes en vertelsels Nr. 90—96 Volks-
kunde 18, 92—97. 222-224. Gent 1906). — Zu Nr. 93 (18, 95) vgl. Konrad Derrer (um
1340) in Zs. des histor. V. f. Schwaben 31, 116. Theatrum Europaeum 13, 246. Der
anmuhtige Histoi'icus 1702 S. 101. Hilarius Salustius, Melancholiui Weeg-Gefärth 1717
S. 375. Pröhle, Märchen f. d. Jugend 1854 S. 144. Simrock, D. Märchen 1864 S. 244:
'Der Metzgerbursche'. Bünker, Schwanke in heanziBcher Mundart 1906 S. 262. Ethnol.
Mitt. aus Ungarn 3, 91: 'Das Beil'. Bei Joos, Yertelsels van het vlaamsche Volk 3, 109
(1891) bittet der Knecht den Räuber, ein Loch in seinen Kittel zu schiessen; ebenso bei
J. P. de Memel, Lustige Gesellschaft 1660 nr. 1118.
2) M. Kristensen, Abbeden og Hans Kok, et kendt œventyr i gammelt klœdebon
(Danske Studier 1907, 145f.)- •
3) H. Brix, H. C. Andersen og bans eventyr. Kobenhavn, Schubothe 1907. 296 S. 8°.
Berichte und Bücheranzeigen.
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ein früherer, bei Brix jedoch nicht erwähnter Aufsatz von G. Christensen1)
nach, der sieben Nummern (das Feuerzeug-, der grosse und der kleine Klaus, der
Reisekamerad, die wilden Schwäne, der Schweinehirt, Klotzhans, Was Vater tut
ist immer das rechte) mit gedruckten und hsl. dänischen Märchen vergleicht und
zur 'Prinzessin auf der Erbse', die 1843 sogar in die Grimmschen Märchen nr. 182
überging, auch ausländische Parallelen heranzieht. Durchweg hat Andersen diese
Überlieferungen nach eigenem Geschmacke ausgemalt, die Charaktere umgemodelt,
Derbheiten gemildert und neben süsslicher Sentimentalität auch die romantische
Ironie walten lassen. — Von Lölands2) norwegischer Märchensammlung ist
die zweite Hälfte mit den Nr. 29—75 erschienen; die Herkunft ist genau angegeben,
doch fehlen stoffgeschichtliche Nachweise.
In Frankreich brachten die 'Revue des traditions populaires' und die
'Tradition' wie alljährlich neue Aufzeichnungen aus verschiedenen Provinzen; ich
nenne nur die breton i sehen Märchen vom jungen Helden mit der Eisenkeule
und von den drei Haaren des Teufels, die korsischen Schwänke von der ge-
beichteten Gedankensünde, den dem Wandrer aufgetragenen Fragen, den getöteten
Buhlern (Frey, Gartengesellschaft S. 281 zu V. Schumann 19), einige Tiermärchen
aus der Franche-Comté und aus Flandern.3) — Im Yogesendorfe Rougemont
hat G. Froidure d'Aubigné4) aus dem Munde eines Kesselflickers (magnin)
63 Schwänke aufgezeichnet, von denen freilich die besten nicht neu sind, sondern
schon vor drei Jahrhunderten im Elsass umliefen oder auf ein noch höheres
Alter Anspruch machen dürfen; neben den Priestern nimmt hier der Yolkswitz
auch die Anabaptisten und die Juden zur Zielscheibe.
Recht interessante italienische Märchen aus Piémont, Toscana und
Sizilien enthält der neueste Band von Pitrès Archivio5). Von den durch Bertha
1) Gr. Christensen, H. C. Andersen og de danske folkeeventyr (Dauske Studier
1906, 103-112. 161—174). — Zum Klotzhans (S. 166) vgl. R. Köhler 2, 465.
2) R. L eland, Norsk eventyrbok etter uppskrifter paa folkemaalet utgievne av det
norske samlaget. Oslo 1905. VIII, 372 S.
3) F. M Luzel u. a., Contes et légendes de Basse-Bretagne nr. 46-50 (Revue des
trad. pop. 21, 465-479). - Julie Filippi, Contes de l'île de Corse (ebd. 21.. 399f.
456-462). — A. Gasser, Contes populaires de la Franche-Comté (Tradition 20, 165 bis
170). — L. Villette, Contes des Flandres (ebd. 20, 1<0-1<3).
4) Contes licencieux de l'Alsace, racontes par le magnm de Rougemont, Paris,
G. Ficker (1906). Xtt, 274 S. 8° (= Contributions au folklore erotique 2). 20 fr. -
Zur Geschichte der Stoffe notiere ich: Nr. 1 Le prêtre qui avait des prunes (R. Köhler 2,
595. 3, 169). — 7 Quand on épouse quatre femmes (Vergleich mit vier Tieren: oben
25^ — 12 La grand'mère (Cent nouv. nouv. 50). — 15 Le chaton (Frey, Garten-
gesellschaft nr. 93). — 17 L'escalier (nr. 51. Pauli, Anhang nr. 28). — 20 Le colonel et
son ordonnance (Oben 15, 60 und Montanus S. 631). — 22 Le borgne (Gesta Rom. 122.
Chauvin 9, 20). — 23 Le curé qui devint diable (prey S. 286 zu Val. Schumann 47). —
28 L'animal inconnu (oben 8, 11 und Zs. f. vgl. Litgesch. 7, 457. 11,71). - 36 Qui est le
plus vieux des deux? (Montanus, Schwankbücher S. 623). — 38 Le meunier d'Aspach
(Kirchhof, Wendunmut 1, .>ol). o9 Le plumeau (Frey nr. 130). — 41 Celui du maître
d'école (Cent nouv. nouv. 15). — 43 Le mauvais outil (Frey S. 281 zu V- Schumann 17). —
44 Le chat dans le ventre (Wickram, Werke 3, 362 nr. 4). — 49 Graisse, Kuterlé!
(Liebrecht, Zur Volkskunde S. 149). — 54 Le jambon de pâques (oben 13, 72). — 60 Dis
toujours Non! (oben 15, 692). — 61 La veuve (Frey nr 34). __ 62 La chemise de Saint-
Victorien (Frey nr. 87).
5) D. Carraroli, Leggende, novelle e fiabe piemontesi (Archivio delle tradizioni
pop. 23, 69-83. — Nr. 1 der treue Johannes; 2 der starke Hans; 3 Fitchers Vogel;
336
Boite:
11g1) fleissig gesammelten und trefflich verdeutschten maltesischen Märchen,
die oben IG, 454 angezeigt wurden, liegt der 2. Band vor uns, der die Nummern
76—139, sämtlich schwankhaften Charakters, enthält. Die angehängten Er-
läuterungen betreffen die maltesische Sprache, die von Stumme, Bonelli und
Magri veröffentlichten maltesischen Seitenstücke, wiederkehrende Motive und
Schlussformeln und einzelne Ausdrücke. Die internationalen Beziehungen der
Stoffe möchte ich wiederum durch einige Nachweise verdeutlichen: Nr. 76 (Die
beiden Brüder und der Bauer) R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 326. — 77 (Die zwei
Hirtenknaben) Köhlerl, 341. 72. — 78 (Lebenswasser holen) Grimm 95, Köhlerl,
386. — 79 (Wie die Frau des Juweliers entfloh) a) Unterirdischer Gang: Köhler 1,
393; b) Entführung auf einem Kaufmannsschiff: Köhler 1, 464. 2, M44. Oben 16,
242 nr. 19; c) Kleidertausch: Chauvin 6, 178. — 81 (Der Kuss des Verurteilten)
Pauli, Schimpf und Ernst 19. Chauvin 8, 113. — 83 (Der Schuhmacher auf der
Totenbahre) Wickram, Werke 3, 368 nr. 23. — 84 (Der Geizige und seine
Photographie) wird auch von Rothschild und Horace Vernet erzählt. — 87 (Der
geizige Kaufmann, der Gastwirt und der Kapuziner) a) Klang für Geruch: Wetzel,
Die Söhne Giaffers 1895 S. 210; b) Teufelsbeschwörung: Montanus, Schwank-
bücher S. 627 nr. 101. — 88 (Dumme Leute) Wickram 3, 391 nr. 107. 8, 347. —
89 (Katarin und Jannadschi) Grimm 14 und 59. — 91 (Dschahans Abenteuer)
a) Gewinn durch öfteren Tausch, unten S. 339 zu D. H. Müller 3, 4; b) Verkauf an
Standbild: Köhler 1, 99. Chauvin 6, 126. — 92 (Dschahan und der weisse Anzug)
Köhler 1, 491. 2, 581. — 97 (D. und sein Ankläger) Wickram 3, 370 nr. 35. —
99 (Die Schwindlerin Katarin) a) Esel statt Braut: Frey S. 216. Montanus S. 628;
b) wie nr. 88; c) wie nr. 77; d) Zuckerpuppe statt Frau gemordet: oben 6, 73
zu Gonzenbach 35. — 101 (Der Paramentenhändler) Kirchhof, Wendunraut2, 176.
— 102 (Der Wirt und die Zechpreller) Reuter, Werke 3, ¿01. 451 ed. Seelmann.—
103 (Der blinde Bettler) R. Köhler, Aufsätze 1894 S. 1151. — 109 (Der Reiche
und der Freier seiner Tochter) Montanus S. 648 nr. 46. — 110 (Der arme Freier)
Montanus S. 595 und 597, nr. 13 und 20. — 111 (Der Schatz) Frey S. 243 nr. 77. —
113 (Neunundneunzig Goldstücke) oben 13, 420. — 114 (Die zwanzig Hennen)
Montanus S. 611. — 119 (Seinezeit) oben 16, 72. — 120 (Jetztsagichsdir) oben
16, 71. — 125 (Der Kapuziner) Pauli nr. 435. — 134 (Der gestohlene Strick)
Wetzel, Giaffer S. 210. — 137 (Der schlaue Mann und der Beichtiger) Wossidlo,
Mecklenbg. Volksüberlieferungen 1, 231 nr. 979. — 138 (Ermahnungen des Geist-
lichen befolgt) Frey S. 230 nr. 42. — 139 (Die Käseverkäuferin) Montanus S. 603 f.
Von rumänischen Märchen liegt uns neben der oben S. 105—109 von
Elise Richter verdeutschten Erzählung die zweite Hälfte der oben 16, 454 an-
gezeigten wertvollen Sammlung von Pauline Schullerus2) vor. Sie enthält die
Nr. 36 —126 aus dem Harbachtale und dazu elf Nummern aus dem Alttal, leider
4 seltsame Dinge im Jenseits: 5 die zwölf Brüder). — G. Pitrè, Novelle popolari toscane
(ebd. 23, 399—420. Nr. 1 Aschenbrödel, 2 Tischlein deck dich, 3 lästige Freier geäfft).
— R. Castelli, Leggende bibliche e religiose de Sicilia (ebd. 23, 211—223. — Nr. 8
fauler Knecht und fleissige Magd; 9 gebratener Kranich mit einem Bein; 10 Gevatter
Tod; 12 Engel und Einsiedler; 13 Fragen aufgetragen).
1) B. Hg, Maltesische Märchen und Schwanke, aus dem Volksmunde gesammelt,
2. Teil. Leipzig, G. Schönfeld 1906. VI, 137 S. 8° geb. 3,50 Mk. (Beiträge zur Volks-
kunde hsg. von E. Mogk, 3. Heft).
2) P. Schullerus, Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtale,
Schluss (Archiv f. siebenbürg- Landeskunde n. F. 33, 469— G92). — Vgl. die Anzeige von
A. de Cock, Volkskunde 18, 237—240.
Berichte und Biichcranzeigen.
337
ohne Register und Parallelen. Zu Nr. 36 (Die Tochter und der Sohn des Königs)
vgl. oben 6, 71 zu Gonzenbach 33. R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 125. 463. — 38 (Die
Kappe, Taube, Stöckchen) R. Köhler 1, 230. 251. — 39 (Eine Wette) vgl. Frey,
Gartengesellschaft Ì89G S. 276 (Katze im katzenlosen Lande), R. Köhler 2, 444
(Wette über Prauentreue) und 2, 640 (Katze hält Licht). — 44 (Der Knabe und
der Ochs) Grimm Nr. 1 HO. Gonzenbach Nr. 32. Montanus, Schwankbücher
S. 591. — 45 (Ein halber Mensch) und 92 (Eine lügnerische Mär) vgl. R. Köhler 1,
322 und Rittershaus, Island. Vm. S. 386: Lügenwette. — 46 (Der Wolf mit den
Schuhen) R. Köhler 1, 96. Sklarek, Ungar. Vm. 30. — 47 (Der Wölf und die
zwei Geislein) Grimm nr. 5. — 48 (Ein Mädchen, welches Menschen frisst). Zu
den Hundenamen R. Köhler 1, 304. — 49 (Tischlein, Hütlein, Stöcklein) Grimm
nr. 36. R. Köhler 1, 67. — 50 (Der goldene Gürtel) und 68 (Das Patengeschenk)
R. Köhler 1, 303: treulose Mutter. — 51 (Die Gans mit einem Fuss) Boccaccio,
Decamerone 6, 4. Montanas S. 613. — 52 (Chelteu) Gonzenbach nr. 83.
R. Köhler 1, 196. 546. — 53 (Drei Schafbesitzer und der Teufel) R. Köhler 1,
183. Hackman, Die Polyphemsage 1904. — 54 (Die Kirche des Teufels)
R. Köhler 1, 320. — 55 (Baiauer) und 56 (George) R. Köhler 1, 52. Ritters-
haus S. 340. — 59 (Komm, wir wollen beichten) Montanus 611. H. Sachs,
Schwänke 5, 222. Oben 10, 74. — 60 (Die Sonnenstrahlen) R. Köhler 1, 171.
388 (auswerfen auf der Flucht) und 194 (Gefährten mit wunderbaren Eigen-
schaften). — 61 (Hundert Leben auf einen Schlag getötet) Montanus S. 560 —
62 (Der reiche und der arme Bruder) Toldo oben 13, 422. — 64 (Die Kirche
Gottes) Montanus S. 562. Grimm 81. — 65 (Zwei Mädchen) ist eine absichtliche
Umwandlung der Erzählung von dem faulen Knecht, der mit der fleissigen Dirne
vermählt wird (Strauss, Die Bulgaren S. 300. Frey S. 285 zu Y. Schumann
nr. 43); hier wird der Faule in den Mond versetzt und die Magd mit einem
fleissigen Burschen verheiratet. — 66 (Juon der Arme). Dem Helden hilft ein
Hahn wie in Nr. 95 (Der Fuchs im Kraut) ein Fuchs und sonst der gestiefelte
Kater (Gonzenbach nr. 65. R. Köhler 1, 558); eingelegt ist eine Wanderung der
Tiere. — 67 (Ursitori) die Oedipussage, verbunden mit dem serbischen Märchen
vom Glück und Unglück (R. Köhler, Aufsätze 1894 S. 106). — 69 (Der Pfarrer
ohne Sorgen) Grimm 152. Pauli, Schimpf und Ernst nr. 55. R. Köhler 1, 267.
492. — 70 (Juon, welcher sieben Könige an Veistand übeitraf) und 91 (Der
Traum des Knaben) sind Varianten zum weisen Haikar: R Köhler 1, 430
Schott, AValach. Märchen 1845 S. 125. Polivka, ZföVk. ;>, 141 zu 59. —
71 (Staticot) R. Köhler 1, 543. — (Der Zigeunerpfarrer) Grimm nr. 9«.
R. Köhler 1, 39. — 76 (Zwei Brüder mit goldenen Haaren) Grimm nr. 60.
R. Köhler 1, 387. — 77 (Des Teufels Lohn) Grimm nr. 95. R. Köhler I, 386. —
78 (Die Spinnerin) Grimm nr. 14. R- Köhler 1, 47. — 81 (Der Wahrsager)
Grimm 61. R. Köhler 1, 238. — 82 (Wie die Schwalben entstanden) durch
Verwünschung eines singenden Kindes, vgl. 118 (Die böse Schwiegermutter).
83 (Die Tochter eines, armen Fischers) ist der Stoff von Shakespeares Cymbeline.
R. Köhler 1, 375. 581. G. Paris, Romania 32, 481. — 86 (Die tapfere Königs-
tochter) löst dieselben Aufgaben wie der Jüngling- bei Köhler 1, 467. 542 und
wird dann in einen Mann verwandelt. - 87 (Drei Spieler) R- Köhler 1, 18G.
588: Fortunat. — 88 (Die goldene Henne). Dasselbe Motiv, eingeleitet durch die
Geschichte von den beiden Knaben, die das Herz des Wundervogels essen:
Grimm nr. 60. Chauvin, Bibliogr. arabe 6, 170. __ 89 (Fritz der Tapfere, ein
Kind geboren aus Blumen) vgl. R. Köhler 1, 15g (gee]e des Riesen im Ei) und
399. 430 (Drachenzungen ausgeschnitten). — 90 (JUOn ohne Furcht) R. Köhler 1,
338
Holte :
418. 551. — 93 (Die Kirche der Zigeuner) oben 8, 83 nr. 2. Haltrich, Zur Volks-
kunde der Siebenbürger Sachsen 1885 S. 110. F. Müller, Siebenb. Sagen nr. 231. —
96 (Pitikot = Däumling) Grimm nr. 45. — 97 (Der verrückte Knecht) R. Köhler 1,
262. 326. — 99 (Das Tornisterchen) R. Köhler 1, 440. Chauvin 5, 55. —
103 (Belohnte Treue) entspricht der verbreiteten Ballade von der Losgekauften:
Erk-Böhme, Deutscher Liederhort nr. 78. Wislocki, Zs. f. vgl. Litgesch. n. F. 1,
250. Krohn, Journal de la soc. finno-ougrienne 10, 111. Weigand, Die Aromunen 2,
151. — 104 (Die drei Sterne) R. Köhler 1, 315. — 105 (Die herzlose Schwieger-
tochter) vgl. Erk-Böhme nr. 189: „Ach Mutter, es hungert mich." — 107 (Das
Salz im Brot) R. Köhler, Aufsätze S. V. 15. Sklarek nr. 34. — 108 (Der Zigeuner
und der Hase) Montanus, Schwankbücher S. 603—605. — 110 (Die taube Frau)
und 123 (Drei Taube) Wickram, "Werke 3, o65 zu nr. 16. — 111 (Der fremde
Grossvater) Dialog wie zwischen Rotkäppchen und dem verkleideten Wolf:
Grimm nr. 26. — 112 (Der Fremde) R. Köhler 1, 128: Blaubart. — 113 (Die
drei Jäger) Drachenzungen ausgeschnitten wie in nr. 89. — 114 (Radu Bolfe)
Meisterdieb: Grimm nr. 192. R. Köhler 1, 256. — 115 (Das goldene Kreuz)
Grimm nr. 65. Gonzenbach nr. 24. — 116 (Mundra Lumi) Grimm 57. R. Köhler 1,
539. — 119 (Der Löffelzigeuner) Dialog wie in der Ballade von der entführten
Margaret: Erk-Böhme nr. 40 — 120 (Der sind die Krähen nicht übers Dach
geflogen) Grimm nr. 128. — 121 (Was Gott zusammenfügt usw.) Grabespflanzen:
R. Köhler 3, 274. — 125 (Der Fuchs mit dem Ohrringel) Kettenerzählung:
R. Köhler 3, 355. — 126 (Die Mär der Blumen) Tiersprache: R. Köhler 2, 610. —
Anhang Nr. 1 (Die Steinsäule) eine Verbindung des Brüdermärchens und des
treuen Johannes (Grimm 60 und 6), dazu die dankbaren Tiere und die dem
Wanderer aufgetragenen Fragen. — 3 (Die eigensinnige Frau und der Teufel)
Macchiavellis Belfagor, oben 15, 1041. 16, 4482. — 4 (Pacala) oben 6, 73 zu
Gonzenbach nr. 37. — 5 (Ein Traum) vgl. Nr. 91. — 7 (Gottes Lohn) R. Köhler 1, 5
(Der dankbare Tote) und 426 (Frage vom alten und neuen Schlüssel). — 8 (Der
Schutzengel) das Buch Tobit. — 9 (Gott und der Teufel) oben 11, 394. 404. —
11 (Schöne der Welt) vgl. Nr. 90.
Den slawischen Arbeiten, die bereits oben von Brückner und Polivka be-
sprochen wurden, reihe ich noch J. Brandts1) niederländische Übersetzung von
32 russischen Tiermärchen aus Afanasjews Sammlung an. Sie folgt der Anordnung
des Originalwerkes und gibt auch einiges aus Afanasjews Anmerkungen wieder.
Beigefügt ist eine Lebensbeschreibung des Sammlers nach Grusinski und das
allegorische Märchen Prinz Chlor der Kaiserin Katharina II. — Aus Ungarn sind
die oben 16, 470 angezeigten Sammlungen von B. Vikár und O. Mailand, sowie
ein von Frau E. Rona verdeutschtes interessantes Stück (oben S. 109—113) zu
nennen.
Aus dem Orient sei zuerst der neun altägyptischen Märchen gedacht, die
Wiedemann2) aus Papyrustexten des 2. Jahrtausends v. Chr. neu übersetzt und
denen er Herodots Erzählung vom Schatz des Rhampsinit beigegeben hat; den
Märchenforschern waren sie ja bereits alle durch Masperos französische Version
1) A. N. Afanàsiëv, RuSsisciie volkssprookjes, naar de clerde russische uitgave
van A. E. Groezinskiej vertaald door J. Brandt. 1. bundel. Amsterdam, S. L. van Looy
1904. 194 S.
2) A. Wiedemann Altagyptig^g Sagen und Märchen. Leipzig, Deutsche Verlags-
actiengesellschaft 1906. VIL 153 S. 1 Mk. (Der Volksmund Bd. 6).
Berichte und Bücheranzeigen.
339
zugänglich. — Arabische Märchen haben uns Basset1) und Carnoy2) in
französischer Übertragung zugeführt; darunter z. B.Noahs Weinpflanzung (Revue 21,
190), Sneewittchen (Trad. 20, 5), die falsche Braut (ebd. 20, 46. R. Köhler 1, 125),
der vergeblich verfolgte Knabe (20, 72. Gesta Rom. 20), die dankbaren Tiere
(20, 138. Gesta R. 119), die Löwenspur (20, 143. Chauvin 7, 120), die einander
mordenden Schatzfinder (20, 148. Montanus, Schwankbücher S. 564x), Wolf und
Mensch (20, 241. Grimm 72), Hase and Igel (20, 270. Grimm 187). — Destaing3)
verdanken wir ein in Kef aufgezeichnetes Märchen vom Zaubervogel (R. Köhler 1,
565. Chauvin 7, 95). — Den beiden im vorigen Bericht (oben 16, 45b) gerühmten
Bänden von David Heinrich Müllers4) Publikation von Erzählungen und Liedern
in der südarabischen Mehri- und Soqotri-Sprache ist der dritte gefolgt, welcher
56 Texte in der am persischen Meerbusen gesprochenen Shauri-Sprache enthält.
Sie sind 1904 in Wien aus dem Munde eines Beduinen Mbammed aufgezeichnet
und z. T. durch beigefügte parallele Passungen in den verwandten Dialekten,
immer jedoch durch eine wörtliche Verdeutschung erläutert. Unter den 47 Er-
zählungen sind manche ohne eigentliche Pointe und märchenhaften Charakter, und
unter den Märchen zeigen einige deutlich die Zusammensetzung aus verschiedenen
ursprünglich selbständigen Motiven. S. 4 (Abû Nuwâs Hirsekorn) ist die von
Cosquin (Contes populaires de Lorraine nr. 62) und Chauvin (oben 15, 462 zu
Stumme nr. 25. 35) behandelte Geschichte von dem durch listigen Tausch immer
Wertvolleres gewinnenden Manne; eingeschaltet ist die Schadenersatzforderung
für die angebliche Tötung seiner Mutter, deren Leiche er vor das Haus des
Sultans gesetzt hat (R. Köhler, Kl. Schriften 1, 231). — S. 9 (Der Tölpel und der
Ziegenbock). Ein Dummkopf glaubt sich von seinem Schatten verfolgt. — S. 15
(Die Hyäne nnd der Puchs) erinnert an die Fabeln von dem durch den Puchs
betrogenen Wolf. — S. 17 (Hirtin und Wehrwolf). — S. 23 (Die Portia von
Gischin) und 73 (Die Portia von Zafâr) sind Yarianten zu der schon 1, 149 auf-
tretenden Geschichte vom Fleischpfande, an die wiederum die Novelle von der
treuen Gattin, die drei Liebhaber äfft und brandmarkt, angehängt ist (oben 16,
459). Merkwürdig ist nun die dritte Version dadurch, dass hier die Brau, die als
Mann verkleidet, ihren Gemahl zweimal aus Lebensgefahr errettet, von diesem
erstens die Überlassung seiner Gattin für eine Nacht und zw eitens den Ring der-
selben verlangt. Das ist natürlich eine ungeschickte Verdopplung desselben
Motivs; während man aber die Forderung der Gattin, die ja auch in der ersten
Version vorkommt, als ein beabsichtigtes Gegenstück zu der Erprobung der treuen
Frau auffassen kann, stimmt das Begehren des Ringes auffällig mit Ser Giovannis
Pecorone und Shakespeares Kaufmann von \ enedig überein. Doch möchte ich in
diesem Zuge noch nicht mit D. Ii. Müller eine originale orientalische Schöpfung
sehen, deren Entstehung vor die Niederschrift des italienischen Pecorone fällt;
dazu ist das Gefüge dieser südarabischen Erzählungen viel zu locker; schon
1) E. Basset, Contes et légendes arabes nr. 710-724 (Revue des trad. pop. 21,
188-194. 273-291. 387-392. 440-443).
2j H. Carnoy, Contes populaires arabes (Tradition 20 2—9 46—55. 72—78. 1P8 bis
148. 173—180. 241-244. 270-278).
3) E. Destaing, Le fils et la fille du roi (Recueil de mémoires publié en l'honneur
du XIY. congrès des Orientalistes. Alger, P. Pontana 1905, p. 179-195).
4) D. H. Müller, Die Mehri- und Soqotri-Sprache 3. Wien, A. Holder 1907. X,
168 S. gr. 4°. 15 Mk. (Südarabische Expedition der kais Akademie der Wissenschaften
Bd. VII).
340
Boite:
daraus, dass in die 2. Version (S. 24) das unverstandene Motiv von den rätsel-
haften Dingen, denen der Wanderer begegnet (oben 6, 173 zu Gonzenbach nr. 88),
und in die 3. (S. 86) die List der verleumdeten Frau, die ihren Yerkläger des
Diebstahls ihres silbernen Pantoffels beschuldigt (Gonzenbach nr. 7 ; oben 6, 61)
eingeschaltet ist, erkennen wir, wie wenig diese Komposition alter Elemente selbst
auf hohes Alter Anspruch machen kann. — S. 34 (Aschenputtel; oben 16, 458 zu
Müller 1, 117. — S. 45 (Die Geschichte Josefs). — S. 52 (Die Stiefmutter u.nd
der Vogel) enthält den Eingang des Brüdermärchens bei Grimm Nr. 60 (vgl.
Chauvin, Bibl. arabe 6, 170), das Volksbuch von Fortunat (R. Köhler 1, 186)
und das Motiv von Josephs angeblich gestohlenem Becher. — S. 50 (Die
Brunnengeister) Belauschung durch den guten und den bösen Gefährten; vgl.
R. Köhler 1, 286. 465. Chauvin 5, 11 Nr. 8. — S. 63 (Die Tochter des Armen)
oben 6, 71 zu Gonzenbach nr. 33—34. R. Köhler 1, 125. — S. 87 (Die ge-
demütigte Sultanstochter) vgl. Grimm Nr. 52, oben 6, 67 zu Gonzenbach Nr. 18,
Chauvin 5, 128. — S. 96 (Der Hamlet von Zafâr). Mektub stösst seinen Oheim,
der seinen Vater getötet und ihn vertrieben hat, vom Throne, nimmt ihm aber
nicht das Leben. Eine innere Verwandtschaft mit der Hamletsage besteht nicht. —
S. 102 (Der Töchterhasser) enthält dieselben drei Motive wie 2, 57 (oben 16,
459): ein Jüngling schont die Schwester, die er töten soll; ein Ungläubiger sieht
ein Haar von ihr und sucht sie auf; mit Hilfe der treulosen Schwester entmannt
dieser den Jüngling. Dann folgt die aus 1, 125 und 2, 89 bekannte Geschichte
seiner Heilung durch Geister, denen er dafür die Hälfte seiner Kinder ver-
sprechen muss. Wie ihn seine Gattin an ihren Flechten aus dem Fenster lässt,
erinnert teils an Davids Rettung durch Michal, teils an das Märchen von
Rapunzel (Grimm 12). — S. 114 (Begelut) Die böse Stiefmutter will das hilfreiche
Pferd des Knaben schlachten lassen; vgl. 1, 69 und das deutsche Märchen von
Einäuglein (Grimm 130. Montanus, Schwankbücher S. 591). Das S. 116 er-
wähnte Liebeszeichen durch Zuwerfen einer Zitrone oder eines Apfels ist weit-
verbreitet; vgl. oben 4, 462. 13, 318; Chauvin 8, 151; Meissner, Mitt. der
oriental. Seminars 8, 92; Muséon 6, 76; Kopisch, Agrumi 1837 S. 143; Talvj,
Serbische Volkslieder 2, 110. 194. — S. 136 (Das mutige Ehepaar). Begegnet
ganz ähnlich in einem deutschen SchwTankbuche des 17. Jahrhunderts, dass ich
augenblicklich nicht wiederfinden kann: ein Bauer mit seiner Frau trifft einen
Soldaten, der die Frau notzüchtigt und dem Manne gebietet, unterdes sein Pferd
zu halten; als nachher die Frau dem Manne Vorwürfe macht, erwidert dieser,
er habe inzwischen den Sattel des Reitersmannes zerschnitten. Im Arabischen
muss der armselige Kerl einen Kothaufen fächeln, was an das Bild in Wickrams
Losbuch (Werke 4, 38) und an Hans Sachsens Schwank vom Säuei (Fabeln ed.
Goetze 2, 597) gemahnt. — S. 152 (Titschkerspiel) vgl. oben 16, 643.
In einem von Gutmann1) mitgeteilten afrikanischen Negermärchen ant-
wortet ein bezauberter Klotz statt der Entflohenen: 'Hier bin ich' (R. Köhler
1, 171).
Im Nordosten Indiens hat der deutsche Missionar Hahn2) Erzählungen,
Rätsel, Sprichwörter und Lieder der Oraon-Kols gesammelt und eine will-
1) Gutmann, Fabelwesen in den Märchen der Wadschagga (Globus 91,
239-243).
2) Ferd. Hahn, Blicke in die Geisteswelt der heidnischen Kols. Sammlung von
Sagen, Märchen und Liedern der Oraon in Chota Nagpur. Gütersloh, Bertelsmann 1906.
X, 116 S. 1,50 Mk. — Erschien vorher als: Kurukh folk-lore in the original, Calcutta 1905.
Berichte und Biicheranzeigen.
341
tonimene Verdeutschung davon herausgegeben. Unter den Märchen und Schwanken
'begegnen uns viele gute Bekannte: Nr. 1 und 7 Doktor Allwissend (Grimm 98);
6 Wette des schweigenden Paares (oben 16, 136); 8 Gestaltentausch von König
und Wesier (Chauvin 5, 286); 9 Mehrmals getötet (Chauvin 5, 180); 11 Alle
beide? (R. Köhler 1, 151. 291) und Betrug durch falschen Namen (oben 15, 71);
13 die hölzerne Frau (Grimm 129); 16 hilfreicher Ochse (Montanus, Schwank-
bücher S. 591) und Tierschwäger; 17 Ad absurdum geführt (Chauvin 6, 39);
18 schwimmende Locke (R. Köhler 1, 511. 571); 20, 24, 28 der singende Knochen
(Grimm 28); 22 Halbhähnchen (oben 8, 464 zu 104); 25 Asinus perditus (Poggio
nr. 231); 29 Krähen belauscht (Grimm 107); 30 Brüderchen und Schwesterchen
(Grimm 11); 33 und 36 Schlange lösen (R. Köhler 1, 96. 412. 581); 34 Narren-
streiche; 38 drei Lehren (oben 6, 169); 39 Blaubart, hier als Tiger. — Auf
Dracotts1) Werk hoffe ich später zurückzukommen.
Da über die in Nord- und Südamerika aufgezeichnete Volksliteratur das
sorgfältig redigierte 'Journal of american folk-lore' berichtet, kann ich mich mit
einem Hinweise auf einige Publikationen begnügen, die für die Wanderung der
Märchenstoffe der alten Welt Zeugnis ablegen Wintemberg2) und Skinner
teilen zwei von deutschen und französischen Einwohnern Canadas herstammende
Fassungen des Märchens vom Schmied und Teufel mit, Gardner zwei von Ein-
geborenen der Philippineninsel Mindoro vernommene Versionen des Aschenbrödel-
themas, die nach Newell auf die chilenische Erzählung von Maria (Bibl. de las
trad. pop. esp. 1, 114) zurückgehen; die erste ist noch mit der Geschichte des
Mädchens ohne Hände verbunden. Sechs aus europäischen Überlieferungen er-
wachsene Märchen der argentinischen Indianer hat R. Lehmann-Nitsche (oben
16, 156—164) veröffentlicht. — Besonders deutlich aber lässt uns Jekylls3) reich-
haltiges und mit guten Erläuterungen versehenes Werk über die Märchen und
Lieder der Neger von Jamaika die eigentümliche Mischung afrikanischer und
europäischer Elemente erkennen. Während die Sprache nur ein verstümmeltes
Englisch mit wenigen afrikanischen Reminiszenzen ist, zeigen Stoff und Anlage
der 51 Erzählungen noch manche Gemeinsamkeit mit denen der Westküste von
Afrika. In den Tiermärchen, deren Personen übrigens durchaus menschliches
Gepräge tragen, fällt die Hauptrolle der Spinne (Annancy) zu wie anderwärts
dem Hasen oder der Schildkröte; einem Kameruner Märchen (Lederbogen 1902
S. 81) entspricht z. B. das stumme Kind Nr. 27. Aul arabischen Einfluss dagegen
gehen direkt oder indirekt Nr. 6 und 39 zurück, verblasste Erinnerungen an Ali
Baba und die vierzig Räuber; von den Portugiesen mögen die Motive des er-
ratenen Namens (Nr. 2) und der ausgeschnittenen Drachenzunge (Nr. 17) entlehnt
sein (vgl. oben 6, 172. 75 zu Gonzenbach 81 und 40); aus englischen Märchen
1) A. E. Dracott, Simla village tales, oí íolk-tales from the Himalajas. London,
John Murray 1906.
2) W. J. Wintemberg, German folk-tales collected in Canada (Journal of ainerican
folk-lore 19, 241-244). - Ch. M. Skinner, The three wishes, a quaint legend of the
Canadian habitants (ebd. 19, 341f.). — F. Gardner, Filipino (Tagalog) versions of
Cinderella (ebd. 19, 265-280).
3) W. Jekyll, Jamaican song and story: Annancy stories, digging sings, ring tunes,
and dancing tunes collected and edited, with an introduction by Alice W erner and appen-
dices on traces of african melody in Jamaica by C. S. Myers and on english airs and
motifs in Jamaica by Lucy E. Broadwood. London, I). Nutt 1907. XXXIX, 288 S.
8°. 10 sh. 6 d. (Publications of the Folk-l°re Society 55\
342
Boite, Polívka:
und Liedern stammen Nr. 3. 31 (Mord durch Vogel verraten), 7 (Rätseldialog),
10 (Blaubart), 12 (Wettlauf von Kröte und Esel), 18 (Nur der Liebste rettet.
Erk-Böhme, Liederhort 78), 21 (Herzensschlüssel. Erk-Böhme 371), auch die Er-
wähnung von William Tell in Nr. 8. Begierig haben die Neger auch die
europäischen Lied- und Tanzweisen übernommen; nicht nur bei der Feldarbeit,
beim Ketten- und Paartanz erklingen, wie hier durch ausführliche Mitteilungen
dargelegt wird, englische Melodien, sondern auch die Märchen sind durchzogen
von gesungenen Versen; so begegnet in Nr. 29 z. B. die bekannte Melodie: „Ah,
vous dirai-je, maman". — In die Sagenwelt der Urbewohner Amerikas leuchtet
der sehr lehrreiche Versuch Ehrenreichs1) hinein, ihre vor der europäischen
Invasion liegenden Kosmogonien, Heldensagen, Tierfabeln und ätiologischen
Legenden auf ihren Gehalt und Zusammenhang hin zu prüfen. Mit wohltuender
Besonnenheit gruppiert er die südamerikanischen Überlieferungen von der
Schöpfung, der Plut und den Gestirnen, ohne sich die ausschweifenden Polgerungen
eines Siecke, Stucken oder Probenius zu eigen zu machen, und betrachtet die
Sagen von den geheimnisvoll empfangenen Zwillingsbrüdern2), die den Tod ihrer
Mutter rächen und ihren Vater aufsuchen, von dem Amazonenstaate usw. Von
dem peruanischen Religionssystem absehend, unterscheidet er drei Sagenkreise
Südamerikas und schreitet dann zu einer Vergleich ung des nordamerikanischen
Sagenschatzes, die einen organischen Zusammenhang beider ergibt. Ausserdem
aber findet E. verschiedene Märchenmotive der alten Welt, die nicht durch
Konvergenz zu erklären sind, wie Baumspalten, magische Flucht, Kampf von Vater
und Sohn, Lausen, Scheinessen, Schwanenjungfrau, Symplegaden, Trugheilung.
Diese Elemente sind aus Ost- und Nordasien über Nordwest-Amerika eingedrungen,
möglicherweise auch über Polynesien nach Südamerika. Dass längst ein solcher
Verbreitungsweg über die Behringsstrasse führte, haben ja Bogoras und
Jocheison3) aus den Überlieferungen der Nordost-Asiaten erwiesen, — Ganz für
sich stehen die 106 australischen Sagen, die A. van Gennep4) aus ver-
schiedenen englischen Werken entnommen, übersichtlich geordnet und ausführlich
erläutert hat. Fremdartig klingen uns die Erzählungen von der grossen Flut
(p. 86), vom Ursprünge des Feuers (p. 20. 64), der Gestirne, insbesondere der
Plejaden (p. 62), der Mondflecken und des Mannes im Monde (p. 37. 41. 104) und
manche anderen. Den Hauptteil des Werkes bildet übrigens die umfängliche Ein-
leitung, in der die teilweise noch im Flusse befindlichen ethnologischen Probleme
der australischen Kultur, die Verwandtschaftssysteme, die Primitivität der Arunta,
die Anschauungen von Geburt und Wiedergeburt, der Totemismus, die religiöse Be-
deutung des Schwirrholzes, die Zauberhandlungen u. a. eingehend erörtert werden.
Berlin. Johannes Bolte.
p. Ehrenreich, Die Mythen und Legenden der südamerikanischen Urvölker und
ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der alten Welt. Berlin, A. Asher & Co.
1905. 107 S. 3 Mk (Suppl. zur Zs. f. Ethnologie 37).
2) Vgl. J* Ren(lel Harris, The cult of the heavenly twins. Cambridge 1906.
3) W. Jochelson, The mythology of the Koryak (American Anthropologist n. S. 6,
413-425. 1904). — Andree, Globus 83, 245f. 87, 260.
4) A. van (jennep, Mythes et légendes d'Australie, études d'ethnographie et de
sociologie. Paris, E. Guilmoto 1906. CXYI, 188 S.
Berichte und Bücheranzeigen.
343
Neuere Arbeiten zur slawischen Volkskunde.
2. Südslawisch und Russisch.
(Schluss zu S. 222 — 234.)
Einige kleinere Studien sind dem russischen Heldenepos gewidmet. Prof.
Vsev. Miller behandelt nochmals die Entstehung des Liedes vom Kampfe des
Ilja Muromec mit seinem Sohne (Etnograf. Obozr. 67, 79—94), und weist die
Unhaltbarkeit der Ansicht A. Y. Markovs nach, das Lied sei in dem Polozker
Land in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden; er leugnet jede
Möglichkeit, Ort und Zeit seiner Entstehung sicher zu bestimmen, und will auch
nicht feststellen, ob das Motiv vom Kampfe des Vaters mit dem Sohne aus dem
Orient oder aus dem germanischen Westen nach Russland gelangte und wann und
wo es mit der Geschichte des lija Muromec verschmolz. Eine neue Version
dieses Liedes aus Südrussland ist in der 'Zivaja Starina' 15, 2. Abt., S. 3—9 ab-
gedruckt. Interessant ist eine andere Abhandlung Vs. Millers, die den Einfluss
der bewegten Zeit des Interregnums auf die Ausgestaltung des epischen Volks-
liedes, besonders von Ilja Muromec untersucht (Tzvestija der Abt. f. russ. Spr. u.
Lit. d. kais. Akademie Bd. 11, H. 2, S. 155—258). Es sind teils Reminiszenzen
an einige hervorragende Persönlichkeiten in das Heldenepos eingedrungen, besonders
an den falschen Demetrius und Fürst Skopin-Sujskij, der sich ganz in einen
Helden des Fürsten Wladimir umwandelte. Die grösste Teilnahme des Volkes
lenkte aber Marina Mniszek, des Pseudo-Demetrius Gattin, auf sich; Reminiszenzen
an sie drangen ins Epos; mit ihr zeugte Ilja Muromec den Sohn, mit dem er dann
den berühmten Zweikampf einging. Auch die zweite Frau Iwans des Schreck-
lichen, Marja Temgrjukovna, drang in die Volkstradition. Unter dem Einfluss der
Kosakenwirren und der als Thronkandidaten auftretenden vermeintlichen Söhne
des Zaren Fjedor Joanovic wurde auch die Gestalt des Haupthelden Ilja Muromec
umgestaltet. Seit dieser Zeit erst wird er als Kosake geschildert, und als Mittel-
punkt der wüsten Orgien an Wladimirs Hofe. Miller ist auch geneigt zuzugeben,
dass auf diese Umgestaltung der von den Kosaken ausgerufene Prätendent Petr
Einfluss übte, der eigentlich Ilejka aus Murom hiess. Anders als Ilovajskij will
er dem Umstände, dass der Held des Volksepos und jener Prätendent den gleichen
Namen trugen, keine zwingende Beweiskralt zuerkennen; denn es ist fast aus-
geschlossen, dass dieser Pseudo-Petrus weiteren Kreisen unter seinem Namen
bekannt war, da auch die schriftlichen Quellen darüber sehr im unklaren sind.
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind diese Kenntnisse durch die
historischen Lieder nach dem russischen foulen gelangt, ebenso einige unter den
Kosaken umlaufende und umgearbeitete epische Lieder von Ilja Muromec.
A. Markov analysiert die russischen Veisionen des epischen Liedes von Dobryna,
dem Drachentöter und teilt im Anhang einige neue Varianten mit (Etnograf.
Obozr. 67, 1 — 53). Ein anderes, nur am Weissen Meere verbreitetes Lied von
Michail Kozarin untersucht A. Jakub (ebd. 65—66, S. 96—126), stellt das Verhältnis
der einzelnen Versionen besonders zu dem epischen Lied von Aljosa Popovic fest.
Beide sind nahe Redaktionen eines und desselben epischen Liedes, nur ist die
Redaktion des ersten viel später als die des zweitgenannten. Endlich wird noch
, das historische epische Lied von der Eroberung Kasans durch Joan den Schreck-
lichen von A. Zacinjajev untersucht (Ziv. Star. 15, 189ff.)- Derselbe stellt
(Jzvéstija otdël. rus. jar. 11, 2, 147) die Nachrichten über epische Dichtungen'
aus den Gouv. Orlov, Kursk und Voronez zusammen, darunter die Erwählung
344
Polívka:
eines Dieners zum Zaren Joan den Schrecklichen (das vor dem Muttergottesbilde
aufgehängte Lämpchen entzündet sich bei seiner Annäherung), ein Lied vom
Kampfe des Ilja Muromec mit seinem Sohne, und einige religiöse Lieder. Kürzere
Bemerkungen zur Kritik zweier russischer lyrischer Lieder gibt A. Sobolevskij
(Ziv. Star. 15, 147—154). Sehr eingehend vergleicht A. Orlov die prosaische Erzählung
von der Eroberung Asovvs im Jahre 1637 (Rus filolog. vëstnik 54, 310—360.
55, 34—79. 56, 1—174) mit den kleinrussischen Liedern und Sagen und den
grossrussischen Liedern, weist die Abhängigkeit der kleinrussischen von den gross-
russischen von neuem nach und zeigt, dass die Grundlage des grossrussischen
Liedes von der Eroberung Asovvs die Eroberung der persischen Stadt Ferhabad
durch Stenka Rasin war, wie sie der französische Reisende Chardin (zuerst 1686)
erzählt. Urkundlich ist freilich die List Stenka Rasins, als Kaufleute verkleidete
Kosaken in die Stadt zu senden, nicht bezeugt. Die Sage ward von den Kosaken
nach Russland gebracht und, nachdem man die unbekannte persische Stadt ver-
gessen, auf die Eroberung der türkischen Festung Asow übertragen, die in den
Sagen der donischen Kosaken eine führende Stelle einnahm, etwa wie Kijew in
der epischen Poesie. Hinzugefügt ist eine bibliographische Ubersicht über die
Sagen über die Eroberung einer Festung durch verkleidete oder auf verschiedene
Weise verborgene Krieger (Bd. 56, S. 63); leider werden dabei die beiden Kriegs-
listen nicht voneinander geschieden, sondern noch andere Motive angereiht, z. B.
wie ein Liebhaber verkleidet zu der Schönen gelangt. Und zwar teilt er aus
literarhistorischen Werken russischer Gelehrter, besonders Dragomanovs, die dort
ohne Quellenangabe erwähnten zwei westeuropäischen Lieder, ein französisches
von Rittern, die in Säcken versteckt in ein Nonnenkloster eindringen, und ein
holsteinisches von der Eroberung eines Schlosses durch Bauern, die in Säcken
versteckt waren; mit letzterem Liede kann aber nur die von Müllenhoff (Sagen,
Märchen und Lieder S. 10 Nr. 7) berichtete Sage: 'Graf Rudolf auf Bökelnborg'
gemeint sein.
Dem Studium der prosaischen Überlieferung wird viel weniger Aufmerksamkeit
zugewendet. Eine grössere Arbeit über das russische Tiermärchen begann Ylad.
Bobrov; bisher liegt nur die Einleitung (Rus. filolog. vëstnik 56, 246—283) vor,
mit allgemeinen Bemerkungen über die Bedeutung Jakob Grimms, einer Charakteristik
des bisher einzig dastehenden Werkes von L. Kolmacevskij und einer Besprechung
der Punkte, in denen sich die russischen Tiermärchen von den westeuropäischen
unterscheiden. Der Verfasser wendet sich gegen die Gelehrten, welche die
Existenz eines Tiermythus leugnen, wie z. B. gegen die Worte Alex. Wesselofskys
(„Ich kann mich nicht überzeugen, dass alle Kniffe unseres Fuchses einst in
den Wolken, und nicht im Hühnerstall sich abgespielt hätten") und Kol-
macevskijs („In der Sphäre des Tierepos kann man unmöglich Reste von
Wolkenmythen erblicken"), und stimmt vielmehr Krek (Einleitung in die
slaw. Literaturgesch. S. 640) zu. Er wirft Kolmacevskij vor, dass er das
russische Tierepos nicht scharf vom 'slawischen' getrennt habe, wie es not-
wendig war, da die 'slawischen' Tiermärchen dem Einflüsse des Westens unter-
lagen, während auf die russischen Tiermärchen die Wandertheorie nach seiner
Ansicht schwer angewendet werden kann. Gegen Kolmacevskij behauptet Bobrov,
dass die russischen Tiermärchen aus einer mit dem westeuropäischen Tierepos
gemeinsamen Quelle entsprungen sind, sich selbständig entwickelt haben, viele
eigene Züge aufweisen, die weder in den westeuropäischen noch in den 'slawischen'
vorkommen, und dass die russischen Märchen sich zwar nicht immer in ihrer
ursprünglichen Reinheit, aber doch unvergleichlich besser erhalten haben als die
Berichte und Bücheranzeigen.
34S
westeuropäischen. Frau Jelena Jeleonskaja gibt einige Bemerkungen über die
russischen Volksmärchen (Etnograf. Obozr. 67, 95—105. 68—69, 63—72). Sie
bespricht ziemlich kurz das Märchen von dem Mädchen ohne Hände, erwähnt eine
Legende aus den in Belgrad 1808 gedruckten 'Wundern der Mutter Gottes', ohne
auf die Entwicklung derselben einzugehen [leider war ihr die oben (1906, S. 213)
besprochene Monographie von Pavle Pcpovic unzugänglich, wo S. 33 eine er-
schöpfende Geschichte dieser Legende gegeben wird]. Ein Verdienst der Ver-
fasserin ist es, noch auf eine von Sipovskij ('Russische Erzählungen des 17. bis
18. Jahrhunderts') 1905 herausgegebene Legende 'Wunder der allerheiligen Mutter
Gottes an der Prinzessin Persika, der Tochter des Zaren Michael von Bulgarien'
(S. 254—267) hingewiesen zu haben, die im schwülstigen Stil der Heiligen-
leben gehalten, von der griechischen in des Athener Mönches Agapius Werke
lA/Mprwkwv crwr/¡pM (P. Popovic S. 25; vgl. Byzant. Zs. 16, 150) ganz abweicht.
Nach Sipovskij soll sie zur Zeit Peters des Gr. den alten Heiligenleben nach-
gebildet worden sein [!]. Der zweite Aufsatz bringt einige Bemerkungen über die
in den Märchen erhaltenen animistischen Anschauungen. — S. Oldenburg zeigt
in der Fortsetzung seiner Studie 'Die Fabliaux orientalischen Ursprunges' (Journal
d. Minist, f. Volksaufklärung 1906, Oktober, S. 221—239) gegen J. Bcdier und
seine Methode polemisierend, dass das Fablel 'Auberée' aus irgend einer orientalischen
Version des Sindibad entlehnt ist. Th. Zëlinskij zeigt in seinem Aufsatz 'Die
antike Lenore' (Vëstnik Jevropy 1906, Bd. 2, S. 167—193), dass das Lenorenmotiv
von den antiken Völkern übernommen wurde, und schildert die Entwicklung der
Geschichte von Protesilaos und Laodamia in der griechischen und römischen
Poesie; besonders die von dem Vergilerklärer Servius aufgezeichnete Version
stimmt mit der späteren Ballade überein, deren ursprüngliche Entstehung Z. den
mittelalterlichen Klerikern zuschreibt. Er bespricht die Tragödie des Euripides
'Protesilaos' und Ovids Heroide 'Laodamia' und unterscheidet in der antiken Sage
zwei Motive: Protesilaos kehrt aus dem Hades zu seiner Geliebten zurück, und
Laodamia lebt mit der Statue ihres Geliebten. Hierin will der Verfasser eine
rationalistische Bearbeitung des Lenorenmotivs erblicken. In den Nachrichten der
Gesellschaft für Archäologie, Geschichte und Ethnographie an der Universität
Kasan (Bd. 21, S. 382ff.) teilt N. Katanov aus einem in Kasan 1766 gedruckten
Buche eine kirgisische und eine tatarische Version der Siebenschläferlegende mit.
Einen Beitrag zu den Schatzsagen liefert S. Vvedenskij (ebd. 22, S. 1—22).
T. Martemjanov stellt die wenigen, zumeist nicht im Volke selbst entstandenen
Lieder und Spiele zusammen, in denen das tiefe Leiden des durch die Leibeigen-
schaft bedrückten Volkes zum Ausdruck kommt (Istor. Vëstnik Bd. 105, S. 852 bis
868); dass deren so wenig existieren, wird doch durch die strenge Zensur der
Gutsherren nicht genügend erklärt. Als Kuriosität kann D. A. Speranskijs Buch
'Aus der Literatur des alten Ägypten , H. 1. Die Erzählung von den zwei Brüdern ,
'Die Urquelle der Sagen von Koscej , wie auch vieler anderer .... (St. Peters-
burg, 190«. 8 + 264 S.) gelten. Einer Übersetzung des bekannten altägyptischen
Märchens folgt eine Unmasse der kühnsten Vermutungen, ¿je man sich überhaupt
vorstellen kann. Der Verfasser versucht nachzuweisen, dass das genannte Märchen
einen ungemeinen Einfluss auf die Bildung der russischen Sagen, Märchen und
Lieder hatte. Die altägyptischen Erzählungen sollen nach Bussland teils direkt
lange vor der Christianisierung der Russen üiren 'Vorfahren', nämlich den
Skythen, teils indirekt durch griechische Vermittlung gekommen sein. Das Motiv
von den übernatürlichen Eigenschaften des Herzen Bitius soll im engsten Zu-
sammenhang mit dem verbreiteten Märchen yon dem unsterblichen Koscej und
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 23
346
Polívka:
ähnlichen Märchen der europäischen und asiatischen Völker stehen. Dass das
Versteck der Seele Koscejs ein ganz anderes ist als das von ßitius Herzen, dass
Koscej stirbt, wenn das Ei an seiner Stirn oder anders zerschlagen wird, Bitiu
aber stirbt, als der Baum, in dessen Blüte sein Herz verborgen ist, gefällt wird,
und wieder lebendig wird, nachdem sein Bruder das Herz gefunden und es ihm
in Wasser zu trinken gegeben hat, um solche Kleinigkeiten kümmert sich der Ver-
fasser nicht. Um seinen Phantastereien festeren Grund zu geben, nimmt er seine
Zuflucht zu unmöglichen etymologischen Erklärungen. Den Namen des russischen
Unholden Kovsej (so heisst er in einigen Versionen statt Koscej) bringt er in Ver-
bindung mit Kausu, Kus, dem Namen der Provinz, deren Verwalter Bitiu wurde.
Mit der altägyptischen Geschichte hängt eine andere Gestalt des russischen Volks-
epos zusammen, Idolisce poganoje, und zwar mit der Zeit der 19. Dynastie,
Ramses II. Sesostris. Diese Gestalt tritt noch unter anderen Namen im russischen
Epos auf, wie Badan Badanovic, Batyg Batygovic, Kalin-car, und alle diese Namen
werden aus der altägyptischen Geschichte erklärt. In Nubien war ein Negerstamm
Namens Kali, ein anderer Namens Tar-tar. So konnte nun der schreckliche König
Kovsej, d. i. Ramses II., oder sein späterer Nachfolger Sabakon, in den Volks-
traditionen car-Kalin oder Tatarin nach den unterjochten Völkern genannt werden.
Wenn Badan auch sobaka (= Hund) -car heisst, so ist das ein Überbleibsel aus
der altägyptischen Geschichte, ebenso der Name seines Sohnes Torokaska; so Messen
die letzten Herrscher der glänzenden Periode Ägyptens oder wenigstens seiner
Selbständigkeit, Sabakon und Tacharak. Ähnlichen Proben eines staunenswerten
Scharfsinnes begegnen wir im Buche auf Schritt und Tritt. — A. Wetuchow
setzte seine oben 16, 220 erwähnte Studie über Beschwörungs-und Verwünschungs-
formeln fort (Rus. filolog. vëstnik Bd. 54, 271—293. 55, 246—274. 56, 2-S4—323).
Einen Artikel zur Methodologie des Studiums der Volkspoesie, zugleich eine
Kritik der verschiedenen Theorien wie auch eine kurz gedrungene Übersicht der
Entwicklung dieser Wissenschaft in Russland schrieb N. Trubicyn (Rus. filolog.
vëstnik 54, S. 361—387). Nicht unerwähnt soll der Aufsatz S. Kuznecovs
'Zur Frage von Biarmia' (Etnograf. Obozr. 65—66, 1—95) bleiben; es werden die
betreffenden Stellen skandinavischer Sagen genau analysiert, alle von skandinavischen,
finnischen, russischen Gelehrten geäusserten Erklärungen von neuem kritisiert, die
Identifizierung mit Perm abgelehnt und dieses Land bei der Varanger Bucht,
vielleicht in der Nähe der Halbinsel Kola oder etwas weiter westlich vermutet.
Allgemeine ethnographische Beschreibungen einzelner Stämme, Bezirke,
Dörfer sind selten. Zu erwähnen ist der Aufsatz von Dm. Zelenin 'Bei den
Orenburger Kosaken' (Etnograf. Obozr. 67, 54—78) eine genaue Beschreibung eines
Kosakendorfes am linken Ufer des Flusses Ural, der sozialen Verhältnisse, der
Beschäftigung, Haus, Nahrung, Tracht, Hochzeit, allgemeine Charakteristik der
Leute (im ganzen ein sehr tristes Bild), Sektenwesen (einige dort ange-
siedelte molokanische Familien) u. a. — J. Abramov berichtete über den Volks-
stamm Sajanen im Gouv. Kursk (Ziv. Star. 15, S. 203—220), über die Erklärungen
dieses Namens, wahrscheinlich nach der typischen Tracht der Frauen, über die
Tracht, den Dialekt, teilte noch einige Lieder mit. Über einen anderen Stamm
desselben Gouv., die sog. Cukanen schrieb Andr. Sidorov (ebd., Abt. 4, S. 54)
einige kurze Bemerkungen. Diegrösste Arbeit dieser Art, das Buch S. V. Martynovs
'Das Land der Petschora, Skizzen der Natur und des Lebens, Bevölkerung, Kultur,
Gewerbe' (St. Petersburg 1905. 276 S.) ist uns nur aus Rezensionen bekannt
(Etnograf. Obozr. 67, 142IT., Vëstnik Jerospy 1906, März, S. 381 ff-)* Nach diesen
gibt es ein vollständiges Bild der das Land bewohnenden Stämme und Völker,
Berichte und Bücheranzeigen.
347
bis zu den Samojeden, schildert die religiösen Verhältnisse, die Staroobrjadzen u. a. ;
Aberglauben, Zauberer, damit er den Brautleuten bei der Hochzeit nicht Schaden
zufügen könne, ziehen sie unter dem Kleid ein Netz an: der Teufel muss vorher
alle Knoten des Netzes lösen, um Macht über sie zu erlangen; Beschwörungs-
formel; krankhaftes Schluchzen, besonders bei den Frauen stark verbreitet, u. a.
Hierher gehört noch die recht düstere Schilderung der Bauernbevölkerung, ehe-
maligen Freisassen aus einem Dorfe des Bz. Niznedëvick, Gouv. Yoronez, von
Thed. Polikarpov in dem Almanach des Gouv. Veronez für das Jahr 1906 (vgl.
Etnograf. Obozr. H. 68—69, 143 f.).
Auch das letzte Jahr brachte verschiedenes neues Material, vorerst aus der
epischen Poesie. N. Sajzin gab eine kleine Sammlung epischer Volkslieder aus
dem Lande Olonec heraus, im ganzen 14 Nummern in einem eigenen Büchlein
'Oloneckij Folklor' (Petrozavodsk 1906. 14 + 176 S. 16°). Vorausgeschickt ist
eine kurze Übersicht der bisherigen Sammlungen russischer epischer Lieder. Die
hier abgedruckten Lieder sind durchweg Varianten bereits bekannter und gedruckter
Lieder, bis auf ein ziemlich langes, 241 Verse zählendes Lied: 'Die verunglückte
Werbung des Fürsten Vladimir', welches bisher nicht aufgezeichnet worden ist,
obwohl wir aus diesem Gebiete die umfangreichen Sammlangen Rybnikovs und
Hilferdings besitzen. Hier bietet S. eine wirkliche Bereicherung der russischen
Epik. Er fügt noch einige Bemerkungen über die Rezitatoren dieser Lieder hinzu,
vier Männer und zwei Frauen, von denen er besonders eine Bäuerin dem besten
Rezitator Rjabinin zur Seite stellt.
In unserem letzten Berichte (oben 16, 221) wurde der Tätigkeit der Mos-
kauer Gesellschaft der Freunde der Naturwissenschaften, Anthropologie und
Ethnographie, für Musikethnographie gedacht. Die zu diesem Zwecke eigens bei
dieser Gesellschaft gebildete 'Kommission' gab nun den ersten Band ihrer Arbeiten
(Trudy) heraus. Daraus seien hier hervorgehoben der erste Band der von
A. V. Markov, A. A. Maslov und B. A. Bogoslavskij herausgegebenen
Materialien, die im Sommer 1901 im Gouv. Archangelsk gesammelt wurden, und
zwar am Winterufer des Weissen Meeres: 1. religiöse, 2. epische und historische
Lieder und 3. Klagegesänge, ferner zwei kleinere Aufsätze von N. A. Jancuk,
deren erster über das Studium des Volksliedes und die lätigkeit der genannten
Kommission berichtet, während der zweite die Bedeutung der Arbeiten des
Fürsten V. Th. Odojevskij für die Geschichte der russischen kirchlichen und
völkischen Musik bespricht. Leider konnte ich bisher diese Arbeiten trotz direkter
Bitten nicht zu Gesicht bekommen. Lber eine Handschrift mit Traumdeutungen
und Liedern, auch einigen Volksliedern aus dem ersten Viertel des 19. Jahr-
hunderts, berichtet M. N. Speranskiy (Etnogr. Obozr. 6h 6!), 98). Neue Fassungen
der Lieder vom Fürsten Wladimir, Ilja Muromec, Dobrynja Nikitie, Solovej
Budimirovic, Vasilij Buslajev u. a. wurden in der Zs. Zivaja Starina abgedruckt
(Bd. 15, Abt. 2, S. 1—4. 81—88. 123—129), daneben auch religiöse epische Lieder
aus dem Gouv. Novgorod, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
aufgezeichnet worden sind (ebd. S. 10 bo), unter anderem Golubinaja Kniga,
vom hl. Georg, weiter religiöse Lieder apokryphen Inhalts aus dem Gouv. Jaroslav
(ebd. 34—61). M. N. Speranskij besprach (Etnograf. Obozr. H. 68—69, S. 1—28)
das Liederrepertoir des Volkssängers T. Semenov und gab einige von ihm ge-
sungene epische geistliche Lieder heraus. Viel Aufmerksamkeit wird den kurzen
vierzeiligen Liedchen zugewendet; eine grössere, 607 Nummern zählende Sammlung
aus dem Gouv. Nowgorod gab kritisch geordnet und bearbeitet D. Zelenin heraus
(Etnograf. Obozr. 65—66, 161—230), eine kleinere aus dem Gouv. Jaroslav
23*
f
348
Polívka:
(ebd. 67, 120), eine andere aus Caricyn an der Wolga (Ziv. Star. Bd. 15, Abt. 2,
S. 75—80), andere zweizeilige 'Liebeslieder', eigentlich Leideslieder ('stradanija';
stradat = leiden synonym mit 'ljubit' = lieben) aus dem Gouv. Tula (Etnograf.
Obozr. 68—69, 101). Auch die jüngsten Produkte der 'Volkspoesie' finden Eingang
in die ethnographischen Zeitschriften (Ziv. Star. Bd. 15, Abt. 5, S. 8), da in den-
selben ein Übergang vom alten, absterbenden Volksliede, das den neu sich geltend-
machenden Weltanschauungen nicht mehr genügt, zur individuellen Kunstpoesie
erblickt wird.
Zur weissrussischen Yolkspoesie finden wir sehr wenige Beiträge. E. Jakuskin
macht auf eine im Jahre 1884 in nur 20 Exemplaren gedrukte Sammlung weiss-
russischer Hochzeitslieder aufmerksam (Etnograf. Obozr. 68—69, 96). Ausserdem
wurde noch ein weissrussisches Lied vom Lazarus (Ziv. Star. Bd. 15, Abt. 2,
S. 109) veröffentlicht, mit einigen Bemerkungen über das Musikinstrument 'lira'
und die 'lirnik' genannten professionellen, blinden oder mit anderen körperlichen
Defekten behafteten Sänger religiöser Lieder. — Märchen, Sagen u. ä. wurden
fast gar nicht beachtet. Bloss aus dem Gouv. Tula wurde eine Legende ab-
gedruckt (Ziv. Star. Bd. 15, Abt. 5, S. 36 f.), warum so viel Kinder - in Russland
sterben: einer unglücklichen Mutter erschien die Mutter Gottes und zeigte ihr,
was für schlechte, missgeratene Leute aus ihren Kindern geworden wären, und
daher wurden also ihre Kinder nicht am Leben gelassen. Nicht unerwähnt soll
bleiben eine von P. Gorodcev (Etnograf. Obozr. H. 68—69, S. 108) abgedruckte
westsibirische Version der Sage von Dido und der Eroberung Karthagos. — Sprich-
wörter und Redensarten teilte V. Antipov aus dem Gouv. Nowgorod (£iv. Star.
Bd. 15, Abt. 2, S. 69—74), und G. Jakovlev aus dem Dorf Saguny, Bz. Ostrogozsk,
Gouv. Voronëz mit, eine kurze Beschreibung des Ortes vorausschickend. Eine
Sammlung von Rätseln aus dem Bz. Totma, Gouv. Vologda lieferte M. Jedemskij
(ebd. S. 62). Nicht ohne ethnographischen Wert sind Liebesbriefe des Volkes,
solche teilte nun auch N. Vinogradov mit (ebd. Abt. 5, S. 37).
Wenige Beiträge finden wir über Hochzeitsgebräuche, so über die Hochzeit
bei den Russen und Zyrjanen im Gouv. Tobolsk (Jahrbuch der russ. anthropol.
Ges. 1, 327—354), dann einige Bemerkungen aus dem Gouv. Kursk (2iv. Star.
Bd. 15, Ab. 5, S. 1 f.). Frau V. Charuzina schrieb einige Berichte über Gebräuche
beim Gebären, Taufen und bei der Kinderpflege in einem Bezirke des Gouv.
Olonec (Etnograf. Obozr. 68—69, 88—95). D. Zelenin beschrieb in einem
selbständigen Buche (Vjatka 1906) ein im Gouv. Vjatka begangenes Fest
'Trojecypljatnica', welches mit der alten Verehrung der Henne, als dem Symbol
des Ehebündnisses, zusammenhängen soll. Ein eigentümlicher Rest des alten
Gebrauches der Leichenverbrennung hat sich im Gouv. Smolensk erhalten nach
einer Notiz in der Ziv. Starina (Bd. 15, Abt, 4, S. 2). Vereinzelt sind Beiträge zur
Kenntnis des Aberglaubens. D. Uspenskij berührte eine sehr interessante Frage,
den Einfluss des Volksaberglaubens auf die kirchliche Ikonographie zu erforschen
(Etnograf. Obozr- H. 68—69, S. 73—87); hierher gehört nicht nur das Abbilden
von Heiligen mit Hundeköpfen, der Schwester-Fiebergeister u. a., sondern auch auf Ge-
mälden des jüngsten Gerichtes die Darstellung Lennontovs oder des Grafen LeoTolstoj
in der Hölle. N. Vinogradov stellte in einem eigenen Buche (Kostroma 1905)
die bei der Bienenzucht üblichen Aberglauben, Beschwörungsformeln u. a. zu-
sammen. Über 'heilende Bäume' in Weissrussland berichtet V. Kostko in der
Ziv. Star. (Bd. 15, Abt. 5, S. 56); es sin(j aber eigentlich nicht heilbringende Bäume,
sondern es wird das we^verbreitete Mittel angewendet, dass besonders mit
psychischen Krankheiten behaftete Leute durch das Loch im Baum kriechen oder
Berichte und Bücheranzeigen.
349
gezogen werden; dann zerreissen die Leute jenen Teil der Kleidung, welcher
an dem wunden Körperteil sich befand, werfen ihn zu dem Baume und ziehen
eine neue, speziell dazu mitgebrachte Kleidung an. Wer den zerrissenen Anzug
nimmt, erkrankt an derselben Krankheit, an welcher der nun Geheilte litt. —
Einen interessanten Bericht gab N. Bekarevic in den 'Trudy' des zweiten
archäologischen Kreistages Twer im Jahre 1903 über die im Gouv. Kostroma in
den Hühnerställen aufgehängten 'Hühnergötter', kleine, rohgeformte Steinchen, um
Krankheiten von den Hühnern fernzuhalten. Fürst S. N. Trubeckij untersuchte
die Frage der sog. 'Zolotaja baba' (Etnograf. Obozr. G8—69, 52—62), einer bei
den Wogulen und bei den ugrischen Stämmen Sibiriens verehrten Gottheit, die
auch zu den Stämmen Perms drang.
Über das Bauernhaus in einigen Ortschaften des Gouv. Jekaterinoslav, Bz.
Verchnednëprovsk schrieb V. Charuzina (Etnograf. Obozr. H. 65—66, S. 127 bis
147), über das Haus des weissrussischen Bauern in einigen Ortschaften des
Bezirkes Mglinsk, Gouv. Cernigov, M. Kosic (Ziv. Star. Bd. 15, Abt. 1, S. 74 — 93).
Recht wenig Aufmerksamkeit wird der Beschäftigung des Volkes zugewendet.
Über die Entwicklung der Töpfer-Hausindustrie, sowie auch über die Verbreitung
feuersicherer Bauten schrieb M. Bëlavenec in den 'Zapiski' der kais. russ.
technischen Gesellschaft (39, 617—671), über primitive Töpferei im Gouv. Moskau
machte einige Bemerkungen N. Smirnov (Ziv. Star. Bd. 15, Abt. 1, S. 170). Nicht
uninteressant ist ein kleiner Aufsatz von V. Antipov (ebd. S. 129) über Lösung
von Grenzstreitigkeiten bei den Bauern; bisweilen bestimmte ein vertrauenswürdiger
Bauer mit einem Stück Rasen am Kopf die Grenze, anderswo entschied ein Zwei-
kampf zwischen zwei Dörfern. — Ziemlich zahlreich sind die Arbeiten über das
russische Sektenwesen. Über die Duchoborzen handelt S. Stawrow (Christianskoje
Ötenije 1905 Nr. 2—3), über die Stundisten, Stundotolstovzen, Chlysten und Skopzen
im Gouv. Kursk V. Sevalejevskij (Das kurskische Sektenwesen. Kursk 1905),
ein grösseres Werk über Sektenwesen veröffentlichte A. R. Borozdin (St. Peters-
burg 1905); über die Altgläubigen schrieb D. Zelenin (Kazan 1905; vgl. Etnograf.
Obozr. 67, 139 f.), derselbe über die Verbreitung geheimer Sekten in dem Lande
an der Kama (Etnograf. Obozr. 68—69, 105); über die jetzigen religiösen Wirren
bei den ehemaligen russischen Uniaten in Russisch-Polen und ihien Hass gegen die
Orthodoxie berichtetete P. Korenevskij 'üntei den Kaiakuten (Istor. Vestnik 103,
204). —
Unter den Arbeiten zur kleinrussischen \olkskunde sei zuerst erwähnt die
von Alex. Grusevskij verfasste Charakteristik der Tätigkeit des um die Hebung
der Schätze der kleinrussischen Volkspoesie hochverdienten M. Maksimovic
(1804—1873), bes. seiner historischen Arbeiten (Izvëstija der Abt. f. russ. Sprache
Bd. 11, H. 1, S. 375—416). Die gesammelten Abhandlungen Mich. Dragomanovs
über kleinrussische Volkstradition und Literatur sind unter der Redaktion von
M. Pavlyk auf Kosten der wissenschaftlichen Sevcenko-Gesellschaft bis zum dritten
Bande gelangt (Lemberg 1906. 6 und o62 S.), der kleinere in den Jahren 1869 bis
1889 in verschiedenen galizischen und in westeuropäischen Zeitschriften, wie
Rivista Europea, Londoner Athenaeum, Melusine gedruckte Aufsätze, Rezensionen
und Referate enthält. Von den grösseren Arbeiten, die Dragomanov nach seiner
Berufung an die neugegründete Universität Sofia in dem vom bulgarischen Kultus-
ministerium herausgegebenen 'Sbornik' veröffentlichte wurden aufgenommen: 'Die
slawischen Erzählungen von der Opferung des eigenen Kindes' (S. 149—183), 'Die
slawischen Erzählungen von der Geburt Konstantins des Grossen' (S. 193—294),
zugleich mit dem Vortrage, den er darüber 1889 im internationalen Kongress der
350
Polívka:
Traditionisten hielt (S. 184—192), und 'Slawische Varianten einer Evangelienlegende'
(S. 295—308. Der geizige Bauer wird von Jesus in einem Esel verwandelt). Hin-
zugefügt sind aus Dragomanovs Nachlass Nachträge zu seinen eigenen Arbeiten,
alle, obgleich sie, wie auch die Originale der bulgarisch veröffentlichten Ab-
handlungen, grossrussisch abgefasst wurden, in kleinrussischer Übersetzung. —
Nicht bloss für die kleinrussischen Volkstraditionen, sondern für die Stoffgeschichte
überhaupt ist höchst wertvoll der Aufsatz des Dr. Iwan Franko 'Das Lied vom
Recht und Unrecht' (Mitteil, der Sevcenko-Gesell. d. Wissensch. 70, 1 — 70). Er
untersucht die kleinrussischen Fassungen dieses Liedes, das grossrussische Lied,
den Zusammenhang jener mit einem altrussischen Traktat vom Recht, der vor dem
14. Jahrhundert auf russischem Boden entstand; da die literarische Tradition später
in die breiteren Massen drang, wird die Entstehung des grossrussischen Liedes
in das 16., des kleinrussischen in das 17. Jahrhundert zu setzen sein. Dazu fügt
Franko eine Übersicht dieses Stoffes in der mittelalterlichen Literatur West-
europas (S. 41) und des Märchens 'Die zwei ungleichen Brüder', das gewöhnlich
mit der Wette beginnt, ob Recht oder Unrecht besser sei (R. Köhler 1, 281. 465).
