ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Karl Weinhold.
Unter Mitwirkung von Johannes Botte
herausgegeben
von
Fritz Boehm.
Mit 38 Abbildungen im Text.
BERLIN.
BEHREND & C9.
1914.
cJ K
24. Jahrgang.
1914.
Inhalt.
Ill
Inhalt.
Abhandlungen und grössere Mitteilungen. ^
Volkskundliches ans den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts. Von Heinrich ^ ^
Marzoll................ 20— 31
Hianzische Märchen (1-2). Von Samuel Grat . . . . • • • • • • • • * '
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland. Von August An , ^ ^
Die wfndfhdmtrilndschrift des Liedes 'Von Sankt Martins Freuden'. Von ^ ^
August Gebhardt und Elias 0echsler....... ■ • • • • • ' '
Volksglauben und Yolksrneinungen aus Schleswig-Holstein, III («• tiaus u
Herd, '.). Arbeit und Mahlzeit, 10. Zeiten, 11. Wetter, 12. Irore). Von ^ ^
Heinrich Garsten s ........................
Maltesische Legenden von der Sibylla. Von Bertha Ilg ' ' ' '
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland. Von Al ìe ar 111 mi zwei
Abbildungen).......................113-134 ^5-239
Le Médecin dee Pauvres. Von Oskar Ebermann.............io4 Lüf
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter. Von Athanassios Buturas . 1G2 H5
Misshandlung eines Gespenstes. Von Albert Hellwig................IT,)—182
Zur Volkskunde Argentiniens, I. Volksrätsel aus dem La Plata-Gebiete. Von ^ ^ _
Robert Lehmann-Nitsche.....................^ ® ^
Eine alte Greit'swalder Lokalsage. Von Alfred Haas ...........^ ^
Das Zopfgebäck im jüdischen Ritus. Von Berthold Kohlbach....... 0 '
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde, I. Hungerberg, Honigberg und ahn-
liches. IL Weinberg, Winterberg, Venusberg. Von Wilhelm fecho of . .
Lie Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums, jetzt Königliche Sammlung
für deutsche Volkskunde. Von Georg Minden (mit einer Abbildung) . . oo(
Die Entwickelung der Königlichen Sammlung für deutsche Volkskunde seit dem
Jahre 1904. Von Karl Brunner....................
Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst in Dresden. Von Franz Weinitz
(mit drei Abbildungen)........................•><.,7_ss7
Aufgaben der deutschen Sach-Geograpliie. Von Wilhelm Pessler ..... ^
Der Oberinnviertier. Von Hugo von Preen (mit sieben Abbildungen . . • •
Die sogenannten Apostel-Bienenstöcke von Höfel. Von iranz Tieicie (mi
einer Abbildung) ..........................
Kleine Mitteilungen.
AusT denJRc'^?UGfn^oc^ze^en und Primizen, II. Von Oswald Menghin . . 71— 7(5
1 e erichten des Freiherrn Augustin von Mörsperg. Von Fritz
(m'b «ta« Abbildung)......................................77-80
Zum Bahrrecht. Von Oskar Philipp......................................80-81
¿U1 Wanderung der Schwankstoffe (1-3). Von Johannes Bolt e............81-88
c Hvank vom Zeichendisput in Litauen und Holland. Von Wilhelm Calaud
und Johannes Bolte....................................88—90
IV
Inhalt.
Sei e
Nachbarreime aus Obersachsen. Yon Curt Müller........ 90— 94. 183—188
Nachtrag zu den Igelsagen. Von Géza Róheim............................94
Ein Helgoländer Brautsclnnuck. Von Max Höfler (mit einer Abbildung) . . . 94— 95
Weihnachtslieder aus Mähren Von Domitius Stratil...........188- 190
Die kluge Königstochter, ein polnisches Märchen. Von Otto Knoop ..... 191—192
Acker und Garten im Aberglauben des Isergebirges. Von Wilhelm Müller-
Rüdersdorf ............................193 — 194
Doppeldeutige Volksrätsel aus Schleswig-Holstein. Von Arthur Witt ... . 1!)4—195
Noch ein Vorschlag zur lexikalischen Anordnung von Volksmelodien. Von
Gottlieb Brandsch.........................196-199
Auffrischung alter Fastnachtsfeiern in der Rheinpfalz. Von Ludwig Frankel 199
Vernageln. Von Max Höfler (mit einer Abbildung)........................200 201
Das kaudinische .Joch. Von Theodor Zachariae..........................201—20G
Zur Pflege der Volkskunde in Italien. Von Fritz Boehm..................206—210
Zur Geschichte des Aberglaubens in der Obergrafschaft Katzenelnbogen. Von
Wilhelm Müller....................................................293 —.*503
Misshandlung eines Hexenmeisters. Von Albert Hellwig....................303—305
Gebäcke und Gebildbrote (Pollweck und Osterwolf). Von Max Höfler (mit
18 Abbildungen) ....................................................305—309
Beigaben unter Rainsteinen. Von Oskar Philipp.................310-311
Jungfrauenversteigerung im oberen Nahetal. Von Ludwig Frankel..........311
Tschuwaschische Sagen vom Igel als Ratgeber. Von Walter Anderson. . . 312—315
Drei Kunstlieder im Volksmunde. Von Otto Stückrath.........315 — 317
Zum Schwank vom Zeichendisput. Von Johannes Hertel .........317-318
Nachtrag zu S. 281. Von Wilhelm Schoof................................319
Nochmals das Soldatenlied: Hurra, die Schanze vier. Von Johannes Bolt e
Zum Rübenzagel. Von Georg Hüsing....................................320-326
Der 'Weiberbraten' von Berghausen bei Speyer. Von Ludwig Frankel . . . 411 — 413
Braunschweigische Sagen, I Von Otto Schütte.............414-420
Rätsel der Königin von Saba in Indien. Von Theodor Zachariae..........421 — 424
Aus Hermann Kestners Volksliedersammlung. Von Johannes Bolt e..........421
Bücheranzeigen.
Knortz, K. Amerikanischer Aberglaube der Gegenwart (F. Boehm..........96
Bin Gorion, M. J. Die Sagen der Juden (I. Scheftelowitz) .... 97 — 99. 332
Lacombe, M. Essai sur la Coutume Poitevine du Mariage au début du XV. siècle
(J. Köhler)..........................................................99—100
Seiler, F. Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen
Lehnworts, Teil 1 (H. Michel).....................210—211
Hörmann, K. Herdengeläute und seine Bestandteile (E. Hahn).......211-212
Thurnwald, R. Forschungen auf den Salomoinseln und dem Bismarck-
Archipel, Bd. 1 und 3 (S. Feist)....................21o—214
Thalbitzer, W. The Ammassalik Eskimo (S. Feist)............214—21b
Müller, G. Altgermanische Meeresherrschaft (A. Gebhardt).........216—21 <
Schoof, W. Die Schwälmer Mundart (0. Philipp)..........................326—327
Graber, G. Sagen aus Kärnten (J. Bolte)................................827- 328
Seyfarth, C. Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens
(F. Boehm)....................................328- 32.*
Aarue, A. Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung. Übersicht ^er
Märchenliteratur. — Die Tiere auf der Wanderschaft. — Der tiersprachen-
kundige Mann (J. Bolte)..................... ■ • f^2
Schulz-Minden, W. Das Germanische Haus in vorgeschichtlicher Zeit
(R, Mielke)............................. 332—333
Inhalt.
Seite
Bolte, J. und Polivka, G. Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen
der Briider Grimm, neu bearbeitet, Bd. 1 (F. v. der Leyen)....... 425 427
Hausratb, A. und Marx, A. Griechische Märchen (F. Boehm)...... 427-428
Ackermann, A. Der Seelenglaube bei Shakespeare (H. Schelenz)..... 428—431
Notizen (L. Bechstein, F. Cramer, A. Haas, A. Hilka, W. Hotz, Gross-Berliner
Kalender, E, Mai, H. Marzeil, -T. Mink, G. Pitrè, Chr. Ranck, G. Schierg-
hofer, R. Schlegel, J. H. Schwalm, C. Sganzini, A. Stenzel, .T. Vicuña
Cifuentes, Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver
Menschen, A. Wrede, Zeitschrift für Kolonialsprachen. — A. Abt, P. Bahl-
mann, O. Bockel, P. Borchardt, R. Braun, E. Fehrle, P. Graflünder,
G. Hegi, B. Kübler, H. Marzeil, W. Müller-Rüdersdorf, W. Pessler,
S. R. Steinmetz, C. H. Stratz, Ch. Wagenaer-J. Fritz, A. Wirth. — A. Hell-
wig, Th. Imme, R. Kleinpaul, R. Kühnau, E. Lemke, Quickborn-Bücher,
B. Sarasin, B. Schmidt, G. Steinhausen, A. v. Weissembach. — K. Ahnert,
G. Amalfi, S. Debenedetti, A. van Gennep, B. Geyer, P. Herrmann,
J. Klapper, E. F. Knuchel, I), v. Kralik, A. Leskien, H. Marzeil, E. Mogk,
A. Nägele, L. Neubaur, G. Pitrè, J. Pommer, W. S. Reymont, E. Samter,
P. Sartori, F. Vogt)........... 100-106. 217—221. 334-836. 431-436
Victor Chauvin f. Yon J. Bolte.....................106-107
Zum Bericht über den Marburger Verbandstag. Von J. Bolte..............112
....................................437
Max Höfler -f. Von M. Roe di er er
Berichtigungen und Mitteilungen....................jj2 224 3%
440
Aus den Sitzungsprotokollen des Vereins für Volkskunde. Von K. Brunn er
108-112. 221-224. 437-440
Register
441-448
--.-—M
Aytl. 461)46)
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Karl Weinhold.
Unter Mitwirkung von Johannes Bolte
herausgegeben
von
Fritz Boehm.
24. Jahrgang.
Heft 1. 1914.
Mit 4 Abbildungen im Text.
BERLIN.
BEHREND & CM.
1914.
Die Zeitschrift erscheint 4 mal jährlich.
Inhalt.
Seite
Volkskundliches ans cien Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
Von Heinrich Marz eil ............... i_19
Hianzische Märchen (1—2). Von Samuel Graf.......20_31
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland. Von August
And rae. (Mit zwei Abbildungen) . . ........31—47
Die Windsheimer Handschrift "áfes Liedes 'Von Sankt Martins
Freuden'. Von August Gebhardt und Elias Oechsler . . 47—54
Volksglauben und Volksmeinungen aus Schleswig-Holstein, III
(8. Haus und Herd, 9. Arbeit und Mahlzeit, 10. Zeiten,
11. Wetter, 12. Tiere). Aon Heinrich Carstens f. . . . 55—62
Maltesische Legenden von der Sibylla, I. Von Bertha Ilg . . 63—71
Kleine Mitteilungen:
Über Tiroler Bauernhochzeiten und Primizen, II. Von 0. Menghin. S. 71. — Aus
den Reiseberichten des Freiherrn Augustin von Mörsperg. Von F. Behrend (mit einer
Abbildung). S. 77. — Zum Bahrrecht. Von 0. Philipp. S. 80. — Zur Wanderung der
Schwankstoffe (L—3). VonJ. Boite. S. 81. - Der Schwank vom Zeichendisput in Litauen und
Holland. Von W. Calaud und J. Boite. S. 88. — Nachbarroime aus Obersachsen, I.
Yon 0. Müller. S. 90. — Nachtrag zu den Igelsagen. Von Gr. Róheim. S. 94. — Ein
Helgoländer Brautschmuck. Von M. Höf'ler (mit einer Abbildung). S. 94.
Bücheranzeigen :
K. Knortz, Amerikanischer Aberglaube der Gegenwart (F. Boehm) S. 9G. — Micha
Josef Bin Gorion, Die Sagen der Jnclen, 1. Band (I. Scheftelowitz) S. 97. — M. Lacombe,
Essai sur la Coutume Poitevine du Mariage au début du XV. siècle (J. Köhler) S. 99.
Notizen:
Bechstein, Cramer, Haas, Hilka, Hotz, Gross-Berliuer Kalender, Mai, Marzell, Mink,
Pitrè, Ranck, Schierghofer, Schlegel, Schwalm, Sganzini, Stenzel, Vicuña Cifuentes, Vor-
schläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen (Thurnwald), Wrede, Zeit-
schrift für Kolonialsprachen S. 100 — 106.
Victor Chauvin f. Von J. Bolte...........106—107
Aus den Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde
(K. Brunner)................108—112
Zum Bericht über den Marburger Verbandstag. Von J. Bolte 112
Druckfehlerberichtigung............................112
Der Nachdruck der Aufsätze und Mitteilungen ist nur nach An-
frage beim Herausgeber gestattet.
Der Jahresbeitrag", wofür die Zeitschrift an die Mitglieder post-
frei geliefert wird, beträgt 12 Mk. Die Zahlung wird bis zum
15. Januar erbeten, und zwar auf das Konto „Geheimrat Dr. Roediger,
Separatkonto" bei der Depositenkasse NO der Deutschen Bank in
Berlin, W. 50, Tauentzienstr. 21 — 24. Sie kann kostenfrei bei jeder
Depositenkasse der Deutschen Bank oder durch Überweisung bei jedem
anderen Bankinstitut erfolgen; dagegen erfordert Zahlung durch Post-
scheck 25 Pf., durch Postanweisung 5 Pf. Zuschlag seitens des
Zahlenden. Nach jenem Zeitpunkte werden wir uns erlauben, den
Beitrag ohne vorhergehende Mahnung auf Kosten der Mit-
glieder durch die Post oder Paketfahrtgesellschaft einzuziehen.
Der Vorstand.
(Fortsetzung auf S. 3 des Umschlags.)
Yolkskundliches aus den Kräuterbüchern
des 16. Jahrhunderts.
Von Heinrich Marzeil.
Eine wichtige, bis jetzt noch wenig gewürdigte Quelle zur älteren
deutschen Volkskunde sind die dickleibigen 'Kräuterbücher des 16. «Tahr-
lumderts. Sie bringen, je nach der Persönlichkeit des Verfassers, mehr
oder weniger reichlichen Stoff über Pflanzenaberglauben, Volksbräuche,
volksmedizinische Verwendung der Kräuter und über volkstümliche
Pflanzennamen. Was v o r dem 16. Jahrhundert in Deutschland über
Pflanzenkunde erschien, — es sei nur an die sieben Bücher 'De Vegeta-
bilibus Alberts des Grossen (Albertus Magnus) und das 'Buch der Natur'
des Domherrn Konrad v. Megenberg (schrieb um 1349) erinnert — ent-
hält nur sehr wenig auf deutsche Volkskunde Bezügliches, obwohl doch
diese beiden Schriftsteller schon Ansätze zu einer selbständigen Natur-
beobachtung zeigten. Andere naturwissenschaftliche Autoren kommen
schon deswegen nicht in Betracht, weil sie zumeist die antiken Natur-
lorscher (besonders Theophrast, Dioskorides und Plinius) einfach kopierten.
Eine Ausnahme macht nur die 'Physika' der hl. Hildegard (gest. 1179 als
Äbtissin im Kloster auf dem Ruprechtsberg bei Bingen). Die zwei über
pflanzen handelnden Bücher des genannten Werkes enthalten einiges
^ olksbotanische.
Mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts beginnt in Deutschland eine
neue Ära der botanischen Forschung. Man macht sich, wenn auch nur
schwer und zögernd, von dem Wahne frei, dass die in den antiken
Triften erwähnten Pflanzen auch alle in Deutschland vorkommen müssten
und umgekehrt, dass alle in der deutschen Heimat wachsenden Kräuter
auch in den Büchern der Griechen und Römer zu finden seien. Statt
die Zeit nutzlos mit der Frage zu vergeuden, welche Pflanze denn eigent-
lich unter dem lateinischen oder griechischen Namen zu verstehen sei,
8'eht man hinaus in die freie Natur, sammelt die einheimischen Pflanzen
und bildet sie, wenn auch oft noch in sehr rohen Holzschnitten, in dicken
zöitschr. d.Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 1. 1
9
Marz ell:
Folianten ab. Freilich sieht man noch immer ehrfurchtsvoll in den
Schriften der Alten nach, und noch immer ist ein grosser Teil des Inhalts;
dieser Kräuterbücher aus Plinius und Dioskorides übernommen. Dies
gilt auch, wie wir unten sehen werden, von einem guten Teil des Pflanzen-
aberglaubens, so dass es nötig wird, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob
ein echt deutscher Volksglaube oder ein aus der Antike übernommener
Aberglaube zugrunde liegt. Aber man kann sich denken, dass diese alten
Kräuterkundigen auf ihren botanischen Wanderungen mit manchem
Wurzelgräber, manch altem Weiblein oder auch mit Hirten und Bauern
zusammentrafen und von diesen Leuten allerlei Abergläubisches erfuhren,
das sie dann ab und zu auch in ihre Kräuterbücher aufnahmen, teils weil
sie es für bare Münze nahmen, teils aber auch um es zu verspotten und
sich darüber zu entrüsten. Die folgenden Zeilen beschränken sich fast
ausschliesslich auf die Kräuterbücher der 'Väter der deutschen Botanik5,
wie sie ein Geschichtsschreiber der Botanik, Kurt Sprengel, genannt hat.
Es sind dies Otto Brunfels1) (geb. um 1500 zu Mainz, gest. 1534 als
Stadtarzt zu Bern), Hieronymus Bock2) ['Tragus' nennt er sich in den
lateinischen Ausgaben seiner Werke] (geb. 1495 zu Heiderbach im Zwei-
brückschen, gest. 1554 zu Hornbach im Wasgau) und Leonhard Fuchs3)
(geb. 1501 zu Weinding in Bayern, gest. 1566 als Professor in Tübingen).