Mit Cosquin, dessen Ausführungen er durch slawisches Material vervollständigt,
sucht Franko die indische, buddhistische Heimat dieses Stoffes zu erweisen Den
Stoff zu erschöpfen, war nicht sein Ziel, doch hätte er das indische Material aus
Clouston (Pop. Tales and Fictions 1, 249. 464f.) vermehren und für den Nachweis
der Wanderung die kaukasischen Versionen (Sbornik mater, kavkaz. Bd. 19, Abt. 2,
S. 104. Bd. 24, Abt. 2, S. 252), und die der Balkanvölker heranziehen können.
Derselbe Gelehrte vergleicht die Legende vom Tode des Kosakenhetmans
Nalivajko auf einem ehernen Stier mit der alten Legende von Phalaris, wie sie
bei Vincentius Belloracensis erzählt wird (Naukovyj Zbirnyk zu Ehren Prof.
M. Hrusevskyjs S. 76—90). In demselben Bande (S. 538—575) untersucht ein
jüngerer Gelehrter, Zenon Kuzelja, slawische Balladen, in denen ein Jüngling in
Frauenkleidern oder in einem Sack zur Schönen dringt und sie verführt; in einer
slowakischen Ballade, die sich westlich bis nach Böhmen und in die Ober-Lausitz
und östlich in die Ukrajne verbreitet hat, spielt König Mathias Corvinus die Rolle
des verkleideten Liebhabers; diese Ballade ist verwandt mit der italienischen
'La falsa monaca' oder 'Margherita', Die deutschen und altdänischen Balladen
'Zeit bringt Rosen' u. a. trennt der Verfasser von den romanischen, bringt sie
aber in ein näheres Verhältnis mit den südslawischen Liedern vom Herzog
Janko, Tomica Mesic und auch neugriechischen (Passow Nr. 478 u. a). Das Motiv
des Liebhabers im Sack erscheint in polnischen und wendischen Liedern, die mit
den deutschen Liedern vom Edelmann im Habersack (Erk-Böhme Nr. 146) verwandt
sind. — Kuzelja stellt ferner in einer grösseren Abhandlung 'Der ungarische
König Mathias Corvinus in der slawischen Volksdichtung. Eine Analyse der mit
seinem Namen verbundenen Motive' (Mitteil, der Sevcenko-Ges. d. Wissensch. 67,
1—55. 68, 55—82. 69, 31—69. 70, 86—113; auch SA.), die Lieder auf König
Mathias, die besonders bei den südslawischen Völkern verbreitet waren, zusammen
und sucht ihr Verhältnis zu ähnlichen romanischen und germanischen Balladen
festzustellen. Bei den Serben und Kroaten erscheinen Lieder von der Wahl
Mathias zum König von Ungarn und seiner Krönung; die Krone wird in die Luft
geworfen und fällt immer auf Mathias Haupt. Diese Sage ist hauptsächlich in den
Grenzen Ungarns lokalisiert, kommt aber bereits im Alexanderromane und in einem
syrischen Romane vor (Zs. d. deutsch, morgenl. Ges. 28, 278). Andere Sagen des
Westens und des Orients von Königswahlen und Krönungsweisen hat der Verf.
nicht herangezogen. Noch beliebter ist König Mathias in der Volksdichtung der
Berichte und Bücheranzeigen.
351
Slowenen. In einer Ballade befreit er seine Frau aus der türkischen Gefangen-
schaft. Dazu vergleicht K. das serbokroatische Volkslied von Marko Kraljevic
und Mina Kosturanin und das romanische 'Il moro Saracino', und zeigt, dass
letzteres die serbokroatische und slowenische Ballade beeinflusste, dass aber
zwischen diesen beiden keine direkte Verwandtschaft besteht. Eine zweite
slowenische Ballade erzählt von der Befreiung des Königs Mathias aus der tür-
kischen Gefangenschaft mit Hilfe der Tochter des Sultans. Auch hier vergleicht
K. zuerst die serbokroatischen Lieder von der Befreiung des Marko Kraljevic
durch die Sultanstochter, prüft deren Verhältnis zum byzantinischen Gedicht von
Digenis und Akritas und hebt die bedeutenden Unterschiede zwischen ihnen
hervor, er vergleicht weiter die englische Ballade 'The fair flower of Northumber-
land' u. a. und zeigt, dass die englische Version A dem serbokroatischen Liede
näher steht als die byzantinisch-griechische. Die Quelle der slowenischen Ballade
ist schwer zu bestimmen; sie stellt wohl eine Bearbeitung des in Frankreich,
England und Deutschland populären Themas dar und» entstand unter dem Einfluss
des serbokroatischen Liedes von Marko Kraljevic wie auch heimischer historischer
Traditionen. Ferner bespricht K. die slowenischen Sagen vom Traume und der
Rückkehr des König Mathias und ähnliche slawische Erzählungen von schlafenden
Rittern, die in engem Zusammenhang mit den deutschen Sagen von Friedrich
Barbarossa stehen; er zieht auch polnische und kleinrussische Sagen heran, ohne
jedoch den Stoff zu erschöpfen; so bleiben z. B. zwei kleinrussische Sagen aus
Galizien (Etnograf. Zbirnyk 12, Nr. 181 u. 193) unerwähnt. Endlich geht er kurz
auf die Ballade von Mathias ein, die er schon in der oben erwähnten Abhandlung
genauer untersucht hatte. K. hat in dieser seiner ersten grösseren Arbeit ein
kolossales Material durchforscht und eine gründliche Kenntnis nicht bloss der
slawischen Volksüberlieferungen, sondern auch der westeuropäischen Literaturen
gezeigt. — VI. Danilov versucht Nachklänge des epischen Liedes vom Kampfe
Dobrynja Nikitics mit dem Drachen in den kleinrussischen Volkstraditionen nach-
zuweisen (Kijevskaja Starina 1905, H. 9, S. 104); ihm erscheint die Legende vom
Kampfe Dobrynjas mit dem Drachen, der das Heidentum verkörpert, als ein
Produkt des Kiewschen Volksgeistes, das in der kleinrussischen Sage von der
Insel Perun nachklingt (vgl. Mitt der Sevcenko-Ges. 74, 163 f.). Derselbe Verf.
liefert ausserdem einen kleinen Beitrag zur Geschichte der kleinrussischen geist-
lichen epischen Lieber (ebd. H. 1,^ S. 7), und untersucht die lotenklagen (ebd.
H. 3—4, 11—12, vgl. Mitteil, der Sevcenko-Ges. 74, 227—230). Wichtig ist der
grossangelegte, noch nicht abgeschlossene Aufsatz \ on ¥ ilaret K o 1 e s sa, 'Die Rhythmik
der ukrainischen Volkslieder' (Mitteil, dei Sevcenko-Ges. d. Wiss. 69, 7-—-30. 71,
44_95. 72, 80—111. 73, 65—118. 74, 33—68). Nach einer Übersicht der wissen-
schaftlichen Arbeiten über den rhythmischen Bau der ukrainischen, grossrussischen
und serbischen Volkslieder geht der Verf. im 2. Kap. zur Untersuchung der Ent-
wicklung der Rhythmik in der kleinrussischen Volksdichtung über. Nach einigen
Bemerkungen über den Ursprung des Rhythmus, über die bloss von Männern und
bloss von Frauen oder Mädchen gesungenen Lieder, über professionelle Sänger in
Russland vom 11. Jahrhundert bis zu den neueren Kobzaren-Banduristen und
Lirnykern, hebt er die älteren und jüngeren Schichten der gesammelten Lieder
hervor. Die ursprünglichste findet er in zwei lotenklagen, dann in ähnlich gebauten
historischen Liedern (dumy); andere archaische Formen haben sich in einigen
Hochzeits- und Ernteliedern erhalten. Das Streben nach Gleichförmigkeit in Text
und Melodie äussert sich vorzüglich in den Schlusversen der Lieder. In einem
dieser festen Schlüsse wird der letzte Ton der musikalischen Phrase und die ent-
352
Polívka:
sprechende Silbe im Text verlängert, in einer jüngeren dagegen der vorletzte
Ton und Silbe. Die weitere Entwicklung geht auf die Feststellung einer be-
stimmten Anzahl von Silben im Yerse, die innere Ausbildung des Verses, seines
Rhythmus, die Entwicklung bestimmter Cäsuren, des Refrains, der Palilogie,
Wiederholung von Halbversen u. a, des Strophenbaues, des Parallelismus, der
Alliteration, des Reimes, der gewöhnlich zweisilbig, doch auch einsilbig, selten
dreisilbig ist, manchmal auch Binnenreim. Die Entstehung des Reimes möchte
der Verf. nicht ganz westlichem Einflüsse zuschreiben. In den folgenden Kapiteln:
„Der musikalisch-syntaktische Fuss" und „Übersicht der Liederformen" wird der
grosse Reichtum der rhythmischen Formen der kleinrussischen Volkspoesie und
der Bau ihrer Melodien genau analysiert. Angehängt ist (74, 53) eine kurze
Charakteristik gleichartiger Versmasse und Melodien in der slawischen Volkspoesie,
deren gemeinsame Grundlagen und besondere Züge in dem rhythmischen Bau K.
hervorhebt. Die Ähnlichkeit im Vers- und Strophenbau der slawischen Volks-
lieder und der lateinischen kirchlichen Hymnen glaubt er nicht einseitig durch
blosse Abhängigkeit der ersteren von lateinischen Mustern erklären zu dürfen, da
die Liederform der slawischen Volkspoesie weit älter als die ziemlich späten
westlichen Einflüsse sei. Und so neigt der Verf. zu der Meinung, dass sich in
der Volkspoesie der Slawen unabhängig von den lateinischen Mustern das Prinzip
des musikalisch-syntaktischen Fusses, die Typen des Versmasses, die zweizeilige
Strophe, die Hervorhebung der Schlüsse syntaktischer Ganze durch den Akzent,
und vielleicht sogar der Reim (!) gebildet habe. — Kol es sa bespricht ausserdem
die Sammlung und Harmonisierung der kleinrussischen Volkslieder (Artyst.
Vistnyk 1905, H. 2—5). — Rüstig schreitet die Publikation neuer Volkslieder-
sammlungen vorwärts. Von diesen ist in der letzten Zeit die grossartigste, die
von Volodymyr Hnatjuk besorgte Sammlung der sog. Kolomyjky (Bd. 1, 43 + 259 S.
Bd. 2, 315 S.), kurzer, gewöhnlich zweizeiliger, doch auch vier- bis sechszeiliger
Liedchen in zwölf- bis vierzehnsilbigen Versen. Sie sind auf die Ruthenen von
Nordungarn, Bukowina und Galizien beschränkt, doch hier ungemein populär.
Gesammelt und aufgezeichnet wurden sie bereits in den zwanziger Jahren des
19. Jahrhunderts von Zaleski (Waclaw z Oleska), und bald darauf von Zegota
Pauli, in grösserer Masse später von Jakob Holowackyj. Hnatjuk stellte seine
Sammlung grösstenteils aus handschriftlichen Sammlungen zusammen; er hatte 76
solche zur Verfügung, die das Material aus 213 Ortschaften in einem Bezirk Nord-
ungarns, 3 bukowinischen und 45 galizischen Bezirken bringen. Ausserdem be-
nutzte er die älteren gedruckten Sammlungen, die er teils für den Text, teils für
die vergleichenden Noten verwendet. In den vorliegenden zwei Bänden sind
5792 Liedchen abgedruckt. Sie sind in verschiedene Gruppen eingeteilt: 1. Völker
und Volksstämme, 2. Geographische Namen, 3. Taufnamen, 4. Musik, Tanz,
Gesang, 5. Tracht, 6. Soldaten, 7. Natur (nicht bloss Naturerscheinungen, Pflanzen,
Tiere, Körperteile, sondern auch Nahrungs- und Genussartikel, Krankheiten),
8. Familienleben (auch häusliche Beschäftigungen), 9. gesellschaftliches Leben.
In der Einleitung gibt H. eine kurze Charakteristik dieser Lieder, gegen Prof.
Sumcov polemisierend und gewiss mit Recht eine nähere Verbindung der
Kolomyjky mit den polnischen Krakowiaken abweisend. — Auch der Musik-
Ethnographie wendet man ein intensiveres Interesse zu. Von Jos. Rozdol'skyj
und anderen wurden seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts in Galizien eine grosse
Anzahl von Melodien mittels des Phonographen gesammelt, die Stan. Ljudkevyc
in Notenschrift umgeschrieben hat. Der erste Teil (Etnograf. Zbirnyk Bd. 21,
23 + 187 S.) enthält 731 Melodien. Die Einleitung betont die Wichtigkeit des
Berichte und Bücheranzeigen.
353
Phonographen für derlei Sammlungen trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten,
legt die Gesichtspunkte bei der Redigierung dar, und gibt Bemerkungen über das
Verhältnis der ukrainischen Melodien zu den galizischen (die ersten stehen auf
einer höheren Stufe der Volksmusik, näher der musikalischen Kultur), über die
bedeutenden Unterschiede unter den galizischen Liedern selbst, über den Eitifluss
fremder, besonders polnischer Melodien. Einen mehr populären als wissenschaft-
lichen Zweck verfolgt V. Budzynovskyj mit seiner Auswahl kleinrussischer
Volkslieder (Kozacki easy v narodnij pisny, Lemberg 1906. 237 S. Vgl. die aus-
führliche Kritik Iv. Franko, Mitteil, der Wiss. Sevcenko-Ges. 73, 205—211). Ver-
schiedene kleinere Sammlungen wurden besonders in der Zs. 'Kievskaja Starina'
gedruckt, so 'Materialien zur Ethnographie der bessarabischen Ruthenen' (1905,
Bd. 10, S. 73—125), ausser Liedern und ein paar Erzählungen noch Rätsel und
Sprichwörter; ferner das historische Lied von Necaj in neuen Varianten (ebd.
Bd. 1, 66—88), die Ballade von der Bondarivna und dem Herrn Kaniowski (ebd.
Bd. 3, 480—494. Bd. 10, 9 if.), das Lied von der Befreiung von der Leibeigen-
schaft im Jahre 1861 (ebd. Bd. 9, llOff.), ein Weihnachtslied (ebd. H. 1, 12ff.),
eine grössere Anzahl epischer Lieder und auch einiger Märchen (ebd. 1904,
H. 2—11; vgl. Mitteil. d. Sevcenko-Ges. 70, 231—235) und eine Sammlung von
Märchen (ebd. 1905, H. 6—7, S. 117—165; vgl. Mitteil, der Sevcenko-Ges. 73, 222),
eine Satire auf habsüchtige Geistliche (ebd. H. 6, 242), Schatzsagen (ebd. H. 1,
S. 1). Ausserdem wurden einige Märchen noch in den 'Ctenija' der histor. Gesell-
schaft des Chronisten Nestor (Bd. 18, S. 3) abgedruckt (vgl. Mitteil, der Sevcenko-
Ges. 69, 20f.) und nebst einigen Ortssagen eine Beschreibung des Johannisabends
in Wolhynien mitgeteilt (2ivaja Starina Bd. 15, Abt. 1, S. 155—169).
Weniger zahlreich sind die Beiträge über Brauch und Aberglauben. Der
wichtigste und wertvollste darunter ist das von Dr. Zenon Kuzelja bearbeitete
Buch 'Das Kind in Brauch und Glauben des ukrainischen Volkes' (Materialien zur
ukrainisch-russischen Ethnologie Bd. 8. 6 + 220 S.). Die Grundlage des Buches
waren von einem sich bescheiden unter den Anfangsbuchstaben seines Namens
verbergenden Ethnographen im Süden des Gouv. Kiew gesammelte Materialien,
die grossenteils von den Bauern selbst niedergeschrieben, ein um so getreueres
und zuverlässigeres Bild der verborgensten Winkel ilnes physischen und psychischen
Lebens bieten. Kuzelja hat sich nicht mit einem blossen Abdruck dieses Materials
begnügt, sondern es mit zahlreichen wertvollen Anmerkungen und Hinweisungen
auf ähnliche Erscheinungen im Leben andeiei verwandter und fremder Völker
versehen. In der einleitenden Studie übei Schwanger schaft, Geburt und Gebräuche
und Gewohnheiten bei der Geburt (S. 1 -59) zeigt er gründliche Kenntnis der
einschlägigen Literatur. Der grössere feil des Buches ist weniger dem Kinde
gewidmet, als dem geschlechtlichen Leben besonders der Frau. Diese Materialien
werden durch eine volkstümliche Somatologie und den einzelne Teile des mensch-
lichen Organismus betreffenden Aberglauben eingeleitet. Es folgen Berichte über
unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, Menstruation, deren Verhältnisse
zur Schwangerschaft, geschlechtlichen Verkehr während der Menstruation, Beginn
des geschlechtlichen Lebens, geschlechtliches Leben der Männer (Pollution, aus
dem Samen Teufelchen); Furcht vor Kindersegen, Mittel dagegen, Ursachen der
Unfruchtbarkeit und Mittel dagegen, Verkehr zwischen Mädchen und Burschen
(1 — 120); das Kind vor der Geburt, die Frau während der Schwangerschaft, Frucht-
vertreibung u. a. (127—162); Geburt (163—171)5 Zeremonial und Gebräuche von
der Geburt bis zum ersten Kirchgang der Mutter (177—207), u. a. über die Namen-
gebung; das uneheliche Kind bringt Glück; Erzählungen von Missgeburten
354
Polívba, Boite:
(S. 208 f.) und Wechselbälgen (S. 209f.). — Ausserdem ist ein kleiner Aufsatz über
die Hochzeit von Vol. Jablonovskyj zu verzeichnen (Kiev. Starina 1905, H. 5,
S. 205—227). Rechtsbräuche betreffen zwei kleinere Aufsätze Or. Levickij von
der Begnadigung1 eines Verbrechers, den ein Mädchen zu ehelichen verspricht
(ebd. H. 1, S. 89; vgl. Mitteil, der Sevcenko-Ges. Ei. 73, 214) und über Verlobung
Minderjähriger im 16. Jahrhundert (Kiev. Star. 1906, H. 1, S. 164). Einige Be-
merkungen über die Weltanschauung des Volkes eines Dorfes des Bezirkes
Radomysl, Gouv. Kiew, schrieb Iv. Savcenko (Zivaja Star. 15, Abt. 2, S. 105),
Vorstellungen von Himmel, Sternen, Sonne, Mond usw. Den Gebrauch des Mohns
in der Volksmedizin behandelt Iv. Bënkovskij (Kiev. Starina 1905, H. 4, S. 34f.);
ferner eine Beschwörungsformel gegen Rotlauf (ebd. H. 11—12, S. 66f.); über
Lostage, besonders die Christwoche (Strannik 1905, H. 12). Interessante Parallelen
zwischen den ruthenischen Stämmen der Karpathen und den kaukasischen Stämmen
in Tracht, einzelnen Produkten der Hausindustrie u. a. weist Dr. Chv. Vovk nach
(Naukovyj Zbirnyk zu Ehren Prof. Hrusevskyj S. 595). Über die Nahrung bei den
Bojken schreibt Vol. Hnatjuk (ebd. S. 576—594), über das Schmuggeln von
Tabak, wie auch Rauchen und Kauen in den Gebirgen Galiziens Mich. Zubryckyj
(ebd. S. 409 — 432). Derselbe schildert ein solches Gebirgsdorf, Msanec (Mitteil,
der Sevcenko-Ges. 70, 114—167. 71, 96—133. 74, 93—128) und das Leben dort,
nebst einer Katasterkarte und einigen Urkunden zu seiner Geschichte vom 17. bis
zum Anfange des 19. Jahrhunderts. Zum Schluss sei noch ein Aufsatz von
Vadym Scerbakovskyj über aus Holz gebaute Kirchen in der Ukraine (Mitteil,
der Sevcenko-Ges. 74, 10—32) mit zahlreichen Abbildungen registriert.
Prag. Georg Polivka.
Georg Jacob, Geschichte des Schattentheaters. Erweiterte Neubearbeitung
des Vortrags: Das Schattentheater in seiner Wanderung vom Morgen-
land zum Abendland. Berlin, Mayer & Müller 1907. VIII, 159 S. 8°. 4 Mk.
Der 1896 in Lyon erfundene und heut bei uns als Volksbelustigung weit ver-
breitete Kinematograph hat seinen Vorläufer in dem seit mindestens 250 Jahren
in Europa heimischen Schattenspiel, das mit den Marionettenkomödien, dem
Raritätenkasten und der Laterna magica verwandt, von umherziehenden Schau-
stellern vielfach geübt ward und auch in unserer Literatur seinen Niederschlag
fand; so liess Goethe 1774 im Jahrmarktsfest zu Plundersweilen einen Schatten-
spielmann auftreten, und Arnim, Kerner, Uhland, Mörike, der Graf Pocci schrieben
Schattenspieltexte. Indes ist die Kunst, auf einer beleuchteten Leinwand mensch-
liche Figuren agieren zu lassen, die aus einfarbigem oder transparentem buntem
Leder geschnitten waren, schon in weit früherer Zeit bei asiatischen Völkern
nachzuweisen, und Ethnologen und Sprachgelehrte haben neuerdings diesen kind-
lichen Anfängen dramatischer Betätigung reges Interesse zugewandt. Ihre
Forschungen hat der tüchtige Erlanger Orientalist Jacob, der sich selbst lebhaft
daran beteiligt hatte, 1901 in einem Vortrage zusammengefasst, der uns nun in
erheblich erweiterter Form vorliegt. Er gewährt uns einen willkommenen Über-
blick über die weit verstreute Literatur, die er ausserdem in bibliographischer
Form verzeichnet hat1), und sucht vor allem die Stationen des Verbreitungsweges
1) G. Jacob, Erwähnungen des Schattentheaters in der Weltliteratur. Berlin, Mayer &
Müller 1906. 49 S. mit einer Tafel. 2 — Angehängt sind einige Nachweise über orien-
talische Puppenspiele und eine Abbildung der angeblichen Grabschrift des Karagöz zu Brussa,
die vielmehr, wie Jacob ZchnG. 58, 811 gezeigt hat, dem Schattenspieler Mustafa Tevfik gilt.
Berichte und Bücheranzeigen.
355
historisch zu belegen1); zu einer abgerundeten Darstellung, die auch Technik und
Stoffe gleichmässig berücksichtigte, ist die Zeit noch nicht gekommen. Zuerst
erscheint das Schattenspiel in Indien im 6. Jahrhundert n. Chr., von dort drang
es spätestens im 11. Jahrhundert nach Java und nach China; bei den Muham-
medanern ist es im 13. Jahrhundert nachweisbar. Um 1270 sind die drei er-
haltenen Komödientexte des ägyptischen Arztes Muhammad ibn Dânijâl verfasst,
die J. ausführlich bespricht; sie führen die Hochzeit mit einer hässlichen Braut,
das Jahrmarktleben, einen Knaben und seinen Liebhaber vor. Der Name der
lustigen Person im heutigen türkischen Schattenspiel Karagöz (= Zigeuner) taucht,
erst im 17. Jahrhundert auf. In dieser Zeit muss auch das Schattenspiel von
Tunis nach Neapel und Rom gelangt sein, von da aus kam es als 'italienische
Schatten' nach Deutschland2); in Frankreich erhielt es im 18. Jahrhundert den
Namen 'ombres chinoises'. Mit Recht zählt es also J. zu dem gleich Schach,
Dame, Spielkarten, Mailspiel aus dem Orient zu uns gewanderten Zeitvertreib3). —
Zu S. 117 verweise ich noch auf die Nachrichten über Berliner Schattenspieler
aus den Jahren 1796—1803 (Mitt. d. Y. f. Gesch. Berlins 1889, 138), zu dem
S. 118 erwähnten Liede über Adam und Eva auf Kopp, Archiv für Kulturgesch. 2,
317. Aus Max Herrmanns S. 126 zitiertem Buche hätte noch der Hinweis auf
den 'Raritätenkasten' (Leipzig 1798 S. 336—342: Abendvorstellungen oder Schatten-
spiel an der Wand. — Berlin Yz 5976) entnommen werden können. Der 1823
als Lehrer der Mathematik in Rossleben verstorbene A. W. Zachariä verfasste:
Kronprinzchen von Kinderland, ein Schattenspiel (Leipzig 1821) und Das neue
Schattenspiel aus Kinderland (o. J.). Dagegen gehören natürlich Theseus' Worte
aus Shakespeares Sommernachtstraum Y, 1 : 'Das Beste in dieser Art ist nur Schatten-
spiel' nicht in die Reihe dieser Zeugnisse. Nicht erwähnt ist auch die vor 30
bis 40 Jahren in Norddeutschland geübte Form des Schattenspieles, bei der nicht-
Figuren, sondern lebende Menschen mit grossen Pappköpfen hinter einer aus-
gespannten Leinwand agierten; so haben wir als Kinder z. B. das Narrenschneiden
und den Gang nach dem Eisenhammer aufgeführt. J. Bolte.
L. Maeterlinck, Le genre satirique dans la peinture flamande. 2 e édition
revue, corrigée et considérablement augmentée. Bruxelles, G. van Oest
& Co. 1907. VII, 386 S. 8°.
Maeterlincks Werk, das zuerst vor vier Jahren in den Denkschriften der
Brüssler Akademie erschien, behandelt einen sehr anziehenden Stoff mit aus-
gebreiteter Monumentenkenntnis und in flüssiger Darstellung. Wie Schneegans,
den übrigens unser Autor nicht zitiert, 1894 den Begriff der grotesken Satire an
der Gestalt Rabelais' darlegte, so bildet hier der erst neuerdings gebührend ge-
1) Also ganz anders als H. S. Rehms sehwaches 'Buch der Marionetten' (Berlin,
Frensdorf? 1905).
2) Ebenso waren die Guckkastenmänner zumeist italienischer Herkunft; vgl. die
Lieder bei Erk-Böhme, Liederhort 3, 515. Kretzschmer-Zuccalmaglio, Plainer
Schmidt, Werke 1, 399 (1826). Kopp, Zs. f. d. Unterricht 9, 604. Friedlaender, Lied im
18. Jahrhundert 2, 444. M. Herrmann, Jahrmarkts fest zu Plundersweilen 1900 S. 19.
3) Wenn J. aber S. 151 auch den Papierdrachen dazu rechnet, so widerspricht
dem, dass dieser schon auf altgriechischen Vasenbildern begegnet (Archäolog. Zeitung
1867, 125. Bullett. dell'Inst. archeol. 1868, 35. 38. Daheim 1881, Nr. 52, Beilage. 1882,
Nr. 8, S. 126).
356
Boite: Berichte und Bücheranzeigen. Notizen.
würdigte Antwerpener Maler Peter Breughel der ältere den eigentlichen Kern und
Mittelpunkt der Betrachtung. Und zwar ist weniger von seinen Landschaften und
biblischen Bildern die Rede, die bereits seine kräftige Selbständigkeit und seinen
derben Realismus offenbaren, als von seinen für die Kulturgeschichte und Volks-
kunde des 16. Jahrhunderts so wertvollen Sittenbildern und Allegorien, in denen
sich eine gesunde Moral mit seltsamer, oft düsterer Phantastik paart. Breughel
liefert dem Volkskundler eine reichhaltige Darstellung vlämischer Kinderspiele und
Sprichwörter, er hat für bekannte Schwänke wie das Schlaraffenland, den Krämer
mit den Alfen, den Kampf um die Hosen (das Symbol der Herrschaft im Hause),
die dem Narrenschneiden verwandte Operation des Kei (eines in der Stirn sitzenden
Steinchens), die blinden Blindenleiter den massgebenden bildlichen Ausdruck ge-
funden und bekämpft in seinen figurenreichen Spukallegorien die Tyrannei und das
Laster ungescheut. Hierbei tritt freilich öfter die verwirrende Häufung grotesker
Züge, in der sich der Betrachter kaum zurechtfindet, dem reinen künstlerischen
Genuss störend entgegen, ganz wie bei Rabelais und Fischart. Auf die Zeit-
genossen aber haben diese Kupferstiche ungemein anregend gewirkt, und ihr
Einlluss lässt sich bis ins 17. Jahrhundert hinein verfolgen. Maeterlinck aber hat
sich nicht begnügt, Breughel nebst seinen unmittelbaren Vorgängern, unter denen
Hieronymus Bosch hervorragt, und Nachfolgern zu betrachten, sondern er führt
uns in zehn voraufgehenden Kapiteln, die mehr als die Hälfte des Buches ein-
nehmen, auch die satirische Richtung in der antiken und mittelalterlichen Kunst
vor. Er bespricht den Einfluss der Tierdichtung und Tierfabel, der Teufelszenen
in den Mysterien, der französischen Fabliaux und Bestiaires, der vlämischen
Literatur auf die Miniaturen der Handschriften, die Teppiche des 14. Jahrhunderts,
dann die religiösen Bilder des 15. Jahrhunderts, die deutschen Stecher und Maler
satirischer Richtung und die älteren phantastischen Darstellungen des jüngsten
Gerichts,- des Totentanzes, der Versuchung des h. Antonius u. a. Man sieht, die
Grenzen sind weit gesteckt, sowohl in örtlicher als in sachlicher Beziehung.
Manches, was wir als Sittenbild bezeichnen würden oder was uns wohl scherzhaft
erscheint, ohne doch ursprünglich so gemeint zu sein, ist hier unter den Begriff
des Satirischen eingeordnet. Mit Vergnügen schöpfen wir aus dem reichen, über-
sichtlich ausgebreiteten Stoffe (239 Illustrationen!) Belehrung, allein bisweilen
möchten wir die Untersuchung schärfer geführt, die literarischen Quellen voll-
ständiger berücksichtigt sehen. Beim Streit der "Weiber um die Hosen z. B. (p. 199)
musste doch auf die zugrunde liegende Bibelstelle (R. Köhler, Kl. Schriften 2, 476),
bei Meldemanns [nicht Mildemanns] Nasentanz zu Gümpelsbrunn auf Hans
Sachsens Gedicht (oben 15, 30) hingewiesen werden. Auch die in der Tijdsehrift
voor nederlandsche Taal- en Letterkunde 14, 119 (1895) besprochenen nieder-
ländischen Bilderbogen des 16. Jahrhunderts hätten vielleicht Beachtung verdient.
Doch genug der Bemängelungen, die niemandem die Freude an dem interessanten
Buche verkümmern sollen. J. Bol te.
Notizen.
R. Andree, Scapulimantia. Boas Memorial Volume, New York 1906, p. 143—165.
— Über die Wahrsagung aus dem Schulterblatte eines Schafes, deren Ursprung bei den
Mongolen Innerasiens gesucht wird.
Ii. Basset, L'union fait Ia force. Revue africaine nr. 263 (1906, 4, 386—392). —
Verfolgt die äsopische Fabel vom Rutenbündel, das der Vater seinen Söhnen zum Zerbrechen
reicht, durch die Weltliteratur, wo sie auch Skiluros, Svatopluck, Dschingiskhan,
Notizen.
357
Sertorius u. a. in den Mund gelegt wird. Ich verweise noch auf Goedeke zu H. Sachs 1,
94 (1870), dazu Liebrecht, Zur Volkskunde S. 46. Viollet Le Duc, Ancien théâtre françois
3, 93. Huberinus, Spiegel der Hauszucht 1554 Bl. Gg6b. Revue des trad. pop. 15, 650.
E. G. Bourne, Columbus, Roman Pane and the beginnings of american anthropology.
Worcester 1906. 41 S. (Proceedings of the American antiquarian society).
V. Dingelstedt, Cossacks and cossackdom. (Scottish geographical magazine 1907,
239—260).
A. Forke, Die Völker Chinas. Berlin, K. Curtius 1907. 90 S. 1,50 Mk. — Die
im Berliner Seminar für orientalische Sprachen gehaltenen Vorträge geben in knapper
Form dem grösseren Publikum sachkundige Belehrung über Chinas Geschichte und Sitten.
H. Gaidoz, De l'étude des traditions populaires ou Folk-lore en France et à
l'étranger. Explorations Pyrénéennes, bulletin de la société Ramond, 3e série 1, 174 bis
193. Bagnères-de-Bigorre 1907. — Vor einem geographischen Vereine legt der um unsere
Wissenschaft hochverdiente Gelehrte Umfang und Ziele der Volkskunde übersichtlich dar
und gibt eine Geschichte dieser Studien in Frankreich. Interessant ist, dass die unter
Napoléon III. begonnene Sammlung der französischen Volkslieder auf eine persönliche
Anregung J. M. Firmenichs, des Herausgebers von 'Germaniens Völkerstimmen', zurück-
geht. Mit Recht bedauert G., dass über der nächsten Aufgabe der Sammlung der Über-
lieferungen so vielfach die höhere und schwierigere der vergleichenden und historischen
Forschung versäumt wird.
C. C. van de Graft, Palmpaschen (Driemaandelijksche bladen uitg. door de
Voreeniging tot onderzoek van taal en volksleven van Nederland 7, 1 — 19). — Durch aus-
führliche Nachforschung wird Art und Verbreitungsgebiet der oben 11, 215 von Weinhold
besprochenen niederländischen Palmsonntagszweige festgestellt. Die Stöcke sind mit
Buxbaum, Tannenreisig und Papierstreifen verziert und tragen oben oft einen vertikalen oder
horizontalen Kranz oder Vogel aus Brotteig. Abbildungen und eine Karte sind beigefügt.
P. R. T. Gurdon, TheKhasis. With an introduction by Sir Charles Lyall. London,
D. Nutt 1907. XXVII, 227 S. 7 Sh. 6 d. — Die Schilderung der Sitten und Religion
der in Assam ansässigen Khasis enthält auch (S. 160—187) 15 Volkssagen, darunter
S. 171, wie der Mond seine Schwester verfolgend, von ihr mit Asche beworfen ward,
S. 173 die an Polyphem erinnernde Tötung eines Menschenfressers und S. 181 eine
Variante zu Simson und Delila.
F. Heinemann, Aberglaube, geheime Wissenschaften, W undeisucht, 1. Hälfte. Bern,
Wyss 1907. XVII, 240 S. (= Bibliographie der schweizerischen Landeskunde Abt. 5, 5, 1).
— In die grosse, von der Zentralkoxnmission iiir schweizerische Landeskunde heraus-
gegebene Bibliographie ist auch ein auf fünf Bände berechnetes Verzeichnis der volks-
kundlichen Literatur eingegliedert, an dem Heinemann seit 1S97 arbeitet. Es soll um-
fassen: 1. Aberglauben, 2. Sekten, Hexenpiozesse, Rechtsanschauungen, .3. Sagen und
Legenden, 4. religiöse Gebräuche, 5. weltliche Sitten, Sprichwörter, Inschriften. Die vor-
liegende 1. Hälfte des 1. Bandes erweckt durch Reichhaltigkeit, gute Systematik und
Genauigkeit ein günstiges Vorurteil für das ganze Unternehmen. Auf einen allgemeinen
Teil folgt der besondere ' mit den Unterabteilungen Alchemie bis Magnetismus. Sollte,
wie es scheint, auch einiges aufgenommen sein, was zu der Schweiz nur in loserer Be-
ziehung steht,'so wäre dies kein grosser ScUade.
A. Hellwig, Das Einpflöcken von Krankheiten. Globus 90, 245-249 (1906). —
Eine gefährliche Körperverletzung infolge Hexenglaubens. Archiv für Strafrecht 54, 132
bis 146 (1907). — Die Beziehungen zwischen Aberglauben und Strafrecht. Schweizer.
Archiv für Volkskunde 10, 22-44.
Ahmed Hikmet, Türkische Frauen. Nach dem Stambuler Druck Xaristan
u-gülistan von 1317 h zum ersten Male ins Deutsche übertragen und mit Fussnoten und
einer Einleitung versehen von Friedr. Schräder. Berlin, °Mayer & Müller 1907. IX,
64 S. 2 Mk. (Türkische Bibliothek hsg. von G. Jacob 7). In diesen drei Novellen
(das Wiegenlied, Tante Naqijje, Salhas Sünde) schildert der 1870 geb. talentvolle Autor
mit einem den neueren Franzosen abgelernten Realismus das türkische Familienleben,
358
Brunner:
dem er zugleich Durchdringung mit modernem Geiste wünscht; er feiert hier die Mutter-,
Gatten- und Vaterlandsliebe. Wie in früheren Bänden der Sammlung hat der Verdeutscher
sorgsame Erläuterungen unter dem Teste beigefügt.
A. W. Howitt, The native tribes of South-east Australia. (Folk-lore 17, 174—189\
M. Höfler, Allerseelengebäcke, eine vergleichende Studie der Gebildbrote zur Zeit
des Allerseelentages. Mit 30 Abbildungen. Wien 1907. 32 S. (Aus der Zs. f. österr.
Volkskunde 13). — Bretzelgebäck. Archiv f. Anthropologie n. F. 3, 94—110. — Das
Haaropfer in Teigform. Ebd. 4, 130—148. — Das Herz als Gebildbrot. Ebd. 5, 263—275.
Max Lohr, Volksleben im Lande der Bibel. Leipzig, Quelle & Meyer 1907. IV,
134 S. geb. 1,25 Mk. (Wissenschaft und Bildung, hsg. von P. Herre, 7). — Auf an-
ziehende Weise führt der Breslauer Gelehrte einem gebildeten Publikum das heutige
Palästina in sieben Vorträgen vor Augen; er schildert Land und Leute, das häusliche
Leben, die Frauen, Ackerbau, Erwerb, geistige Interessen, endlich die Stadt Jerusalem,
um hie und da Brücken aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu schlagen. Für uns
interessant ist die Erwähnung des Bauopfers und anderer abergläubischer Bräuche, der
altertümliche Betrieb des Ackerbaues u. a. Auf einem Versehen beruht das S. 2 an-
gegebene Todesjahr Herodots.
Gaston Paris, Esquisse historique de la littérature française au moyen âge (depuis
les origines jusqu'à la fin du 15. siècle). Paris, Armand Colin 1907. XT, 319 S. — Dies
letzte Werk des ausgezeichneten Romanisten, das zuerst 1902 in englischer Übertragung
veröffentlicht ward und nun durch verschiedene Nachträge, Anmerkungen und ein Namen-
register bereichert hervortritt, unterscheidet sich von seiner 'Littérature française au
moyen âge' (1888) durch die Einbeziehung des dort fehlenden 15. Jahrhunderts und durch
das historische Einteilungsprinzip, das hier an die Stelle der Gruppierung nach Literatur-
gattungen getreten ist. Sehr glücklich hebt der Vf. aus seiner innigen Vertrautheit
mit der altfranzösischen Literatur gerade die für den Nationalcharakter bezeichnenden
Züge hervor.
K. Reuschel, Über die Volkssagen des Königreichs Sachsen (eingehende Kritik
von A. Meiches Sagenbuch 1903). Leipziger Zeitung 1907, 23. u. 30. März, wissensch.
Beilage Nr. 12—13.
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 26. April 1907. Der Vorsitzende Prof. Dr. Roe dig er teilte
mit, dass der Herr Kultusminister dem Verein wiederum eine Beihilfe von
600 Mk. für das laufende Jahr bewilligt habe, und berichtete über die am
6. September 1906 in Wien gehaltenen Tagung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichtsvereine. Der Gründung einer zunächst von Herrn Dr. Wossidlo in
Waren zu verwaltenden Zentralstelle für volkskundliche Bibliographie stimmte er
bei, verwahrte sich aber gegen die Errichtung eines neuen Spezialmuseums für
Volkskunde. Auch widersprach er der im neunten Jahresbericht des Vereins für
sächsische Volkskunde aufgestellten Behauptung von einem Gegensatze der volks-
kundlichen Bestrebungen zur Philologie und Geschichte und wies darauf hin, dass
der Volkskunde vielmehr dieselbe historische Methode eigen sei wie jenen
Disziplinen und dass die Ergebnisse aller drei B^orschungszweige zu gegenseitiger
Befruchtung dienen.
Protokolle.
359
Den Vortrag des Abends hielt Herr Prof. Dr. Martin Hart mann über Recht
und Brauch im Islam. Er zeigte, wie im Islam nur das Individuum berücksichtigt
und jede Gruppenbildung als gefährlich unterdrückt wird. Der islamitische Staat
ist nicht national, sondern ein internationales Religionsinstitut. Daraus folgt ein
gewisser Absolutismus der Gläubigen gegenüber den Ungläubigen und Ketzern,
sowie ein Weltmachtsdünkel, der den Tatsachen nicht entspricht. Der Frömmste
in der Gemeinde ist der geehrteste bei Gott, sagt der Koran. Das Ergebnis ist
aber auch weltliche Ehrung der Frommen und Frömmigkeitsdünkel. Den neu-
bekehrten Christen und Heiden mussten im Beginne Zugeständnisse gemacht
werden, aus denen sich der Heiligenkultus des Islam entwickelte, obwohl der
Koran ihn verpönt. In seiner Rechtfertigung wurden die sog. 'heiligen Über-
lieferungen', d. h. lokale Gebräuche, in das geltende Recht, den Koran, ein-
geschmuggelt. Andere Zugeständnisse sind die Schlachtopfer, Speichelheilung und
Dattelölsalbung an Kindern. Der von der Priesterschaft im eigenen Interesse
gepflegte individualistische Zug zeigt sich auch in der Literatur, wenn von einer
solchen überhaupt gesprochen werden kann, z. B. in den alten Zunftbüchern. Die
Sprache des Islam ist das Arabische, das man von Tanger bis Peking findet.
Ein islamitisches Staatsrecht gibt es nicht. „Die Leitung der Gemeinde ist beim
Stamme Kurëisch", das ist der einzige staatsrechtliche Grundsatz des Koran.
Diese Stelle wird aber jetzt auf kaiserlichen Befehl im Druck fortgelassen. Das
islamitische Strafrecht verbietet: Diebstahl, Ehebruch, Weintrunk und Beleidigung,
enthält aber keine Strafbestimmung über Mord und Totschlag. Die Rechtspflege
ist im Islam ein sehr wunder Punkt. Die Beweisführung ist sehr erschwert und
Rechtsbeugung fast Regel.
Herr Prof. Dr. Bolte legte unter Bezugnahme auf den oben S. 94 be-
sprochenen Johannisbaum in den Pyrenäen eine von Herrn Dr. llöfler übersandte
Abbildung solcher Bäume zu Thann vor und besprach die weitverbreitete, in
England noch 1850 geübte Skapulimantie, die Wahrsagung aus dem Schulterblatte
des Schafes, deren Ursprung jüngst R Andree bei den mongolischen Steppen-
völkern Innerasiens gesucht hat. Dazu stimmt gut, dass Jordanes diesen Brauch
an Attilas Hofe bezeugt; keinen Glauben verdient ein byzantinischer Gelehrter des
11. Jahrhunderts, der ihn auf Plato zurückführt. Prophetische Bedeutung hatten
entweder die weissen und roten Flecken des frischen (oder gekochten) Schulter-
blattes oder die Risslinien, die sich auf dem angebrannten Knochen bildeten. —
Herr Prof. Dr. Roediger legte ein leinenes Damasttischtuch aus altem Familien-
besitz vor, das mit reichen Mustern, einem Wappen mit Hirsch und Vogelkralle,
Streublumen und der Zahl 1695 verziert war.
Freitag', den 31. Mai 1907. Der Vorsitzende machte Mitteilung vom Tode
des früheren langjährigen Mitgliedes Dr. Gotthilf Weissstein. Dann berichtete er
über den Delegiertentag des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde, der
am 24. Mai in Eisenach stattgefunden hat, und von ihm und Herrn Prof. Dr. Bolte
besucht wurde. Zum 1. Vorsitzenden des Verbandes wurde Herr Prof. Dr. Mogk
in Leipzig erwählt, zum 2. Vorsitzenden Herr Prof. Seyffert in Dresden und
zum Schriftführer Herr Dr. Dähnhardt in Leipzig. Der nächste Verbandstag
soll im Herbst 1908 in Berlin stattfinden. — Herr Dr. Brunner legte eine Aus-
wahl litauischer Webereien, Stickereien, Strickarbeiten und Trachtenteile aus Ost-
preussen vor, welche der Kg]. Sammlung für deutsche Volkskunde seinerzeit von
Heirn Dnektor Goerke in Berlin geschenkt worden sind. — Dann sprach Herr
Dr. Fritz Böhm über die Metalle im antiken Volksglauben. In Anknüpfung an
die homerische Erzählung von Odysseus Aufenthalt in der Unterwelt zeigte er,
360
Brunner: Protokolle.
wie im Altertum die Vorstellung herrschte, dass die Geister oder Seelen vor dem
Eisen sich scheuten. Im deutschen Volksglauben sind ähnliche Vorstellungen
nachweisbar: das Schiessen in der Walpurgisnacht, der Aberglaube, dass man das
Brot nicht brechen, sondern schneiden müsse, um böse Geister fern zu halten,
das Hufeisen, das Kinderspiel 'Eisenzeck'. Im alten Horn trug die Braut einen
eisernen Hing, und ihre Haartracht wurde unter einer ehernen Lanze geordnet.
Aber nicht nur die Berührung des Metalls, sondern schon der Ton ist in
dieser Beziehung wirksam. So läutet man bei Gewitter vielfach mit den Glocken.
Schon Lucian sagt, dass Lärm überhaupt böse Geister abzuwehren vermöge.
So lärmten die Kureten, um den jungen Zeus zu schützen. Sonnenfinsternisse und
andere ungewöhnliche Naturerscheinungen wurden, bei den Alten und den Germanen
wie auch bei wilden Völkern mit Lärm begleitet. Glöckchen und Schellen trug
man an Amuletten. Schellen, die oft in Gräbern gefunden werden, sollen wohl
die Seelen an irdischer Wiederkehr hindern. Auch andere Metalle als Eisen und
Erz dienten im Altertum zur Abwehr der Geister. So das Gold. Goldene bullae
sind als Amulette zahlreich erhalten. In alten Gräbern Russlands fand man oft
Goldblättchen über die Toten gestreut. Plinius berichtet von einer Regel der
Volksmedizin, wonach die heilkräftige Pastinakwurzel nur mit goldenem Werk-
zeug ausgegraben werden müsse. Anderseits verpönte der konservative Geist im
Kultus bei bestimmten Zeremonien und bei Herstellung einzelner Arzneien gewisse
Metalle. Im Vestadienste in Rom wurde Erz dem Eisen vorgezogen. Die Aus-
schliessung von Metall bei der Beschneidung ist bekannt. Über andere Metalle
ist in dieser Hinsicht nur wenig aus dem Altertum überliefert. Indessen dürfte
das Blei wie im neueren, so auch im antiken Volksglauben eine gewisse Rolle
gespielt haben. Denn man findet nicht selten in alten Gräbern bleierne Amulette
und Spruchtafeln. — In der Diskussion, die sich an den Vortrag anschloss, fragte
Herr Direktor Dr. Minden, ob die magnetische Kraft im Altertum vielleicht auch
in dem besprochenen Sinne betrachtet worden sei. Diese Frage wurde verneint,
vielmehr habe man den Magnet nicht als Metall, sondern als Stein angesehen.
Herr Prof. Dr. Bol te verwies u. a. auf die Telephossage und auf deutsche Sagen
vom Werfen eines Messers in Windwirbel, auf die Beschwörung durch kreuzweise
gelegte Schwerter und das Schiessen mit silbernen Flintenkugeln. Herr Prof.
Dr. Rudolf Meyer erörterte gewisse Widersprüche in den Volksanschauungen
über die Kraft der Metalle. Im 6. Buch der Aeneis gebietet die Sibylle dem
Aeneas blank zu ziehen, während sich nachher das Eisen als unwirksam gegen
die Schatten erweist. Ebenda fährt Charon auf einem genähten Boote ohne eiserne
Nägel über den Styx. Demgegenüber betonte Herr Dr. Samt er, dass zur
Lösung solcher Widersprüche der Grundsatz gelten müsse, Volksanschauungen
nicht ans einem Prinzip heraus erklären zu wollen. Herr Prof. Dr. Roediger
fasste solche Widersprüche als Schichten verschiedener Zeitperioden auf. Aus
eigener Jugenderfahrung berichtete Herr Sökeland über einen Volksglauben an
die abwehrende Kraft des Eisens; um bei aufziehendem Gewitter die Gärung zu
erhalten, tauchte der Bäcker ein glühend gemachtes Eisen in Wasser, das dann
dem Teige zugesetzt wurde.
Steglitz. K. Brunner.
Feuer und Licht im Totengebrauche.
Yon Paul Sartori.
• In einem inhaltsreichen Vortrage über 'Antike lind moderne Toten-
gebräuche' (Neue Jahrb. f. d. klass. Altertum 1905, 34ff.) geht E. Samter
von dem Gebrauch von Kerzen beim Todesfalle und bei der Bestattung
aus. Er erinnert bei dieser Gelegenheit mit Recht daran, dass man bei
der Erklärung eines Brauches nicht eine Einzelheit herausgreifen darf,
sondern alle Fälle seines Vorkommens im Zusammenhange betrachten
muss. Das soll im folgenden für die Verwendung von Feuer und Licht
im Totengebrauche versucht werden.
Schon vor dem Eintritt des Todes kommt das Licht zur Ver-
wendung. In Belgien zündet man auf einem Tische neben dem Bett des
Sterbenden die an Lichtmess geweihte Kerze an. In der Pikardie wird
die Taufkerze zu diesem Zweck aufbewahrt (Bulletin de folklore 2, 333).
Als Ludwig XV. von Frankreich im Todeskampfe lag, hat man ein Licht
ans Fenster gestellt und ausgelöscht, als der Tod eintrat (Radermacher,
Das Jenseits im Mythus der Hellenen S. 29). In Oberdeutschland wird
die sog. Sterbe- oder Römerkerze, eine kirchlich gesegnete Wachskerze
(vgl. dazu Andree, Votive und Weihegaben S. 84), dem Verscheidenden
brennend vorgehalten oder in die Hand gegeben. ) Die Nachbarn stehen
betend um sein Bett, jeder hat dazu seinen eigenen Wachsstock brennend
mit in die Stube hereingebracht. Man lässt die Römerkerze auch bei der
Leiche fortbrenuen-; selbst im Erlöschen ist ihr Dampf noch wirksam.
Er kommt den armen Seelen zugute. Lei der Beerdigung und am Schlüsse
der Totenmesse wird hierauf nach dem Requiem die Kerze vom Priester
feierlich ausgeblasen (Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch 1, 167).
In Oberbayern werden (um den Teufel fernzuhalten) dem Sterbenden
brennende rote Wachskerzen in die Hand gegeben oder deren beständiges
Licht unterhalten (Am Ür-Quell 2, 90). In ¿er Oberpfalz wird dem Tod-
kranken ein brennendes Licht vorgehalten, Lichtmesswachs oder eine
1) [So bei J. Frey, Gartengesellschaft 1556 cap. 10, Neudruck von Bolte 1896.]
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 24
362
Sartori:
schwarze Lorettokerze, die die bösen Geister und den Zauber abhält
(Schönwerth, Aus der Oberpfalz 1, 241; vgl. Yernaleken, Mythen und
Bräuche des Volkes in Österreich S. 311. Oben 6, 408: Iglau in Mähren).
In Böhmen zündet man, wenn die Todesstunde naht, eine am Lichtmess-
tage geweihte Sterbekerze oder einen Wachsstock an und geht dreimal
damit um das Bett des Sterbenden. Man heisst dies: „es wird ihm das
Licht gehalten" oder „er wird weggeleuchtet". Andere gehen mit einem
kleinen Glöckchen um das Bett des Kranken herum (John, Sitte im
deutschen Westböhmen S. 166). Auch in der Eifel wird dem Sterbenden eine
brennende Kerze in die Hände gegeben oder vorgehalten, und man klingelt
mit der 'Benediktusschelle', um die bösen Geister fernzuhalten (Schmitz,
Sitten des Eifler Volkes 1, 65). In Franken betropft man den Sterbenden
mit der Kerze (Wuttke, Volksaberglaube § 723). In Rumänien werden
zwei oder mehrere Kerzen brennend neben dem Kopfe des Sterbenden
gehalten und dem Toten in die Hand gegeben. Doch darf diesen Dienst
kein näherer Verwandter, auch kein intimer Freund verrichten, weil das
den Todeskampf schmerzlicher gestalten würde; aber auch keiner, den
der Sterbende nicht leiden kann. Die brennende Kerze bedeutet, dass
der Sterbende Christ sei und mit allen Menschen versöhnt aus dem Leben
scheide, und gleichzeitig soll sie ihm den Weg ins Jenseits erleuchten.
Anderswo glaubt man, dass sie den Teufel fernhalte. Im ganzen Bereiche
des rumänischen Volkstums bedeutet das Ableben ohne brennende Kerze
einen 'finsteren Tod', etwas Schreckliches, das für den Toten sowohl wie
für die Überlebenden böse Dinge im Gefolge hat (Flachs, Rumänische
Hochzeits- und Totengebräuche S. 43). In Schweden wurden im Mittel-
alter die Hände des Sterbenden in beiende Stellung gelegt und eine
brennende Kerze hineingesteckt als Sinnbild der brennenden Lampe, mit
der die Seele dem himmlischen Bräutigam entgegengehen sollte (Globus
89, 38). In Dänemark setzte man glühende Kohlen unter das Bett des
Sterbenden, um ihm den Todeskampf zu erleichtern (Isäger, Aus der
dänischen Volksmedizin, S.-A. aus Janus 1906, S. 20).
Auch ausserhalb des Christentums findet sich ähnliches. Wenn ein
Hindu stirbt, wird ihm eine Lampe in die Hände gegeben, um seinem
Geist in das Reich Yamas zu leuchten. Fromme Leute glauben, dass der
Geist 360 Tage für diese Reise gebraucht, darum werden so viele Lampen
geopfert. Sie werden nach Süden zu aufgestellt, wTeil der Süden das Reich
des Todes ist (Crooke, Popular religion and folklore of Northern India
p. 219). Wenn bei den Togonegern das Leiden zum Tode neigt, so wird
neben der Bettstatt oder der Matte, auf der der Kranke kauert, ein Kohlen-
feuer entzündet; auch hält man ihm das Kohlenbecken vor das Gesicht,
damit er die Dämpfe einatme (Globus 72, 41). Auf Samoa wird, um bei
dem Tode eines Menschen die Aitu abzuhalten, des Nachts Feuer unter-
halten, geschrieen, gesungen und geschossen. Aus demselben Grunde
Feuer und Licht im Totengebrauche.
363
wird bei Schwerkranken stets das Haus erleuchtet gehalten, damit nicht
ein Aitu den Kranken fortführe, d. h. er sterbe (Globus 68, 367).
So lange der Leichnam noch im Hause ist, spielt das Licht
seine Rolle weiter. In Japan wird gleich nach dem Tode ausser Speisen
eine brennende Öllampe neben den Leichnam gesetzt (Bird, Unbetretene
Reisepfade in Japan 1, 221). Im alten Japan aber, wo er sieben oder
acht Tage und Nächte, nach anderen Berichten 14 Tage, bei Personen
Von Rang noch viel länger, in einer moya (Trauerhaus) niedergesetzt
wurde, bis die Vorbereitungen zur Beerdigung getroffen waren, wurden
während dieser Zeit Speisen und Getränke in der moya niedergesetzt und
ein Feuer vor dem Gebäude angezündet und brennend erhalten (Lay in
Transactions of the Asiatic society of Japan 19, 507. 1891). In China
werden Kerzen um den Sarg gestellt, um dem Geiste des Toten auf seinem
Wege zu leuchten (Dennys, The folklore of China p. 21. Über die Sitte
in Peking s. Grube, Zur Pekinger Volkskunde S. 38). Vor einer Leiche
in Longputi (Südostborneo) brannten Harzlichter (Ratzel, Völkerkunde
2, 461). Wenn bei den Wotjäken die Leiche in den Sarg gelegt ist,
klebt man an den Rand des Kopfendes brennende Wachslichter; ebenso
am anderen Ende des Zimmers auf eine zum Aufhängen von Kleidern
dienende Stange in der Nähe des Ofens und bittet die früher verstorbenen
Verwandten, auch diesen Toten als Gefährten aufzunehmen (Buch, Die
Wotjäken S. 144). Russische Lappen zündeten nach einem älteren Be-
richte um einen Sarg „viel Tannenwürzel" an, die wie Lichter brannten
(oben 11, 434). Wenn in Moskau ein Unbemittelter stirbt, stellt man
den Sarg auf die Strasse mit einer Kerze daneben. Der Vorübergehende,
der ein Almosen zur Beerdigung spenden will, steckt sein Geldstück in
die Kerze (Bulletin de folklore 2, 365. 145). Die Armenier legen gleich
nach dem Leichenbade zwei Kerzen in die Hände des Toten, damit er
seine Verwandten und Bekannten in jener dunklen Welt erkenne (Abeghian,
Der armenische Volksglaube S. 21 f-)- Bei den Letten werden um die auf-
gebahrte Leiche brennende Lichter aufgestellt. Wenn von diesen eines
zu Ende gebrannt ist, sehen die alten W eiber strenge darauf, dass das
als Ersatz aufgesteckte neue nicht an der Flamme des verlöschenden,
sondern mit einem Streichholz entzündet werde, „weil sonst dem Toten im
Jenseits Feuer (Licht und Wärme) mangeln würde" (Globus 82, 367).
Nach jüdischer Sitte pflegte in dem Zimmer, wo eine Leiche lag, ununter-
brochen Licht zu brennen (Grüneisen, Der Ahnenkultus und die Urreligion
Israels S. 103). In der Schweiz muss die Leidfrau das Totenlicht brennend
erhalten (Rochholz, Deutscher Glaube 1, 195). In der Oberpfalz darf die
zu Häupten der Leiche stehende Wachskerze nicht erlöschen, solange der
Tote im Hause ist, denn niemand würde es wagen, sie wieder anzuzünden.
Auch darf man sie nicht stützen (Schönwerth, Aus der Oberpfalz ]? 246).
Am Böhmerwalde entlang brennt ein kleines Öllicht ganz matt, damit kein
24*
364
Sartori :
Lebender den Schein davon habe (ebenda).1) Bei den Deutschen West-
böhmens sagt man daher: „Es brennt wie ein Totenlicht" (Unser Eger-
land 8, 55). Ein schwaches öllicht auch beim steirischen Volke im
Mürztal (Zs. f. öst. Yolksk. 4, 293; vgl. Vernaleken S. 311: Neusohl im
nördl. Ungarn). Im Lechrain kriegt der Tote in die Hände einen hoch-
geweihten Beter, einen Wachsstock und ein Amulet; neben ihm brennt
die geweihte Sterbekerze (Leoprechting, Aus dem Lechrain S. 250). In
Tuttlingen brennt bei Leichen von Kindern unter sechs Jahren nachts ein
Licht (Birlinger, Volkstüml. aus Schwaben 2, 403). In der Höfer Gegend
wird in der Nacht vor dein Begräbnisse in der Kammer, wo der Ver-
storbene liegt, beständig ein Licht gebrannt (Köhler, Volksbrauch im
Voigtlande S. 252). In Olsnitz, so lange die Leiche im Sterbehause liegt,
„damit die Seele nicht so lange im Finstern zu wandeln hat" (ebenda S. 442).
In Franken wird neben die Leiche eine offene Scheere gelegt gegen die
Hexen und ein Talglicht gegen die Mäuse (Wuttke § 729). Ein Licht
muss bei dem Toten brennen, sonst fressen ihm die Mäuse die Augen
aus (Schulenburg, Wendische Volkssag. S. 234). In Ostpreussen ist Licht
im Sterbehause wohl geboten, wird aber oft vernachlässigt. In der zweiten
Nacht brennt es nur kurze Zeit, und dann sagt man wohl: es ging von
selbst aus (Lemke, Volkstüml. in Ostpreussen 2, 279). Auf der kurischen
Nehrung lässt man Lichter am Sarge brennen, die beim Scheiden des
Geistes von selbst verlöschen sollen und zu profanen Zwecken nicht ver-
wandt werden (Globus 82, 291). In der Lüneburger Heide lag neben der
aufgebahrten Leiche der Sargdeckel und trug zwei Leuchter mit brennenden
Lichtern. Während der Tischler den Sarg schloss, wurden die Lichter
von der Totenfrau zurückgestellt, um auszubrennen (Kiick, Das alte
Bauernleben der Lüneburger Heide S. 262). Auch in Westfalen darf das
nachts bei der Leiche brennende Lieht am Morgen nicht ausgelöscht
werden, sondern muss in den Tag hinein fortbrennen, bis es von selbst
verlischt (Kuhn, Westfäl. Sagen 2, 48f. nr. 133; vgl. Woeste im Nd. Jahrb.
1877, 150). Auf Sylt brennt (statt der früher üblichen Leichenwache)
ein laicht in der Stube, während die Leiche im Hause ist. Auf einigen
Halligen wachen bei der Leiche zwei Personen, oder es brennen zwei
Lichter in der Stube, solange der Sarg noch nicht geschlossen ist (Jensen,
Die nordfries. Inseln S. 338; vgl. 340). In einem alten Tanzliede von
Osterland-Föhr wird erwähnt, dass „so viel Wachskerzen über der Leiche
brennen sollen, als Blutstropfen yon ihr gesprungen" (ebenda S. 340, Anm.).
Bei den Rumänen brennen Kerzen, so lange der Tote im Hause weilt,
damit die Seele sehen könne, wo sie sich befinde (Flachs, Rumänische
1) Dagegen heisst es in Niederösterreich: Wenn das Licht, das bei einem Toten
steht, trüb und „dumper" brennt, so stirbt bald einer nach aus derselben Freundschaft
(Ztschr. f. dtsch. Mythol. 4, 29).
Feuer und Licht im Totengebrauche.
365
Hochzeits- und Totengebräuche S. 47). Die Dörfler kommen alle mit
Kerzen herbei, lim sie an der Totenkerze anzuzünden oder neben dem
Leichnam niederzulegen. Dann muss vor allem das grosse Totenlicht aus
reinem, gelbem Wachs genau in der Länge des Leichnams, fingerdick für
einen älteren Toten, dünner für einen jüngeren, gedreht werden; es dient
der Seele als stützender Stab beim Überschreiten der grossen Brücke vor
dem Paradies. Diese Kerze wird in einen grossen, aus der Kirche geholten
Leuchter gesteckt und dreimal täglich, wenn die Glocken geläutet werden,
angezündet (Flachs S. 52f.). Auch bei den Bulgaren werden neben dem
Toten Kerzen angezündet und Apfel oder anderes Obst neben ihn gelegt
(Strauss, Die Bulgaren S. 446). Die Huzulen stellen zu Häupten des
Toten auf einen umgestürzten Topf eine Unschlittleuchte und ein Töpfchen
mit Brunnenwasser. Leuchte und Töpfchen schenkt man nach der Be-
erdigung einem Armen, der Topf, auf dem die Leuchte stand, wird von
einem alten Weibe zerschlagen, „damit der Tote niemand nach sich ziehe
und in den Träumen nicht erscheine." Die Zimmerleute, die den Sarg-
gemacht haben, legen nach Vollendung ihrer Arbeit ihre Werkzeuge auf
den Sarg und knieen neben ihm nieder. Hieraufwaschen die Verwandten
den Meistern die Hände, trocknen sie und reichen jedem ein Licht, ein
Handtuch und ein Brot. In der Nacht vor der Bestattung brennt vor dem
Hause ein Feuer (Globus 69, 91). In Alzen (Siebenbürgen) werden zwei
Kerzen aus der Kirche unangezündet neben den Toten auf die Bank oder
in den Sarg gelegt (Schuller im Progr. d. Gymnas. zu Schässburg 1863, 44
Anni. 30). In Pepinster (Prov. Lüttich) und im nördlichen Hennegau
zündet man Kerzen um den Toten an. Diese Kerzen dürfen nicht zur
Beleuchtung dienen; es muss eine brennende Lampe ini lotenzimmer
vorhanden sein (Bulletin de folklore 2, 340 nr. 48). Im Borinage hält jeder,
der den Toten sehen will, während des Besuches die geweihte Kerze in der
Hand oder bringt zu diesem Zweck die geweihte Kerze seiner Familie
mit, wenn diese eine besitzt. In Charleroi und Umgegend lässt man nur
einige Tropfen geweihten Wachses in Kreuzform auf den Sarg tröpfeln
(ebenda 2, 341 nr. 53 f.). In Northumberland pflegte auf einen Leichnam
eine Kerze gesetzt -zu werden, und ein ähnlicher Brauch herrschte auf der
Insel Man. Im schottischen Tieflande wird eine Kerze dreimal um den
Leichnam geschwenkt, wenn er gesegnet wird (Dennys p. 21). Von der
im Mittelalter in Bayern üblichen Lmräucherung der Leiche mit einer
Glutpfanne (Glühtl) hat sich nur noch die volkstümliche Bezeichnung des
kirchlichen Libera als 'der Rauclf erhalten (Am Ur- Quell 6, 101).
Übrigens pflegten auch in Rom neben den lectus Rauchpfannen (acerrae,
turibula) aufgestellt zu werden (Becker-Göll, Gallus 3, 493). In Bengalen
wird der Leiche einer Frau, die während der Menstruationszeit oder im
Wochenbett stirbt und darum leicht ein schädlicher Dämon werden kann,
etwas Feuer auf die Brust gelegt (Crooke, Popular religion S. 170). Bei
366
Sartori :
den Parsen wird nach Beendigung des Sagdeed (Zeremonie des 'Sehens
des Hundes') Feuer ins Zimmer gebracht und mit duftendem Sandelholz
und Weihrauch in einer Vase unterhalten. Ein Priester sitzt davor und
sagt den Zendavesta her, bis der Leichnam weggebracht wird (Globus
64, 395).
Manchmal kommen die Lichter noch kurz vor dem Wegbringen
des Sarges zu besonderer Verwendung. In Iglau in Mähren wird un-
mittelbar vor der Funes (Leichenbegängnis), sobald die Trauergäste er-
schienen sind, abermals die geweihte Kerze angezündet (oben 6, 409).
In Osterstade ist bei der häuslichen Totenfeier der Sarg von brennenden
Lichtern umgeben. Auf ihm stehen Teller mit Zitronen und glimmenden
Rauchkerzen. Zur Leichenrede tritt der Prediger vor den Sarg, wo ein
Tisch mit zwei Lichtern steht. Nach der Leichenrede werden Lichter
und Räucherkerzen entfernt (Allmers, Marschenbuch S. 259f.). Hat man
bei der Leichenrede vergessen die Lichter anzustecken, so kann nach dem
Glauben der Kassuben der Tote nicht selig werden (Knoop, Yolkssag. a. d.
östl. Hinterpommern S. 164 Nr. 97). In Mecklenburg ist allgemein der
Brauch, dass bei einer Leiche die letzte Stunde vorher, ehe sie nach dem
Kirchhof gebracht wird, ein paar Lichter angezündet werden. Diese
dürfen nicht mit der Lichtscheere ausgelöscht oder ausgeblasen, sondern
müssen mit der Hand ausgeschlagen oder mit einem Tuche ausgeweht
werden oder müssen ausbrennen. Auch werden sie nicht eher ausgelöscht,
als bis die Leiche aus dem Dorfe ist oder die Leidtragenden vom Kirchhof
zurückgekehrt sind (Bartsch, Sagen aus Mecklenburg 2, 94f. nr. 313—317).
Ähnlich in Braunschweig (Andree, Braunschweiger Volkskunde S. 225).
Wenn in Gischow bei Bützow eine Leiche im Hause ausgesungen wird,
steht der Sargdeckel neben dem Sarg auf zwei Stühlen. Auf dem Deckel
stehen zwei brennende Lichter. Wird nach dem Gesänge der Deckel
zugemacht, so werden die beiden Stühle umgeworfen und die Lichter
daneben gesetzt. Die Stühle werden nicht eher aufgehoben und die
Lichter nicht eher ausgelöscht, als bis die Leiche aus dem Dorfe ist
(Bartsch 2, 94 nr. 315). Ahnlich verfährt man in Böhmen, „damit niemand
mehr von derselben Familie sterbe" (John, Sitte im deutschen West-
böhmen S. 174). In Oldenburg dürfen die drei Lichter, die am Begräbnis-
tage auf dem Sarge brennen, erst nach der Rückkehr des Leichengefolges
ausgelöscht und zu gewöhnlichen Zwecken nicht wieder angezündet werden
(Strackerjan, Ab ergi. a. d. Herzogtum Oldenburg 2, 131). Im oberen
Swanetien (Kaukasus) beginnt etwa zwei Stunden, bevor die Leiche aus
dem Hause getragen wird, und wenn sich alle Dorfbewohner versammelt
haben, das Beweinen des Toten. Das Zimmer, wo der Leichnam liegt,
wird durch eine Menge von Wachslichtern erhellt, die an die Decken-
pfosten, die Wände usw. angeklebt werden. Währenddes versammeln
sich die Verwandten und nahen Bekannten des Verstorbenen. Dann erfolgt
Feuer und Licht im Toteugebrauche.
367
lautes Weinen und Klagen. War der Verstorbene ein Mann, so wird,
ehe man ihn aus dem Hause trägt, sein Gefährte und Kamerad bei der
Arbeit, der Ochse, an seinen Sarg geführt; an seine Hörner sind an-
gezündete Wachslichter befestigt. Nachdem er einige Augenblicke vor
dem Toten gestanden, führt man ihn wieder weg. Das ist nach dem
Glauben der Swaneten die letzte Freude, die der Verstorbene ins Jenseits
mitnimmt (Beilage z. Münchener Allg. Zeitung 1906, Nr. 143, S. 542).
Wenn die Leiche aus dem Hause getragen wird, muss man
ihr Feuer und Wasser nachwerfen, dann wird sich der Geist des Toten
nachher nicht rühren und nicht im Hause zeigen (Bartsch, Mecldenb.
Sag. 2, 96 nr. 329). Dieselbe Sitte mit gleicher Begründung auf Born-
holm (Isäger, Aus der dänischen Volksmedizin [aus Janus 1906] S. 20).
Bei den Grönländern schwingt ein altes Weib einen Feuerbrand hinter
dem Leichnam her, der durchs Fenster, nicht durch die Tür, hinaus-
geschafft wird, und ruft dabei: pickleruck pock (= hier ist nichts mehr
zu haben), und die sibirischen Tschuwaschen schleudern der hinaus-
getragenen Leiche einen glühend roten Stein nach, um ihr die Rückkehr
abzuschneiden (Tylor, Die Anfänge der Kultur 2, 26).
In Rom wurde der Leichenzug (auch am Tage) von Fackeln be-
gleitet, nach Servius, weil ursprünglich die Bestattungen bei Nacht statt-
fanden (Becker-Göll, Gallus 3, 501. Marquardt-Mau, Das Privatleben d.