Auch die Kräuterbücher des Italieners P. A. Mattioli4) (gest. 1577) und
des Pfälzers I. Th. Tabernaemontanus5) (geb. in Bergzabern, gest. 1590
zu Heidelberg) enthalten einiges Volkskundliche. Nur weniges bringt der
'Gart der Gesundheit' (Ortus sanitatis), dessen Strassburger Ausgabe
von 1507 e) hier benutzt ist. Es ist dies eine Art botanisches Volksbuch*
1) Contrafayt Kreuterbuch. Nach rechter vollkommener Art / vnnd Beschreibungen
der Alten / besst / berümpten ärtzt / vormals in Teutscher sprach / der maszen nye ge-
sehen / noch im Truck auszgangen. 1532. In Straszburg hey Hans Schotten. — Ander
Theyl des .... Kreuterbuches 1537.
2) New Kreutter Buch von underscheydt, wiirckung und namen der kreutter so in
Teutschen landen wachsen. Beschriben durch Hieronymum Bock aus langwiriger und
gewisser erfarung. Gedruckt zu Straßburg durch Wendel Rihel. 1539. — Auch die (dritte
Ausgabe von 1551 habe ich an einigen Stellen benutzt.
3) New Kreutterbuch / in welchem nit allein die gantz histori / das ist / namen /
gestalt / statt vnd zeit der wachsung / natur / krafft und wiirckung / des meysten theyls
der kreutter so in Teutschen und anderen landen wachsen / mit dem besten vleiss be-
schrieben .... Getruckt zu Basell durch Michael Isingrin. 1543.
4) New Kräuterbuch mit den allerschönsten und artlichsten Figuren aller Gewechss
....durch Georgium Han dsch verdeutscht. Gedruckt zu Prag durch Georgen Melantrich
von Auentin. 1563.
5) New Kreuterbuch. Mit schönen, künstlichen und lieblichen Figuren und Conter-
ieyten aller Gewächss der Kreuter. . . . Frankf. am Mayn. 1588.
G) In diesem Buch ist der Herbary : oder kriiterbuch : genant der gart der gesunt-
heit . . . [auf der letzten Seite :] Getruckt und flyßlichen besehen mit meer figuren
artlychet gesetzt durch Joannem Prüss buchtrucker zum Thiergarten. In dem jar da man
zalt nach der Geburt Christi Tusentfünffhundertundsyben.
Volkskundliclies aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
3
dessen erster Druck vom Jahre' 1485 datiert ist ). Das meiste und das
wertvollste Material bringt zweifelsohne Hieronymus Bock, dessen Kräuter-
buch daher hier besonders berücksichtigt wird.
Dass dieser Botaniker nicht selten unmittelbar aus dem Volke schöpfte,
geht aus mehreren Stellen seines Werkes hervor. So sagt er z. B. von
der 'Eberwurtz' (Carlina): „Man gibt dieser wurtzel zu so yemans sie bei
im trag / und mit eym andern über feit gehe / demselben sol die krafft ent-
zogen werden durch dise wurtzel / glaubs wer do wil / ich finds n ir gen s
gesohriben" (2, 79a).
Auch Paracelsus kennt das Mittel, wenn er vom 'Carduus angelicus' (Carlina)
erzählt: „Der diser Wurzel gemessen will, der muß allein mit großer Arbeit
hinder jhr Krafft kommen, dann ohne großS Mühe tut sie nichts. Ich hab erst-
mahl gesehen, daß ein Mann im Elsaß getragen hat von Rufach gen Sultz aulT
drey Centner schwer ein lange Meilwegs Wein in einem Yass auf sich gebunden
und 12 Mann zu jhm genommen; hat die 12 alle müde gegangen das sie jhm
nicht haben mögen folgen und schwach hernach gegangen etlich Tag hernach gar
geschwecht gelegen" (Bücher u. Schriften des edlen hochgelehrten und "bewehrten
Philosophi und Medici Philippi Theophrasti Bombast v. Hohenheim Paracelsi ge-
nannt .... an Tag geben durch J. Huserum. Frankf. a. M. 1603. 8, 57). „In
die Gebisse [der Pferde] stecke oder kniipffe man etwas von Chamaeleonte nigro
oder Eberwurtz, sonderlich die in ihrer Vollkommenheit und Balsamischer Zeit
als zwischen der zwei Frauentagen umb den Herbst gegraben sey. Sintemal die-
selbe einem anderen Menschen oder Roß magnetisch und sichtbarlich seine starcke
Kräffte und gute Natur entzeucht oder benimbt . . . (Staricius J., Neu vermehrter
Heldenschatz (1682), S. 87). Ähnlich zitiert Reichelt, Amuleta (1692), S. 238 nach
Helmontius: „radix Carlinae piena succo et viribus evulsa gestata et mumiae con-
temperata tanquam fermento ex homine, cuius umbram quis premit, vires et robur
naturale in se trahit." Schliesslich erscheint das Rezept auch in des „Albertus
Magnus bewährte u. approb. sympathetische u. natürl. egyptische Geheimnisse
für Menschen und Vieh." 20. Aufl. Toledo [natürlich fingierter Verlagsort; wohl
aus dem 'bekannten' Verlag E. Bartels, Weissensee b. Berlin], 4. Teil, S. 5: „Wie
man einem Pferde seine Stärke benehmen und einem Menschen einpflanzen kann.
Man nehme den Samen eines Hengstes, der in einer Stutterei leicht zu erhalten
und vermische denselben mit guter Erde. In diese pflanze man schwarze Eber-
wurz und lasse es aufwachsen. Ein Mensch, der hievon gegessen hat, auch davon
bei sich trägt, und sich eine Zeitlang in einem Stalle, wo starke Pferde befindlich
sind, aufhält und darin schläft, benimmt den Pferden von ihrer Kraft und eignet
sie sich zu. Die genannte Wurzel muss aber bald nach dem neuen Mond ein-
gepflanzt und 2 oder 3 Tage vor dem darauf folgenden neuen Mond wieder ge-
kommen werden. — Auf gleiche Art kann auch andern Thieren die Kraft ge-
nommen und dem Menschen oder einem andern Thier eingepflanzt werden."
Höfler, Volksmed. Botanik der Germanen (1908), S. 110 vermutet hinter diesem
alten Aberglauben mit Recht einen Marenzauber.
An mehreren Stellen seines Kräuterbuches macht sich Bock über
den Aberglauben seiner Zeit lustig oder eifert gegen ihn. Von der
1) Vgl näheres über dieses Werk und die Kräuterbücher überhaupt Ernst H. F. Meyer,
Geschichte der Botanik, 4. Band. Königsberg 1857.
1*
4
Marzeil:
'Mansstreu' (Mannstreu-Distel, Eryngium campestre) raeint er ironisch:
„Etlich haben jr superstition mit diser wurtzel / vermeynen wann sie
sollich wurtzel bei jnen tragen / sie wollen Veneri unci Sappho gefallen,
ich acht etlich raiisten eyn centner haben, wer nit zuvil, wanns
helffen wolt" (2, 85a).
Ähnlich auch bei Brunfels (1532), S. 283. Die Quelle ist Plinius hist. nat. 22, 20:
Portentosum est, quod de ea [von der Pflanze 'centum capita', die auf Eryngium gedeutet
wurde] traditur, radicem eius alterutrius sexus similitudinem referre, raro invento, set
si viris contigerit mas, amabiles fieri; ob hoc et Phaonem Lesbium dilectum a Sappho,
multa circa hoc non Magorum solum vanitate, sed etiam Pythagoricorum." Vgl. auch
Reichelt, Amulette (1692), S. 66!) und Frank, Signatur, dass ist gründliche und warhafftige
Beschreibung der von gott und der natur gebildeten und gezeichneten gewachsen (Rostock
1618), S. 128.
Der Aberglaube, der mit dem Farn und seinem 'Samen' getrieben
wurde, gibt Bock ganz besonders Gelegenheit, sich über Aberglauben
überhaupt auszulassen. Es ist hier nicht der Ort, näher auf den Farn-
aberglauben, der in früheren Zeiten eine sehr weite Verbreitung hatte,
einzugehen. Der Mittelpunkt dieses Aberglaubens bestand darin, dass
man den zauberkräftigen 'Farnsamen' (der Farn bringt als Kryptogame
keine Samen hervor; als solche betrachtete man die Sporen auf der
Unterseite der Wedel) nur zur Mitternachtstunde der Johannisnacht unter
mancherlei Beschwörungen gewinnen zu können glaubte. Bock lässt sich
die Mühe nicht verdriessen, selbst in der Johannisnacht auf die Suche nach
dem 'Farnsamen' zu gehen, um zu erfahren, welche Bewandtnis es damit
habe. „Alle lerer schreiben Farnkraut trag weder blumen noch sainen /
yedoch so liab ich zum viertenmal auff S. Johansnacht / dem
Samen nachgangen / und morgens frü ehe der tag anbrach schwartzen
kleynen samen / wie Magsamen [Mohnsamen] / auff düchern und breytten
wulkraut blettern auff gehaben /vnder eynem stock mehr dann under anderen
etwan under hunderten nit eyn körnlin funden / dagegen liab ich widerumb
under eynem stock mehr dann hundert körnlin funden. Zu solchem
handel hab ich keyn segen keyn beschwerung noch Carácter
(wie etliche darmit handeln) gebraucht / sunder on alle superstition /
dem samen nachgangen / und funden / doch eyn jar mehr dann das ander /
bin etwan auch vergebens hinauss gegangen. Wann ich den samen hab
wollen holen / bin ich nit alleyn gangen etwan zwen zu mir genomen und
nachts in derselben gegent (do nit iiberlauffens war) eyn gross fewer ge-
macht / und über nacht also lassen brennen. Wie nun solchs zugehe oder
was für eyn geheymnüss die natur darmit gemeyn / ist mir verborgen.
Das hab ich wollen anzeygen / sintemal alle lerer den Farn on samen be-
schreiben" (1, 161b). Weiter unten sagt er von den 'Samen des Walt-
farns': „denselbigen samlen etliche alte weiber / schreien das auss für
Farensamen / ich geschweig was sie sunst mit treiben" (1, 162a).
Nochmals kommt dann Bock auf den Farnaberglauben zu sprechen als
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
5
er von dem (antiken) Aberglauben berichtet, dass demjenigen, der die
Paeonia ausgrabe, der Specht die Augen aushacke: „Was ist das änderst /
dann wie man vom Farnsamen sagt: wer Farnsamen will holen / der muß keck
sein und den Teuffei können zwingen. Aber in summa solch narrenspil
und spectra muß man den leutten machen / sie würden sunst in der
artznei auch gelert / grüben zu zeitten jre wurtzel selbers / samleten
kreutter und samen / wann es zeit were; das wer aber wider die Apotecker
und wurtzelkremer" (1, 173a). Recht skeptisch meint auch Brunfels
vom Farnsamen: „Was nun der Waltfar für kräfft habe / vnd nämlich der
somen darvon / ist im geheymnüssz der beschwörer / sye sagens auch nye-
mants. Dann es ist so ein kostlich und überkostlich ding umb den somen /
dass man wunder darmit wiircke. Ich habe aber noch keinen gesehen /
der reich darmit sey worden / oder ein eintzig wunder darmit gewüickt
habe" (S. 307).
Literatur (nur ausführliche oder entlegenere Schriften sind angeführt!) übei
den Farnaberglauben: Veckenstedt, Zamaiten 1883 2, 180; Wissensch. Mitteilungen
aus Bosnien u. d. Herzegowina 7, 346; Kuhn, Mark. Sagen (1843), S. 206; Philo
[Anhorn], Magiologia (1675), S. 776; Hildegard, Physica 1, 47 (Migne); oben 4,
153; Cl. Brentano in der 'Gründung Prags' (Werke hrsg. v. Schüddekopf) 10, 391;
Ztschr. f. Deutsche Myth. u. Sittkde. 4, 152; Schalenburg, Wenden (1880), S. 82;
Baumgarten 1862, S. 132; Sébillot, Folklore de France 3 (1906), 475; Anthro-
pophyteia 7, 289; Alpenburg, Mythen (1857) S. 407; Krauss, Sagen der Südslaven
(1884) 2, 424 ff. ; Kluge, Über die urgesch. Bedeutung d. Johannisfeste (Jahresber.
Gymnas. Mühlhausen 1873); Höfler, Volksmed. Bot. d. Germ., S. 4; Marzell in
Naturw. Wochenschr. N. F. 8 (1909), Nr. 11.
Bei der Besprechung des Gauchheils (Anagallis arvensis) benutzt
Bock die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass der mit dieser
Pflanze getriebene Aberglaube dem Christen nicht zieme: „Was die alten
heyden für abenthewr und wort zu diesen kreüttern vor dem aussgraben
getriben / und gesprochen zeigt Plinius an. Aber die Christen achten
superstition und gaukelwerk nichts, wiewol under denselben noch
vil superstition geduldet werden" (1, 112b).
Plinius nat. hist. 25, 145 sagt von der Pflanze anagallis: „praecipiunt aliqui
effossuris ante solis ortum, priuscjuam quicquam aliud loquantur, salutare earn,
sublatam exprimere; ita praecipuas esse vires". Dem Namen 'Gauchheil zuliebe
scheint Fuchs zu schreiben: „Diese kreuter haben die alten abergläubischen
1 rutschen Gauchheyl darumb geheyssen, das sie geglaubt haben wo mans im
jngang des vorhofs auffhenckte das sie allerley gauch und gespenst vertrieben"
(cap. 6). Wenigstens kann ich sonst nirgends finden, dass diese Pflanze im
germanischen Aberglauben eine besondere Rolle spielte.
Recht spöttisch meint Bock vom Sterkkraut (Reseda luteola), das
man auch zum Gelbfärben benutzte: „Dioskorides sagt das Antirihinon
guot seie für Zauberei der bulschafft / alleyn das mans bey sich trage / als-
dann möge niemands durch Philtra oder ander abenthewer zur Liebe be-
trogen werden. Zum anderen sol es diejhenige so gedacht kraut bei sich
6
Marzoll:
haben / für yedermann angenem und werd machen. Ich halt wol
schöner und geeler / sunderlich wann sie sich darmit liessen
ferben" (1, 105a).
Bock verwechselt hier den Färber-Wau (Reseda luteola) und das Löwenmaul
(Antirrhinum orontium). Der dem Texte (v. 1551) beigegebene Holzschnitt zeigt die
erstgenannte Pflanze, und auch die Bemerkung: „Die weiber sieden diß kraut dürr
und grün mit wasser und Alun [Alaun], machen also die bett schön gäl damit"
weist auf den Färber-Wau. Auf die zweite Pflanze bezieht sich der Name
'antirrhinum' und Bocks Beschreibung von der einem 'kalbs antlitz' ähnlichen
Frucht, was auf die Löcher in der Fruchtkapsel von Antirrhinum Bezug nimmt
[vgl. Marzell, Tierpflanzen (1913), S. 40]. — „Wer sich mit der Pflanze antirrhinon
salbt, soll guten Ruf erlangen" (Theophrast hist, plant. 9, cap. 19, 2). Vgl. auch
Dioskorides mat. med. 4, 130 und Plinius nat. hist. 25, 129.
Übrigens wäre es falsch zu glauben, dass diese alten Botaniker über
den Pflanzenaberglauben schon ganz erhaben gewesen wären. Sagt doch
der kenntnisreiche Mattioli von der Einbeere (Paris quadrifolia): „Dies
kraut ist nicht so giftig wie sie meinen. Etwa ich weiss und habs selbs
erfaren, das etliche menschen so durch unholden und Zauberei jrer
vernunfft beraubt gewesen mit diesen Beeren widerumb sey geholfen
worden. ..." (S. 472.)
Die Beeren, wenn die Sonne in den Zwillingen steht und zu 5 oder 9 ge-
pulvert, empfiehlt Schröder, Medicin.-Chymische Apotheke (1685), S. 1007, „denen,
die aus Hexerey närrisch worden." Im heutigen Volksaberglauben gilt die Einbeere
als sympathetisches Mittel gegen die Pest, die ja der primitive Volksglaube auch
als von Dämonen verursacht hinstellt. Vgl. Andrian, Altaussee (1905) S. 130;
Mitteil. d. nordböhm. Exkursionkl. 16. 351; Zeitschr. f. öster. Volkskde. 11, 190;
Unger, Steir. Wortschatz (1903) S. 71.
Derselbe Mattioli ist auch gleich bei der Hand, um Beweise für die
Zauberkraft des eben erwähnten Antirrhinum beizubringen: „Dioskorides
sagt, es [antirrhinum] sei gut gegen Zauberei und gespenst. Das halt
ich zwar selbs gesehen inn eines Herrn Schloß von einem Kettenhund,
der sonst stets thet bellen, wenn er frembde Leute sähe, dass derselbige
Hund in acht tagen nie gebellet hat und dieweil man vermeinet der hund
were durch böse leute bezaubert, die vielleicht etwas arges in demselbigen
schloß zu begehen im sinne hetten, hat man dies kraut wieder in die
hundshütten gelegt; bald darnach hat der hund wiederum gebellet"
(S. 519).
Manch wertvollen Beitrag bringen die alten Kräuterbücher zur
Kenntnis der 'Kräuterweihe'. Bekanntlich werden in katholischen Gegenden
an Maria Himmelfahrt (15. August) gewisse Pflanzen geweiht, die dann
besonders heil- und zauberkräftig sein sollen1). Zu den Pflanzen, die, so-
1) Vgl. darüber an neuerer Literatur besonders Franz, Die kirchl. ßenediktionen im
Mittelalter (1909) 1, 393-421 und Höfler, Der Frauendreissiger, Zeitschr. f. österr. Volks-
kunde 18, 133—161.
■s
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts. 7
viel ich übersehen kann, heutzutage nicht mehr (oder nur selten?) in den
Kräuterbund kommen, gehört das Immergrün (Yinca minor), von dem der
'Gart der Gesuntheit' (1507) sagt: „Mit diesem krut beswert man, in
welchen Menschen böse geist synt. Wie die Beswerung zugat lass ich
stan vmb kirtze willen. Aber on zwyfel mag keyn böser geist gewalt in
dem huss haben darinne diss krut ist. Und vil besser ist es so es ge-
wyhet wurde mit andern kreütern uff unser frauwen tag" (S. 41a).
„Welcher diss krut by ym trat über den hat der teüffel kein gewalt. —
diss krut sol gesamelt werden zwischen den zweyen unser frawen
tagen assumptionis und nativitatis" (ebenda).
Wie Höfler a. a. 0. nachgewiesen hat, bilden die sog. Kranzkräuter (corona-
menta) der Antike einen Hauptbestandteil der Kräuterbüschel, ein Beweis, dass
die Kräuterweihe vor allem durch die christlichen Klöster, denen ja die antiken
Schriften wohl bekannt waren, ins Volk drang. Zu den Kranzkräutern gehört nach
Plinius hist. nat. 21, 68 auch die vi(n)capervica, die ja auf unser Immergrün ge-
deutet wird. Solche Beschwörungsformeln der vinca, auf die der 'Gart der Ge-
sundheit' anspielt, sind teils in lateinischer, teils in deutscher Sprache überliefert;
vgl. Schönbach, Altdeutsche Predigt (Wien. Akad. 1900, 142. Bd.); Alemannia 2.
126. 135; Schindler, Bayr. Wörterb. 2 2, 291; Zeitschr. f. D. Altert. 38, 18f. Als
Liebesmittel kennt das 'ingrien' (Singrün, Vinca minor) das 'buch der Versamm-
lang oder das buch der heymlichkeiten' des [Pseudo-]Albertus Magnus (Strass-
burger Ausgabe 1508, cap. 5). Über das Immergrün im (Liebes-)Zauber vgl. ferner
Alpenburg, Mythen (1857) S. 265. 399; Leoprechting, Lechrain (1855) S. 188; oben
2, oh9 und 9, 375; Zeitschr. f. Deutsche Myth, und Sittenkunde 4, 107; Fischer,
Abergl. unter den Angelsachsen (Progr. d. Realschule Meiningen 1891) S. 32;
Andree, Braunschw. Volkskunde2 S. 335; Zeitschr. d. Ver. f. rhein. u. westf. Volks-
kunde 3, 63; Schambach, Wörterb. d. niederd. Mundart (1858) S. 154; Zeitschr.
d. histor. Ver. f. Niedersachs. 1878, 84; Schulenburg, Wenden (1882) S. 145;
Schröder, Med.-Chym. Apoth. (1685) S. 1093; Grimm, Mythol. * 3, 465. — Die
Ruthenen lassen zu Ostern Immergrün mit Meerrettich, Knoblauch und Wermut
weihen (Hoelzl in Verh. d. k. k. zool. botan. Gesellsch. Wien 11. Band ([1861]
S. 169).
Eine Pflanze dagegen, die auch jetzt noch im katholischen Süddeutsch-
land häufig einen Bestandteil des YV eihbiischels bildet, ist das Johannis-
kraut (Hypericum perforatum). „Von etlichen auch Fuga clemonum ge-
nennt darumb das man meynet / wo solichs kraut behalten wiirt / da
kommt der teüffel nicht hyn / möge auch kein gespenst bleiben / und
darumb beräuchert man in etlichen landen die kindtbetterin damit / lassen
es aber vor[her] segnen vff unsser Frawen uffarttag / und haben also
ire kurtzweil damit" (Brunfels 1532 S. 251).
Die Pflanze heisst in Westfalen Leiwefruggenbettestrauh, im Erzgebirge Maria
Bettstroh und in Westböhmen Unsa löi(b)m Frau Bettstrauh; sie gehört wie Ga-
lium verum (und Thymus serpyllum), dem gewöhnlich der Name unserer lieben
Prau Bettstroh gegeben wird, in die Gruppe der 'Frauenkräuter'; vgl. Höfler,
1 rauendreissiger VI. Mattioli sagt: „die weiber bereuchern die sechswöchnerinen
darmit, derhalben nennet mans an etlichen orten unser frawen würtze" (S. 388).
8
Marz ell:
Mit 'unser frawen' dürfte jedoch in diesem Fall die hl. Maria zu verstehen sein.
Rosbach, Paradeissgärtlein (1588) reimt von St. Johannskraut:
„Drey Loth all morgen getrunken eyn,
Soll ein gut Preservatiffe seyn
Für Zauberey und Teuffels Gespenst
Das helffen soll, wie vielleicht wehnst
Mag in der Natur gepflantzet seyn.
Den Physicis solchs stelle heym,
Des Teuffels List, Schreck und Betrug
Vertreibt ein anderer darnach lug,
Kraut, Palmen, Wasser hoch geweiht
Den Teuffei gwis gar nicht vertreibt." (S. 12.)
Die teufelscheuchende Wirkung des Hartheus, wie die Pflanze auch heisst,
wird auch in einem in den alten Kräuterbüchern oft wiederkehrenden Reime her-
vorgehoben :
„Dost, Harthaw und weisse Heidt
Thun dem Teuffei vil leidt." (Bock 1551 S. 27 b.)
In der ersten Ausgabe des Bockschen Kräuterbuches von 1539 heisst es statt
'weisse Heidt' 'Wegscheydt' (1, 18a). Soll hier etwa an Beschwörungen des
Teufels an Kreuzwegen (Scheidewegen) gedacht sein? Unter 'weisse Heide ist
der Sumpf-Porst (Ledum palustre) zu verstehen, dem wegen seines starken Ge-
ruches dämonenabwehrende Eigenschaften zugeschrieben wurde; Dost ist Ori-
ganum vulgare.
Eine andere Pflanze, die ebenfalls auch jetzt noch in die Kräuter-
büschel kommt (z. B. in Unteriranken als 'Donnerdistel', im bayrischen
Schwaben als'Herrgottskrone'), ist die'Dreidistel', wie Bock die gemeine
Eberwurz (Carlina vulgaris) nennt. Von ihr schreibt er: „Die Weiber
stellen nach dieser Distel vmb vnser lieben frawen Hymmelfart tag
vnd zelen sie vnder die Verbenas oder Würtzwusch, welche Dystel in
drei theyl zertheylt ist / mit dreien köpflin sol die best sein / doher sie den
namen Dreidistel überkommen und Frawendistel / darumb das sie auff
vnser frawentag mit anderen kreiittern geweicht würt. Es haben die
weiber vil superstition mit den kreüttern sunderlich aber mit den Drei-
disteln gehört billich vnder die geweichten kreütter" (2, 81a).
Dagegen scheint ein anderer Korbblütler, die Dürrwurz (Inula squar-
rosa, Conyza squarrosa) in unseren Tagen keine Bedeutung mehr für die
KräuterwTeihe zu haben. „Dieweil die Weiber diese Dürrwurz kennen / und
auff unser lieben frawen himmelfarttag in jre sagmina oder würtz-
wusch und Verbenas samlen und weihen / für alle gespenst und sunder-
lich für ungewitter / vermeynen gantz der donner und hagel könne nit
schaden wo und an welchem ort die Dürrwurtz sei" (1, 42).
Sehr interessant ist, dass dieselbe Pflanze nach Sailer, D. Flora Oberöster-
reichs (1841) JI2, 171 Donnerwurz, Donnerer, Taurer heisst, 'weil sie gegen das
Einschlagen des Blitzes hilft.' Es ist kaum anzunehmen, dass diese Angaben auf
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
9
das Bocksche Kräuterbuch zurückgehen. Die gleiche (in anderen Gegenden an-
scheinend ganz unbeachtete) Pflanze wurde also in der Rheingegend ('auff dem
Gaw Speier') und in Oberösterreich gegen das Einschlagen des Blitzes verwendet.
Da nicht feststeht, welche Pflanze Bock unter dem 'Blutkraut' ver-
steht — die meiste Wahrscheinlichkeit hat noch der rote Gänsefuss
(Chenopodium rubrum)—, so lässt sich auch nicht sagen, ob diese Pñanze
noch jetzt in den Kräuterbüschel kommt. „Die Weiber pflegen das kraut
inn jren Wurtzwiischen zu dörren und mit anderen Sagminis zu be-
halten" (2, 41a).
Mit dem roten Gänsefuss ist der Fuchsschwanz (Amarantus) nahe verwandt,
der in der Oberpfalz in den Kräuterbüschel kommt; vgl. Marzeil, Altbayr. Volks-
bot. (1909), S. 12.
Ein häufiger Bestandteil des heutigen Kräuterwisches ist wiederum
der Wermut (Artemisia absinthium), von dem Tabernaemontanus sagt,
dass ihn „die weiber in jre Würtzwische mit anderen Kräutern
sammeln" (S. 1).
Der Wermut wird heutzutage besonders in der Rheingegend in den Kräuter-
büschel genommen; auch im Elsass ist er eine der neun Pflanzen, die an Mariae
Himmelfahrt geweiht werden (Martin u. Lienhart, Elsäss. Wb. [1899—1907] 2,854).
Schliesslich gehört auch nach dem 'Gart der Gesuntheit' der Orant
(Antirrhinum; vgl. oben S. 6) zu den Pflanzen der Würzweihe: „Wer
diss krut by im hat und gewyhet würt zu vnser frawentag assump-
tions, dem mag kein zauberey schaden" (S. 126 b).
An derselben Stelle heisst es auch von dieser Pflanze: „Dy ammen haben
diss krut by jnen so die frawen in kyndes nöten lygent die geburt ist in [en]
dester leychter". Der Dorant (Orant) wird häufig (besonders auch in Verbindung
mit Dost und Baldrian) als hexenvertreibendes Mittel genannt; vgl. Wuttke, Volks-
abergl.3 § 135. Daher auch der Reim: „Orant den alten weibern wol bekannt"
(z. B. bei Cordus, Annotat. in Dioscorid. [1561] S. 72 a). Häufig kehrt in ver-
schiedenen Gegenden eine Sage wieder, nach der eine Wöchnerin (oder
Schwangere) dadurch, dass sie den Dorant bei sich hatte oder ihn unbewusst
berührte, dem auf sie lauernden Teufel entging. Vgl. Praetorius, Anthropodemus
plutonicus (1666) 2, 135ff.; Keightley, Mythol. d. Feen u. Elfen (1828) 2, 84;
Schulenburg, Wendische Volkssag. (1880) S. 86; Köhler, Voigtland (1867) S.416.
472; Irmischia (1881) S. 26. 31 ; Vernaleken, Mythen (1859) S. 225; Kuhn u.
Schwartz, Nordd. Sagen (1848) S. 431.
Auch über die Palmenweihe macht Bock einige Angaben, als er vom
'Seuenbaum' (Juniperus Sabina) spricht: „Die Messpfaffen und alte huren
gemessen des Seuenbaums am besten. Die Pfaffen pflegen auff den
Palm tag den Seuenbaum mit andern grünen gewächsen zu weihen / geben
für der donder und der Teuffei können nichts schaffen / wo solche ge-
weihete stengel inn heusern gefunden werden / dardurch würt jr opffer
gemehrt / und der armen seckel gelert. Zu dem so haben die alten Hexen
und huren acht auff die erste schüssling / so der pfaff oder andere von
10
Marz ell:
Seuenpalmen zu dem creutz werffen / geben für, die selbige schüssling
seien gut für hawen und stechen / für Zauberei / böss gespenst / und treiben
darmit vil abenthewer / lassens von newem weihen / vnd Messen darüber
lesen" (15511) S. 403b).
Die Huren nennt Bock deswegen, weil der Sadebaum (wie auch jetzt noch)
als volkstümliches Abortivum benutzt wurde. Über das Werfen der Palmen zu
dem Kreuz vgl. Franz, Die kirchlich. Benedikt. 1, 470—507. Dass Bock so sehr
gegen die Palmbräuche eifert, erklärt sich auch daraus, dass er seit 1532 pro-
testantischer Prediger gewesen zu sein scheint und später von der päpstlichen
Partei aus seinem Amte verdrängt wurde (Meyer, Gesch. d. Bot. 4, 304). Der
Sebenbaum ist auch heute noch, besonders im katholischen Süddeutschland ein
Bestandteil des Palms, so in Altbayern (Marzell, Aitbayr. Volksb. S. 2), in Tirol
(Zeitschr. f. D. Myth. u. Sittenkde. 1, 327, Alpenburg 1857 S. 396), in der Schweiz
(Taminathal; Schweiz. Arch. f. Volkskde. 1, 158). Von 'sevebalmen' spricht eine
1727 geschriebene Besegnung aus dem Archiv Donaueschingen (Alemannia 2, 137).
Vgl. auch Zingerle, Sitten 1857 S. 68.
An die Stelle des Sadebaums tritt im Palmbuschen nicht selten ein
anderer immergrüner Strauch, die Stechpalme (Ilex aquifolium). „Gemelte
Stechpalmen gehören unter die Sagmina. Der gemein verfüret häuft'
stecket disen palmen / Wann er geweihet würt/ über die thürschwellen
des hauss / und der vilie stalle / der zuuersicht / es sol das wetter nit da-
liin schlagen / wo diser Stechpalmen gefunden werde" (1551 S. 402b).
Ähnlich berichtet auch Mattioli: „der gemeine mann gleubt, das die
geweiheten zweige dieses baums über die tliür auffgehenckt für dem
donner bewaren sollen" (S. 52).
Die Stechpalme ist noch heutzutage in der Schweiz ein Bestandteil des Palms,
weshalb auch dort 'Baíme(n)', (Schweiz. Id. 4, 1218), Palmedorn (Bern; Ztschr. f.
D. Myth. u. Sittkde. 4, 174), Palmertorn (Messikommer 1910 S. 242), Balmen-
stritten (Aretius, Stocc-horni . . . descriptio [1560] S. 234b). „Als Christus in
Jerusalem einzog, streute man ihm Palmen auf den Weg. Als man aber 'kreuzige
rief, bekam die Palme, von welcher die Zweige abgeschnitten wurden, Dornen,
und es entstand die Stechpalme" (Zürich; Ztschr. f. D. Myth. u. Sittkde. 4, 174).
„Am Palmsonntag geweihte Zweige schützen vor Blitz" (Solothurn; ebda.). In
Sargans bilden die mit Äpfeln und farbigen Bändern geschmückten Zweige der
Stechpalme den Palm (Schweiz. Arch. f. Vkde. 10, 225). In den Gegenden des
Schneeberges kommt das „Schradllab", wie hier der Baum heisst, ebenfalls in
den Palmbuschen (Zeitschr. f. österr. Vkde. 2, 193).
Verhältnismässig wenige Beiträge liefern die alten Kräuterbücher zum
Kapitel des landwirtschaftlichen Aberglaubens. Merkwürdiges weiss Bock
von der 'kleyn Kletten', worunter die Spitzklette (Xanthium strumarium)
zn verstehen ist, zu berichten : „Hie haben mit disen Kletten etliche
naturkiindiger und alte weiber jre observation und erfarung / wann im
herbst so obgemelte Kletten zeittig und uffgethon werden / finden sie in
1 Die erste Ausgabe des Kräuterbuches von 1539 enthält, da sie noch keine Bäume
und Sträucher aufführt, den 'Seuenbaum' nicht.
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
11
eyner yeden Kletten zwey Gerstenkörner verschlossen / soll eyn gut
fruchtbar, volkummlich jar bedeutten / werden aber zwey spitziger
habernkörnlin funden / halten sie das gegentheyl / nemlich eyn kunfftige
thewrung aller frucht / das hab ich auch selbs erfaren und gemeynlich
auss yeder Kletten zwey schwartzer Habernkörnlin genommen" (2, 75a).
Unter den Gersten- bzw. Haferkörnlein sind jedenfalls die in ihrer Form
etwas wechselnden Spitzklettenfrüchte, von denen immer zwei beisammenstehen,
gemeint (die weiblichen Blütenköpfchen sind zweiblütig). In ähnlicher Weise
deutet man aus der Anzahl der Körner (Peridiolen), die der Becherpilz (Cyathus
^triatus, auch Teuerling genannt) in seinem becherartig vertieftem Peridium birgt,
gute oder schlechte Ernte. „Soviel die Theuerlinge Körner in sich haben, so viel
Groschen wird das Korn hinfort kosten," sagt die Chemnitzer Rockenphilosophie
(Grimm, Mythol. 4 3, 442). Dieses Orakel ist auch jetzt noch ziemlich verbreitet,
so in Böhmen (Am Urquell N. F. 1, 269), im Yoigtland (Köhler S. 392), in der
Schweiz (Schweiz. Id. 2, 1012), bei den Wenden (Schulenburg 1882 S. 163), in
Thüringen (Regel, Thüring. [1895] S. 677).
Noch ein anderes Orakel kennt Bock vom Eichenlaub: „es geschieht
oift das das eichenlaub gegen dem Herbst auff der lincken seilten weisse
runde schüplin gewint / das feit dann ab und wann man dise blümlin
killet (dann also nennen es die Bauren), so verhoffen sie des künfftigen
jars vil Eicheln zu haben" (1551, S. 415b).
Es handelt sich hier jedenfalls um durch Insektenstiche verursachte Aus-
wüchse ('Gallen') der Blattunterseite. Der Gallenforscher, Herr Konservator
Dr. Ross-München, teilt mir gütigst mit, dass sich Bocks Notiz wohl ohne
Zweifel auf die linsenförmige Galle der agamen Generation der Gallwespe Neuro-
terus quercus-baccarum bezieht (vgl. auch Ross, Pflanzengallen [1911] S. 230).