Römer S. 343ff.). Angeblich aus demselben Grunde figurierte auch in
Japan im Leichenzuge ein Laternenträger (Lay in Transactions of the
Asiatic society of Japan 19, 510. 1891). Nach der 'Allgemeinen Historie
d. Reisen zu Wasser und zu Lande' 11, 669 (Leipzig 1753) geht im
japanischen Leichenzuge u. a. vor der Leiche „ein einziger Mensch in
aschgrauer Kleidung, welche Farbe sowohl als die weisse Trauer bedeutet,
mit einer Kühnfackel." Bei den Sihongern (Südost-Borneo) schreitet auf
dem Wege zum (vorläufigen) Begräbnis dem Zuge ein Mann mit einer
brennenden Fackel voran (Ausland 57, 471). Bei der altindischen Be-
stattung geht vor dem Leichenzuge der Verrichter mit einem Feuerbrand.
Dann kommen noch verschiedene Arten von Feuern (darunter drei irdene
Schüsseln, die innen mit Kuhmist bestrichen oder mit leicht entzündbaren
Substanzen gefüllt und in Brand gesetzt sind), u. a. auch das häusliche
Feuer. Unmittelbar nach den Feuern kommt der Leichnam; zwischen
ihm und den Feuern darf niemand gehen. Nach einigen Quellen wird
der Leichnam mitten zwischen den Feuern geführt (Caland, Die alt-
indischen Toten- und Bestattungsgebräuche S. 19f.). Auch wenn die
Sihánaka einen Toten zu Grabe bringen, muss einer aus dem Gefolge
eine grosse, irdene Schüssel mit brennendem Kuhmist auf dem Kopfe
nachtragen, die neben dem Grabstein niedergesetzt wird (Sibree, Mada-
gaskar S. 327). Im wallonischen Gebiete geht eine grosse Zahl kerzen-
tragender Kinder vor dem Leichnam her. Diese Kerzen wurden früher
368
Sartori:
Eigentum des Trägers, der heute statt dessen eine Bezahlung erhält.
Anderswo (im Gebiet von Beaumont, Hennegau) werden die Kerzen durch
Fackeln ersetzt und die Kinder durch Greise oder Arme (Bulletin de
folklore 2, 358 nr. 120). Beim rumänischen Leichenbegängnis wird die
erstlich schon erwähnte grosse Totenkerze (toiagul) brennend bis zum
Grabe vorangetragen. Yor dem Sarge gehen Männer mit Laternen und
Heiligenbildern (Flachs, Rumänische Hochzeits- und Totengebräuche
S. 53. 58). In Hamburg leuchteten früher, als noch Abendleichen Mode
waren, die sog. Lüchtendräger, mit Stocklaternen bewehrt, die Leichen zu
Grabe (Schütze, Holstein. Idiotikon 3, 32). In Oberbayern müssen alle
beim Totengange benutzten Kerzen oder Wachsstöcke rot sein (Am Ur-
Quell 2, 102). In der Gegend von Aalen sitzt (bei Katholiken) auf dem
von Ochsen gezogenen Leichenwagen oft eine Frau, die ein brennendes
Licht in einer gewöhnlichen Laterne hält (Birlinger, Aus Schwaben 2, 316).
In Ditmarschen fuhr noch vor einigen Jahren die Leichenfrau mit nach
dem Kirchhof, um die Lichter auf dem Sarge in der Kirche anzuzünden
und die Totenlaken mit heimzunehmen (Am Ur-Quell 1, 32). Auf Sylt
gehen zwei Frauen als Verwandte der Leiche voran. Die eine trägt zwei
Lichter, die sie in der Kirche auf den Altar legt, die angezündet werden
und während des Gottesdienstes brennen; die andere hat die Begräbnis-
gebühren für Küster und Pastor (Jensen, Die nordfries. Inseln S. 343).
Im Lande Wursten und in anderen friesischen Marschen haben alle
Häuser, bei denen ein Leichenzug vorbeikommt, zur Ehre des Toten die
nach der Strasse liegenden Fenster hell illuminiert; die Bestattungen finden
gegen Abend statt (Allmers, Marschenbuch S. 318).x) Erinnert sei auch
an die in grösseren Städten geübte Sitte, bei besonders feierlichen Leichen-
begängnissen die Strassenlaternen, an denen der Zug vorbeikommt, an-
zuzünden.
Wenn die Leiche im Kirchenschiff aufgebahrt ist, wird das
Seelamt gelesen. Man zündet Kerzchen zu Ehren des Toten an, auf dass
das ewige Licht ihm leuchte. Noch während des Amtes machen die
Leidtragenden einen Oj)fergang um den Altar. In manchen Orten opfert
man noch nach alter Sitte Wachskerzen (oben 6, 410: Iglau in Mähren).
Ähnliche Umgänge mit Kerzen, die dann am Altar geopfert wurden, in
Brüssel und im wallonischen Brabant (Bulletin de folklore 2, 365 nr. 146).
In Audenarde in Flandern ist es noch Brauch, dass bei der Seelenmesse
bei der Beerdigung der nächste Verwandte, der zum Opfer geht, eine
Kerze opfert und in diese ein Geldstück hineinsteckt, das er opfern will,
während die Freunde und Nachbarn, wie sonst auch, ihr Geldstück auf
1) Wenn auf Celebes ein fürstlicher Leichenzug die Strasse passiert, so verbrennen
die Bewohner der anliegenden Häuser Salz, um die Dämonen von sich fernzuhalten,
die durch den Lärm des Leichenzuges erschreckt, nach allen Seiten auseinanderstieben
(Schwally, Semitische Kriegsaltertümer 1, 32f.).
Feuer und Licht im Totengebrauche.
369
den Teller oder in den Klingelbeutel legen (ebd. 2, 365 nr. 145). Yom
Leichenbegängnis eines Meisters vom Tempel heisst es in der Regel des
Ordens: Bei seiner Seelmesse sollen eine grosse Menge Wachskerzen und
Lichter brennen und unter grossen Ehrenbezeugungen soll er begraben
werden. Dieses helle Kerzenlicht soll einzig seiner Meisterwürde zu Ehren
entzündet werden (Körner, Die Templerregel S. 62 nr. 198).
Bei einem Uberblick über diese mannigfachen Gebräuche bis zu dem
Augenblicke der Bestattung des Leichnams ergibt sich als gemeinsamer
Grund für die Verwendung des Feuers und Lichtes in erster Linie offenbar
die Absicht, böse Einflüsse von dem Sterbenden oder Toten, aber auch
von den Uberlebenden fern zu halten.x) Selbst in christlicher Umgebung
bricht diese Vorstellung noch überall hindurch. Nicht nur der Sterbende
und Tote erhält sein Licht, sondern auch die ihn Besuchenden tragen eins
zu ihrer Sicherung (Rumänien, Belgien, Oberdeutschland). Recht deutlich
tritt die Abwehr hervor in dem schottischen Brauche, eine Kerze dreimal
1) Der Glaube an die abwehrende, reinigende, zauberbrechende Kraft des Feuers ist
viel zu verbreitet, als dass man ihn nicht auch im Totengebrauche immer zunächst ins
Auge fassen müsste. — Feuer wird verwandt zum Schutz gegen böse Menschen und
Feinde (Liebrecht, Zur Volkskunde S. 319. Schwally, Semitische Kriegsaltertümer 1, 23. 28.
Oldenberg, Religion d. Veda S. 340): gegen Hexen und Alpdruck (Wuttke, Volksabergl.
§ Höf. 215. 414. 419. Panzer, Beitr. z. dtsch. Mythol. 1, 262 nr. 91); gegen b^fse
Geister (Tylor, Anfänge der Kultur 2, 195ff. Oldenberg 337f. Crooke, Popular religion
S. 154. Abeghian, Der armenische Volksgl. S. 34f. Mannhardt, Wald- u. Feldkulte 1, 133.
615. Kuhn, Märk. Sagen 385 nr. 72. Oben 8, 34); gegen Irrlichter (Ztschr. d. Ver.
f. rhein. u. westfäl. Volkskunde 3, 208); gegen Gewitter (Andree, \otiveu. Weihegaben
S. 84. Reubold, Beitr. z. Volkskunde, Kaufbeuren 190o, 18: im Ansbachischen); gegen
Krankheiten (Isäger, Aus d. dänischen Volksmedizin S. 17£f. Wolf, Beitr. z. dtsch.
Mythol. 2, 377f.); für Neugeborene und Wöchnerinnen (Oldenberg S. 337f. Kuhn,
Westfäl. Sagen 2, 33f. Mülleuhoff, Schlesw.-Holst. Sagen S. 579. Ausland 57, 782:
Halligfriesen. Jahrb. f. Schlesw.-Holst. Landeskunde 4, 15t. Kahle in d. Neuen Jahrb-
f. d. klass. Altert. 1905, 720, Anm. 4: Schweden u. Norwegen. Globus 89, 882: Schweden.
Bartsch, Mecklenb. Sagen 1, 46. 91. 2, 43. 65. Wuttke §583. Höfler, oben 15, 315f.
Lynker, Deutsche Sagen usw. in hessischen Gauen S. 55. Curtze, Sagen a. Waldeck
S. 219. 227. Zs. f. rhein. u. westfäl. \ olkskunde 2, 178. Reubold, Beitr. z. Volkskunde
S. 45: Ansbach. Monseur, Le folklore wallon p. 37. Liebrecht, Zur Volkskunde S. 31. 360.
Mannhardt, Wald- u. Feldkulte 2, 125, 1. Philologus 64, 210); für die Heb amine auf
ihrem Amtswege (John, Sitte im deutschen Westböhmen S. 110); bei der Taufe (Alpen-
burg, Alpensagen S. 255. John S. 114); bei der Hochzeit (Philologus 64, 210. Bartsch,
Mecklenb. Sagen 2, 70 nr. 251; John S. 149. Dennys, The folklore of China p. 17); bei
der Rückkehr von der Kirchweih (Reubold S. 42: Ansbach. Nach der Kirchweih,
Montags früh, liessen sich die Burschen oft wieder nach Hause spielen. Dann musste
einer von den Kellnern, wenn es auch schon hell war, eine Laterne mit brennendem Licht
an einer Ofengabel tragen); im Hause (Grüneisen, Der Ahnenkultus Israels S. 104.
Hüser im Progr. v. Warburg 1898, S. 24: Auf Agatha lässt man noch vereinzelt in allen
Ställen des Gehöftes Lichter brennen. Körner, Die Templerregel S. 9 nr. 21: wo die
Tempelritter schlafen, soll Licht brennen bis zum Morgen, zum Schutze gegen den Erz-
feind; vgl. S. 14 nr. 37); in Feld, Wald u. Flur (Schwally, Semit. Kriegsaltertümer
1, 83. Isäger S. 18ff. Witzschel, Thüring. Sagen 2, 189: 'Hollerad1. Wolf, Beitr. 2,
378ff.: Notfeuer. Mannhardt, Wald- u. Feldkulte 1, 520: Johannisfeuer).
370
Sartori:
um den Leichnam zu schwenken1), wofür in Bayern das Umräuchern der
Leiche mit einer Glutpfanne eintritt. Auf Schutz und Sicherung deutet
auch wohl das Anzünden der Kerzen in einem Zeitpunkte, wo die Gefahr
böser Einflüsse am grössten zu sein scheint, im Augenblicke des Todes,
kurz vor dem Wegtragen der Leiche, auf dem Wege zur Bestattung. Auch
das Verbot, die Kerzen nicht eher auszulöschen, als bis die Leiche aus
dem Dorfe ist, ihre Aufstellung neben dem umgeworfenen Stuhle (in
Mecklenburg) bilden besondere' Yorsichtsmassregeln. Endlich hat auch
wohl die rote, die Wirkung des Feuers gewissermassen verdoppelnde
Farbe, die in Oberbayern für alle beim Totengange benutzten Kerzen
vorgeschrieben ist, abwehrende Kraft.2)
Gegen welche Mächte nun die Abwehrmassregeln sich richten, ist
nicht ohne weiteres und für jeden Fall bestimmt zu sagen.3) Der Sterbende
wird gegen böse Geister und allerlei Zauber, vielleicht noch im letzten
Augenblicke gegen den Tod selbst geschützt werden sollen, der Tote aber
bringt seinerseits die Überlebenden in Gefahr, teils durch die lebens-
feindlichen Mächte, die noch längere Zeit an ihm haften, teils durch seine
eigene Seele, die gern andere mit sich ins Jenseits zieht.4)
1) Bei Hinduhochzeiten werden Lichter und andere Gegenstände der Braut und dem
Bräutigam um das Haupt geschwenkt als Schutz gegen böse Geister (Crooke, Populär
religion p. 199).
2) Roter Wachsstock schützt gegen Behexung der Wöchnerin (Wuttke § 195.
E. H, Meyer, German. Mythol. 209); gegen Alpdruck (Wuttke § 419). Rot ist die Hoch-
zeitsfarbe, um gegen allerlei Zauber zu schützen (Meyer 'S. 213). Rot als Zauberfarbe
(oben 2, 113). Heilende Kraft der roten Farbe in der Volksmedizin (Isäger S. 22f.).
3) In einer Sage bei Schell, Bergische Sagen S. 23 sitzt auf der Leiche eines
Hexenmeisters ein graues Tier, ähnlich einer Katze, das sich nicht verscheuchen lässt.
Ein Licht, das man neben den Toten setzt, wird immer wieder ausgelöscht (jedenfalls
durch den in der Katze verkörperten Dämon). Auch die Üllerkens können fremdes Licht
nicht vertragen und löschen es aus (Jahn, Volkssagen a. Pommern u. Rügen S. 77f.).
Vor der Leiche eines Missetäters erlöschen die Kerzen (Wolf, Niederl. Sagen S. 303.
Oben 15, 347). In einer Elberfelder Sage versucht die Mutter eines kranken Kindes ver-
geblich Feuer zu machen. Sie bittet daher eine Nachbarin auf ihrem Herde etwas kochen
zu dürfen. Als sie zu ihrem Kinde zurückkehrte, war es gestorben. Sofort brannte das
Herdfeuer wieder (Schell, Neue bergische Sagen S. 45). In der Kapelle zu Ellingen soll
das Licht immer erloschen sein, wenn eine Leiche vorbeikam (ebd. S. 95). — Nach
armenischem Glauben müssen beim Auslöschen eines Lichtes in der Nacht besondere
Gebete hergesagt werden, um die Wirksamkeit böser Geister zu lähmen (Abeghian,
Der armen. Volksgl. S. 34f).
4) Der Gedanke, dass das Feuer auf die Seele einen belästigenden Einfluss ausübt,
kann umgekehrt auch dazu führen, den Gebrauch von Feuer und Licht in Rücksicht auf
Sterbende und Tote einzuschränken oder zu untersagen. Bei den Siebenbürger Sachsen
pflegt man hellen Lichtschein vom Sterbenden fernzuhalten, weil dadurch] die Auf-
regung der Seele gesteigert und ihr das Scheiden vom Körper erschwert werde. Man
unterhält daher die Nacht hindurch nur ein kleines, nicht hellschimmerndes Feuer im
Ofen (Schuller im Progr. Schässburg 1863, 40). Dass beim Toten nur ein schwaches
Licht stehen soll, wird in mehreren der obenerwähnten Beispiele betont. In Mentone
zündet man, während ein Toter im Hause liegt, kein Feuer an und isst kein Fleisch,
„der Tote würde darunter leiden" (Revue des tradit. popul. 9, 117). Es darf überhaupt
Feuer und Licht im Totengebrauche.
Aber das Feuer ist nicht bloss ein feindliches, verzehrendes,
scheuchendes Element, sondern auch freundlich und hilfreich: es leuchtet
und wärmt. Darum findet sich vielfach, wie die angeführten Beispiele
zeigen, sein Gebrauch auch mit allerlei anderen Deutungen verknüpft,
namentlich mit der, dass es dem abgeschiedenen Geiste auf dem Wege
ins Jenseits oder im Jenseits leuchten solle. Auch diese Auffassung ist
Naturvölkern nicht fremd, wie gleich noch aus anderen Beispielen hervor-
gehen wird, aber sie setzt doch schon entwickeltere Jenseitsvorstellungen
voraus. Vielleicht hat man auch in der Sitte, den Leichnam mit Feuer
und Licht zu Grabe zu geleiten, hier und da eine gewisse Gewähr dafür
gefunden, dass der abgeschiedene Geist, der weisenden Flamme folgend,
seinen Körper auch wirklich zur Bestattung begleitet, eine Auffassung,
die freilich auch nur die Beseitigung und Unschädlichmachung der Seele
im Auge haben würde.1) Jedenfalls muss die Angabe, dass die Leiche
auf dem Wege zur Bestattung deshalb von Lichtern begleitet werde, weil
diese ursprünglich bei Nacht stattgefunden habe, als eine spätere Um-
deutung betrachtet werden.2)
vielfach im Sterbehause eine bestimmte Zeitlang nicht gekocht werden; vgl. mein Dort-
munder Programm 1903, 56f. In Argos mussten, die einen Verwandten oder Genossen
verloren hatten, ihr Feuer löschen und nach der Trauer bei Nachbarn neues anzünden
(Preuner, Hestia-Vesta 474). In Oldenburg muss nach einem Todesfall das Herdfeuer
sofort ausgegossen werden, sonst kehrt der Tote wieder (Wuttke $ 737. Hier mag freilich
auch die Befürchtung zugrunde liegen, dass das Feuer irgendwie verunreinigt ist, oder
dass gar die Seele dadurch angelockt werden und darin Wohnung nehmen könnte). Die
Fulbe begraben ihre Toten in Häusern, in denen dann mit Vorliebe fremde Gäste ein-
quartiert werden; doch erhalten diese den Wink, kein Feuer darin anzuzünden. Sie
wissen dann, dass sie sich in einem Totenhause beiladen. Auch in dem Falle, dass ein
solches Haus noch von einer Familie bewohnt ist, dari kein Feuer in ihm angebrannt
werden (Passarge, Adamaua S. 502). Lewy erwähnt (oben 3, 27) aus der zum talmudischen
Schriftenkreise gehörigen Tosefta die Vorschrift: „Stellet das Licht auf die Erde, damit
die Toten sich ärgern" oder: „Stellet das Licht nicht auf die Erde, damit die Toten
sich nicht ärgern", und vergleicht damit eine Bestimmung der Synode zu Elvira v.J. 306:
„Cereos per diem placuit in coemeterio non incendi, inquietandi enim sanctorum spiritus
non sunt."
1) Wenigstens kann die ursprüngliche Sitte der Abwehr leicht einmal eine solche
mildere Deutung annehmen, wie man denn den oben aus Westböhmen angeführten Brauch,
das Bett des Sterbenden dreimal mit einer Kerze zu umwandeln, mit den Worten erklärt:
„es wird ihm das Licht gehalten" oder „er wird weggeleuchtet." Anderswo wird die
gleiche Verwendung der Glocke dahin gedeutet, dass sie die Seele anlocke und auf ihrem
Scheidewege geleite. Siehe darüber oben 7, 368f. Ganz ähnlich werden Glocke und
Feuer bei den Landdajaken von Sarawak benutzt, um die Seele, die den Körper eines
Kranken verlassen hat, wieder zurückzurufen. Der Priester wickelt eine kleine Schale in
ein weisses Tuch und stellt sie zwischen die dargebrachten Opfer; dann schreitet er mit
einer Fackel in der einen und mit einem Rosenkranz und einer klingenden Schelle in der
anderen Hand herum und spricht die Zauberformeln. So wird die Seele wieder heran-
gelockt (Wilken, Het animisme S. 16).
2) Ähnlich werden die als Weihegaben dargebrachten Kerzen unter anderen Deutungen
darauf zurückgeführt, dass die ersten Christen zur Zeit ihrer Verfolgung nächtlich oder in unter-
irdischen Räumen ihren Gottesdienst abhalten mussten (Andree, Votive u. Weihegaben S. 80).
372
Sartori :
Die anlockende Kraft des Feuers wird in den nachher zu behandelnden
Bräuchen gelegentlich noch deutlicher zum Ausdruck kommen. Aber
schon hier mag erwähnt werden, dass die Seele, wie sie durch Licht und
Feuer angelockt wird, auch sonst vielfach mit ihm in sympathetische
Beziehung gebracht wird. Dazu wird auch die so weit verbreitete An-
schauung von der feurigen Natur der Seele beigetragen haben.1) In
Belgien zieht man aus der Sterbekerze Schlüsse auf Leben und Tod des
Kranken. Man steckt drei Nadeln in gewissem Abstände von einander
hinein. Wenn der Kranke noch nicht tot ist, wenn die Kerze bis zur
dritten Nadel abgebrannt ist, so wird er genesen (Bulletin de folklore
2, 333). An einigen Orten zündet man, wenn man nicht weiss, ob
<ier Tod wirklich eingetreten ist, ein Licht an, und wenn dies ganz
niedergebrannt ist, zweifelt man nicht mehr an dem Tode (ebd. 2, 337
nr. 22).2)
1) Hier ist zu erinnern an die todweissagende Kraft des Lichtes. Dieses deutet
auf einen bevorstehenden Sterbefall: a) Durch Erlöschen (Wuttke § 297. Oben 6, 407.
Haupt, Sagenbuch d. Lausitz 1, 269. Rochholz, Aargausagen 1, 351). Bei der Kon-
firmation (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 56). Bei der Trauung (John, Sitte im deutschen
Westböhmen S. 144. Oben 15, 438. Reubold, Beiträge z. Volkskunde 1905 S. 52. Dennys,
The folklore of China p. 17). Bei der Krankenkommunion (Wuttke § 303). In der Geister-
kirche (Schönwerth, Oberpfalz 1, 277). In der Christnacht (oben 8, 290). Am Neujahrs-
abend (Niedersachsen 11, 105: Schleswig-Holstein). Am Lichtmessabend (Birlinger,
Yolkstiiml. aus Schwaben 2, 19). Erlischt auf dem Altare ein Licht, so stirbt einer der
Geistlichen (Haupt 1, 271. Witzschel, Thüring. Sagen 2, 254 nr. 23. Oben 2, 208. 3, 366.
15, 347). In diesen Fällen wird überall das Licht mit der Seele und dem Leben des
Menschen identifiziert. — b) Durch Erscheinen: auf dem Bette des Kranken oder im
Zimmer (Curtze, Yolksiiberlieferungen aus Waldeck S. 382 nr. 69. Woeste im Nd. Jahrb.
1877, 148 nr. 15. 20. Schütze, Holstein. Idiotikon 1, 225. E. Meier, Sagen aus Schwaben
S. 488). Auf dem Wasser und im Freien (Am Ur-Quell 1, 9: Ditmarschen. Müllenhoff,
Sagen S. 246. Wolf, Deutsche Märch. u. Sagen S. 223). Irrlichter (Zingerle, Sitten des
Tiroler Volkes S. 44. Ztschr. f. d. dtsch. Mythol. 2, 418: Cevennen). Hier liegt wohl der
Gedanke zugrunde, dass das mitunter vielleicht früher Verstorbene verkörpernde Licht die
Seele anlockt. — c) Durch besondere Erscheinungen an dem Lichte selbst.
Blaue Färbung, Richtung des Rauches der Lichter (Am Ur-Quell 1, 9: Ditmarschen.
Wuttke § 303). Wachs- oder Talgtropfen am Lichte (Wuttke § 296. Am Ur-Quell 1, 9.
Dennys, The folklore of China p. 17).
2) Wie die Seele des Menschen mit dem Licht, so wird sein Körper mit dem Wachs
oder der sonstigen Substanz des Leuchtkörpers sympathetisch verbunden. Die Römer
opferten dem Saturnus Fackeln statt Menschen (Wackernagel in Zs. f. dtsch. Altert. 6, 283).
Bei den Rumänen wird das grosse Totenlicht aus Wachs genau in der Länge des Leich-
nams, fingerdick für die älteren Leute, dünner für die jüngeren gedreht (Flachs, S. 52f.).
Die zu Allerheiligen in mexikanischen Dörfern angezündeten Wachskerzen entsprechen in
ihrer Grösse dem Alter der Verstorbenen (Sartorius, Mexiko S. 262ff.). Wenn in Moskau
ein Unbemittelter stirbt, stellt man den Sarg auf die Strasse mit einer Kerze daneben.
Vorübergehende stecken Almosen in die Kerze (Bull, de folklore 2, 365 nr. 145. Sie
reichen damit das Almosen dem Toten selbst). Auch beim Opfer von Wachskerzen ist
die Kerze wohl oft als Stellvertretung für den Leib des Opfernden gemeint (vgl. Andree,
Votive S. 77ff.). Von Geistern getragene Wachskerzen werden zu Totenknochen (Wolf,
Niederländ. Sagen S. 397f.). Bei den Rumänen in Südungarn gehen sechs Wochen
Feuer und Licht im Totengebrauche.
373
Auf der kurischen Nehrung meint man, dass die Lichter am Sarge beim
Scheiden des Geistes von selbst verlöschen. Auch die Vorschrift, die
Totenlichter nicht auszublasen, die Meinung, dass sie von selbst erlöschen,
werden sich manche aus sympathetischer Beziehung zur Seele erklären1),
sowie das trübe Brennen der Lichter gewiss vielfach auf das verglimmende
Lebenslicht bezogen werden wird.
Aus der engen, sympathetischen Beziehung, in der die Seele zu Feuer
und Licht steht, erklärt es sich auch, dass die bei der Leiche verwandten
Lichter öfters als 'Totenfetische' benutzt werden.2)
Schliesslich wird dann das Licht als ein Opfer oder als eine blosse
Ehrung für den Toten aufgefasst.3) Manchmal sieht es beinah so aus,
als ob man zwei verschiedene Feuer unterscheide, von denen das eine als
hindurch nach der Beerdigung morgens drei Weiber zu einem iiiessenden Wasser und
lassen auf ihm Brotrinden, auf die angezündete Wachskerzen gesteckt werden, frei
schwimmen. Von diesem Augenblicke an hat die Seele des Verstorbenen stets Wasser
zur Verfügung (Globus 69, 198). In diesem Zauber soll wohl das Brot den Körper, das
Licht die Seele des Toten darstellen. Das gleiche Mittel wird auch benutzt, um die Seele
Ertrunkener anzulocken. In der Wetterau und in der Oberpfalz schreibt man, um die
Leiche eines Ertrunkenen zu finden, seinen Namen auf ein Brot und wirft es ins Wasser,
so schwimmt es an den Ort, wo der Ertrunkene liegt (Liebrecht, Z. Volkskunde S. 344 f.).
Statt des Namens wird nun auch eine angezündete Kerze auf das Brot gesetzt (ebd.
Böhmen, England. Vgl. über das Brot noch von Negelein, Zs. f. Ethnol. 1902, 62f.
Anm. 6). Die russische Landbevölkerung im Gouvernement Jaroslawl bindet, wenn man
einen Ertrunkenen nicht finden kann, an einen mit Weihrauch und glühenden Kohlen
halb angefüllten Topf ein Kreuz oder ein Heiligenbild und setzt ihn ins Wasser. Der
Topf schwimmt an die Stelle, wo der Ertrunkene verborgen liegt, und bleibt hier un-
beweglich stehen (Globus 63, 214).
1) Auch am Geburtstagskuchen des Kindes darf das Lebenslicht nicht ausgeblasen
werden (Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen 431 nr. 265). Einem das Licht ausblasen heisst
nun einmal einen töten (Rochholz, Aargausagen 1, 36). Die 'Römerkerze' wird am Schlüsse
der Totenmesse vom Priester feierlich ausgeblasen (Rochholz, Deutscher Glaube 1, 167.
Damit ist der Tote für die Kirche erledigt).
2) Öl von der Lampe, die in der Schweiz beim loten brennt, soll gut sein zur Ver-
treibung von Geschwüren (Rochholz 1, 195). Mit dem Docht einer Lampe, die in einem
Sterbezimmer gebrannt hat, bestreiche man Kröpie, so heilen sie (Wolf, Beitr. 2, 377).
Kranke Haustiere brennt man mit einer Kerze, die auf einer Leiche gestanden hat
(Isäger, Aus der dänischen Volksmedizin S. 18). So lange ein Rest des Lichtes, das auf
dem Sarge gebrannt hat, im Hause ist, können keine Diebe kommen (Bartsch, Mecklenb.
Sagen 2, 94 nr. 314 vgl. 313a). Kerze von der Bahre des Toten zum Liebeszauber ver-
wandt (Krauss, Volksglaube der Südslawen S. 142).
3) Toter verlangt selbst sein Licht (Baader, Neugesammelte Volkssagen aus Baden
S. 103). Für den geächteten loten wai dagegen bei den Altfriesen 'neen liacht to barnene'
Meyer, German. Mythol. S. 70). Motten, die abends das Licht umschwirren, soll man nicht
töten; es sind arme Seelen, die Lichter geopfert haben wollen (John, Sitte in West-
böhmen S. 181). Lichter, die zu Ehren des Toten bei der Bestattungsfeier verwandt
sind, werden öfters auf dem Altar der Kirche geopfert (vgl. Andree, Votive S. 77f.
80. 83). Auch der Dampf der ausgeblasenen Kerze ist in Schwaben noch wirksam: er
kommt den armen Seelen zugute (Rochholz 1, ig7). Ursprünglich gilt auch er als
geisterscheuchend; av%vcov yàç ôo/.iàg ox) <pdovoi dai/novsg (Gruppe, Griech. Mythologie
S. 894, Anm 1).
374
Sartori:
Abwehrmittel, das andere in irgend einem anderen Sinne, als Repräsentant
des Toten, als Ehrung, Opfer oder dergleichen aufgefasst wird.*)
Betrachten wir nach diesen vorläufigen Feststellungen nun die weitere
Behandlung des Toten. Da wird uns zunächst nicht selten berichtet, dass
dem Bestatteten Licht und Feuer mit ins Grab gegeben wird. In der
Riedlinger Gegend umwickelt man die gekreuzten Hände des Verstorbenen
mit dem Ende eines Wachsstockes und einem Nüster, die ihm ins Grab
mitgegeben werden (Birlinger, Volkstüml, a. Schwaben 1, 280). Holz-
leuchter lagen neben den Alemannenleichen zu Oberflacht (Rochholz,
Glaube und Brauch 1, 166). Im Sächsischen Obererzgebirge wird u. a.
eine Kerze in den Sarg getan, damit es hell sei, wenn der Tote erwache
(ebd. 1, 189). Das früher erwähnte grosse Totenlicht, das bei den
Rumänen brennend im Leichenzuge getragen wird, wird in manchen
Gegenden mit eingegraben (Flachs, S. 53). In römischen Gräbern fehlten
nicht Lampen und Kandelaber (Becker-Göll, Gallus 3, 541. Lampen in
griechischen Gräbern: Hermann - Blümner, Lehrbuch d. griech. Anti-
quitäten, 4, 380, Anni.). Vielleicht bezweckt auch die im Mittelmeer-
gebiet verbreitete Sitte, die Behältnisse, in die der Tote gebettet wurde,
rot auszumalen, einen Ersatz für Feuer und Licht (v. Duhn im Archiv f.
Religionswissensch. 9, 2, 14). Den Lappen wurde Stahl und Feuerstein
ins Grab mitgegeben zum Lichtmachen (Schwenck, Mythol. d. Slawen,
S. 430), den Letten ein Leuchtspan (Globus 82, 369, Anm. 11). Bei
den Permiern wird zu Füssen des Grabes ein Tongefäss mit Kohlen ein-
gegraben (ebd. 71, 372). Feuerspuren sind in vielen Gräbern der Stein-
zeit gefunden worden, und S.Müller, Nordische Altertumskunde 1, 99 ff.
erklärt sie damit, dass man den Toten gelegentlich mit Feuer habe
wärmen wollen. Auch Funde in späteren vorgeschichtlichen Gräbern
(auf der Alb) scheinen darauf hinzuweisen, dass die Teilnehmer an der
Beerdigung beim Zuschaufeln des Grabes von Zeit zu Zeit eine Handvoll
brennendes Stroh ins Grab nachgeworfen haben (Strack, Volkskundliche
1) Bei den Rumänen z. B. wird die grosse Totenkerze brennend bis zum Grabe vor
dem Leichenzuge getragen; vor dem Sarge gehen Männer mit Laternen (Flachs S.53. 58).
In Lüttich und Hennegau dürfen die beim Toten angezündeten Kerzen nicht zur Be-
leuchtung dienen; es muss ausserdem eine brennende Lampe im Totenzimmer vorhanden
sein (Bull, de folklore 2, 340 nr. 48). Auch in der Mindener Gegend brennt (nach schrift-
licher Mitteilung) ausser den drei Kerzen auf dem Sarge ein Lämplein auf dem Herde,
das gleich nach der Leichenfeier gelöscht wird. Oder man zündet ausser den drei Kerzen
eine der früher gebräuchlichen, vierzipfligen Öllampen an. Darf man hier an den alt-
indischen Ritus erinnern, in dem neben dem Opferfeuer noch ein heiliges (dämonen-
scheuchendes) Feuer gebraucht wird? (Oldenberg, Relig. d. Veda S. 348f.) — Nach dem
Tode des Familienvaters muss im altindischen Gebrauch der älteste Sohn ein neues Feuer
anlegen und das des Katers beseitigen. Während der Nacht wird es in Flammen gehalten,
gegen die Zeit der Morgenröte wird zuerst eine Lampe auf einer Röstpfanne neben das
alte Feuer gestellt, dann unter allerlei Zeremoniell die beiden Feuer symbolisch geschieden
und das alte beseitigt (Caland, Die altindischen Totengebräuche S. 113f.).
Feuer und Licht im Totengebrauche.
375
Zeitschriftenschau f. 1903, 181). In Dänemark wurde noch in späteren
Zeiten den Toten Feuer ins Grab nachgeworfen (Isäger, Aus d. dänischen
Volksmedizin, S. 24; hier als Schutzmittel gegen alles Böse erklärt).
Seeleute, die an Bord eines Schiffes verstorben waren, soll man im
16. Jahrhundert (wo?) mit einem Feuerbrand ins Meer geworfen haben
(Melusine 2, 417). Bei den Guatusos in Costarica werden dem Toten
Bananen und Kakao sowie Feuerzeug (früher eine trockene Schlingpflanze,
von der zwei gegeneinander geriebene Stücke Feuer gaben, jetzt einfach
Zündhölzer und leicht entzündliches Holz) mitgegeben (Globus 76, 350).
Die Kaïngang in Argentinien machen zur Linken der Leiche noch eine
Vertiefung ins Grab, in die der nächste Verwandte des Verstorbenen
einen glimmenden Feuerbrand steckt, damit der Tote im Jenseits die
Heide, die er durchwandern muss, anzünden und von Buschwerk und
Dorngestrüpp befreien kann. Wenn es dann einige Tage nach dem
Begräbnisse regnet, so herrscht grosse Freude, weil der Tote nun das
Land der Seelen erreicht hat; denn dieser Regen ist das Zeichen, dass
die Heide in Feuer aufgegangen ist (Globus 74, 246). Die Makuschi
geben dem Toten Feuerholz und Feuerzeug, Bogen und Pfeile mit, damit
er unterwegs seine Nahrung schiessen und rösten könne (Koch, Zum
Animismus d. südamerikan. Indianer, S. 55). Bei den Yabim (Papuas)
ruft man in der ersten Nacht nach der Seele und reicht ihr Feuer, damit
sie es mit sich nehme (Archiv f. Religionswissensch. 4, 344).
Dass durch diese Mitgaben der Tote mit Feuer und Licht zu seinem
künftigen Gebrauche versehen werden soll, ist in mehreren der ange-
führten Beispiele ausgesprochen. In anderen wieder werden wir das
Bestreben der Abwehr und des Schutzes, sei es für oder gegen den Toten,
nicht verkennen können.1) Ebenso steht es mit den Fällen, in denen
ein Feuer auf oder neben dem Grabe angezündet wird. In Nord-
Queensland wird vor der Beerdigung ein h euer im Grabe angemacht, und
wenn das Grab geschlossen ist, darüber ein Feuer in Brand gehalten,
beides wohl, um die bösen Geister zu vertreiben (Fraser, The aborigines
of New South "Wales, p. 81 f.). Im Westen von Victoria besucht der
1) Als Abwehr-, Schutz- und Sühnmittel möchte ich das Feuer namentlich auch in
den besonderen Fällen betrachten, m denen es Menschen beigegeben wird die einem von
Sitte oder religiösem Brauche verlangten gewaltsamen Tode überantwortet werden. Die
lebendig begrabene Yestalm wurde mit einigen Speisen und Licht versehen (Preuner,
2JV Wn ,ei InKdianern ausgesetzten Kranken beigegeben
globus 67, 108). Die Heiden' sollen ihre über 60 Jahre zählenden Alten getötet, in
Stucke gehackt, diese in grosse Töpfe getan und ein Lämpchen hineingesetzt haben
{Kuhn, Westfal. Sagen 1, 106). Auch menschlichen Bauopfern wird gelegentlich Licht
mitgegeben. In die Brücke von Rosporden wurde ein Kind eingemauert, das in der einen
o?/ oT fffeJte'(ene' in der anderen ein Stück Brot hielt (Ztschr. f. Ethnologie
1898,20- Line Kindesmörderin wird lebendig begraben und ihr Dornen, Brennesseln
und glühende Kohlen untergelegt (Seifart, Sagen aus Hildesheim 2, 28).
376
Sartori:
Geist des Toten eine Zeitlang sein Grab; darum unterhält man jede Nacht
ein Feuer daneben (ebd. p. 85). Die Kamalarai machen kleine Feuer
um das Grab herum, um böse Geister zu vertreiben, oder, wie andere
sagen, zur Wohltat für den Toten (ebd. 86). Der Koiari-Stamm an der
Südküste von Neu-Guinea unterhält monatelang zu Häupten und Füssen
des Grabes Feuer, und auch die Andamanesen zünden auf dem Grabe
Feuer an und setzen Wasser und anderes daneben (ebd. p. 86 f.). Ein
Buschmann erzählte, er hätte aus Furcht, seine Frau möchte ihn nach
ihrem Tode beunruhigen, den Kopf des Leichnams mit schweren Steinen
zerschmettert, ihn dann begraben und zu aller Sicherheit auf dem Grabe
ein grosses Feuer angezündet (Klemm, Allg. Culturgesch. 1, 345). Die
Sihánaka setzen eine Schüssel mit brennendem Kuhmist neben dem Grab-
stein nieder, „damit der Tote sich Feuer verschaffen könne, wenn er
etwa frieren sollte" (Sibree, Madagaskar, S. 327). Die Sotho-Neger be-
graben am liebsten in der Nähe des Hauses, damit der Tote von der
Wärme der Lebenden und ihrer Feuer sein Teil bekomme. Bei Häupt-
lingen muss das Yieh des Verstorbenen über dem Grabe schlafen, um
ihn zu erwärmen (Ztschr. f. Ethnologie 6, 40). Bei den Bagos wird alle
Abende auf der Stelle des Grabes, wo der Kopf des Toten liegt, ein
Feuer angezündet und mit dem Toten Unterhaltung gepflogen (Klemm 3,
298). An einigen Orten in Unyamwesi werden in kalten Nächten Feuer
auf den Gräbern angezündet, damit die Seelen sich wärmen können
(Schneider, Relig. d. afrikan. Naturvölker, S. 155). Dasselbe tun die
Sherbro-Neger (Spencer, Die Principien der Sociologie, dtsch. v. Vetter 1,
197). Im Gebiete des unteren Kongo und des Kwilu wird der Leichnam
in der Hütte beerdigt und auf ihm während eines Monats drei Feuer
unterhalten (Bull, de folklore 3, 68). Die Dinka zünden am vierten Tage
nach dem Begräbnisse, wo die Trauerfasten zu Ende sind, auf dem Grabe
ein Feuer an und töten ein Schaf (Schneider, S. 163). Während beim
Leichenbegängnis der Golde die Hütte über dem Grabe errichtet wird,
machen die Weiber daneben ein grosses Feuer (Globus 74, 272). Bei
den Otoe- und Missouri-Indianern in Nebraska wird nach dem Begräbnis
vier Nächte hindurch ein Feuer am Grabe angezündet und von den Ver-
wandten gewehklagt. Nach dieser Frist erhebt sich der tote Indianer
und reitet in die seligen Jagdgründe (First annual report of the bureau
of ethnology 1879/80, 97). Bei den Klamath- und Trinity-In dianern der
Nordwestküste wird drei Tage lang ein Feuer auf dem Grabe unter-
halten, und die Freunde des Toten heulen drumherum, um den Dämon
O-mah-á zu verscheuchen, der die Seele bedroht (ebd. 107). Mexikaner
und Algonkins unterhielten vier Nächte lang ein Feuer auf dem Grabe.
Die letzteren meinten, dass dadurch der Seele das mühselige Sammeln
von Brennmaterial auf ihrer Wanderung ins Jenseits, die vier Tage
dauert, erspart werden könne (ebd. 198. Brinton, The myths of the new
Feuer und Licht im Totengebrauche.
377
world, p. 240). Die Yurok von Kalifornien glaubten, dass die Geister
der Abgeschiedenen das Grabfeuer nötig hätten zur Beleuchtung auf ihrer
Reise ins Jenseits, namentlich um einen Abgrund auf einer dünnen,
glatten Stange zu überschreiten. Eine rechtschaffene Seele kommt
schneller hinüber als eine böse, danach regeln sie die Zahl der Nächte,
in denen das Licht brennen muss. Ein ähnlicher Glaube soll auch unter
Eskimos leben (First annual report, p. 198). Bei den Irokesen wurde
nachts auf dem Grabe ein Scheiterhaufen aufgeschichtet, um dem Geiste
zu ermöglichen, seine Speise zu bereiten (Spencer 1, 197). Die Dakotas
hängen rings um den Leichnam Speise auf und lassen mehrere Tage lang-
em Feuer dabei brennen, damit die Seelen weder frieren, noch Hunger
leiden (Knortz, Märchen u. Sagen d. nordamerikan. Indianer, S. 23). Bei
den Seminolen wird nachts ein Feuer auf dem Grabe unterhalten, um
die schlechten Nachtvögel zu vertreiben (Steinmetz, Ethnolog. Studien z.
ersten Entwicklung d. Strafe 1, 159; vgl. noch Tylor, Die Anfänge der
Kultur 1, 477 Anm.). Die Insel-Karaiben machten ein Feuer rings um
das Grab. Bei den Goajiros brennt zwei volle Jahre hindurch allnächtlich
ein Feuer vor dem Grabe. Die Makuschi unterhalten auf dem Grabe
eines dahingeschiedenen Kriegers nur einige Stunden, die Warraus da-
gegen mehrere Tage lang ein Feuer, um das die Witwe und die weib-
lichen Verwandten sich setzen und von Zeit zu Zeit einen grässlichen
Totengesang ertönen lassen (Koch, Zum Animismus d. südamerikan.
Indianer, S. 81). Die Maconis stellen auf den Grabhügel der Erwachsenen
Fleisch und Früchte und zünden Feuer an, damit dem Abgeschiedenen
keines seiner Bedürfnisse fehle (ebd. 59). Nach anderen Berichten
zünden brasilianische Indianer Feuer auf den Gräbern an, um die Seelen
zu verscheuchen (Müller, Gesch. d. amerikan. Urreligionen, S. 287). In
Hagecks böhmischer Chronik endlich wird (nach Schwenck, Mythol. d.
Slawen, S. 325) erzählt, dass bei dem Begräbnisse der Hruba, der Gattin
des Nezamysl, die Dienerinnen drei Tage das Feuer auf dem Grabe
unterhalten und beim Weggehen nach heidnischer Weise Steine hinter
sich geworfen hätten.
Das Feuer auf .dem Grabe finden wir nun häufig durch Lampen oder
Kerzen ersetzt. Bei den Alfaren der Minahassa (Celebes) wird auf dem
Grabe Vornehmer während einiger Tage eine Lampe neben den hin-
gesetzten Speisen angezündet. Man glaubt, der Tote käme, um sich aus-
zuruhen, zu essen und zu trinken (Wilken, Het animisme S. 107). Ähn-
lich auf den Palau-Inseln (Steinmetz, Ethnolog. Studien 1, 246). Bei den
dem Namen nach christlichen Colorados-Indianern westlich von Quito
wird das Haus, in dem die Leiche beerdigt ist, verlassen, doch lässt man
am Grabe einige Lebensmittel und angezündete Kerzen zurück (Globus
89, 68). Die Wotjäken zünden auf dem frischen Grabe einige Kerzen an
und streuen die Brocken von drei hartgekochten Eiern über das Grab
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 25
378
Sartori:
(Schwende, Mythol. d. Slawen S. 456). Die Tscheremissen setzen auf das
Grab für jeden vorher verstorbenen Freund eine Kerze und sagen: Lebt
verträglich! Jeder Begleiter isst bei den brennenden Kerzen einen
Pfannkuchen (ebd. S. 448). Auch die Tschuwaschen legen bei brennenden
Kerzen Speisen auf das Grab (ebd. S. 452). Bei den siebenbürgischen
Rumänen (Gemeinde Langendorf) begeben sich einige Tage nach dem
Begräbnisse die weiblichen Hinterbliebenen vor Sonnenaufgang mit einem
Topfe mit glühenden Kohlen sowie mit Weihrauch und einer brennenden
Kerze zu dem Grabe ihres Verstorbenen. Sie stellen den Topf auf die
Mitte des Grabhügels, die Kerze aber zu dem Haupte des Toten. Dann
streuen sie Weihrauch auf die Kohlen und umgehen mit gefalteten
Händen dreimal das Grab (Globus 57, 30). Im bosnischen Savelande
wird am dritten Tage nach der Beerdigung am Grabe eine Kerze ange-
zündet und neben dem Kreuze in die Erde gesteckt. Dann findet ein
Totenmahl statt (Krauss, Volksglaube der Südslawen S. 150 f.). Ähnliche
Bräuche bei den Bulgaren und in Sarajewo (oben 11, 20 f.). In mehreren
portugiesischen Provinzen trägt man an Sonn- und Festtagen Brot und
Wein samt einem brennenden Licht auf das mit einem Tischtuch be-
deckte Grab (Urquell, N. F. 2, 204 f.). In Rom wurden die in die Gräber
gestellten Lampen an gewissen Tagen, namentlich am Todestage, ange-
zündet. Es galt auch als ein gutes Werk, eine brennende Lampe in oder
auf das Grab zu setzen (Marquardt-Mau, Privatleben der Römer S. 368).
Am Grabe Arons auf dem Berge Hör wird Donnerstags und Freitags eine
Lampe angezündet, weil an diesen Tagen der Prophet sein Grab besucht
(Curtiss, Ursemit. Relig. S. 87). In Bayern trägt am 7. und 30. Tage
nach dem Gottesdienste, bei dem Kerzen, Geld zum Wein und Brot am
Altar niedergelegt werden, die Totenfrau zwei Lichter auf das Grab
(oben 11, 18; vgl. auch Lippert, Die Relig. der europ. Kulturvölker
S. 148 f.). Eine ewige Lampe wird am Orte eines Mordes gestiftet
(Pröhle, Harzsagen S. 224)T).
1) Nachzutragen ist hier noch der deutliche Schutz- und Abwehrzauber, den manch-
mal die Hinterbliebenen nach der Rückkehr von der Bestattung an sich und dem Hause
vornehmen. Wenn die Verwandten von der Verbrennung des Toten zurückkehren, sollen
sie nach altindischem Ritual Feuer berühren, und das Haus ist mit einem Feuerbrand
auszubrennen und mit Kuhmist zu reinigen (Caland, Die altind. Totengebräuche S. 79).
Zwischen Dorf und Begräbnisstätte wird Feuer gesetzt (ebd. S. 140, ITI)- Bei den
Wotjäken schreiten nach der Rückkehr von der Beerdigung die Begleiter über ein beim
Sterbehause angezündetes Feuer, reiben sich die Hände mit Asche, baden sich usw.
(Schwende, Mythol. der Slawen S. 456). Bei den Jakuten zündet man auf der Heimkehr
vom Begräbnisse auf dem Wege Holzhaufen an, und die Verwandten des Verstorbenen
springen durch die lodernde Flamme, um sich von dem bösen Geiste zu befreien, der
sich in ihren Kleidern eingenistet haben könnte (Globus 59, 85). Bei den Bulgaren wird
am nächsten Tage nach der Bestattung und dem Totenmahl das Haus von einem Waisen-
mädchen gefegt und gereinigt. Dag Mädchen hält dabei in der linken Hand eine
Wachskerze und ein von den Hinterbliebenen erhaltenes Geschenk (Strauss, Die Bulgaren
S. 451).
Feuer und Licht im Totengebrauche.
379
Ebenso häufig und ebenfalls in Verbindung mit Speisungen der Toten
kommen Lichter im Trauerhause während einer gewissen Frist nach
dem Sterbefalle oder zu bestimmten Zeitpunkten zur Verwendung. Im
Samoborer Gebirgsland in Kroatien zündet beim Beginne des Trauer-
mahles der älteste Teilnehmer eine Wachskerze an. Nach jeder weiteren
Speise wird das wiederholt; in wohlhabenden Häusern tut man das auch
für früher Verstorbene (Krauss, Volksglauben der Südslawen S. 151 f-)-
In Rumänien befindet sich bei jedem Gedeck des Totenmahles neben
einem Kuchen eine Wachskerze, die bei Eröffnung des Mahles angezündet
wird. Die Kerzen werden hierauf ausgelöscht und an den Kuchen geklebt,
den jeder mit nach Hause nimmt (Flachs S. 61). Bei den Bulgaren in
Ungarn erhält beim Totenschmaus nach Aufbahrung der Leiche jeder
Geladene einen Laib Brot, zu dem eine Kerze mit Tuch gewunden wird.
Die Kerzen werden im Hause angezündet und dann wieder verlöscht, nun
isst man das Brot. Jetzt meinen sie, die Seele sei erlöst (Globus 90, 140).
Die südslawischen Mohammedaner glauben, dass jeder Tote am Abend
seines Begräbnistages in sein Haus auf Besuch heimkehre. Zu seiner
Bewirtung stellt man ein Glas frisches Wasser, mit einem reinen Handtuch
zugedeckt, auf denselben Platz hin, auf dem er ausgeatmet hatte. Dazu
setzt man noch ein Näpfchen mit Mehl und steckt mehrere Unschlitt-
kerzen ins Zimmergebälke. Am nächsten Tage wird das Wasser aufs
Feld geschüttet, das Näpfchen mit Mehl schenkt man einem Armen; die
Kerzen aber zündet man an, damit das Haus die ganze Nacht beleuchtet
sei (Krauss, im Globus 61, 155). In Clenze (hannoversches Wendland)
geht man nach dem Begräbnis in die Bauernstube, die Angehörigen müssen
Bier geben. Auf die letzte, leere Tonne setzt man zwei Lichter, ein
•Glas Bier und eine Semmel und schliesst die Tür zu. Das Seelchen soll
dann kommen und etwas davon nehmen (Globus 81, 271). In Hohen-
stein wird nach dem Begräbnis ein Stuhl in der Stube an die Tür
gestellt, ein Handtuch daneben gehängt, und die Nacht über brennt
ein Licht. Der Tote kommt sich bedanken (Toppen, Aberglaube aus Masuren
S. 111).
Bei den Wadschagga werden am Tage nach dem Begräbnis eines
Mannes im Hofe (wo die Toten auch begraben werden) Feuer angezündet
und zwei bis drei Tage lang unterhalten. An dem Feuer soll sich die
Seele wärmen und sich zugleich an den Speisen ergötzen, die ihr zu Ehren
über jenen Feuern gekocht werden. Auch die Kleider und Waffen des
Toten werden um das Feuer herumgelegt. Am vierten Tage wird es mit
Rasenstücken ausgelöscht. Für eine kinderreiche Frau werden die Feuer
vier Tage lang auf dem Hofe ihres Mannes angezündet und dann noch
zwei Tage auf dem Hofe ihres Vaters. Ihre Fellgewänder werden
jeden Tag bei Neuanzündung des Feuers gerieben, dass sie knittern
(Globus 89, 198 f.).
380
Sartori:
Die Tagalen der Philippinen zünden am dritten Tage nach dem
Todesfall in der Sterbehütte Kerzen an, um den Toten zum Festmahle zu.
erwarten (Wilken, Het animisme 1, 107). Die Permier, die ebenfalls am
dritten Tage das Totenmahl feiern, stellen beim Erscheinen der Gäste im.
Anfange der Mahlzeit brennende Wachslichter auf die Fensterbretter und.
zu beiden Seiten der Türschwelle (Globus 71, 372). An manchen Orten
Rumäniens wird der Rest des grossen Totenlichtes, das im Leichenzuge
mitgetragen ist und anderswo mit dem Toten eingegraben wird, mit nach.
Hause genommen und an den drei nächsten Abenden gleich nach Sonnen-
untergang an der Stelle, wo des Sterbenden Kopf war, brennend auf-
gestellt, da die Seele um diese Zeit noch zurückkommt; damit sie sich,
stärke und den Schweiss abwische, werden Totenkuchen und ein Handtuch
vorbereitet (Flachs S. 53). In Flémalle lässt man das Haus zwei oder
drei Tage nach der Beerdigung erleuchtet (Monseur, Le folklore wallon,
p. 40).
Die Tscheremisseii essen am zweiten Gedächtnisfeste des Toten, das.
am siebenten Tage stattfindet, bei brennenden Kerzen im Sterbehause
Kuchen und senden einige Bissen nach dem Grabe (Schwenck, Mythol.
der Slawen S. 448). Bei den Juden in Ostgalizien brennt nach Einnahrae
des Totenmahls sieben Tage lang am Fenster des Trauerhauses ein Öl-
lämpchen und darüber hängt ein kleines, weisses Tuch von Leinen. Die
Seele des Toten weilt während dieser sieben Tage noch zu Hause unter
den Ihrigen (Ur-Quell, N. F. 2, 109; vgl. Rochholz, Glaube und Brauch
1, 167. Grüneisen, Ahnenkultus Israels S. 103f.). In Ljubinje (Herzegowina)
wird im Sterbehause eine Woche durch Feuer unterhalten, um das die
Leute oft die ganze Nacht hindurch sitzen und warten, ob die Seele des
Verstorbenen wiederkehre (Zs. f. Ethnol. 1902, 66). Die Armenier lassen,
wenn der Verstorbene mehr als zehn Jahre alt ist, acht Tase lang auf
7 O O
dem Platze, wo seine Leiche gebadet ist, Kerzen oder Öllampen brennen,
damit der Weg der Seele ins Jenseits erhellt werde (Abeghian, Der
armenische Volksglaube S. 21). In Auersperg in Unterkrain kommen die
Leichenträger und Leichenbegleiter acht Tage lang ins Trauerhaus und
legen an dem Orte, wo der Tote gelegen hat, zwei Wachskerzen kreuz-
weise übereinander, zünden sie an allen vier Ecken an, knieen nieder und.
beten so lange, bis sie ausgebrannt sind (Rosenthal u. Karg, Der Deutsche
und sein Vaterland 2, 329). In Mainvault (Hennegau) stellt man nach
einem Sterbefalle brennende Kerzen in kleine Kapellen in der Mauer
wenigstens acht Tage lang auf. Einige zünden sie alle Sonntage während
der Messe und cler Vesper an bis zum Ende der Trauerzeit (Bull, de
folklore 2, 346 nr. 73).
Im alten Indien wurde während der Periode der Unreinheit dem Ver-
storbenen ausser anderen Gaben auch täglich eine Lampe dargeboten.
Nach späteren Quellen soll sie die furchtbare Finsternis, die auf dem
Feuer und Licht im Totengebrauclie.
381
"Wege nach Yamas Stadt herrscht, erleuchten (Caland, Die altind. Toten-
gebräuche S. 82). Nach heutigem Ritus gräbt im Trauerhause der Haupt-
leidtragende dicht bei dem Platz, wo die Leiche gelegen hat, eine kleine
Grube und lässt darin zehn Tage und Nächte lang eine Lampe brennen
{ebd. S. 84). Bei den Parsen wird an der Stelle, wo der Leichnam auf-
gebahrt war, drei Tage lang ein Feuer unterhalten und wohlriechendes
Sandelholz und Weihrauch darauf verbrannt, um die Krankheitskeime zu
vernichten. Die Stelle wird auch nachher längere Zeit unbenutzt gelassen.
Zehn Tage, im Sommer dreissig Tage lang, darf keiner den Platz be-
treten. In der Nähe muss neun Tage lang im Winter und dreissig im
Sommer eine Lampe brennen, und in einen kleinen Topf voll Wasser
werden jeden Morgen frische Blumen getan. Nach Ablauf der erwähnten
Periode wird das ganze Zimmer gründlich gewaschen (Globus 64, 397).
Huronen und Irokesen nähern sich während der zehn Tage der grossen
Trauer nicht dem Feuer in ihrer Hütte und gehen nur nachts aus
(Globus 70, 341).
In den Schweizer Urkantonen steht bei dem Bett des Toten eine
brennende Öllampe, die vom Augenblicke des Hinscheidens an dreissig
Tage und Nächte fortwährend brennen soll, neben einem grossen Kruzifix
zwei brennende Kerzen. Nach dem Usäwisänä ('Ausweisen') am dreissigsten
Tage löscht man das Dreissigstlicht (Homeyer, Der Dreissigste S. 155 f.
Vgl. Leoprechting, Lechrain S. 254).
Bei Ruthenen und Huzulen pflegt man im Trauerhause während der
ersten vierzig Tage hin und wieder, besonders in den ersten Tagen, neben
■eine brennende Kerze einen Becher voll Wasser und Brot hinzustellen
(Globus 67, 357). Im Sterbebette des Serbenfürsten Milosch Obrenowitsch
-brannte ein Öllicht vierzig Tage lang, daneben standen Speisen (Roch-
holz, Glaube und Brauch 1, 196). In Bulgarien wird die ersten drei Tage,
in manchen Häusern vierzig Tage hindurch, früh und abends an die
Stätte, wo der Tote gebettet war, ein Stein gelegt und darauf eine
brennende Kerze gesteckt. Die Seele soll noch vierzig Tage lang nach
dem Tode im Hause weilen (Strauss, Die Bulgaren S. 451). In Sarajewo
schickt man vierzig Tage lang je eine Kerze und einen Teller gekochten
Weizens in die Kirche (oben 11, 21). Bei den Permiern im Kreise
Tscherdyñ wird am vierzigsten Tage und am Jahrestage des Todes eine
Bewirtung des Verstorbenen veranstaltet. Sobald alles angerichtet ist,
ergreift das Familienoberhaupt ein brennendes Licht und umkreist damit
dreimal den Tisch. Nach dem Essen geleiten die Verwandten die Person,
die den Sarg gezimmert oder die Leiche gewaschen und an der Tafel der
Bettler und Fremden den Vorsitz geführt hat, mit Kerzen in der Hand
Tor das Dorf (Globus 71, 372f.).
Auf der kurischen Nehrung steckt in der Silvesternacht, die dem
Tode eines Ehemanns oder einer Ehefrau folgt, der überlebende Teil
382
Sartori:
gewöhnlich ein Licht zur Erinnerung an den Dahingeschiedenen an. Ist
dies aber ausgeblasen, so erlischt zu gleicher Zeit die Erinnerung an ihn
(Globus 82, 292).
Bei den Chewsuren brennen ein Jahr lang Wachslichter vor den in
einem Winkel des Hauses niedergelegten Kleidern des Toten (Globus
76, 209).
In Schwaben brennen Frauen ein Jahr lang für verstorbene An-
gehörige beim Gottesdienst den Wachsstock (Birlinger, Aus Schwaben
2, 315. Ygl. Leoprechting, Lechrain S. 255. Reubold, Beitr. z. Volks-
kunde S. 61: Bezirksamt Ansbach). Am Jahrestage des Todes zündet
man im Hause ein Ollämpchen vor dem Kruzifix an (John, Sitte in West-
böhmen S. 179). Die Juden, die an jedem Jahrestage ihrer verstorbenen
Yerwandten von einem Abend bis zum anderen ein Licht anstecken,,
haben besonders dazu hergestellte Kerzen, die gerade 24 Stunden lang
brennen (Rochholz, Glaube und Brauch 1, 166f.).
Diese Verwendung des Lichtes bei den einzelnen Toten setzt sich
nun in den verschiedenen Gestaltungen der Allerseelenfeier fort. Die
Inder gruben für die Totenopfer an ihre Vorfahren (um Neumond und
sonst) Gruben und legten einen Peuerbrand daneben, um die bösen
Dämonen, die sich unter die „Väter" eingeschlichen haben könnten, zu
vertreiben (Ohlenberg, Relig. d. Veda S. 549). Die jetzigen Hindus
reinigen und beleuchten am Diwali oder Lampenfeste ihre Wohnungen,
um die Seelen der Verstorbenen in ihren alten Wohnungen zu empfangen
(Crooke, Popular religion of Northern India p. 374 f. vgl. 231). Am Vor-
abend des Ahnenfestes in Tongking werden die verstorbenen Verwandten
durch einen auf dem Hof aufgepflanzten Bambus zum Mahle eingeladen.
Vor der Tür, die auf die Strasse führt, ist ein hoher, mit Palmblättern
und Federn geschmückter Mast aufgestellt; am Abend hängt man eine
Laterne daran (Globus 51, 14). In der letzten Nacht des 'Laternenfestes'
der buddhistischen Japaner (30. August) werden Feuer, deren Licht, wie
man annimmt, den Pfad der Geister bei ihrer Rückkehr ins Seelenland
erleuchtet, zwischen den Gräbern und auf benachbarten Hügeln ange-
zündet (Transactions of the Asiatic soc. of Japan 19, 533). Am Aller-
seelenfest (im Neujahrsmonat) auf Sumba werden die Toten zum Essen
in die Häuser geladen. Nach Beendigung des Festes werden sie unter
Gesang von Männern und Frauen ein Stück Weges zurückbegleitet. Diese
haben dabei in der einen Hand einen 'klapperdop', gefüllt mit etwas
Essen, und in der anderen Hand ein brennendes Stück Holz. Wenn man
aus dem Dorfe heraus ist, so werden diese Gegenstände in der Richtung
des Seelenlandes geworfen, womit man von den Toten Abschied nimmt
(Wilken, Het animisme S. 108). Die südslawischen Mohammedaner
glauben, dass die Toten jeden siebenten Tag, einmal vor dem Ramazän
und zweimal während des Ramazâns zur Nachtzeit, wenn auf den
Feuer und Liclit im Totengebrauche.
383
Minareten die Lichter angezündet werden, und an jedem Freitagabend in
ihr Haus heimkommen. Man zündet dann entweder im Hause drei
Kerzen an oder schickt welche in die Moschee. Das Haus ist die ganze
Nacht hell beleuchtet und wird von Zeit zu Zeit mit Weihrauch aus-
geräuchert (Globus 61, 155). In Armenien verehrt man die Seelen bei
den fünf grossen Jahresfesten, aber auch am Vorabend anderer Feste und
jeden Samstagabend. Man verbrennt auf dem Herde Weihrauch oder
trägt ihn überallhin, wo man glaubt, dass die „Seelen der Vergangenen"
sich aufhalten. Ein anderer Brauch besteht in der 'Unterhaltung des
Lichtes der Verstorbenen' die Nacht hindurch, damit die Seelen in das
Haus eintreten können. Finden sie es dunkel, so speien sie durch das
Dachfenster hinein und entfernen sich fluchend (Abeghian S. 23 f.). In
den mexikanischen Dörfern werden zu Allerheiligen den Seelen Speisen
hingestellt und der Zahl der Gerichte entsprechend Wachskerzen ange-
zündet. Die Grösse der Lichter entspricht dem Alter der Verstorbenen.
Am folgenden Tage zünden die Weiber in der Kirche ganze Reihen
kleiner Wachskerzen an (Sartorius, Mexiko S. 262 f.). Bei den Wotjäken
wird in jeder Familie in der Woche vor Palmsonntag gegen Mitternacht
ein Tisch mit Essen für die Toten besetzt, daneben steht ein Trog, auf
dessen Rand eine brennende Wachskerze geklebt ist. Der Hausherr wirft
einen Teil des Fleisches in den Trog und isst den Rest selbst (Buch,
Die Wotjäken S. 145 f.; vgl. Schwenck, Mythol. d. Slawen S. 456). Bei
den Tschuwaschen setzt jeder Hausvater bei der Totenfeier im Frühling
(çjorda gone = Lichtertag) für jeden Toten, den er verloren hat, etwas
Speise auf den Hof und zündet jedem eine Kerze an (v. Stenin im
Globus 63, 324; vgl. Schwenck S. 452). Ähnlich in Galizien auf den
Gräbern am Ostermontag (Kaindl in d. Beilage z. Münchener Allg. Ztg.
1901, Nr. 79, 5, Anm. 7). In einigen Gegenden zünden die russischen
Bauern auf ihren Höfen am eihnachtsabend und am Vorabend der
heiligen drei Könige Stroh an, damit die V erstorbenen sich wärmen
können (Globus 59, 236). Im skandinavischen Norden wird in der Jul-
nacht das Haus zum Empfang der Seelen erleuchtet, angezündete Lichter
stehen auf dem gedeckten Tisch, eine Kanne besten Julbiers zwischen
zwei Lichtern. Aber man trifft auch allerlei Schutzmassregeln. Vor den
Fenstern werden Vorhänge angebracht, sowohl damit die Geister nicht
hineinsehen, als auch damit sie nicht vom Jullicht gestört und aufgereizt
werden. Niemand wagt sich in der Dämmerung ohne angezündetes Licht
aus. Auf dem Herde lodert das Feuer hell. In Norwegen pflanzt man
bisweilen eine grosse, brennende Fackel in einen Schneehügel ausserhalb
des Hauses, und in Schweden gehen die Kirchgänger mit Fackeln nach
der fernen Kirche und sehen unterwegs überall helle Fenster. Auf Island
setzt die Hausmutter in jeden Raum der Wohnung angezündete Lichter;
kein Winkel darf in der Julnacht dunkel sein (Feilberg in den Hessischen
384
Sartori:
Blättern f. Volkskunde 5, 34) *). In Ostpreussen wird am Neujalirstage die
Ofenbank für die Seelen freigehalten, das Feuer im Herde oder im Ofen
angezündet und auch in manchen Gegenden ein Licht die Nacht hindurch
brennen gelassen (oben 11, 157). Auch in Pommern kommen die Ver-
storbenen in der Silvesternacht und wärmen sich am Ofen (Knoop, Volks-
sagen a. d. östl. Hinterpommern S. 177 nr. 212). Um einen Seelenbesuch
handelt es sich wohl auch in der von Bartsch (Sagen a. Mecklenburg 2,
231 nr. 1205) berichteten Sitte: Am Silvesterabend sieht man in vielen
Häusern einen schön geputzten Leuchter mit einem brennenden Licht
darauf, das an diesem Abend von keinem vom Tisch genommen werden
darf; auch auf der Hausdiele brennt um diese Zeit den ganzen Abend
eine Lampe. Nach der Abendmahlzeit wirft der Hausvater Geld unter
den Tisch, das die Tischgenossen sogleich, ohne Licht mit unter den
Tisch zu nehmen, aufsuchen. (Unter dem Tische sitzen die Seelen; vgl.
Feilberg, Hess. Bl. f. Volksk. 5, 38.) Am Christabend (anderwärts am
Perchtentage) werden im Salzburgischen die Esstische mit dem sogenannten
'Heiligenachttücher und mit einer Kerze, die nicht ausgelöscht werden
darf, wie auf einem Opfertische für die nächtlicherweile einkehrenden
Seelengeister bedeckt (Höfler, Weihnachtsgebäcke S. 10). In Süddeutsch-
land werden Wachsstöcke neben Lichtern am Allerseelentage namentlich
von Frauen vor den Altären angezündet. Sie lieissen dann Seelenlichter,
sie brennen zur Labsal der armen Seelen im Fegefeuer. „Das ewige
Licht leuchtet ihnen" [(Andree, Votive S. 83; E. Meier, Sagen aus
Schwaben S. 451 f. nr. 173). In der Oberpfalz sitzen die Seelen am
Allerseelentage den ganzen Tag auf ihren Gräbern und freuen sich der
Lichtlein, die man ihnen darauf brennt; die aber, die vergessen sind,
warten traurig des Lichtes den ganzen Tag, „Für diese wird abends ein
Feuer angezündet, um sie zu wärmen" ist der Spruch, wenn man ein
Grab ohne Licht sieht (Schönwerth, Oberpfalz 1, 281. 283). Um Iglau
in Mähren wird am Allerseelentage ein Lichtlein auf den Gräbern ange-
zündet, wodurch die bösen Geister verscheucht werden (oben 6, 411). In
Deutschböhmen brennt man zu Allerseelen im Hause und auf den
Gräbern Kerzen an (Reinsberg - Düringsfeld, Festkalender aus Böhmen
S. 493; John, Sitte in Westböhmen S. 97). Anderswo in Böhmen und
in Tirol stellt man den Seelen eine brennende Lampe auf den Herd, die
aber nicht mit Öl, sondern mit Butter gefüllt ist, und mit dieser be-
streichen sie sich ihre Brandwunden (Wuttke § 752). Eine besondere
Art von Seelenfeier fand an einigen Orten Westböhmens am Kirchweih-
feste im Herbst statt. Das Hauptvergnügen dieser Tage bestand in Tanz.
Montag war der Tanz der Verheirateten, Dienstag der Tanz der Jugend,
der schon morgens nach einem Gottesdienst für die Gestorbenen begann.
1) [Ausführlicheres bei Feilberg, Jui (1904), Register unter 'Lys'.]
Feuer und Licht im Totengebrauche.
385
Man nannte diesen Morgentanz die 'Press' oder die 'goldene Stund'. Sie
dauerte nur so lange, als eine bei Beginn angezündete Kerze brannte.
Dann ging man wieder nach Hause. In der 'Press' dachte man sich die
Seelen der verstorbenen Ortsleute anwesend, damit sie sich auch eine
einzige Stunde mitfreuen könnten. Das Licht brannte dabei, damit die
Seelen der Toten ausweichen könnten und nicht getreten würden; nach
anderen bloss als Zeitmesser (John S. 94, 4*22). In Brügge, Dinant und
anderen Städten Belgiens zündet man geweihte Kerzen in den Häusern
an und lässt sie während der Nacht brennen. Yor 50 Jahren wurde in
Verviers und Jupille eine angezündete Kerze während der Nacht auf das
Fensterbrett gestellt; man sagte, es geschähe, damit der Zug der Geister
seinen Weg auf der Strasse zurückfinden könne (Bull, de folklore 3, 24).
Überall zündet man am Allerheiligen- und Allerseelentage Lichter an den
Gräbern an. In Lüttich werden die Lichter in die Erde gestellt, sieben
oder neun an der Zahl, vor oder hinter dem Grabe, aber niemals darauf.
Man lässt sie ganz ausbrennen; wenn der Wind sie auslöscht, zünden die
Vorüb ergehen den sie wieder an (ebd. 3, 31). Im belgischen Limburg
setzt man an das Grab der im letzten Jahre Yerstorbenen zu Allerseelen
ein Strohkreuz. Den Abend verbringt man dann häufig im Wirtshaus
mit Trinken, Spielen und Singen. Aber beim ersten Schlage der
Mitternachtsglocke begibt man sich von neuem zum Kirchhof, um hier
■die Strohkreuze in Brand zu stecken (ebd. 32). In den Dörfern der Um-
gegend von Tongres zündet man während der Weihnachtsnacht und der
zwei folgenden Nächte Kerzen an. In Canne bei Tongres wird diejenige
Kerze des Weihnachtsabends, die um Mitternacht nicht ganz aufgebrannt
ist, als geweiht betrachtet Man bewahrt sie auf, um sie den Sterbenden
in die Hand zu geben (ebd. 99).
Damit sind wir wieder zum Ausgangspunkte unserer Betrachtungen
zurückgekehrt. Auch in den mancherlei Verwendungsarten von Feuer
und Licht nach der Bestattung des Toten erkennen wir immer wieder die
Absicht zu schützen und abzuwehren, und zwar ist es nun meist die Seele
selbst, vor der sich die Überlebenden sichern wollen. Aber das darf man
wohl sagen, je weiter zurück der Augenblick der Bestattung liegt, um so
öfter kommt doch auch die Vorstellung zur Geltung, dass man der ab-
geschiedenen Seele einen Gefallen, einen Liebesdienst mit der Spendung
von Feuer und Licht erweise. Und wenn auch diese Meinung wieder die
Absicht in sich schliesst, den Toten zufrieden und günstig zu stimmen,
an seinen Ort zu fesseln und dadurch vor allerlei unangenehmen An-
näherungsversuchen an die Lebenden zu hindern, so zeigt doch eben die
Umdeutung des ursprünglich als gewalttätiger Zwang gedachten Gebrauches
eine mildere Auffassung und ein freundlicheres Verhältnis zu den Ge-
storbenen. Dem Toten werden Feuer und Licht mit ins Grab gegeben
oder darauf angezündet, damit es ihm auch hier nicht an Helligkeit und
386
Sartori: Feuer und Licht im Totengebrauche.
Wärme fehle, damit er auch im Jenseits sein Essen kochen könne, damit
ihm der Weg dorthin beleuchtet oder von Hindernissen gesäubert werde.
Und wenn sich die Seelen einmal wieder zum Besuch im alten Heim ein-
stellen, so empfängt sie. behagliche Wärme und freundlicher Lichterglanz,
der ihnen den Ort zeigt, wo sie die für sie hingesetzten Speisen entgegen-
nehmen können.1) Das Feuer und das Licht wird zu einer Wohltat,
einem Labsal, einem Opfer für sie, für sie wird es der Kirche dar-
gebracht2), und schliesslich versinnbildlicht es den Christen das ewige
Licht, auf das sie hoffen. Aber wie gesagt, immer wieder bricht die
Scheu und Angst vor der unheimlichen Berührung mit der Totenwelt
hindurch und mischt sich oft seltsam in die so liebenswürdig drein-
schauenden Handlungen. Und am Ende tut man doch lieber noch ein
übriges, um die bedenklichen Gäste wieder loszuwerden. WTie man sie
in Japan nach beendeter Feier durch Feuer zwischen den Gräbern ver-
scheucht, so in Belgien durch das Anzünden der Strohkreuze auf den
Friedhöfen um Mitternacht. Derselbe Gedanke an den entgegengesetzten
Enden Asiens und Europas.
Dortmund.
1) Auch hier wird wieder das Licht in einzelnen Fällen in enge, sympathetische
Verbindung mit der Seele gesetzt. Die Tscheremissen stellen für jeden verstorbenen
Çféund eine Kerze auf das Grab; die Grösse der Lichter bei der Seelenspeisung der
Mexikaner entspricht dem Alter der Verstorbenen. Wenn die Bulgaren 40 Tage lang an
die Stätte, wo der Tote gelegen hat, einen Stein mit einer brennenden Kerze legen, so
soll auch hier wohl der Stein den Körper des Toten symbolisieren, wie das Licht seine
Seele. (Vgl. dazu mein Dortmunder Progr. 1903, S. 45). Ursprünglich freilich soll
gerade bei der Speisung der Seelen das Licht den Spendern Schutz gewähren. Die Toten
sollen zwar das Ihrige erhalten, aber sie sollen auf einen bestimmten Bezirk beschränkt
und an Übergriffen in den Bereich der Lebenden gehindert werden.
2) In Friesland und auf den Halligen pflegt man der Kirche beim Tode eines wohl-
habenden Familiengliedes eine oder zwei Wachskerzen zu schenken, die dann, vor dem
Altare stehend, bei feierlichen Gelegenheiten, namentlich aber an hohen Festtagen an
gezündet werden. Eine mit schwarzen Florbändern an ihnen befestigte Gedächtnistafel
meldet den Namen und den Todestag des Verstorbenen. Die Lichter des zuletzt Ver-
storbenen finden vor der Mitte des Altars ihren Platz (Ausland 57, 826. Auch hier sieht
es fast so aus, als glaube man in den Lichtern noch eine gewisse Teilnahme der Heim-
gegangenen am Gottesdienste zu ermöglichen). Ruthenen und Huzulen pflegen die Endchen
von Wachslichtern, die insbesondere zu gottesdienstlichen Zwecken verwendet werden, auf
die Erde zu werfen und dort ausglimmen zu lassen; nach der Ansicht des Volkes wird
nämlich den Seelen der Ertrunkenen nur so viel Licht in der anderen Welt zuteil
(Globus 67, 857).
Schläger: Deutsche Kinderlieder.
387
Nachlese zu den Sammlungen deutscher Kinderlieder.
Von Georg Schläger.
(Fortsetzung zu S. 264—298.)
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V/"
101. 1. Es zog ein Bauer über Bergestal, ho ho!
Es zog ein Bauer über Bergestal,
Kilja kilja hopp hopp hopp!
2. Er führt sein Rösslein an der Hand usw.
3. Was hat er auf dem Rösselein?
4. Da hat er eine Leinewand.
5. Was macht er mit der Leine wand?
6. Er trägt sie hin zum Schneiderlein.
7. „Guten Tag, guten Tag, mein Schneiderlein!
8. Kannst du mir machen mein Röckelein?"
9. „Guten Tag, guten Tag, Frau Annebett!
10. Wie steht mir denn mein Röckelein? "
11. „Es steht dir gut und doch nicht gut."
12. „0 weh, o weh, mein Schneiderlein!
13. Du hast verpuscht mein Röckelein."
14. „Ich hab's genäht beim Mondenschein."
15. „Und ich bezahlt's beim Sonnenschein."
Oberstein. Weise uud Ausführung ähnlich wie Lewalter Heft 8, Nr. 25, nur dass
beim Schluss der Bauer dem Schneider ein Geldstück in die Hand druckt; die Leinwand
wird durch ein Taschentuch vertreten. Str. 1 6 werden vom Chor, 7—10, 12, 13, 15 vom
Bauern, 11 von Frau Annebett, 14 vom Schneider gesungen. Zwischen Str. 8 und 9 muss
eine Lücke angenommen werden, wenn der Wortlaut von Str. 8 nicht etwa entstellt ist
aus „Mach mir daraus ein Köckelein." Der Schneider und Frau Annebett werden vom
Bauern bei ihrem Auftreten (Str. 7 und 9) mit einem Händedruck begrüsst, bei Str. 12
droht der Bauer mit dem Finger.
Unsere Fassung steht trotz des verdorbenen Schlusses dem Volkslied Erk-Böhme 3,1717
(daselbst weitere Nachweise) näher als die Lewalters = Böhme S. 547 Nr. 352 und S. 717
Nr. 75. [Colshorn, Märchen 1854 S. 130. Schumann 1905 S. 31. Marriage, oben 12, 219.
Kristensen, Skjsemtesagn 1900 S. 113.]
102. Ettchen dettchen dittchen dattchen
Zedra wedra wittchen wattchen,
Zedra wedra wuh,
Und das bist du.
Jena. — Zu Dunger 293.
388
Schläger:
103. Ettchen dettchen dittchen dattchen,
Siewerde biewerde borenattchen,
Ettchen dettchen Rettchenfresser,
Siewerde biewerde puff.
Greiz. — Dazu Simrock 838, Böhme 1757, Müller S. 209, Dunger 302, Schumann 420.
In Weida begannen Z. 2, 3 und 4: Z wieweide biewelde.
Da hat se e rutes Höschen an.
Eins zwei drei,
Da muss de Fárze Fárze Pfeife Pfeife
fér-tig: sei.
104. Fqrze, Fárze, Pfeife!
Mei Vater is e Schneider,
Meine Mutter is e Gickelhahn,
Da fliegt se bis zum Himmel nan.
Wenn se wieder runter kommt,
Lehnstedt i. Th., beim „Farzenmachen". Auf jede Tonstelle der letzten Zeile wird
ein Schlag mit dem Messer gegeben. 'Farze' nennt man, mehr treffend als schön, eine
Basthuppe mit tiefem, schnarrendem Tone. — In anderen Bastlösereimen erscheint ein
Kätzchen, das, wie im ABC- oder Heilspruche (Nr. 2), den Berg hinaufläuft; als Vater
und Mutter öfter ein Pfaff und eine Nonne. Ygl. Dunger 74 f. 77; Müller S. 181 Nr. 21;
Simrock 708, Wegener 358, Sachse S. 17. Unsere Fassung ist wiederum verwandt mit
unserer Nr. 62f., ohne dass ich den Zusammenhang aufklären könnte.
105. Fasslabend! Pick und pick!
Negen Müs beten sick,
Beten sick alle krank un dod.
Gif mi wat in Rummelpott!
Holstein. — Beschreibung des Rummelpotts bei Handelmann S. 103 [oben 13, 226].
Der Eingang gehört einem ganz anderen Spruch an, s. Dunger 315, Drosihn 264, Böhme
1853. Andere Rummelpottsprüche: Böhme 1709ff., vgl. auch unsere Nr. 30.
106. Flitz, flauz, Flederwisch,
Draussen ist mir's gar zu frisch.
Ich will mich in die Stube machen
Und den Kindern vertreiben das Lachen.
Gegend zwischen Eisenberg und Bürgel. Gehört in ein vogtländisches Weihnachts-
spiel und zwar in die Rolle des Knechts Ruprecht, s. Dunger in Wuttkes Sächs. Volks-
kunde, 2. Aufl., S. 271.
107. Frau, Frau, Frau, was hast in deinem Korbe drin?
Nichts, nichts, nichts, weil eine Bettelfrau ich bin.
Thüringen. Vgl. Simrock 327, Böhme 307 und 1291, auch 308 und 1292, Drosihn 26.
Sehr anklingend aus dem 16. Jahrh. Erk-Böhme 2, 954.
108 a. Geh in den Kreis, meine Rosá,
Geh in den Kreis, meine Blumá,
Geh in den Kreis, mein Allerjettchen, Allerjettchen, getrost.
"Wasche dich rein, meine Rosa usw. Steh auf . . .
Kämme dich glatt . • • Geh aus dem Kreis . . .
Fall auf die Knie . • •
Deutsche Kinderlieder.
3891
Osnabrück. Zu Böhme S. 473f., Nr. 184; Zusammenhang mit dem Gesellschafts-
spiele vom Pater und der Nonne und ähnlichen (Erk-Böhme 2, 975—977 [F. van Duyse,
Het oude nederl. Lied 2, Nr. 384]) ist wahrscheinlich, demnach auch mit unserer Nr. 25.
— Aus Oberstein ist mir neuerdings noch folgende Fassung bekannt geworden:
zu
——I—I-
-0—m---
m
108 b. Geh hinein, du liebe Rosa,
Geh hinein, du liebe Römer (so),
Geh hinein, du Allerletzte, Allerletzte im Kreis.
Kniee nieder usw.; dann 3—5 wie Böhme 184a.
6: Geh hinaus usw.
-Nr--V--\------0^2--
_p—a—p—p. j—0—«_i_i—1__*—0--
109. Geht heim, ihr Mädel,
Der Fuchs der liegt im Kraute;
Er nimmt die ganzen Blätter weg,
Er nimmt die ganze Staude.
Culmitzsch im Neustädter Kreis, altes Walzerlied. Den Worten nach ähnlich Lewalter
Heft 2, Nr. 28 = Böhme S. 558, wo das Fuchs- oder Plumpsackspiel (unsere Nr. 41) sich
geltend gemacht hat, ohne diese Anlehnung Müller S. 223 und 225. Eine gewisse Ähnlich-
keit bieten auch manche Fassungen des Wolf- und Gänsespiels (unserer Nr. 9), z. B.
Lewalter Heft 5, Nr. 58 = Böhme S. 574 oben, Drosihn 27G 278. Endlich ist gewiss
verwandt ein altes Lied vom Jahre 1544, Böhme 312d = Altdeutsches Liederbuch 289:
Der Wind der wet, der Han der kret,
Der Fuchs leufft in dem Kraute.
Ach Madlin, thu das Thür!in zu,
Der Koch der bringt die Lauten.
Die Anfangszeile dieser Strophe ist weitverbreitet, findet sich beispielsweise in der
sogenannten Ammenuhr (Simrock 267, Böhme .>11 c nach dem M'underhorn, Anhang S. 62)
und in unserer Nr. 151; mit derselben Fortgangszeile verbunden ist sie in einem Danziger,
von Böhme unter 311 d nach Frischbier mitgeteilten Reime, mit einer sehr ähnlichen im
Eingang eines Kettenreimes, Böhme 1520f., dazu Schumann 200, 578 c, 616 e. An die
dritte Zeile erinnern dagegen Böhme 1399 und besonders 543, das gleichfalls auf einen
Küchenball deutet, aber auch „Meydlin thu den Laden zu" in Fischarts Spielverzeichnis
(Geschichtsklitterung Kap. 25). — Unsere Weise gibt Böhme bei Nr. 545 zu einem ganz
anderen Tanzliedchen (= Simrock 57).
110a. Gerne woll'n wir Hafer
schneiden,
Gerne woll'n wir binden.
Hafer hat ein feines Lieb,
's wird sich wieder finden.
Wolfsgefährt im Neustädter Kreis, vor 1870. Eine Reihe Fassungen dieses Spiels
bei Böhme S. 491 ff., Nr. 231—235, ferner Erk-Böhme 2, 959, Dunger 359, Wunderhorn 3,
_ In unserer Fassung ist selbstverständlich die dritte Zeile verderbt, sie mag ge-
Hier und dort und anderswo
Unter diesen allen:
Nimm dir eine bei der Hand,
Die dir tut gefallen.
390
Schläger:
lautet haben: „Hab verlorn mein feines Lieb", entsprechend Böhme Nr. 234 = Dunger 359:
auch mag das Eingangswort, zunächst in der zweiten Zeile, aus dem „Gärble binden"
dieser Fassung hervorgegangen sein. Der Wortlaut bereitet den Übergang vom Wahl-
spiele zu einer anderen Spielform vor: das finden der vierten Zeile brachte die Vor-
stellung des verlorenen Schatzes nahe genug. Dungers Passung mit dem angefügten
Schlüsse weist insbesondere auf das Spiel „Hier ist grün und da ist grün" (unsere
Nr. 143), auch Böhmes Nr. 233 hat einen Anklang an diese Spielgruppe. Anderseits hat
der Schluss unseres Liedes auch wieder in jenes Spiel Eingang gefunden, z. B. Simrock 906
= Böhme 213, Lewalter Heft 3, 27, Böhme S. 482 Nr. 209, 484 Nr. 212f. — Z. 4 und 5
unserer Fassung deuten darauf, dass Z. 4 ursprünglich eine Frage enthält, wie sie zwar
auch in der landläufigen Fassung (Böhme Nr. 231, mir fast genau so aus Kothen bekannt)
nicht mehr vorhanden ist, wohl aber in Möllenhoffs Fassung = Böhme Nr. 235, auch bei
anderem Fortgang Böhme Nr.<232. Dabei möchte die Abteilung dieses Textes ursprünglicher
sein, so dass die beiden Stollen des Aufgesangs je ein Ganzes bilden. [Schumann 1905 S. 9.]
Das Hafermähespiel ist schon für 1663 bezeugt (s. Bolte oben 4, 184, darnach
Böhme S. 519). Es scheint aber früher ein Hasche-, nicht ein Tanz- und Wahlspiel ge-
wesen zu sein, wie aus folgendem Verse bei Erlach 3, 500 zu schliessen ist:
Amor will mit Haber-binden,
Hasch' ein jeder, was er kann,
Jeder wird die Seine finden,
Gnade Gott! dem letzten Mann.
Auf solchen Spielgebrauch deutet wohl auch die folgende, eigenartig erweiterte
Fassung aus Remda hin:
110b. Heute woll'n wir Hafer Lasst uns gehn, lasst uns gehn,
schneiden, Lasst uns schnell zu Rosen gehn!
Gerste woll'n wir binden. Rosen woll'n wir brechen;
Wer sein Liebchen nehmen will, Dass uns die Dorn nicht stechen!
Der nehme es geschwinde. — Lasst uns alle fröhlich sein
Eine solche schöne Braut Bei den Bursch und Mägdelein!
Mit ihrem goldnen Kränzchen!
Von der Fortsetzung finden Z. 5 u. 8 Entsprechendes bei Böhme S. 482, Nr. 209, wohl
aus einem anderen Spiel eingeführt: . . . Eine Jungfrau, schöne Braut, Sie steht in
goldnen Schnüren. Lass sie gehn, lass sie gehn, Ich will bei einer andern
gehn! Auf diese letzte Zeile hätte dann wieder ein unter Nr. 25 erwähntes Lied ein-
gewirkt, dessen eine Fassung bei Simrock 933 beginnt: Kommt, wir wollen nach Rosen
gehn. — Die vorletzte Zeile von 110b erinnert an unsere Nr. 143b und 195a.
111. Gestern Abend beim Mondenschein
Rumpelt was über die Brücke,
Führt der Storch sein Gatterle heim
Auf der Ofenkrücke.
Weida. Ähnlich Böhme 590, Erk-Böhme 2, 885 [Weinhold oben 3, 229] als Spott-
lied auf eine ärmliche Hochzeit und mit einer entsprechenden Fortsetzung. In dem
Weidaer Spruche steht die Ofenkrücke wohl an Stelle der Ofengabel, mit der sonst der
Storch ausgerüstet ist, z. B. Simrock 650, Böhme 771 ff. Eigentümlich ist, dass in einem
weiteren, bei Erk-Böhme mit aufgeführten Spottreim auch Krücke und Ofengabel erscheinen:
Kruckstiel un Ofengabel, Das sind mîne Hochzîtknabe. Sollte das der Keim für die Um-
wandlung sein?
112, Grau Männel,
Was gräbst du hier?
Klee Löchel.
Was willst du mit dem klee Löchel machen?
Holz nein tragen.
Deutsche Kinderlieder.
391
Was willst du mit dem Holze machen?
Feuer anbrennen.
Was willst du mit dem Feuer machen?
Messer schleifen.
Was willst du mit dem Messer machen?
Alten Juden den Bart abschneiden.
Leipzig, alt. Solche Kettengespräche, die im einzelnen manche Ähnlichkeit mit dem
unsrigen bieten, bei Böhme S. 569, Nr. 387 ff., Simrock 940, Drosihn 275—278, Schumann
125f., Müller S. 217, Nr. 4; vgl. fiuch Rochholz S. 409, Nr. 27, Handelmann S. 76f. zu
Müllenhoff S. 488, H. Meier, Ostfriesland S. 241.
113a. Grete, Grete Schlenkerbeen (Sperlingsbeen, Sperlingsbeen)
Kommt de ganze Nacht nich heem.
Hat gesungen, hat gesprungen (Kommt . . .)
Mit dem kleenen Schusterjungen (Mitm polschen Schäferjungen).
Wolfsgefährt im Neustädter Kreise, vor 1870; Abweichungen aus Kunitz bei Jena.
Zu Böhme 1392; mit verändertem Eingang oben 8, 412 Nr. 24. In Weida um 1880
etwas anders:
113 b. Hermann, Hermann Schlenkerbeen
Kimmt de ganze Nacht nich heem.
Wenn mer denkt, er is ze Haus,
Steigt er zum Kammerfenster naus.
Diese beiden Schlusszeilen bietet in anderem Zusammenhange Böhme 1349. — In
•Grossschwabhausen alles beisammen:
113 c. Glaserjette, Schlenkerbeen,
Kommt den ganzen Tag nich heem.
Kommt gesungen, kommt gesprungen
Mitm kleenen Schäferjungen.
Wemmer denkt, se is ze Haus,
Is se wedder hingen naus.
Zum Abzählreime gewandelt in Lehnstedt bei Weimar (zur Eingangsform vgl.
Schumann 351):
113d. Katherine Rumpelbeen
Kömmt den ganzen Tag nich heem.
Katherine Rumpeltasche
Muss den ganzen Tag rumhasche.
114. (Gretel) ist ein schöner Name,
(Gretel) möcht ich heissen;
Morgen wird sie aufgeboten
Mit dem Prinz von Preussen.
Ammerbach bei Jena; früher auch in Weida vorhanden. In anderen Fassungen
kommt der Spott deutlicher zum Vorschein, so Müller S. 185, Nr. 32. Anders gewendet
Simrock 449 = Böhme 1342, wozu folgende Erweiterung aus Sarnsthal i. d. Pfalz:
115. Hansel ist ein schöner Name, von Mädle auf de Gasse.
Hansel möcht ich doch nit heisse; pfuj pfui; ist das ne Schand
Hansel hat sich küsse lasse Für das ganze Vaterland!
Ein ähnlicher Schluss spricht gelegentlich die Rache für vergebliches Heischen aus,
z. B. Nr. 154. — Eine andere Fassung, Stöber 171, leitet zu unserer Nr. 127 hinüber.
392
Schläger :
Kunitz bei Jena.
116. Grün und gelb ist jämmerlich:
Seh mich an und fress mich nich!
Rot und blau ist Bauerntracht,
Wer das trägt, wird ausgelacht.
117. Guten Morgen, Herr Fischer,
Was machen die Gäns?
Sie sitzen im Wasser
Und putteln die Schwänz.
Sarnsthal in der Pfalz. Zu Simrock 329 und 430, Böhme 650, Stöber 167, Roch-
holz S. 37, Nr. 54. Unser Eingang wohl nach einer bebannten sprichwörtlichen Redensart
[Titel eines von W. Friedrich bearbeiteten Vaudevilles von Lockroy: Theater des Aus-
landes, Bd. 4. Hamburg 1852.]
118 a. Guten Tag,
Schöne weisse Dame!
Darf ich bitten unverzagt:
Schenk's mir eine Tochter!
:,: „Heute nicht :,:
Komm Sie morgen wieder!"
Muss ich mich erst einmal drehen
(geschieht)
Und auf morgen wiedersehen.
(zählt ab): Diese, diese will ich nicht,
Diese, diese mag ich nicht,
Diese will ich haben.
Ostheim vor der Rhön. Spielart: ein Kind der Reihe gegenüber, man geht sich
fragend und antwortend entgegen; das Kind wählt, bis auf der Gegenseite nur noch eins
übrig, dann von vorn. — Lewalter Heft 4, Nr. 7 und Böhme 225 (nach Eskuche) haben
einen anderen Anfang: Woll'n die weisen Frauen fragen, ob sie keine Töchter haben;
aus diesem sonderbar entstellt eine (jetzt von der Schule ausgerottete) Fassung von Eckol-
stedt bei Kamburg:
:,: „Wählen Sie, :,:
Wen Sie wollen haben."
Diese usw.
„Raten Sie."
(Sch. nennt einen Vogelnamen).
„ . . . flieg aus,
Komm bald wieder in mein Haus!"
118b. Wenn die weisen Frauen
zanken,
Dürfen Mädchen nicht vertragen.
119. Guten Tag, Herr Meister.
„Guten Tag, Herr Scheister."
Haben Sie viele Vögel zu verkaufen?
„Eine ganze Höhle voll."
Wie beissen sie?
Grossschwabhausen i. Th. Zu Böhme S. 588, Nr. 428; Sachse 30; auch Rochholz
S. 450; entfernt verwandt H. Meier S. 239.
120. Hans, bleib da,
Zieh nicht nach Amerika!
's kann ja ränne, 's kann ja schnei,
's kann a schienes Wätter sei.
Grossschwabhausen i. Th. —- lm Tingeltangel entsinn ich mich Ähnliches gehört zu
haben: Karl bleib da, Du weisst ja nicht, wie's Wetter wird.
—2-
121a. Hänschen sass im Schornstein
Und flickte seine Schuh.
Da kam ein armes (wackres) Mädchen
Und sah ihm freundlich (fleissig) zu.
Deutsclie Kinderlieder.
393
Mädchen, willst dich freuen? (du freien?) Drei Dreier sind zu wenig,
So freue dich (freie doch) mit mir. Drei Groschen sind zu viel;
Ich habe noch drei (sechs) Dreier, Drum geb ich dir ein Küsschen,
Die will ich geben dir. Dann kannst du von mir ziehn.
Grossmölsen i. Th., Abweichungen aus Norddeutschland, wo die Schlusszeilen auch
lauten: Ach Hänschen, liebes Hänschen, Du treibst mit mir dein Spiel. Die Thüringer
Fassung ist deutlich im Kindermunde verwandelt; am nächsten steht ihr ein anderer
Thüringer Text, Böhme 578 b, auch Drosihn 185. — Norddeutsche Fassungen haben statt
Str. 3 einen verstümmelten Fortgang: :,: Hans nimm sie nicht Sie hat nen krummen
(oder: schlimmen) Fuss; dazu vgl. Müller S. 134, Nr. 27, Rochholz S. 38, Nr. 58.
[H. Meier S. 242. Frischbier 1869 S. 237. Treichel S. 100. Wegener Nr. 1038—41.
Nd. Korrbl. 3, 72. Nd. Liederbuch Nr. 44. Notholz 1901 S. 33. Bahlmann 1896 S. 47.
Strack, Hess. Bl. f. Yolksk. 1902, 46 51.] Zu ergänzen nach folgendem älteren Bruchstück
aus Essen:
121b. Hänsken, wenn du freen willst, Hans nehm se nich,
So free doch mit mir! Se hat ein schefen Fot!
Ick heww en blanken Dohler, Dat deiet nischt
Den will ick gewen dir. He werd schon wedder god.
Hierzu Simrock 371. Böhme 578a. Erk-Böhme 2, 851. Schumann 102, mit gänzlich
anderer Wendung 154. An jenen Stumpfen schliesst sich eine Fortsetzung anderer Art:
122 a. Als die Braut in die Kirche ging, Die Mutter ging nach Dresden
Da waren die Haare geflochten; Und kauft' dem Kind ein Besen.
Als sie wieder raus kam, ^jg g-e w¿e(jer nacb Hause kam,
Da hatt sie ne kleine Tochter. Da war da§ Kind b ben
Der Vater ging nach Pommerland Mit Schippen und mit Spaten.
Und kauft' dem Kind ein Wickelband.
Ähnliches bei Mannhardt, Germanische Mythen S. 687f.; Schumann 102 und 679,
auch 578 c. Das Wiegenband erscheint sonst in Wiegenliedern und Abzählreimen, z. B.
Böhme 366, 1838, H. Meier, Ostfriesland S. 206, Schumann 580, Dunger 332. Die Fahrt
nach Dresden (ursprünglich auf einem Besen), hier ungehörig zugesetzt, stammt aus
Simrock 858, wozu ich aus meiner Kindheit folgendes Bruchstück angeben kann;
123. Kauft ich mir ein Besen,
Da flog ich bis nach Dresden,
Kauft ich mir ne Schnalle,
Da flog ich bis nach Halle.
Der Schluss von 122 a, den auch einige Fassungen bei Mannhardt zeigen (zu vergleichen
ist Wegener 89, Anm.), "erscheint in Seehausen in der Altmark etwas anders und mit einer
Erweiterung, indem sich übrigens das ganze Stück an einen anderen Stumpfen anschliesst:
(. . . . Sechs Dreier sind zu wenig,
Zwei Groschen sind zu viel. _)
122 b. Als sie in die Kirche ging, Als er dann nach Hause kam,
Da war ihr Haar geflochten; Da war das Kind gestorben.
Und als sie dann nach Hause kam, Hab ich dir's nicht gleich gesagt?
Da hatte sie ein Kind. Nimm den Fuchsschwanz in die Hand,
Hänschen reist nach Pommerland So wär das Kind geblieben.
Und holt dem Kind ein Wickelband.
Hier ist, wie in Böhmes Nr. 118 a mit Nr. 104 (nach Mannhardt 689), ein Über-
bleibsel eines schon unter Nr. 73 erwähnten älteren Volkslieds angefügt, und zwar er-
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 26
394
Schläger:
innert sein Wortlaut an das Bruchstück in einem Quodlibet aus dem Anfang des 17. Jahr-
hunderts (Zeitschr. f. d. Phil. 15, 55. Weim. Jahrb. 3, 126, Nr. 66):
Hab ich dir's nicht vor gesagt?
Bleib mir bey der Wiegen,
Nimb den Fuchsschwantz in die Hand
Und wehr dem Kind die — Mucken.
Hierzu auch Wunderhorn, Anhang S. 64 und Simrock 248. [Zum Fehlreim Wickram,
W. 5, LXXXI.]
124 a. Hansel, mein Hansel,
Geh mit mir ins Dorf,
Da singen die Waldvöglein,
Da klappert der Storch.
Neustadt a. d. Orla, um 1840. — Vollständiger bei Wilibald Alexis, Ruhe ist die
erste Bürgerpflicht 1, 120 als ein damals (um 1805) sehr beliebter Gassenhauer:
124 b. Mein Gustchen, mein Gustchen,
Komm mit mir aufs Dorf,
Da singen die Vögel,
Da klappert der Storch;
Da tanzet die Maus,
Da fiedelt die Laus,
Da kukket der Kukkuk
Zum Fenster hinaus.
Hierzu: Simrock 421 = Böhme 1322; Wegener 333; Böhme 1233. [Ginsburg und
Marek, Jüdische Volkslieder in Russland 1901 S. 213 Nr. 260: „Fiedelt die Maus, Tanzt
die Laus, Flieht die Fleih Durch'n Fenster araus". Dähnhardt, Volkstümliches aus
Sachsen 2, 125], Über die Beziehungen der zweiten Strophe zu Lügenmärchen und Bettel-
mannshochzeit wird bei Nr. 219 e gehandelt. Man darf vielleicht annehmen, dass diese
Anklänge erst hinzugekommen sind; der eigentliche Wortlaut könnte harmloser sein wie
etwa in folgender Fassung aus Sarnsthal i. d. Pfalz :
124 c. Kathrine, mei Mad,
Geh mit mer ins Gras,
Dort peifen die Vögel,
Dort kleppert der Has.
Dort springet der Ochs,
Dort tanzet die Kuh,
Dort schlägt des klee Männel
Die Trummel dazu.
Die erste Strophe (hierzu Erk-Böhme 2, G70 und entfernt Simrock 436) ist hier ver-
ändert. Auffällig ist freilich der Schluss, da es auch iu einigen Fassungen der Bettel-
mannshochzeit heisst „'s Igele schlägt die Trommel" oder ähnlich (Böhme 588—591, 1228f.)-
— Ausserhalb der Verwandtschaft steht wohl der Weihnachtsvers Schumann 558 (wozu
Simrock 927, Wegener 306, 308f.).
Liegt im Bett und zappelt noch. —
Gib ihr ein Stücke Käsebrot
Und schlag1 sie mit der Keule tot.
125. Hans, Hans Leberwurst,
Lebt denn deine Frau noch? —
Ja, ja, sie lebet noch,
Jena. Z. 1—4: Simrock 427, Böhme 1321, Dunger 172; Wegener 221. [Dähnhardt
2, 150.] Die beiden Schlusszeilen gehören zu unseren Nr. 54 und 212f. ; dazu auch Simrock
142 und 416, Böhme Nachtrag 45, Wegener 362. — In Kunitz bei Jena anders gewendet:
126. Bitte, bitte, sei so gut,
Schneid mir ein Stückchen Käsebrot,
Schlag mich mit der Pritsche tot.
127. Hansjörg hat kein Brot im Haus,
Hansjörg macht sich gar nichts draus.
Hansjörg hin, Hansjörg her,
Hansjörg ist ein Zottelbär.
Deutsche Kinderlieder.
395
Sarnsthal i. d. Pfalz. In einem Wiegenlied erscheint dasselbe Thema bei Sachse
S. 10. Stöber 171 gibt einen ähnlichen Schluss zu einem Eingange, der unserer Nr. 114f.
•entspricht (Urschele isch e schener Kamme),
128. Hans Michel war ein grosser, grosser Mann,
Könnt machen, was er wollt.
Er machte sich eine Geige;
Klipper klapper ging das Geigen
usw. mit allen möglichen Instrumenten. Löbstedt bei Jena, zu Erk-Böhme 3, 1748,
Schumann 575, Lewalter Heft 5, Nr. 52; auch Simrock 1046 nach Wunderhorn, Anhang
S. 47, Böhme S. 669f., Nr. 614. [R. Köhler, Kl. Sehr. 3, 254. Züricher Nr. 921. Gass-
mann 1906 Nr. 106. Ginsburg-Marek 1901 Nr. 128. Ghesquiere p. 116. Kristensen, Dyre-
fabler S. 190; Börnerim S. 639. Terry-Chaumont, Cramignons 1889 p. 253. 526.]
129. Hast du Hunger?
Geh bein Kummer.
Hast du Durst?
-Beiss in die Wurst.
Weida; die zweite Hälfte auch in Grossschwabhausen i. Th. Statt Kummer hörte
ich in Gera Funger — beides sind ortbekannte Namen. Ähnliche schnöde Antworten
Böhme 453, Rochholz 862, Stöber 206.
130. Hedu, wenn dein Hedu meinen Hedu noch einmal Hedu
schimpft, dann geht mein Hedu zum Hedu und verklagt deinen Hedu.
Weida. Vgl. Böhme 1484, Dunger 228, Rochholz S. 25. [Oben 16, 291 nr. 25.]
131. Heedelbeer, Schlug mich auf mein Beer-Beer-Schnabel.
Mei Topp is leer! Schreit ich immer: Beer Beer Beer,
Kam meine Mutter mit der Ofengabel, Wenn ich doch derheeme war!
Wolfsgefährt bei Weida, in den sechziger Jahren. Vgl. Böhme 950, Dunger 85f.
JDähnhaidt 2, 155.] Z. 3ff. gehören ursprünglich in den Zusammenhang von Nr. 60 usw. —
Der Eingangsreim öfter, so in folgendem Ruf aus Weida:
132. Roll roll roll,
Mein Topf ist voll.
Beer Beer Beer,
Mein Topf ist leer.
Dazu Simrock 702, Böhme 947, Müller S. 181 Nr. 19, Dunger 84, 86. Ähnlich auch
in einem älteren Spruch aus Culmitzsch im Neustädter Kreise:
133. Juch Beere,
Mein Topf ist noch ganz leere.
Mein Topf ist voller Beere.
Wer seinen Topf nicht voller hat,
Der ist ne faule Mähre.
Hierzu Böhme 949, Müller ebenda Nr. 20, Dunger 84.
134a. Heie buie sause! Schmeisst sie in die Saale,
Der Hupprecht steht im Hause, Schwimmen sie bis nach Kahle,
Hat nen grossen Schlitten mit, Schwimmen sie bis nach A.mmerbach,
Nimmt die garstgen Kinder mit, Schrein sie alle: Ach ach ach!
Kunitz bei Jena.
26s!
396
Schläger:
Hierzu ein Kettenreim aus Grossschwabhausen:
134 b. Ich ging emal nach Kups
(Koppanz),
Da kam e ideener Mups;
Den fraht ich, was er macht,
Da stellt er sich hin un Jacht.
Da schmiss 'ch en in de Saale,
Da schwamm er bis nach Kahle.
Da zerrt 'ch en wedder raus,
Da war er wie ne gebädte Maus.
Da schmiss 'ch en wedder nein,
Da war er wie e Schwein.
Da schwamm er bis nach Ammerbach,
Da schregen de Leute Ach un Ivrach.
Z. 4 kommt ähnlich auch in einer anderen Kette vor, Nr. 175. Kahla und Ammer-
bach lassen darauf schliessen, dass der Grundstock weiter saalaufwärts daheim ist, doch
kann im Kinderverse das Wasser wohl auch einmal bergan fliessen.
135. Heie buie sanse!
Hinter Schulzens Hause,
Hinter Schulzens Gartentür
Guckt der kleine NN. für.
Kunitz bei Jena.
136. Hemdenlecker,
Ziegenböcker,
Eullenbeisser,
Hemden —!
Weida. Vgl. Stöber 36 und 37.
137. Heppe, Heppe Rute!
Geh nach Gelmerode
Bei meine alte Pate.
Gib mir Saft!
Grossmölsen i. Th. — In Zeile 3 wurde dem Reim entsprechend auch Bude gehört.
Die Eingangszeile ist offenbar gleich mit der sonst in Thüringen verbreiteten „Hippe,
Hippe, rate!" (vgl. unsere Nr. 150).
138. Herbstmütschel, flieg aus, Lass den Löffel drinne
Flieg nein ins Hirtenhaus, Un lass en nich verbrenne.
Saug en Topf voll Honig aus,
Niederpöllnitz im Neustädter Kreis. Der Name Herbstmütschel (-kühchen) für das
Marienkäferchen scheint sonst nicht vorzukommen, er wird aus Herrgottsmütschel ent-
standen sein. — Ähnlich Dunger 64 und 66 = Böhme 852, Stöber 334; auch Böhme 837f.,
Simrock 605f., Rochholz S. 93f.; Honigtopf und teilweis auch Löffel erscheinen ausserdem
in einem ganz fremden Spruche: Simrock 881, Böhme 1863, Dunger 270, Müller S. 211,
Nr. 23, Herrigs Archiv 103, 367, dazu auch Böhme 1854; anderseits kommt ein silberner
Löffel oder Ähnliches auch sonst in Verbindung mit Mai- oder Marienkäfer vor, z. B.
Böhme 815, 839 (Messer und Gabel 855), Rochholz S. 94, Nr. 187. Das gegenseitige Ver-
hältnis ist hier schwer zu entwirren. Die Schlusszeile möchte man zunächst auf den
bekannten Haus- oder Landbrand zurückführen, mit dem das Käferchen geängstigt
wird — in dieser Verbindung zeigt den Löffel Böhme 815 = Mannhardt, Germ. Mythen 349 —,
aber auch ein Wetterspruch erinnert an unseren Vers, Böhme 983 = Mannhardt 255:
Lâfs in Reg'n drîna, Lâfs in Sehne verbrîna. Doch könnte Böhme 984b darauf deuten,,
dass hier die Formel erst aus einem Käferspruch eingeführt wäre.
139. Herr Rekter, Frisst Schoten,
Wo steckt er? — Hintern Scheunen,
Aufm Boden, Bein Schweinen.
Weimar, um 1880. Dazu Dunger 142.
Deutsche Kinderlieder.
397
140. Heut ist Kirmes in dem Dorf,
Liesel, tu dich putze!
Tu dei rosa Rockel an
Un dei grüne Mutze.
Guten Abend, Schätzel!
Back du mir ne Bretzel,
Bretzel wie ein Scheunentor,
Bratwurst wie ein Ofenrohr.
Sarnsthal i. d. Pfalz.
141. Heut ist Kirmes, morgen ist
Kirmes
Bis den Dienstag Abend.
Wenn ich zu meim Schätzel komm,
Sag ich guten Abend.
Sarnsthal i. d. Pfalz. Die erste Hälfte ähnlich Böhme, Nachtrag Nr. 48, der Schluss
stammt aus Heischeliedern, vgl. Simrock 979, Böhme 1697f. Zu Z. 3 und 4 vgl.
Schumann 135.
142. Hic haec hoc — der Lehrer mit dem Stock.
Is ea id — was will er wohl damit?
Sum fui esse — er haut dich auf die Presse,
Jllé illá ill lid — dass dir die Nase blutt.
Weida. [Hans Meyer, Der richtige Berliner 1904 S. 143 nr. 92.]
143 a. Hier ist Grün und da ist Grün Dreh dich um, dreh dich um,
Wohl unter meinen Füssen. Ich kenne dich ja nicht!
Ich hab verloren meinen Schatz, Ach nein, ach nein, er ist es nicht,
Ich werd ihn suchen müssen. Scher dich heraus, ich mag dich nicht.
Berlin. [Hans Meyer, Der richtige Berliner 1904 S. 141 nr. 70. Dähnhardt 2, 69.
Schumann 1905 S. 10.] In Löbstedt bei Jena nach Z. 6: Bist du's oder bist du's nicht?
O nein, o nein, sie ist es nicht, Die mir ein Küsschen schuldig ist. — Sehr ähnlich oben
9, 390 Nr. 61; Simrock 906 = Böhme 213 mit einer Mittelstrophe, die ■wahrscheinlich aus
einem anderen Spiele, unserer Nr. 110, stammt. Vielleicht ist diese Erweiterung aus
einer anderen Form erwachsen, wie sie folgende Gelsenkircher Passung zeigt:
Nein, nein, du bist es nicht,
Scher dich ab, ich kenn dich nicht.
Hier liegt Sand usw. Schluss:
Ja, ja, du bist es wohl,
Darum lasst uns fröhlich sein.
143 b. Hier liegt Sand und da liegt
Sand
Unter meinen Füssen.
Hab verloren meinen Schatz,
Kann ihn nicht vermissen.
Du in deinem (blauen) Kleid,
Komm mal her, ob du es bist?
Die letzte Zeile ist durch den mangelnden Reim verdächtig, sie findet sich wieder
in Nr. 110 b, 195 a; echter ist wohl Simrocks Passung. — In Halle fand ich die erste
Hälfte verwachsen mit dem Vers vom lustigen Springer (Böhme S. 490 Nr. 228, Drosihn283,
Lewalter Heft 3, Nr. 3, Schluss auch Böhme S. 479 Nr. 198, aber nicht dahin gehörig,
wie Drosihn 295f. zeigt):
143c. Hier ist Grün und dort ist Grün
Unter meinen Füssen.
Hab verloren meinen Schatz,
Zum Verdriessen!
Kommt ein lustger Springer rein,
Schüttelt den Kopf und stampft das Bein :
Komm, wir wolln zu Tanze gehn,
Die andern müssen stille stehn.
Das Ganze geht nach der Weise „Alles neu macht der Mai", Zeile 4 folgendermassen:
398
Schläger:
Eng mit diesem Spiele verwandt und offenbar aus derselben Quelle geflossen sind'
zwei andere Formen: Simrock 905, Böhme S. 480ÍL Nr. 201 ff., Lewalter Heft 1, Nr. 29r
Erk-Böhme 2, 972, Müllenhoff S. 485 und Handelmann S. 53, anderseits Böhme 214ff.r
Lewalter Heft 3, Nr. 31, Müller S. 190 Nr. 1, Dunger 352.
Meine Fassungen weichen von den sonst veröffentlichten etwas ab:
144a. Jammer, Jammer, höre zu, Ich will gehn und will sehn,
Was ich dir will sagen. Ob ich ihn kann finden.
Hab verloren meinen Schatz, Wenn ich ihn gefunden hab,
Macht mir auf den Garten. Fall ich ihm zu Füssen,
Stell mich wieder auf meinen Fuss
Und mache einen Diener.
Osnabrück. [Oben 9, 389 Nr. 60. Schumann 1905 S. 12.] Die Weise entspricht dem
ersten Absätze von Böhmes Nr. 207 (S. 482). Der Schluss scheint nach Ausweis des Reims,
für das sonst zum eisernen Bestand gehörige Küssen eingetreten zu sein, ebenso in der
folgenden Fassung aus Halle a. S.:
144b. Marjann, Marjann, nun höre Mach auf, mach auf die Gartentür! —
zu, Es tritt herein ein Grenadier.
Was ich dir einwärts sage (so). T , „ „ „
Ich falle dir zu Fussen nieder
Ich hab verloren meinen Schatz, Und steh auch wieder auf zu dir
Der mir so treu gedienet hat. Und mache einen Knix dafür.
Gesungen nach den beiden ersten Zeilen von „Ein freies Leben führen wir", ebenso
im eigentlichen Thüringen, wo aber das Küssen geblieben ist (sehr ähnlich auch oben 9,.
273, Nr. 60):
144 c. 0 Jammer, Jammer, höre zu,
Was ich dir einstmals sage (jetzt will sagen)!
Ich hab verloren meinen Schatz,
Macht auf, macht auf den Garten!
Ich will mal sehn, ob ich ihn nicht (— zusehn, ob ich ihn)
Noch einmal (Wohl jemals) wiederfinde. —
Schaut an, schaut an (Schatz ein, Schatz aus), hier ist mein Schatz,.
Drum fall ich ihm zu Füssen,
Und den ich einst (je) geliebet hab,
Will ich auch einstmals (jetztmals) küssen.
Grossmölsen bei Erfurt, die Abweichungen gehören einer älteren Eisenaeher Fassung
an, die eigentümlicherweise zum Schluss auch noch den Knix eingeführt hat: Nun steh
ich wieder auf zu ihm Und mache mein Empfehl-mich-Ihn. — Ganz ähnlich (ohne
den Eisenaeher Schluss) in Arnstadt, doch lautet Z. 4—6: Den will ich wieder suchen.
Schliesst auf, schliesst auf die Gartentür, Will sehn, ob ich ihn finde hier. Und die-
Schlussstrophe: Und der mich einst geliebet hat, Den werde ich jetzt küssen.
Die dritte Form lautet in Jena ähnlich Böhmes Nr. 214, aber mit kürzerem Schlusse-t
145 a. Wer steht da draussen vor der Und der ist hier auf diesem Platz.
Tür Schliesst auf die goldne Gartentür!
Und klopft so leise an? (Tritt in den Kreis und sucht)
Ich bin der Herr, ich steh davor, Seht an, seht an, hier ist der Schatz,.
Ich hab darin zu suchen; In den er sich verliebet hat.
Ich hab verloren meinen Schatz,
Deutsche Kinderlieder. 399
Die Eingangsformel begegnet mit grösseren oder geringeren Abweichungen öfter,
z. B. Erk-Böhme 1, 182. — Hiermit haben sich anderwärts Bestandteile noch eines anderen
Spieles vereinigt, das bei Böhme S. 485f. Nr. 217 selbständig steht und nach Erk-
Böhme 2, 973 aus dem Munde der Erwachsenen genommen ist. Eine solche Mischform
war vor 1870 in Weida vorhanden:
145 b. "Wer steht da draussen vor der Du stehst mir gar nicht an, du bist so
Tür hitzig,
Und klopft so leise an die Tür? Und deine Redensarten sind so spitzig,
ich bin der Herr, ich steh davor, Du auch nicht, du bist von Flandern,
Tch hab darin zu suchen; Dich hab ich längst gekannt vor allen
Ich hab verloren meinen Schatz andern.
Und such ihn mir auf diesem Platz. Aber du bist mein lieber Schatz,
Macht auf, macht auf die Gartentür! — Dir will ich geben einen Schmatz.
Hierzu auch Drosihn 294. [üähnhardt 2, 121.] Eine neuere Fassung aus Weitramsdorf
bei Koburg stimmt im wesentlichen mit der Weidaer überein, zeigt aber im einzelnen Ab-
weichungen: 145c Z. 3. Ich bin der Herr von Edelstein (vielleicht: der Edelmann?); statt
6 und 7: Den ich vor langen Zeiten Auf diesem Fels (statt Feld?) verloren hab. Schliess
auf die ganze Gartentür! Das folgende:
Du bist mir viel zu hitzig
Mit deinem eignen Schwitzig (wohl = Geschwätz).
Du bist mir viel zu flandern,
Hast alle Augenblick ein andern.
Du bist mein lieber Schatz,
Dem möcht ich geben einen Schmatz.
[Vgl. Erk-Böhme 2, 973. Bolte, oben 12, 218. 345. Böhme S. 486.] „Von Flandern
sein" ist im älteren Volkslied eine vielgebrauchte Redensart, z. B. 'Mein feins Lieb ist von
Flanderen, Gibt einen umb den anderen' im Quodlibet von 1610: Zeitschr. f. deutsche
Phil. 15, 53, Weim. Jahrb. 3, 126, Nr. 42, wohl aus ühland Nr. 49, Erk-Böhme 2, 474, wozu
Uhlands Schriften 4, 43f.; dazu auch Böhme, Altd. Liederbuch 149, Str. 7, Erks Liederhort
(alte Ausg.) 113; Uhland Nr. 294= Erk-Böhme 1, 6; Erk-Böhme 1, 585, Anm. zu Nr. 190d,
Nr. 701; Ziegler, Deutsche Soldaten- und Kriegslieder aus fünf Jahrhunderten, Leipzig 1884,
S. 49; Chr. Günthers Gedichte von 1751, S. 258.
Endlich cribt Böhme unter Nr. 208 ein kleines Nebengewächs künstlicherer Art, in
dem an Stelle des Schatzes ein Ring getreten ist. In Oberstein (ein Kind im Kreise, den
Fuss auf dem Ring; es kauert sich nieder, sucht und findet ihn, hält ihn empor, gibt ihn
einem anderen, das nun in den Kreis tritt) lauten lext und Weise:
¿31--#—-
146a. Trauer, o welche Trauer! ich hab verloren meinen Ring!
Ich will sehen und will suchen, ob ich finde meinen Ring.
Freude, o welche Freude! ich hab gefunden meinen Ring!
Ich will sehen und will suchen, wem ich gebe meinen Ring.
Am deutlichsten ist der Zusammenhang mit Nr. 144 besonders mit Böhme Nr. 204
und 207. [Schumann 1905 S. 12.] Wenig abweichend Seehausen i- d. Altmark:
146 b. Trauer, Trauer über Trauer, Freude, Freude über Freude,
Hab verloren meinen Ring. Hab gefunden meinen Ring.
Will mal sehen, — will mal sehen,
Ob ich ihn wohl wiederfind. Wem ich gebe meinen Ring.
400
Schläger:
147. Hinter mein Herrle sein Kleiderschrank
Kribbelt un krabbelt e Maus,
Sie kribbelt un krabbelt die ganze Nacht,
Sie kribbelt und krabbelt nit raus.
Weitramsdorf bei Koburg. Herrle = Grossvater.
148. Hinter mein Herrle sein Tisch
Sitzt e besch......Lies,
Un hinter mein Herrle sein Stadel
Da sitzt e dreckiges Madel.
. Lies
Schorkendorf bei Koburg. Ygl. Simrock 266 = Böhme 48.
149. Hippe, Hippe, hüe!
Sack voll Flöhe (spr. Fliehe),
Sack voll Wanzen,
Muss der Schneider tanzen.
Drei Butten voll Saft!
Wolfsgefährt, vor 1870. Hüe ist wohl antreibender Zuruf, wie au ein Pferd? Bei
der letzten Zeile wird das Weidenstück mit dem Messer nicht mehr geklopft, sondern ge-
strichen. In Kunitz Z. 2ff.: Hat e S. v. F., Hat e Sack voll Läuse, Kann se nich erbeisse,
s. aber auch Nr. 184. — Vgl. Wegener 343.
Weida. Hierzu Simrock 705, 712, 713 = Böhme 936; Böhme 913ff., 922, auch 931;
Wegener 338, 345, 367, 354, 346 f. In anderem Zusammenhange findet sich Ähnliches
bei Drosihn 187 und Stöber 77, sowie in unseren Nr. 235 und 237.
Weida. Dazu Erk-Böhroe 3, 1163, Rochholz S. 313, Nr. 740, Drosihn 99, Böhme 298
und namentlich '299. [John, Egerländer Volkslieder 1, 42. 1898.] „Hans hat Hosen, hat
Wammes darzu" in einem Quodlibet von 1610, Zschr. f. d. Phil. 15, 52 (auch Weim.
Jahrb. 3, 126, Nr. 33), wozu freilich auch Erk-Böhme 2, 1002 und Böhme, Altdeutsches
Liederbuch 508b verglichen werden kann; ferner oben 8, 407, Nr. 23. — Zu dem weit-
verbreiteten Eingange vgl. unsere Nr. 109 und ausser dem dort Angeführten auch
Simrock 390, Müller S. 171 Nr. 148. Am letztgenannten Orte dienen Wind und Hahnen-
kraht zur Weissagung, anderwärts (Erks Liederhort, alte Ausgabe 46, Str. 32) hat die
Formel ihren Platz in der Beschreibung der Unterwelt; beides weist auf hohes Alter.
152. Hucke hucke Meste (Schaukel schaukel M.),
Der Bettelmann hat Gäste,
Hat ein fettes Schwein geschlacht (— eine alte Kuh —),
Hat die Wurst aus Dreck gemacht (Und hat fürn Dreier Wurst —).
Weida, Abweichungen aus Grossschwabhausen. In Grossmölsen die letzte Zeile:
Hat dem Kind keine Wurst gemacht. _ Beim Aufhocken der Kinder. Als Wiegenlied
150. Hippe, Hippe, rate!
Wenn du nicht geraten willst,
Werf ich dich in Graben:
Kommt's Kalb,
Frisst dich halb,
Kommt's Schwein,
Frisst dich ganz und gar hinein.
Drei Butten voll Saft!
151. Horch, wie der Wind weht,
Horch, wie der Hahn kräht!
Unser Hans hat Hosen an,
Die sind blau.
Deutsche Kinderlieder.
401
ähnlich Simrock 228, Böhme 45; Wegener 24. — Mit einem anderen Spottvers auf Bettel-
manns Hochzeit (Wunderhorn, Anhang S. 92, Erk-Böhme 2, 886, Böhme 1228 — 1230,
Simrock 321, Wegener 80 Yar., dazu auch Böhme 588if.) verbunden in Weitramsdorf bei
Koburg (Abweichungen aus Ummerstadt):
153. Hiedele, hädele,
Hinterm Städele
Haben die Bettelleut Hochzeit gemacht,
Haben's ne fette Sau geschlacht,
Haben die Wurst aus Dreck gemacht.
Sitzt der Äff auf dem Dach
Und hat sich zu Tod gelacht.
Tanzt die Maus (Hüpft der Floh),
Geigt die Laus (Tanzt die Maus),
Hüpft der Floh zum Bodenloch naus,
Hüpft er sich ein Beinle aus,
Macht er sich ein Pfeufle draus,
Pfeuft er alle Morgen,
Yergehn ihm seine Sorgen (Hören's alle
Storchen).
Ganz ähnlich Böhme 1231 (Dunger 96) und besonders 1232; weitere Beziehungen werden
bei Nr. 219e besprochen. — Z. 6 und 7, die häufig in demselben Zusammenhang und in
Lügenmärchen wiederkehren (Simrock 504, [650], 848; Böhme 981, 1234, 1787, 1792, auch
S. 701, Kr. 19; Wunderhorn, Anhang S. 88; Stöber 75; Müller S. 222 [Quodlibet],
Wegener 330), bilden anderseits den Eingang eines von 1615 überlieferten selbständigen
Liedes, wobei es freilich zweifelhaft erscheint, ob Anfang und Fortgang wirklich zueinander
gehören: Erk-Böhme 2, 501.
154. Hühnermist und Taubenmist,
In dem Hause kriegt man nischt.
Ist es nicht ne Schande
Im ganzen Lande?
Hirschberg i. Schi.; gesagt, wenn Heischende abgewiesen werden. Zum Schlüsse
vgl. Nr. 115.
155. Ich bin ein kleines, loses Ding
Und keinen Heller wert,
Und doch, wenn ich mein Liedchen sing,
So stutzt der Reiter und sein Pferd.
Dreitzsch bei Neustadt a. d. Orla, nur einmal aus dem Mund eines kleinen Mädchens;
über die Herkunft vermochte ich keinen Bescheid zu erlangen.
156 a. Ich bin ein Student, Ich steck sie in Sack,
Ich wasch mir die Händ, Ich stemm sie die Seite (so),
Ich trockne sie ab, Mach: wille wille weide.
Jena. Ballspiel, vor dem Fangen werden jedesmal die dem Text entsprechenden
Bewegungen vollführt, zur letzten Zeile werden die Hände gerieben. Zu Böhme S. 716
Nr. 69, Gerhardt und Petsch oben 9, 391 Nr. 74. [Hans Meyer, Der richtige Berliner 1904
■'S. 142 nr. 76.] Nach Z. 3 hab ich in Jena auch folgenden Schluss gehört:
156 b. . . . Ich kniee nieder,
Ich steh wieder auf,
Ich fange den Ball mit einer Hand auf.
157. Ich bin krank.
Antwort: Mit dem Maul im Brotschrank.
Weida, Grossschwabhausen. Vgl. Simrock 365—367, Böhme 467, Wunderhorn,
Anhang S. 77.
402
Schläger:
158. Ich ging einmal nach Pultewitz,
Da sch ... ich auf den Damm.
Da kam der Herr von Pultewitz
Weida.
159. Ich hab gedacht,
Ihr habt geschlacht,
Habt gross- und kleine AYurst gemacht.
Grossschwabhausen, vor 1870.
Und dachte, 's war ein Schwamm.
Er steckte 's in die Pfeife nein:
Pfui Teufel, das muss Sch .... sein!
Drum bitte, bitte, bitte,
Gebt mir ne recht gross- un fett- un dicke
Nein in meine kleine Ficke.
160. „Ich seh etwas, was du nicht siehst. Es sieht .... aus und
hat....." Errät der andere, so werden die Rollen getauscht.
Weida, vor 1880. Verwandt, aber ausführlicher ein anderes Ratespiel bei H. Meier
S. 234f.
161. Ich taufe dich mit Kaffeesatz,
Un du bist e Schweinematz.
Ich taufe dich mit Wein,
Un du bist e Schwein.
Grossschwabhausen. In Weida lautete der Vers um 1880 dem von Dunger Nr. 127
gegebenen gleich; jedoch vermute ich, dass es vielmehr heissen sollte:
Ich taufe dich mit Wasser,
Du bist ein kleiner Baster (— Bastard).
Nach Diesterwegs Rheinischen Blättern von 1891, S. 333 sagt Berthold von Regens-
burg 2, 85, „wie es leider häufig vorkomme, 'daz diu kint oder die schuoler her nement
ein jüdelin und sie sprechent, sie wellent den juden toufen, und stôzent ez also in eime
spotte und anders nicht in ein wazzer', und dass nur mit Wasser getauft werden dürfe
und nicht mit Milch, Wein, Sand, Asche, Erde oder gar — einem Ameisenhaufen."
162. Ich weefs, was ich weefs:
Der Schneider hat e Geefs.
Er setzt sich auf die Hörner
Un reit mit durch die Dörner.
Schorkendorf bei Koburg. Zu vergleichen Nr. 256.
163a. Ick sei dei kleine Käunig. Mit de Besensteil!
Giff mei nit tau weinig; Lat mei nit tau lange stän,
Giff mei nit tau veil Ik möt noch weider snorren gän.
Scherfede in Westfalen, zu Böhme 1696, Erk-Böhme 1188; die Schlusszeilen auch in
anderen Heischeliedern, z. B. Simrock 984, Böhme 1646 f., Schollen 44, Schumann 565,
unsere Nr. 34, 246; der Anfang in andern Zusammenhang gebracht Böhme 1714. Vgl.
noch Niederd. Korrespondenzblatt 8, 36ff., Muddersprake (Braunschweig) 1889, Nr. 11,
S. 218, Aus der Heimat 1889, Nr. 42. [Dähnhardt 1, 52. Oben 12, 471.] — Gewöhnlich
(in Mitteldeutschland) fehlt das zweite Reimpaar, es ist wohl zugesetzt. Oie landläufige-
Fassung ist erweitert in Osterode (Aus der Heimat 1889, Nr. 47):
163b. Ich bin ein kleiner König, Ich möcht' hin nach Polen.
Gebt mir nicht zu wenig; Polen ist ein weiter Weg,
Lasst mich nicht so lange stehn, Seht ihr nicht, dass dunkel wird?
Ich möchte heut noch weiter gehn.
Ähnlich auch in Göttingen, Böhme 1665.
Deutsche Kinderlieder.
403
164. „Im Hemde, guckt zum Schlitz raus."
Frage, wo jemand zu suchen sei).
Weida. Vgl. Böhme 458cd, Stöber 180.
(Antwort auf die
165a. Im Maien, im Maien,
Im schönen grünen Mai,
Da wolln wir alle lustig sein
Im schönen grünen Mai.
Die Sorgen, die Sorgen,
Die kenn wir alle schon.
Es muss ne schöne Seele sein,
Mit der ich tanzen soll.
Seehausen i. d. Altmark. Zu Böhme S. 499 Nr. 246—253, besonders 250—252. Neben
diesem Typus bestehen noch zwei andere, die sich untereinander und mit dem ersten
berühren. Dem zweiten gehört folgendes Liedchen aus Jena an:
165b. Weihnachten,(sonst meist:
Im Sommer)
Da ist die schönste Zeit;
Da freuen sich
Die alt- und jungen Leut.
Sie freuen sich
Und. sind so herzlich froh,
Und wir in diesem Kreise,
Wir machen's alle so (Klatschen, Hüpfen
usw.).
Hierzu: Böhme ebenda Nr. 249, Dunger 377. — Den dritten Typus bilden Böhme
Nr. 253, Lewalter Heft 3, Nr. 11, Drosihn 299; die übrigen Nummern bei Böhme sind
aus II und III gemischt. — Ob nicht vielmehr diese Typen aus einer gemeinsamen, aus-
führlichen Grundform verengert sind, muss dahingestellt bleiben. In diesem Falle müsste
man annehmen, dass der Schluss des ersten, wie ihn am echtesten wohl Böhme 250 und
251 zeigen, ursprünglich fremd sei.
Viermal, später zweimal.
v—v-
Í32
5E?Eb5ÌEfe!EEEÌ
166. Immer bunter wird die Welt,
Alle Farben sind bestellt. —
Kommt ein Schreiber ohne Frau:
Jungfrau, willst du meine sein?
„Nein, Mama, nein,
Kein Schreiber soll es sein!
Heiss ich ja Frau Schreiberin,
Eine Tintenkleckserin:
Nein, Mama, nein,
Kein Schreiber soll es sein!"
usw.
Bäcker: Brötchenfresserin.
Schuster: Schuheflickerin.
Zuletzt: Goldschmied.
„Ja, Mama, ja,
Ein Goldschmied soll es sein!
Heiss ich ich ja Frau Goldschmiedin,
Eine Geldverdienerin" usw.
Osnabrück. Das hübsche und lehrreiche Stück ist als Kinderlied, soviel ich weiss,,
noch nicht aufgezeichnet, trägt aber alle Merkmale eines solchen, und zwar eines Spiel-
liedes, wozu der aus anderen Volksliedern wohlbekannte Anfang (dazu Uhlands Schriften
3, 13), den die älteren und neueren Fassungen sonst nicht zu haben scheinen, aufs beste
p'asst. Inhaltlich steht sehr nahe Liliencron, Deutsches Leben im Volkslied Nr. 87 = Erk-
Böhme 2, 844; sonst gehören demselben Gebiet an Erk-Böhme 2, 841—848, Ptochholz 313r
E. Meier 63, 64 und 67 mit Müller S. 123, Meinert, Alte teutsche' Volkslieder 82, darnach
Erlach 4, 242 und 323, Weim. Jahrb. 1, 128 (wozu für Str. 4 Simrock 44 und 51 zu ver-
gleichen sind). Übrigens gibt das wählerische Mädchen auch bei fremden Völkern einen
dankbaren Stoff ab, fürs neugriechische Volkslied vergleiche z.B. G. Meyer, Essays und
Studien 1, 322. [Feifalik, Wiener Sitzgsber. 36, 169. Hoffmann v. F., Ndl. Volkslieder 14.
Raber, Sterzinger Spiele 1, 267 (1886). Bols nr. 84. Kristensen, Skjämteviser S. 135.
148. 299. Skattegraveren 2, 211. 3, 100. 161. 12, 17. Lambert 2, 21. Ungarisch:.
404
Schläger:
Aigner S. 202. Cserhalmi, Ungar. Dichterwald 1897 S. 15. Keleti szemle 1, 329. Zs. f.
vgl. Litgesch. n. F. 1, 252. Serbisch: Gerhard 1877 S. 223. Talvj2 2, 36. Wolff, Poet.
Hausschatz des Auslandes 1848 S. 421 usw.]
167 a. Inche binche Zuckerbinche, Die dritt ging längs dä Bronne,
Fahr übern Rhein, Hat e Kinnehe gefonne.
Fahr über Gottes Haus, Wie soll et heisse?
Gucke drei schöne Poppe raus. Inche binche Geisse.
Die eine spinnt die Seid, Wer soll de Wennele wüsche?
Die anner weckelt die Weid, Dau sollst dä Dreck fresse.
Kohlenz (aus einem kleinen Wörterbuche der Koblenzer Mundart, dessen Titel mir
verloren gegangen ist). Mit anderem, aus Wettersprüchen stammendem Eingang (Sonn
Sonn scheine; oben ist doch wohl Bienche verstanden und an bekannte Käferverse zu
erinnern, vgl. Nr. 138) entspricht ziemlich genau Simrock 177, Wunderhorn, Anhang S. 70f.
Das Stück ist deutlich zusammengesetzt: den zweiten Teil kennen wir bereits aus Nr. 42,
er ist ganz geschickt in das Lied von den drei Jungfrauen, hier Puppen, einbezogen. —
Dieses letztere möge hier in einer stark verneuerten Form stehen, die jene Verwachsung
gleichfalls erkennen lässt, aus Gelsenkirchen:
167 b. Zu Köln da steht ein Puppenhaus,
Da guckten drei, vier Puppen zum Fenster hinaus.
Die erste spielte aufs Klavier,
Die zweite trank ein Gläschen Bier,
Die dritte sprach: wer soll das Kindlein waschen,
Ich oder du?
Müllers Kuh,
Müllers Esel der bist du.
Das Kulturbildchen ist nicht übel, aber von dem geheimnisvollen Reiz des alten
Spruches ist nichts mehr übrig. — Am Schluss ist ein selbständiger Abzählreim angekettet
und dadurch das Ganze zum Abzählreim geworden; vgl. Simrock 810f., Böhme 1834f.,
Stöber 141, Rochholz S. 112 Nr. 224, auch S. 114, Müller S. 213, Dunger 317, Schu-
mann 407. — Die zweite Zeile scheint, wenn nicht einfache Plapperei vorliegt, auf eine
weniger geschickte Verknüpfung zu weisen, bei der die ursprünglich genannte Zahl über-
schritten wird. So in einem sonst ziemlich ursprünglichen Text aus Sarnsthal in der
Pfalz, der allerdings nachher die Verkettung munter fortsetzt:
167 c. Sonne, Sonne, scheine, Hat ein Kindlein gfunne. —
Fahr über Rheine, Das Kindlein das steht an der Wand,
Fahr übers Glockehaus, Hat nen Apfel in der Hand;
Gucke drei schöne Jungfraue raus. Möcht ihn gerne braten,
Die eine spinnt Seide, Ist ihm nicht geraten;
Die andre wickelt Weide, Möcht ihn gerne essen,
Die dritt spinnt ein roten Rock Hat dazu kein Messer.
Für unsern lieben Herrgott. — Fällt ein Messer oben rab,
Die viert geht an Brunne, Schlägt dem Kind das Händchen ab.
Zum dritten Teile: Böhme 1234, vgl. auch 520 und die Bemerkung zu 380, Stöber
75—78, 100, Rochholz S. 308, Nr. 719, Süss S. 13, Nr. 53, oben 8, 407, Nr. 42, während
der Anklang bei Wegener 205 wohl nichts besagt. Simrock 620 verwendet das Schluss-
bild gänzlich anders.
Die Tätigkeit der zweiten Jungfrau klingt ziemlich rätselhaft, aber der Stabreim
zeigt, dass wir es mit einer alten Verbindung zu tun haben. Manche Texte lassen eine
der Jungfrauen Haferstroh spinnen; ich nehme daher an, dass ursprünglich die eine
Seide aus Haferstroh spinnt, wie es im älteren Volkslied öfter vorkommt. — Literatur zu
Deutsche Kinderlieder.
405
den drei Jungfrauen: Simrock 177—184, 637; Böhme 380ff., 751ff, 978ff, 1742ff.,
1817; Rochholz S. 139ff. ; Stöber 98ff., dazu 260, und S. 127—129; Wolf, Beiträge zur
deutschen Mythologie 2, 166—203; Mannhardt, Germanische Mythen S. 242 ff., W.Menzel,
Odin 279—281; Grimms und Simrocks Mythologie a. v. 0.; Wegener 129, Drosihn 242f.,.
Müller S. 222, Dunger 328, Schumann 196, 392 b, 674; Schläger, Zeitschr. für den deutschen
Unterricht 1907. [Züricher, Das Ryti-Rössli-Lied 1906.]
168. In Closewitz
Da hat's geblitzt,
Da ham die Bauern die Ohrn gespitzt.
Da hatten die Preussen ein Haus gebaut
Von lauter Kartoffeln und Sauerkraut.
Jena, um 1860. Closewitz liegt unweit des Jenaer Schlachtfeldes. — Kurt Müller,
oben 5, 199, Nr. 1 gibt den Spruch mit zwei weiteren Zeilen aus Leipzig, aber im Eingang
Connewitz, auf die Leipziger Schlacht weisend. Die Beziehung auf die Schlacht bei
Jena mag jedoch echt sein, denn mit dem Sauerkraut werden eher die Preussen als die
Franzosen geneckt werden dürfen; oder es müsste die ganze Wendung fertig aus dem
Volksmunde genommen sein, wofür ich bis jetzt keinen Anhalt habe. In Z. 5 verdient
Müllers Fassung den Vorzug: Von Leberwurst und Sauerkraut: ob seine beiden
Schlusszeilen (Da ist es wieder eingekracht. Da haben sie sich halbtot gelacht) ihrem.
Wortlaute nach echt sind, ist unsicher.
169 a. In der bi-ba-bolschen (= polnischen) Küche
Kocht der bi-ba-bolsche Brei,
Und die bi-ba-bolschen Kinder
Tauchen mit dem Finger nein.
Jena. — Grössere Verbreitung hat folgende Form:
169b. In der bim-bam-bolschen Kirche
Geht es bim-bam-bolisch zu,
Tanzt der bim-bam-bolsche Ochse
Mit der bim-bam-bolschen Kuh.
Weida, ähnlich, aber mit Küche, Schumann 435, mit anderem Eingang Müller S. 164.
Böhme 1209 gibt diesen Vers um den ersten erweitert (Und die bimbambolsche Mutter
kocht usw.), wozu ich aus Jena noch zwei eingeschaltete Zeilen mitteilen kann:
Und der b.-b.-b. Vater
Ass den b.-b.-b. Brei.
Allem Anscheine nach ist der zweite Vers ursprünglicher und die Erweiterung erst
möglich geworden, nachdem aus der Kirche eine Küche geworden war; indes könnte ein
Abzählreim bei H. Méier, S. 233 (Up de bi-ba-bumske Brügge Wohnen bi-ba-bumske Lüh,
Hebben b.-b.-b. Kinner, Eten b.-b.-b. Papp Mit de b.-b.-b. Lepel Ut de b.-b.-b. Napp)
auf selbständige Entstehung des Breiverses und nachträgliche Verkoppelung weisen. —
Zu vergleichen noch oben o, 199, Nr. 14. J\I. L. Becker, Der Tanz (Seemann) S. 106
führt folgenden Text als zu einem um 1820 bezeugten Tanze 'Der alte Deutsche' gehörig auf:
Hinger Schulza s Schuppla jo geht's lustig zu,
Do tanzt a pulscher Uxe mit er deutschen Kuh.
170. Iserbahn, Iserbahn,
Lokomotiv!
Geht er ab, kommt er an
Muss erst mal pfif.
Salzungen. — Gleichen Anfang hat Müller S. 141 Nr. 52; der ganze Vierzeiler ganz
ähnlich in Salzburg, s. Süss S. 257, Nr. 998.
406
Schläger:
171. I wünsch a nuis Joar,
A Christkindl mit krausm Hoar,
An guidaran Tisch,
In niadm Eck an brotna Fisch,
In da Mitt a Glasl Wein,
Dass da Herr und d' Frau recht lusti konn sein.
Deutsch-Böhmen, Silvesteransingen (Neues Blatt 1891, S. 279). Die Wünsche sind in
Heischeliedern verbreitet, vgl. Simrock 978, 983, 988, Süss S. 166, Böhme 1615 f., 1618,
Wunderhorn, Anhang S. 31, 37, 40; die beiden ersten Zeilen treten mit nachfolgendem
Gegenwunsch in einem Quodlibet vom Jahre 1610 in folgender Gestalt auf (Zs. f. deutsche
rPhil. 15, 57):
Guten Morgen/ein glückseligs newes Jar/
ein schön jungen Geselln in krausen Haar /
Geb euch Gott zwier so viel.
:=}-=(-zìi—:f£—
-*-*-*-é-*----ì—-1F--
Dreimal.
-#—0—«—»—
172. Jakob ging und wollte sich erquicken,
Seine Schüler mochte er nicht schicken,
Ging die Strasse wohl auf und nieder,
Bis er endlich ein Mädchen fand.
0 du zuckersüsses Mädchen,
0 du reizend schönes Kind!
Oberstein. Die Kinder sind in zwei Reihen aufgestellt, Jakob geht, in die Hände
klatschend, dazwischen auf und ab. Bei „U du zuckersüsses Mädchen" nimmt er sich ein
anderes Kind und tanzt mit ihm auf und ab; dieses muss nachher den Jakob spielen. —
Zu Böhme S. 477f. Nr. 196, Erk-Böhme 2, 974; Müller S. 200: „Amor ging" (Kissentauz).