Viel bekannter als das ebengenannte Orakel scheint ein anderes gewesen
zu sein, das sich auf die bekannten grossen Eichengalläpfel bezieht. „Die
grössern Galläpfel haben diese Eygenschafft / daß sie jährlich deuten oder
anzeigen / ob dasselb Jahr fruchtbar oder unfruchtbar / ob sich Krieg
empören oder die Pestilentz regieren werde: Im Jenner oder Hornung
nini ein newen gantzen unversehrten Gallapfel / der nicht löcherig sey /
brich jhn mitten entzwey / so findest du darinnen eines unter den drey
dingen / nemblich ein Fliege / Würmle / oder Spinnen. Die Fliege be-
deutet Krieg, das Würmle Thewrung / die Spinnen ein Sterbens-
lauff" (Mattioli 1583 S. 64b).
Unter 'Würmle' ist die (wurmähnliche) Larve der Gallwespe, unter 'Fliege'
das fertige Tier kurz vor dem Ausschlüpfen aus der Galle zu verstehen. Bei der
Spinne mag es sich um eine ungenaue Beobachtung handeln; allerdings schreibt
Ross a. a. O. S. 16, „dass bisweilen auch andere Tiere in den verlassenen Gallen
wohnen." Konrad v. Megenberg, der die erste Naturgeschichte in deutscher
Sprache verfasste (vgl. oben S. 1), schreibt vom „laubapfel, der auf des paumes
laub wechst, galla haiz": „in dem laubapfel wirt ain Würmel, dar an prüefent die
luftsager oder die wetersager künftigez weter, wan vindent si daz würmel mitten
in dem laubapfel, so kümt ain scharpfer winter nach irr sag; wenn aber daz
12
Marzeil:
würmel an dem end ist, so kümt ain sänfter winter" (Buch der Natur, hrsg. v.
Pfeiffer [1861] S. 343). Die 'Bauernpraktik' v. J. 15141) sagt: „Wiltu sehen wie
das iar geraten sol / so nym war aychöpffel umb sant michelstag / bey den sieht
man wie das iar geraten sol,/ hond sy spinnen so kombt ain böss iar. Hondt sy
flign so ist es ain milte zeit. Hand sy maden ['Würmle' bei Mattioli!], so kombt
ain gut iar. Ist nichts darinn / so kombt ain tod. Ist der öpfel vil und frue / so
wirtt der winter vil vor weihenachten und darnach wirt es kalt. Seind die (in)
nerlach darin schön / so wirtt der sommer schön und das korn. Seind sy aber
nass / so wirt der sommer auch nass. Seind sy aber mager so wirtt es ain
haisser sommer."
Zum landwirtschaftlichen Aberglauben gehört auch, was Bock von der
Vertilgung des Farnkrautes (wohl Pteridium aquilinum) berichtet: „die
ackerleut weissen den Farn nit wol zu vertilgen / doch haben etliche dise
superstition / wann das feld / darauff Farnkraut wechst / auf decollation i s
Johannis (29. August) geeret und rumher gerissen wiirt / sol der Farn
folgens keyn platz mehr haben, mög auch nit wachsen" (1, 161b).
Eine Art Sympathiezauber! Der am Tag der Enthauptung des hl. Johannis
ausgerissene Farn kann nicht mehr nachwachsen, ist endgültig tot. Ganz eng be-
rührt sich damit, was Sébillot, Folklore de France 3 (1906), 464 aus den Vogesen
berichtet: hier muss man den Farn am Tage Abdon (30. Juli) ausreissen, dann
schlägt er nicht mehr aus. Hiermit wäre wieder der mecklenburgische Aberglaube
zu vergleichen, demzufolge Hühneraugen am Tage Abdon zu schneiden sind, da-
mit sie gänzlich vertrocknen. „Der Grund ist wahrscheinlich der Klang des
Namens (abthun)", meint Wuttke3 §514 dazu. Vgl. auch unten den Farn-Namen
'Abthon'. Der vogesische Aberglaube wäre demnach auf deutschem Boden ent-
standen, da ja in der französischen Sprache der Gleichklang mit Abdon nicht
besteht; vgl. dagegen Rockenphilosophie (Chemnitz 1709) 2, 265.
Betrachten wir jetzt noch einige Kräuter, die zum Zauber oder
Gegenzauber benutzt wurden. Bei vielen dieser Pflanzen lassen es die
alten Kräuterkundigen mit Andeutungen bewenden, gleichsam als ob sie
es verschmähten, den Aberglauben des Pöbels oder 'der alten Weiber ,
wie sie sich gewöhnlich ausdrücken, wiederzugeben. Hier mögen zunächst
zwei Kräuter genannt werden, deren sich die Alchimisten bei ihren
geheimnisvollen Arbeiten bedienten. Das erste ist ein Farnkraut, die
bekannte Mondraute (Botrychium Lunaria). „Der bletter halben nennen
wir diss kraut Mon Rautten / zu latin Lunaria, etlich wollen, diß kraut
sol zu vnd abnehmen mit dem Monschein / also / so mancher tag
das liecht am himmel alt / also vil sol diss kraut underschiedliche zer-
kerffte bletter bringen / vil treiben abenthewer mit disem ge-
wächs / sonderlich aber die Alchymisten. . . . weiter darvon zu
wissen / so jemands lustig / mag die landtstreicher / und die so sich der
Alchymei beriimen / fragen I ich wil nichts darvon schreiben / dann ich
1 In disem biechlein wirt gefunden der pauren Practik vnnd regel darauff sy das
gantz iar ain auffmercken haben vnnd halten (9 pag.). anno 1514.
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
13
habs nit versucht / was sein krafft oder würckung ist" (Bock 1551.
S. 345 a).
Ähnlich berichtet Aelian hist, anim 2, 56, dass die Leber der Maus mit dem
Mond zu- und abnehme (vgl. auch C. Gesner, De raris et admiranais herbis
quae. . . . Lunariae nominantur. Tiguri 1555 und Roscher, Selene u. Verwandt.
Studien z. griech. Mythol. 1890, 4. Heft). Bei den Slowaken ist die Pflanze ein
magisches Liebesmittel (Hovorka-Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin [1908]
1, 312).
Eine andere Alchimistenpflanze ist die 'Goldwurtz' (Türkenbund-Lilie,
Lilium Martagón). „Die Alchimisten halten diss kraut in hohem werdt
und sagen es habe ein kraft die Metall zu verendern / das lass ich
sie verantworten" (Mattioli 1563 S. 344).
Der Glaube stützt sich jedenfalls auf die goldgelbe Farbe der Zwiebel (daher
auch Goldwurz). In Württemberg legt man daher auch ein Stück Goldwurz in
die Butter, damit diese eine schöne gelbe Farbe bekommt (Eberhardt, Mitt. über
volkst. Überlief, in Württembg. Nr. 3. In: Württemb. Jahrb. f. Stat. u. Landeskde.
1907 S. 216).
Eine Anzahl von Pflanzen gilt als 'gut für die Zauberei". Die Engel-
wurz (Angelica) möge den Anfang machen. „Diss kraut bey sich
getragen sol gut für allerley zauberey sein" (Fuchs cap. 43).
Vgl. auch Wolff, Amulette (1692), S. 144. In Norwegen wurde die Pflanze
(wie die Stechpalme und andere zauberkräftige Kräuter) als 'Palmen' (vgl. oben)
getragen (Weinhold, Altnord. Leb. (1856) S. 79). Die Engelwurz galt vor allem
als wirksames Pestmittel. Den Ruf eines zauberwidrigen Mittels verdankt sie,
wie noch heute die verwandte Meisterwurz (Imperatoria Ostruthium) dem starken
aromatischen Geruch (ätherisches Öl der Doldenblütler!).
Eine andere stark riechende Pflanze ist die Eberraute (Artemisia
Abrotanum). „Sie bringt lust zur unkeuscheit und ist ein sonderlich kraut
wider alle zauberey / so den mannen ir recht nemen sich mit dem
Weib zu vermischen" (Brunfels 1537 S. 113).
Dieses Mittel ist übernommen aus Plinius nat. hist. 21, 162: „ramo eius
(habrotanum), si subiciatur pulvino, venerem stimulari aiunt, efficacissimamque
esse herbam contra omnia veneficia, quibus coitus inhibeatur". Die Eberraute
ist also ein Mittel gegen das 'Nestelknüpfen'. Auf die aphrodisische Wirkung der
Pflanzen weisen auch englische Volksnamen hin wie Boy's love, Kiss-me-quick-
and-go, Lad's Love, Maiden's Ruin, Old Man's Love (Britten and Holland, Diet,
of eng], Plant-Names. Lond. 1878 ff.). „Wenn jemand ein Mädchen zu seinem
Schatz haben will, so muss er ihr heimlich unter das Schürzenband ein Büschel
Eberreis stecken; alsdann kommt das Mädchen von selbst zu ihm. Die Liebe
dauert aber nur einige Jahre, weil sie keine natürliche, sondern eine angezauberte
ist; dann wandelt sie sich in Hass (Spickendorf, Prov. Sachsen; oben 4, 326).
Vgl. auch Höfler, Volksmed. Bot. d. Germ. S. 76.
Ein naher Verwandter der Eberraute ist der Beifuss (Artemisia
vulgaris), von dem Bock sagt: „Diss erwürdig kraut Beifuss oder Bücken,
S. Johanskraut und gürtel ist auch in die superstition und zauberey
14
Marzeil :
kommen / also das etlich diss kraut auff gewissen tag und stund graben
wie Yerbenam, suchen kolen und narensteyn darunder für febres, andere
hencken es umb sich / machen krentz darauss / folgens werffen si das kraut
mit jrem unfal in S. Johansfeur / mit jren Sprüchen vnd reymen. Diss
affenspil und ceremonien / treiben nit die geringsten zu Pareiss in Prank-
reich. Andere haben von Plinio gelernt / wo sie Beifuss mit Salbei an-
hencken, sollen sie auff der reyss nit müd werden und des dings ist keyn
ende" (1, 99a). Ähnlich äussert sich auch Brunfels über den Beifuss:
„Die magi graben disse Wurtzel uff S. Johannsabent / so die sonn under-
gadt / so finden sye darbey schwartze körnlein an der wurtzelen hangen.
Und das dem also / hab ich selbs gesehen / ist ein sonderlich geheymnuss
was damit gehandlet würt. . . . (S. Johanskraut) ist aber darum!) in den
brauch kommen / das an vilen orten Teutschlands menigklicli sich be-
fleisset solich kraut zu bekommen / sich damit krönen und gürten / und
zu letst ins Johannsfewr werffen. Solich soll ein sonderlich expiation sein
und geheimnuss" (S. 237).
Ygl. auch Fuchs cap. 13, Mattioli S. 357, Tabernaemont. S. 37. Rosbach.
Paradeissgärtlein (1588) reimt:
„Fürs Gespänst die alten Weiberlein
Den Beyfuss hencken hin zum Schein,
Der Zauberey soll widerstehn,
Mit Aberglauben sie umbgehn" (S. 254).
Der Beifuss-Aberglaube dürfte zum grossen Teil germanisch sein (vgl. auch
Höfler, Volksmed. Bot. S. 74), jedoch schreibt schon Plinias nat. hist. 26, 150:
„artemisiam et elelisphacum [wird auf eine Salvia-Art gedeutet] alligatas qui habet
viator negatur lassitudinem sentire." Dieser Aberglaube — dass der angebundene
Beifuss gegen Müdigkeit schützen solle — wird sonderbarerweise oft als
deutscher angegeben, so aus Tirol (Zingerle, Sitten (1857) S. 64), aus der Steier-
mark (Unger, Steir. Wortsch. S. 599), aus dem Saulgau (Bohnenberger 1904. 1.
113). Das Umgürten am Johannistag mit Beifuss kennen auch die Tschechen
(Zeitschr. f. österr. Volkskde. 11, 123). Dass der Beifuss-Aberglaube bei uns sehr
alt ist, beweisen seine Erwähnung bei Vintler (oben 23, 118) und bei Sebastian
Franck (vgl. unten den 'Rittersporn').
Germanisch ist wohl auch das Kraut Modelgeer, der Kreuzenzian
(Gentiana cruciata); in den Schriften der Alten wird die Pflanze nirgends
erwähnt. „Die alten weiber sagen Modelgeer sei aller wurtzel eyn Eer /
und ist ein recht Stergethron / dann sie wirt zu seltzamen künsten ge-
braucht in fascinationibus amorum. Sie ist wie eyn weiblich glid zer-
spalten in der mitten / drumb die Circëischen Weiber jren Handel
mit treib eil" (Bock 2, 70 b). Dieselbe Pflanze war auch ein magisches
Mittel bei Schweinekrankheiten: „Die hirten im Westerich treiben jre
superstition mit dem kraut und wurtzel / dann sobald eyn Saw sterbent
einher / feit nenien sie das kraut und wurtzel zerhackt mit anderen pulver
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
15
dazu bereyt / gebens den Schweinen indem ass mit etlichen gebettlin/
sol die schwein behüten / das der Schelm [Viehkrankheit; vgl. Höfler,
D. Krankheitsnamenbuch (1899)] nit under sie kum. Es muss aber in
allen orten Zauberei sein, niemans ist der solchs mit ernst widerfechtet"
(1, 71a).
Dass die Pflanze in hohem Ansehen stand, beweist auch die Beschwörungs-
formel einer Giessener Papierhandschrift (vgl. Zeitschr. f. D. Myth. u. Sittkde. 2,
170; 3, 333; Schmeller Wb. 1, 1568). Vgl. ferner Rosbach, Paradeissgärtlein
und Höfler, Volksmed. Bot. S. 70f.
Einheimischer Aberglaube ist es jedenfalls, der sich an zwei kleine
Farnkräuter, den braunen Milzfarn (Asplenium trichomanes) und die
Mauerraute (Asplenium ruta muraria), sowie an das Widertonmoos (Poly-
trichum) knüpft. „Es haben die alte weiber vil fantasei mit disen
kreüttern / und sprechen also / das rot Steinbrechlin mit den Lynsen
bletlin [= Asplenium trichomanes] sol man nennen Abthon / und das
nacket Jungfraw hör [= Polytrichum] sol man nennen Widderthon / dann
mit disen kreüttern können siebeide sachen / nemlich abthon und widder-
thon jrs gefallen / wer gesicht aber nit täglich dergleichen werck und
Philtra / darbei wollen wirs auch lassen / und fiirter schreiben" (Bock
1,158b). ...,,I)ie weiber reden also / Maurraut sol niderlegen und ab-
helffen / dagegen sol das braun hörlin mit den Lynsenbletlin wider-
bringen und auifhelffen / solches thut auch das Jungfrawhor" (ebda.
S. 159 a). „Man treibt sonst vil abentheur mit disem Widerthon [Poly-
trichum], das lassen wir als narrenwerck und Teufels gespenst faren"
(Fuchs cap. 241).
An derselben Stelle nennt Bock den 'Widderthon' auch 'Widdertod' (von
Söhns, Unsere Pflanzen5 S. 45 sicher fälschlich als 'WiderfdenjTod' erklärt!).
Die drei oben genannten Pflanzen sind wohl der noch jetzt auf bayrisch-öster-
reichischem Gebiet im Volk bekannte 'Widritat', eine geheimnisvolle Pflanze, mit
deren Beschreibung die Bauern nicht gern herausrücken. In Kärnten heisst die
Mauerraute noch heute ^'iderthat, in Steiermark, in Niederösterreich und im
Böhmerwald ist der braune Milzfarn (Asplenium trichomanes) der Widertod und
in Niederbayern (Mallersdorf) wurde mir vor einigen Jahren das Widertonmoos
als 'Widritod' gezeigt. In Niederösterreich heisst die Mauerraute, weil sie gegen
das 'Verneiden' des Viehes gebraucht wird (und an Felsen, Mauern usw. wächst)
'Stoanneidkraut' und bildet mit Silene acaulis, Homogyne discolor, Achillea Cla-
yennae und 'Pöchl' (--= Pechöl) die tägliche 'Maulgabe' der Alpenrinder (Höfer
und Kronfeld, D. Volksnam. d. niederöster. Pflanz. [1889] S. 16). Vgl. auch
Grimm Myth.4 S. 1016. In Steiermark heisst das Widertonmoos 'Nimm mir nichts'
und wird getrocknet und gestossen gegen Milchzauber verwendet (Unger, Steir.
Wortsch. S. 478). Die Vermutung bei Diefenbach-Wülcker, Hoch- u. Niederd. Wb.
(1875) S. 27, dass 'Abthon' aus adiantum (lateinisch-griechischer Farnname) um-
gedeutet sei, ist höchst unwahrscheinlich. Der 'Widritat' erscheint auch in
manchen Fassungen der bekannten Sage, in der der Teufel ein Mädchen, dem er
sich als Jäger usw. genaht, entführen will, aber durch einige Pflanzen (z. B.
Kutte!kraut, Wolgemut, Widritat) vertrieben wird, vgl. z. B. Schönwerth, Aus d.
16
Marzeil:
Oberpfalz (1858) 1, 134. Eine Beschwörung des Wiedertbats bringt eine Handschr.
der Univ.-Bibl. Breslau v. J. 1594: Wiltu haben, das dein Viehe nicht soll be-
zaubert werden, So soltu an Walpurgis abendt Wiederthat und Tellscheiben (Dill-
scheiben?) nehmen, die dem Viehe eingeben und unter die Türschwelle oder
darüber wie es am besten geschehen kann, ein wenig Esellhar eingraben und also
sagen: Wiederthat, du weist, was dir Christus befohlen hat; Das solt tu das gutte
mehren, undt des bösen wehren. Das zehll ich dir liebes Viehe zu lob und
büße. In nomine Patris etc. (Mitteil. d. schles. Gesellsch. f. Vkde. 18, 18).
Eine ffanz ähnliche Besesmung des Wiederthons aus Tirol bringt Alpenburff,
Mythen (1857) S. 408.