[Hans Meyer, Der richtige Berliner 1904 S. 141 nr. 66. Schumann 1905 S. 15.]
173. Jakob hatte sieben Söhne,
Sieben Söhne hatt Jakob.
Sie assen nicht, sie tranken nicht,
Lebten alle liederlich,
Machten's alle so.
Nun rascher, stets gesprochen, mit den entsprechenden Bewegungen, am Schluss
allgemeines Umdrehen:
Mit den Fingern tipp tipp tipp,
Mit dem Köpfchen nick nick nick,
Mit den Füsschen patsch patsch patsch,
Mit den Händchen klatsch klatsch klatsch.
Weida. In Grossschwabhausen nur der erste Teil ohne Z. 4, Adam statt Jakob.
Simrock 900, Böhme S. 494 Nr. 237 f., Lewalter Heft 5, Nr. 34. [H. Meyer, Berliner 1904
S. 142 nr. 82.]
Bei Lewalter ist noch ein drittes Gesätz (ähnlich unserer Nr. 37) angehängt; statt
dessen erscheint in Oberstein folgender Schluss (zu Böhme 645):
Deutsche Kinderlieder.
407
Alle meine Entchen
Schwimmen auf der See,
Köpfchen unterm Wasser,
Schwänzchen in der Höh.
Der Textanfang (ob auch diese Art des Spiels?) ist alt, er findet sich in Fischarts
Spielverzeichnis, Geschichtsklitterung Kap. 25 (Adam hett sieben Söhn) und bei Candorin
(Konrad von Hövel, s. Bolte oben 4, S. 184) erwähnt. In einem Quodlibet des Jahres 1610
(s. Zs. für deutsche Phil. 15, 56) ist allerdings der Scherz anders gewendet: „Adam der
hatt sieben Söhn und achte, raht was sie machten?" (Antwort: eine Mandel). — Der zweite
Teil kommt im Vogtland und in Thüringen, wohl auch anderwärts, als volkstümlicher
Tanz unter dem Namen 'Vogelsteller' vor, s. Nr. 203.
174.....Kam ich vor ein grosses
Haus,
Da guckten drei alte Hexen raus.
Die erste bot mir Essen,
Die zweite bot mir Trinken,
Die dritte nahm 'nen grossen Stein
Und warf mich vor mein rechtes Bein.
O weh, o weh, o weh!
Ich mag nicht wieder nach Jene gehn.
Grossmölsen bei Erfurt, der Eingang ist verloren. Zu Erk-Böhme 3, 1894, Simrock 188,
Böhme S. 545 Nr. 348; nahe stehen auch Simrock 1089, Böhme 689 und 1520f., Schu-
mann 121 f., 198, 200a, Müller S. 156 Nr. 101 (Anfang); vgl. noch Mannhardt 656ff. Das
Motiv ist uns schon dreimal begegnet, s. Nr. 35, 63, 67 ; ursprünglich wird es aber ent-
weder in 63 oder im oben gegebenen Stücke sein. — In Thüringen bis ins Vogtland findet
man das Ganze auch mit einer eigentümlichen Einleitung versehen (Jena, Abweichungen
aus Weida):
175 a. Petrus schloss den Himmel auf,
Warf den Korb (Trug en Sack) voll Semmeln raus (nauf).
Sagt ich: gib mir eine,
Gab er mir gar keine.
Sagt ich: gib mir zweie,
Gab er mir nur eine,
usw.
Gab er mir nur zweie.
Da ging er mit mir (Schickt ei mich) zu Biere.
Da schenkte er mir (Strickt er mir paar) Strümpfe.
Da nannte er mich (Schimpft er mich ne) Hexe.
Da warf er mich mit Rüben (Haut er mich mitm Riemen).
Da trat er hin (Stand er da) und lachte.
Da führt er mich in eine (Schickt er mich in die) Scheune.
Da fuhr er mit nach Jene (Schickt er mich nach Gene).
Nun Jena: In Jena stand ein grosses Haus,
Da guckten zwei alte Hexen raus.
Die eine warf mich mit eim Stein,
Die zweite trat mich auf mein Bein;
O ne!
Ich mag nicht wieder nach Jene geh.
Weida: Als ich nach Gene kam,
Standen meine vier Paten da.
Die erste liess mich mit essen,
Die zweite sah's nicht gerne an,
Die dritte nahm en Kieselstein,
Warf mich an mein böses Bein.
408
Schläger:
„0 weh, o weh, mein böses Bein,
War's doch nicht der Kieselstein!"
Die vierte nahm en Sappentopf,
Warf mir'n an mein bösen Kopf.
„0 weh, o weh, mein böser Kopf,
War's doch nicht der Suppentopf!"
Hierzu Müller S. 188 und 222 f. [Dähnhardt 2,14.] Das Vorgesetzte ist eine Zählgeschichte
wie Böhme 1240 und erinnert mit einzelnen Stellen an Böhme G89 und 1520f. und unsere
Nummer 134b. Eigenartig ist aber der Anfang. Er gemahnt zunächst an Schumann 678
und muss mit diesem und den eben angeführten Stücken bei Böhme, wozu noch die
früheren Verweisungen, eine Sippe bilden. Petrus aber gehört ursprünglich einem Wetter-
spruch an, vgl. unsere Nr. 138 und 186 mit Simrock 881 usw., Böhme 983 usw.; dazu
noch Simrock 825 und Rochholz S. 112 Nr. 225. — Im Anfang und sonst in mancherlei
weicht eine vogtländisch-thüringische Fassung ab, die bei Duriger 285 aufgezeichnet ist
und in Grossschwabhausen (mit Abweichungen aus Wolfsgefährt im Neustädter Kreise vor
1870) so lautet:
175b.c. 's war einmal eine alte Frau,
Die hatte gebackne Birn.
Sagt ich: gib mir eine,
Da gab sie mir gar keine.
Sagt ich: gib mir zwee,
Da tat sie sich rumdreh.
Sagt ich: gib mir dreie,
Da tat sie mich anschreie.
. . . Da ging sie mit mir zum Biere.
. . . Da strickte sie mir paar Strümpfe.
... Da tat sie mich behexe.
. ... ? (Da stuss sie mich in die Rieben)
... Da stellte sie sich hin und lachte.
... Im Dorfe steht ene Scheune (Da sperrt sie mich in die Sch.)
. . . Ging sie mit mir nach Jene (Da schickt sie mich weg nach J.).
Daran schliesst sich in Grossschwabhausen die Hexengeschichte verkürzt:
175b. Kamen wir vor ein Bäckerhaus, Die dritte stieg aufn alten Baum,
Guckten drei alte Hexen raus. Der krachte.
Die eine lockte mich rein, Da stellten sie sich hin und lachten.
Die zweite?
In Wolfsgefährt dagegen wurde weiter gezählt:
Dieser Schluss weist auf ganz anderen Zusammenhang, etwa eine Fortsetzung des
Zählspiels vom wilden Tier oder vom Wolfe (Böhme S. 563 Nr. 572ff.)? — „Im Dorfe
steht ene Scheune" stammt natürlich aus dem Abzählreim 42 usw.; in einen solchen geht
übrigens Dungers Aufzeichnung am Schluss über.
Neustadt a. 0., alt; sonst ohne die beiden letzten Zeilen. In Wiegendorf b. Weimar
auch Marienkäfer, in Grossschwabhausen Mütschekiebechen (vgl. Böhme 823 und Herbst-
175 c......Da frassen mich die Wölfe.
Um zwölf spien sie mich wieder aus,
Um eins war ich wieder zu Haus.
176. Kauzkäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg,
Die Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Ist sie in die Kirch gekrochen,
Ist der Schlüssel abgebrochen.
Deutsche Kinderlieder.
409
mütschel in Nr. 138). In Koburg, wie wohl allerwärts sonst, Maikäfer; statt Pomnierland:
Engelland. — Zu Böhme 798ff., Simrock 586, Mannhardt S. 350. [Erk-Böhme 3, 1850.
Marriage, Badische VI. nr. 274.] Z. 4 im Quodlibet Müller S. 222. Die Schlusszeile
stammt aus Nr. 53 (vgl. bes. Böhme 822), aber die Überleitung scheint hier eigens ge-
geschaffen zu sein.
Eine andere Fortführung der ersten Zeile bietet ein Jenaer Vers:
177. Marienkäferchen, fliege!
Deine Mutter ist ne alte Ziege;
Dein Vater ist in Ammerbach,
Läuft allen hübschen Mädchen nach.
178. Kessel, Kessel, Taler, Ring —
AVer sitzt in diesem Kessel drin?
Des Kaisers jüngstes Töchterlein.
Wer muss den Kessel schliessen?
Sarnsthal i. d. Pfalz. Gehört offenbar zu dem Liede von der eingemauerten Königs-
tochter, Böhme S. 457 ff., zum Anfang vgl. daselbst namentlich 123, 127, 136—140, 143—145,
156, 161, auch unsere Nr. 281.,
179. Komm, wir wollen wandern
Von einem Ort zum andern.
Da kam ein alter Mann,
Der sagte, der sagte:
Ria rutschika!
Jena. Ausführung wie bei Böhme S. 594 Nr. 445 (vgl. Nr. 1184 und 1865 des ersten
Teils). In Kunitz b. Jena die Schlusszeile des landläufigen Textes: Wir brauchen keine
Kutsch. Vgl. noch Simrock 902, Rochholz S. 56 Nr. 127, Schumann 608, Dunger 339,
Lewalter Heft 5, Nr. 4. [H. Meyer, Der richtige Berliner 1904 S. 142 nr. 73. Dähnhardt 1, 73.J
Aus Grossmölsen bei Erfurt hörte ich den landläufigen Text ohne den Eingang, aber
mit einer Erweiterung:
180. Ri ra rutsch,
AVir fahren in der Kutsch.
Ri ra Res-chen,
Wir fahren in dem Chaischen.
181. Kräh, kräh, kräh,
Dein Nest brennt an!
Messerschleifer, Kopfabschneider,
Kommt der Jäger puff puff puff.
Glauchau, um 1900. Zu Böhme 1139, Simrock 621 f., Wegener 323. Sonst werden
Mai- und Marienkäfer mit dem Hausbrande bedroht.
182. Kuchenweida,
Zwiebacksgera,
Bettelgreiz,
Mauseschleiz.
Neustädter Kreis, vogtländischer Ortsspott.
183. Läus und Flieh,
Das ist mein Vieh;
Wenn ich schlafe, arbeiten sie.
Kunitz b. Jena.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 27
410
Schläger:
184. Leier leier Maler,
Hat'n Sack voll Taler;
Hat'n Sack nich zugebung,
Sin se alle rausgesprung.
Grossschwabhausen b. Jena, gesungen wie Ringel ringel Reihe. In Kunitz Anfang:
Müller, Müller, Mahler, und Z. 3f: Hat'n Sack voll Läuse, kann se nich erbeisse, wozu
jedoch auch Nr. 149. Vgl. Simrock 608f., Böhme 875 (Anfang auch 333, Simrock 609,
Stöber 342f., Schumann 590). Über die Beziehung des Müllernamens auf weisse Schmetter-
linge s. Stöber S. 179, auch Diez, Etymol. Wörterb. unter farfalla. Aber auch die Be-
ziehung auf das Ungeziefer hat bestimmten Anhalt: Müllermücken heissen im Kinder-
verse die Läuse, wie Müllerflöhe bei Grimmelshausen.
185. Lern ewas, da kannste was,
Stiehl dir was, da haste was,
Lass dich aber ju ju nich kreie!
Wiegendorf b. Weimar, alt.
F*-*-»—*—i——H—y—>--il
-o-
186. Liebe, liebe Sonne,
Schein eine Viertelstunde!
Mach dein kleines Türchen auf,
Lass die liebe Sonne raus.
Neustadt a. d. Orla, alt (beim Wäschetrocknen gesungen). In Z. 3 hat eigentlich
Petrus oder ein anderer Wettermacher zu stehen, vgl. viele Fassungen des Liedes von
den drei Jungfrauen (Nr. 167) sowie manches bei Nr. 175a Angefühlte, ausserdem
Simrock 563, 545, 557, Wegener 205.
187. Lieber Ofen, ich bet dich an: Fünfundzwanzig Töpf zerbrochen,
Sei doch mein Gevattersmann! Und das war noch nicht genug,
Denn ich hab in diesen Wochen Auch den alten Essigkrug.
Remda. Die Anfangszeile gehört einem Auslösevers im Pfänderspiel an, vgl.
Simrock 975—977, Böhme S. 680, Dunger 383 f. [Schumann 1905 S. 72.]
188a. Lingel lingel Lerchen,
Drei Hasen und drei Sperken (= Sperlinge).
Ist das nicht ein Wunderding?
Der Vater hat nen Fingerring,
Die Mutter hat nen Ohrenring (. . . das Goldelein).
Wisple wasple Jud, komm rein (Herr Storpion, o komm herein),
(Und) such das liebe Hölzelein.
Roth bei Koburg, Abweichungen aus Schorkendorf. Verwandtes dazu kenn ich nicht
ausser folgendem ^ers aus Remda:
188 b. Ling ling Lerche,
Zwei Hasen und zwei Zwerge.
Der Geier hat sein Hing verloren.
Jude, komm herein !
189. Links, rechts, links, rechts,
Donnerwetter, das geht schlecht!
—-8—t——r—
Deutsche Kinderlieder.
411
Weida, Soldatenspiel. Anders Simrock 510, mit Erweiterung Schumann 609, wozu
auch Lewalter Heft 4, Nr. 24 und ein Vers aus Weissenfels nach der Weise des Torgauer
Ostheim v. d. Rhön; zu Böhme S. 537f. Nr. 334f., Lewalter Heft 2, Nr. 19; oben 9, 392,
Nr. 68. [Züricher 1902 nr. 960. Schumanu 1905 S. 22.] Die goldnen Haare erscheinen auch in
der von Petsch, Herrigs Archiv 103, 367 mitgeteilten Berliner Fassung; anderwärts, auch in
Thüringen, trägt der Mann einen roten Kragen und erinnert so an den roten Fuhrmann
in einer Fassung des Li« de s von der Königstochter im Turme (Simrock 916 = Böhme
•S. 461, Nr. 146).
192. Madam, brauchen Sie was
Für die Ratt, für die Maus,
Für die Hopphopphopp,
Für die Wandmaschien,
Für die Läus?
Gegend von Glauchau, um 1880. Die Sprechweise der sl'ovakischen Fallenhändler
wird nicht ohne Humor nachgeahmt. Unter Wandmaschien hat man sich gewiss die an-
genehmen Tierchen vorzustellen, die an der Wand 'maschieren'.
Löbstedt bei Jena.
194. Mädel, Mädel, wasch dich, putz dich, kämm dich schön,
Wir wollen zusammen zum Tanzen gehn.
Kunitz bei. Jen». — [Wird auch einem Signal untergelegt; IL Meyer, Berliner 1904 S. 150.J
195 a. Mariechen sass auf einem (oder: breitem) Stein
(Giebichenstein: Anna sass am Gräfenstein),
Sie kämmte sich ihr krauses Haar.
Da trat ihr Bruder Karl zu ihr:
Mariechen, w7arum weinest du?
Ich weine, weil ich sterben muss.
Da griff er in die Tasche
Und zog sein blankes Messer raus
Und stach Mariechen durch das Herz.
Da trat der stolze Fähnrich her:
Nu, Karl, du siehst ja blutrot aus?
Ich sehe, seh so blutrot aus,
Weil ich Mariechen erstochen hab.
Mariechen ward ein Engelein
Und Karl das war ein Bengelein (oder: Teufelein).
Nun lasst uns alle fröhlich sein.
Marsches:
190. Soldaten, Kameraden,
Die essen gerne Braten.
191. Machet auf das Tor,
Es kommt ein grosser Wagen.
:,: Wer sitzt darin? :,:
:,: Was will er denn? :,:
Er will die NN. holen.
Was hat sie gestohl'n? :,:
Im Garten eine Rose.
Ein Mann mit goldnen Haaren.
193. Mädchen mit dem roten Mieder,
Gib mir meinen Taler wieder!
Gibst du mir mein Taler nicht,
Bin ich auch dein Liebster nicht.
Dornburg; mit geringen Abweichungen und teilweise vollständiger in ganz Thüringen.
Die Weise ist überall die von Lewalter Heft 1, Nr. 25, danach von Böhme S. 546 gegebene. —
412
Schläger:
Die obige Fassung stellt in der hervorgehobenen Frage dem Volksliede (.Bockel Nr. 103,.
Lewalter Heft 1, Nr. 24, Erk-Böhme 1, 42e, Böhme S. 545) näher als die meisten mir
sonst bekannten. Der Schluss (ausser der letzten Zeile, zu der Nr. 110b zu vergleichen)
scheint in dieser Form einem Thüringer Neckverse zu entstammen (Nr. 70) und zeigt
gelegentlich noch Erweiterungen, z. B. oben 9, 393 Nr. 70 und in anderer Art aus Weida:
Mariechen kam ins Himmelreich
Und Adelbert in den tiefen Teich.
M. kriegt nen Rosenkranz
Und Adelbert nen Rattenschwanz.
Doch findet man auch Ursprünglicheres, das diese Zusätze herbeigezogen hat, so Kunitz
und Grossschwabhausen:
Mariechen ward ins Grab gesenkt,
Und Karl der ward an Galgen (Gr.: Balken) gehängt —
was nicht nur im Volksliede wiederkehrt, sondern auch an den Ausgang des alten Ulinger-
liedes erinnert. — In Kothen wird das Lied mit einer Erweiterung ausgeführt:
195b. Mariechen sass auf breitem Weil ich heute sterben muss.
Stein Da ritt er wieder weiter.
Und kämmte sich ihr blondes Haar. Da kam der stolze Caro.
Und als sie damit fertig war, Der zog sein langes Messer raus
Da ging sie in ihr Kämmerlein. Und stach Mariechen durch die Brust.
Da legte sie sich schlafen. Da fing sie an zu bluten.
Und als sie wieder munier ward, Mariechen ward ins Grab gelegt.
Da fing sie an zu weinen. Mariechen ward ein Engelein.
Da kam ihr Bruder Karl herein: Karl der ward ein Bengelein.
Mariechen, warum weinest du? Caro ward ein Stengelein.
Eine verkürzte, am Schluss unserer Nr. 98 angeglichene Fassung steht oben 5, 204,.
Nr. 29, wo noch auf Wegener 673 verwiesen ist. [Grössler, Mansfelder Blätter 11, 188..
Dähnhardt, Volkstümliches 1, 66. 2, 124. Köhler-Meier nr. 16. Das Land 6, 15 (1898).
Frömmel 146. Adler, Progr. 1901 S. 5. Notholz 1901 S. 42. Züricher 1902 Nr. 961—965.
Eskuche, Siegerländ. Kinderliedchen 1897 S. 94 nr. 347. Schumann 1905 S. 27].
Eine Nachahmung ist offenbar, was in Kunitz nach derselben Weise gesungen und
gespielt wird:
196. Die Anna sass im Kämmerlein
Und schrieb ein Brief an Bräutigam.
Da ging die Türe kling kling kling.
Da trat herein der Bräutigam,
Und reichten sich die Händ zusamm.
So noch zweimal Z. 3—5 mit „Grosspapa" und „Grossmama". Dann:
Da ging die Türe usw.
Da trat herein der böse Wolf.
Schliesslich muss der Wolf haschen. — Im einzelnen dem ähnlich, im ganzen aber der
landläufigen Form entsprechend ist die Obersteiner Fassung:
195 c. Mariechen war allein zu Haus usw.
Sie kämmte sich die Haare fein.
Da fing sie an zu weinen.
:,: Da ging die Türe klinglingling,
Da kam der gute Vater (dann: die gute Mutter) herein:
Mariechen, warum weinest du? :,:
Deutsche Kinderlieder.
413
Ei, weil ich heute sterben muss.
Da ging die Türe klinglingling,
Da kam der Bruder Fritz herein.
Er nahm ein Messer aus der Tasch
Und stach Mariechen durch und durch.
Mariechen war ein Engelchen,
Der Fritz, der war ein Bengelchen.
Oberstein hat ausserdem eine schnöde Umdichtung aufzuweisen, die jedoch auf eine
■undere Grundform zurückzugehen scheint:
197. Anna sitzt auf Rasen usw.
Und trinkt ihr Schnäpschen Branntewein.
Und als sie damit fertig war,
Da fing sie an zu turkeln.
Da kam eine grosse Bubenschar.
Die schrieen alle: Anna, o!
---1----\\--9—0—0—
EéESÊEÏÈ:
~N—H—V
"•/—-I—y——k1-
#4-"—0—f-1!—
198a. Meine Mutter backt Küchle,
Sie backt sie so hart,
Sie schliesst sie ins Schränkchen
Und gibt mir nit satt;
Sie gibt mir drei Brocken
Für die Hühner zu locken.
Wenn's mir aber nochmal so geht,
So schnür ich mein Bündel und sag adjö:
Adjö, Mama, adjö, Papa,
Didel di didel di hopsasa!
Doch komm ich nicht weiter bis über die
Brück,
Da nehm ich mein Bündel und geh wieder
zurück.
Zurück zu Mama, zurück zu Papa,
Didel di didel di hopsasa!
Sarnsthal i. d. Pfalz. Im Neustädter Kreise hörte ich aus älterer Zeit ein Bruchstück,
das anscheinend zu demselben Liede gehört:
198 b. Wenn mich meine Mutter noch mal so pufft,
So nehm ich mein Ranzel und geh in die Luft.
Indes erinnert dies auch an Böhme 470b = Rochholz S. 306 Nr. 709. — Böhme 506,
968 und Nachtrag 39 stehen unserer Fassung nahe. Z. 5 und 6 stammen aber aus einem
anderen Liede, das ich in rein volkstümlicher Gestalt nicht nachweisen kann, sondern nur
in J. Brahms' Volkskinderliedern (Nr. 3: Ach, mein Hennlein, hi bi bi); dasselbe Bruchstück
findet sich in einem Quodlibet bei Müller S. 223, dem Zusammenhange nach könnte es
wohl aus unserem Liede genommen sein. Indes zeigt sich dieselbe Verbindung wie in
unserem Text auch in der Fassung des Wunderhorns, Anhang S. 81. — Sehr entfernte
Ähnlichkeit im Hauptthema zeigt Erk-Böhme 2, 1000;' der zweite Teil der Weise findet
sich ebenda 2, 1004. — In Weida hörte ich um 1880 ohne das Einschiebsel, nach der
Weise: Kommt ein "Vogel geflogen:
198 c. Meine Mutter bäckt Küchel,
Sie bäckt sie so hart,
Sie schliesst sie ins Schränkel
Und gibt mir nicht satt.
Da nehm ich mein Ranzel
Und sage ade:
Ade, liebe Mutter,
Wir sehn uns nicht mehr!
414
Chalatianz :
199. Meine Mutter hat gesët:
Nehm dir keine Bauermêd,
Nehm dir eine aus der Stadt,
Wenn sie tausend Taler hat.
Weida, der erste Reim gehört aber der dörflichen Mundart an. Schlusszeile auchr
Wenn sie auch kein Hemde hat. Vgl. Drosihn 356, Erk-Böhme 2, 785b. [Dähnhardt 1, 30.],
200. Meine Mutter schickt mich her,
Ob der Kaffee fertig war.
„Nein, mein Kind, du inusstnoch warten,
Geh derweile in den Garten."
Jetzt schlägt's eins, jetzt schlägt's zwei,
Musst du (Muss ich) in der Schule sei.
Fragt der Lehrer, wer ich bin:
Ich bin Jungfer Eigensinn.
Grossschwabhausen in Thüringen, alt. Weise durchgängig:
nur Zeiie 5; — f—r— *'1-?—r~
——--^—k1—--I-k"—^----—5— ^-i-l/—P-
Vgl. Schumann 436 a und Gerhardt-Petsch, oben 9, 274 Nr. 44. Dort wird richtig
vermutet, dass der zweite Teil angeflickt sei, und für den ersten auf Wegener, Volks-
tümliche Lieder S. 281, Nr. 995 hingewiesen, wozu ich noch Böhme 496f. (mit Anhang
Nr. 44) und 498 = Simrock 512, Schumann 646 angeben kann. [H. Meyer, Berliner 1904
S. 147 nr. 173: „Amtmann Bär."] Den Fortgang zeigt, in anderen Zusammenhang gebracht,
Müller S. 205 Nr. 2 und, vielleicht in ursprünglicher Fassung bis auf den hineingedrungenen
Kaffee, Schumann 436b.
Oberstein a. d. Nahe.
(Fortsetzung folgt.)
Die iranische Heldensage bei den Armeniern,
Nachtrag.
Von Bagrat Chalatianz.
(Vgl. oben 14, 35—47. 290—301. 385—395.)
Vorwort.
(Rustems mythische und historische Gestalt. Seine Popularität bei den Nachbarvölkern
Die Umarbeitung der iranischen Sagen auf dem fremden Boden. Die Wege ihrer
Verbreitung.)
Für die Wichtigkeit auch dieses Nachhalls der iranischen Heldensage
sprechen die interessanten Züge, die von Firdousis Erzählungen abweichen
oder dort überhaupt fehlen. Nochmals möchte ich betonen, dass die
Feder des berühmten Dichters von Tos nicht alle Taten der persischen
Helden verewigt hat. Das Umherziehen des halbwahnsinnigen Rustem
mit dem Leichnam seines Sohnes, das wir in den kaukasischen Nach-
Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag.
415
klängen der persischen Sage finden (oben 14, 386 f., unten Nr. 8), ferner
die Befreiung des von dem Divenkönig bedrängten Königs von Turän
durch Rustem und dessen Krönung zum Herrscher von Turän, dies alles ist
dem Schöpfer des Schah-Nameh völlig fremd. Auch das Zeugnis des Moses
von Chorene über Rustem Sagcik bestätigt dies (oben 14, 38). Ausser-
dem lernen wir hier einen gefährlichen Gegner des Helden, den Riesen
Salman Snti, kennen, von dem auch eine kurdische Sage zu erzählen
weiss (oben 14, 295—298); und Rustems Grossvater Sam erlebt märchen-
hafte Abenteuer und heiratet zwei Frauen auf einmal.
Wenn wir auch nicht feststellen können, auf welches Vorbild die
gewaltige Gestalt Rustems, des Haupthelden von Iran, zurückgeht, so
finden wir doch in ihm manche Züge mythischer Helden wieder.
Seine Riesenkraft, sein langes, an Unsterblichkeit grenzendes Leben,
seine Kämpfe mit Ungeheuern stellen ihn dem babylonischen Gilgames
und dem griechischen Herakles zur Seite. Seinen Aufenthalt in der
Grube, wo er seinen Tod finden sollte, möchte ich auf den uralten
Sonnenmythus der Babylonier zurückführen. Er ist eine heilbringende
Kraft, gerecht1), edel, Befreier des Landes, Anwalt der Unterdrückten,
unbesiegbar im Kampfe, welche Eigenschaften nach dieser Richtung
allein der Sonnengottheit eigen sind. Die langjährigen Kriege zwischen
Trän und Turän, welche die Yolksphantasie zu regem Schaffen spornten,
vereinigten die Helden des weiten Landes in einem harmonisch zu-
sammengefügten Epos. So entstand ja auch das Epos der Griechen. In
diesen Kriegen tritt die Persönlichkeit Rustems, des Herrschers von
Sehistän, in den Vordergrund, er wird zum Haupthelden, der jede Schlacht
entscheidet und das feindliche Heer in Entsetzen bringt. Je mehr der
mythische Besieger des 'Weissen Div' als 'Fürst' auf historischen Boden
gerückt wird, desto mehr wird seine ursprünglich fabelhafte Persönlichkeit
als unbesiegbare Stütze des Landes nationalisiert. Es war Firdousi,
der den rohen, hochmütigen, mit Ungeheuern kämpfenden Pehlevan des
Altertums veredelte, vervollkommnete und zum Nationalhelden erhob.
In dieser Umformung drang Rustems Gestalt dann über die Grenzen
seines Landes hinaus und lebte in den Sagen der Nachbarvölker fort.
Die Kurden z. B. kennen ganze Stücke aus Firdousi auswendig, und die
Armenier entnehmen ihnen manches, das sie in Prosa weiter fortpflanzen.
Doch auch in anderen Fassungen waren Rustems Taten seit alters den
fremden Stämmen wohlbekannt, und er behauptete auch hier sein hohes
Ansehen als mythischer Held und als iranischer Pehlevan, wenngleich er
begreiflicherweise in manchen Gegenden durch einen anderen Recken
verdrängt oder ganz vergessen ward. Wenn nun hier nur einzelne un-
ii bamas (Sonne) wird stets bei den Babyloniern als 'Richter des Himmels und der
Erde' bezeichnet.
416
Chalatianz :
verbundene Abenteuer Rustems bekannt sind, obwohl Firdousi sein ganzes
Leben im Zusammenhang dargestellt hatte, so ist der Grund dafür nicht
allein, dass diese Sagen von Hause aus auch stückweise zu den Nachbar-
völkern übergingen, sondern es kommt auch die prosaische, freie Über-
lieferungsart bei den Armeniern und den kaukasischen Stämmen in
Betracht, welche den engen Verband der Teile des Epos leicht auflöst.
Die Übernahme des Sagenstoffes ging natürlich auf dem fremden
Boden nicht ohne manche Umwandlung und Änderung vor sich. Dem
Geschmack, dem Arerständnis und den Anschauungen des Volkes gemäss,
ward die eingewanderte Sage mit neuen Einzelheiten ausgeschmückt;
namentlich gingen die iranischen Helden in der neuen Heimat ihrer
Herkunft verlustig, indem sie nationalisiert wurden und in die Reihen der
einheimischen Recken als deren Blutsverwandte eintraten. So wird Zal
in einer armenischen Fassung König von Sassun und Bruder des arme-
nischen Nationalhelden David genannt (oben 14, 296); eine andere
Version nennt Rustem als Vater des Mher (unten Nr. 2, 2), der sonst Sohn
des David ist (s. oben 12, 269); der Kampf zwischen dem Vater und seinem
unerkannten Sohn nimmt hier kein tragisches Ende; die Kurden wissen
auch von den Taten der Söhne Rustems, Atambji und Diiro, zu berichten
(Nr. 3, 3). Die Osseten endlich lassen Rustem und seinen Bruder Beza
(sie) einmal aus dem Geschlechte der Daredzanen, ein andermal aus dem
der Sanuasen stammen (oben 14, 389).
Weiter ist die Unzuverlässigkeit des Erzählers zu beachten, der bei
der Wiederholung der Sagen, die er von seinem Vater, einem bekannten
Erzähler im Dorfe, von einem wandernden Asugen1) oder einem Fremd-
ling gehört hat, völlig von seinem Gedächtnis abhängig ist. Da die
Sagen nicht in Versform abgefasst sind und nicht gesungen werden, wie
z. B. bei den Russen die 'Byliny' (Geschehnisse) oder auch teilweise bei
den Kurden, so ändern sie sich im Munde der Überlieferer. Das Ge-
dächtnis lässt den Erzähler öfter im Stich und veranlasst Verstümmlungen
der Eigennamen, wie auch des Inhaltes selbst. So nennt eine Fassung
den Rustem 'Turänier' (oben 14, 385). Sein bekanntes Liebesabenteuer
mit der Tochter des Königs von Semengan und der Kampf mit dem
Sohn werden vielfach auf andere iranische Helden: Burzè, Fahramaz,
Bezan (Bijen) (oben 14, 299 f. 389), teilweise auch auf Siawus (unten
Nr. 10) übertragen. Ebenso wird Bijens Liebe zu Menije, der Tochter des
Königs Afrasiab, auf Burzè und die von Div geliebte Mirdjanè Djazò
übertragen (Nr. 9). Der Streit Rustems mit dein König Key-Käos wird
in zwei schönen Sagen (Nr. 7. 12) anders begründet. Nicht selten flicht
der Erzähler auch Märchenmotive ein; so erlebt Gathl Gahraman, ein
1) So heissen wandernde, mit dem 'Saz' (einem siebensaitigen, guitarrenartigen
Instrument) versehene Volkssänger, deren Repertoir in Märchen und historischen
Liedern besteht.
Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag.
417
Sohn Raisteins, in einer psavischen Fassung Abenteuer, die häufig in
Märchen vorkommen (oben 14, 301). Ja, die gewaltige Gestalt des Helden
verblasst einmal zu einem geschworenen Frauenfeinde (Nr. 4). Rustems
Sippschaft löst sich auf verschiedene Weise auf: Burzè heisst oft Sohn
Rustems, Bejan (Beza usw.) bald Bruder, bald Neffe Rustems, während
jener nach der persischen Quelle Sohrabs Sohn und dieser Givs Sohn
und Rustems Enkel ist.
Endlich werden die Eigennamen mannigfach verstümmelt; am reinsten
sind erhalten Rostam, Röstam, Rstam, Rstami Zal, Rostomela (^Rustem1);
Bejan, Began, Bego, Vjan, Beza, Bezan (=Bijen); Frazam, Faramerz,
Feramaz, Faramaz (= Fahramaz) ; Burzè, Burzi, Brzo, Brzu (= Bar zu) ;
ziemlich verdorben ist Marudjan, Maxmaridjan, Mirdjanè Djazò (=Menije).
Die Namen der Könige von Iran und Turan sind bis zur Unkenntlichkeit
verdreht: Qeavgebad (= Key Kobad), Qev Xosra, Qeaxsir, Qeavxsir
ibn Baraq ( =Key Xosräu), Qaiqavöz, Kevz, Kekevoz (= Key Käos),
Alfasyan, Alvasya, Alfasya Graba Fisa, Afrosuap (=Afrasiab). Die geo-
graphischen Namen fehlen begreiflicherweise fast gänzlich; durch die
grosse Entfernung entschwanden sie leicht dem Gedächtnisse und wurden
durch blosse Gattungsnamen (Land, Stadt, Fluss usw.) ersetzt. Ausser
Qeabl (Kabul), Astarx (Istaxr) und Zabi (Zabulistän) sind die Orts-
bezeichnungen meist einheimisch (Kafkufa = Kaukasus, Narti, Abraset,
Karaia, Sassun, Poladi Darband, Karadag usw.).
Dem Inhalte nach lassen sich die bei den oben genannten Völkern
verbreiteten Sagen in wenige Gruppen zusammenfassen; die beliebtesten
Episoden des Schah-Nameh sind: 1. Das Liebesabenteuer Rustems mit
der Tochter des Königs von Semengän und sein verhängnisvoller Zwei-
kampf mit seinem Sohn Zohrab, wobei der Krieg zwischen Iran und
Turän entweder ganz fehlt oder nur nebenher erwähnt wird. 2. Der
Zank Rustems mit Key-Käos, verbunden mit dem Einfall der Turänier
und deren Vertreibung aus dem Lande. 3. Der Kampf Rustems mit dem
Riesen Salman Snti (wahrscheinlich iranischen Ursprungs). 4. Einige
dunkle Spuren des Kampfes Rustems mit dem (Weissen) Diven und
5. mit Isfendiar, der hier oft Gan Pilé oder Gan Poläd (Eiserner Körper)
genannt wird. 6. Rustems Sturz in die Grube, die der böse Cegal ihm
gegraben hatte, wobei der Held von seiner Mutter gerettet wird (!).
7. Sehr populär ist Bijens Liebesabenteuer in Turän, welches in mannig-
fachen Versionen vorkommt. 8. Endlich überliefert eine Sage die Er-
mordung des nach Turän geflüchteten Kronprinzen Siawus2). A on dem
1) Rustem ist als Eigenname bei den Persern und bei den in deren Nachbarschaft
wohnenden Armeniern sehr verbreitet.
2) Eine Giuppe für sich bilden die Sagen von Bnrze, in denen ausser Bijens und
Menijes Liebesgeschichte noch fremder Stoff aus anderen Sagen und Märchen zugeflossen
ist. Daher scheint es mir bedenklich, diese für original oder auch für verwandt mit dem
Barzu-Nameh zu halten.
418
Chalatianz:
teuflischen Dahak, der bei den alten Armeniern unter dem Kamen
Ajdahak bekannt war, und von dem eine der schönsten Partien des
Schah-Nameh handelt, wissen unsere Sagen nichts zu berichten; ebenso-
wenig von den Abenteuern Zals, der eine ziemlich unbedeutende Rolle
spielt. Nur weniges wird von Isfendiar erzählt, den Firdousi dem
Rustem als dessen ebenbürtigen Nebenbuhler gegenüberstellt; wahrschein-
lich sind seine Abenteuer, die viel Ähnlichkeit mit denen Rustems haben,
auf diesen übertragen worden, der auf die Volksphantasie einen stärkeren
Eindruck gemacht hatte.
Der Ubergang der iranischen Sagen zu den Nachbarvölkern war nicht
immer unmittelbar. Die alten Armenier, welche nicht nur geographisch,
sondern auch politisch und kulturell mit den Persern eng verknüpft
waren, empfingen diese Erzählungen direkt und flochten sie in den Kreis
ihrer Nationalmythen ein, wie die Legende von Biurasp Ajdahak und von
dessen Besieger Tigranes zeigt (oben 14, 36—38).
Die Zeit und der Einfluss des arabischen Märchenschatzes verdrängten
diese Sagen aus dem Gedächtnis des Volkes, das heut seine Kenntnis von
Rustami Zal in Aderbeidjän, der Grenzprovinz Persiens, wieder direkt
aus persischer Quelle oder aus den stückweisen Bearbeitungen der
Kurden entnimmt. Für diese, die zum Teil in Persien am Urumiasee
und in der anstossenden Provinz der Türkei hausen, standen die Türen
des iranischen Sagenschatzes stets offen. Doch schmücken die poetisch
sehr begabten Kurden den fremden Stoff oft mit eigenen Zügen aus. So
fügen sie an die Erzählung von Rustem, den seine Mutter aus der Grube
zieht, nachdem er den heimtückischen Ceyal samt dem Baum mit einem
' o
Pfeilschuss durchbohrt hat, noch neue Verse an (unten Nr. 2, 4). Auf
einem anderen Wege ist das iranische Epos nordwärts zu den kaukasi-
schen Stämmen gedrungen. Wenngleich sich hier, Herodot zufolge, die
persische Herrschaft schon unter Artaxerxes I. geltend machte, so kamen
doch später nach armenischen und arabischen Berichten die Alanen,
Xazaren und andere im Nordosten des Kaukasus hausende turko-tatarische
Horden auf dem Kriegspfad in enge Berührung mit den Persern, wenn
sie bis nach Aderbeidjän und Ostarmenien hineindrangen. Die auf
diesem Wege zu den Osseten, Imereten, Svaneten, Psaven und anderen
kaukasischen Bergstämmen gelangten iranischen Sagen wurden von den-
selben Horden weiter nach den südrussischen Steppen gebracht, wo sie
mit den russischen Volkssagen des Wladimir-Zyklus verwuchsen.1)
1) Eingehend bandelt darüber "Wsevolod Miller, Exkurse in das Gebiet des russischen
Yolksepos (Moskau 1892).
Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag.
419
1. Rostom und Salman.1)
Salman war ein Riesenheld, gross wie ein Berg; sein Name erschreckte
jeden, der ihn hörte. Am anderen Ende der Welt lebte Zal, dessen Sohn der
tapfere Rostom war. Zal allein zahlte dem Salman keinen Tribut.
Einst bestieg Zal sein Ross und zog aus, um Salman kennen zu lernen.
Nach langer Reise begegnete er einem Riesen, der, eine Pfeife so gross wie ein
Schloss rauchend, an ihm vorüberritt, ohne ihn zu beachten. Das rechnete Zal
sich zur Schande und schleuderte seinen Speer auf den Reiter; dieser kehrte um,
ergriff ihn am Hals, band ihn unter sein Ross und ritt weiter. Bei einer Quelle,
wo ein Zelt für ihn aufgeschlagen war, machte er Halt, nagelte Zals Ohr an eine
Säule des Zeltes und schlief ein. „Er sagte mir nicht einmal seinen Namen, wer
er sei," dachte Zal. Als der Riese erwachte, fragte er: „Bursch, wer bist du?"
„Ich bin aus dem Lande des Zal," erwiderte dieser, der ihm vor Angst seinen
Namen nicht zu nennen wagte. Der Riese befreite sein Ohr und entliess ihn mit
den Worten: „Geh, sage dem Rostom, dem Sohn des Zal, er solle kommen und
sich mit mir in einem Zweikampfe messen, um zu entscheiden, ob es ein oder
zwei Helden auf der Welt geben soll! Ich bin Salman."
Seufzend kehrte Zal heim. Rostom sprach: „Rostom ist dein Sohn, und du
seufzest?" Da erzählte Zal sein Abenteuer mit Salman. Der Held nahm seinen
Neffen Vjän mit, und beide verkleideten sich als Derwische. Rostom hinterliess
die Weisung, wenn sein Ross Nachsebalag mit dem Huf die Erde scharren
werde, so solle man seine Rüstung darauf binden und es freilassen. Vjän besass
eine ungeheuere Stimmenkraft; wenn er im Osten schrie, hörte man ihn im
Westen. Beide Helden nahmen nun ihren Weg durch das Land der Divs, indem
bald Rostom einen Div als Keule ergriff und mit ihm die übrigen erschlug, bald
Vjän durch sein Geschrei die Argen in die Flucht trieb. Sie begegneten einem
geflügelten Div, der, ein Mädchen in den Klauen haltend, durch die Luft flog.
Vjän schrie, Rostom schleuderte einen Berg nach ihm, und der erschrockene
Böse liess sein Opfer los. Rostom brachte die befreite Jungfrau (eine Königs-
tochter) zu ihrem Vater, der ihn mit seinem Reisegefährten bewirtete. Plötzlich
geriet die ganze Stadt in Verwirrung; es kam Salman, um den Tribut für sieben
Jahre zu holen; der aber, der den Tribut dem Riesen brachte, ward von ihm
weggeführt und umgebracht. Vjän erbot sich, die Abgabe zu überbringen.
Rostom hörte im Traume das Geschrei des Vjän: „Beeile dich, Rostom! Salman
hat mich entführt." Der Held erwachte; Nachsebalaq war schon da. In einem
Augenblicke war er in Salmans Schloss, wo er Vjän gebunden fand. Beide
Recken schritten nun zum Kampf; von ihrem gewaltigen Ansturm zerbrachen die
Speere; da stiegen sie von den Rossen und wurden handgemein. Und sie
kämpfen noch heute. Von dem gewaltigen Ringen der Helden entsteht das Erd-
beben, dann hört man auch Vjäns Stimme aus der Erdtiefe.
2. Rostani.2)
1. Rostam und Salman Snti. Zal zog zur Jagd nach dem Berg Kafkufa.3)
Dort begegnete er einem Riesen auf einem Ross, den er mit seinem Streitkolben
1) Veröffentlicht vom Bischof G. Sruanztianz in seiner Sammlung 'Mit Geschmack
und Geruch' (Konstantinopel 1884, S. 201—204) ohne Nennung des Erzählers.
2) Die Nr. 2 —G sind von S. Haikuni 1904 veröffentlicht (Emiusche ethnographische
Sammlung, hsg. von dem Lazarewschen Institut der orientalischen Sprachen in Moskau
5, 3-60: 'Armenisch-kurdische Sagen'). Der Erzähler von Nr. 2 ist Petros Vertoyän aus
Moks (südlich vom Wansee).
3) Gemeint ist wohl der Kaukasus, der im y0lke auch Kavkav genannt wird.
420
Chalatiaiìz:
von hinten angriff; dieser beugte sich bei Seite und bat den Recken, ihn in Ruhe
zu lassen. Als er aber sah, dass er zum zweiten und dritten Male verräterisch
angegriffen wurde, packte er Zal wie ein Kind und legte ihn unter sich: „Ich
will dich freilassen, da du ein armseliger Mensch zu sein scheinst, wenn du den
Tränier Rostam sendest, dass er mit mir kämpfe. Ich bin Salman Snti," sagte der
Riese. Zal versprach dies, kehrte traurig heim und blieb sieben Jahre im ge-
schlossenen Zimmer sitzen, bis Rostam herangewachsen war. Als der junge Held
vom Vater erfuhr, was diesem geschehen, zog er mit seinem Neffen Pejän aus,
nachdem er zu Hause geboten hatte, ihm sein Ross Aschari Balaq mit seinen
Waffen nachzuschicken, sobald es mit dem Huf die Erde scharren werde.
AVährend Rostam bei einer Quelle einschlief, erschlug der bei ihm wachende Pejän
zwanzig Divs; die übrigen zwanzig töteten sie in ihrem Hause; ihre Schwester
nahm Pejän zur Frau; sie hiessen jedoch das Mädchen bis zu ihrer Wiederkehr
zurückbleiben. In einem Dorfe angekommen, fanden sie dort grosse Verwirrung;
die Leute des Salman Snti waren erschienen, um Tribut zu holen. Rostam er-
schlug einige, die übrigen trieb er fort mit den Worten: „Geht, sagt dem Salman,
er solle zum Kampf mit Rostam kommen!" Salman eilte mit seinen Pehlevanen
und seiner Schwester nach dem Kampfplatz; zuerst sollte Pejän kämpfen; er
ward aber von mehreren Recken angegriffen und zu Boden geworfen; da rief
Salmans Schwester, man solle ihn in ihr Zelt bringen, damit sie ihn selbst töte,
und rettete so den Helden vom sicheren Tod. Der Jüngling aber gewann das
Herz der Schönen, und sie schonte sein Leben und verbarg ihn bei sich. Nun
schritten Salman und Rostam zum Kampf, nachdem Aschari Balaq mit der
Rüstung vor seinem Herrn erschienen war; bald aber stiegen die Streiter von
ihren Rossen und wurden handgemein. Der laute Ruf Pejäns, der dadurch seinem
Oheim ein Lebenszeichen geben wollte, mehrte die Kraft des Helden, er über-
wältigte Salman und trennte ihm den Kopf vom Rumpfe. Darauf heiratete er die
Schwester des Riesen und verliess sie nach einiger Zeit mit dem Auftrag, falls
sie einen Sohn gebäre, solle sie ihm seinen Armring an den Arm binden.
2. Rostam und Mher. Dem Helden wurde ein Sohn geboren, den die
Mutter Mher nannte. Der Knabe zeichnete sich durch ungewöhnliche Kraft aus.
Als seine Altersgefährten ihm einst vorwarfen, er habe keinen Vater, zog er aus,
seinen Vater zu suchen. Er traf ein Heer, das im Kampf mit Rostam begriffen
war, und schloss sich ihm an. Der Entscheidungskampf fiel Rostam und seinem
unerkannten Sohne zu; drei Tage dauerte ihr Kampf, endlich besiegte Rostam
den Gegner und wollte ihm schon den Todesstreich versetzen, als er an dessen
Armband seinen eigenen Sohn erkannte. Beide erschlugen nun die Feinde und
kehrten heim.
3. Rostam und Djanpilè. Der aus Eisen geschmiedete Djanpilè, dessen
Augen von Fleisch waren, schlug dein Rostam täglich 366 Wunden, die dieser
mit Hilfe eines Balsams heilte. Da versammelte Rostam seine Pehlevanen und
fragte sie um Rat; diese schlugen den 'Salomo' auf und lasen darin, Djanpilè sei
ganz von Eisen, der Held solle zwei Pfeile anfertigen und seinem Gegner vor dem
Kampfe zurufen: „Zeige mir deine Augen! Dann schlagen wir uns." Als nun
Djanpilè auf Rostams Forderung ihm seine Augen zeigte, durchbohrte er sie mit
seinen Pfeilen und tötete den Riesen.
4. Rostam und Tsegal. Tsegal war Rostams Feind. Er grub auf dem
Kampfplatz eine Grube 40 m tief, 40 m lang, und bedeckte sie mit Holz. Dann
bat er Rostam, ihm den Gang seines Rosses zu zeigen. Nichts Böses ahnend,
ritt der Held über den Kampfplatz; doch das kluge Ross witterte die Gefahr und
Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag.
421
blieb vor der Grube stehen; als sein Herr die Sporen gebrauchte, übersprang es
diese; beim zweiten Male aber stürzte es in die Grube. Da nahm Rostam seinen
Bogen und nagelte Tsegal mit einem Pfeile an den Baum; der Pfeil durchbohrte
den Verräter, den Baum, den Berg Kafkufa und flog bis in das Land der Turanier.
Vergebens versuchte man den Helden aus der Tiefe zu befreien; da rief Rostam
seine Mutter, die ihre Haare hinabliess und den Sohn herauszog. Der Held sang
sein 'Loblied' (kurdisch):
Den Baum und den Tsegal und den Felsen auch.
So war der Rustami Zal.
Er lebte 36(5 Jahre,
Er ist noch klein wie ein Kind;
Die Mutter nahm ihn auf ihren Busen und brachte ihn nach Hause.
3. Rostam und seine Enkel.1)
1. Rostam und Asfandiar. Als Rostam in Not war, befahl ihm Gott im
Traume, einen Zügel anzufertigen und ihn ins Meer zu werfen; er tat dies, und
aus den Wellen stieg das Peuerross Rachsi Balaq empor, das er heim-
führte.
Dem Pamath Schah gebar die jüngste seiner 40 Frauen einen Sohn, der
Asfandiar genannt wurde. Der König versprach seinen Thron dem, der Rostam
mit gebundenen Händen, barfüssig, die Schuhe mit Erde gefüllt um den Hals
gehängt, zu ihm bringe. Asfandiar erbot sich dazu und zog aus. Aber Zittern
ergriff ihn, als er sah, wie Rostam einen wilden Ochsen in einer Hand über das
Feuer hielt und briet. Um die Kraft des Gegners zu prüfen, rollte Asfandiar
einen Felsblock vom Berge herab, den der Held aber mit einem Fuss zum Stellen
brachte. Darauf forderte ihn der Königssohn auf, sich ihm zu ergeben. Rostam
war bereit, ihm zu folgen, wollte aber seine Hände nicht binden lassen; und es
entspann sich ein Kampf, der sieben Tage dauerte. Zal sah, dass der Stern
seines Sohnes sich verfinsterte, erkannte daraus seine Gefahr und eilte zu Rostam,
den er hart bedrängt fand. „Wie kannst du mit ihm kämpfen, da sein Körper
von Eisen ist!" rief er dem Sohne zu. Auf den Rat seines Vaters verfertigte der
Held aus einem besonderen Holz zwei Pfeile, und als Asfandiar ihm auf seine
Bitte sein Gesicht zeigte, durchstach er seine Augen mit den Pfeilen. Der er-
blindete Held bat nun seinen Gegner, ihm ein Haus mit einer Säule in der Mitte
zu bauen; als er aber [wie Simson] diese ergriff und umriss, um so Rostam um-
zubringen, sprang Rostam durch die offene iür hinaus, während Asfandiar drinnen
sein Ende fand.
2. Rostam und Tsegal. Pamath Schah fordert Tsegal auf, seinen ihm
verhassten jüngeren Bruder Rostam umzubringen; er lässt daher eine Grube
graben, in der ein Spiess aufgerichtet wird, und diese mit Kraut bedecken. Auf
Tsegals Bitte reitet nun Rostam seinen Rachsi vor und stürzt in die Grube, so
dass der Spiess ihm das Herz durchbohrt; Rostam sieht sein Ende nahe und
bittet Tsegal um seinen Bogen, um sich vor den Vögeln zu schützen, und nagelt
mit einem Pfeilschuss den \errätei an den Bauin, ^ hinter dem er sich zu ver-
bergen sucht.
1) Der Erzähler ist Varâan Martirosiun, ein Lauchnann, der längere Zeit in Wan
lebte. Die Sage wird bei den Kurden an einigen Stellen gesungen.
422
Chalatianz :
3. Atambji und Diiro. Pamath Schah liess das Geschlecht Rostams ver-
tilgen; nur zwei schwangere Frauen vermochten sich zu retten, deren eine im
Gebirge, die andere zwischen den sieben Meeren Zuflucht suchte; der greise Zal
ward in eine Grube geworfen. Die erste Frau gebar den Düro, die zweite den
Atambji, zwei wahre Recken. Eines Tages kam Atambji in die Stadt des Pamath
Schah, wo er nach seiner Heldengestalt als ein Nachkomme Rostams erkannt
und zu Zal in die Grube geworfen wurde. Einst bat die Königstochter ihren
Yater, den Recken zu ihr zu schicken, sie wolle zur Rache für ihren Bruder
Asfandiar sein Blut trinken. Die Begleiter des Helden machten unterwegs halt
und schliefen ein; zufällig ging Düro vorbei, sah den gebundenen Pehlevanen und
erfuhr von ihm, wer er war; darauf erschlugen beide Brüder die Wächter und
kehrten zu ihren Müttern heim. Diese wiesen sie an Rostams treuen Vasallen
in Mesr, mit dessen Hilfe sie an Pamath Schah Rache nehmen könnten. Unter-
wegs begegneten die Brüder dem weissen, roten und schwarzen Div, Rostams
Dienern, und nahmen sie mit. Aus Mesr zurückkehrend, umzingelten die Helden
mit ihrem Heer die Stadt des Königs. Da legte die Königstochter Männerkleider
an, nahm ein Kästchen mit Arznei und ritt zum Kampfplatz. Sie forderte Atambji
auf, vor dem Kampfe an dem Kästchen zu riechen zum Beweise, dass er ihr
standhalten könne. Als der Held roch, verlor er das Bewusstsein, ward von der
Prinzessin entführt und in ein Zimmer eingesperrt. Durch eine Alte aus
Rostams Haus befreit, eilte der Recke wieder zum Kampfplatze, wo er die
Königstochter seinem Bruder gegenüber fand; mit einem Hieb warf er sie vom
Pferde auf die Erde und wollte ihr schon den Todesstreich versetzen, als er zwei
weisse Brüste erblickte. Dann tötete er den Pamath Schah, der sich im Meer zu
bergen suchte, erschlug sein ganzes Geschlecht und befreite Zal aus seiner
Grube.
4. Rostam und die Frauen.1)
Als Zals Sohn Rostam vom König von Spahan wegen seiner Heldentaten aus
dem Hause gestossen wird, begibt er sich in die Fremde; ihn begleitet seine
Mutter, die aber bald heimlich ein Liebesverhältnis mit einem Div anknüpft.
Dieser bewegt sie dazu, den Sohn hinterlistig zu binden, der dann vom Div ge-
tötet wird. Das treue Ross bringt den Leichnam seines Herren zu einem Alten,
der ihn mit Hilfe des 'lebenden Wassers und der Pflanzen' belebt, die einst Rostam
auf Wunsch seiner Mutter aus dem Garten des siebenköpfigen Div geholt und
die der weise Alte ihm entwendet hat. Rostam erschlägt die Mutter samt ihrem
Buhlen und tut das Gelübde, kein weibliches Wesen zu lieben, das mit roher
Milch ernährt sei. — Einem armen Manne, bei dem Rostam nachts einkehrt, wird
ein Mädchen geboren, das der Held mitnimmt und, als es erwachsen ist, heiratet.
Doch die Frau bleibt ihm nicht lange treu; durch einen Zauberspruch haucht sie
einen tiefen Schlaf von einem Monat auf ihn und begiebt sich zu ihrem Geliebten,
einem Div. Das zweite Mal aber schläft der Held nicht ein, sondern folgt, in das
Fell eines Hundes gehüllt, heimlich seiner Frau; er wird aber erkannt und von
dem Div gebunden. Nachts bittet Rostam seinen Sohn, ihm sein Schwert aus dem
1) Der Erzähler ist Davo Aruthünian. — [Diese drei Beispiele für die Treu-
losigkeit der Frauen sind auch sonst bekannt: a) die treulose Mutter (R- Köhler, Kl.
Sehr. 1, 303), b) der vom Buhler gefesselte und vom Sohne gerettete Mann (Liebrecht,
Zur Volkskunde S. 42. Oben 13, 149), c) der Buhler in der vom Manne getragenen Kiste
(Chauvin, ßibl. arabe 8, nr. 24: dazu oben 15, 229).]
Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag.
423
Hause zu holen, erschlägt den Div samt der Prau und kehrt mit dem Sohne
heim. — Unterwegs trifft er einen Mann mit Frau und Kindern, der schon sieben
Jahre eine grosse Kiste auf dem Rücken trägt. Beim Mahle sieht Rostam, wie
die Frau die Kiste heimlich aufmacht und schnell eine Schüssel voll Speise
hineintut. Rostam bietet der Frau die Hälfte seines Geldes, wenn sie die Kiste
•öffne; als sich die Frau weigert dies zu tun, zertrümmert er die Kiste mit einem
Fussstoss, und ein kräftiger Jüngling springt heraus. Sofort begreift der Mann
den Sachverhalt und erschlägt seine EVau samt ihrem Buhlen.
5. Bedjän.1)
Rostam lebte in der Stadt Qaqavuz mit seinem Neffen Bedjän. Einst erbot
sich dieser, den Dieb zu fangen, der mehrmals den Obstgarten einer alten Frau
verwüstete. Sein Begleiter Kiv, der sein Pferd halten sollte, ergriff die Flucht,
als er das Geschrei des nahenden Divs hörte, und rettete sich in eine Höhle, aus
der ihn Bedjän herausholte. Im Zweikampfe unterlag der Div, ward aber vom
Helden verschont und übergab zum Danke seinem Besieger, mit dem er sich ver-
brüderte, einen Büschel seiner Haare; wenn er in einer Notlage diese anzünde,
so werde er ihm zu Hilfe eilen.
Bedjän legte sich bei einer Quelle bei Spahan nieder und schlief ein. Da
ging die Königstochter Maxmaridjän mit ihren Dienerinnen vorüber und
schickte ein Mädchen "Wasser zu holen; dies wurde ohnmächtig, als es die
Schönheit des schlafenden Helden sah. Nun ging Maxmaridjan selbst hin und nahm,
von Liebe zum unbekannten Recken hingerissen, diesen mit sich. Als der König
das erfuhr, schickte er seine Pehlevanen, um Bedjän gefangen zu ihm zu bringen;
aber dieser erschlug sie und das ganze anrückende Heer. Am nächsten Tage
setzte er den Kampf fort und blieb Sieger. In Verzweiflung lud der König
den Helden zur Mahlzeit und fragte ihn, womit er besiegt werden könne. Als er
vernahm, dass nur das Haar des königlichen Rosses ihn bändigen könne, liess
der tückische Fürst ihn wie zum Scherze mit diesem Haar binden und gebot, ihm den
Kopf abzuhauen. Den Henkern tat jedoch der tapfere Recke leid, und sie warfen
ihn in eine Grube. Auch die Königstochter sollte sterben, doch ward sie ebenfalls
geschont und musste halbnackt umherziehen und durch Betteln Bedjän und sich
ernähren.
Rostam erfuhr von der Gefangennahme seines Neffen durch einen (in
persischer Sprache verfassten) Brief, den ihm einige 'weise' Leute von Maxmaridjan
überbrachten. Er verkleidete sich als Kaufmann und zog mit einer Karawane
aus. Auf dem Wege nach Spahan traf er 40 Divs, unter denen sich der 'Bruder'
Bedjäns befand; diese gaben ihm einen Büschel ihrer Haare mit der Aufforderung,
sie in der Not zu Hilfe zu rufen. In Spahan angekommen, bereitete Rostam ein
Mahl für das niedere Volk. Bedjän erkannte sofort das Essen, das ihm Maxma-
ridjan brachte; denn ei pflegte aies bei seinem Oheim zu essen. Rostam zündete
den Haarbüschel der Diven an und eilte zu der Grube, aus welcher der ein-
gesperrte Held von seinem Bruder-Div herausgezogen wurde. Die Stadt wurde
dem Boden gleich gemacht.
Auf dem Heimwege trafen sie den Kiv, den Bedjän im Zweikampfe mit seinem
Speere durchbohrte.
1) Erzählt von demselben Davo Aruthünian.
424 Chalatianz: Die iranische Heldensage bei den Armeniern, Nachtrag.
6. Sam.1)
Sam war der Sohn eines Königs. Einst sandte ein heidnischer Fürst sein
Ross Thurab zu seinem Vater mit der Aufforderung, er solle entweder es
bändigen oder ihm Tribut zahlen. Sam zäumte es und zog mit ihm auf die Jagd.
Eine Gazelle verfolgend, traf er in einer Höhle eine Alte, bei der er einkehrte;
von dem Bild einer Schönen, das er hier erblickte, entzückt, entschloss er sich
diese um jeden Preis zu erlangen. Die Alte riet ihm, er solle zuerst sie heiraten,.
dann werde er die Schöne finden; aber Sam wies dies Anerbieten voll Ekel zurück.
Auf den Rat der Alten befreite er einen Kaufmann von 40 Räubern, die sich ihm
sofort ergaben, als sie seinen Namen und den seines Rosses hörten. Die erneute
Aufforderung der plötzlich aufgetauchten Alten lehnte der Held wiederum ab und
schlug den Weg nach Cinimacin (China) ein, wie es ihm die Alte gebot, und er-
legte unterwegs einen Div, der ihm den Weg sperrte. Am Ziele angelangt, • warb
er um die Hand der Königstochter und erlangte auch des Königs Zustimmung;
allein die Mutter wollte ihre Tochter noch nicht fortgeben; um Sam zu verderben,
stellte sie sich krank und verlangte zu ihrer Heilung die Leber des schwarzen
Divs. Der Held gewann glücklich dies Heilmittel, nachdem er eine neue Auf-
forderung der Alten abgeschlagen hatte. Die Mutter verlangte nun, Sam solle den
Drachen töten, der seit sieben Jahren in der Nähe der Stadt hauste; und der Held
erlegte den Drachen. Er sollte endlich den 'Apfel der Unsterblichkeit' aus dem
Lande der sieben Divs für seine Schwiegermutter holen. Die Alte, obgleich von
Sam wieder zurückgewiesen, gab ihm einen Rat, durch den er den Zauberapfel
gewann. Als er sich der Stadt näherte, brachte ihm die Alte die Kunde, seine
Braut sei gestorben. Sam wurde ohnmächtig.
Inzwischen hatte ein Derwisch Sams Vater verheissen, seinen vermissten
Sohn ausfindig zu machen. Mit Hilfe eines Divs, des treuen Dieners des Helden,
gelangte er zu der Stelle, wo dieser noch bewusstlos lag. Die herannahende
Gefahr ahnend, brachte die Alte den Helden wieder zum Bewusstsein und gestand
ihm, die Königstochter sei noch am Leben. Sam entführte gewaltsam seine Braut
und kehrte mit dem Derwisch heim. Als er die erneute Aufforderung der wieder
aufgetauchten Alten zurückwies, verwandelte diese sich und die Königstochter in
Tauben und flog mit ihr fort. Um seine Braut wiederzufinden, sollte der Held in
eisernen Schuhen und einen eisernen Stock in der Hand die Welt durchwandern.2)
Eines Tages legte er sich ermüdet bei einer Quelle nieder; da erschienen zwei
Tauben, und er hörte die Stimme der Alten fragen, ob er sie jetzt heiraten wolle.
Sam versprach es und sah plötzlich zwei schöne Jungfrauen vor sich, die er
nicht von einander unterscheiden konnte.. Er heiratete beide und führte sie mit
sich heim.
Leipzig.
1) Der Erzähler heisst Sachó.
2) [Vgl. R. Köhler, Kl. Schriften 1, 316. 573. ]
(Schluss folgt.)
Boite: Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
425
Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
Yon Johannes ßolte.
Da es mir zweifelhaft ist, ob ich bald zur Ausführung einer lange
geplanten Übersicht über die volkstümliche Bilderdichtung der älteren
Zeit gelangen werde, möchte ich einige Stücke, die mir der Beachtung-
wert erscheinen, lieber schon jetzt den Lesern dieser Zeitschrift vor-
legen.1) Leider ist es aus äusseren Gründen nicht möglich, jedesmal der
Bildbeschreibung auch eine Reproduktion beizugeben. Sehr erwünscht
wäre es, dass die Bestände unserer öffentlichen Bibliotheken und Museen an
solchen Bilderdichtungen durch einen nicht bloss kunstgeschichtlich, sondern
auch literarhistorisch geschulten Fachmann aufgenommen würden.
1. Die Hasen braten den Jäger.
Im Epilog der Flöhhaz (1573) zählt Fischart2), um die Daseins-
berechtigung dieses Werkchens zu erweisen, eine Reihe von Dichtungen
auf, die gleichfalls geringfügige Stoffe behandeln:
Wer sieht nicht, was für seltzam streit
Ynser Brieffmaler malen heut,
85 Da sie führen zu Feld die Katzen
Wider die Hund, Mäuß vnd die Ratzen?
Wer hat die Hasen nicht gesähen,
Wie Jäger sie am Spiß vmbdrähen,
Oder wie wunderbar die Affen
1) Früher veröffentlichte ich: Niederländische Bilderbogen des 16. Jahrhunderts
(Tijdschrift voor nederl. Taal-en Letterkunde 14, 119 15.»). Bildergedichte des 17. Jahr-
hunderts gesammelt von C. Wendeler (oben 15, 27—45. 150—165). — Bigorne und
Chicheface (Archiv f. neuere Sprachen 106, 1—18. 114, 80 86). Ä-erftand (Jahrbuch
d^r Shakespearegesellschaft 29, 9 — 27. 90f. Zs. 1. vgl. Litgesch. 9, <3 — 88). — Neidhart
(oben 15, 14-27). — Doctor Siemann und Dr. Kolbmann (oben 12, 296—307). — Zum
Märchen vom Bauern und Teufel (oben 8, 21 25. 115 261). Altweibermühle (Archiv f.
neuere Spr. 102, 241 - 253). — Zwei böhmische Flugblätter des 16. Jahrh. (Archiv f.
slawische Phil. 18, 126-137). — Zwei Bildergedichte von Moscherosch (Jahrbuch f. Gesch.
Elsass-Lothringens 13, 165—170. 21, 159 f.). — Die beiden Nebenbuhler zu Colmar (ebd.
21, 156-159). — Zwei Flugblätter von den sieben Schwaben (oben 4, 430—437). —
Gedichte auf den Pfennig (Zs. f. dtsch. Altert. 48, 13—56). — Zwei Bilderbogen aus der
Reformationszeit (Alemannia 25, 88 — 91). — Ein Augsburger Flugblatt auf den Frieden
zu Rastatt (ebd. n. F. 7, 289-291). — Soldatensegen (Frey, Gartengesellschaft 1896
S. 184: vgl. G. Liebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit 1899 S. 97. Alemannia
11, 211. Zs. f. öst. Yk. 271). — Der Kiieg zwischen Katzen und Hunden (Montanus,
Schwankbücher 1899 S. 487). — Zwei Bilderbogen M. Lindeners (ebd. S. 636). — Satiren
auf verschiedene Stände (Wicktam, Werke 5, LXXXVI).
2) J. Fischart, Der Flöhhaz, Abdruck der 1. Ausgabe von C. Wendeler 1877 S. 67.
Nach der 2. Ausgabe von 1577 in Fischarts Werken ed. Hauffen 1, 128 (1895).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 9g
426
Boite :
90 Des Buttenkrämers kram begaffen?
Vnd audre Prillen vnd sonst grillen,
Darmit heut fast das Land erfüllen
Die Brieffmaler vnd Patronierer,
Die Laßbriefftrager vnd Hausierer?
Unter diesen drei Bilderbogen1) scheint der zweite das von Hans
Sachs 1550 verfasste und auf einem illustrierten Folioblatte veröffent-
lichte Gedicht 'Die hasen fangen vnd praten den jeger'") zu bezeichnen.
Indes ist der Gegenstand schon vor Hans Sachs vielfach bildlich dar-
gestellt worden. Auf Tonfliesen und Miniaturen des 13. bis 15. Jahrh.
erscheint der Hase, hornblasend auf den Jäger Jagd machend oder einen
gefesselten Hund zum Galgen fahrend.3) Ein von den Hasen am Spiesse
gebratener Jäger figuriert seit Beginn des 16. Jahrh. in verschiedenen
durch die Nürnberger Künstler Nicolaus, Albrecht und Georg Glockendon
illustrierten Gebetbüchern4); Cranach malte 1549 'ein Tuch, da die Hasen
die Jäger fahen und braten'; Virgil Solis zeichnete denselben Gegenstand
und auch Hirsche, die dem Jäger nachsetzen, mit der Inschrift: 'Alle ding
verkhert sich' (Passavant 586); Konrad Saldörfer Hunde, die von Hasen
geritten werden.5) Besonders ausführlich behandelten diesen Stoff die
Fassadenmalereien eines Wiener Hauses, das von Maximilian I. 1509
dem Haspelmeister Friedrich Jäger verliehen ward und, nach einem Brande
um 1555 erneuert, bis zum Jahre 1749 stand.6) Nach den erhaltenen
Zeichnungen war auf 32 Feldern dargestellt, wie der auf seinem Throne
sitzende König der Hasen den Befehl zur Verfolgung der Jäger und
Hunde erteilt, wie eine Schlacht geliefert wird, die Gefangenen von den
siegreichen Hasen heimgeführt werden und den Hasenkönig um ihr Leben
1) Über den Streit zwischen Katzen und Hunden vgl. Montanus, Scñwankbücher 1899
S. 487. 568; über den Krämer mit den Affen H. Sachs, Fabeln und Schwanke ed. Goetze
2, 68 nr. 220. Meissner, Archiv f. neuere Spr. 58, 242. 251. 65, 217. Maeterlinck, Le
genre satirique dans la peinture flamande 1907 p. 165. 242. 312. D'Allemagne, Les cartes
à jouer 1, 57 (1906).
2) H. Sachs, Fabeln ed. Goetze 1, 346 nr. 128. Mit dem Bilde abgedruckt in
Scheibles Kloster 1, 408 (1846).
3) Ygl. oben 15, 158f. Maeterlinck, Le genre satirique 1907 p. 45—47. 63. Wander,
Sprichwörterlexikon 2, 375: 'Der Hase würde eher den Hund jagen'. Bergner, Handbuch
der kirchlichen Kunstaltertümer 1905 S. 572.
4) Gebetbuch des Kurfürsten Albrecht von Mainz 1524 in Aschaffenburg, Herzog
Wilhelms IV. von Bayern 1535 Bl. 54b in Wien, Missale von 1542 Bl. 76 auf der Nürn-
berger Stadtbibliothek (Waagen, Kunstwerke in Deutschland 1, 382. Waagen, Kunst-
denkmäler in Wien 2, 22. Bredt, Zs. f. Bücherfreunde 6, 484). Messbuch in Pest
(Wattenbaeh, Archiv f. österr. Geschichte 42, 513 und Schriftwesen im Mittelalter3 1S96
S. 372 *). Anzeiger i- K. der d Vorzeit 1857, 217 Taf. 6 (Spielkarte) = D'Allemagne, Les
cartes 1, 44. Notes & Queries 4. ser. 7, 259. 352. 8, 137 (Bilder in England).
5) C. Schuchardt, L. Cranach 1, 193 (1851). A. Bartsch, Peintre-graveur 9, 279
nr. 271 und Nagler, Künstlerlexikon 17, 18. Andresen, Peintre-graveur 2, 16. Lichten-
berg, Über den Humor bei den deutschen Kupferstechern 1897 S. 85. Gericht der Tiere
über den Jäger, grosser Kupferstich von P. Nolpe (Weller, Annalen 2, 490).
6) Leisching, Das Wiener Hasenhaus (Zs. f. bildende Kunst n. F. 4, 135 — 139. 1893).
Baechtold, Georg Königs Wiener Reise, Progr. 1875.
Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
427
anflehen, dann der Prozess, die Folterung, Hinrichtung, das Schlachten,
Hängen und Braten der gefangenen Jäger und Hunde, endlich das Fest-
mahl und die Faschingsfreude der Hasen. Wie diese Motive später in
den Zyklus der 'verkehrten Welt' aufgenommen und immer wiederholt
wurden, ist oben 15, 158 angedeutet worden.1)
Auf dem hier abgedruckten Folioblatte aus der Mitte des 16. Jahr-
hunderts, das im Sammelbande 2, 205 des Herzoglichen Museums zu
Gotha erhalten ist, mischt sich noch eine Satire auf die Geistlichen ein,
die allein neben den Jägern bildlich vorgeführt werden, obwohl der Text
auch über Adlige, Bauern und Handwerker Klage führt.