Die 'Rittersblumen' (Rittersporn, Delphinium Consolida) sollen (viel-
leicht wegen ihrer schön blauen Farbe?) die Augen vor Krankheit be-
wahren. „Rittersblumen dry in jungfrawenwachs gewirckt und an den
Hals gehenkt und domit sant Otilien eyn messe gefrömt oder dry
almusen umb iren willen geben oder dry pater noster gebet oder drey
gottsdienst alle gethan . seyn äugen blyben gesunt die wyle der
mensch lebet. — Und etlich nemen diser blumen ein büschlin und
hencken sye über die thiir der stuben oder camern vff das sye darin
sehen mögen. Dise blumen hat die liebe jungfrawe sant Otilia
sunderlichen in eren gehabt / dovon jnen dann sölicher gewalt kernen ist"
(Gart d. Gesuntheit S. 50a).
Auch Sebastian Franck berichtet in seinem Weltbuch (1534) S. 51b von den
'Prancken': „An S. Johanstag machen sy ein simetfeur / Tragen auch disen tag
sundere kreutz auff / weyss nit auss was Aberglauben / von beyfuß und eysen-
kraut gemacht / und schier ein yeder ein blaw kraut / Rittersporn genant / in
der Hand / welches dardurch in das feur sihet j dem tut diss gantz jar kein aug
wee / wie sy aberglauben / wer vom feur zuhauss weg will geen der würfft diss
sein kraut in das feur sprechende / es gee hinweg vnd werd verbrent mit disem
kraut all mein vnglück." Dorstenius, Botanicon (1540) S. 901 schreibt von der
Pflanze: „Ab studiosis in pretio habetur, una cum ruta. Siquidem credunt illius
crebro intuitu, numquam se ex oculis laboraturos. Quare eam in suis
musaeis suspendunt." Bemerkenswert ist, dass auch eine andere Pflanze mit
schön blauen Blüten, die Wegwarte (Cichorium Intybus), gegen Augenleiden
sympathetische Verwendung fand.
Auch die bekannte Sage vom Teufelsabbiss (Succisa pratensis), dessen
Wurzelstock wie abgebissen scheint, finden wir bereits in unseren
Kräuterbüchern verzeichnet oder doch angedeutet. „Und haben auch die
alten Weiber hye ire fantasien / sprechen es sey so ein köstliche wurtzel /
dass der böse feind soliche köstliche artzeney dem menschen ver-
gunnet/vnd sobald sye gewachsst / beisse er sye ab / dahär sye haben soll
iren nammen Teufels Abbisz. Mag villeicht sein / dass soliches [d. h. die
Wurzel] abgefaulet / oder sonst / das ich meer glaub / die natur ire wunder
darinn habe" (Brunfels S. 91).
Ähnlich auch bei Fuchs cap. 272. Nach einer estnischen Sage war es der
hl. Petrus, der die Wurzel abbiss. „Der hl. Petrus ging einst mit seinem Herrn
Volksfeundliches aus den Kräuterbüchern des IG. Jahrhunderts.
17
und Meister spazieren und wurde von heftigen Leibschmerzen überfallen. Um
sich zu helfen, riss er eine Pflanze aus der Erde, biss ein Ende von der "Wurzel
ab und fühlte sich auf der Stelle von den Schmerzen befreit. Seit dieser Zeit
hat diese Pflanze einen abgebissenen Wurzelstock, ja man kann sogar noch die
Stellen der Zähne daran unterscheiden. (Russwurm, Sagen aus Hapsal [1861]
S. 190). Ebenso bei Demitsch 1889 S. 231. Die Sage, dass der Teufel die
Wurzel der Pflanze abbiss, findet sich anscheinend zum erstenmal bei Oribasius
(4. Jahrh. n. Chr.). Der 'Gart der Gesuntheit' S. 113 b empfiehlt übrigens unsere
Pflanze gegen Zauberei: „welcher diss kraut bey jm traget oder die Wurtzel dem
mag der teufel kein schaden zufügen. Auch mag im kein zauberey ge-
schaden von den bösen weyben." Der Teufelsabbiss ist auch noch heutzutage
(z. B. in Mecklenburg; Bartsch 1879 2, 37) ein Bestandteil der hexenvertreibenden
Räucherpulver. Vgl. Dähnhardt, Natursagen 1, 203. 351.
Dass die alten Kräutler die Alraunwurzel nicht unerwähnt lassen, versteht
sich von selbst. Sie schreiben von den 'landstreichern', die den echten
Alraun (Mandragora) mit der rübenförmigen Wurzel der einheimischen
Zaunrübe (Bryonia) verfälschten, diese besonders präparierten und dann
die Fälschung als echten Alraun verkauften (Bock 1539, 2, 70b, Fuchs
cap. 201). Besonders ausführlich handelt Mattioli darüber; er erfuhr
diese schwindelhaf'ten Praktiken von einem 'Theriaksschreyer', der zu
Rom in seiner ärztlichen Behandlung war.
Über den Alraunglauben kann hier nicht näher abgehandelt werden; vgl.
Hertz, Ges. Abhandl. hs. von F. von der Leyen (1905) S. 259ff., A. Schlosser, Die
Sage von Galgenmännlein, Dissert. Münster 1912 (vgl. dazu meine Bespr. dieser
Schrift in Mitt. z. Gesch. der Mediz. und der Naturw. 12, 367, wo weitere
Alraunliteratur angegeben) und Marzell, Zauberpflanzen (Naturwiss. Wochenschr.
N. F. 8, nr. 11).
Verhältnismässig kurz wird eine andere berühmte Zauberpflanze, die
Mistel (Viscum album), abgetan: Nachdem Bock den bekannten Bericht
des Plinius (nat. hist. 16, 249ff.) über den Mistelkult der Druiden wieder-
gegeben hat, bemerkt er dazu: „Solcher fantasei und aberglauben seind
vii bei uns eingerissen. Dann vil meinen noch / es haben die Eichen
Misteln etwas krafft und gewalt für böse gespenst / henckens auch zum
theil den jungen kindern an die hälß / der meinung / es soll denselben
kindern kein Zauberei oder gespenst schaden .... Etliche Empirici und
künstler halten wann Eychemistel Hesele oder Birbeume Mistel die Erde
nit berüren / sollen sie gut sein für die fallende sucht / gepülvert und in
wein gedruncken / machen derhalben Pater noster daraus / etliche lassen
sie in silber fassen / und henckens vnder anderm geschmeid den jungen
kindern an die hälse" (1551 S. 358 a).
Da die Mistel äusserst selten auf Eichen wächst, so dürfte unter 'Eichen-
mistel' in den meisten Fällen die mit der Mistel nah verwandte, fast aus-
schliesslich auf Eichen schmarotzende Riemenblume (Loranthus europaeus) zu
verstehen sein. Diese Pflanze kommt in Deutschland nur bei Pirna in Sachsen
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 1. 2
18
Marzeil :
vor. Sicher ist es die Eichenmistel, von der Praetorius, Coscinomant. 1677 sagt:
„ . . .Viele Meissner, auch hier zu Zwickau, die da meynen: Wenn sie einen
solchen Eichenmistel haben, so haben sie etwas gar großes und wichtiges; daher
sie dieselben lassen in Silber einfassen und hängen sie den kindern an Hals: in
Meinung, ich weiß nit wofür sie dienen soll." Welchen Wert die in Silber ge-
fassten Mistel-Paternoster darstellten, beweist die Notiz in Rulands handlungsbuch
„450 rheinisch gulden umb mistlin paternoster" (Beneke-Müller 2, 1, 191).
Eine Pflanze, deren abergläubische Wertschätzung vielleicht aus-
schliesslich auf die Antike zurückgeht, ist das Eisenkraut (Verbena offi-
cinalis). Trotzdem finden wir dieses Gewächs sehr häufig in deutschem
Aberglauben erwähnt, obwohl das Eisenkraut, wáe schon aus seinen spär-
lichen deutschen Volksnamen hervorgeht, im Volk nur wenig bekannt ist.
Übrigens steht gar nicht fest, ob die Römer die von Linné als Verbena offici-
nalis benannte Pflanze unter 'verbena' verstanden, jedenfalls waren die
'verbenae' der Römer Zweige von verschiedenen Pflanzen, die kultischen
Zwecken dienten. „Ire [d. i. der Römer] schwartzkünstler schreiben also
darvon [vom Issenkraut] das es krafft habe / den bössen feyndt zu
zwingen / und zu allen zaubereyen dyenstlich . Welches auch Vergilius be-
zeuget. Item wer sich mit Issenkraut safft bestreicht / dem mag nye-
mants abholdt sein / man müssz yn lieb haben . Es möge ym auch keyn
feber schaden / und beyläuffig kein kranckheyt sey / darzu Issenkraut
nicht dyenstlich. Weiter / so man das gasthaus damit besprenget / so sollen
die gest alle frölich darvon werden / und keynes thyers gifft da gelasszen.
Wer ein guts kreütlin für die würt / und die unfridsamen eeleudt / wo
ym also wer." (Brunfels S. 47.) Auch zu den 'Johanniskräutern' gehörte
die Pflanze: „Unsere Teutschen zauberer umbreissens auff S. Johansabent
mit golt und sylber / beschwerens / verzauberns und]grabens auff S. Johanns-
tag vor der Sonnen auffgang etc. also fast ist die Zauberei eingerissen bei
den geistlichen mehr dann bey dem gemeynen man" (Bock 1, 56 a).
Über die verbena des Altertums vgl. Dioskorides mat. med. 4, GO, Aelian,
hist, arnin. 1, 35; Plinius nat. hist. 25, 105. Bei den Griechen gehört die Ver-
bena officinalis noch jetzt zu den Glückspflanzen; sie wird nebst Knoblauch und
Sellerie an die Ställe oder Seidenwurmhürden usw. angebunden. (Fraas, Synops.
plant, florae class. [1845] S. 186.) Auch Vintler (vgl. oben 23, 121) und Sebastian
Franck (s. oben Delphinium!) erwähnen die Pflanze. Vorschriften, die Verbena
zu graben, in Zeitschr. f. dt. Myth. u. Sittkde. 2, 171; 3, 233 und Mitt. d. schles.
Ges. f. Vkde. 13, 23; 16, 34.
Ebensowenig ist es ein deutscher Aberglaube, was Bock von der
Einbeere (Paris quadrifolia) sagt: „Etlich meynen so man diss kraut mit
der lincken hand abbrech / und an die geschwollene macht [pudendum]
binde / es sol dardurch der schmertzen gemiltert und gewendet werden."
(1, 89a).
Dioskorides mat. med. 4, 119 von dem aster attikos (vielleicht Aster Amellus L.),
einer Pflanze, die Bock mit Unrecht für die (bei den antiken Schriftstellern an-
scheinend nirgends erwähnte) Ein beere hält.
Volkskundliches aus den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts.
19
In das Gebiet der Volkskunde gehört schliesslich noch ein ergötzliches
Geschichtchen, das Bock von der Brachendistel (Eryngium campestre) er-
zählt. „ . . . die alten verdorrten disteln / die fallen dann [im Frühjahr]
ab / werden rundiert als kugeln / darumb sie stets vom wind hin
und her getrieben werden / daher man noch ein schimpffredt höret / wie
das gemelte rauhe distel eynen kecken schneiderknecht der in den krieg
ziehen wolt seinen langen spiess sol haben erlegt und abgetriben / als
dise runde und rauschende distel vom winde gejagt / ist sie mit großem
rauschen gegen dem -schneiderknecht gewraltzt / als eyn runde kugel j
darvon der Schneider erschrocken / das im der spyess entpfallen / sich
eilends gewent / und on gewer der disteln / als seinem auffsetzigen feindt
entrannen" (2, 84b).
Mit den obigen Ausführungen ist der volkskundliche Stoff der alten
Kräuterbücher noch bei weitem nicht erschöpft. Eine dankbare Aufgabe
wäre, die volksmedizinische Verwendung der darin aufgezählten
Pflanzen zu durchmustern und hier das aus den antiken Schriftstellern
Übernommene von dem wirklich Einheimischen zu trennen. Dieses letzt-
genannte dürfte allerdings im Vergleich zu jenem nur einen sehr kleinen
Teil ausmachen. Die nicht selten wiederkehrende Bemerkung der alten
Kräuterbücher, dass die 'alten Weiber' diese oder jene Pflanze bei ge-
wissen Krankheiten verwendeten, beweist natürlich noch lange nicht, dass
es sich hier um germanische Heilkunde handelt. Die Mönchsmedizin, die
aus den Schriften der Alten schöpfte, drang eben ins Volk ein. Ferner
bringen die Kräuterbücher manches Material zum Thema 'Die Pflanzen
im Kinderspiel'. Es werden hier zwar meist keine eingehenden Aus-
führungen gemacht, sondern die alten Kräutler lassen es mit der Pest-
stellung bewenden, „daß die Kinder ihr Kurtz weil mit disen blumen
haben". Des weiteren gehören auch noch hierher die kurzen Bemerkungen
über die Verwendung von Pflanzen in der Hauswirtschaft (z. B.
bei Bock 2, 32 a Verwendung des Binsenmarkes zu Dochten für die
Ampeln, Samenbaare des Teichkolbens zum Füllen von Betten bei Fuchs
cap. 319, Benutzung des Klebkrautes [Galium Aparine] als Milchseiher
bei Bock 1, 146b). Ein Kapitel für sich wären schliesslich noch die
vielen volkstümlichen Pflanzennamen, an denen Bock besonders
reich ist. Solche Volksnamen führt er besonders auf aus dem „Bistumb
Speier, Meintz, Metz, Trier, aus dem Wormbser gau und aus dem Westerich".
Bock ist einer der ersten Botaniker, die sich um die Volksbenennungen
der Pflanzen kümmerten, und der erste, der fränkische Pflanzennamen
sammelte.
Pullach bei München.
20
Graf:
Hianzische Märchen.
Yon Samuel Graf.
Im Juli 1909 besuchte ich, wie alljährlich um diese Zeit, meinen Geburts-
ort Oberschützen (Eelsölövö, Komitat Eisenburg), einen 1400 durch-
weg evangelische Einwohner zählenden Marktflecken, der, zwei Stunden
von der dreifachen Grenze von Ungarn, Niederösterreich und Steiermark
gelegen, den geistigen Mittelpunkt der Hianzerei bildet. Bei meiner Be-
schäftigung mit der Sammlung hianzischer Sitten und Redensarten ver-
nahm ich, dass Samuel Ofenbeck, genannt Tscliali, schöne 'Geschichten'
zu erzählen wisse und deshalb im Winter oft von den Bauern im Dorfe
Tauchen eingeladen werde, ihnen die langen Abende zu verkürzen. Ich
suchte den mir schon seit Jahren bekannten Mann in seiner einsamen,
halbverfallenen Waldhütte auf und fand seinen Ruf bestätigt.
Ofenbeck ist ungefähr 45 Jahre alt, von ziemlich hoher Statur und
trägt einen langen, verwilderten roten Vollbart. Seine Hütte liegt im
Kreuzeggwalde, eine Stunde von Oberschützen, eine halbe von Tauchen
entfernt und besteht nur aus einer Stube und einer Küche, dazu gehört
ein halbes Joch Acker, Heide und Gestrüpp. Erbaut hatte die Hütte
Ofenbecks Yater, der früher ein Haus in Tauchen besass, aber sich mit
den Dorfleuten nicht vertragen konnte. Auch der alte Ofenbeck besass
eine grosse Erzählergabe. Er rühmte sich, dass während seiner vierzehn-
jährigen Dienstzeit als Soldat oft die Kameraden, wenn er in der Kaserne
Geschichten erzählte, das Zimmer bis aufs letzte Plätzchen besetzten und
mäuschenstill zuhörten und auch die Offiziere ihn oft in die Kantine
kommen liessen, um 'lustige', d. h. erotische Geschichten von ihm zu
hören, und ihm dafür Zigarren oder auch Geld spendierten. Der junge
Ofenbeck wuchs einsam im Walde auf; statt zur Schule zu gehen, legte
er sich aufs Yogelstellen, Fischefangen, Klettern und Schiessen, blieb aber
des Lesens und Schreibens unkundig. Regelmässige Arbeit als Knecht
war ihm zuwider, wenn er sich auch bisweilen notgedrungen als Holz-
hauer oder Tagelöhner verdingte oder nach Österreich, in die kleine
ungarische Tiefebene oder ins grosse Alföld ins 'Schnitt' ging. Lieber
war ihm die Jagdflinte, und öfter hatte er sich wegen Wilddieberei vor
Gericht zu verantworten, bis endlich die Jagdpächter auf den Ausweg ver-
fielen, ihn als Wildheger anzustellen. Das Erzählertalent hat er vom
Vater geerbt; die von diesem oder anderwärts gehörten Geschichten hat
er in einem staunenswerten Gedächtnis bewahrt und versteht auch, sie
Hianzische Märchen.
21
nach der Gelegenheit kurz und schlagend oder weitläufig und mit Episoden
geschmückt zu erzählen. Die Winterabende verbringt er, wie erwähnt,
gewöhnlich in Tauchen, wo er bei den Bauern mit Apfelwein traktiert
wird und dafür Geschichten erzählen muss, während die Mädchen des
Dorfes beim Spinnrad sitzen und die Burschen und Männer Besen binden
oder Körbe flechten. Bezeichnend für seine Begabung ist folgender Vor-
fall: An einem stürmischen Winterabende pochten einst die Gendarmen
an der Tür seiner Hütte. Es war zu der Zeit, wo er noch als Wilddieb
gefürchtet war. An das Bezirksgericht war eine Anzeige ergangen, dass
er wieder mit einem Gewehr gesehen sei, darum kamen die Gendarmen,
um ihm dasselbe abzunehmen und ihn dem Stuhlrichteramte einzuliefern.
Seine Frau war mit den Kindern allein zu Hause; die sagte, dass er in
Tauchen bei dem Müllermeister Hutter sei. Die Gendarmen fanden ihn
dort und forderten ihn auf, mitzugehen. Die ganze Stube war voll von
Leuten, die, jeder mit irgendeiner Arbeit beschäftigt, andächtig zuhörten,
wie er erzählte. Er hatte gerade eine Geschichte angefangen, als die
Gendarmen eintraten. Den Zuhörern kam dieser Zwischenfall recht un-
gelegen, und einer ersuchte die Gendarmen, sie möchten den Ofenbeck
wenigstens die Geschichte zu Ende bringen zu lassen. Den Gendarmen
schien es in der warmen Stube zu behagen, sie setzten sich, und der
Postenführer forderte Ofenbeck auf, fortzufahren. Dem Ofenbeck
imponierten die Gendarmen nicht besonders, und vor dem 'Einkasteln'
auf ein paar Tage fürchtete er sich auch nicht, und so erzählte er weiter,
als wenn nichts geschehen wäre. Er wusste es so spannend zu machen,
dass Stunde auf Stunde verrann, ohne dass es jemand wahrnahm. Es war
schon weit über Mitternacht, als er endete. Die Geschichte hatte auch
die Gendarmen so ergriffen, dass sie ihn auf sein Versprechen, nie mehr
ein Gewehr anzurühren, ungeschoren liessen.
Von diesem Erzähler stammen die nachfolgenden Märchen lier. Ich
hatte ihn öfter aufgefordert, zu mir zu kommen und einige Geschichten
zu erzählen; doch nie erschien er. Endlich traf ich ihn im Walde und
liess ihn nicht eher los, als bis er mir eine Geschichte zu hören gab und
mir für die folgenden Vormittage weitere versprach. So erzählte mir
Ofenbeck im Walde, wo wir ganz ungestört waren, in acht Tagen acht
Geschichten und im folgenden Sommer weitere achtzehn. Ein Baumstrunk
war der Tisch, auf dem ich ihm nachschrieb1). Leider verhinderte das
eine Mal die Erkrankung seiner Erau, die dieser derbe Naturmensch innig
liebte, das andere Mal meine plötzliche Abreise die Fortsetzung dieser
Märchen vortrage; ich hoffe aber, später dies nachzuholen, da Ofenbeck
noch vieles zu erzählen weiss.
1) Statt der streng phonetischen Schreibung der Mundart (nach Biro) habe ich um
der besseren Verständlichkeit willen die sogenannte Kompromissschreibung gewählt, wie
sie auch Bünker (oben 7, 307. 8, 82) anwandte.
22
Graf
1. Wia' ta' Sauholtasuñ in Khinni sein Suñ tarlest hout1).
'S is- amul2) aKhëinigin g'wëin3), tëi4) hout kuani Kinda' khot5). Ta'Khinni
und sein Frau sein tëistwëign6) recht trauri g'wëin. Ta' Khinni hout im Poak7)
a Kiara' pâam lous'n8) und olii Fria'9) is a mit seina Frau tuathiñ pet'n g'áañga.
Uaml in ta Fria' is sëi an- olts Wei' begëing't. Mit zwou Krucka' iss'tahea'
g'âanga'. Ta' Khëiiiigin houts tapoamt10) und hout ia an Tola' g'schëinkt. Tas
olti Wei' hout si' fleissi' bedâankt und hout g'sokk: „Frau Këiriigin, i' kint iana'
hölf'm, owa'12) vasprëicha mëissn's ma' wos!"—„Woss' winsch'n, ois kriang'-s"13),
wann i' a' Kind af t' Wölt bring," sokk14) ti Këinigin. „Guit," sokk' tas olti
Wei', „sëi wen15) mit meina' Tâchta, ta Sauboltarin, a Kind kriañgn za tasölm
Zeit. Sëi mëiss'n oft16) meina' Tâchta' 1-ia'Kind ois ia' oang's17) âaiinëimma', und
niampp teafs18) wissn, tas's nit iana oang's is." — „Jo, tos va'sprich' i'," sokk' ti
Këinigin.
Richti', in neiñ Mâanat'n hout ti Khëinigin an Prinz'n af t' Wölt prout19),
und an To' trauf hout ti Sauholtas Tâchta a'20) an Puim'21) kriak'. Und ti Sau-
holta's Tâchta' hout ian' Puim ta Këinigin prout, und es hout g'hoassn, ti Këinigin
hout Zwülling'.
Ti Puim ho'm si' recht ge'n g'hot22) und sein fleissi' g'wëin und ho'm olii
Schul'n mitg'mocht. Wias'23) 19 Jua oit sein g'wëin, is amul a Mola'24) ins
G'schlouss25) 'khëimma'. 's is' a recht an-olta' Mâafi g'wëin und ta' Khinni hout
g'sok': „Mol' 'in Prinz'n iari Zimma' aus, owa' schëiii muisst-as mocha', sist26)
wiast um an Koupf kiaza'27)!" Ta' Mola' hout a vais Mounat g'oawit28), und
niampp hout in tea Zeit in ti Zimma' teaf'm. In Prinz'n sein Schloufzimma' hout
a' iwa' 'n Pëit29) a wunda'schëini Prinzessin g'mol'n, g'rod ois wia wann's' g' lëipp'
het'30). In Khinni und in Prinzn ho'm ti Zimma' recht g'foln, olii Zimma' ho'ms
áañg'schaut, g'rod af'n Prinzn sein Schloufzimma' homs va'gëiss'n.
Af t' Noot, wia ta' Prinz in sein Schloufzimma' geht und ti Tia'31) aufmocht,
wara' bold umg'foln voa Schroukka', wal's is'-'n via'khëimma32), ois wann a
schëins Fraunzimma' iam entgëingn gëifi tat33). Si houtn âang'locht und hout'n
t' Hâand entgëigfi g'holtn. Ea yulla1 Freid'34) hout am ia Hâand g'riiî'n und bout
ia wöüln a Pussl35) gëim. Tou hout a' eascht g'sea36), tass s'na-r-a Pültl3T) is.
Ea hout si nidag'lëikk, hout owa' nit schlouf'm kinna'. Und sou is-'s-'n olii Noot
gâanga', imma' hout a' na' af tas Püld g'schaut, und pan Too38) hout a' mit niamp
g'rëid't und is imma' trauri' g'wëin. Nou' an hol'm Jua39) hout seiñ Yoda' g'sok':
„Meiñ Kind, tos geht nit sou fuat, tu kränkst ti' z' Tât." „Jo, Voda', i' kann's
nit mea' lâang ausholtn: wann tëi Prinzessin nit mein Frau wiad, stiaw'40) i' va'
lauta' kränlca'. Wann si nit lëip, wtill i' a' nit lëim."
1) Wie der Sauhalterssolin den Königssohn erlöst hat. — [Das Märchen
entspricht im ganzen dem Grimmschen nr. GO 'Die zwei Brüder', hat aber in der An-
nahme des Pflegehruders, der durch das Bild der Prinzessin erweckten Liebe und der
Entzauberung der unsichtbaren Prinzessin manches Eigentümliche.] — 2 einmal als Zahl-
wort aber: uaml) •— 3) gewesen — 4) die — 5) keine Kinder gehabt — 6) deswegen —
7) Park — 8) eine Kirche bauen lassen — 9) alle Morgen — 10) erbarmt — 11") Taler —
12) aber — 13) Was Sie wünschen, das kriegen Sie — 14) sagt — 15) Sie werden —
IG) dann — 17) als Ihr eignes — 18) niemand darfs — 19) gebracht — 20) auch —
21) Buben — 22) haben sich recht gern gehabt — 23) Wie sie — 24) Maler — 25) Schloss
26) sonst — 27) kürzer — 28) einen vollen Monat gearbeitet — 29) überm Bett — 30) ge-
lebt hätte — 31) Tür — 32) weils ihm vorgekommen ist — 33) entgegen gehen täte —
34) voll Freude — 35) Kuss — 36) erst gesehen — 37) Bild — 38) bei Tage — 39 halben
Jahr — 40) sterbe.
Hianzische Märchen.
*23
Ta Khinni hont am an1) olt'n Mola' g'schickt. In zwoa Mâanat ho'm an t'
Soldâtn g'fund'n. „Lëip' tei Prinzessin, tëis in Prinzn sein Schloufzimma' g'moln
ho'm, oda' nit?" froug'2) ta Khinni. „Jo, lëim tuits schaañ, und a' a' Schwëista'
houts, owa' va'wunschn seiñs'. Rëin3) kinna's', owa' g'sea4) tuit ma's' nit. Tëis
va'wunschani Lâand is weit iwa' 'n Mea5) af an Pea6). Vülli horns scha tarlësn7)
wöül'n, owa' niamp houts kinna'; olii seiñ zar-an Stuaii g'woatn8)." Wia ta' Prinz
tëis g'heat hout, hout a' si' nit mea oholt'n louss'n9): „Voda', i' muiss fuat und
muiss tëi Prinzessin tarlësn, wal f âani sei10) nit lëim kaañ!" Wos hout a'
wöüln ta' Khinni, ea houtn fuatlouss'n. Ta' Prinz hout si' af seiñ bëistz Rous11)
g'sëitzt und is fuatgrid'n.
In ta' tritt'n Woucha12) is a' in a grassi Sâandwistn khëimma. Ton hout a'
ollahaand Geista' g'sea, und grassi Schlangan hom si' im Sàand umananda g'wolzn.
Ho'm-an owa' nix tâafi. In ta' viatn Woucha is a zan Mea khëimma. Rein is' s
Wossa' g'wëin, wiana' Prindl13). Pan Mea is' a'-r- oída Néiñl14) g'wëin, tea
houtn g'froukk, wou-r-a' hiñ wül, „Ti Prinzessin, tëi tou15) va'vvinscht seiñ sul,
will i' tarlësn; kinnas' ma nit hölfm?" — „'S is' schod' um tëifi jung's Lëim,"
sok ta'r Oidi, „owa' wannst-ta's grod prowian1(>) wülst, behülfli seiñ wiad i ta17).
Wos tou ksiast, tëis Mea und tëi grassi Wistn, tos is1 ti fruchboarsti Gëingd18),
is owa' ois va'wunschn. Tou houst a Kug'l, wannst tea nou gehst, wiast in-'s
va'wunschni Gschlous khëimma." Ta' Prinz hout si' pedankt und is' ta' Kugl
nougaañga'.
In zwou Stundn is' a' pan Gschlous g'wëin. 'S Toa19) is' ouffm g'wëin, und
ea is' iagaañga. Kuañ20) Mëinsch is'-'n pegëingt. 'S Rouss hout a-r-in Stoll
p'loat21), und ea is' tua ti Zimina' gâariga. In tritt'n Zimma 'is' a' Tisch g'stâand'n,
af tëim is' fia uañ Peasaañ22) auf'dëickt g'wëin. „Guitn Noumpt23), Prinz!" hout
a' Fraunzimma' g'sokk, „gölt tu bist khëimma', mi' za tarlësn?" „Jo", sokk-a',
hout owa' kuan Mëinschn g'sea. „Iss und trink!" hout tëi sölwi Stimm' g'sokk.
Ea hout sis24) nit zwoatnl schoifin25) louss n und hout fëist26) zan Ëissn g'schaut.
Wia-r-a' sou isst, mocht wea ti Tia' auf und wida' zui. Ta' Khinni is' iagaañga,
is owa' nit zan g'sea g'wëin. „Wea is tea jungi Maañ?" hout a g'froukk. „A Prinz
is." — „Ea sull toubleim."
Nou'-'n Ëissn is a schlafari g'woatn und hout si nidag' leikk'. 'S hout-'n
tramp27), ea hat ti Prinzessin pan Hois28) g'naamma', und si hout iam a' Pussl
gëim. — Am âandan Too' hout a tëin Tram ta' Prinzessin iazöiilt, tëi houtn oft29)
drei Pussl gëim.
Am drittn Too' hout ta' oidi Khinni g'sokk: „Heiñt kâanst teiñ Glick
prowian! In Kölla30) is' a' grassi Hock'31). Mit tea gehst in Guadn32). Tuat33)
is a grassi Oacha34), tëi hout a' schwoaz Platz], wia Tolla35) gras. Tuat muist
fëist hiñhaam56), und die Oacha wiad af uan Stroa37) foln, wanns-ta-'s' guit triffst.
Ti Oacha is eiñwendi hui38) und es wiad a Krout39) ausaspriñga. Tëin muist a'
mit 'n easchtn Stroa trëif'm. Wannst 'n nit triffst, sa wiast mitzanm-teiñ Rouss
vastuañnat40). Triffst 'n owa', oft wiad-ta Krout an Bund Schlissl fol'n loussn,
1) um den — 2) fragt — 3) Reden — 4) sehen — 5) Meer — 6) Berg — 7) schon
erlösen — 8) zu Stein geworden — 9) abhalten lassen — 10) ohne sie — 11) sein bestes
Ross — 12) Woche — 13) Quelle — 14) alter Ahne (hier: alter Mann) — 15) da —
16) probieren — 17) dir - 18) Gegend — 19) Tor — 20) Kein — 21) geleitet — 22) eine
i erson — 23) Guten Abend — 24) sichs — 25) befehlen — 26) fest — 27) geträumt
— 28 Hals — 29) darauf — 30) Keller — 31) Hacke — 32) Garten — 33) Dort —
"4 Eiche — 35Ì Taler — 86) hinbauen — 37) Streich — 38) hohl — 39) Kröte — 40) ver-
steinert.
24
Graf :
tëi muisst nëimma und in Krout va'brëinna', oft wiad ois sichboa'1) wên. Pfiat ti'
Gout2)!" Ta' Prinz hout taañ, wia ta' oidi Khinni g'sokk hout. Wia ra in Guadn
gàanga is', hout a' glei' ti grassi Oacha g'sea. Ea pockt ti Hock' und haut hiñ
afs schwoazi Platzl. Owa' ea is' z' schwoch g'wëin. T' Hock is' fai3) gaañga,
und ea is' Stanta Peta4) mitzâammt sein Rouss za-r-an Stuañ g'woatn.
Tahuam5) ho'ni seini Oiiltan6) und sein Pruida' imma' g'woat af iain. Owa
's is a Jua vagaantra, und ta' Prinz is' naañ7) imma' nit khëimma'. Hiaz hout ta"
aañdari Pruida', ta' Sauholtassuñ g'sokk: „Yoda', mi loapts8) mea nit tahuam, i
muiss schâam9), wou meiñ Pruida' is, ëippa10) kaañ i' iam hölfm!" Sëi hom-an
nit wöülln fuatlouss'n; owa' ea hout's nit âandas taañ, hout si af a' Rouss g'sëitzt
und is fuat.
'S is' 'n g'rod sou g'aañga', wia sein Pruidan. Ea is' a' zan Mea khëimma'
und za tëin oldn Nëiiil. Tea hout si recht g'freit, wiaran11) g'sea hout. „Griass
ti Gout," hout a g'sokk, „walst na-r12)-amul tou bist! Du wiast di Buag tarles'n,
wannst ois sou tuist, wias ta' g'sokk wiad; und oft wiast du ta' Khinni, wannst a'
a' Sauholtassuñ bist. Deiñ Pruida, ta Prinz, kriakk die öiiltari Prinzessin, und tu
ti jingere!" —• „Wos, i biñ a Prinz und kuañ Sauholtassuñ!" — «Tos woas i
pëissa13). Owa' hiaz geh' na14). Tou houst a Kug'l, und tea geh' nou!"
Ta Sauholtas Suñ is a ins Gschlouss khëimma', und 's isn grod sou gaañga
wia sein Pruidan. Am trittn To hout a' r-a' die Hock' kriakk, und wia ra pan
Oachapâam is, hout a sit' Jawln aufg'strickt15) und hout si tas schwoazi Platzl
guit aañg'schaut. Afn easchtn Stroa is d' Oacha g'iëign und ta Krout is ansag'spruñga.
Tëin hout a'-r-uañs afn Puchl16) g'ëim, tas a' glei varëickt17) is, und in Bund
Schlissl hout a'-r-a' foll'n louss'n. T' Schlissl hout a' schnöül eifig'stëickt und a
Fuá18) âaiizuntn. Tuat hout a' in Kroutn einig'schmissn. Und wia si' ta Ra
va'zougñ19) hout g'hot, is a'-r-in an schëin Poak20) g'stâandn nëim21) an Gschlouss.
Tëis is viill schëinna g'wëin ois fria. Und vüll Leit seiñ tuat umanâanda gaañga".
Ta' Khinni is' a' duat g'wëin und ti Khinnigin und zwou wundaschëini Prinzessinen
und vülla Mülitäa22). Und ta' Khinni hout g'sokk: „Tu houst ins olii23) tarlest.
und tafia kriast meiñ jingsti Tachta, und tu wiast nou meina'24) Khinni. Und
deiñ Pruida kriakk meiñ öiiltari Tachta." Und olii ho'm si25) fleissi pedâankt pan
Sauholtassuñ, tas-as tarlest hout. Sëi ho'm glei' d' Hâzat26) g'hot. Tarnou27) is'
da' Prinz mit seina Frau za seini Öültan, da' Sauholtassuñ owa' is tuat 'plim28)
und is' Khinni g'woatn29).
2. 'S Lëimswossa'30).