On vrsach wir keyn Jeger praten;
Wir kôndens lenger nit geraten,
Wann solchen hochmut sy mit vns treyben,
Daß schier keyn haß im land kann pleyben
6 Aull dem feld vnd in dem wald,
Wie eben er sich gleych verhalt,
Es sey in standen oder hecken,
So hilfft vns yetzundt keyn verstecken.
Vns jagt der Adel nit allayn,
io Es ist yetzundt eyn gantze gemayn.
Die pawren jagen in dem Schnee,
Der Adel hatt keyn vorteyl mee;
Wann er dem wilprett lang nach laufft,
So hatt es der pawer heymlich verkaufft.
is Die pfaffen vnd die Nunnendrucker
Machen sich auch also mucker
Vnd wôllen sich jagens vndterstan,
Deßgleychen mancher handtwercks man
Wôln vns vnd vnser kynder fressen.
2o Darumb so han wir vns vermessen,
Solchen knaben nach zu deychen;
Vnd wenn wir denn eynen. erschleychen,
So muß ers zalen mit der hawt,
Wiewol mans vns nit vertrawt.
1) Etwas anderes ist es, wenn auf einem englischen Bilde Hase und Hahn den
Koch braten (Ashton, Chap-books of the 18. century 1882 p. 268) oder auf einem von
M. v. Schwind gezeichneten Münchner Bilderbogen die Tiere trauernd Jäger zu
Grabe geleiten oder auf einem Nürnberger Kupferstich 'Der Thier und Jäger Krieg'
('Alles ist nun umbgekehret, was man fast sieht in der Welt' . . . Nürnberg, Paulus
Fürst 1652. Im Germanischen Museum zu Nürnberg) die Tiere eine Stadt der Menschen
belagern. — Hie letztere Vorstellung kehrt übrigens ähnlich auf einem anderen Kupfer-
stiche desselben Verlages 'Der Mäus und Katzen Krieg' ('Nach dem das Katzen Volck
viel Batzen-Blut vergossen' . . . Nürnberg, P. Fürst. Ebendort. Benutzt ist die Fabel:
Der Katze eine Schelle anhängen) wieder. Die Katze von Mäusen gefesselt oder be-
graben: Eovinskij, Russkija narodnija kartinki, Atlas 1, 166-170 (1881) und Zs. f. Bücher-
freunde 5, 177. Jaime, Musée de la caricature 15 162 cl (1838). A. Labórele, Reise in
Spanien 3, 180 (1811: Tarragona). Archiv f. n. Sprachen 64, 10. 65, 214. 217.
28*
428
Boite:
[Holzschnitt: In der Mitte sieht man die Hasen einen Jäger und einen Hund
braten; links wird ein Jäger an einem Bauine emporgezogen, rechts drei gefangene Hunde
von Hasen geleitet. Im Hintergrunde führen zwei Hasen einen Mönch, zwei andere einen.
Geistlichen weg. Im Bilde steht über dem Mönche:
Ich het nit gemaint, das du hettest gegagt,
Es ist noth var was man sagt.]
Du alter schalck Hans Kutzel or,
Du hast gejaget manches jar
Vnd vnnser eitern vil gefangen,
Drumb so mustn yetzundt hangen.
Die liund, die wir gefangen han,
Die hand auch groß schult daran;
"Wann sy nit spürten vnd hiilffen jagen.
So weren wir jagens offt vertragen.
2. Die Gänse hängen den Fuchs.
Das Motiv dieses im Sammelbande 2, 206 des Gothaer Museums
erhaltenen Querfolioblattes aus dem 16. Jahrh., der durch Gänse auf-
gehängte Fuchs, ist mit Nr. 1 verwandt. Es begegnet uns bereits
an einem Chorstuhl zu Sherbone (Wright, Histoire de la caricature 1875
p. 84), in anderen mittelalterlichen Kirchen1) und in Georg Glockendons
Missale v. J. 1542 (Zs. f. Bücherfreunde 6, 486). Als etwas Undenkbares,
Unmögliches erwähnt Rosenplüt (Keller, Fastnachtspiele 1, 299; vgl. Alte
gute Schwänke S. 17. 32) die Zeit, 'wenn die gans ein wolf wirt jagen'.
Wer gern Leügt, nascht vnd stilt,
Stetz müssig get, bult vnd spilt,
Zuletzt der Meister im vergilt.
[Ho lzschnitt mit dem Monogramm G P (ähnlich Nagler, Monogrammisten 3, Nr. 2908,.
auch Nr. 234. 235. 238. 242) und der Jahreszahl 1544. Rechts unten packen drei Gänse
einen Fuchs, links führen sie ihn zu einem Baum, an dem schon drei Füchse hängen.
Im Hintergrunde tragen ein Fuchs und ein Wolf, auf den Hinterbeinen laufend, mehrere
Gänse davon, während ein Fuchs sieben mit den Hälsen zusammengebundene Gänse auf
einem Kahne übers Wasser fährt2).]
Herr Fuchs, seyt keck vnd habt gedult,
Ir habt den todt doch wol verschult.
Dort oben hangt ewr vater auch,
Der fraß vil Genß in seinen bauch.
5 'Wolan, seyt ich denn ye muß hangen
Vnd kan kein gnad bey euch erlangen,
go gebt den Wolfen auch solchen Ion,
Die teglich grössern schaden thun!'
1) Meissner, Archiv f- Sprachen 56, 278f. 58, 248. 65, 216. 226.
2) Ygl. K. Saldörfer bei Nagler, Monogrammisten 2, 266 nr. 14.
Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
429
Euch Soll gedeyen geleycher Ion
io Wann yr hawt geleychen schaden dun
An enten, huner, gens, han vnd hennen,
Schmaltz, kes vn[d] ejr: wer kanß als nennen?
'0 lieben genß, frischt mir mein leben!
Ich will mich euch gefangen geben
is Vnd schwören einen thewren aid,
Kainer ganß hinfuren zu thun kein layd.'
Schweyg nur still, ich kenn dich wol.
Vertraw ich dir, so bin ich vol;
Du bist ein solcher falscher tropft',
2o Du schwürst ein ayd vmb ein genß kopff.
3. Der Fuchs predigt den Gänsen.
Ein mittelalterlicher Scherz, dem erst später eine gegen die Geistlich-
keit gerichtete satirische Tendenz untergelegt wurde, ist die auf kirch-
lichen Stein- und Holzreliefs wie auf Gemälden1) so häufig dargestellte
Predigt des Fuchses vor einer Schar von Gänsen, Hühnern oder Enten.
Bisweilen erscheint statt des Fuchses auch der "Wolf, wie z. B. an dem
Wiener Hause 'Wo der Wolf den Gänsen predigt', auf dem Friese zu
Schwärzloch, in der Kirche zu Pforzheim und auf dem unten als Nr. 4
folgenden Blatte.2) Im Reformationszeitalter las man daraus eine anti-
katholische Polemik heraus; so Flacius, der im Catalogus testium veri-
tatis 1556 S. 677 eine Fuldaer Aesophandschrift erwähnt mit Bildern des
den Schafen predigenden Wolfes und der den Mäusen predigenden Katze,
so Fischart, Joh. Wolf und Wolfhart Spangenberg.3) Daneben lebt aber
die alte, harmlose Freude an dem Tiermärchen weiter fort. Das Lied
vom neuen Schlauraffenland (bei Uhland nr. 241, 8) berichtet unter den
unmöglichen Dingen: 'Da gingen die gens in kirchen, predigt in der
Fuchs'; die Unterschrift eines 1760 angefertigten Strassburger Gemäldes,
das einen Fuchs auf der Kanzel den heranschwimmenden Enten predigend
1) Otte, Handbuch der kirchlichen KunstarchäologieJ 1, 495 (Brandenburg, Wismar,
Lübeck, Ebstorf). Kraus, Geschichte der christl. Kunst 2, 411. Wright, Histoire de la
caricature 1875 p. 73 f. Champfleury, Histoire de la caricature au moyen-âge2 1876
p. 146. 152. 156. Langlois, Stalles de la cathédrale de Rouen 1838 p. 159 pl. 13. Waagen,
Kunstdenkmäler in Wien 2, 22 (Gebetbuch des Herzogs Wilhelm IY. von Bayern 1535
Bl. 24 a). Meissner, Archiv f. neuere Sprachen 56, 276. 279. 58, 248. 254. 65, 211. 218 f.
221. 226. 229. E. aus'm Weerth, Kunstdenkmäler in den Rheinlanden 2, 18 Taf. 23.
Bergner, Kirchl. Kunstaltertümer S. 571. Annalen f. nassau. Altertumskunde 19, 71.
2) W. Spangenberg, Dichtungen 1887 ö. 116 (Ganskönig 1607). Uhland, Schriften
3, 326. Wander, Sprichwörterlexikon 5, 368: 'Wenn der Wolf den Gänsen predigt, so ist
der Kragen sein Lehrgeld'. Meissner, Archiv f. neuere Spr. 56, 273.
3) Fischart, Die Gelehrten die Verkehrten v. 636 (2, 348 ed. Kurz): 'Der Fuchs kan
auch den Gänsen predigen'. Wolfius, Lectiones memorabiles 2, 908 (1600). Grimm,
Reinhart Fuchs 1834 S. CXCII. —- Hasen predigen den Löwen: Becker, Holzschnitte
alter Meister 2 (1810), D 21. Lichtenberg, Humor 1897 S. 84. Waldis, Esopus 4, 96.
430
Boite:
zeigt, warnt nur allgemein vor der List des Fuchsesx), ganz im Sinne des
Sprichwortes: 'AVenn der Fuchs predigt, so hüte der Gänse!' (Wanderl, 1252).
Und auch unser Gedicht, das ich einem Querfolioblatt des 16. Jahr-
hunderts im Sammelbande 2, 178 des Gothaer Museums entnehme, schildert
in ähnlicher Weise die Hoffart der Gans und die Tücke des Fuchses.
Den weiteren Zug, dass Fuchs und Wolf den Gänsen etwas vorsingen,
finden wir noch bei K. Saldörfer (Andresen, Peintre-graveur 2, 17.
Passavant 4, 209) bildlich vorgeführt. Ironisch redet man ja auch sonst
vom Wolfsgesange.2) Der 'Keuterton', den der Wolf und seine Genossen
anstimmen, ist vom Verfasser des Flugblattes ziemlich unvollkommen
nachgeahmt; zwar stimmt die Yerszahl bis auf eine hinter Y. 53 fehlende
Zeile zu der neunzeiligen Melodie bei Böhme (Altdeutsches Liederbuch
nr. 426. Erk-Böhme, Liederhort nr. 1292), aber Silbenzahl und Reim-
stellung weichen ab.
[Holzschnitt: Oben links predigt der Fuchs den Gänsen; rechts lehren Wolf und
Fuchs Gänse, Hühner und Storch Chor singen. Unten turnieren Hahn und Gans, auf
Fuchs und Wolf sitzend, daneben zwei Hunde als Kampfwärter.]
Von dem vberfliissigen gepreng vnd hochfart der Genß.
Die Ganß spricht.
Ich byn ein Ganß nach meiner art, Mit Pater noster, mantel, schauben, i»
Doch dringet mich die hoffart. Auff das man mir last nach thet plicken
Wenn ich komm in die kirchen gangen Vnd ich yü äffen möcht verstricken.
Mit grosser zir, hoffart vnd prangen, Das were mein lust, frewd vnd beger
5 Gar kleyn ist die andacht meyn, Darumb so prang ich köstlich her,
Sonder möcht ich die schönst seyn Wiewol Helena durch yr prangen is
Für ander all in dem geschmuck Ward von Paris gewaltig gefangen
Vnd sie fürtreff in allem stuck Vnd weg gefurt in frembde landt:
Mit schlayer, goller, ketten, hauben, Hochfart bracht sie in laster, schandt.
Der Fuchß spricht.
Fraw Ganß, ich trit feyn leyß hin nach
20 Vnd kan euch helffen zìi der sach.
Auff alle ort byn ich geliert,
Wie gaucklers würffei abgeriert,
Kan euch die federn wol abklauben.
Vielleicht wird mir ein rauche schauben,
1) Mündel, Alemannia 9; 237 (vgl. Gérard, L'ancien Alsace à table 1862 p. 63):
Der Fuchs den Enden predigen thut,
Als meinet Ers mit ihnen gut,.
Er singt I Ihnen ein so Schön gesang,
Bis er Sie am Kragen faug;
Er schmeichelt I Ihn mit seinen Schwanz
Bis er sie fier an den Thantz.
Vnd wer den | Fuchs Schwantz streichen kan,
Der ist belibt bey Jedermann.
Darum Ne | met Euch wohl in acht!
Fuchs Schwänzen hat manchen in Leid bracht,
Vnd ist geschehen in diesem Jahr
1760, als der Fuchs hev den Enden war.
2) Wackernagel, Voces variae animantium 1869 S. 751
Bilderbogen des Í6. und 17. Jahrhunderts. 431
25 Eyn new par Stiffel vnd Pantoffel.
Ich hilff euch machen vil gynlöffel.
Wies ein end neme, laß ich euch sorgen,
Bin hewt bey euch, beym andern morgen.
Darumb schaw ich nur auff mein schantz,
3o Laß euch tretten an Affen tantz,
Bis euch eins mais der wolff erschnapt
Ynd bald mit euch den wald eyntrapt.
Alßdann so trab ich auch meyn straß,
Bin nit als trew, wie Prangel1) was
35 Fraw Isalden mit leyb, gut, ehr;
Der selben megd lebt keyne mehr.
Was des Wolffs, Fuchs, Hundts, vnd Storchß gesang ist.
Der Wolff spricht.
Ich sing hie in dem Reûtter thon, Das die bäum schreyen mordio,
Im stegreyff ich mich neren kan, Biß mich die Bawren kummen an,
Wo ich vmbtrab in dicken weiden; Erschlagen mich; das ist mein Ion,
40 In Märckt, Stedte kumb ich seiden, So gschicht manchem guten Compan. 45
Sonder haw holtz im wald also,
Der Fuchs spricht.
Herr Doctor Wolff, ich han vil list, Geben sies nicht, so nymb ich selb, so
Ich sing auch mit zu aller frist. Trag das zu hauff in holes gewelb.
Die Bawren müssen mir geben zinst Zuletzt mich der Hundt hyn rieht,
Hüner, genß, entten auff das minst. Denn hilfft mein schätz mir nichts nicht
Der Hund spricht.
Herr Doctor Wolff, ich bin der dritt,
55 Im Reutters thon sing ich auch mit.
Ich reyß vnd peyß mich vmb ein peyn
Ynd will all ding haben alleyn.
Ich schmeck vnd spür auff alle ort,
Das mir nichts entlauff hie vnd dort
so Es gschech mit recht oder vnrecht,
Bis mich der schelm[en]schinder schlecht.
Solch Ion der Nagenranfft empfecht.
Der Storch spricht.
Herr Doctor Wolff, ich bin der vierdt, Den Frawen kan ich hendt abschlahen,
Der Reutters thon wirt wol quintiert. Das jn strümpff an der gürtel hahen,
6} Ich kan gar maysterlich zwacken Vnd greyff zu heymlich frue vn(^ sPat,
Die Frosch vnd Attern aus den lacken. Biß mich der . . . 70
4. 'Der Wolff den Gänssen Predigt'-
[Kupferstich des 17. Jahrh. in Folio. I). Funck Excudit. 30x22,5cm. Auf einer
im Freien errichteten Kanzel steht der Wolf un<i predigt den um ihn versammelten
Gänsen; zwei hat er bereits an den Hälsen gepackt und zu sich gezogen.] — (Berlin,
Kgl. Bibliothek).
1) Bei Gottfried von Strassburg Brangäne.
432
Boite:
Gleich wie der Wolff, wenn er sich gleich erhöhet
Und auf dem Stul als wie ein Rabbi stehet,
Der Lehren wil das arme gänßgeschlecht,
Daß man vermeint, er were schlecht und recht,
5 Doch gleichwol tracht zum raube zu gelangen
Und eine nach der andern pflegt zu fangen:
So ist die art der falschgesinnten Leute,
Die lauren stäts auf eine gute beiite
Und geben doch die beste reden für,
10 Daß einer Eid und Seele für sie schwür.
Wer aber traut, wird ihre Pfaten [!] fühlen,
Die wie der Wolff mit feisten gänsen spielen.
5. Sechzehn Eigenschaften eines schönen Pferdes.
'Welches ist das schönste Tier auf der Welt?' fragt im Buche
Sidrach1), jener um 1243 entstandenen und bis ins 16. Jahrhundert in
Frankreich, Italien, England und Niederland vielgelesenen Kompilation
mittelalterlichen Wissens, der König den Weisen, und dieser nennt das
Pferd als das schönste und stärkste Tier, durch das man Ehre und Herr-
schaft gewinne. Das schönste Pferd aber, fährt Sidrach2) auf eine neue
Frage des Königs fort, muss vier lange, vier breite und vier kurze Dinge
haben: langen Hals, Beine, Rückgrat und Schwanzhaare, breite Brust,
Kreuz, Maul und Nüstern, kurze Gelenke [?], Rücken, Ohren und Schwanz-
knochen, dazu grosse Augen. Diese Gruppierung der Kennzeichen der
Schönheit erinnert an die mittelalterlichen Definitionen einer schönen
Frau, über die Reinhold Köhler (Kl. Schriften 3, 22) gründlich gehandelt
hat. Es gibt aber auch andere Schönheitskataloge für Pferde, in denen
ihre Eigenschaften denen anderer Tiere gleichgesetzt werden. Der kaiser-
liche Stallmeister L. v. C. berichtet in seiner 'Ritterlichen Reutterkunst'
(Frankfurt a. M. 1584 Bl. 4b), vor alten Zeiten sei ein gemeines Sprich-
wort entstanden, dass die fürnehmsten Tugenden eines Pferdes von dreien
Tieren, nämlich von Wolf, Fuchs und Frau hergenommen seien und dass
jedwedes Ross haben müsse 'vom Wolff die Augen vnd Gesicht, die
fressigkeit, die sterke deß Rückens, vom Fuchsen gerade, kurtze vnd
spitzige Ohren, langen vnd dicken Schwantz vnd ein sanfften gang oder
trab, von der Frauwen die hochfahrt schöne Brust, glatte vnnd zierliche
Moni, Haar vnnd gestalt deß Leibs vnnd lassen gern auffsitzen'.3) Ähnlich
1) Il libro di Sidrach pubbl. da A. Bartoli 1868 cap. 367. Das Buch Sidrach (mnd.)
hsg. von Jellinghaus 1904 cap. 35i>
2) Sidrach ed. Bartoli cap. 3(59 un¿ p_ XXII (französisch). Im niederdeutschen
Texte fehlt dies Kapitel. Im französischen Sydrac cap. 444 (Romania 13, 536). — Ebenso
in den Novelle antiche ed. Biagi 1880 nr. 96
3) Ebenso J. Camerarius, De tractandis equis s. itzjioxo/luxôç (Tubingae 1539) Bl. 28a =
€aracciolo, La gloria del cavallo (Venezia 1589) p. 168 und Joh. Coleras, Oecoiiomia
Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
433
verlangt das um 1505 gedruckte Strassburger Rätselbuch1), dass ein gutes
Pferd zehn Eigenschaften habe, zwei vom Hasen (das es schnell sey,
bald lauff; das es thetig sey leichtlich im lauffen uff all Seiten und, wo
not ist, sich zu winden), zwei vom Fuchs (das es ciar äugen und ein
gut gesicht hab, die ander ein feinen schwantz), zwei vom Wolf (das es
woll essen mag und das es sanfft trab), zwei vom Esel (das es gut starck
hiifft hab und das hör nit fallen loss), zwei von der Frau (das es hoffertig
sey, ein stoltzen freyen gang hab, die ander das es tugendhafftig und
gehorsam sey). Nach einer französischen Regel2) soll das Pferd 15 Eigen-
schaften nach Jungfrau, Fuchs, Hirsch, Esel, Rind, nach einer englischen3)
ebenfalls 15 'propertyes and condicions' haben, je drei vom Mann, Weib,
Fuchs, Hasen und Esel; nach einer deutschen Aufzeichnung aus der Mitte
des 17. Jahrhunderts4) muss ein Ross 15 Tugenden besitzen, je drei vom
Wolf, Esel, Hasen, Jungfrau und Fuchs. Zu dieser letzten Liste fügt eine
holländische5) noch drei Schönheiten des Pfauen, während ein lateinisches
Epigramm von Celtes6) dem Hirsch, Eber, Widder, Esel, Fuchs und der
Frau je drei Eigenschaften entlehnt:
Cervus, aper, vervex, asinus, vulpes mulierque,
Bis tribus his notus fit generosus equus.
Sit caput argutum, cervix elata pedesque
Aerei et graciles: haec tria cervus habet.
5 Hirtus sit pila spumetque per ora sonora,
Sicut aper celeri devoret ore cibum.
Sitque iunctura brevis oculique patentes,
Costaque sit ventris maxima sicut ovis.
Par sit vox asino durumque in corpore tergum,
io Sit brevis et coeat ungula tota teres.
ruralis 1665 Bl. 327 a. Nach einer von W. Gregor (Folklore Journal 2, 106. 1881) mit-
geteilten schottischen Regel soll ein gutes Pferd diei Eigenschaften vom Fuchs (deep-
ribbit, straight-backit, bushy-tailt), drei vom Hasen (clean-limbt, quick-eet, prick-luggit)
und drei von der Frau haben (weel-hippit, weel-breastit, easy-mountit).
1) Hsg. von Butsch 1876 nr. 135. Ebenso Camerarius 1539 Bl. 28 a (lepus, vulpes,
lupus, asinus, mulier), der noch eine dritte Liste \on je zwei Eigenschaften vom Fisch lupus,
anguilla, serpens, leo, femina, felis anführt. Dem letzteren Verzeichnis fügt Caracciolo
1589 p. 168 noch Fuchs und Rind bei und zitiert zwei Ottaven Luigi Pulcis.
2) Montaiglon, Recueil de poésies françoises 6, 198 (1857). — Aus dem Munde eines
picardischen Pferdehändlers stammen 'Les qualités d'une bonne jument' (zwei vom
Rind, drei vom Hirsch, zwei vom Fuchs, vier von der Frau) in der Revue des trad. pop.
1, 277 (1886).
3) Wright & Halliwell, Reliquiae antiquae 1, 232 (1842).
4) Memorial des Zacharias Bünngier von St. Gallen (Handschrift Md 458 der Tübinger
Universitätsbibliothek).
5) Koddige en ernstige Opschriften 1, 227 [falsche Seitenzahl statt 245], Amsterdam
1690. G. J. Meijer, Oude nederl. Spreuken en Spreekwoorden 183(> S. 105.
6) Konrad Celtes, Epigramme hsg. von Hartfelder 1881 S. 57 (III, 42): 'De XXIV [?]
bonis proprietatibus equorum'. — Caspar Reuschlein (HipPiatri^ Strassburg 1593, S. 2)
führt zehn 'Vergleichungen der Pferde' mit anderen Tieren an: Hirsch, Fuchs, ungarischer
Ochse und Ziegenbock, Schwan, Kamel, Esel, abermal Hirsch, Löwe, Jungfrau, Elefant
Ebenso nach Jahns (Ross und Reiter 1, 52) Albrecht von Constantinopel (Hippopronia 1612).
434
Boite :
Inde aures acuet, molli et vestigia gressu
Explicet, ut vulpis longaque cauda fluat.
Protuberans pectus, clunes ceu femina gestet,
Suscipiantque suum terga libens [!] dominum;
15 Qua sine dote unquam nullus Jaudabitur, et qui
Vincat Amyclaeum Bucephalumque ferum.
In diese Gesellschaft gehört auch unser 1618 gedruckter Bilderbogen,
der gleich dem Strassburger Rätselbuch vier Tiere (Hase, Fuchs, Wolf,
Esel) und die Frau zur Yergleichung heranzieht, aber mehr und andere
Besonderheiten anführt. Der Kupferstecher freilich hat sich damit begnügt,
dem Pferde jene vier Tiere beizugesellen1). — Nebenher bemerke ich noch,
dass sich einige Dichtungen auf eine Parallele von Pferd und Weib be-
schränken; eine 'Comparaison de la femme au cheval' steht in Le cabinet
satyrique 1, 220 (1667), Theobald Hock (Schönes Blumenfeld 1601 cap. 69;
Neudruck 1899) legt dar, dass 'Ein schöne Fraw vnd ein schönes Pferdt
sollen in vier stucken gleich sein', und der Altenburger Burgvogt Georg
Kiemsee hetzt diesen Vergleich in einem langen und langweiligen Reim-
werke2), das zugleich eine grobe Schmähschrift auf die Weiber darstellt,
zu Tode. Er zählt 11 Stücke auf (Kopf, Augen, Ohren, Mähne, Brust,
Jugend, Gesundheit, Gang, Gehorsam, Besteigbarkeit, Zaum) und flicht
allerlei Exkurse über Frauenmoden, Hausmägde u. dgl. und breit vor-
getragene Historien ein: vom umgetragenen Heiltum, von den neun
Häuten der Weiber (oben 11, 257), von Hans Sachsens Gedicht vom Hausrat,
vom Weib im Brunnen, Semirarnis, Tullia, Rosimunda, der Matrone von
Ephesus u. a.
Kutzer [sie!] vnnd eigentliche Beschreibung deren 16 Eygenschafften, | welcher ein
schön vnd wol proportioniertes Pferdt an sich haben sol. | [Kupferstich: 18,6x28,2 cm.
Ein Kähmen enthält ein kreisrundes Hauptbild (Pferd in Waldlandschaft) und vier runde
Nebenbilder: a) ein Hase. Umschrift: 1. Der Haas läufft schnei, 2. Springt leichtfertig,
Vnd zum 3. Wirfí't sich kurtz herumb. — b) ein Fuchs. Umschrift: 1. Der Fuchs hat ein
kleinen kopff, 2. Kurtze Ohren, Ynd zum 3. ein grossen schwantz. — c) ein Wolf. Um-
schrift: Der Wolff hat 1. ein scharff gesicht, 2. Ein gut gebiss, Ynd zum 3. harte haar. —
d) ein Esel. Umschrift: Der Esel hat 1. ein starcken Rücken, 2. Starcke huef, Ynd zum
3. gute Füss. — Darauf folgt der Text in vier Spalten.] Gedruckt im Jahr 1618. —
(Wolfenbüttel). Zitiert in Wellers Annalen 2, 477 nr. 989.
1) Ygl. die 'Fürbildung eines gantz vnmangelhafften Pferds' (90 Verse) bei G. Liebe,
Der Soldat 1899 S. 108.
2) Kurtze El'klerung, Wie ein Pferd vnd ein Frawenperson in vielen Stücken mit
einander verglichen werden, auch einander gleichen sollen. Jetzt auffs new vbersehen.
1624 1 +18 Bogen 8° (Berlin Yh 9941). — Allgemein lautet die Sentenz von 1651 bei
Hildebrandt, Stammbuchblätter des norddeutschen Adels 1874 S. 287: 'Weiber und Pferdt
seindt Lobens wehrtt, | Seindt sie ohne Tück, ist es ein groß Glück. | Drumb nimb wol
wahr, was sie vor har! | Den solcher Kauf hat groß Gefahr'. Freien und Pferdekaufen
werden ja auch im Sprichwort miteinander verglichen. Rolland, Faune populaire de la
France 4, 138. Jähns, Ross und Reiter 1, 77-81. — Endlich gibt es auch gereimte Auf-
zählungen der Fehler eines Pferdes: Mones Anzeiger f. K. des t. Mittelalters 1834, 175.
Romania 24, 146.
Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
435
Mancher möcht groß verwundrung han,
Was dieses Pferdt, welchs hie thut stan
Beneben den vier Thiern herum,
Bedeuten thet. In einer Sum
Wil ich solches gar kurtz erklürn, B
Den Leser darmit nicht beschwern.
Ein wol proportionirt Pferdt
Sol drey eigenschafft haben wehrt
Yon einem Hasen; denn derselb
1. Im Peldt laufft gar geschwindt vnd schnell; io
Also sol auch ein gutes Roß
Schnell vnd gschwindt lauffen ohn verdroß.
2. Zum andern so springt auch der Haß
Leichtfertig hrumb im grünen graß;
Deßgleich ein adlich Pferdt auch thut 15
Ein sprung in andern wolgemuth.
3. Zum dritten so wirft sich der Haß
Gar kurtz herumb ebener maß;
Ein gutes Pferdt sich lencken lest
Vff beyde seiten vff das best. 20
Yors ander so sol ein schön Pferdt
Auch han drey Eigenschaften wehrt
Von einem Fuchsen, welcher wTird
4. Mit einem kleinen Kopff geziert,
5. Auch kurtze Ohren hat darnebn,
So jme die Natur thut gebn,
6. Vnd einen grossen Schwantz darbey;
Also ein Pferd auch gzier[e]t sey
436
Boite:
Mit solchen Stücken, wanns sol seyn
Ein schöns Pferdt ohne tadel fein.
Zum dritten muss ein Pferdt auch han
Drey Eygenschafften, wanns sol bstan,
Yon einem Wolff. Dann derselb hat
7. Ein scharff Gesicht; also auch gat
Ein Pferdt bey nâcht, als wers am Tag,
Vnd sieht sich vmb ohn alle Plag,
Da doch sein Reuter nicht kan sehn,
Wohin odr nauß das Pferdt sol gehn.
8. Zu dem so ist der Wolff begabt
Mit einem guten Gebiß hart;
Deßgleich ein Pferdt auch haben sol
Ein gut Gebiß, sols deyen wol.
9. Yber das hat der Wolff auch har,
Welche gantz hart seyn jmmerdar;
So sol ein Pferdt auch harthärig seyn,
Welche es vberauß ziehrn fein.
Zum vierdten so sol auch ein Roß
Drey eigenschafft vom Esel groß
An jhm han vnd sich darmit schmückn.
10. Dann derselb hat ein stareken Riickn;
Also ein Pferdt auch wol bestat,
Wann es ein stareken Rücken hat.
11. Der Esel hat auch stareke Pliß;
Gleicher weiß ein Pferdt haben muß
Stareke vnd gar gerade Beyn,
Wann es sol wol gezieret seyn
Vber das auch der Esel hat
12. Gar gute Hüff, darauf!' er gat;
Wann gleicher massen ein gut Pferdt
Gut Hüffe hat, ists lobens wehrt.
Zum fünfften vnd auch letzten fein
Soin an eim schönen Pferdt auch seyn
Vier Eigenschafften von eim Weib,
Welche sie trägt an jrem Leib.
13. Dann sie ist fornen wol gebrüst
14. Vnd hinden auch gar wol gerüst;
Also ein Pferdt auch ziehren thut
Ein schöne Brust vnd hindern gut.
15. Ein junge Fraw lest gern auffsitzen
16. Vnd trabt gar sanfft ohn alles schwitzn;
Gleicher weiß sol ein gut Pferdt than
Vnd sein Herrn gern auffsitzen lan,
Auch mit jni traben sanfft davon,
So thuts allenthalb wol bestan.
Diß sindt die sechzehen Eigenschafft,
Mit welchn ein Pferdt sol seyn behafft.
Wem nun ein solch Pferdt ist beschert,
Derselbig mag es halten wehrt,
Auch achten vor ein groß Kleinat;
Bilderbogens des 16. und 17. Jahrhunderts.
437
Dann man derselben wenig hat, so
Die solch Eigenschafft haben all
Vnd deme es nicht fehlt zumal
An eim oder dem andern Stück.
Derhalb hat der ein grosses Glück,
Der da bekompt ein solches Pferdt; 85
Dann es ist grosses Geldt wehrt.
Gedruckt im Jahr 1618.
6. Tierische Eigenschaften der Menschen.
Die mittelalterliche Tiersymbolik und deren Weiterbildung bei den
Satirikern des 16. Jahrhunderts zur Erläuterung des folgenden Bilder-
bogens zu durchmustern, würde zu weit führen. Ich verweise nur auf
F. Brinkmann (Die Metaphern 1: Die Tierbilder der Sprache. 1878) und
R. Riegler (Das Tier im Spiegel der Sprache. 1907) und führe als eine
Parallele aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Aufzeichnung des
Fraters Johannes Hauser (f 1548) aus der oben 15, 20 zitierten Wiener
Hs. 4120, Bl. 119a an: 'De naturis animalium quoad abdicandam propriam
volimtatem'. „ . , J
1. Leo. Des leben natur fur pncht
In zorñ, sterk vnd gesicht.
Also sol sein dy gerechtikayt
Fursichtig, streng, massich pereyt.
2. Aynhorn. Das aingehurñ dy natur hat,
Aller raynikayt es nach gat.
Aso sol der mensch sein perayt
Mit aller rechter raynikayt.
3. Hyersch. Der hyersch ist frey an zwang,
Gan[z] siecht anfank, mittel vnd außgang.
Dem sol der mensch nachgan,
Dy drew stukel vor äugen han.
4. Panther. Dreyerlay ist des panther art,
Ein wurm, ain greyff, ain leopart;
Das ist neydts, grwdts [Pgrimms] vnd zoren vol,.
Vor dem sich der mensch hutten sol.
5. Elicli. Der eich sein natur helt,
Das er dy gehurñ mert vnd feit.
Dy ret sol der mensch han,
Ze meinen das gut vnd das poß lan.
Der helfant dy natur hat,
Das er fast vnd stark stat.
Also sol der mensch sein frey,
Das er nit wankelmütig sey.
7. Roß. Die roß seind frech, schnei vnd gut?
Wenn man sy recht zämen thut.
Also sol der mensch zart vnd rein
Recht geczämet sein.
8. Maul. Das maul ist grob, hart zw wenden,
Wenn man es praucht an allen enden ^
Als aygner syn an frawn vnd man,
Dy man hart da von wenden kan.
[119b] 6. Helfant.
438
Boite:
9. Esel. Der esel dy art an ym hat,
Das er von strayclien nit paid gat.
Alz etlicher mensch in diser zeyt,
Der da nichts vmb straffen geyt.
10. Ochß. Der ochß pocht vnd stost vast,
Wann man ym thut vberlast.
[120 a} Also thut maniger man,
Der da ist gäch vnd nichts vbersehen kan.
11. Puffel. Des pufelß naturlichkayt
Ist vast stark mit stolhait.
Also thut der mensch zw aller frist,
Der da gäch vnd zornig ist.
12. Kameltyer. Das kameltyer dy hochfart an ym hat,
Das es geren vnder swarer purde gat.
Also ist aim gebaltigen pawren,
Der täglich stelt nach trawren.
13. Wolff. Der wolff nur dy art hat,
Das er nur dem raub nach gat.
Also thut der mensch zw aller frist,
Der allzeyt poß aygenwillig ist.
14. Saw. Der saw nerlichkayt.,
In das kot sv sich legt vor faulkayt.
Also thut der mensch alle zeyt,
Der da stark pey der fülle leydt.
SPECVLVM BESTIALITATIS | Das ist: | Der vnvernunfftigen Thier: oder Narren-
spiegel, darin-¡nen sich ein jeder nach seinem Gefallen stillschweigend | beschawen kan.
[Kupferstich: Ein Cavalier in Federhut, Reitstiefeln und Handschuhen reitet auf einem
Esel auf den Beschauer zu, auf (jer erhobenen Rechten eine Eule haltend; ringsum
16 andere Tiere.] — (Braunschweig und Wolfenbüttel.)
Bilderbogen des IG. und 17. Jahrhunderts. 4-39
Vorred.
Pythagoras thut fabulirn,
Das, wenn die Seelen emigrirn
Von den Thieren all in gemein,
So kehrens bey den Menschen ein,
5 In jhr Natur sie gantz verkehrn,
Wie dieser Spiegel hie thut lehrn.
In diesn ein Jeder sehen soll
Ynd sich darinnen spiegeln wol.
Trifft man jhn auch in diesem Spiel,
io So schweig er still vnd sag nicht viel ;
Führt er ein Bestialisch Wesn,
Er ander sich, so wird er gnesen.
1. Pavus. Pfaw.
Der Pfaw, der jhm sein Schön
zumi st,
Ein Spiegel der der Hoffart ist,
is "Wann einer allein oben schwimt,
Seiner Gaben sich vbernimt.
Schaw an die Fuß, das End sihe an,
So wirst die Flügel fallen lahn.
2. Canis. Hund.
Der Neid, der vberall regirt,
so Am Hund gantz recht wird adum-
brirt.
Sein Zân gantz scharpff die thut er
wetzen,
Bald diesn, bald ein andern verletzn.
Gön jedem, was jhm gönnet Gott,
So ghôrstu nicht vnter die Hundsrott.
3. Gulo. Vielfraß.
25 Gulo Vielfraß zeigt an die Leut,
Welche krânckt Vnersâttiglichkeit,
Die jhren Hunger nimmer stilln,
Ihr grôste Sorg ist den Bauch fûlln,
Der Bauch jhr Gott, dem thun sie
gebn,
so Führen ein Bestialisch Lebn.
4. Leo. Low.
Der hat eins rechten Löwen
Gmut,
Der durchauß bei sich hat kein
Gut.
Sein Zor[e]n den kan niemand stilln,
Vnd that stets wie ein Low nur
bruì In.
Sein Zorn, damit er stets durchgeht, 35
Zeigt an sein Bestialität.
5. Ursus. Beer.
Im Hunger der Beer jmmer brumt,
Also der Geitzig nicht erstumbt;
Je mehr man gibt, je mehr er will,
Sein Magen hat kein Maß noch Ziel. 10
Drumb ist hernacher diß sein Letzt,
Daß man jhn wie ein Beeren hetzt.
o. Gallus. Haan.
Der Haan, der Geilheit rechtes
Bild,
Mit einer Hann ist nicht gestillt.
Also den fleischlich Hitz anbrent, 45
Mit einem Weib ist nicht content.
Endlich man jhm den Hals absticht,
Also dem Buhler auch geschieht.
7. Asinus. Esel.
Der Esel will getrieben seyn,
Also die Faulen in gemein. so
Wo Schlag vnd Streich da hören auff,
Da taugt gar nichts jhr Gang vnd
Lauff.
Das Fleisch kein Nutz; den Danck sie
habn,
Wie Esel werden sie begrabn.
8. Leviathan. Krumme Schlang.
O
Die Sachen drehen, wenden 55
gschwind
Das ist ein Kunst der Menschenkind.
Anders der Mund, anders das Hertz,
Das treiben sie, ist nur ein Schertz.
Leviathan die krumme Schlang
Wird endlich jhnen machen bang. eo
9. Crocodilus, Crocodil.
Orocodilszâhren werden new,
Gelinde Wort vnd falsche Trew,
Betrug ist gross; drumb wol zu
schaw,
Nicht allen Crocodilen traw!
"Wem [!] Crocodils sein Tuck verübt, cb
lehnewmon jhm sein Rest bald gibt.
10. Vulpécula. Fuchs.
Wer Löwens Haut nicht haben kan,
Ein Fuchsbeltz zieh derselbig an.
440
Boite: Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts.
Durch List bringt man zuwegen viel,
'o In die Läng es nicht glücken will.
Fiichs muss man doch mit Füchsen
fangn,
Doch endlich bleibens beede hangn.
11. Lepus. Hase.
Der Haß der ist ein forchtsam
Thier,
Gar bald wirfft er auff sein Panir,
75 Bey der Trommel da hält er nicht
Also auch manchem Hasen gschicht;
Für seinem Muth hat er das Gluck,
Daß man jhm endlich bricht das
Gnick.
12. Psittacus. Pappengey.
Auf gute Speiß der Pappengey
so Ist abgericht, redt alles frey.
Viel Pappengey gibts jederzeit,
Die sind auch abgericht auf die
Leut,
Vmb Schmaussens willen jedes Zill
Reden sie, was man haben will.
13. Pica. Häher.
ss Ein Spottvogel der Häher ist,
Im anschreyen er keins vergisi,
Andre vnd beedes sich verrâth.
Also es auch dem Schweizer geht;
Wer alles nur will reformirn,
9o Thut sich am ersten ruinirn.
14. Ulula. Stockeul.
Die Einbildung bringt eim diß
bey,
Er mein, daß sein Eul ein Falck
sey,
Den liebt er vnd hält jhm gar hoch.
Also gehts in der Welt auch noch.
95 Man laß eim recht, verhut den
Strauss;
Ein Eul heckt doch kein Falcken auß.
15. Vespertilio. Fledermauß.
Der Vogel Sonn vnd Tage
scheucht,
Darumb er bey der Nacht nun
fleucht.
Es werden angedeutet mit
Die Schuldener, da kein Credit; io»
Verbergen sich deß Tags im Hauß,
Zu Nachts sie je sich wagen auß.
16. Pica. Hetz.
Die Hetz die last jhr hupffen nicht,
Schwetzen vnd hupffen ist jhr Sitt.
Was man hat gwohnt von Jugend 105
auff,
Endert sich selten; merck wol drauff!
Ein Moren man nicht waschet weiß,
Es ist verloren Muh vnd Fleiß.
17. Simia. Affe.
Der Äff, so alles nach will than,
Ein solchen Menschen zeigt er an, 110
Der alls, was trefflich, imitirt
Vnd ihm hierzu selbst gratulirt.
Doch bleibt ein Äff ein Äff allzeit,
Wenn man jhm anlegt gulden
Gschmeid.
18. Cancer. Krebs.
Der Krebs, der alle Ort durch- 115
kreucht,
Ein rechten Griibler der anzeigt,
Der alls will wissen, als ergrundn;
Kein Kunst ist bey jhm nicht zu
findn,
Als geht zurück, er steckt im Kott,
Bringt nichts davon denn Hohn vnd 120
Spott.
An den Leser.
Ein guter Spiegel nimmer treugt,
Was schön vnd häßlich, er anzeigt.
Zeigt er ein Macul in dem Gsicht,
Mit dem Spiegel er zôrnet nicht,
Er säubert sich vnd macht sich i25
rein,
Daß er neben andern schön môg
seyn.
Wer meint, er sey damit verletzt,
Zu diesem Mann er sich hie setzt,
Bleibt Singular auff seinem Tand,
Reit mit jhm ins Schlauraffenland. 130
Vexation die machet klug,
Dem Weisen ist diß eben gnug.
nr~
■HI
Zoder: Kleine Mitteilungen. 441
Chrys.1) in lib. 80. horn. 23.
Quid fidelem te dico? nec eriim es homo, si manifesté possum videro, cum tanquam
asinus recalcitres, lascivias autem ut taurus, tanquam equus vero post mulieres hinnias,
ventri tanquam ursus indulgeas, et ut mulus carnem impingues, et malum memoriae
teneas velut camelus, porro rapias quidem ut lupus, et ut serpens irascaris, ferias ut
scorpius, sis subdolus ut vulpes, nequitiae vero tanquam aspis et vipera venenum serves,
et sicut ille malignus Daemon fratres impugnes: quomodo te cum hominibus connumerare
valeam, talis in te naturae signa cum non intuear?
ENDE.
Zufinden in Nürnberg, bey Paulus Fürsten Kunsthändler allda, etc.
Berlin.
(Fortsetzung folgt.)
Kleine Mitteilungen.
Sckeibenspriiehe aus Oberösterreich.
Im Salzkammergute zählt ebenso wie in den anderen Alpengebieten das
Scheibenschiessen zu den sonntäglichen Belustigungen der Bevölkerung. Die
Männer und älteren Burschen üben sich in der Handhabung des Scheibenstutzens,
während die jüngere Generation sich mit der harmlosen Armbrust (Baluster) vergnügt.
Bei festlichen Anlässen werden mit Bilde-n und Sprüchen versehene Scheiben
verwendet, welche nach dem Gebrauch in der Schiesshalle aufbewahrt werden.
So zeigt die Schiesshütte in Laufen bei Ischl eine grosse Anzahl solcher Fest-
scheiben, unter welchen besonders einige aus der Zeit der Franzosenkriege mit
Napoleonbildern und Darstellungen von Kriegsepisoden interessant sind. Auch
Vorkommnisse aus dem täglichen Leben der Älpler werden dargestellt, wie die
unter 5 und 6 mitgeteilten Sprüche bezeugen.
Die ersten vier Sprüche stammen aus Goisern und haben Begebenheiten,
welche wahrscheinlich nicht ganz frei erfunden sind, zum Stoff. Die Scheiben
wiesen die Jahreszahl 1900 und 1901 auf und dienten beim Armbrustschiessen.
Sie hingen im Jahre 1903 in einer kleinen Seitengasse des Marktes, an der
Wand eines Stadels. Im darauffolgenden Jahre waren diese Zeugnisse eines ur-
wüchsigen, derben Humors schon verschwunden. Alle Sprüche sind in der Recht-
schreibung des Originales wiedergegeben, nicht allein der Ursprünglichkeit halber,
sondern auch um dadurch ein Beispiel zu geben, wie lautgetreu die Älpler ihre
Mundart zu schreiben verstehen.2)
1) Gemeint ist Johannes Chrysostomus, Homiliae in Matthaeum Nr. 4 8 8 flVTie-np
Patrologia Graeca 57, 48. Paris 1862). ' s l g
2) Andere Scheibensprüche aus Oberösterreich veröffentlichten F. P. Pi„er
Volkskunde 4, 198ff. (1898) und J. R. Bünker, ebd 13, 3f. (1907).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. 29
442
Zodor, Beck:
1.
Dos Gaßlngeh wa gar nit ra,
wan nit oft rechtö Dumheit gscha,
da sand n drei Buam Fönsern1) gwön,
z Lasern 2) wo oda grad danöm.
oaner is glei mit dn Loatern da,
auf oamal bröchn zwoa Sprisl a,
er schrei was a kan:
kemts gschwind Buam;
dawal ligt er schon drin
ö da Scheißngrum.
dö zögn glei außer
bo Hand und Fiißn,
und liamtn wol a gstunkn,
hat ban Bach erst waschn miisn.
2.
Zwoa Poserei'3) Menscha
sand spehn ausganga,
ös thats hold soviel
um Neiigkeit pianga,
und wias a so glost habn,
o jegerl, auweh,
da kemant zo alln Ureim4)
a Paß5) Buam dalie,
da boast's gschwind verstökn,
ös hats no niamt kent,
da sant dö zwoa Menscha
hintern Stadl umigrent,
auf eimall machts an Kracher,
alles is hin,
und dö zwoa neigirina Menscha
liug in da Scheißgruam drin.
Dö Reinfalzer6) Menscher,
al Leut sagns für gwis,
habn ausgschoptö Wadl
und eingsötzte Biss.
oane davan
hatts Biss heut valorn,
dö liatt schauderlö gj a inert
und wa närrisch bald worn.
Zorn Glück keman grad Holzknecht,
dö bittens recht sehen,
dö müsn mitn Mentschern
Wien.
ös Biss sucha gehn.
obs ös gfundn habm,
do wird ma nit in,
Bis zon Schützmahl
hatts do wieda
an noin Fröswerkzeug drin.
1901.
4.
An ßäckerbuam
bon Eisenmann7)
den schnappt a blanigö8) Goas
ön Geldbeitl davon,
e is bon Daxn9)
ön Berig gwön,
da hert a wen
ön Goisstall rön,
e hatt gmoat,
e hat s Weibl ghert,
daweil hatt Goas
bon Fenserl ausablert;
dön Geldbeitl-
don a ö da Hend hatt ghabt,
dem datt em d' Goas
bon Fenster einigschnapt.
Da Bua de fangt zon trenzn a,
weil e ohe Beiti
nit hoamgeh kan
5.
Das Holzn und Jagn
macht an hungrigen Magn.
6.
Da hat ich jetzt a Reh,
do kam wieder a Hirsch daher.
Dort launet10) Bix bein Barn,
wo der Hirsch herkam.
1835.
Das Bild zeigt einen Wildschützen, der
eben ein Reh tragfertig macht, während sein
Gewehr an den nahestehenden Baum gelehnt
ist. Yon dieser Richtung kommt nun ein
stattlicher Hirsch daher.
Raimund Zoder.
1) fensterin. — 2) Ortschaft bei Goisern. — 3) Posern, Ortschaft nördl. von Goisern.
— 4) Unglück. — 5) Schar. — 6) Reinfalz = Häusergruppe bei Goisern. — 7) Bäcker in
Goisern. — 8) = begehrliche. — 9) Daxn ist ein Hausname in der Ortschaft Berg bei
Goisern. — 10) launet = lehnt.
Kleine Mitteilungen.
443
Alte Studentenlieder.
'Cornerz-Lieder der Pursche' ist ein 11 Oktavblätter umfassendes, bier-
getränktes Heftchen betitelt, das aus dem Nachlasse des gräflich Eeroldingischen
Rats und Obervogts Alois Stapf (geb. den 30. Okt. 1768 zu Wangen im Allgäu,
gest. den 9. Okt. 1815 in Ragenried bei Wangen) stammt und während seiner
Würzburger Studentenjahre kurz vor 1790 entstanden ist.1)
Es enthält folgende 12 Lieder:
1. Auf! erthönet frohe Lieder (3 Str.).
2. Der Pursch von altem Schrott und Korn (23).
3. Pereat trifolium, pereant Philistri (6).
4. Ich bin meinem Mägdchen gut (2).
5. Courage, wohlauf (5).
6. Pursche, lermet, sauft und schwärmet (9). Landesvater.
7. Brüder, lasst die Väter sorgen (2). — Vollständiger in Rüdigers Auswahl
guter Trinklieder, Halle 1791 Nr. 90 (3), Commersch- Buch 1795 Nr. 8 (8;, Melzer 1808
(Berliner Ms. germ. oct. 204) Nr, 9 (14 dreizeilige Str.), Berlinisches Commersbuch 1817
S. 34 (8), Bonner ßurschenlieder 1819 S. 70 (8).
8. Ein reizend Mägdchen und gut Bier.
9. In sanitatem omnium (3). — Melzer 1808 Nr. 2. Fink, Musikalischer Haus-
schatz 1813 Nr. 474. Leipziger Commersbuch15 1869 S. 206. — Stapfs Fassung hat einen
obszönen Zusatz zur 2. Strophe.
10. Rosen auf den Weg gestreut (4). — Str. 1—2 stammen von Hölty her
(1777. Böhme, Volkstümliche Lieder 1895 Nr. 653, Str. 1 — 3. 7. Friedlaender, Das deutsche
Lied des 18. Jahrh. 2, 272). Dann heisst es weiter:
3. Stosset an! sie lebe hoch, 4. Stosset an auf Josephs wohl!
die uns einst beglücket, Lange soll er leben,
die am Winterabend noch Friede, grosser Kaiser, soll
wie im Lenz entzücket, stets sein Haupt umschweben,
die entfernt von Mode Tänzen [1. Tand] Blühe in dem Rosenduft
deutsche Sitten liebet, und beim Saft der Reeben,
deutsches Herz und deutsche Hand bis dir einst der Väter Kruft
am Altar uns biethet. , gewünschte Ruh wird geben.
11. Brüder! nuz[t] das freye Leben (5). — Stimmt zu Kin dl eben s Studenten-
liedern 1781 S. 39 (5); doch sind Str. 2 und 3 umgestellt und einige Veränderungen vor-
genommen: 4,3 Champagner — 4,5 Blüh, Saline — 4,6 deine Söhne — 5,i König
Friedrich. Auch im Commersch-Buch 1795 S. 34. Ohne die letzte Strophe bei Keil
S 103, Melzer 1808 nr. 3, Bonner Burschenlieder 1819 S. 129. Vgl. Friedlaender 2, 324.
12. Herrlich, herrlich ist dies Leben (3). — Str. 1 und 3 stehen mit ge-
ringen Abweichungen in (Rüdigers) Trinkliedern Halle 1791 S. 23: 'Freunde, herrlich ist
das Leben1 (12), Str. 3 und 5. Str. 2 und b aus Kindlebens Lied: 'Brüder lasst die
Sorgen fahren' (Studentenlieder 1781 S. 12 = Rüdigers Auswahl guter Trinklieder 1791
S. 25), Str. 8: 'Tränen mag ich nicht vergiessen' und Str. 5: 'Bruder, auf dein Wohl-
ergehen sey dir dieses Glas gebracht. Allein die letztgenannte Strophe: 'Bruder, auf
dein Wohlergehen', die wir auch in einem anderen Liede bei Rüdiger antrafen, ist schon
1770 gedruckt; vgl. Friedlaender 2, 212.
Als hauptsächlich beachtenswert teilen wir" die Nr. 1—6 und 8 hier voll-
ständig mit.
1) 1790 starb der in Nr. 6 und 10 erwähnte Kaiser Joseph IL
29*
444
Beck:
1.
1. Auf! erthönet frohe Lieder,
frohe Pursche Lieder,
ladet Freunde ein!
Es ist Weisheit, meine Brüder,
meine liebe Brüder,
sich des Lebens freyen;
dieweil wir hier beysammen seyn,
ey so laßt uns lustig seyn!
Der edle Gerstern Saft
gibt dem Pursche Kraft.
2. Mancher will nur stets studieren,
stets, nur stets studieren,
und immer saur sehen;
er will Catonem immitiren,
ja immitiren,
immer finster sehen.
Aber der gefält uns nicht,
der keine Zeit abbricht,
sorgenfrey zu seyn:
drum schenkt die Gläser ein!
3. Drum, Herr Bruder,
du solst leben,
du, ja du solst leben
und dein mägdchen auch.
Laß dir noch ein frisch Glaß gebeu,
frisch Glas Bier dir geben,
saufts nach Purschen Brauch
hier in Ceres Heiligthum!
Brüder, seye es Pflicht und rühm
sorgenfrey zu seyn
Drum schenkt die Gläser ein!
2.
1. Der Pursch von altem Schrott
und Korn1)
glüht voll von edelmuth;
am schweren Stiefel glirt der Sporn,
die Feder strozt am Hut.
2. Als Pursche führt er stets bey sich
den Schmuck, woran ihm liegt,
den Hieber, der sich fürchterlich
an seiner seite wiegt.
8. Was kümmerts ihn, wenn auch ein Loch
den Ellenbogen zeigt!
Man kennt den Teutschen Pursche doch,
vor dem sich alles beugt.
4. Er höhnt Senat, Magnificum
und Rector ins Gesicht;
was liegt ihm am consilium!
Das beugt den Pursche nicht.
5. Weh dir, wenn du dich zu ihm drängst
im parfümirten Rock,
er flucht dir, du Pomadehengst,
dir droht sein Knotenstock.
6. Für Brüder schlägt sein Busen warm;
er fühlt mit ihrer noth;
für sie braucht er den starken Arm
und scheuet keinen Todt.
7. Wenn er von Hermanns edelmuth
und Schlachten singen hört,
so mahnt ihn sein Teutsches Blut:
Sey du auch Hermanns werth!
8. Will dann der Philister Häuf
das lang geborgte Geld,
sitzt er bey nacht und nebel auf,
und fort ins freye Feld.
9. Wer sah, vor dem er jemals wich?
wer sah ihn jemals feig?
die Schande nahm er nicht auf sich,
nicht um des Mogols Reich.
10. Er ist so munter wie ein Reh,
das um die Quelle tanzt,
wenn er den grossen Biertisch sieht
niit Brüder[n] Braf umpflanzt.
11. Die Gläser sind jtzt alle leer,
die Krüge aber voll;
Drum bringt dann frisches Bier daher
und trinkts der Freundschaft wohl!
12. Schon schäumt aus vollem Krug der Saft
ins leere Glas hinein,
und unserer trauten Brüderschaft
soll das geweyhet seyn.
1) Steht auch im Akademischen Lustwäldlein von Raufseisen (Altdorf 1794) Nr. 47
(10 Str.), in Melzers Burschenliedern (Wittenberg 1808. Berliner Ms. germ. oct. 204)
Nr. 30 (11), im Kommersbuch Germania (Tübingen 1815) Nr. 25 (21), Kommersbuch
Teutonia (Halle 1816) Nr. 19 (14), im Berlinischen Kommersbuch 1817 Nr. 19 (21), im
Teutschen Liederbuch für Hochschulen (Stuttgart 1823) Nr. 255 (19), in Scherers Deutschen
Studentenliedern (Lpz. 1844) Nr. 67 (24). Vgl. Keil, Studentenlieder des 17. und 18. Jahr-
hunderts S. 72 und Hoffmann-Prahl, Unsere volkstümlichen Lieder 1900 S. 42.
Kleine Mitteilungen.
445
13. Er trinkt den vaterländischen Saft
und fühlt sich Teutsch und groß,
im Arme wohnet Riesenkraft,
und Freyheit ist sein Looß.
14. Wenn lauter Donner oben rollt,
das Hohgewölbe kracht,
so fragt der Pursch, was es noch wolt,
und setzt sich hin und lacht.
15. Führst du einst fideliter
dein Mägdchen an der Hand,
so denk an unsere Bruderschaft
in dem Philister land!
16. Wie seelig, der sein liebchen hat,
wie seelig lebt der mann!
In Friedrichs oder Josephs Stadt
ist keiner besser dran.
17. Ein mägdchen lieben mit Verstand
ist keine mode mehr,
man gibt [ausgestrichen] Hand
und spricht: Votre serviteur.
18. Ein mägdchen sein wie Postpapier
verguldet an dem Schnitt,
Ein mägdchen so Avie dieses hier
verdient wohl einen Ritt.
19. Am großen Hut brangt feyerlich
die Landesväter Reih;
er schäzt ihn mehr bei jedem Stich,
als wär' er gut und neu.
20. Er schwört beym größten Pursche Hut
und was ihm heilig scheint,
sich ewig der Philister bruth
als abgesagter Feind.
21. Laut donnernd hört man ihn im Kampf
die schlanke Klinge ziehn;
man sieht vor seinem Hieb wie Dampf
[Die] Sch[n]urren und Philister fliehn.
22. Und uns gehöret Hermann an,
und Teil, der Schweizerpursch [1. Held]
und jeder deutsche Biedermann,
wer hat den Sand gezählt?
23. Mit Eichenlaub den Huth bekränzt,
frisch auf und trink das Bier,
das schäumend euch entgegen braust
im Vaterlande hier!
3.
1. Pereat trifolium, pereant Philistri1),
pereat Magnificus,
Pedell und auch der Syndicus
nobis odiosi.
2. Ein flottes Leben führen wir,
ein Leben voll der Wonne,
die Gaß ist unser Standquatier,
bey Sturm und Wetter schwärmen wir,
der Mond ist unsere Sonne.
3. Mihi sit propositum
in taberna mori,
Vinum sit appositum
morientis ori.
4. Und haben wir im Gersten Saft
die Gurgel ausgebadet,
so haben wir muth und kraft,
machen mit dem Teufel Bruderschaft,
der in der Hölle bratet.
5. Vita nostra brevis est,
brevis et jucunda;
post [ex]actam juventutem
post molestam senectutem
nos habebit tumulus.
6. Stirb verfluchtes Kleeblatt aus,
fahr zur Hölle nieder,
stirb du auch magnificus,
du Pedell und Syndicus!
Ihr seyd uns zuwider.
4.
1. Ich bin meinem mägdchen gut2),
aber auch dem Weine;
wenn das närrchen spröde thut,
laß ich sie alleine,
1) Ein Mischmasch aus Schillers Räubeilied (1780. Friedlaender, Das deutsche
Lied im 18. Jahrh. 2, 388), der ersten Strophe von 'Meum est propositum' des Archipoeta
Waith er (ZfdA. 15, 490) und zwei Strophen aus einer 1776 gedruckten Fassung des
'Gaudeamus igitur' (Keil S. 165 = Enders, Euphorion 11, 384) nebst der ebenda über-
lieferten Verdeutschung der einen Strophe.
2) Eine bessere Fassung bei Melzer 1808 Nr. 7 verteilt jede Strophe an Solo und
Tutti. Str 1,5 trinkst — 1,8 Spräch sie: Schmollis, Zecher! — 2,2 drückte — 2,4 ent-
zückte — 2,5 leb sie so — 2,6 wir heute leben — 2,8 Gläser heben.
446
Beck, Lohmeyer, Heuft:
und trink auf ihr Wohlergehen des nachts auf der Straß die Klinge man
diesen vollen Becher; wetzt,
würde dies das närrchen sehn mit hauen und Stechen wird mancher ver-
hieß sie mich ein Zecher. lezt.
2. Die mich einst mit Zärtlichkeit
an den Busen drücket,
Der sey die[se]s Glaß geweyht,
weil sie mich entzücket.
Hundert Jahre denk nur so,
wie wir alle denken;
Liehe Brüder, laßt uns froh
volle Gläser senken!
5.
1. Courage, wohl auf!
Mein froher muth nicht singt,
so lang das Geld im Beutel noch klingt,
ich lebe vergnügt, hin ein Student,
der all das seine bald bringet zu End.
2. Ich gehe in die Schuhl, wo Venus
mich lehrt,
wo man die mägdchen mit Küssen verehrt,
da frequentire ich bey Tag und bey Nacht,
weil Bachus mich selbst zum Praeses
gemacht.
3. Yivat es lebe ein brafer Jurist,
dems Corpus juris das liebste nicht ist;
es lebe dabey das schöne Geschlecht,
das dem Juristen in praxi ist recht!
4. Ihr Bücher hinweg, euch acht ich
nicht mehr,
für mich taugt mehr ein schönes Gesicht.
Cupido allein bey Bier und bey Wein
soll stets Professor in studiis seyn.
5. Wer uns fu dirt, die Galle aufrührt,
dem würde mit Lachen der Buckel ge-
schmiert;
6.
Landesvater.
1. Pursche lermet, sauft und schwärmet,,
nur vermeidet Zank und Streit,
laßt die Pliz Philister lachen,
laßt sie saure minen machen,
nur zum sauffen seyd bereit!
2. Heinriette, die Brunette,
sey bey jedes Pursche Schmauß,
sie muß sauffen, taback rauchen,
muß zu jedem Pursche tauchen;
sonst mit ihr ins nachtquatier.
3. Furcht und Schrecken kann erwecken
unser ungeheurer Hut,
wenn ihn nur Philister sehen,
müssen sie auß Wege gehen
unser Hut ist voller Wuth.
4. Unser Säbel ist capable
jêdem Streich zu widerstehen,
wenn ihn nur der Pursch regieret,
und der Kerl den Streich verspüret,
pereat zum Zeitvertreib.
5. Jagt die Buben aus der Stuben,,
der fi dele Pursche sizt;
wo deutsche Pursche schwärmen,
dürfen keine Buben lermen,
fort mit euch ins Knotenreich.
6. Josephs Söhne! laut erthöne
unser Vaterlands Gesang!
Den Beglücker deutscher Staaten,
den Vollender großer Thaten
preise unser Lobgesang.
1) Über die verwickelte Geschichte dieses Liedes vgl. Kopp, Deutsches Y olks- und
Studentenlied in vorklassischer Zeit 1899 S. 229—233, Friedlaender 2, 331 und Hoffmann-
Prahl S. 11. Die 1. Strophe unserer Passung erscheint 1775 (bei Keil S. 181): 'Bursche,
lärmet, sauft und schwärmet', in der Liebes-Rose o. J. Nr. 36: 'Musen, lärmet', in Raufs-
eisens Akademischem Lustwäldlein 1794 Nr. 40: 'Brüder, lärmet' = Berlinisches Kommers-
buch 1817 Nr. 58 (4); umgedichtet bei Kindleben, Studentenlieder, Halle 1781 S. 15:
'Freunde, singet, tanzt und springet' = Rüdigers Auswahl guter Trinklieder Halle 1791
S. 49. — Str. 2 bei Kindleben S. 15: 'Antoinette die Brünette komm an unsre treue Brust'
und Rüdiger 1791 S. 49. —- Str. 6-8 stammen aus A. Niemanns Vaterlandslied 'Alles
schweige', dessen Beginn hier als 9. Strophe folgt; es steht in Niemanns Akademischem
Liederbuch, Dessau und Leipzig 1782 S. 111. Die erste Strophe auch bei Rüdiger 1791
S. 47 und im Commersch-Buch 1795 S. 23.
Kleine Mitteilungen.
447
7. Joseph lebe, ihn erhebe
nur der brafe musensohn,
Herz und Hand dir, Herr, zu weyhen,
fanden wir uns hier in Reyhen,
segnen dich auf deutschem Thron.
8. Leer den Becher, junger Zecher,
trink den Saft der Fröhlichkeit!
Jeder machs so meiner Brüder,
trink das Glas hier deutsch und bieder
unserer werthen Freundschaft zu.
9. Alles schweige, jeder neige
milden Thönen nur sein Ohr,
hört ich sing das Lied der Lieder!
hört ihr meine lieben Brüder,
hört ihr Brüder insgesamt!
Ravensburg.
(Das folgende Blatt, welches mindestens
noch 5-6 Strophen dieses „Landesvaters"
enthielt, ist leider ausgerissen).
8.
Solo: Ein reizend mägdchen und gut Bier,
Chor: verjagen, verjagen, verjagen Gram
und Grillen;
Solo: Drum, liebe Brüder, laßt uns hier
Chor: fein öfters die Schmollis Gläser füllen;
Solo: Sauft tapfer bis zum Ueberfluß!
Es lebe mein mägdchen, das blühen
muß,
um meinen Durst zu stillen
Chor: um deinen Durst zu stillen.
Paul Beck.
(Die Anmerkungen von J. Bolte.)
Zum Siebeiispruiige.
(Oben 15, 282. 17, 81.)
Einen weiteren kleinen Nachweis kann ich beibringen aus meiner Vaterstadt
Rinteln an der Mittelweser, wo ich 1847 geboren bin. Dort habe ich in meinen
Knabenjahren — es wird nach Mitte oder gegen Ende der fünfziger Jahre ge-
wesen sein — mehrmals die Siebensprünge tanzen sehen. Der Tänzer, der von
uns Knaben, auch wohl von Erwachsenen, zu dem Tanze aufgefordert wurde, war
ein Mann aus dem Volke (Karl Piffer); sein Tanz galt den Zuschauern als eine
Belustigung, die den Tänzer zugleich mehr oder weniger in unseren Augen herab-
setzte. Ich erinnere mich bestimmt der folgenden (von dem Tanzenden) dabei
gesungenen (oder mit Singstimme gesprochenen?) "Worte, die ich hochdeutsch
in der Erinnerung habe und die wahrscheinlich auch damals hochdeutsch (früher
sicher plattdeutsch!) gesungen wurden: „Tanz mir mal die Siebensprünge! Seht
mal, wie ich tanzen kann, tanzen wie ein Edelmann". An die Singweise habe ich
keine bestimmte Erinnerung.
Kassel. __Edward Lohmeyer.
Hausiiischriften aus Detmold.1)
1. DER • HER • BEWAR • DEINEN • AYS . VND • EINGANGK • YAN • NY • AN • BIS •
IN • EWICHEIT • ANNO • 1-6-0-4-
(Krummestrasse Nr. 2).
2. DIS IRDISCHE HAYS VERGENGLICH IST, DAS HIMMELSE HAVS MEIN
WONNVNG IST, EWIG MEIN FROMER CHRIST-/ HERMAN • KATO • ELIESABET •
LOMANS • ANNO • DOMINI • 1645 •
(Krummestrasse Nr. 42. Der Spruch steht in einer langen Reihe.)
1) [Zu der oben 15, 428f. verzeichneten Literatur über deutsche Hausinschriften
kommt noch Aug. Andrae, Hausinschriften aus deutschen Dörfern und Städten (Globus
89, 181—189. 1906). John, Sitte in Westböhmen 1905 S. 245. Kassel, Jahrbuch für
Geschichte Elsass-Lothringens 21, 265—347. 1905. Bailas, Hausinschriften in Linz und
Unkel (Zs. f. rhein. Volksk. 4, 216f.)]
448
Heuft, Mitzschke, Reiterer:
3. CANDIDE ET CONSTATER-
ANNO 1734-
(Neustadt Nr. 6).
4. HERR ICH TRAUE AUF DICH, LAS MICH NIMMERMEHR ZU SCHANDEN
WERDEN- ERRETTE MICH DURCH DEINE GERECHTIGKEIT UND HILF MIR-
PS .71-1753-
(Schülerstrasse Nr. 11. Der Spruch steht in einer langen Reihe.)
5. Pax intrantibus. Salus exeuntibus. Concordia habitantibus.
Der £j(EKK läjjt biß ar^eney aufs ber erben œadjfen unb ein cerniinftiger ceracfytet fíe nidjt.
Ernst Johann von Schroederss. 1790.
(Langestrasse Nr. 55, Hofapotheke).
6. DIE MIR NICHTS GÖNNEN UND NICHTS GEBEN, MÜSSEN DENNOCH
LEIDEN, DAS ICH KAN LEBEN. GOTT ERHALTE DIE EINWOHNER UND DIS
HAUS.
(Krummestrasse Nr. 10. Der Spruch ist nur eine Reihe.)
7. MEIN GOTT LASS DIR BEFOHLEN SEYN DIESES HAUS SAMPT DIE
DARINNEN GROSS UND KLEIN. ERHALTE SIE GESVNDT, GIB IHNEN BRODT.
BEWAHRE SIE YOR UNGLÜCK UND FEUERSNODT.
(Langestrasse Nr. 20. Eine lange Reihe.)
8. JEDIBYS IN PATRIS MIHI MANSIO FIRMA PARATA EST. [Tunc?] JERIjwS
CVRIS INVIDIAQYE PROCVL.
(Bruchstrasse Nr. 8. Eine Reihe.)
Oelde i. W. Hans Heuft.
Kinderreim und Aberglauben aus Weimar und Ettersburg.1)
1. In der Stadt Weimar benutzen die spielenden Kinder beim Auszählen
neben den allgemein verbreiteten Versehen auch eins von lokaler Färbung. Es
lautet:
Weimar, Jena, Eisenach,
Oberweimar, Vieselbach.
Ehringsdorfer Lagerbier
Schmeckt so gut, das trinken wir.
(Ehringsdorf mit grosser Brauerei und Oberweimar liegen südlich dicht vor Weimar,
Vieselbach an der Eisenbahnstrecke nach Erfurt, westlich von Weimar.)
2. In Ettersburg (nordwestlich von Weimar) sagten früher die alten Leute
von einem, der sich beim Abendmahl recht fromm und andächtig stellte, im
Leben aber keinen christlichen Wandel zeigte: „Där Halonke duht, als wulle är
dr lieben Marie de Piehschen abbeisse".
3. Wenn ebenda die grosse Kirchenglocke zuweilen etwas dumpf und
traurig klang, hiess es: „Horcht! 's hängt eens an dr Glocke" (= es wird bald
Trauergeläut für einen Gestorbenen geben).
4. An Sonn- und Feiertagen durfte man nicht spinnen, sonst wickelte Frau
Holle den Spinnerinnen Unrat und Schmutz in den Rocken.
1) Die erste Nachricht verdanke ich Herrn Bürgers chullehrer Sp an g e nb er g in Weimar,
die folgenden Herrn Bürgerschullehrer a.D. Unrein in Weimar, gebürtig aus Ettersburg.
Kleine Mitteilungen.
449
5. Folgte im Sommer auf den Regen wieder heller Sonnenschein, so sagte
man: „De liebe Marie trocknet äre Wengein (— ihre Windeln) ufn Zaune".
6. Regnet oder schneit es am Karfreitag, so gibt es kein gutes Jahr, denn
Tes hat dem Herrn Jesus ins Grab geregnet (geschneit)".
7. Wer in der Osternacht zur Geisterstunde stillschweigend Wasser aus
dem Dorfbrunnen holt und den rechten Augenblick trifft, der hat, wenn er kostet,
Wein geschöpft. Das Ostervvasser muss man aufbewahren und sich das Gesicht
damit waschen, dann bekommt man „ein frisches, schönes Aussehen".
8. Am Ostermorgen kann man sehen, wie die Sonne beim Aufgehen „drei
Freudensprünge macht".
9. In der Walpurgisnacht reiten die Hexen auf den Blocksberg und „tanzen
dn Schnie wäg". Am Abend vor Walpurgis versteckte man daher regelmässig
die Heu- und Mistgabeln, sowie die Reisigbesen, damit sie nicht von den Hexen
gestohlen und zum Ritt auf den Blocksberg benutzt würden, und machte mit
Kreide drei Kreuze von aussen an die Stalltüren. Im Stallinnern stellte man den
Besen mit dem Stiele nach unten neben die Tür, um dadurch den Hexen den
Eintritt zu verwehren, da sie sonst das Yieh behexen und den Kühen die Milch
entziehen.
10. Der Glaube an Hexen war allgemein verbreitet und ist noch immer
nicht ausgestorben. Einer Hexe durfte man nicht Ja und Nein antworten, sonst
wurde man behext. Ebenso allgemein glaubte man an Drachen, und zwar „reiche",
die den Menschen allerlei Gutes durch die Feueresse zutragen, wie „arme", die
alles Gut aus dem Hause forttragen. Wenn eine Hexe einem Drachen nicht zu
Willen ist, so wird sie von ihm „braun und blau gedroschen"; daher rühren die
braunen und blauen Flecken auf den Gesichtern mancher Hexen.
11. Schüttelt der Wind in den zwölf Nächten tüchtig die Obstbäume, so
gibts im Herbst viel Obst. Eine reiche Obsternte erzielt man auch, wenn man
in der Neujahrsnacht in blossem Hemd stillschweigend die Obstbäume mit Stroh-
seilen umwindet.
Weimar. Paul Mitzschke.
Die zwölf goldenen Freitage.
'Zu der oben 15, 96—98 mitgeteilten hsl. Empfehlung, an zwölf Freitagen zu
fasten, vermag ich jetzt eine gedruckte Fassung aus einem fragmentierten Flug-
blatte in 8° nachzutragen:
Geistliches Gnadenbrünnlein mit zwölf Röhren, das ist, eine kurze Form
und Weise, die allerseligste Mutter Gottes Maria an 12 heiligen Freytagen zu ver-
ehren, und jede Woche doch wenigstens ein Mal um ein seliges Ende anzurufen.
Papst Eugeni us [also nicht Clemens] schreibt und lehret: wenn ein christlicher
Älensch nachfolgende 12 Freytage zu Ehren der allerheiligsten Mutter Gottes Maria
bei Wasser und Brod fastet, dem schicket sie 12 Tage vor seinem Ende zu Hülf und
Trost eine Schaar heiliger Engel, damit er von Gott nicht könne geschieden werden, und
ihm werden gegeben sieben Gaben des heiligen Geistes: ltens daß er keines bösen Todes
sterben wird; 2tens daß er wird nicht verdammet werden, wenn er dem Guten nachstrebt;
3tens daß er in keine Armuth kommen wird, wenn er entbehren lernt; 4tens daß er ohne
das hochwürdigste Sakrament nicht sterben wird; 5tens daß er sein Ende 12 Tage vorher
erfahren wird; Gtens daß ihm die seligste Mutter Gottes mit allen Heiligen dienen will;
und 7tens daß sie seine Seele in das ewige Lehen führen wird. Wer nun diese heiligen
Gebethe der 12 Freytage weiß, der soll sie auch andern offenbaren.
450
Reiterer, Schütte:
Die zwölf Freytage: Der erste Freytag ist vor des Herrn Fastnacht; der 2te
vor unser lieben Frau Verkündigungstag; der 3te ist der heilige Charfreytag; der 4te
ist vor unsers Erlösers Himmelfahrt; der 5te ist vor dem heiligen Pfingsttage; der 6te
ist vor St. Johannis Baptistatag; der 7te vor St. Petri und Paulitag; der 8te vor unser
lieben Frau Himmelfahrt; der 9te ist vor dem St. Michaelitag; der lOte vor St. Simon
Judätag; der Ute ist vor dem St. Andreastag; und der 12te ist vor dem heiligen Christtage.
[Bei den Rumänen im Harbachtale in Siebenbürgen beginnt der, welcher eine
langwierige Krankheit hat oder einen heissen Wunsch erfüllt sehen möchte, ein
zwölffreitägiges Pasten. Er fastet jeden Freitag vor einem grösseren Feiertag,
also vor dem h. Theodor, vor den 40 Märtyrern, vor Ostern, vor dem h. Georg,
vor Himmelfahrt, vor Pfingsten, vor- Peter und Paul, Ilie, Christi Verklärung,
Kreuz-Erhöhung, Nicolai und Weihnachten. (Pauline Schullerus, Archiv f. siebenbürg.
Landeskunde n. F. 33, 351. 1906.)]
Weissenbach, Post Liezen. Karl Re i ter er.
Segensprüche aus den Alpen.
Meine Nichte Angela Millinger aus St. Martin a. d. S. brachte mir am 8. Oktober
1200 ein geschriebenes Buch, in dem sich mehrere 'Segen und Gebete' befinden.
Der Segen, welcher zu beten ist, so man ausgeht, lautet:
Ein schöner Segen, so man ausgeht.
0 du allerlieiligste Dreifaltigkeit in einer Gottheit, Gott Vater f, Gott Sohn f, und
Gott heiliger Geist f behütet mich und alle meine Leute, die mit mir ausgehen, oder zu
Hans bleiben, anheute diesen ganzen Tag und Nacht, und allzeit vor allem Übel und
Herzenleid, ain Leib und an der Seelen, und am Leben allzeit, Amen. Sowohl als der
Herr Jesus lebet und schwebet, gleich so wahrhaft wird mich auch N. N. sein hlg. Engel
behüthen, im ganzen Hin- uud Hergehen, Gott der Vater ist meine Macht, Gott der Sohn
ist meine Kraft, Gott der hlg. Geist ist meine Weisheit. Der Engel Gottes schlage alle
meine Feind und Wiedersacher auf die Seiten, Amen, fff
Ein gar kräftiger Segen
(zur Zeit eines bösen Ungewitters zu sprechen).
Jesus Christus ein König der Glory ist gekommen in Frieden f Gott ist Mensch
geworden f und daß Wort ist Fleisch geworden f Christus ist von der Jungfrau Maria
geboren worden f und am f gestorben f Christus ist von den Todten auferstanden f
Christus ist gegen Himmel gefahren f Christus überwindet f Christus herrschet f Christus
regieret f Christus wolle uns vor allen bösen Wetter, Donnerschlag, Blitzstrahlen, vor
Hagel und Regengüssen Behüthen f Christus gieng in mitten unter sie im Frieden f und
das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnet f Christ ist bey uns mit
Maria f fliehet ihr wiedrigen bösen Geister der Elemente, denn der Löh von dem Geschlechte
Juda, die Wurzel Davids hat überwunden f o hlg. Gott f h. starker Gott -¡- h. unsterb-
licher Gott f erbarme dich unser. Amen.
C + M + B
3 Vater unser und 3 Ave Maria.
Weissenbach, Post Liezen, Steiermark.
Karl Reiterer.
Kleine Mitteilungen.
451
Bramiseli weigische Segenspriicli e.
Ausser den Heilsegen, die ich oben 10, 62 f. veröffentlicht habe, sind noch
folgende zu meiner Kenntnis gekommen:
1. Gegen das Herzspann:
Ribbenherzspann, ik strike,
In Goddes Namen wike.
Im Namen usw.
2. Gegen das Bluten:
Blut, steh stille,
Denn das ist Gottes Wille.
Wie selig ist der Tag, Du sollst nicht bluten noch schwären,
Wie selig ist die Stunde, Nicht wehe tun noch zehren.
Wie selig ist die Wunde, Im Namen der Dreifaltigkeit, Gott
Wie selig, was ich sag! Vater, Sohn und heiliger Geist.
Dieser Spruch muss dreimal gesagt werden, wobei man drei Finger der
rechten Hand auf die Wunde-legt. [Vgl. Ebermann, Blut- und AVundsegen 1903
S. 71—75.]
3. Gegen die Rose. Man hauche auf diejenigen Körperteile des Leidenden,
die von der Rose ergriffen sind, und sage dabei leise folgende Worte:
Die Rose hat in dieser Welt + Rose + Rose 4- weiche,
Uns Gott als Königin gesandt Flieh auf eine Leiche
Und über ihr das Sternenzelt Und lass die Lebenden befreit
Als Krönungsmantel ausgespannt. Von nun an bis in Ewigkeit! Amen.
(Diesen letzten Segen habe ich, wie den vorigen, von einem alten, nun ver-
storbenen Manne in Schöningen erhalten, der die beiden Sprüche, wie er sagte,
aus einem Kalender in sein Notizbuch geschrieben hatte).
Drei Rosen hatte sie1) in ihrer Hand. Die dritte verschwand
Die erste vergab sie, ihrer Hand.
Die zweite zerbrach sie, ^amen usw-
Was ich hier linde,
Das verschwinde.
4. Gegen die Gicht. Die Gicht bespricht man bei zunehmendem Monde drei
Freitage hintereinander auf einem Kreuzwege mit den Worten:
Was ich sehe, das nehme zu,
Was ich fühle, das nehme ab.
5. Gegen das Ober bei n:
Der Mond, den ich sehe, der nehme zu, Wie der Tote im Grab.
Und mein Oberbein, das ich bestreiche, Im Namen Gottes usw., aber „amen" darf
Das nehme ab nicht gesagt werden.
6. Gegen Blasen auf der Zunge muss dreimal stillschweigend gesagt werden:
Wer mik belügt, will ik wedder bcleigen,
Sali drei Schock Kreien dorch en Ars fleigen.
Braunschweig. Otto Schütte.
1) Wohl die Mutter Maria.
452
Boite:
Charles Perrault über französischen Aberglauben.
Dass Charles Perrault (geb. 1628, gest. 1703) nicht bloss von literarischem
Interesse geleitet ward, als er die Volksmärchen zuerst in die französische Literatur
einführte, sondern auch zugleich eine gewisse Freude an der Beobachtung der
Erzählungsweise des Yolkes und seines Vorstellungskreises empfand, ist ein nahe-
liegender Gedanke. Einen direkten Beweis jedoch dieser volkskundlichen
Neigungen liefern die nachfolgenden, bisher ungedruckten Aufzeichnungen von
ihm, auf die erst jüngst Pletscher (oben 16, 451) hingewiesen hat. Sie stehen
auf zwei Quartblättern, die der auf der Pariser Nationalbibliothek (Fonds français
23 991. 84 Bl. fol.) befindlichen Handschrift von Perraults 'Mémoires de ma vie'
angehängt sind und von P. Patte, dem ersten Herausgeber dieser Memoiren
(Avignon 1759), nicht beachtet wurden. Da die späteren Editoren, Collin de
Plancy (1826) und Paul Lacroix (1842 und 1878), sich mit einem Abdrucke von
Pattes Text begnügten, blieben auch ihnen diese aus dem vorletzten Lebensjahre
Perraults herstammenden Blätter unbekannt.
Ich habe die einzelnen Sätze Perraults numeriert und mit ein paar Literatur-
nachweisen versehen, auf die man hoffentlich nicht die angehängten tadelnden
Bemerkungen des Autors über die Zitierwut unselbständiger Jünglinge anwenden wird.
[85 a] Des superstitions et erreurs Populaires.
1. Qui pourroit les recueillir toutes, feroit le plus gros liure qui fut jamais.
2. Que c'est vu mauuais presage d'estre treize a table et qu'il en meurt clans
l'anné[e]. Si cela estoit ainsi, ce seroit encore pis cl'y estre quatorze.
3. Que de manger de cerueaux auant la St. Laurent cela fait auoir mal aux dents
a ceux qui en mangent.
4. Quii y a moins de moelle clans les os des animaux, lorsque 1a, luue est en
decours que quand elle [est] plaine, qu' Il y a plus de chair dans les ecreuisses en pleine
lune qu'en vn autre temps etc.
5. Talis tota qualis quarta, nisi mutetur in sexta.
6. Quand II pleut a la St. Geruais,
Il pleut quarante jours après.
7. Il n'y a aucune assurance aux predictions, quelles-quelles soient particulières
aux horoscopes. Il est vray qu' Il arriue quelque fois qu'elles rencontrent bien, mais II
vaudroit mieux qu'elles ne rencontrassent jamais; car si elles ne rencont[r]oient jamais,
on pourroit tenir pour certain le contraire de ce qu'elles auoient prédit.
8. Qu' Il y a des jours heureux et d'autres malheureux.
9. Que les pierres sont opiniâtres.
2. Dreizehn bei Tisch. Wander, Deutsches Sprichwörterlexikon 5, 1195.
3. Andere Regeln für den Laurentiustag (.10. August) bei Wander 2, 1821 und
Yermoloff, Die landwirtschaftliche Volksweisheit 1, 357f. (1905).
4. Über den Einfluss des Mondes auf das Wachstum der Pflanzen vgl. Gerhardt,
Der Aberglaube in der fz. Novelle des 16. Jahrb. (Diss. Rostock 1906) S. 116.
6. Ebenso bei Le Roux de Lincy, Proverbes français 1, 78 (1842). Calendrier des
bons laboureurs 1618 (ebenda): S'il pleut la veille saint Gervais, | Pour les bleds c'est
signe mauvais | . . . A cause que par trente jours | Le temps humide aura son cours.
Yermoloff 1, 289 zum 19. Juni.
7. Horoskop: Gerhardt S. 115.
8. Über Unglückstage vgl. Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube §66. Gerhardt S.118.
9. Über Beseelung der Felsen vgl. Sébillot, Folklore de France 1, 325; über die
Eigenschaften der Edelsteine Rieh. Schröder, Glaube und Aberglaube in den afz.
Dichtungen 1886 S. 120—125.
Kleine Mitteilungen.
453
10. Que de rencontrer vn cliatré le matin au sortir de son logis porte malheur.
11. Que de répandre du Sel sur la table ou on mange porte malheur.
12. Que de donner vn cousteau ou des ciseaux rompt l'amitie et la bonne intelli-
gence.
13. Que qui rit le vendredi, pleure le dimanche.
14. Que la rencontre d'vne belette au trauers de son chemin est de mauuais
augure.
[85b] 15. Que le septième garçon né sans aucune fille entre eux guérit des coueHes
[? écrouelles] et que la septième fille née sans aucun garçon entre elles guérit de la
tigne [teigne].
16. Qu' Il y a toujours quelque moment au jour du samedi ou l'on voit luire le
soleil.
17. Qu'vn verre, vne Porcelaine ou vn miroir casser presage quelque malheur.
18. Que d'estre en vne certaine place ou d'estre auprès de certaines personnes porte
malheur au Jeu.
19. Qu'il y a des saints geleux au mois d'Auril, cest a dire qu'il gele plus
ordinairement le jour de ces saints là que la veille ou lendemain.
20. Qu'vn borgne, qu'vn boiteux, qu'vn bossu soit plus méritant ou ayt plus d'esprit
qu'vn autre.
21. Que le chant d'vne ch[o]uette ou d'vne orfraye presage la mort d'vn malade.
22. Que de jeûner le jour de Pasque empesche d'auoir la fieure pendant toute
l'annee et jusqu'à l'autre Pasque au moins.
23. Que le nombre impair est plus heureux que le nombre pair.
24. Que rhyuer est toujours tel que le jour de St. Denis, froid, s'il est froid,
pluuieux s'il est pluuieux, serein s'il est serein etc.
25. Qu' Il ne faut point purger ny se baigner pendant les jours caniculaires.
10. Der Angang eines Entmannten: Lucian bei Grimm, Mythologie 3, 323.
11. Salz verschütten: Wuttke § 293. Liebrecht, Zur Volkskunde S. 331.
12. Messer nicht verschenken: Les évangiles des quenouilles 1855 p. 41 (vgl. oben
13, 457): 'Cellui qui estrine sa dame par amours, le jour de l'an, de couteaux, sachiez
que leur amour refroidera'. Wuttke § 567.
13. Le Roux de Lincy 1, 85: 'Tel rit le vendredi, qui dimanche pleurera'. Wander
1, 1158. Gerhardt S. 118.
14. Angang eines Wiesels: Grimm, Mythol.3 S. 1081. 3, 324. Rolland, Faune
populaire de la France 1, 53. 7, 123.
15. Heilkraft des siebenten Sohnes: Grimm 3, 440. Wuttke § 479. Liebrecht
S. 346 f.
16. Le Roux de Lincy 1, 82: 'Nul samedy sans soleil' (Gruteri Florilegium 1610)
und: 'Le soleil par excellence | Au samedi fait la révérence' (Calendrier 1618). Wander
4, 611 : 'Kein Sonnabend hat so wenig Glück, die Sonne scheint einen Blick'. Dictionnaire
des proverbes danois 1761 p. 397 : 'Ingen loverdag uden soel'. Harrebomée, Spreekwoorden-
boek 2, 506: 'Geen zaterdag zoo kwaad, of de zon schijnt vroeg of laat'. Wuttke §72.
17. Zerbrechen von Glas: Wuttke § 293.
19. Kalte Tage im April: Yermoloff 1, 201f.
21. Eulenschrei: Grimm 3, 485 nr. 8. Wuttke §274. Evangiles des quenouilles
p. 48: 'Quand le seigneur d'un hostel est malade, et un corbauld vient crier dessus la
cheminée, c'est grant signe qu'il mora de ceste maladie'. Rolland 2, 46. Roemer, Aber-
glaube bei den Dramatikern des 16. Jahrh. in Frankreich (Diss. Rostock 1903) S. 43f.
23. Vergil, Ecl. 8, 75: 'Numero deus impare gaudet'. Festus p. 109: 'Imparem
numerum antiqui prosperiorem hominibus esse crediderunt'.
24. Calendrier 1618 (bei Le Roux 1, 77): 'Regarde bien auparavant | Et après saint
Denis [9. Okt.] les jours! | Car si tu vois qu'il gèle blanc, | Les vieux assurent que toujours
Le semblable temps tu revois | Avant et après sainte Croix'. Yermoloff 1, 438.
25. Hunds tage: Liebrecht S. 337 f.
454
Boite, Sikora:
[86 a] 15 octobre 1702.
Paradoxe
Qu' Il n'est pas vtile a tout homme cle deuenir scauant.
Il m'est arriué de dire a mes enfans vne chose qu'aucun Pere n'a peutestre jamais
ditte a ses enfans. Prenez garde, leur dis je, de vous jetter a corps perdu dans l'estude
des sciences que vous n'ayez bien examiné, si vostre esprit est assez fort pour en porter
le poids et ne pas succomber, car II en est de la science comme du vin, on ne doit
prendre de l'vn et de l'autre qu'autant que Ion en peut porter et de sorte que l'esprit
demeure toujours le maisme. pour connoistre l'effect. bon ou mauuais que fait la science
sur celuy qui estudie, Il n'a qu'a voir, si dans la conuersation II ne peut s'empescher
de citer les passages des auteurs qu'il a lus. car cest vne marque qu' Il ne digere pas
ce qu'il lit, puisqu'il le rend, comme II l'a pris. 11 doit alors retrancher quelque chose
de ses lectures ou les quitter mesmes, s'il ne peut s'abstenir de sa mauuaise habitude de
citer des passages a tout moment. Il est euident en ce cas la que sa science domine et
gouuerne son esprit, au lieu que son esprit deuroit gouuerner sa science.
Berlin. Johannes Boite.
Ein Iniisbrucker Mausinventar aus dem Jahre 1626.
Selten finden wir Nachrichten über die Einrichtungen kleinerer Bürgerhäuser
aus der älteren Zeit; gewöhnlich sind es wohl nur Inventare von Schlössern und
dergleichen, die noch auf uns gekommen sind. Nun ist es mir bei meinen
at'chivalischen Forschungen gelungen, auch ein solches von der ersteren Art auf-
zufinden (im Innsbrucker Stadtarchiv), das nicht nur vom kulturhistorischen, sondern
auch vom sprachlichen Standpunkte recht interessant ist.
Das Inventar wurde am 13. November 1626 im Siechenhaus zu Innsbruck
aufgenommen, als ein neuer Pfleger und zugleich Kirchpropst zu St. Nikolaus sein
Amt antrat. Ich will hier nicht das ganze Inventar wiedergeben, weil sich vieles
darin wiederholt. Interessant vor allem sind aber die Einrichtungsgegenstände in
der Wohnung des 'Siechenvaters', namentlich die Art der Betten und die ver-
schiedenen Küchen-, Speise- und Trinkgeschirre.
Aus diesem Teile des Inventars ist hervorzuheben: „Tischgwanndt. 2 Tisch-
tiecher mit plaben Leisten [mit blauem Rand] — 2 claine Tischtiechlen auch mit
laben Leisten — ain härbes [grobes] Tischtiechl in Trylch [Drillich] ge-
wirckht — 7 Hanndtiecher mit plaben Leisten — mer 13 allerlay Hanndtiecher —
2 gwirckhte gwiflete1) Vmbleg2) — ain Fazenet [Schnupftuch] mit seiden außgenäeth
— mer ain Fazenet mit Rostleißten [rostfarben, rot?] — ittem 2 in Trilch ge-
wirckhte Tischtiecher.
Pöthleingwandt. Ain par Leylach [Leintuch] mit roten Leisten — 3 par
Leylach mit plaben Leisten vnnd angewirckhten Frannßen — 8 par Leylach mit
Rostleisten —- 2 par Leylacher, ains mit Madelen3) vnd ander mit Franßen —
1) Die Bedeutung dieses Wortes ist nicht ganz klar; es könnte auch verschrieben
sein für „ g wirfeit" ; doch gibt Schöpf im tirolischen Idiotikon für ein Wort wiilen die
Bedeutung „stampfen" an, was hier auf die Art der Herstellung des Stoffes deuten
würde, während Schmeller im bayr. Wtb. für ein Wort wiffeln die Bedeutung kennt: mit
Nadel und Faden verweben, zustechen etwas Zerrissenes, und ferner: besticken.
2) Dafür konnte ich keine Erklärung finden; mit Vmbleg dürfte vielleicht ein Überzug
oder sogar eine Art Serviette gemeint sein.
3) Das einzige darauf passende Wort scheint mir medel, mädele, Dem. von made =
Wurm zu sein, das vielleicht eine ähnliche Form der Verzierung bedeutete.
Kleine Mitteilungen.
455
mer ain par härbene Leylacher mit Frännßlen — 2 hörbene Petziechen [Bett-
überzüge] — 12 hörbene Kißziechen [Polsterüberziige], darunter aine mit plaben
Ivölisch1) — ittem 2 par dergleichen Leylacher — desgleichen ain grobs par
Leylach."
Dieses Bettzeug war 'in ainer gefirneisten Truchen' aufbewahrt. Nun erfahren
wir weiter, was alles im Gebrauch auf einem Bette gewesen ist. In 'der Herrn
Camer' waren 2 Betten aufgestellt: „ain Sponpethstäte2), darauf 4 federritene3)
Vnterpeth, darunter 2 mit ziechen — 2 parchetene Oberpeth mit khöllischer ziechen —
ain federritener Polster mit ciain geweglter [?] köllischen ziechen — 2 federritene
Polster, der ain mit ainer härbenen ziechen vnnd der ander one ziechen — ain
parchetes Khiß [Kissen] one ziechen — mer 2 federitene Kiß, das ain mit
ainer vnd das andere one ziechen — ain gfarbte deckhen.
Mer ain Petstat mit ain halben Himbl, darauf: 2 federritene vndterpeth mit
werchen [aus Werch oder gewirkt?] ziechen — wider 2 vnterpeth mit plab
geweglten kellischen ziechen — 2 parchetene Oberpeth one ziechen — 1 parche-
tener Polster mit ainer härben ziechen — 4 parchetene Kiß mit daffet besezt,
vnnd ains mit ainer hörben ziechen — 1 parchetcner Polster mit ainer zerrißenen
kellischen ziechen — ain ennglrsche Döckhen."
Auf den 9 'pedtstätten' in der 'Gastcamer' des Siechenhauses befanden sich
je ein Unterbett, ein Oberbett und ein Polster. Auf einem Bett 'in der Camer
darneben', dann auf 'ain himblpedtstat' und einem anderen Bett, die 'in Vorhauß'
standen, und auf zwei weiteren Betten, von denen das eine in der 'Khöchin
CameiT aufgestellt war, war das gleiche Bettzeug mit je einem Strohsack.
Sehr reichhaltig war der Bestand des Geschirrs zum Kochen, Essen und
Trinken Vor allem einmal allerlei Kannen aus Zinn: „3 Vierten4) — 4 drey-
drinckhen5) — 23 maß6) — 1 1 drinckhen — 4 fröggen7) — 2 dreyfröggen7) —
<) praite nidere Khandien."
Ausserdem gab es noch: „ain praun erdener Khrueg mit ain zinen Luckh
[befestigter Deckel] — 3 Khätenilöschl [?] — 3 große vnd ain cleinerer Plan
[flacher Holzteller] — 16 groß vnd cleinere Schißlen — 15 Eßich schißelen —
ain Aiche8) Gießfaß — ittem zum teglichen gebrauch Kandlen: ain vierten, 8 maß,
2 drinckhen, 1 fröggen vnd ain trinckh kbößele."
Aus' Meiling vnd Gloggspeiß' waren folgende Geräte: „ain Tischplan [Platte] —
5 groß vnd cleinere Peckheter [Becken] — ain gluet pfänndl — ain Tischring [?] —
meßingene Leichter — 2 gloggspeißene Höfen, jeder auf 3 fießen — raer ain
raeßingene Schißl — in der Khüchen zum teglichen gebrauch: ain raerser sarabt
ain meßingenen Stempfl — 2 gloggspeißene Haffen."
1} Misch, Geliseli, Golsch, gewöhnlich weiss ,md blau oder weiss und rot gewürfelte
Art Lemwancl.
2, Spannbettstatt oder Spannbett, tragbarer, freistehender Site, dessen Kissen in
einem nach Art unserer Jagd- und Feldstühle gespannten Gestelle liegen (Schneller 2, 672)-
vielleicht ein zusammenlegbares Bett.
8) Federiti ist eine Art geköperter, oft blaugestreifter Leinwand, welche wegen ihrer
Dichtheit besonders zu Unterbettziechen oder Federgefässcu gebraucht wird.
4) 1 Vierten oder Viertel war gleich 2 Maß = 4 Seidl oder Trintel, drinlhen.
5) Wahrscheinlich = 3 Seidel (s. Note 4).
ti) Dei Masskrug war gewöhnlich aus Steingut, und mit einem zinnenen Deckel
(Luck) versehen.
7) Fröggen = fra ekel e = 1/8 Mass.
8) Entweder = die Eich, ein Mass, oder eichen, aus Eichenholz.
456
Sikora, Andree:
Ferner 'Kupfergschir': „ain Padplan [?] — ain drinckh khößele — 2 claine henng
khößelen — in der Khüchen, so teglich gebraucht wierdt: ain kupferne pfann —
ain cleinere pfann — 3 khupferne Pöckhat [Becken] — 3 Seichpfannen [ein
Geschirr zum Durchseihen von Flüssigkeiten] — ain khupfernes Henngkhößele —
ain Waßergazen1) — ain große vnd ain cleinere Leberpfan [?] — ain langgelete
[länglich] Pratpfan — mer ain gluckhter [mit einem Deckel versehen] großer
Waßerkhößl — ain etwas cleinerer dergleichen khößl — ain waßerwänndl — ain
milch khößl — mer ain deines drinckh khößele mit ainen Luckh vnd zapfen
[eine Art Pipe wie beim Fass?] — ain kanndl — ain kupfernes Gießfaß — im Pad:
ain eingemauerter Khößl von 4 Schaff waßer groß."
Ferner war noch an eisernem Küchengeschirr vorhanden: „24 groß vnd cleinere
Eißen Pfannen — 5 schöpf- vnd faimb-2)khällen3) — ain große vnd ain cleinere
Pratpfannen — 2 Mueßer4) — 3 Khiechlspieß5) — 2 Pratspieß — 2 Rost —
2 Dreyfueß — ain feurhundt — ain herdtpääl [?] — ain ofenplöch — 3 eißene
Leichter — 6 Haffendeckhen."
Im übrigen sind noch unter 'gemainer varnus' verschiedene Truhen, Kasten,
dann eine 'lainpanckh' [Bank mit Lehne], 'ain alter schwarzer Seßl, ain griener
Seßl, ain lange Speißdruchen [zur Aufbewahrung von Küchenvorrat], ain Sidl-
druchen6), etlich claine drichlen' und noch folgende Geräte verzeichnet: „ain eißene
Schauffl — ain Lutern [Laterne?] — 24 hilzene Schißlen, ciain vnd groß — bey
50 hilzene Tischtöller — etlich hilzene khällen — ain Salztaufl7) — 2 Melltaufl7)
— etlich Khathöfen8) — ain Pulifersib — ain Asthackhen — ain Fleischpeill —
etlich Protkherb — 7 Waßerschäffer, ciain vnd groß — ain clains Häckhl — ain
Prothenng — ain Nudlpredt — 4 hilzene Muelter [die Molter, ein Trog, gewöhnlich
zum Anmachen des Teiges] — ain Spuelradt — etlich hilzene Stazen9) —
4 ziber10), ciain vnd groß, guet vnd peß — ain Schärr — ain drachter [Trichter]
— ain ganz khornstär11) — ain halbs khornstär — ain straiffmesser — ain
zanngen — ain Spansag [Säge] — ain höchl — ain haspl — ain weißer Seßl —
ain Schneiwag — ain Eßichkhrueg — 2 Pfaneißen — ain hilzener Pfannenkhnecht
[Vorrichtung zum Halten der Pfanne] — ain Pickhl [kleine Spitzhaue] — ain-
Hauen."
Innsbruck. Adalbert Sikora.
1) Gatzen ist ein dem Schöpflöffel ähnliches Geschirr, gewöhnlich von Kupfer, ¿um,
Schöpfen von Flüssigkeiten aus einem grösseren Gefäss.
2) faimen hat die Bedeutung schäumen und Schaum wegnehmen.
3) Die Kellen ist ein Löffel mit langem Stiele, besonders Kochlöffel.
4) Der Löffel, die Kelle, mit der das Mus in der Pfanne gerührt wird.
5) Kiiechel = in Schmalz gebackener Kuchen aus feinerem Teig; Küechelspieß = Eisen,,
an dessen Spitze die gebackenen Küechel aus dem siedenden Schmalz geholt werden.
6) Eine Bank, die zugleich Sitz und Behältnis für Wäsche, Kleider usw. ist.
7) Melltaufl ist nach Schmeller (Bayr. Wtb. 1, 491) das Mehlgefäss der Älpler; die-
Salztaufl dürfte demnach ein hölzernes Gefäss zur Aufbewahrung des Salzes sein.
8) Khat, kât = Kôt = Kot.
9) Stotzen, Stamm, Klotz. Im Gebirge: rundes, weites Gefäss für Milch usw. aus-
Linden- oder Ahornholz.
10) = zûber, offenes Gefäss zum Waschen mit zwei Handhaben.
11) Stär in Tirol Mass für Getreide = 1/2 Wiener Metzen.
Kleine Mitteilungen.
457
Das neue vlämische Museum für Volkskunde in Antwerpen.
Am 18. August 1907 ist in Antwerpen ein Muzeum voor vlaamsche Folklore
eröffnet worden, das ich gleich darauf unter der Leitung seines Vorstandes,
Dr. Max Elskamp, besuchen konnte und das in vieler Beziehung neues und von
anderen volkskundlichen Museen abweichendes bietet, so dass es wohl einer
kurzen Anzeige an dieser Stelle würdig erscheint. Kennzeichnend für diese
Sammlung ist die grosse Liebe und Sorgfalt, mit welcher sie zusammengebracht
ist, ferner die in Gegenständen vorgeführten verschiedenen Formen des Aber-
glaubens, die wir sonst meistens nur in der Beschreibung kennen lernen und
gewöhnlich in unseren deutschen volkskundlichen Museen fehlen.
Das neue Museum ist in einem kleinen mehrstöckigem alten Gebäude in der
Heiligengeiststrasse Nr. 16 untergebracht, dicht neben dem bekannten Museum
Plantin. Es ist nicht nötig hier auf den Nutzen der neuen Schöpfung einzugehen,
an deren Zustandekommen eine Anzahl für das vlämische Volk begeisterter
Männer seit Jahren wirkten; aber dringend nötig war es, denn in dem industriellen
Belgien schreitet die Nivellierung und das Verschwinden alter Bräuche und Dinge
womöglich noch schneller vorwärts, als bei uns.
Zur Belebung des vlämischen Volksbewusstseins, das in Antwerpen ja eine
gute Stätte hat, wird das neue Museum sicherlich beitragen, und an den Wänden
der Säle sind auch die Namen der um die vlämische Bewegung verdienten
Männer: Willems, Prudens van Duyse, Pol de Mont, de Bo, A. de Cock,
Teirlinck u. a. angeschrieben und zwischen ihnen auch unser Hoffmann von
Fallersleben, der einst dichtete: 'Vlamen, bei Tag und Nacht denk ich an euch!'
Noch fehlt ein beschreibender Katalog, aber eine gute Naamlijst der verzamelde
voorwerpen ist vorhanden, welche auch erkennen lässt, nach weichen Grundsätzen
das Museum errichtet wurde. Den Beginn macht das Haus mit allen zu seiner
Einrichtung gehörigen Dingen, namentlich den Ziegelarten, unter denen die
Papensteene hervorzuheben sind, die von den Mönchen in S. Bernhard an der
Scheide seit dem 17. Jahrhundert in den Handel gebracht wurden, darunter solche
in Krötenform (padden), putsteene (Brunnensteine), alle gebrannt in offenen Öfen
(Klampen) und lehrreich für die alten Ziegelformen. Die Herd-, Feuer- unci
Leuchtgegenstände, darunter die Kesselhaken (halen), zeigen nur wenig Abweichendes
von den auch bei uns bekannten und gesammelten Formen, namentlich in nieder-
deutschen Gegenden. Wir müssen auf dem Gebiete volkskundlicher Gegenstände
jetzt vergleichende Reihen schaffen, nachdem wir aus den einzelnen Land-
schaften den Stoff gesammelt haben. Ich wenigstens habe gefunden, dass vieles,
namentlich im Beleuchtungs- und Hauswesen, von Portugal bis Siebenbürgen
(und gewiss noch weit darüber hinaus) fast identisch ist und die gemeinsame
Kultur verrät. An das Haus schliessen sich die Möbel, die Küche, Speise
und Trank. Wo die Gegenstände sich nicht in natura bewahren liessen, sind
gute Nachbildungen in Gips oder Holz vorhanden, so bei den Butterklumpen
(boterklompen), wie die Bäuerin sie zu Markte brachte und die mit den Molkereien
natürlich auch verschwinden. Reich vertreten sind die Lebkuchen und alten
Lebkuchenformen, bei denen die Trachten und namentlich die Heiligendarstellungen
hervorzuheben sind, wie denn ein gut katholischer Zug das ganze sich hier aus-
prägende Volkstum kennzeichnet. Die Brotgebäcke in den verschiedensten Formen
fehlen nicht, wobei auch die Jahreszeiten berücksichtigt sind, was Freund Höfler
in Tölz zur Beachtung empfohlen sei. Roggenbrot wird heute in Belgien nicht
mehr gegessen; um so beachtenswerter sind die hier ausgestellten alten, männ-
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1907. qq
458
Andree:
lichen und weiblichen Figuren aus dunklem Roggenmebl, roh gestaltet, wie
afrikanische Fetischfiguren, mit sehr ausgeprägten männlichen und weiblichen
Geschlechtsteilen. Das sind der Roggen-vent und das Roggen-wijf, die sich
Verliebte scherzweise in der Fastenzeit gegenzeitig schenkten.
Folgt das Familienleben mit allem, was dazu gehört, mit einer reichen
Sammlung von Kinderspielzeug, allem, was sich auf die Hochzeiten und den
Tod bezieht. Auch hier findet man Totenkronen, allerlei Grabschmuck und den
Seelenkuchen (zielekoekje), den ersten Pfannkuchen, den man am Weihnachts-
abend bäckt und zum Gedächtnis der verstorbenen Familienglieder ins Feuer
wirft. Hier schliesst sich an die weibliche Handarbeit mit den zum Nähen,
Klöppeln, Spinnen nötigen Geräten, die Kleidertracht und eine reiche Sammlung
von Holzschuhen (Klompen) in verschiedenen Formen und Verzierungen. Die
Abteilung Schmuck beginnt mit Tätowierungen, die auf den Abgüssen der be-
treffenden Körperteile nach der Natur aufgemalt und namentlich bei den Schiffern
reich vertreten sind. Im Lande der starken Raucher ist dem Tabak und den
Pfeifen eine besondere Abteilung gewidmet. Die Tonpfeifen mit langem dünnen
Rohr und kleinem Kopfe, zuweilen mit Heiligendarstellungen, spielen da eine
Rolle, und es fehlen auch nicht die oft sehr urtümlichen Etiketten der alten Tabaks-
pakete in rohen Holzschnitten, mit schönen Versen und qualmenden Türken oder
Negern. Wer seinerzeit berühmt oder beliebt war, erscheint im Bilde auf den
bemalten Pfeifenköpfen, bis herab zu den Führern im letzten Burenkriege: de Wet,
Botha, Krüger. Die auf den Tabak bezügliche Sammlung zählt über 200 Stück.
Die auf die Handwerke bezügliche Abteilung enthält nicht nur die Geräte
und Instrumente der einzelnen Gewerbe, sondern auch die Darstellungen der
Festlichkeiten der Gilden und was damit zusammenhängt. Auch die alten originellen
Aushängeschilder, die in unseren Städten verschwunden sind, fehlen da nicht.
Da ist ein Schild: Hier verkoopt men Kanarienvogels, deren zwei dabei abgemalt
sind — nur eine Kleinigkeit, aber immerhin auch in eine solche Sammlung
gehörig, die uns eben das Volkskundliche in allen seinen Stufen vorführen will.
Unter den Festlichkeiten der Gilden finden wir den alten Neujahrswunsch der
Kraenkinders (in Kupferstich), Arbeiter an den Schiffskranen, vertreten mit
französischem und vlämischem Verse:
Nous sommes les enfants de la grue, Kraenkinders werken den wijn,
Nous travaillons le vin cru, Voeren voor ieder wie inagh zijn,
Pour MM. négotiants et bourgeois, Heeren Kooplieden en borgers te gaer.
Nous vous souhaitons une heureuse année. Wy U wenschen en zalig nieujaar.
Die auf das soziale Leben bezügliche Abteilung umfasst die Schule, den
Kriegsdienst, Vergnügungsgesellschaften, öffentliche Spiele, Kirmessen und Umzüge.
In der Abteilung Schule findet man z. B. Klapperinstrumente, um den Rhythmus
beim gemeinsamen Gebete zu regeln, die verschiedenen Formen der Pennäle,
die Formen der Tintenfässer und darunter ganz verschwundene. Wie ein Traum
aus meiner Jugend tauchte da auch der 'Stecher' vor mir auf, das aus Horn ge-
drechselte, unten mit einer Stahlspitze versehene zylindrische, wohlverschlossene
Tintenfass, welches man ins Kolleg mitbrachte und vor sich in die Tafel stiess.
So nur wird heute noch der Vers im Studentenliede verständlich:
Das ist freilich schon ein halbes Jahrhundert her, und welcher Bruder Studio
weiss heute etwas vom Stecher und der Gänsefeder? Der Abschnitt über das
Wohl gespitzt die Gänsefeder
Und den Stecher tintenvoll,
Sass ich da vor dem Katheder,
Dem der Weisheit Born entquoll.
Kloine Mitteilungen.
459
Soldatenleben zeigt Züge, die wir, im Lande der allgemeinen Wehrpflicht, nicht
kennen. In Belgien besteht noch das Losen, eine hohe Nummer befreit vom
Dienste, und um solche zu erlangen, wenden die Rekruten allerhand Zaubermittel
an, die reichlich im Museum vertreten sind. Da hält der Losende den Schädel
einer Ratte in der Hand, wenn er in die Urne greift, er trägt einen Maria-
Theresiataler bei sich, der als besonderer Talisman der heute noch in Belgien
verehrten Kaiserin Bildnis trägt, oder ein Stück vom Stricke eines Gehängten;
Nr. 1398 zeigt einen gesegneten roten Faden von Hoogstraten, welcher das dort
verehrte heilige Blut darstellt und gut für die Befreiung beim Losen ist, auch
das 'Kaiserkarlgebet' tragen die Losenden bei sich, dazu allerlei Heiligenmedaillen.
Kommt der Mann frei, so gestaltet er aus seinem Loszettel ein Dankvotiv, lässt
ihn in Silber fassen und bringt ihn dem Heiligen. Solche, mit französischer und
vlämischer Inschrift, sah ich vielfach in der Augustinerkirche in Antwerpen. Z. B.
Was die Fischer gebrauchen an
Gerät, die in Belgien noch sehr häufigen
Bogenschützengesellschaften (S. Sebastians-
gesellschaften), die zahllosen Vereine
und ihre Vereinsabzeichen »und Me-
daillen, allerlei auf Volksspiele bezügliches
Gerät ist mit Erklärungen hier zu sehen.
Da will ich nur eine bezeichnende
Belustigung hervorheben, die sich auf eine Flasche (Nr. 1541) bezieht: Das Preis-
pissen der Weiber. Dieses fand unter strengem Ausschlüsse der Männer auf
Kirmessen statt, wobei die Weiber aus ziemlicher Entfernung in eine mit einem
Trichter versehene Flasche pissen mussten.1) Diejenige, welche die nicht kleine
Flasche zuerst gefüllt hatte, gewann den Preis. Die heute noch in Belgien ge-
bräuchlichen Umzüge der Riesen und des Rosses Bayard sind nur durch Ab-
bildungen vertreten, während ich im Museum des Steen, am Antwerpener Hafen,
die über mannshohen aus Holz geschnitzten Köpfe der Riesen sah. (Gute Nach-
richten über den Umzug mit den Riesen in Belgien finden sich bei v. Reinsberg-
Düringsfeld, Das festliche Jahr, Leipzig 1863, S. 238 ff.).
Ich übergehe, um nicht zu breit zu werden, was über die volkskundlichen
Seiten von Verwaltung und Justiz (Bestuur en Gerecht) im Museum enthalten
ist, worunter auch Wilddiebereigeräte, verbotene Spiele, falsche Münzen, Kerb-
hölzer sich befinden, und gehe über zu der so reichen Sammlung, die sich auf
das religiöse Leben bezieht, die religiöse Erziehung, Ablass, Gebete, Brüder-
schaften und Beginen,. Pilgerfahrten, Prozessionen, Votive, allerlei Devotionalien.
Die Sammlung der Litaneien ist da höchst beachtenswert; wir finden solche,
meistens in alten Drucken, vom Evangelisten Johannes für die Keuschheit, vom
H. Eligius für die Gefangenen, vom H. Rochus gegen die Pest, vom Johannes
v. Nepomuk gegen das Ertrinken, vom H. Antonius v. Padua für Wiedererlangung
verlorenen Gutes, von S. Hubertus gegen die Hundswut usw. Die Statuten,
Regeln und Privilegien der geistlichen Brüderschaften, Beguinagen usw. sind reich
vertreten, nicht minder alles, was sich auf die noch so blühenden Wallfahrten und
Pilgerschaften bezieht, die jetzt so erleichtert sind, dass, wie ich in Anschlägen
in den Kirchen Belgiens und am Niederrhein sah, sie nach Rom und Jerusalem
jetzt 'auf Abzahlung' veranstaltet werden! Die Pilgerfahnen, Anzüge, Muscheln
1) [Vgl. dazu Val. Schumanns Nachtbüchlein 1893 Nr. 7 und J. Freys Gartengesell-
schaft 1898 S. 278.]
30*
1 977
Negentien hundert
zeven en zeventig.
460
An dree, Boite, Zachariae:
und Stäbe sind teils im Original, teils in Abbildungen vorhanden, die verschiedenen
Heiligenbilder, Legenden und Medaillen der zahlreichen Gnadenstätten kann man
hier bequem überschauen. Dazu Votive in Wachs und Silber, ganz ähnlich den
süddeutschen, doch fehlt in Belgien die Kröte (Gebärmutter), dafür treten aber
Hunde, Katzen, Kanarienvögel auf, die wieder in Süddeutschland fehlen. Ich
will hier bemerken, dass in dem niederrheinischen, durch Heinrich Heine be-
sungenen Wallfahrtsorte Kevelaer seit kurzem von der Geistlichkeit auf das
strengste verboten ist, die höchst primitiven 'janzen Körper', Augen, Füsse, Hände
aus gelbem Wachse zu verkaufen. Es gelang nicht, trotz hohem Angebot, die
noch dort vorhandenen Exemplare zu erlangen. Auch Anschläge in den Kirchen
mit den Aufforderungen zu bedevaarten, Ablassankündigungen sind gesammelt.
In den katholischen Teilen Deutschlands liesse sich ähnliches zusammenbringen;
als Kulturzeugnisse von grossem Belange dürften sie auch in unseren volkskund-
lichen Museen nicht fehlen.
Ich lasse auch die Volksbücher, die gedruckten Lieder, alles was sich
auf Musik bezieht, die Puppenspiele, beiseite, die man hier vortrefflich
studieren kann und erwähne zum Schlüsse nur den Teil des Museums, der uns
den Aberglauben und die Zauberei des vlämischen Volkes vor Augen führt.
Was da von Zaubergeräten, Wahrsagekünsten, Sterndeuterei, Geisterlehre, Hexen,
Kurpfuschern, Zaubertränken, Beschwörungen usw. mitgeteilt wird, is-t vortrefflich
geordnet und, soweit möglich, durch Gegenstände oder Abbildungen erläutert.
Sehr vieles deckt sich mit dem bei uns vorhandenen Aberglauben, aber in keinem
unserer Museen ist alles das so übersichtlich zusammengebracht, und Antwerpen
verdiente da als Vorbild Beachtung. Wir finden die Zauberkarten, die Tabellen
für Traumdeutung, das in der Andreasnacht gegossene und gedeutete Blei, die
Veranschaulichung des Wahrsagens aus Mehl oder dem Kaffeesatze, das Liebes-
thermometer, den Tierkreis, Planetenstellungen, Wachsherzen mit Nadeln durch-
stochen, um Rache zu nehmen, Früchte von Trapa natans, dem Teufel geweiht,
um ihn günstig zu stimmen, Amulette der verschiedensten Art usw.
Man erkennt aus diesen kurzen Anführungen, dass die gegen 3000 Nummern
zählende Sammlung sehr vieles enthält, was in unseren deutschen volkskundlichen
Museen bisher wenigstens systematisch nicht gesammelt wurde, und ich möchte
sie da als Vorbild empfehlen.
In einem Begleitworte heben die Begründer des vlämischen Volkskunde-
museums hervor, dass sie es aus Liebe zu ihrem Volke geschaffen hätten, um
die stofflichen Zeugnisse seines geistigen Lebens auch der Zukunft zu bewahren..
Sie wollten auch dem gemeinen Manne sein Museum geben, das ihn vielleicht
mehr zum Nachdenken veranlassen würde als all die Museen mit köstlichen
Kunstschätzen. „Während auf unserer Scheide die Schiffe aller Völker der Erde
verkehren, während überall die Stimme der Völker einen gemeinsamen Chor-
gesang anheben, ist es nötig, dass auch wir mitsingen. Freilich wird unsere-
Stimme nur schüchtern klingen, aber wir wollen doch unsere Musik ertönen
lassen. Und darum soll man wissen, wie bei uns die Glocken läuten, wie unsere
Wohnungen aussehen, was unsere Arbeiten sind, wie es sich mit unserem
Geschmack, unserer Nahrung, unseren Vergnügungen verhält. Darum soll in dem
grossen Völkergesang auch die Stimme unseres kleinen Vaterlandes miterklingen."■
Das ist durch das 'Muzeum voor Vlaamsche Folklore' in seiner W eise auch
trefflich erreicht worden, und den germanischen Stammesbrüdern an der Scheide
gebührt auch von unsrer Seite aus Dank dafür.
München. Eichard Andree..
Kleine Mitteilungen.
461
Spielmannsbusse im 14. Jahrhundert.
Zu den von Gierke') gesammelten Zügen des Humors im alten deutschen
Recht gehört auch die folgende Lüneburger Satzung2) aus dem 14. Jahrhundert.
Dass rechtlosen Leuten für einen ihnen zugefügten Schaden nur eine Scheinbusse
gewährt wird, ist längst bekannt3); hier aber müssen sie durch ihr eigenes Gerät,
die Würfel, die Höhe der Busse bestimmen, die ihnen für eine Scheltrede auf-
erlegt wird:
'Were dat yenich loder edder gherende man au der stad queme, de gheld neme dor
sines ghylendes willen, vnd wolde de enen guden man vorhunen mit worden eder mit
daden, worde he dar vmme tuchteghet vnd esschede lie beteringe, men scholde eme dre
worpele in de hand doen; alse mannich oghe he worpe, alzo manighen pennig scholde
he eme to beteringe gbeuen, vnd enscholde dar nene noed mer vmme liden. Dat
enscholde auer nicht wesen vnser heren ghesynde eder der stad'.
Eine lateinische Fassung derselben Bestimmung aus dem 15. Jahrhundert
lautet: 'Si histriones quenquam offendermi facto vel verbo, et correcti fuerint pro
eodem, et si requirant emendam, tunc tesseras projiciant, et quot oculos sive asses
projecerint cum talibus [talis}, tot habebunt denarios pro emenda.' J. B.
Die Aufgabe, Stricke aus Sand zu winden.
(Vgl. oben 17, 172 — 186.)
Herr Professor A. Wünsche macht mich darauf aufmerksam, dass die Sand-
strickaufgabe auch in einer hessischen Sage bei J. W. Wolf, Hessische Sagen
(1853) Nr. 130 S. 88 vorkommt. Die Sage selbst ist wiedergegeben von
A. Wünsche in seinem Buche: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel, Leipzig
und Wien 1905 S. 50. Zu einem hessischen Bauer, dessen Gehöft abgebrannt
war, und der kein Geld hatte, es wieder aufzubauen, kam einst der Teufel als
grüner Jäger und versprach, ihm zu dienen, wenn er stets Arbeit für ihn habe,
sei dies aber nicht der Fall, so sei er sein. Der Bauer ging auf den Vertrag
ein, denn er dachte, Arbeit will ich schon immer für ihn haben. Zuerst trug er
ihm auf, das abgebrannte Haus wieder aufzubauen, doch das war schon am
nächsten Morgen fertig. Dann musste er ihm die Äcker pflügen und eggen, doch
auch diese Arbeit war in einem Tage getan. Hierauf befahl er ihm, eine Strasse
bis zur Stadt zu bauen, was ebenfalls nur einen Tag in Anspruch nahm. Jetzt
trat dem Bauer der Angstschweiss auf die Stirn, denn er sah ein, dass er sehr
leichtsinnig gehandelt hatte. Als seine Frau ihn so trübselig und finster umher-
schleichen sah, fragte sie ihn, was ihm denn fehle und warum er nicht zufrieden
sei. Der Bauer erzählte ihr, was vorgefallen war und dass er nicht mehr lange
zu leben habe, da der Teufel jede ihm aufgetragene Arbeit sehr schnell fertig
bringe. Da lachte die Frau und sprach: Da ist leicht zu helfen. Sie gab ihm
einen so guten Rat, dass er wieder ganz heiter wurde. Als der Teufel am
nächsten Tage hohnlachend seine Arbeit forderte, führte ihn der Bauer zu einem
Sandbuckel nahe bei seinem Hause und sprach zu ihm: Das Seil am Brunnen
1) O. Gierke, Der Humor im deutschen Recht, 2. Aufl. Berlin 1886. Vgl. Liebrecht,
Zur Volkskunde 1879 S. 414—430.
2) Das alte Stadtrecht von Lüneburg hsg. von W. Th. Kraut 1846 S. 28f.
3) Grimm, Rechtsaltertiimer3 S. 678. Gierke S. 44.
462
Ebermann, Lohre:
ist faul, drehe mir aus dem Sand ein Seil, das meinen Kindeskindern
noch aushält! Kaum hatte der Teufel den neuen Auftrag vernommen, so fuhr
er wütend auf und sagte: Das hat dir ein anderer geraten, der klüger ist als du.
Damit verschwand er, während ihn der Bauer herzlich auslachte.
In der Anmerkung zu dieser Sage (s. Hessische Sagen S. 199) erinnert
J. W. Wolf an die Sage von Michael Scott und seinen Teufelsgesellen, denen er
nie genug Arbeit geben konnte, bis er ihnen endlich befahl: 'Geht und windet
mir Seile, welche mich auf den Mond bringen und macht sie aus
Mühle'nschlamm und Meersand.' Das verschaffte ihm Ruhe und wenn es
an anderer Arbeit fehlte, so schickte er sie ans Seildrehen. Zwar glückte es
ihnen nicht, eigentliche Seile zustande zu bringen, allein man sieht doch bis auf
diesen Tag an dem Meer noch Spuren ihrer Arbeit (Irische Elfenmärchen. Über-
setzt von den Brüdern Grimm. Leipzig 1826. Einleitung S. XXXY).
Ich verweise noch auf die Geschichte von dem 'Gentleman of Paris, who
was reduced in Circumstances', die ich oben 17, 185 nach Greys Ausgabe des
Hudibras mitgeteilt habe.
Halle a. S. Th. Zachariae.
Berichte und Bticlieranzeigen.
A. l'Houet, Zur Psychologie des Bauerntums. Ein Beitrag. (Im Anschluss
an synodale Verhandlungen, sowie in Verbindung mit dem 'Ausschuss
für Wohlfahrtspflege auf dem Lande' zusammengestellt). Tübingen,
J. C. B. Mohr (P. Siebeck) 1905. YI, 306 S. 8°.
In unserem Volksleben vollzieht sich immer mehr eine verhängnisvolle
Spaltung: auf der einen Seite überreizte Hochkultur, auf der anderen kerniges
Bauerntum; zwischen beiden oft kaum noch die Möglichkeit einer Verständigung.
Hier greisenhaftes Absterben, dort jugendlich kraftvolle Gesundheit! 'Derselbe
Unterschied zwischen Jugend und Alter, zwischen Mittelalter und
Neuzeit, welcher in der ganzen Welt grundsätzlich andere Lebens-
prinzipien mit sich bringt....: Dieser selbe Unterschied charak-
terisiert unseres Erachtens den Hauptteil des heutigen Ab st and e s
zwischen Bauerntum und Kultur' (1G8). Diesen Satz zu beweisen, ist die
ausgesprochene Tendenz des Buches. Nach einer eingehenden Betrachtung des
bäuerlichen Lebens, seiner äusseren Bedingungen und Erscheinungsformen, wird
das religiöse Empfinden des Bauern und sein Verhältnis zum Dogma behandelt.
Auf eine Untersuchung und Würdigung der bäuerlichen Moral, folgen Vergleiche
des Bauerntums mit dem Mittelalter, der Halbkultur und der Kinderwelt.
Verf. hat als evangelischer Pfarrer lange Zeit in inniger Berührung mit dem
niederdeutschen Bauerntum gelebt und stützt und erweitert seine auf eigener An-
schauung beruhende Kenntnis durch Heranziehung einer weitschichtigen Literatur
älterer und neuerer Zeit Wenn so das Tatsachenmaterial des Buches als durchaus
Berichte und Biiclieranzeigen.
463
zuverlässig angesprochen werden darf, so werden — bei dem polemischen Charakter
der Darstellung — nicht alle Verallgemeinerungen und Polgerungen unangefochten
bleiben. Die Tendenz, einer dekadenten Zeit den Spiegel urwüchsigen Bauern-
tums vorzuhalten, rechtfertigt es z. B. nicht, 'Über'- oder 'Hochkultur' einfach durch
'Kultur' zu ersetzen. Der Unterschied von Kultur und Hochkultur wird zwar
(S. VI) hervorgehoben, aber die Darstellung, der es auf die Herausarbeitung
starker Gegensätze ankommt, vermeidet es, die Stellung der gesunden Kultur zu
präzisieren; man könnte sie, um im Bilde zu bleiben, etwa dem reifen Mannes-
alter vergleichen. In der wohlwollenden Beurteilung bäuerlicher Betrügereien,
sofern sie an Städtern verübt werden, vermag ich dem Verf. nicht zu folgen.
Immerhin bietet das temperamentvoll geschriebene Buch auch dem Leser, der
nicht in allen Einzelheiten mit dem Verf. übereinstimmt, Anregung und reiche
Belehrung; besonders die Abschnitte, die von der Bauernkirche und der Bauern-
schule handeln, enthalten Beherzigenswertes. Freilich ist der Yerf sich bewusst,
dass seine ideale Schilderung bäuerlicher Verhältnisse schon heute in den meisten
Gegenden nicht mehr zu Recht besteht, dass besonders die bäuerliche Moral durch
die Berührung mit der Hochkultur schwer gelitten hat, und so schliesst das Buch
mit einer sorgenvollen Betrachtung der weiteren Entwicklung des Bauerntums.
An Druckfehlern sind mir neben Hundlungen (S. 78), ihren (S. 143) und konigierten
(S. 253) aufgefallen: Rossinna (S. 42 Anm. 1) und daselbst (Aum. 2) Jak. Bruckhardt.
Wilmersdorf. Oskar Ebermann.
Albrecht Keller, Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors.
Freiburg (Baden), J. Bielefelds Verlag 1907. XVI, 388 S. 8°. 8 Mk.,
geb. 10 Mk.
Die Geschichte weit verbreiteter Vorurteile ist immer reizvoll und zuweilen
belehrender als die Geschichte von Tatsachen. So war es gewiss auch eine dank-
bare Aufgabe, dem absonderlichen Leumund der Schwaben genauer nachzufragen,
jenes bestgehäuselten Stammes, der unter anderem Gesichtspunkte doch wieder
so ernst genommen werden musste, dass der Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts
das ganze Mittelalter als 'schwäbisches Zeitalter' nach ihm benannte. Mit grossem
Fleisse hat K. das verstreute Material zusammengetragen, das den wechselnden
Ruf der Schwaben beleuchtet. Schon zwei Gedichte des 10. Jahrhunderts, der
Modus Liebinc und .der Modus Florum, kennen den pfiffigen Schwaben, doch
lässt sich eine Ausnahmestellung des ganzen Schwabenstammes in altdeutscher
Zeit nirgend erweisen. Die Stauferzeit ist das Ehrenzeitalter der Schwaben;
schwäbische Rittersitte wird vorbildlich, schwäbische Sprache gilt, ohne es doch
zur Schriftsprache zu bringen, für besonders fein, die Schwaben haben das Vor-
strittrecht in der Schlacht und tragen die Reichssturmfahne; von ihrer Tapferkeit
künden Mären, deren Nachhall uns in Ohlands 'Schwäbischer Kunde' begegnet.
Aber die folgende Zeit aufblühender städtischer Kultur lässt mit den ritterlichen
Idealen auch die ritterliche Gloriole der Schwaben erblassen; das Ende der
Stauferherrschaft und die in Schwaben rasch eintretende staatliche Zersplitterung
vernichtet ihr politisches Ansehen; übelwollende Nachbarn, vor allen die Schweizer,
flicken ihnen viel am Zeuge. So finden die allenthalben nach Stoffen aus-
schauenden Schwankdichter des -16. Jahrhunderts schon viele Schwabenneckereien
im Volksmunde vor, die in Bebels Fazetien noch harmlos, ohne ausgeprägte
Spitze gegen die Stammesart, von Späteren aber immer deutlicher als die Sünden
464
Lohre, Heusler, Boite:
des Sündenbockes der deutschen Stämme aufgetischt werden. Der einfältige, der
grobe, der gemütliche Schwab wird stehende Figur in der burlesken Dichtung bis
zum 18. Jahrhundert. In der Aufklärungszeit erhebt sich wohl noch manche
bildungsstolze Stimme über schwäbische Rückständigkeit, aber der nüchterne
Blick der Zeit bemerkt auch die Übertreibungen der Schwabenpossen, und so
beginnt jetzt die 'Schwäbisch Ehr-Rettung'. Siegreich wird sie aber erst, als
Schwaben, nach Vischers Wort, „aus seiner engen Existenz die Welt auf einmal
mit einem Schiller, Schelling, Hegel überrascht." Unbesorgt, noch ferner in
seinem eigentümlichen Werte verkannt zu werden, kann seither der Schwabe mit
Freiheit auch der eigenen Schwächen gedenken, und so sind es gerade Schwaben,
wie L. Aurbacher, die der alles verstehenden Gegenwart die Streiche der sieben
Schwaben und Ähnliches humorvoll erneuen.
Das ist in grossen Umrissen die Geschichte von Schwabens Ruf, wie sie K.
aus reichlichen Quellenzitaten und sparsamem eigenem Raisonnement aufbaut.
Nicht auf alle Strecken fällt von den Quellen her gleiches Licht. Jener grosse
Umschwung, der aus dem ritterlichen Schwaben der Stauferzeit das einfältige
Schwäblein macht, behält trotz der Bemühungen des Yerf. etwas Unvermitteltes,
Dunkles; wir sehen zu wenig von dem Keimen und Anwachsen der neuen
Stimmung. Bei dem erneuten Umschwünge im ausgehenden 18. Jahrhundert
werden die Anfänge weit besser sichtbar; vor allem war hier der Verf. in der
Lage, aus Schwaben selbst charakteristische Weckrufe zu verzeichnen, das alte
Vorurteil durch neue Leistungen zu besiegen, z. B. aus J. M. Armbrusters
'Schwäbischem Museum'. An umsichtigem Durchsuchen der Literatur hat es K.
gewiss nicht fehlen lassen; eher verleiten ihn Sammellust und das verzeihliche
Streben, in seinem Buche die unterhaltendsten Schwabenanekdoten beisammen
zu haben, dazu, allzuviel von den innerschwäbischen Ortsneckereien aufzunehmen,
die sich ähnlich in aller Welt finden. Beim 10. Jahrhundert erhalten auch Gegner,
wie Heinrich Heine, das Wort; sollten die Maschen einmal so weit gezogen werden,
so wäre vielleicht auch Grillparzers Urteil manchem interessant, das mit neuen
Erfahrungen alte Vorurteile bös verquickt; er spricht von Schwaben als „Der alten
Heimat alter Sparren, Zum Märchen schon gewordenen von je, Dem Vaterlande
der Genies und Narren" (Nachruf an Lenau, Jub.-Ausg. 1891, S. 212). Die jüngste
Gegenwart hat der Verf. zum Schluss nur gestreift, dafür aber der Geschichte
von den sieben Schwaben ein recht dankenswertes Sonderkapitel gewidmet, das
die neuen Forschungen über den amüsanten Stoff zusammenfasst, Radlkofers kleine
Studie in Virchow-Holtzendorffs Vortragssammlung überholt, auch die älteste
Fassung der Geschichte, die comedia de lepore quadam aus dem Ende des
15. Jahrhunderts, nach Boites Montanus abdruckt. Ein ähnliches Sonderkapitel
gilt der Geschichte vom Schwaben, der das Leberlein gefressen. — K.'s Dar-
stellung ist frisch, aber im einzelnen nicht immer genau abgewogen; dass Hans
Sachs „den gesamten geistigen Besitz seiner Zeit in Verse gebracht habe"
(S. 81), ist etwas kühn gesagt, 'entzückende Anmut' für dessen Schwanke ent-
schieden schief, auch mit dem 'herzigen Schwäblein' (S. 287) kann ich mich nicht
befreunden, doch haben derartige Einzelheiten der Gesamtleistung gegenüber
natürlich geringes Gewicht. S. 69 wäre wohl dem Satze: „Dass Franck in seiner
Volkskunde von Bohemus abhängig ist, hat Erich Schmidt nachgewiesen" besser
eine Form zu geben, die sofort deutlich macht, dass es sich um einen jungen
Forscher dieses Namens handelt; S 31 lies vor dem letzten Zitat 'Gräter' statt
'Gräber'.
Berlin.
Heinrich Lohre.
Berichte und Bücheranzeigen.
465
Arthur Bonus, Isländerbuch Sammlung I und II. Herausgegeben vom
Kunstwart. München, Georg D. W. Callwey, 1907. XIII, 296 und
310 S. 12°.
In den letzten Jahren hat sich kein anderer in Deutschland so eifrig um das
Bekanntwerden der isländischen Saga bemüht wie Arthur Bonus. Mehrere Artikel
in den Preussischen Jahrbüchern und im Kunstwart haben jene eigenartige Erzähl-
prosa von neuen Seiten beleuchtet; auch der Fachmann kann aus diesen weit-
blickenden Aufsätzen mit ihren kühn durchgeführten Leitgedanken vieles lernen.
In dem vorliegenden 'Isländerbuch' schenkt uns Bonus Verdeutschungen aus-
gewählter Stücke von isländischen Bauerngeschichten und Königsgeschichten.
Eine Quellensammlung, die etwa dem Kulturhistoriker den Urtext ersetzen könnte,
ist es nicht; dafür sind die Proben zu frei aus ihren grösseren Zusammenhängen
herausgehoben, dafür reicht auch die sachlich-sprachliche Genauigkeit im einzelnen
nicht aus. Aber die schmucken Bändchen wollen mehr bieten als vergnügliche
Unterhaftung. Bonus denkt an Erziehung des geschichtlichen Blickes und des
Formgefühls. Er hat den Eindruck stark erlebt, der von diesen ehrlichen,
illusionslosen, erdenhaften Lebensbildern ausgeht. Sie vermögen in der Tat „aus
dem Bann der Phrase zu reissen, die für uns alles durchtränkt hat, was 'ger-
manisch' oder 'deutsch' mit Betonung heisst."
Ich glaube, B.'s Übertragungen besitzen die Eigenschaften, auf die es am
Ende ankommt. "Wer die Originale kennt und nun B. liest, fühlt sich noch in
ähnlicher Luft. Es ist schwer, diese isländische Prosa zu verdeutschen. Schon
das genaue Treffen des Gedankens ist keine Kleinigkeit. Und dann die drei zu
meidenden Klippen: der halbdichterische und altertümliche Ausdruck; der buch-
mässig ungelenke; der matte, unteralltägliche, unerlaubt triviale (denn eine Art
Trivialität gehört ja zum Stile). Es läge nicht im Rahmen dieser Zeitschrift, auf
solche Formfragen einzugehen und Vorzüge wie Mängel unserer Texte im einzelnen
zu veranschaulichen. Am besten ist B. der zuletzt genannten Schwierigkeit Herr
geworden. Seine Sprache schmeckt nie abgestanden; oft überrascht sie durch
einen kecken Treffer. Mehr Einfalt, mehr Freiluft kann man ihr da und dort
wünschen. Deutsche volkstümliche Erzähler sind wohl dünn gesät, die man in
unserem Falle brauchen könnte, um „denselbigen auf das Maul zu sehen, wie sie
reden." Aber nachdem ich einmal meinem Zermatter Bergführer eine übersetzte
Saga vorgelesen hatte, war es meinem Sprachgefühl eine Stütze, mir ihn als Hörer
zu denken und den Ausdruck so lange zu modeln, bis er ihn verstände.
Dem von so viel Liebe, Einsicht und Sprachbegabung durchzogenen deutschen
Isländerbuch wünschen wir auch unter den Freunden der Volkskunde viele Leser.
Berlin. Andreas Heusler.
M. LongAVOrth Darnes, Popular poetry of the Baloches, vol. 1—2. London,
D. Nutt 1907. XXXIX, 204. VII, 224 S. 8 o. 15 Sii. (The Folk-lore
Society, publications 59 [1905]).
Seit 1840 haben Forscher wie Leech, Burton, T. M. Mayer und Dames der
Volkspoesie der am Nordwestrande Indiens wohnenden Balutschen nachgespürt;
insbesondere hat Dames, der schon 1881 eine Monographie über die Sprache der
nördlichen Balutschen und 1C04 ein Buch über ihr Volksleben (vgl. auch Folk-
466
Boite, Rona-Sklarek:
lore 13, 252—274) verfasste, sich um die Sammlung ihrer Prosaerzählungen1) und
Dichtungen verdient gemacht. Das vorliegende Werk, ein würdiges Seitenstück
zu Darmesteters Chants des Afghanes (1888—90), enthält 61 Balladen, Liebes-
lieder und Legenden, darunter viele in mehreren Fassungen, ferner eine Anzahl
von Wiegenliedern, Schnaderhüpfeln und Rätseln; der 1. Band bringt die englische
Übersetzung nebst Erläuterungen, der 2. die Originaltexte, unter die auch alle
früher von anderer Seite publizierten Stücke aufgenommen sind. Von den
historischen Liedern stammen die ältesten aus dem IG. Jahrhundert, wo die
Häuptlinge der Ilinds und der Lashârïs, Mir Chákur und Mir Gwaharäm, wegen
der schönen Gohar in einen dreissigjährigen Kampf gerieten, dessen Abschluss
die mit Hilfe der 'Türken' aus Herat und Kandahar bewirkte Vertreibung der
Lashârïs bildete; aber auch noch 1881 ist auf den Tod eines Häuptlings ein
langes Lied entstanden. Den Volkscharakter kennzeichnet es wohl, dass in diesen
Balladen als ärgster Fehler der Geiz und als grösste Tugend die Grossmut genannt
wird; mehrfach werden Helden gefeiert, die, wenn einer Witwe oder einzeln
stehenden Frau ihr Vieh geraubt wird, freiwillig als Rächer eintreten. Die
metrische Form der Lieder ist einfach: eine Anzahl gleichartiger Verse, meist
durch den Reim verbunden, aber nicht in Strophen gegliedert, wird nach einer
einförmigen Melodie zur Begleitung einer Art Gitarre und Violoncell gesungen.
Die Verse bestehen in der Regel aus vier Hebungen, denen gewöhnlich je ein oder
zwei Senkungen folgen; doch auch drei-, fünf- und sec.hstaktige Verse kommen
vor. Die Sänger bilden einen besonderen Stand; sie gehören dem Stamme der
Dombi an, die auch in Afghanistan, Persien und Nordwestindien erscheinen und
mit den verschiedenen Dialekten dieser Landschaften vertraut sind. Ihr Privileg
wird so hoch geachtet, dass ein Balutsche, der ein Gedicht verfasst hat, es nicht
selber vorträgt, sondern es einen dieser berufsmässigen Sänger lehrt, die nur in
seltenen Fällen zugleich Dichter sind. Vielmehr wird bei den meisten Dichtungen,
wie bei den Davidischen Psalmen, im Eingange der Name des Verfassers genannt,
z. B.: „Rehän Khan singt, für seine Freunde singt er"; „Der Dombki Jâm Durrak
singt, der Märtyrer der Liebe singt"; „Die Bälächäni-Frauen singen, Hânï Mïrdosts
Tochter und Rani Sälärs Tochter singen, Segen rufen sie auf Mithä herab."
Auch Allah wird angerufen, oder der Lautenspieler und die Zuhörer werden ermahnt.
Es gibt auch Lieder, die den darin auftretenden Helden, z. B. Chákur und Gwaharäm,
selber zugeschrieben werden und in der ersten Person abgefasst sind; man wird
aber diesen Angaben selten mehr Glauben beimessen als etwa dem 'Ich' im
niederländischen Nationalliede 'Wilhelmus van Nassouwe'. Die Ausdrucksweise
ist durchaus volksmässig und einfach; vom Einflüsse der persischen Kunst-
dichtung spürt man höchstens in den Liebesliedern des schon genannten Durrak
(aus dem 18. Jahrh.) etwas. Fremde Stolte werden durchweg nationalisiert, so
1, 111 die arabische Liebesgeschichte von Leila und Medschnun (vgl. oben
15, *328), die persische von B^erhäd und Schirln (1, 117), die Legende vom edel-
mütigen 'Ali (1, 1G1), die Schilderungen des jüngsten Gerichtes, der Hölle und
1) Balochi tales, in der Zeitschrift Folk-lore Bd. 3, 4 und 8 (21 Nummern; 19 ist
doppelt gezählt). — Zu Folk-lore 3, 517 (Fuchs lielzt den Tiger auf sein Spiegelbild im
Brunnen) vgl. Benfey, Pantschatantra 1, 179. Kirchhof, Wendunmut 7, 2G; zu 3, 518
(kranker König verzichtet aui Heilung durch Kinderblut) vgl. Hartmanns Armen Heinrich;
zu 3, 522 (Tiger vom schlauen Mann erschreckt) Benfey 1, 506; zu 3, 524 (hölzerne Frau)
vgl. Grimm, KHM. 87 und ebd. 4, 205 (Drei Freier retten die tote Jungfrau durch ihr
Fernglas, fliegendes Soplia und Perle; der erste erhält sie zur Frau, weil er sie entkleidet
gesehen).
Berichte und Biicheranzeigen.