'S is' amul a' Khinni g'wëi'n31), a recht a' brava' Mëinsch. Seiñ Frau owa32)
is' a' Hex g'wëi'n. Tëi33) hout pan Too' nia34) a' Fëinsta' owa' a' Tia'35) auf-
1) alles sichtbar — 2) Behiit dich Gott — 3) fehl — 4) auf der Stelle (stante pede
— 5) Daheim — 6) Eltern — 7) noch — 8) leidet es'— 9) schauen — 10) vielleicht —
11) wie er ihn — 12) weil du nur — 13) besser — 14) nur — 15) sich die Ärmel auf-
gestreift — 16) Buckel — 17) verreckt — 18) Feuer — 19) Rauch verzogen — 20) Park
— 21) neben — 22) Militär — 23) uns alle — 24) nach mir —25) haben sich — 26) Hoch-
zeit — 27) Darnach — 28) geblieben — 29) geworden — 30^ Das Lebenswasser. —
['Das Wasser des Lebens' bei Grimm nr. 97 und Bünker, Schwanke in heanzischer
Mundart 1906 nr. 90 ist hier durch verschiedene Züge vermehrt: deu Vogel Phönix (Grimm 57
'Der goldene Vogel'), die nachts einen Menschen in ein Pferd verwandelnde und besteigende
Hexe (R. Köhler 1, 220. 586), den vom geschickten Hufschmiede abgeschlagenen und
wieder angesetzten Fuß des Pferdes (R. Köhler 1, 132. 296), die mit Hilfe dankbarer Ameisen
und einer Zaubersalbe gelösten Aufgaben des Schwiegervaters.] — 3D Es ist einmal ein
König gewesen — 32) aber — 33) Die — 34) bei Tag nie — 35) Tür.
Hianzische Märchen.
'25
g'mocht. Eascht am ochti1) af t' Noot is' s' aussigaañga'. Am holwa-r-alfi2)
is' s' ins Wochzimma3) und hout si' va' t' Soltot'n uan4) ausg'suit5) zar-an
Reitpfeat. Hout' 'n an Zam6) um-an Koupf g'woaf'm und tou is'-a' glei' zar-an
Rouss g'woat'n. Af tëin hout sa si'7) aufg'sëitzt und is' fuatg'ridn za ti âandan
Hex'n. Und wia s' ia Zauwarei g'mocht hout g'ho't, is'-s' wida' z'ruckg'ridn und
hout in Rouss in Zam oa8) g'nâamma', und tou is'-'s wida zar-an Soltotn g'woatn.
Tea hout in sein' Pëit9) weidag'schlouf'm. Tawal10) s' fuat is' g'wëin, hout-s' in
ia Pëit an âanda's Praunzimma' iazauwat, tos is' an Pauan seiñ Wei11) g'wëin.
Tëis hout g'rod sou ausg'schaut, wia si sölma12). Tëistwëigfi is' ta' Khinni nia
wos inni g'woat'n13).
Amul is' ta' Khinni krâank g'woat'n. Kuañ Toukta14) hout 'n hölf'm kinna',
und is' irama' schlechta' g'woat'n. Tou hout-'s-'n amul tramp15), tas a' g'sund
kinnt wen16), wan a'-r-a' Lëimswossa' hät und va' tëin tringa'17) kinnt. Tos hout-
's-'n owa nit tramp, wou tos Lëimswossa' z'ho'm18) is. Trei Siñ19) hout ta' Khinni
g'ho't, tëin hout a'-r-in Tram tarzöült20). Uana' is' zwuanzk, ta zweiti ochza' und
ta jingari sechza' Jua21) oit g'wëin. „Voda', mia pringa ta' 's Lëimswossa', und
wann 's insa' Lëim koust"22), ho'm-s olii trei g'sokk', „tëis tahinseam23) kim'ma
nit lëifiga iianschaam."
Za-r-eascht is' ta' öültari fuat. In sëixtn Too is' a'-r-in a' Wüldnis g'këimma.
A' Woucha laang hout a' kuan Mëinsch'n und kuañ Haus g'sea. Af-aramul24)
kimp a' za-r-an grâssn Pluss. Tou is' a' schöini Pruck' triwa25) g'gaanga. Tëi
hout via grassi Pfala'26) g'ho't. Pan iñalan2') Pfala' is a-n-olda Maañ g'sëissn
mit zwou Kroucka'28). Wia tea in Prinz'n taheareid'n hout g'sea', hout an in
Huit hiñg'holdn, tas-an wos güi'm suit. Ta Prinz owa' hout'n gua' nit aañ-
g'loust29) und is' weida' g'rid'n. Nit laang trauf kimp a' zar-an Wiatshaus. Tou
hout t' Musi' g'swült30) und vül Lei!' seiñ tuat g'wëin. Tëi ho m feist aufg'haut,
taanzt ho'm s' und Khoatn g'swült. „Sakra," töinkt si ta' Prinz, „tou seiñ schëini
Mëinscha'81), und Khoatn g'swült wiad a'; tou pleiw' i' iwa Noot." Ea hout seiñ
Rouss in Hausknecht g'ëim und hout fëist g mulat3") und seiñ gâanz' Göld'
vataañ, und Schuld'n hout a' r-a' naañ3,i) g'mocht. In ta' Pria sok' ta Wiat:
„Sei seiñ ma' trei-hundat Tukodn schuldi'. Und sou lâang sëi tëis Göld nit zol'n,
lous r lana nit fuat. Und wâan s' as in a' Jua nit otiañt34) ho'm, we'n s'am-an
Koupf kia'za"35). Wos hout a' wöüln, tuat hout a' plei'm mëiss'n und va' ta Pria
pis af t' Noot fëist oawit'n36).
Tahuam37) hout seiñ Voda' tawal af's Lëimswossa' g'woat. Drei Mâanat seiñ
vagaañga, und ta' Prinz is' holt nit g'këimma', und ta' oidi Khinni is' imma'
schwëicha'38) g'woatn. Hiaz is ta' zweiti Suñ fuat. Tëin is' s' owa' grod sou
gaanga, wia seiñ 'n Pruidan. Ea is' a' in tëis Wiatshaus g'këimma' und hout si'
a' vasouf'm39).
Wida' seiñ trei Mâanat vagaañga, und ta' oidi Khinni hout umasist40) af seini
Siñ g'woat. Tou hout ta' Jingsti' g'sok': „Yoda, meini Priada' këimma' nit, i'
1 Erst um acht Uhr — 2) Um halb elf Uhr — 3) Wachtzimmer — 4) von den Sol-
daten einen — 5) ausgesucht — 6) Zaum — 7) Auf den hat sie sich — 8) ab — 9) Bett —
10 derweil — 11) eines Bauern Weib — 12) selber — 13) inne geworden — 14) Kein
Doktor — 15) geträumt — 16) könnte werden — 17) trinken — 18) zu haben — 19) Drei
Söhne — 20) den Traum erzählt — 21) Jahre — 22) kostet — 23) dies Dahinsiechen [?] —
24 auf einmal — 25) drüber — 26) vier große Pfeiler — 27) drüben befindlichen —
28 Krücken — 29) gar nicht angehört — 30) gespielt — 31) Mädchen — 32) unterhalten —
33 noch — 34 abgedient — 35) kürzer — 36) arbeiten — 37) daheim — 38) schwächer
— 39 betrunken — 40) umsonst.
26
Graf:
wiad schâam1), wou' s' seiñ, "and 's Lëimswossa pring i' ta-r-a'! "2). Ta' Khinni
hout 'n wul o'hold'n wöül'n, owa' ta' Prinz hout nit ausg'sëitzt3), pis a' fuatteaf'm
hout. Ea is za tasölm4) Pruck' g'këimma', wia seini Priada'. Ta-r-oldi Maañ is'
a' tuat g'sëissn. Ta' Prinz hout'n an guit'n Moañg'n gëi'm5) und hout 'n trei
Tukot'n g'schëmkt. Ta' Oidi hout si pedâankt und hout g'sok: „I ksia's schaañ6),
tu pist nit sou stulz, wia teini Priada'; 's sul ta' nit loadi7) seiñ, tas t'ma' wos
g'schëinkt houst! " — „Woast eippa8), wou meini Priada' seiñ und wou "s Lëims-
wossa' z'-ho'm is'?" frouk' ta Prinz. „Jo," sok' ta-r oidi Maañ, „frali9) woas is
's. Fíimpf Stund'n va tou is a Wiatshaus, tuat ho'm si' teini Priada' vasouf'm
und vahuat10) und ho'm mëiss'n tuat bleib'm. In a Mâanat wen s' aufg'hëinkt,
wal s' iari Schuld'n nit o'oawitn kinna'. Tëi'm Wiatshaus weich' aus und louss
ti nit ialoacha'11). Es wiad ta' ois klik'n12), wann-st' sou tuist, wia ta' ta' Pux,
tëin's-t pegëingnan wiast, und meiñ Pruida, ta Uañsidla13), sog'n wiad. I' gi' ta:
tëin Rout14): Peleidi niamp15) und kaf' ta jo kuañ Golg'nfleisch nit!"
Richti, ea is kamp16) a viatl Stund lâang gäanga', steht a Pux af ta' Strouss'.
„Guit'n Moañg'n, Pux'" sok' ta Prinz und rukt in Huit. „Guit'n Moañgn, Prinz.
P pi g'keimraa', wal i' tia hölf'rn muiss, sou ouf-st17) mi' prau'st. Sul ta' wos
posian18), oft19) riaff mi!" — „P tâank ta' scheiñ, Pux" sok ta Prinz und is' in
Fux'n ausg'wicha', tas ta' F'ux af' 'n scheiñ'n Wëi' hout kinna' weidagëifl. Pold
trauf kimp a' za-r-an Äamishauf'm und ti Âamisn seiñ grod af ta' Wâandaschoft
g'wëin. Si seiñ iwa' t Strouss zougñ. Ta Prinz is' van Rouss o'g'schtigñ20) und
hout g'woat, pis olii triwa seiñ g'wëin. T'iëitzti Âamisn is' ta' Àamisnkhinni
g'wëin. Tea is' stéiñ pli'm21) und hout g'sok: „Wal tu meiñ Vulk vasehaut22)
houst, winsch i' ta' Glick. Wanst ins praucha' sulst, riaff ins; mia seiñ ta' za
jeda' Stund pehülfli!" Ta' Prinz hout si' petâankt und is' weida' grid'n und is'
za tëin Wiatshaus g'këimma, wou seini Priada' seiñ g'wëin. Is' owa' vari-
wagrid'n23).
Wia 's finsta' is' g'woat'n, is' a'-r-in an grâss'n Wold g'këimma'. Sou finsta
is's tuat g'wëin, tas ma-r-uan ins Maul greif'm hat kinna. Tëistwëmgn24) is a'
recht fra25) g'wëin, tas a'-r-a' Liacht hout g'sea. Ea is' tëim Liacht entgëifign
gäanga und is' zar an kluan Heis'l26) g'këimma. Pan Fëinsta hout a' aañg'kloupft
und hout am a' Nochthiawl27) âang'holt'n. „Wea is' taust28)?" hout wea g'frouk.
„1' piñ ta Prinz van Ausland und mecht um Nochquotia pit'n", sok' ta Prinz.
Hiaz is' ti Tia au fg'ri eh It29) g'woatn, und an oída' Maañ mit an schneeweissn
Puat30) hout 'n ia-loussn. „Wia kimmst tou hea und wos wülst tou?" hout a'
g'sok'. „I wiil 's Lëimswossa' fia' mein krâankn Yodan priñga" sok-a'. „Tu pist
a' prav's Kind, meiñ Pruida hout ma' scha' ois sogñ loussn tua ti' Fëichln31). Hiaz
lëi' Ti' na' nida' und schlouf' guit!" Ho'm si' olii zwëifi nidag'leik'.
In ta' Pria sok ta-r-Oldi: „Tou houst a' Plaschal mit an Polsâam, tea halt32)
olii Wund'n, pan Mëinschn und pan Yiah. Tëin wiast nou' praua'33). Wannst'
hiaz tou fuatgehst, wiast af amul za trei Stroussn këimma'. Af wöüla oist34)
weidagëifi muisst, teaf i' ta' nit sogñ. Olli trei Stroussn fian35) zar an sehëin
1) schauen — 2) dir auch — 3) abgelassen — 4) derselben — 5) guten Morgen ge-
geben — 6) Ich sehe schon — 7) leid — 8) Weißt du vielleicht — 9) freilich — 10) ver-
hurt. — 11) hineinlocken — 12) alles glücken — 18) Einsiedler — 14) Rat — 15) Be-
leidige niemanden — 16) kaum — 17) so oft du — 18) passieren — 19) dann — 20) ab-
gestiegen — 21) stehen geblieben — 22) verschont — 23) vorübergeritten — 24) des-
wegen — 25) froh — 26) Häuschen — 27) Nachtherberge — 28) draussen — 29) auf-
geriegelt — 30) Bart — 31) durch die Vögel — 32) heilt — 33) brauchen — 34) Auf
welcher als du — 35) führen.
Hianzische Märchen.
27
Gschlouss1). Im Houf va' tëin Gschlouss is' a' Prüm', in tëin is 's Lëimswossa'.
Links und rechts van Prüm' hëifiga' zweiñ Lewm2), tei loussn kuan Mëinschn
zui, pis hiaz ho'm s' naañ olii z'rissn, tëi a' Wossa' ho'm wöülln. 'S is owa' tou'
zan zuikëimma'. Zwisch'n ti' zwoa Vicha is a guldana Straf'3). Af tëin muiss
ma' va ta Seit'n zan Prüm' zui. T' Hëind muiss ma' fëist an t' Fiass4) aañtrucka',
wia-r-a' Soltot; wann a' Haptacht5) steht und kuan Finga' proat6) teaf ma' nit af
t' Seit'n van Straf'. T' Lewm wen z'sammruln7), owa' si kinna' grod' na' pis zan
Straf', weida' nit. Und hiaz geh' und miak8) ta', wos i ta' g'sok háañ!" Ta'
Prinz hout si petâankt und is' fuat.
Za Mitto' is' a' scháañ pa' ti trei Strouss'n g'wëin. Uani is mit Sei'n9), ti
aañdari mit Sâamat und ti tritìi is mit Fetzn10) iwazougñ g'wëin. „I' tëink11), i'
wiad iwa ti Fetzn reid'n", sok' ta Prinz, „tou moch' i' am wëinigstn Scho'n12)!"
Und ea is' za' ta' Puak g'këimma', Im Houf is' ta' Prüm' g'wëin mit ti zwëifi
grâssmachtig'n Lewm. Um a 't um13) is' a guldanas G'lañda'14) g'wëin. Ea is'
zan Prüm' hiñ und hout si" a Flosch'n mit n Lëimswossa' aañg'füllt. T' Lewm
seiñ wühl hiñ af iam, owa' si ho'm an nit targ lëmga 15) kinna, wal a' imma' af
'n guldan Stri'16) is' 'plim.
Oft hout a' t' Floschn in sein eiñwendig'n Sëikl17) g'stëikt und is' in's G'schlouss
ia18). Iwarol ho'm t' Liachta' prunna'19), owa' kuan Mëinschn hout ma' nit g'sea.
Ea hout si wöülln fias Lëimswossa petaanka. Im trittn Zimma' is a guidas Pëitt
g'stâandn. und tuat is a' wundaschëini Prinzessin treiñ20) g'iëigfi und hout
g'schloufm. Ouwa'-'n Pëitt is' a Fëichlstei'21) g'wëin, tuat is' a guldanas Fëichl
treiñ g'wëin, tëis hout g'suñga: „Tu houst-a-'s Lëimswossa' mitg'nâamma', tu
wiast a' mi' mitnëimma' und meiñ Prinzessin a !" Ta' Prinz hout nix g sok',
hout si' owa nit tarholtn kinna, wia-r-a' ti Prinzessin sou im Peitt ligñ hout g'sea.
„I' kaañ ta's nit schëinka', und wann 's meiñ Lëim gült'". Und ea is' za' sei22)
in 's Pëitt. . . . Pevoa-r-a fuat is, schreib a' af an Zëil: ,,Ta' jingsti Prinz van
Ausland, tea-'s Lëimswossa' fia sein Yodan g huit hout, is' 's g'wëin. Vazeih'
ma-'s, wos i' taañ ha'añ!"
Und ea is' wida af tansölm Wëi' z ruck, in Fouchl Fénix hout a' mitg'nâamma'.
Tan olt'n Uañsidla' hout a' mea nit g'fund'n 's is nix mea g'wëin af tëin Ploz.
Zan Wiatshaus owa', wou seini Priada' g'wëin seiñ, is a' g'këimma'. Sëi ho'm
grod' fëist auftrogñ und ti Gëist' petiant-'). Ea hout in Wiat24) riaf'm loussn
und hout'n g'frouk, va wou-r-a tëi zweiñ Köllna'25) hout? „Tëis seiñ zwëifi
Prinzn, tëi ho'm tou Schuld'n g'mocht, und hiaz mëissn-s-as tou o-oawitn. Ta
öültari wiad in sechs Togñ aufg'hëinkt! " — „Wos seiñ-s iana schuldi'?" „Seix-
hundat Tukodn! Pis hiaz ho'm s'a si' nix vatiant, ois 's Frëiss'n26;! « Ea hout
si' seini Priada' riaf'm louss'n. Si ho'm an nit tarkëint27). „1' piñ ëinka28) jingsta'
Pruida'", hout a' g'sok, „va-r ëink aus kinnt insa' Yoda' scha' woat'n af's Lëims-
wossa', wann s ëink tou vasaufts, hiaz haàn i mëissn íuat. S'is a ëinka Glick.
Tou hop's a' jeda' trei-hundat Tukotn und lests ëink aus!" Sëi ho'm si' recht
petâankt und ho'm iari Schuld'n zolt und seiñ fuat olii trei.
Pa' ta' Pruck is' wida' ta-r-oldi Pëitla'29) g'sëissn. Ta' jingsti hout 'n wida' an
Tukot'n gëim. tânnk ta' schëifi, juñga Prinz", sok ta-r-Oldi, „owa" wëigfi
^ o vi o m,. Tñwen — 3) Streifen — 4) Beine — 5) Habt acht —
1) Schloß — 2) hangen zwei Löwen ,
6) breit - 7) aufeinander losstürzen - 8) merk - 9) Se.de - 10) l umpen - 11) denke
- 12) Schaden - 13) ringsherum - W Gf"ä°r ~.16) ,7 a ' ™
17) inneren Saek - 18) hinein - 19) gebrannt - 20) drin - 21) Vogelkäfig - 22 zu
ihr - 23) die Gäste bedient - 24) Wirt - 25) Kellner - 26) Essen - 27) erkannt -
28) euer — 29) Bettler.