467
des Paradieses, das Kampfgespräch von Jugend und Alter (1, 165). Eigentümlich
ist die Legende von der Strafe eines unbarmherzigen Vaters (1, 169), der, als
ihm 40 Söhne auf einmal geboren werden, 39 davon aussetzt und in dessen Hand
sich darauf eine Melone in ein Menschenhaupt verwandelt (vgl. R. Köhler, Kl.
Sehr. 1, 154. Basset, Nouv. contes berbères p. 249) und die Ballade von Dosten
(1, 118), der aus langer Gefangenschaft gerade an dem Tage, wo seine Braut
einem anderen vermählt werden soll, heimkehrt und unerkannt ein Lied von
seinem Schicksal singt. Zwei Varianten zu der Legende vom Einsiedler und
Engel (Gesta Rom. 80. R. Köhler 1, 148. 578. Chauvin, Eibl, arabe 6, 190) be-
gegnen 1, 153 und 156 auf Moses übertragen, die erste verbunden mit dem Motiv
der dem Wanderer aufgetragenen Fragen; die Geschichte von dem ungläubigen
Sultan, der in einem Augenblick die Ereignisse vieler Jahre durchlebt (R. Köhler
2, 210. Chauvin 7, 100), erscheint 1, 159, die durch eine Taube übermittelte
Liebesbotschaft 1, 115. J. Bolte.
Dunántúli Gyüjtés gyüjtötte és szerkesztette Dr. Sebestyén Gyula.
(Sammlung ans dem rechtsseitigen Donaugebiet, gesammelt und heraus-
gegeben von Dr. Gyula Sebestyén.) Budapest Az Athenaeum
Részvénytársulat tulajdona 1906. Vili, 599 S. 8o.
Den jüngst angezeigten Bänden der von der Kisfaludy-Gesellschaft heraus-
gegebenen Sammlung ungarischer Volksdichtungen (Magyar Népkôltési Gyvijtemény)
ist binnen Jahresfrist wieder ein neuer Band (der achte) gefolgt, der ungemein
reiches Material zur Kenntnis ungarischer Volkspoesie bringt. Gyula Sebestyén,
der bedeutende ungarische Volkskundler, hat darin die Ergebnisse zwanzigjähriger
Sammlerarbeit niedergelegt. Die Sammlung enthält Volksbräuche, Balladen,
Lieder (darunter Kinderreime, -reigen und -spiele), Briefe in Versen, Beschwörungs-
formeln, Märchen, Legenden und Sagen aus dem Gebiet rechts von der Donau. —
Aus der Fülle des Interessanten sei hier besonders hervorgehoben die grosse Reihe
der Volksbräuche und Volksschauspiele, die die kirchlichen Feste begleiten. Wir
finden Weihnachtsspiele, Spiele am Dreikönigstag, am 3. Februar zu Ehren des
hl. Blasius, am 12. März zu Ehren des hl. Gregor (Schulkinder ziehen von Haus
zu Haus mit Gesängen, die das Lernen in der Schule feiern, und werben die
Kinder zum Schulbesuch), zu Pfingsten (ein kleines Mädchen zieht als Pfingst-
königin unter sehr anmutigen Gesängen von Gefährtinnen umher), am Johannistag,
am 13. Dezember (Lucia) und am 28. Dezember (Unschuldige Kindlein). Im
Anhang gibt der Herausgeber eingehende, lichtvolle Aufschlüsse über die Ent-
stehung und Verbreitung dieser Spiele, wie überhaupt die Anmerkungen, die über
100 Seiten umfassen, eine Fülle der Belehrung bieten Fast jeder neuen Gruppe
von Dichtungen geht eine kleine, zusammenfassende Abhandlung voraus, in der
mittelalterlichen und volksnachbarlichen Einflüssen nachgegangen wird. Die
Notizen zu den einzelnen Dichtungen beschränken sich dann meist auf Anführung
ungarischer Varianten. Die Märchen und Sagen werden durch Hinweise auf
R. Köhlers Kleinere Schriften dem grossen internationalen Märchenschatz ein-
gegliedert. — Durch eine Anzahl Briefe in Versen wird unsere Aufmerksamkeit
auf dieses bisher noch ziemlich vernachlässigte Gebiet gelenkt, und alle werden
wohl dem Wunsche des Herausgebers beipflichten, dass künftige Sammler auch
diese Volksdichtungen in ihr Bereich ziehen möchten. — Neun Märchen, sieben
Legenden und sieben Ortssagen beschliessen die Sammlung. Die Märchen und
4:68
Rona-Sklarek, Zachariae:
Legenden behandeln meist sehr bekannte Stoffe, z. B. Märchen Nr. 1: Das Märchen
vom Wettkampf mit dem dummen Teufel (Der Held führt den Namen Markalf;
er ist „Narr eines Königs"); Nr. 2: Variante zu Grimm 36; Nr. 4: Eine Zusammen-
stellung von Narrenstreichen, die sehr beliebt ist; Nr. 6: Märchen vom Stutenei.
Legenden Nr. 1: Legende vom Hufeisen; Nr. 2: St. Peter als Wettermacher;
Nr. 6: St. Peter auf der Weinlese; Nr. 7: Christus, Petrus und der Schmied.
Besonderes Interesse erregt ein Rahmenmärchen Nr. 3. Es unterscheidet sich
von der bekannten Form der Rahmenerzählung dadurch, dass der Erzähler selbst
nur den Rahmen erzählt und die Zuhörer von ihm aufgefordert werden, die ein-
geschobenen Geschichten zu erzählen. Hier handelt es sich um eine arme Frau,
die ihre Kinder (die Zahl richtet sich ganz nach der Zahl der erzählfähigen Zu-
hörer) im Walde verlassen hat, sich verirrt, im Traum die Weisung erhält, sich
in einem Waldbrunnen zu waschen, dann werde sie das Schicksal ihrer Kinder
erfahren; sie tut es und erblindet. Der Erzähler versichert, dass sie erst dann
wieder sehend würde, wenn die Kinder erwachsen seien, und fordert nun jeden
auf, die Geschichte eines Kindes zu erzählen, denn sonst bliebe die arme Frau
bis an ihr Lebensende blind. Jeder Zuhörer muss die Geschichte seines Helden
bis kurz vor die Hochzeit führen, dann wird er unterbrochen und dem nächsten
das Wort gegeben. Wenn alle soweit sind, nimmt der Erzähler den Faden wieder
auf und führt alles zu glücklichem Ende. Die Mutter wird gesucht, gefunden und
geheilt, und die grosse Hochzeit wird gefeiert. — Zum Schluss sei als Kuriosum
noch ein Weinliedchen angeführt, das eine Situation schildert, die den Heraus-
geber an eine ähnliche in Goethes 16. römischer Elegie erinnerte. Freilich ist der
Verlauf des Erlebnisses ein anderer. Der ungarische Sänger kommt im Dunkeln
zum Stelldichein zum Weinberg und umarmt in der Dunkelheit einen Pfahl an
Stelle seines Mädchens.
Berlin. Elisabet Rona-Sklarek.
W. Calanti, De studie van hot Sanskrit in verband met ethnologie en
klassieke philologie. Rede uitgesproken op 22 October 1906. Utrecht,
C. H. E. Breijer (A. Oosthoek) 1906. 38 S. 8°.
Die vorliegende Schrift, die Antrittsrede des durch sein 'Altindisches Zauber-
ritual1 (Amsterdam 1900) und andere Arbeiten rühmlichst bekannten Verfassers
bei seiner Ernennung zum ausserordentlichen Professor an der Universität zu
Utrecht, handelt von der Wichtigkeit des Studiums der Ethnologie und der Sprach-
wissenschaft für den klassischen Philologen und den Indologen. Wir beschäftigen
uns hier nur mit dem ersten Teil der Schrift, worin gezeigt wird, welche Früchte
die Verbindung der philologischen Studien mit dem Studium der Ethnologie und
Volkskunde zu zeitigen vermag (S. 10—24), und heben das wichtigste heraus. —
Der primitive Mensch, so führt Caland aus, hegt die Überzeugung, dass gleiche
Ursachen gleiche Folgen haben, und dass Dinge, die einmal in Berührung mit-
einander gewesen sind, auch dann noch aufeinander zu wirken fortfahren, nachdem
die Berührung aufgehört hat (vgl. Frazer, The golden bough2 1, 9ff). Die
Zauberei, die Bastardschwester der Wissenschaft, wie man sie genannt hat, beruht
auf dem Prinzip der Ideenassoziation. Indem man z. B. durch Schlagen auf eine
Trommel Donner hervorbringt, glaubt man Regen erzeugen zu können (nach-
ahmende oder mimetische Magie); man kann seinen Feind schädigen oder töten,
Berichte unci Bücheranzeigen.
469
wenn man sich ein Abbild von ihm macht und dieses wie seinen Feind behandelt
(sympathetische Magie oder 'Bildzauber'; s. Preuss, Globus 86, 389). Kein
Wunder ferner, wenn dem Wilden Unglück, Krankheit und vorzeitiger Tod als
eine Folge von Behexung gelten, und dass er allerlei Vorsichtsmassregeln dagegen
ergreift. In einem gefährdeten Zustand befindet sich ein jeder, der als besonders
heilig angesehen wird oder der mit dem Tode in unmittelbare Berührung kommt.
Eine solche Person heisst: Tabu; ein mit dem lat. sacer begrifflich vollständig
übereinstimmendes polynesisches Wort. Yon den Grundanschauungen der Wilden
finden sich auch bei den Kulturvölkern eine Menge Spuren. Der Kultus der
Körner, der alten Inder, der Chinesen und Assyrer ist nichts anderes als eine
organisierte Magie. So sind insbesondere die religiösen Gebräuche der Inder mit
allerhand Anschauungen und Praktiken durchsetzt, die uns lebhaft an die An-
schauungen und Praktiken der Wilden erinnern.
Wie weit verbreitet z. B. der Glaube ist, dass man gewisse Personen schützen
und isolieren muss, weil sie heilig, gefährlich und gefährdet, kurz, weil sie Tabu
sind, ergibt sich aus dem, was berichtet wird über den indischen Snätaka (den
Brahmanen, der das die Schulzeit abschliessende Bad genommen hat), den
Mikado der älteren Zeit (vgl.» Engelbert Kämpfers Bericht aus dem 17. Jahr-
hundert bei Frazer 1, 234f.) und den Flamen dialis bei den Römern. Aus den
zahlreichen Vorschriften über das Verhalten des Snätaka hebt Caland einige
heraus und vergleicht sie in sehr glücklicher Weise mit den Tabumassregeln, die
für den Mikado und den Flamen dialis galten.1)
S. 16ff. handelt Caland über die Vorstellungen, die sich der Wilde von dem
Wesen der Seele macht (s. Frazer 1, 247 ff.). Der Wilde denkt sich die Seele
als ein kleines Männchen, als ein Insekt, als einen Vogel. Er glaubt, dass sie
nur in sehr loser Verbindung mit dem Körper steht, und hält es darum für nicht
ungefährlich, zu niesen oder zu gähnen. Man denke an die verschiedenen, über
die ganze Erde verbreiteten abwehrenden Ausrufe beim Niesen und an die Sitte der
Inder, wenn jemand gähnt, mit Daumen und Mittelfinger zu schnalzen, um die
Seele am Entweichen aus dem Körper zu verhindern.2) Wie der Wilde glaubt,
dass die Seele während des Schlafes zeitweise vom Körper Abschied nimmt, so
fürchtet er auch, die Seele könne im wachenden Zustand entweichen, wTovon
dann Krankheit, Wahnsinn und Tod die Folge sind. Ist er in Berührung mit
1.) Eine von den Tabuinassreg'eln, denen der Flamen dialis untej^Olfen war
(propagines e vitibus altiüs praetentas non succedit; Gellius 10, 15, lo;, erklärt Caland
anders und entschieden richtiger als Frazer (Golden bough 1, 358f.). Doch ist Calands
Erklärung, soweit ich sehe, nicht neu; vgl. z. B. Marquardt, Römische Staatsverwaltung 3
(.1878), S. 318.
2) Es ist wohl kaum nötig zu bemerken, dass die Körperöffnungen wie Nase und
Mund nicht nur als Ausgangspforteo, sondern auch als Eingangspforten etwa für böse
Geister, für schädliche Substanzen angesehen werden. Daher kann man die von Caland
erwähnten Ausrufe und Gesten, sowie andere, auch erklären aus dem Bestreben, das
Hineinfliegen von etwas Üblem zu verhindern. Vgl. nur Tylor, Anfänge der Kultur
(1873) 1, 97-104. Über den indischen Gähnaberglauben sagt Tavernier, Voyages des
Indes 1. 3, ch. 14: Les Idolatres des Indes ont cette coûtume, que quand quelqu'un bâille
ils font claquer leurs doigts, en criant par plusieurs fois Ginarami, c'est à dire, souvien-
toy de Narami, qui passe parmi ces Idolatres pour un grand-saint. Ils disent que ce
claquement de doigts ne se fait que pour empescher que quelque mauvais esprit
n'entre dans le corps de celuy qui bâille.
470
Zachariae:
einem Toten gewesen, so ist diese Gefahr besonders gross, da die Seele des
Verstorbenen die der Lebenden an sich gezogen haben kann Dieser Glaube ist
noch bei den alten Indern sehr lebendig Bei einem gewissen, den 'Vätern' dar-
gebrachten Opfer findet ein 'Zurückrufen' der Seele statt (Caland, Altindischer
Ahnenkult 1893 S. 178f). Ferner verweist Caland auf den von Frazer 1, 263f.
geschilderten birmanischen Brauch.
Einen interessanten, wenig beachteten Fall von Durchkriechen bespricht
Caland auf S. 17f. Wenn im alten Indien nach der Verbrennung eines Toten die
Verwandten nach Hause zurückkehrten, wurden zwei Aste in den Boden ge-
schlagen und oben mit einer dünnen Schnur zusammengebunden. Alle Ver-
wandten gingen unter diesem Bogen durch, worauf der letzte die Schnur durch-
schnitt und die Äste auseinanderwarf. Caland erklärt diesen indischen Brauch
ebenso wie Frazer 3, 399—401 die entsprechenden Bräuche bei anderen Völkern:
die Verwandten, die mit dem Tode in Berührung gewesen sind, verbarrikadieren
einfach dem Geiste, der ihnen folgen möchte, den Weg; sowie der letzte durch
den Bogen hindurch ist, wird dieser vernichtet, damit der Geist nicht folgen kann.
— Aber haben wirs nicht mit einer Reinigungszeremonie zu tun (vgl. Oldenberg,
Religion des Veda S. 577)? Im übrigen halte ich das in so mannigfachen Ver-
wendungen vorkommende Durchkriechen oder Durchziehen im Grunde für nichts
weiter als eine Nachahmung des Geburtsaktes, eine ¡Ay^nig tv¡g yevecreujç (zuletzt
hierüber Kahle, oben 16, 318).
Auf S. 18 f. zeigt Caland, dass sich der Inder, genau wie die wilden Völker
(Frazer 1, 253), die Seele als ein kleines Tier oder einen Vogel vorstellen. Vgl.
die Stellen bei Caland, Die altind. Totengebräuche 1896 S. 78. 135; Oldenberg,
Rei. des Veda S. 563. 581.
Wenn die Gefahr besteht, dass die Seele den Körper verlassen könnte, wenden
die Wilden allerlei Mittel an, um sie zum Bleiben zu bewegen. Besonders gross
ist diese Gefahr bei festlichen Gelegenheiten; man fürchtet, die Seele der
Person, um derentwillen ein Fest abgehalten wird, könne von missgünstigen
Geistern geraubt werden, und bestreut, um das zu verhindern, das Haupt dieser
Person mit Reiskörnern (Frazer 1, 254). Caland vergleicht dies Bestreuen mit
den xctra^TJo-^ar«, bei den Griechen und wendet sich, im Anschluss an Samter,
mit Recht gegen die frühere Auffassung der xaToc/jja-uaTa als eines Symbols der
Fruchtbarkeit.1) Nur sei es nicht nötig, den griechischen Brauch, wie Samter
will, als das Überbleibsel eines Sühnopfers zu erklären.
Der kulturlose Mensch hält es nicht für schwer, die Geister zu betrügen und
irre zu leiten. Dieser Glaube lebt noch in den religiösen Gebräuchen der Kultur-
völker fort. Caland verweist auf das römische Fest der Compitalia; die
wollenen Puppen, die man den Laren an diesem Feste zur Nachtzeit an den
Kreuzwegen und vor den Haustüren aufhing, sollten die Laren bewegen, die
Lebenden zu schonen (ut vivis parcerent), indem sie die Puppen an deren Statt
annahmen. Keinesfalls ist das Aufhängen der Puppen als eine Ablösung ehe-
maliger Menschenopfer aufzufassen (Frazer 2, 344. 352; vgl. jetzt namentlich
G. Wissowa im Archiv f. Religionswissenschaft 7, 53ff.). Caland verweist ferner
1) Ähnlich hat P. Stengel neuerdings (Hermes 41, 242) die bei verschiedenen Gelegen-
heiten gestreuten xaxaivoiiaxa für eine Abfindung, 'ein Futter' für böse Dämonen, erklärt.
Ich darf auch auf meine eigenen Ausführungen über die Bedeutung des Körnerstreuens
verweisen (Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 17, 139. 20, 293).
Berichte und Bücheranzeigen.
471
auf den indischen Traiyambakahoma, auf das dem Rudra Tryambaka dar-
gebrachte Opfer (A. Hillebrandt, Ritualliteratur 1897 S. 118f.; Oldenberg, Rei. des
Veda S. 44"2f. vgl. 319f.). Dieses Opfer findet auf einem Kreuzweg statt. Am
Schluss der Zeremonie werden die Opferkuchen hoch aufgehängt, als 'Weg-
zehrung' für den Rudra, damit er freundlich vorübergehe, ohne die Menschen zu
schädigen. — Hier fehlt der Raum, die Einzelheiten von Calands interessanten
Ausführungen wiederzugeben. Nur ein Punkt sei hervorgehoben. Wenn der er-
wähnte römische Brauch in der Weise geübt wurde, dass den Laren 'tot pilae,
quot capita servorum; tot effigies, quot essent liberi, ponebantur' (Festus
p. 239), so wurden beim Tryambaka-Opfer so viele Opferkuchen für den Rudra
bereitet, als die Familie des Opferers Mitglieder zählte1)
Dem Wilden gilt die ganze Natur als beseelt; Erde, Pflanzen, Bäume, Flüsse
haben eine Seele, und dementsprechend werden sie von ihm behandelt (Frazer
1, 169). Spuren dieses Animismus bei den Kulturvölkern: Wenn der Inder eine
gewisse Pflanze zum Gebrauch bei Zauberhandlungen ausgraben wollte, so streute
<?r erst 3x7 Gerstenkörner oder Bohnen um die Pflanze herum. Caland ver-
weist ferner auf zwei von Plinius2) geschilderte Bräuche, die man beim Aus-
graben der Iris und der Verbena beobachtete, und auf die Vorschrift des Cato,
wonach man ein Schwein als Sühnopfer schlachten musste, wenn man einen Wald
umhauen oder darin graben wollte. Caland macht auch hier, wie schon in seinem
Altindischen Zauberritual S. 109. 156, auf einen bei den Tschirokis herrschenden
Brauch aufmerksam. Wenn der Medizinmann bei den Tschirokis das Zauberkraut
aus dem Boden gerissen hat, steckt er ein Kügelchen in das Loch und deckt es
mit loser Erde zu; 'it seems probable that the bead is intended as a compen-
sation to the earth for the plant thus torn from her bosom' (Mooney, The sacred
formulas of the Cherokees p. 339) Als ein beseeltes Wesen wird die Erde in
einem Verse des Atharvaveda (12, 1, 35) angeredet: Das Loch, das ich, o Erde,
in dich grabe, das möge schnell wieder zuwachsen usw.
Die vergleichende Methode ists, die die Lösung so vieler ethnologisch-
philologischer Probleme ermöglicht. Oft aber sehen wir uns vor unlösbare Rätsel
gestellt; wir müssen zufrieden sein, wenn wir zu einem unerklärbaren Brauche
ein oder zwei Parallelen nachzuweisen imstande sind. Vielleicht finden dann
andere die Lösung des Rätsels. Ein solches unlösbares Rätsel liegt, nach Caland
S. 23 f., in folgendem indischen Brauche vor. Beim indischen lieropfer war eine
der ersten und wichtigsten Handlungen das Fällen und Herrichten eines Opfer-
pfostens, y ü p a (an den das Opfertier gebunden wurde). Man zog in den W ald,
um einen geeigneten Baum auszusuchen. Da galt nun die Vorschrift, das man
nicht den ersten Baum nehmen durfte, der passend erschien; auch nicht den
zweiten oder dritten: an mindestens drei zum yüpa geeigneten Bäumen musste
man vorübergehen (siehe die genaueren Angaben hierüber nach den indischen
Ritualbüchern bei J. Schwab, Altind. Tieropfer 1886 S. 4). Eine merkwürdige
Parallele weist Caland nach aus der vorhin zitierten Abhandlung Mooneys über
die heiligen Formeln der Tschirokis. Wenn der Medizinmann der Tschirokis
1) Und obendrein noch ein Opferkuchen; für die noch nicht geborenen Familien-
glieder, wie es in der Überlieferung heisst. — Darf man vielleicht au 'den Überschüssigen'
denken? Siehe R. M. Meyer, Archiv f. Religionswissenschaft 10, 89.
2) Siehe die Stelleu bei Grimm, Deutsche Mythologie2 S. 1147f. In der einen
Stelle (favis ante et melle terrae ad piamentum datis, Plin. n. h. 25, 107) muss Caland
Jabis gelesen haben, denn er übersetzt: 'boonen en bonig'.
472
Zacliariae: Berichte und Bücheranzeigen.
auszieht, um ein gewisses Heilkraut zu suchen, so muss er in einigen Fällen (die
Mooney nicht näher bezeichnet) an den ersten drei Kräutern, die er findet, vor-
übergehen, bis er ein viertes gefunden hat; erst wenn er dieses ausgezogen hat,
darf er zu den drei ersten zurückkehren. Als eine zweite Parallele führt Caland,
mit starken Zweifeln allerdings, den eigenartigen mos maiorum der Römer an,
der den ersten Interrex daran verhinderte, die Wahlcomitien zu halten. — Soweit
Caland. Indem wir den römischen mos maiorum lieber aus dem Spiele lassen,
machen wir wenigstens einen Versuch, den indischen Brauch zu erklären. Ist
darin ein Hest von der grossen Scheu zu erblicken, die man in der alten Zeit
überhaupt vor dem Fällen eines Baumes empfand? Vgl. z. B. Frazer, Golden
bough 1, 181 ff.; namentlich das, was er auf S. 184 über die Dajaks auf Borneo
und die Gonds in Vorderindien mitteilt.1) W. Crooke, Popular religion 2, 87
(prejudice against cutting trees). Oldenberg, Bel. des Veda S. 256f. Oder be-
absichtigte man, indem man sogar an solchen Bäumen, die passend waren, vorüber-
ging, eine Täuschung der Geister, die, wie bei allen wichtigen Handlungen nach
dem primitiven Glauben, so auch bei der hochwichtigen Prozedur der Baum-
auslese den Menschen zu schädigen versuchten? Und noch eins. Da es in den
indischen Ritualbüchern heisst, dass man mindestens an drei Bäumen vorüber-
gehen d. h. also, sie stehen lassen muss, so liegt die Versuchung ausser-
ordentlich nahe, den indischen Brauch zu verknüpfen mit gewissen Bräuchen beim
Einsammeln der Ernte, beim Suchen von Beeren und dergleichen; die Versuchung
ist um so grösser, als uns auch bei diesen Bräuchen die Dreizahl entgegentritt.
Einige Andeutungen, einige wenige Beispiele aus dem von Mannhardt, U. Jahn
und anderen gesammelten überreichen Material müssen hier genügen. Wir finden,
dass bei der Ernte die zuerst geschnittenen Ähren besonders ausgezeichnet
werden. Beim Schneiden der ersten Ähren werden feierliche Zeremonien beobachtet;
man lässt sie auf dem Felde liegen, oder man hängt sie in der AVohnstube auf,
oder man nagelt sie über der Haustür an. (Viel häufiger werden allerdings dio
letzten Ähren oder Halme in dieser Weise geehrt.) Drei Ähren werden sehr oft
erwähnt, und wir erfahren auch, dass man drei Ähren, oder einige Ähren, oder
etwas Getreide, stehen lässt (Mannhardt, Baumkultus 1875 S. 209f.). In
Russland bleibt ein Streifen Roggen ungemäht stehen, und die Ähren werden
zusammengebunden; 'the unreaped patch is looked upon as tabooed; and it is
believed that if any one meddles with it he will shrivel up, and become twisted
up like the interwoven ears' (Ralston bei Frazer 2, 236 *). Auch bei der Flachs-
ernte lässt man einige Büschel Flachs stehen, oder drei Hände voll Flachs, oder
drei Flachsstengel (Wuttke § 435. Jahn, Opfergebräuche S. 198). Auf den Obst-
bäumen lässt man immer einiges Obst stehen, 'so tragen sie später reichlich'
(Wuttke 431. 669). Wenn die Kinder im Walde Erdbeeren suchen, so legen sie
die drei ersten Beeren auf einen Baumstumpf 'für die h. Maria', oder 'für die
armen Seelen'; beim Pilzesammeln legen die Weiber die drei ersten Pilze in
einen hohlen Baum (Wuttke 436).
Halle a. S. Theodor Zachariae.
1) When the Dyaks fell the jungle on the hills, they often leave a few trees standing
on the hill-tops as a refuge for the dispossessed tree-spirits. Similarly in India, the
Gonds allow a grove of typical trees to remain as a home or reserve for the woodland
spirits when they are clearing away a jungle.
E e g i s t e r.
(Die Namen der Mitarbeiter sind kursiv gedruckt.)
Aargauer Sagen 64.
Abdinghof, Kloster 41.
Abeking, M. Aberglaube der
portugies. Seeleute 314f.
Aberglaube 245. 248. 314.
346f. 353f. 448. 452.
Abramov, J. 346.
Abstemius 4.
Abzählreime 273. 278. 282f.
391. 448.
Acht 189 f.
Ad absurdum führen 175.
Adler und Eule 4.
Adrian, K. Volksbräuche
aus dem Chiemgau (2-4)
321-325.
Aeneas Sylvius (Piccolomini)
256.
Aertsz, J. 148.
Afananasjew, A. N. 338.
Affe 3.
Afrikanische Märchen 12. 340.
Ägyptische Märchen 124. 338.
345.
Ahasvérus 149 f.
Ahikar 172.
Ahmed Hikmet 357.
Alberti, L. 60. 258.
Alberus, E. 15.
Allerseelei tag 115. 382.
Altenkirch on 96.
Altersstufen 16—42. 248.
Altscha 89.
Alzenbach, G. 26. 31. 34.
Amalfi, G. 331.
Ambrosia 214.
Ambrosiani, S. 240.
Amerikanische Märchen 341.
Amme 190f;
Amúlete 245.
d'Ancona, A. 242.
Andersen, H. C. 334.
Andree, B- 203. 342. 356.
Der grüne Wirtshauskranz
195—200. Das neue vlä-
mische Museum für Volks-
kunde in Antwerpen 457 bis
460. Ree. 239.
Andria, A. di 146.
An gang, allerlei 453.
Angiolieri, C. 145.
Anheimeln 244.
Anickov, E. V 232.
Antipov, V. 348. 349.
Antonius, d. h. 101 f.
Antwerpen 457.
Apfel zuwerfen 340.
Apokryphe Evangelien 47.
Apostolov, P. 230.
April 453.
Arabische Märchen339. Spiele
88.
Aretalogie 122.
Aretino, P.. 258.
Arget 96.
Ariosto, L. 257.
Aristides 331.
Armenische Sagen 414—424.
Arnandov, M. 228.
Arnstein, 0. 245.
Aschenbrödel 125.
Äsopische Eabeln 3 - 16
Astrachan 89.
Astralmythen 77.
Ätiologische Sagen 3. 330.
Aubry, A. 30.
Aufgabe, einen Stein zu-
sammennähen 182. Stricke
aus Sand drehen 172 — 186
461.
Aushängeschilder 458.
Australische Sagen 342.
Babylonische Erzählung 76
186.
Badewesen 237 f.
Badische Volksbräuche 96.
Balcus 57.
Balutschen: Lieder 465.
Banovic, St. 227
Bär 12.
Bartels, Olga 160.
Bartels, P. 248. Fortpflanzung,
Wochenbett und Taufe in
Brauch und Glauben der
Weissrussischen Landbevöl-
kerung 160—171. Ree. 237.
Bartos, F. 217.
Basset, R. 333. 356.
Bastlösereime 388.
Bauern - aufstand (Bukowina)
315. Gewohnheitsrechte 241.
Psychologie 462. Schuh 91.
Bayern 81.
Beck, P. Ein Wettersegen
aus dem 16. Jh. 313 f. Alte
Studentenlieder 443—447.
Bekarevic, N. 349.
Bekreuzigen 170.
Bëlavenec, M. 349.
Belovic, J. 224.
Bënkovskij, J. 354.
v. Bentheim-Tecklenburg, M.
40.
Berchtesgaden 314.
Bergmann 272.
Berliner Pfannkuchen 70.
Bertelli, C. 22—26.
Bestreuen 470.
Beteriu geäfft 102.
Bettzeug 454-
van Beusekom, F. 36.
Bienen 348.
Bierbuschen 170.
Bierki - spiel 91. 213.
Bilderbogen 16 - 42.425—441.
Bjerge, P. 241.
Blümini, E. K. 203. 204. 207.
Blutsegen 451.
Bobrov, V. 344.
Bockel, 0. 116. 203.
Boekenoogen, G. J. 334.
Bogoras 342. .
Bogoslavskij, B A. 347.
Böhm, F. 359.
Böhmische Volkskunde 217 bis
222.
Bohne, Kohle, Strohhalm 129.
Bülte, J. 200. 204. 246 f. 248.
359 f. 443 f. Die sieben
Lebensalter werden auf den
Tod vorbereitet 41 f. Zum
Fangsteinchenspiele 85—89.
Zeitsclir. d. Vereins f. Volkskunde. 1907.
31
474
Register.
Bilderbogen des IG. bis
17. Jahrh. (1 — 6) 425—441.
Charles Perrault über fran-
zösischen Aberglauben 452
bis 454. Spielmannsbusse
401. Neuere Arbeiten über
das deutsche Volkslied 203
bis 210. Neuere Märchen-
literatur 329—342. Sitzungs-
protokoll 128 Ree. 115. j
121. 242. 243. 244. 354 355.
405. Notizen 245f. 350 bis
358.
Bonatti, G. 140.
Bonavoglia, B. 57 257.
v. Bonstetten, A. 50.
Bonus, A. 405.
Borozdiu, A. R. 349.
Botta dio (Buttadeus), G. 140 f.
154.
Boulenger, J. C. 152.
Bourne, E. G. 357.
Brandsch, G. 207.
Brandstetter, R. 245.
Brandt, J. 338.
Bratic, T. A. 227.
Braunschweig 311. 457.
Brautkrapfen 73.
Breisgau 244.
Breughel, P. 050.
Brix, H 334.
Broadwood, L. E. 341.
Bruchnalski 210.
Brückner, A. Neue Arbeiten
zur polnischen u. böhm.
Volkskunde 210—222.
Brüdermärchen 124.
Brunh, A. Volksrätsel aus
Osnabrück und Umgegend
298-307.
Brunner,K. 128.359. Sitzungs- ¡
Protokolle 210 — 248. 358 bis
300.
Buddhistische Erzählungen
189 f.
Budzynovskj'j, V. 353.
Bukowina 315.
Bulgarische Märchen 184.
V olkskunde 228—230.
Blinker, J. R. 333.
Busch 190.
Butler, S. 185.
Caesarius von Heisterbach 315.
Calami, W. 408.
Cappeller, A. 52. 04.
Carnoy, U. 339.
Carraroli, D. 335.
Cartaphilus 143 f. 153.
Cellini, B. 00. 258.
Celtes, K. 433.
Chalatianz, B. Kurdische
Sagen (15) 70—80. Die
iranische Heldensage bei
den Armeniern, Nachtrag
(1-0) 414-424.
Charusina, V. 161. 348f.
Chateaubriand 88.
Cherokesen 12.
Child, H. Sargent 210.
Chorier, N. 50.
Chotek, K. 218.
du Choul, J. 61.
Christensen, A. 332.
-, G. 345.
Christkinds Pferd 274.
Cidjátechaia 90.
Ciszewski, St. 214.
Clemens, der h. 217.
Cluverus, Ph. 152.
de Cock, A. 331.
Colerus, A. 152.
Corna/ano, A. 332.
Corona-gebet 95.
Couvade 214.
Crome, B. 113.
Cyrano de Bergerac 153.
Cyrus 48.
Cysat, J. L. 02.
Cvijic, J. 228.
Czermak, W. 215.
Dähnhardt, 0. 330. 359. Bei-
träge zur vergleichenden
Sagenforschung (2. Natur-
deutung und Sagenent-
wicklung) 1-10. 129—143.
Dames, M. L. 405.
Danilov, V. 351.
Dänische Dorfweistümer 241.
Lieder 209f. Märchen 137.
142. 334f. Siebensprung 84.
Destaing, E. 339.
Detmold 447.
Dido 348.
Dieb entdeckt 274, tauscht
225.
Dimitrov, L. 230.
Dingelstedt, V. 357.
Dingolfing 90.
Dionys-tag 453.
Dörler, A. 333. Volkslieder
aus Vorarlberg (1 — 10) 307
bis 311.
Drache 449.
Dracott, A. E. 341.
Dragoni anov, M. 349.
Drei gute Dinge 40. Hexen
407. Jungfrauen 278. 404.
Dreikönigstag 72.
Dreizehn 452.
Drescherbrauch 323. Krapfen
73.
Drzazdzyiiski, St. 213.
Diibi, H. Drei spätmittel-
alterliche Legenden in ihrer
Wanderung aus Italien
durch die Schweiz nach
Deutschland 42— 05. 143 bis
100. 249-264.
Dudulaeus, C. 154.
Dumme Erau 225. Leute.225 f.
Durchziehen 315. 348 f. 470.
van Duyse, F. 209.
Ebermami, 0. 240. Sitzungs-
protokolJe 127. Ree. 402.
Eckhardt, E. 244.
Edelstein 174. 177. 452.
Eger 201.
Ehrenreich, P. 342.
Eia popaia 280.
Eisenacher Delegiertentag 359.
St. Elmsfeuer 314.
Engel, Bengel, lass mich
leben 287.
Englert, A. Die menschlichen
Altersstufen in Wort und
Bild (3—5) 10 — 41.
Englische Lieder210 Märchen
Ì38.
Entwöhnen 108.
Epheu 200.
Erasmus, D. 200.
Erbse 132.
Erdeljanovic, ,T. 228.
Erntekröpeln 73.
Esslinger 247.
Estnische Märchen 10.
Estreicher, K. 210.
Ettersburg 448.
Eule 4 f. 453.
Fabeln 3—10. 131.
Faber, F. 259.
Fackeln bei Leichenzügen 307.
Fahnenschwing en derFleischer
201 f.
Fangsteinchenspiel 85—88.
Fastnachtsgebäcke 70 f.
Fastradas Hing 330.
Fazio degli üb erti 52.
Fehlreim 394.
Fee 105.
Feilberg, H. F. 115.
Feuer 229. 369 im Toten-
brauch 361 — 386.
Fiebelkorn, M. 248.
Filippi, J. 335.
Fink, P. 208.
Finkel, L. 216.
Finnische Märchen 11. 12.
Firdousi 414 f.
Fisch in Märchen 142.
Fischart, J. 272. 274. 425. 429.
Flajshans 221.
Flandern 399.
Flodererfahren 323.
Forke, A. 357.
Frakmont (Pilatus! 50. 01.
Franko, J. 215. 350.
Französischer Aberglaube 452.
Bilderbogen 40. Märchen 10.
335. Volkskunde 121. Wirts-
hauszeichen 197.
Frau treulos 422. F. u Pferd
434. Lieder 203. s. Gattin.
Freiburg i. B , Schauspiele
244
Freitag 453. Zwölf F. fasten
449.
Fri e día en der, M. 205.
Friesische Märchen 140. Ost-
fries. Kunstgewerbe 247.
Frischlin, L. 332.
Froidure d'Aubigné, G. 335.
Register.
475
Frösche u. Hasen 9 f. Storch
14 f.
Frühlingskultus 2:12 f. -lieder
233 f.
Fründ, J. 49 53 55.
Fuchs u. Gänse 428. 429. Hase
11. 12. Krebs 332. Pfann-
kuchen 139. Wolf 225.
F.spiel 389.
Fuchs, H. 332.
—, M. 24fi.
Fürst, P. 30. 40
Gähnen 469.
Gaidoz, H. 357.
Gaissach 95
Gallas, J. 220.
Gänse u. Fuchs 428. 429.
Wolf 429. 431.
Gardner, F. 341.
Gasser, A. 335
Gassmanu. A. L. 203.
Gattin treu, brandmarkt die
Versucher 179
Gaudeamus igitur 445.
Gaunersprache 245.
Gavrilovic, A. 227.
Gebildbrote 128. 358. 457.
s. Krapfen.
Geburt 1G5.
Gengenbach, P. IG. 18. 4t f.
von Gemiep, A. 245 342.
Georgi] ev, M. 230.
Gerhardt, M. 245.
Gervasiustag 452.
Gesner, C 61.
Gilgamesch 77.
Gjorgjevic, T. R. 228.
Glocke 448.
Gnadenbrünnlein, Geistl. 449.
Goisern 441.
Gorodcev, P. 348.
Gottfried von Viterbo 53.
Göttingen 113.
van de Graft, C. 357.
Grassau 321.
Greise getötet 184.
Grimm, Brüder 332.
Grisebach, E. 204.
Grubac, S. 227.
Grusevskij, A. 349. •
Grzetic 227.
Guckkastenlieder 355.
Gumowski, M. 215.
Günter, H. 236.
Günther, A. 121.
Gurdon, P. Ii- 'F. 35*.
Gutmann 340.
Haar 127.
Habicht 5.
Hadaczek 215.
Hafermähspiel 390.
Haffner, 0 . 244.
Hagberg, L. 240.
Hagelkreuz 113.
Hahn 8.
Hahn, E. 127. 128.
Hahn, F. 340.
Haikar, der weise 172 — 195.
Handelsmann, M. 216.
Hannover 82.
v. Harff, A. 60 257.
Harris, J. R. 342.
Hartmann, M. 359.
Hase 6. H. u. Frösche 9 f. 12.
u. Löwen 429. H. braten
Jäger 425.
Hauffen, A. 206.
Haus - einrichtung 454. 457.
Inschriften 447. Marke 245.
Hedu 395.
Heilig, 0. Badische Volks-
bräuche des 17. Jahrh. 96 f.
Heiligenkultus 236.
Heine, H. 120.
Heinemann, F. 245. 357.
Heischespriiche 273. 275. 402.
Heldensage, deutsche 237.
iranische 414.
Hellwig, A. 248. 357.
Hemmerlin, F. 55. 251.
Heymann, E Nachtrag zu
» dem Artikel 'Siebensprung'
81—85.
Hermaimus Gygas 51.
Hertel, J. 331.
Hertz, D. 40
Herz essen 74 f.
Herzgebäck 73 f.
Hessen 81.
Heuft, H. Hausinschriften
aus Detmold -147f.
Heuslei-, A. Ree. 113 241.
465.
Hexe 449.
Hirse 128.
Hnatjuk, V. 352. 354.
Hoar er 322 f.
Hochzeit 227. 240. 348. Spott-
lieder 390.
J van den Hoeye, R. 37 f.
iloffmann-Krayer, E. 245.
Höfler, M. 358. Der Krapfen
(55—75. Ein Johannisbaum
in den Pyrenäen 94f. Zum
St. Coronagebet 95 f.
Höhr, A. 208.
Holländische Bilderbogen 35.
Holle, Frau 448.
Hölle: einem die H. hoiss
machen 325 - 328.
Hölzchen- oder Klötzchenspiel
91. 213.
Horoskop 452.
l'Houet, A. 462.
Howitt, A. W. 358
Hugo von Flavigny 45.
Hundstage 453. "
Il<r, B. 336.
Ilja Muromec 343.
Indischer Brauch 468f. Mär-
chen 172 331. 340.
Innsbruck 454.
Inschriften 447.
Iranische Sa gen 414 - 424.
Ischtar 77.
Islamisches Recht 359.
Island 465.
Ispirescu, P. 105.
Italienische Legenden 42 - 65.
Lieder 242. Märchen 3351
Spiel 86. Verse auf die
Altersstufen 22 f. Wirts -
hauszeichen 198 f.
Ivanic, J. 228.
Ivaniseviò, F. 225
Jablonovskyj, V. 354.
Jacimirskij 218.
Jacob, G. 354.
Jacobus a Voragine 46.
Jagd in Schweden 241.
jjakovlev, G. 348.
Jakub, A. 343.
Jakubec, J. 217.
Jakaskin, E. 348.
Jamaika 341.
Jancuk, N. A. 347.
Japan, Laternenfest 382..
Jatakas 173—180.
Javasev, A. 230.
Ì Jedemskij, M. 348.
Jekyll, W. 341.
Jelconskaja, J. 345.
Jinistische Erzählungen 180f.
190.
i Jochelson, W. 342.
Johannisbaum 94. 359.
John, A. 218. Das Fahnen-
schwingen der Fleischer zu
Eger 201—203.
Joseph und Petrus 100. 102.
Jude, der ewige 63, 143—160.
Jul 115.
Justinger, G. 43.
Kahle, B. 209. 330.
Kaindl, R. F. Beiträge zur
Volkskunde des Ostkar-
pathengebietes (1-4) 315
bis 321.
Kallenbach 216.
Kandschur 172.
Kaninchen 12.
Kaniowski (Sagen) 319.
Kanne Wirtszeichen 196.
Kapras 222.
Karlowicz, J. 213.
Karlssage 43 48. 330.
Katanov, N. 345.
Katze u. Mäuse 427.
Katzenstriegel 244.
Kegel 196.
Keller, A. 463.
Ker, W. P. 209.
Kerbschnitzerei 247.
Kerze bei Sterbenden 861 f.
Kettengespräch 390.
Keule im Kasten 246.
Keyland, N 240f.
Kind 353. Pflege 167. K. aus
Holz 353. K. verwünscht
169. s. Lied, Spiel.
Kinderlosigkeit 188. 193f. s.
Unfruchtbarkeit.
31*
476
Kirchhoff, A. 247.
Kittredge, G. L. 210.
Klemm, 0. 235.
Kiemsee, G. 434.
Klinger, W. 214.
Klotspiel 240.
Kluge, F. 234 244.
Knöchel werfen 85 - 91.
Kobylycia 317.
Kochanowski, J. 214.
Kohl, F. F. 207.
Konrad von Mure 49.
Konstanzer Weltchronik 52.
Kopp, A. 204.
Koppenwahl 96.
Korenevsldj, P. 349.
Kosaken 346.
Kosic, M. 349.
Kostko, V. 348
Krankheit 169 f.
Kranz Wirtshauszeichen 195 f.
Krapfen 65 - 75.
Kraus, A. 217.
Krauss, F. S. 206.
Kreisfangen 323 f.
Kreuzstein 99. -weg 470.
Kristensen, M. 334.
Kroatische Volkskunde 224 f.
Kronfeld, E. M. 243.
Kropatschek, G. 245.
Kröte 6f.
Kuba, L. 227.
Küchengerät 455.
Kuckuck 276f.
Kuhaö, Fr. 227.
Kühn, M. 205.
Kurdische Sagen 76—80.
Kuzelja, Z. 350. 353.
Kuznècov, S. 316.
Lafontaine, J. 4.
Landesvater 44(5.
Landtmanson, S. 240.
Langer, E. 208.
Laufen 441.
Laurentiustag 452.
Lehensalter, s. Altersstufen.
Leciejewski, J. 212.
Legenden 236. Spätmittel-
alterliche 42-65. 143 — 160.
249 -264. Aus dem Böhmer-
wald und Kuhland 100 bis
105.
Lehmann-Nitsche, R. 341.
Lehnchen rufen 97.
Lemke,E. Zum Fangsteinchen-
spiele 85—89. Drei russische
Wurfspiele mit Knöcheln
89-91.
Lesbos 6.
Lettische Märchen 11. 13.
Levickij, 0. 354.
Libavius 154.
Libussa 219.
Licht weissagt 372. Ins Grab
gegeben 374.
Liciuski 213.
Liebesbriefe 348. 467. -gebäck
73.
Register.
Liebhaber als Frau 350.
Lieder, deutsche: Kinder 264
bis 298. 387—414. 418.
Studenten 443 f. Balladen
206 f. Historische 284. Aus
Vorarlberg 307—311. Es
war einmal ein Mann 277.
295. Freierwahl 403. Graf
und Nonne 308. Häuschen
sass im Schornstein 392.
Verschlafener Jäger 309.
Kirmesbauer 288. Eifer-
süchtiger Knabe 308. Lieb-
haber gewarnt279. Mädchen
erstochen 289.411. Mädchen-
räuber 307. Kleiner Mann
294. Müller verkauft Frau
297. Verpasster Rock 387.
Schäfer und Edelmann 291.
Schwester dient unerkannt
295. Strickerin 309. Tann-
häuser258.260-264. Zahlen-
lied 311 — Balutschen 465.
Bosnisch 227. Dänisch 209.
Kroatisch 224. Nieder-
ländisch 209. Russisch
343 f. 347 f 350-353. Ru-
thenisch 315 — 318. Schwe-
disch 240. Serbisch 230.
351. Slowenisch 222. —
s. Frühlingslieder, Volks-
lieder.
v. Liliencron, R. 205.
v. Lipperheirle, F. 245.
Litaneien 459.
Lithberg, N. 240.
Ljudkevyc, S. 352.
Lohmeyer, E. Zum Sieben-
sprunge 447.
Lohr, M. 358.
Lohre,. II. Ree. 236 463.
Löland, R. 213.
Lopaciúski, H. 213.
Lorentz, F. 210.
Loreti 63.
Losen der Rekruten 459.
Louvet 152.
Löwe u. Aal 241.
Lucas, H. 330f. Ree. 122.
Lucian 124.
Lucius, E 236.
Lüdicke, R. 41.
Ludwig, H. 246.
Luther, M. 327.
Luzel, F. M. 335.
Luzern 52.
Mac Culloch 329.
Mädchen rettet vom Galgen
354. M.-raub 230.
Maeterlinck, L. 355.
Magnabotti, A. dei 250.
Maigraf 233.
Maikäfer 408.
Mailand, 0. 109. 338.
Mailehen 97. 233.
Majewski, E 213.
Malchus 148.
Malta 336.
Märchen: 328-342. Klassifi-
zierung 229. Schlüsse 3.
Naturdeutende 129—142.
Lügenm. 185. Mädcheu ohne
Hände 345. Fliehender
Pfannkuchen 133. Recht oder
Unrecht 350. Versenkte
Schlüssel 141. Schneider
im Himmel 103 Spiel-
hansel 104. Strohhalm,
Kohle, Bohne 129. Zauber-
schwert 329. — Afrikanisch
340. Ägyptisch 124. 338.
345. Amerikanisch 341.
Arabisch 339. Balutschen
466. Bulgarisch 184. 228 f.
Dänisch 137. 142. 334.
Englisch 138. Französisch
335. Indisch 172. 331. 340.
Italienisch 335. Kroatisch
225. Maltesisch 336. Nieder-
ländisch 12. 131. 334. Nor-
wegisch 137. Rumänisch
3 f. 13. 105 336. Russisch
9 f. 129. 133. 338. 344 f.
Schweiz 330. Serbisch 227.
Slowenisch 223. Ungarisch
8. 109. 338. 467. Wendisch
130.
Mares, F. 220.
Maria 7. -bilder schwarz 128.
Marko Kraljevic 351.
Markov, A. 343. 347.
Markuskreuz 113.
Martin, des h. Mutter 100.
Tag 72.
Martin, Minorit 51.
Martynov, S. V. 346.
Maslov, A. A. 347.
Matthäus Paris 143.
Matthias Corvinus 350.
Mauleselmilch 184.
Maurer, H. 127. 246.
Maus 130. 132. u. Katze 427.
Medizin 230.
Meier, J. 204. 206.
Meisinger, 0. 209. 244.
Menschen haben tierische
Eigenschaften 437 f.
van Merle, A. 258.
Messen 169.
Messer verschenken 453.
Mesula 240.
Metalle 359.
Meyer, Rud. 360.
Michel, II 127. Ree. 234. 235.
Miller, V. 343.
Minden, G. 360. Sitzungs-
protokoll 128.
Minns, S. 22.
Mitrovic, A. 227.
Mitternacht, J. S. 155
MüzschJce, P- Sagen von
Tautenburg98—100. Kiuder-
reim und Aberglauben aus
Weimar und Ettersburg
448 f.
Moe, M. 330.
Mogk, E. 359.
Register.
477
Mond 12. 78. 452.
Morawski, S. 21G.
Moskau 847.
Mousket, Philipp 144.
Mücken 18.
Müller, D. H. 889.
-, J. E. V. 204.
Museum für vläm. Volkskunde
457.
Myers, C. S. 841.
Mythischer Gehalt der Kinder-
lieder 206.
Xame nach dem Grossvater
178.
Naturdeutuno- und Sagenent-
wicklung 1—16. 129—148.
Nejedly, Zd. 219.
Neubauer, B. Einem die Hölle
heiss machen 825-828.
Neuhaus erobert 202.
Neujahrs-gebäck 72. -wünsch
406.
Newell, W. W. 329.
Nicodemus-evangeliuin 55.
Niederdeutsche Verse 42.
Niederländische Lieder 209.
Märchen 12. 181. 884.
Niederle, L. 218 f.
Niemals 120.
Niesen 469.
Norcia 51. 56. 58.
Norwegische Märchen 187.
de Novaire, F. 145.
Oberlin, J. J. 51.
Odo de Ciringtonia 6.
Ofen 240. 248.
Oldenburg 11.
Oldenburg, S. 845.
Olrik, A. 210.
Opfer brauch 471.
Orlov, A. 844.
Ornamente, textile 224.
Ortel, A. 258.
Ortschaftslied 817. 448.
Osnabrück 298.
Ostern 449. Eier 240.
Ostpreussen 91.
Otto von Freising 45.
Palästina 858.
Paricatantra 881.
Papagenospiel 281.
Papierdrache 855.
Paris, G. 858.
Pech er, IC. 209. 244.
Peisker 21S.
Pekar, J. 219.
Pentagramma 196.
Perrault, Ch. 452.
Persisches Spiel 86.
Petershausen, Chronik 48.
Petkov, S. 280.
Petrus 16. Himmelspförtner
108 f. P. u. Antonius 101.
Joseph 100. 102. Mutter
224.
Pfaff, F. 244.
Pfannkuchen flieht 138.
Pfeile der Heiratslustigen 105.
Pferd hat 16 Eigenschaften
482.
Pflanzen 121.
Philippinen 841.
Piekosinski 217.
Pierre Bersuire 52.
Pilatus 45—65. Berg 52. 62.
See 51. 55. 62.
Pira, A. 241.
Pironkov, M. 229,
Plain 96.
Polikarpov, Th. 347.
Polívka, G. 210. 217 f. Neuere
Arbeiten zur südslaw. u.
russischen Volkskunde 222
bis 234. 843-854.
Poliziano, A. 200.
Polka 240.
Polnische Märchen 5. 8. 13.
Spiel 88. Volkskunde 210
bis 217.
P.olyphem 225
Pommer, .7. 205.
Portugiesischer Aberglaube
314. Religion 246. Spiel
87.
Pradel, F. 209.
Prasek 221.
Preispissen 459.
Priebe, U. 829.
Pulci, E. 57. 257.
Puppe aufgehängt 470. ver-
leiht Fruchtbarkeit 162.
Pyrenäen 94.
Quelle mit Wein gefüllt 224.
Sage 100.
Rabben, E. 245.
Rätsel 244. 298-807. Auf-
gaben 174. 183.
Räuber reuig 224. 225. über-
listet 334.
Razzano, P. 60. 256.
Rebhuhn 7.
v. d. Recke, E. 209.
Reif, Wirtszeichen 196.
Reimende Zunamen 138.
Reiskel, K. 207.
Heiterer, IC Die zwölf gold.
Freitage 449f. Segens-
sprüche aus den Alpen 450.
Reitzenstein, R. 122. 330.
Beuschel, K. 358. Ree. 116.
Reuterton 430.
Rheinland 81.
Rheinpfalz 81.
Rheinsheim 97.
Rhythmus slaw. Volkslieder
351. Balutschen 466.
Richter, E. i >ie schönste der
Feen 105—109.
Ridinger, J. R. 29.
Robot personifiziert 316.
Rochholz, E. L. 64.
Rockenfahrt 321 f.
Boediger, M. 246. 358—360.
Albert Vossf 113.
Roland, A. 240.
Romdahl, A. 240.
Bona-Sklareh, E. 338. Un-
garische Volksmärchen (4)
109—112. Ree. 467.
Rothe, «Toh. 53.
Rozdolskyj, J. 852.
Rübezahl 211.
Rudberg, G. 241.
Rumänischer Aberglaube 450.
Märchen 4. 8. 13. 105. 336.
Rummelpott 275. 388.
Runen 212.
Runzifall 43.
Russischer Brauch 160—171.
Lieder 843. Märchen 9. 10.
129. 133. 338. Spiel 88.
89f. Volkskunde 230—234.
343—354.
Rustem 414 f.
Ruthenische Lieder 315.
Sachs, H. 14. 16 426.
v. Sachsenheim, H. 257.
Sadowski, H. 216.
Sagen: von Tautenburg 98.
Armenische 414. Buko-
winaer 319. Kurdische 76.
Salir, J. 205.
de la Sale, A. 58 252 f.
Salin, B. 238.
Salman 419.
Salomos Urteil 174.
Salz verschütten 453.
Samter, E. 127. 360.
Sandstricke 172-186. 461.
Sängerstand 416. 466.
Sanskrit 468.
Sartori, P. Feuer und Licht
im Totengebrauche 361 bis
386.
Satirische Bilder vläm. Maler
355.
Savcenko, J. 354
Savry, S. 35.
Scapulimantia 356. 359.
Sajsen, N. 347.
Scharfsinnige Leute 125.174f.
Saselj, J. 223.
Schatten 169. 174. -spiel 354f.
Schatzsagen 98.
Scheibensprüche 441 f.
Sevalejevskij, V. 349.
Schildkröte 7f.
Schiller, F. (Räuber) 445.
Siskov, St. N. 230.
Schläger, G. Nachlese zu
den Sammlungen deutscher
Kinderlieder (1 — 200) 264
bis 298. 387—414.
Schlangenbeschwörung 124.
Schleswig-Holstein 82.
Schlüssel versenkt 141.
478
Register.
Schmid, Albr. 08.
Schmidt, Er. 203.
Schneider im Himmel 103.
Spott '277.
Schnippel, E. Das ost-
preussische Hölzchen- oder
Klötzchenspiel 91 —94.
Schönheiten des Pferdes 432.
Schottische Märchen 138.
Schräder, F. 357.
Schrot, M. IG-22.
Scerbakovskyj, V. 354.
v. Sehulenburg, W. Alte Tür-
riegel 314.
Schulterblattschau 35G. 359.
Schullerus, A. 207. 245.
-, P. 336.
Schulze-Veltrup, W. 127. 246.
Schütte, 0. Tierstimmen im
Braunschweigischen 311 bis
313. Braunschweig. Segen-
sprüche 451.
Schnabenneckereien 463.
Schwalbe 225. 229.
Schwangerschaft 163.
Schwanjungfrau 224. 329
Schwedische Kulturgeschichte
239. Spiel 88.
Schwein 139.
Schweizer Legenden 42. 150.
260 Märchen 133. Sieben-
sprung 81. Volkskunde 245.
Wirtshauszeichen 197.
Schwertmärchen 329.
Sebestyén, G. 467.
Sébiliot, P. 121.
Sechzig 188.
Seele ausserhalb des Leibes
345 f. Gestalt 469 f.
Seeleute, Aberglaube 314.
Segensprüche 246. 268. Aus-
gehen 450 Krankheit 451.
Wetter 313. 450.
Seidenraupe 7.
Septimer 50.
Shakespeare, W. (Hamlet,
Kaufmann) 339 f.
Sibyllenberg 57. 58 f. 250f.
Sidorov, A. 346.
Sidrach 432.
Sieben Lebensalter 41. -sprung
81—85. 447. S - ter Sohn
453.
Siebenbürger Märchen 131.
Sigerus, E. 245.
Sikora,A. Innsbrucker Haus-
inventar 454—456.
Silcher, G. 329.
Simic, St. 230.
Sindbad 192.
Singer, S. 131. 330.
Sionx-Indianer (Spiel) 88.
Skalsky 221.
Skinner, C. M. 341.
Slawische Volkskunde 210 bis
234. 343—354.
Slowenische Volkskunde 222
bis 224.
Slowinzen 210.
Smirnov, N. 349.
Sobolevskij, A. 344.
Socháü, P. 127. 360.
Söegaard, Th. J. 241.
Sökeland, H. 127. 360.
Sokoìowski 215.
Sonne 79 f. am Sonnabend
453.
Spänchenspiel 94.
Spangenberg, W. 429.
Spanische Spiele 86. Verse
22 f.
Speranskij, 1). A. 345.
—, M. N. 347.
Spiegelungsmotiv 181.
Spiele der Drescher 323.
Fangsteinchen 85 f. Hölz-
chen 91 f. Klot240. Knöchel
89 f. s. Abzählreime.
Spielmannsbusse 461.
Spiess, K. 246.
Spinne 341.
Spinnen am Sonntag 448.
Sprichwörter 186. 198. 200.
246. 325.
Ssakämanei 90.
Standessprachen 285.
Stapf, A. 443.
Stawrow, S. 349.
Steiermark 450.
Steig, R. 332.
Steine 127. 452.
Sterngucken 323.
Stickerei 224
Stoilov, A. P. 229.
Storch u. Froschkönig 15 f.
Wolf 14.
Strettii, 1). Volkslegenden
aus dem Böhmerwald und
dem Kuhland (1-9) 100 bis
105.
Strebekatze 244.
Strohwisch 196.
Studentenlieder 443 f.
Suchmotiv 13. 141.
Svoboda 221.
Tage, unglückliche 224. 452.
Tanuhäuser 249—264.
Tanzmelodien 240. s. Polka.
Siebensprung.
Taufe 170 f.
Tausend und eine Nacht 187.
195.
Tautenburg 98.
Teichmann, W. 208.
Teilsage 245.
Teufel und Alte 225.
Thomas, der h. 126.
Thüringen 81.
Tiere 121. Sinnbilder menschl.
Alterstufen 18 —41; menschl
Eigenschaften 437 f.
Tierfabel s. Fabel, -haut ver-
brannt 105. -marchen 229.
329. 841, 344. -stimmen
311—313.
Tille, V. 218.
Tinten steelier 458.
Tiroler im Lied 270.
Tischzeug 454.
Tizio, S. 146.
Tochter säugt 331.
Tod das Gewisseste 42. T. u*
Lebensalter 26. 42. u. Soldat
104. Ursprung 12.
Toskana 242.
Totenbräuche 224. 361 f. -fest
115. -hochzeit 320. -lieder
203.
Tove 330.
Trissino, G. 60. 258.
Trojanovic, S. 228.
Trubeckij, S. N. 349.
Trubicyn, N. 346.
Türriegel 314.
Uffhausen: Venusb erg 261.
Ulrich, J. C. 156.
Uneheliche Kinder 163.
Unfruchtbare Frau 162.
Ungarische Märchen 8. 109.
338.
Unibos 225.
Unmögliche Dinge 185. 429.
Unter-Grombach 96.
Unterirdische 211.
Unterweltsfahrt 125.
Urhörner 241.
Uspenskij, D. 348.
de Yasconcellos, J. L. 246.
Vatev, S. 280.
Venusberg 250f.
Verkehrte Welt 427.
Vico, G. B. 285.
Vierzig 188.
Vikar, B. 338.
Villette, L. 335.
Vinogradov, N. 348.
Vogel, der goldene 224. 229.
Volf, J. 222.
Volksbuch: Ewiger Jude 63.
149. Pilatus 49. 54.
Volksdichtung 116 f. Volks-
lied 203—210. s. Lied.
Volksetymologie 12*.
Volksmärchen: s. Märchen.
Vorarlberg 307.
Voss, Alb. 113.
Votivgaben 460.
Vovk, C. 354.
Vrene 249 f.
Vvedenskij, S. 345.
Vykouhal, F. 218.
Wägen der Kinder 96.
Wagner, J. J- 68.
Wal dis, B. 16.
Wallonische Spiele 87.
Walpurgisnacht 449.
Waither, Archipoela 445.
Warmiiiski, J. 215.
Register.
479
Wartburgkrieg 250.
"Wasser: hineingeworfener
Stein erregt Unwetter 56.
Weder bekleidet noch nackt
176. 820.
Weibliche Altersstufen 20. 24.
26 83. 35 f.
Weihnacht 115. -bäum 243.
-gebäck 72. -spiel 215.
246.
Weimar 448.
Weisse Frau 98. Mann 99.
Weisstein, G. 359.
Wendisches Märchen 130.
Spiel 87 f.
Werner, A. 341.
Werwolf 226.
Wesselofsky, A. 230—232.
Wesselski, A. 832.
Westfalen 82.
Wettersegen 313. 450.
Wetuchow, A. 846.
Wiedemann, A. 338.
Wielandsage 114.
Wiesel 453.
Wind S.
Wintemberg, W. J. 341.
Wirtshauskranz 195 - 200.
Wisla 213.
Wisser, W. 332.
Wolckenstern, J. G. 40.
Wolf 18f. 226. u. Gänse 429.
431.
Wolf, K. 40.
Wossidlo, R. 358.
Wunderhorn 204.
Wunschdinge den Erben ge-
nommen 105.
Wünschelrute 98.
Würfel 461.
Würzburg 448.
Zachar, 0 . 220.
Zctchariae, Th. 831. Zur Ge-
schichte vom weisen Haikar
172 — 195. Die Aufgabe
Stricke aus Sand zu winden
461 f. Ree. 468.
Zacinjajev, A. 343.
Zahlen -angaben 187. -liecler
225. 311. ungerade 453.
Zähringen (Sa^e) 244.
Zauber -formein 346. -gerate
460. -ring 330. Krankheit
169.226. Liebe 73f. Wun-
den 126. s Segen.
Zelenin, D. 346—349.
Zëlinsky 345.
Zerbrechen von Glas 458.
Zeus und Affe 3f. u. Frösche
15 f.
Zibrt, C. 220 222.
Zifferschrift 128.
Zoder, Ii. Scheibensprüche
aus Oberösterreich 441 f.
Zubryckyj, M. 354.
Zurgilgen, M. 260.
Züricher, G. 208.
Die nächsten Hefte werden u. a. bringen: K. Adrian, Volksbräuche a«s dem Chiem-
gau (Forts.); P. Bartels, Fortpflanzung, Wochenbett und Taufe im Brauch und Glauben
der Weissrussischen Landbevölkerung; P. Beck, Wettersegen: J. Bolte, Das Märchen
von den Tieren auf der Wanderschaft; Die Erzählung von der erweckten Scheintoten:
Bilderbogen des IG.—17. Jahrhunderts; A. Brunk, Volksrätsel aus Osnabrück; H.Carstens,
Volksglauben aus Schleswig-Holstein; B. Chalatianz, Die iranische Sage bei den Arme-
niern (Forts.); 0. Dähnhardt, Naturdeutung und Sagenentwicklung; H. Diibi, Drei spät-
inittelalterlicheLegenden (Schluss); E. Friedel, Über Kerbstöcke; M. Höfler, Aus dem
Cleveschen; R. F. Kaindl, Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpatengebietes: P.Mitzschke,
Volkstümliches aus Weimar; R. Neubauer, Einem die Hölle heiss machen; E. Rona-
Sklarek, Ungarische Märchen; 0. Schell, Die Entwicklung des bergischen Hauses;
G. Schläger, Nachlese zu den Sammlungen deutscher Kinderlieder; W. v. Schulen-
burg, Alte Türriegel; 0. Schütte, Braunschweigische Segensprüche; D. Stratil, Lieder
aus dem Böhmerwald; Th. Zacliariae, Zur Geschichte vom weisen Haikar; zusammen-
hängende Berichte über deutsche, slawische und orientalische Volkskunde.
Neue Erscheinungen.
Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1906, 2—3 (April-September). Nürnberg.
Archiv für Religionswissenschaft, hsg. von A. Dieterich, 9, 0—4. Leipzig, Teubner 1906.
Archiv des Vereins für siebenbürgisclie Landeskunde, neue Folge 03, 3. Hermannstadt,
F. Michaelis 190G.
Aus dein Posenor Lande. Blätter für Heimatkunde. Zwanglose Beilage zur Posener
Lehrer-Zeitung 1, Nr. 8-10. Lissa i. P., F. Ebbecke (0. Eulitz) 1906.
Das deutsche Volkslied, Zeitschrift für seine Kenntnis und Pflege, unter der Leitung von
Dr. J. Pommer, IL Fraungruber und K. Kronfuss hsg. von dem Deutschen
Volksgesang-Vereine in Wien, 8, 8 — 10. Wien, A. Holder, 1906. — 9, 1. Ebenda 1907.
Diözesanarchiv von Schwaben, Organ für Geschichte, Altertumskunde, Kunst und Kultur
der Diözese Rottenburg, hsg. von P. Beck 24, Nr. 10-12. Stuttgart, Deutsches
Volks blatt 1906.
Heimatland, illustrierte Heimatblätter hsg. von W. Kolbe 2, Nr. 13—17. Nordhausen,
Paalzow, Witt u. Co. 1906.
Hessische Blätter für Volkskunde, hsg. von K. Helm und Ii. Hepdiug 5, 1—3. Leipzig.
Teubner 1906.
Korrespondenzblatt des Vereins für siebenbür^ische Landeskunde, red. von A. Schullerus
29, 8—12 (August-Dezember 1906). Hermannstadt-, W. Krafl't.
Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (Red. L. Bouchai) 36, 5—6.
Wien, Holder 1906.
Mitteilungen aus dem Verein der Königlichen Sammlung für deutsche Volkskunde zu
Berlin (Red. H. Sökeland, F. Weinitz, K. Brunner) 2, 4. Berlin 1906.
Mitteilungen und Umfragen zur bayerischen Volkskunde, hsg. von O.Brenner 1906, n. F.
6—8. Augsburg, F. Bruckmann.
Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, red. von H. Widmann,
46. Vereinsjahr. Salzburg, Selbstverlag 1906.
Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde, hsg. von E. Mogk und H. Stumme,
4, 3-4. Dresden, Hansa 1906.
Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde, hsg. von Th. Siebs, Heft 16.
Breslau, M. Woywod 1906.
Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde (Korrespondenzblatt hsg.
von K. Helm) Nr. 4. Giessen 1906.
Nachrichten von der k. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, philol.-histor. Klasse
1906, 3 und Beiheft. Berlin, Weidmann 1906.
Niederlausitzer Mitteilungen. Zeitschrift der Niederlausitzer Gesellschaft für Anthropologie
und Altertumskunde 9, 5—8. Guben, A. Koenig 1906.
Schweizerisches Archiv für Volkskunde, hsg. von E. Hoffmann - Krayer und M. Rev-
mond, 10, 4. Basel 190(5.
Unser Egerland, Blätter für Egerländer Volkskunde hss- v- John 10, 5-6 Fwr
Selbstverlag 1906. ' " 7
Volkskunst und Volkskunde, Monatsschrift des Vereins für Volkskunst und Volkskunde in
München,Schriftleitung F. Zell, 4, 9-12. München, Süddeutsche Verlagsanstalt 1906..
Zeitschrift für deutsche Mundarten, im Auftrage des Vorstandes des allgemeinen deutschen
Sprachvereins hsg. von 0. Heilig und Ph. Lenz, 2, 1. Berlin, F. Berggold 1907.
Zeitschrift für deutsche Philologie, hsg. von H. Gering und F. Kauffmaun 38, 4. Halle
a. S.., Waisenhaus 1906. — 39, 1. ebd. 1907.
Zeitschrift für Ethnologie, Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie
und Urgeschichte, 38, 4—5. Berlin, Behrend & Co. 1906.
Zeitschrift für österreichische Volkskunde, redimiert von M. Haberlandt 12, (1. Wien,
Gerold & Co. 1906.
Zeitschrift des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde, hsg. von K. Prümer,
P. Sartori, 0. Schell und K. Wehrhan, 3, 4. Elberfeld, Martini & Grüttefien 190(5.
Analecta Bollandiana, ed. C. de Smedt, F. van Ortroy, H. Delehaye, A. Poncele_t
et P. Peeters 25,4. Bruxelles, Polleunis et Ceuterick 1906.- 26,1. Ebenda 190*.
Archivio per lo studio delle tradizioni popolari, dir. da G. Pitrè e S. Salomone-
Marino, 23, 3. Torino, C. Clausen 1906.
Cesky lidi, sborník venovany studiu lidu ceskeho, red. C. Zíbrt, 16, 2—4. Prag,
F. Simáóek 1906-07.
Driemaandelijksche Bladen uitgegeven door de Vereeniging tot onderzoek van Taal en
volksleven in het Oosten van Nederland, 6. Jaarg., Nr. 3 — 4 (Red. K. Later)
Utrecht, Kemink & zoon 1907.
Ethnographia, a magyar néprajzi társaság értesítoje, szerk. B. Munkácsi és G. Sebestyen
17, 5. Budapest 1906. — A magyar neinzeti múzeum néprajzi osztályának értesítoje,
szerk. V. Semayer 7, 3-4. Budapest 1906. — Anzeiger der ethnographischen Ab-
teilung des ungarischen Nationalmuseums, deutsche Übertragung, red. von
V. Semayer 3, 2. Budapest (Leipzig, Hiersemann) 1905.
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Boston & New York, Houghton, Mifflin '& Co.
Lud, Organ towarzystwa ladoznawczego we Lwowie pod red. J. Kallenbach, 12, I»—4.
Lemberg 1906. .
Mercure de France, directeur A. Valette, Nr. 229 (1. janvier 1907). Paris, 26 rue de
Condé.
Národopisny Vëstnik ceskoslovansky, vydávú spolecnost národopisnóho musea ëeskoslovans-
kého, red. A.Kraus, J. Polívka, V.Tille, 1. Jahrg., Okt.-Dez. 2. Jahrg., Januar.
Prag 1906 — 1907.
Revue des"traditions populaires, recueil mensuel de mythologie, littérature orale, ethno-
graphie traditionnelle et art populaire [Red. Paul Sébillot] 21, 10—12 (Oktober-
Dezember). Paris, E. Lechevalier, E. Leroux et E. Guilmoto 1906.
Romania, recueil trimestriel consacré à l'étude des langues et des littératures romanes,
publié par P. Meyer et A. Thomas 35, 4 (No. 140). Paris, H. Champion 1906.
La Tradition, Revue internationale du folklore et des sciences qui s'y rattachent et revue
historique des provinces, dir. Henry Carnoy, 20 (1906), September-Oktober. Paris,
G. Ficker.
Volkskunde, Tijdschrift voor nederlandsche Folklore onder Redactie van Pol de Mont en
A. de Cock, 18, 5 — 9. Geut, Hoste 1906.
Wallonia, archives wallones historiques, littéraires et artistiques; dir. O. Colsou, 14, 10—12.
Liège 1906.
Im unterzeichneten Verlage erschienen
Die Mythen und Legenden
der südamerikanischen Urvölker
und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der alten Welt.
Von
Dr. Paul Ehrenreich.
VIII und 107 Seiton gr. 8°.
Preis 3 Mark.
Berlin W., Unter den Linden 16. BchrCH.d Co,
(vormals A. Asher & Co. Yerlag).
Druck von Gebr. Unger in Berlin, Bernburger Str. 30.
A. 09
S. 12. 1. W»
11.6. 25.
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S%n.: Nests*
J. Mlgf.;
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Karl Weinhold.
Im Auftrage des Vereins
herausgegeben
Johannes Bolte.
17. Jahrgang.
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BERLIN. J
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(vormals A. Asher & Co._
1907.
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