•28
Graf:
wos1) houst ma' nit g'fulk2)? I' hâan tas g'sok, tu sulst kuañ Golgnfleisch kafm."
Hout's owa' kuana' vastâandn, wos ta Oidi g'muañt3) hout und seiñ weidagrid'n, ta
jingari voarâàn, ti zwëifi öültan hintn nouchi.
Pan a' Wal4) sok ta' Oiiltasti: „Tu, mia mëissn ins jo schâama', wann insa
jingsta' Pruida 's Lëimswossa' huampringt und ois tarzöült! " — „Jo, wuar5) is' 's,"
sok ta zweiti, „i' tëink a' grod nou iwa' tëis." — „Woast wos", sok' ta'-r-öültari,
„tou kimp hiaz a tulfa Gro'm6); tou weaf' ma' 'n oi, tas a' si' tarstest7)". Und
wia-s' zan Gro'm g'këimma' seiñ, ho'm s'-'n-'s Lëimswossa' wëikg'nâamma' und
ho'm-an in tëiû tulf'm Gro'm oig'stessn. Int'n8) is' a' grass' G'mous9) g'wëin;
tuat wiad a' tarsaufm10), ho'm sa si' tëinkt, wal s' n fria t' Hëifit und t1 Fiass
zampuntn11) ho'm, tas a' si nit ria'n12) kinna' hout.
Ba is' owa' pan an Tân13) hëinga' pli'm und mit an waxn Stuañ14) hout a
si' in Strick zarschnid'n, sou tas a' si' tarhold'n15) hout kinna' und is nit iag'foln
in 's G'mous. Jo, wos hülft tëis owa'? Ausa' hout a' nit kinna' und sou hat a'
tarhuman16) mëissn. Hiaz hout a'-'s g'wisst, wos ta-r Oidi g'muañt hout, wia-r-a
g'sok hout, tas a' kuañ Golgñfleisch nit kaf'm sull. WiaV-a-sou g'simuliat17)
hout, is' 'n ta' Pux eiñg'folln. „Fux!" hout a' treim'l g'schrian, und tou is' ta'
Fax scha' voa-r-iama' g'stâant'n. „Kâanst ma' hölf'm Fuchs?" — „Jo, Prinz, owa'
a' Stund muiss ti' gediild'n. Nit weit va' tou is' a' Pauanhaus, va tuat pring' i' a
Sal18) und mit tein zui i' ti aussa'!" Und richti' ta Fuchs hout 's z'wëigû prout'
und hout in Prinzn aussazaht19). Owa' auf und auf vull Wundn und gâanz zar-
schlogñ is' a' g'wëin, tas a' nit gëifi und nit stëifi20) hout kinna. Ea hout owa'
na' tëis Flaschal g'ho't, tëis iam tar Oidi g'ëim hout, und hout si' mit tea Oaznei21)
eiñg'schmiat, und tou seiñ glei' olii Wundn g'hâlt g'wëin. Und ta' Fux hout
g'sok: „Geh' hiaz huam und tui tein Yodan tarlesn! Teini Priada owa' und tëifi
Muita' suln ia Strouf' kriagñ. Teiñ Muita' is' a' Hex, si hout a tein Vodan va-
zauwat, tëistwëigfi hiilft's Lëimswossa' a' nit viil, tawals lëip22). Tou giw' i' ta'
a' Schneiztiachl23), mit tëin wisch' ta iwa 's G'sieht, oft wiast gâanz âandast aus-
schaun. Geh' in 's G'schlouss und louss ti' za ti Soltot'n aufnëimma'! Pa' ta'
Noo't wiad teiñ Muita 'amul këimma' und wiad ta' in Zam iwa'-'n Koupf weafm wöiiln.
Wann 's ia tarlink24), pist a' Rouss. Tëistwëigfi pass auf und schlouf nit! Wannst
ta in Zara iwa' weafm wiil, muisst 'n mit ta' Hâand tafâanga 25) und muisst ian26)
zruck af 'n Koupf weafm, oft27) wiad si sölma a Rouss. Sëitz ti trauf und reit
gâanzi Noot af t' Földa' uraanâanda! In ta' Fria reit 'in ti' Puak und frou' in
Khinna, wou seiñ Frau is. Und sëi wen' s' suia28) und wen uani29) fintn, tëi is'
s' owa nit. Vaprëifin30) in Zara, oft wiad s' tata31) im Pëitt ligñ, oda wou's32)
grod is!"
Ta' Prinz hout asou'33) táañ. Ea is' Soltot g'woat'n, und niamp hout 'n g'këint
ois wia seiñ Muita'. Tëi hout s' g'spâant34), tas as varout'n wiad, tëistwëigfi hout
s' 'n wöüln umpriñga, z' tat reid'n hout s' 'n wöül'n. Ea hout owa' aufpasst.
Ea hout si' g'stöült35), ois wann a' schlouf'm tat, und hout ia in Zam af 'n Koupf
g'woafm. Gâanzi Noot is' a' umgrid'n af t' Földa'. In ta Fria is' a' in ti Puak
1) weswegen — 2) gefolgt — 3) gemeint — 4) Weile — 5) wahr — 6) ein tiefer
Graben — 7) zerschmettert — 8) Unten — 9) Moor — 10) ersaufen — 11) zusammen-
gebunden — 12) rühren — 13) Dornbusch — 14) scharfen Stein — 15) erhalten —
16) verhungern — 17) simuliert, nachgedacht — 18) Seil — 19) herausgezogen —
20) gehn und stehn — 21) Arznei — 22) solange sie lebt — 23) Da geb' ich dir ein
Taschentuch — 24) gelingt — 25) auffangen — 2G) ihr ihn — 27) dann — 28) suchen —
29" eine — 30) verbrenne — 31) tot — 32) wo sie — 33) so — 34) gewittert, geahnt —
35) sich gestellt.
Hianzische Märchen.
29
g'këimma' und hout ti giìanzi G'schicht in Khinni tarzöült. Tos hout a' owa' nit
g'sok', wea tëis Wëi' is g'wëin. „Na', tos is a schëmi G'schicht, tas sou wos in
meina' Puak viakimp1)!" hout ta' Khinni g'sok' und hout seiñ Frau und seini
Siñ riaf'm loussn. Und si seiñ g'këimma', und niamp hout 's g'wisst, tas tëis nit
ti richtigi Khinnigin is. Und ta' Prinz hout in Zani van Rouss oag'riss'n und
tou is' 's Rouss vaschwundn und a' Frau is tuat g'stâandn, tëi is grod sou g'wëin,
wia ti Khinnigin, grod tas a' Pauang'wâand hout âang'ho't2). Und ta' Khinni hout
g'sok': „Schmeist's tëi Hex ins G'fängnis!" Arn âandan To' hout ta' Prinz in
Zam vaprëint, und tou is' im G fängnis nix g'wëi'n mea, ois a' wëing an Oschn3;.
In Prinz'n hout niamp tarkeiñt. Va' tea Stund aañ is' ta Khinni pumpal-g'sund4)
g'wëin und ti Pei'rin5) is' Khinnigin vaplim, und niamp hout 's g'wisst, tas tos
nit ti richtigi is. Ta' Prinz owa' is weit fuat.
Fiimpf Jua seiñ vagáañga. Tou kimp arnul a' Priaf va' ta' vawunschnan
Puak: „Ta' Prinz, tea 's Lëimswossa prou't hout, sul intar a'6) Maanat këimma,
sist7) wiad i' ma'-'n hul'n, und oft wiad s gâanzi Khëinigreich zasteat8)!" Hiaz
seiñ s' olii takeimma'9), ta oidi Khinni und seini Siñ naañ vtil mea. Owa 's hout
nix g'hulf'm. Ta' öültari hout si aufg'mocht und is' fuat. Ea hout si' in Wëi'
guit g'miakt10) und in trei Woucha' is a pa' ta Puak g'wëi'n. Ti Prinzessin hout
inta ta Zeit an Suñ g'kriak'. Van jingst'n Prinz'n is' a' holt g'wëi'n, und via' Jua11)
is' a' oit g'wëi'n. Ti Prinzessin hout pan Fëinsta aussag'schaut und hout in
Prinz'n taheareid'n g'sea. „Tos is' nit teiñ Voda", hout s' za-r ian Suñ g'sok',
„tëin Gauna' wen ma' huamleicht'n12)! " Und si hout s ian Vodan g'sok', tas tos
nit ta' jingsti Khinnigssuñ is".
Tea hout in Prinz'n pegriasst und hout 'n g'frouk', oup ea 's Lëimswossa'
g'hult hout. „Jo" sok' ta Prinz, „i' pi'-'s13)". — „Und wia is' ta' tenn tëis
g'lunga', pis hiaz hout niamp an Troupf'm ho'm kinna!" sok' ta' Khinni. Ta'
Prinz hout af tëis owa' kuañ Àantwuat gëi m kinna, ea hout hiñ und hea g'stoutat14)
und nix viara prou't15). „Añhañ", sok' ta' Khinni, „tou ho m ma' 's mit an
Schwindla' z' tuañ. Gëip-s'n 25 af 'n Oasch, und oft kaañ-a' géiñ!" Zwëm va'
ta' Tianaschoft ho'm an pokt16), und a tritta hout n ti fümpfa-zwuañzk af 'n
Hintan gëim. G'sea hout a' owa 'niamp, es seiñ lauta' Geista' g'wëi'n. „Hiaz geh',"
hout ta' Khinni g'sok', „und wann ta jingsti nit kimp, wheats olii umprou't17)." Ea
is mit seini 25 huam.
Wida' is' a' Priaf van vawunsch'nan G'schlous g'këimma': „Tea 's Lëims-
wossa' prout hout, sul këimma', sist we'n olii umprout!" Hiaz is' ta'mittlari fuat.
Is' 'n owa' grod sou g'gâanga'. Ea hout si' a' nit ausweis'n kinna' und hout mit
ti fümfazwuñazk o'fo'n mëissn.
Wal owa' ta' richtigi Prinz nit g'këimma' is, is ta Khinni und ti Prinzessin
mit an grâss'n Hea'18) in Khinni van Ausland seiñ Lâand und ho'm ti Puak
eiñg'naamma'. Und t' Hean19) seiñ olii im Sâal panâanda' g'wëin, und ta Fouchl
Fénix hout in gâanz'n Lëimslauf van jingst'n Prinz'n g'sunga', wia-'r-a 's Lëims-
wossa' g'schëipft hout und wia 'n seini Priada' in tulf'm Gro m g'stess'n ho'm. Ti
zwëiii Prinzn ho'm wöül'n in ta K'huam20) van Sâal aussi und ho'm wöiil'n fuat,
t' Soltotn ho'm s' owa' pokt, und ti Prinzessin van vawunsch'nan G'schlouss hout
g'sok': „Schmeisst s' as in töülfist'n Keaka'21), tuat sul'n s plei'm, pis ta jingsti
1) vorkommt — 2) angehabt — 3) ein wenig Asche — 4) ganz gesund — 5) Bäurin
— 6) binnen einem — 7) sonst — 8) zerstört — 9) erschrocken — 10) gemerkt —
11) vier Jahre — 12) heimleuchten — 13) ich bins — 14) gestottert — 15) vorgebracht —
16) gepackt — 17 ) umgebracht — 18) Heer — 19) Herren — 20) insgeheim — 21) tiefsten
Kerker.
30
Graf: Hianzische Märchen.
Prinz nit zan Voascheiñ kimp!" Und sou is' g'schea. Ta jingsti Prinz is' owa'
nit zan fint'n g'wëin und ti Prinzessin is' vöülli g'stoam1) va lauta' Kréiñka'2).
Si hout a schëifi's Rouss g'ho't, mit tëim is' s' olii To ausg'ridn. Tëis Rouss
is' sou g'schickt g'wëi'n, tas 's af an Tala tâanz'n hout kinna'. Uara'l hout 's
owa' pan Ausreid'n a Hulfeis'n3) valâan, und va' tea Zeit âan hout 's nit mea'
tâanz'n kinna'. Hiaz is' ti Prinzessin gua' eacht vazweif'lt g'wëi'n, wal tëis Rouss
niamp hout p'schlog'n kinna'. Ta Penix hout g'sunga': ,,'S Rouss kaañ niamp
p'schlogn, ois tea 's Eis'n g'fundn hout!" 'S seiñ tausnte Schmied g'këimma',
owa' kuana' hout 's p'schlog'n kinna'. Tou af uam'l is a' Sehmiedg'söül4) zan
Houfschmied g'këimma' und hout g'sok, ea wiad 's Rouss p'schlog'n. Ta' Houf-
schmied hout 'n va ta Seitn aañg'schaut und hout in Koupf peitlt5). Ta' Schmid-
g'söül hout in Rouss ti Augn va'pundn, und oft is' a' va' ta' Seit'n zui und hout
in Rouss mit an waxn Mëissa'6) t' Hax'n7), o'g'schnidn. Ta Houfschmid is' vöüli
in t' Áañmacht g'foll'n, wia-r-a tëis g'sea hout. Tawal hout ta' G'söül t' Haxn in
an Schraubstouk eiñg'schraup' und hout's Bisn traufg'schlogn. Oft hout a' t' Haxn
wida' z'sammpasst und t' Wundn mit a' Schmia'8) vaschmiat, und glei' is' s' wida'
aañg'woxn, van Schnitt hout ma' nix g'sea. Und ti Prinzessin hout g'sok': „Pring's
ma tëin Mâàn!"
Ta' G'sôiil is' owa' niamp g'wëi'n ois wia ta' jingsti Prinz. Ea hout seiñ
Prinz'ng'wâand âàng'lëig' und is' za' ta' Prinzessin gâanga'. Tëi hout'n glei' takëint
und hout an laut'n Schroa9) g'mocht. Und ea is' nidag'niat voa sei und hout
g'sok': „Vazeih' ma' s', wos i'ta' taañ hâân!" Si' hout nix g'sok' und is' 'n um
an Hois10) g'foln und hout g'wuañt va lauta' Freid'n, tas hiaz tou amul z'samm-
g'këimma' seiñ. Und ta' oidi Khinni hout si' a' g'freit, tas a' sein Suñ wida hout.
Ti zwéiñ öiiltan Prinz'n seiñ af' 'n Golgn g'këimma.
Ta-r oidi Khinni van ta vawunschnan Puak hout si owa nit sou schnöül11)
z'fried'n gëi'm. „Tu houst meiñ Tâchta' söülmst12) petrougn, und tëistwëig'n kâanst
meiñ Tâchta und 's Khinnireich na oft kriagn, wannst meiñ Lâand tarlest. Zwoa
Stickl houst z'mocha'. Nit weit va' ta' Puak is' a' n-Ocka, tuat hout tar Schaua13)
in gâanzn Woaz ausdrouschn. Grod tausnd Mëiz'n mëiss'n we'n, nit um an Ke'n14)
mea' oda wëifiga'. Tea muiss in zwëifi To' af mein' Pou'n15) seiñ!"
Ta Prinz is' af 'n Ocka aussi, owa' tou hout's trauri' ausg'schaut. Kuañ Ke'n
is mea in ti Ea'16) g'wëi'n, ta gâanzi Woaz is af ta Ead g'wëi'n. Jo, wos is' tou
z'mocha'! Pfiat ti' Gout schëini Prinzessin, tëi Oawit pring' i' nit z'wëign17), dëinkt
si' ta' Prinz. Tou heat a-r-'af amul a' Stimm: „Nit krëink' ti! Meiñ Vulk wiad tëi
Oawit varichtn, walst' ins söülmst iwan Wëi zuign houst loussn und kuañ uañzigi
tartrëitn18) houst. Ea hout si umdrat19), und tou hout a' in Áamissnkhinna stëifi
gsea, und sou weit ois a' schâam hout kinna' is' 's ois schvvoaz g wëin va Àamissn.
Tëi ho'm ti Ke'n taheazaht20) und seiñ direkt zan Gschlouss mit sëi. Und 'kehr
um a Hâand' seiñ ti tausnd Mëiz'nschaffl21) vul g'wëi'n. Grod van lëitztn Mëiz'n
hout a' Massi g'falt22), tëis ho'm t' Âamissn nit z'sammprout. Ta' Prinz und ta'
Áamissnkhinni ho'm si' in Sche'l23) z'proucha', wou tëis Khëifidl24) seiñ kâàn, af
n Ocka' is mea kuañ Keit25) g'wëi'n. Tou is ta' Fux taheag' laf'n und hout
g'sok: „Tëis Massi ho'm t' Fëichl g'frëiss'n; i' wiad sëi im Wold aufpassn und
wiad s' o' fâanga' und wiad sëi in Woaz van Kroupf26) aussanëimma."
i) last gestorben — 2) Trauer — 3) Hufeisen — 4) Schmiedegesell — 5) geschüttelt
— 6) scharfen Messer — 7) den Fuss — 8) Salbe — 9) Schrei — 10) Hals — 11) schnell
— 12) damals — 13) Hagel — 14) Korn — 15) Boden — 16) Ähren — 17) zuwege —
.18) keine einzige zertreten — 19) umgedreht — 20) herbeigebracht — 21) Metzengefässe
— 22) gefehlt — 23) Schädel — 24) Getreide — 25) Körnchen — 26) Kropf.
Andrae: Hausiiischriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
31
Und in àandan To' voamitto' is ta gâanzi Woaz panâanda' g'wëi'n, und ta
Khinni is' mit an Lineal iwa' jed'n Mëitz'n g'fo'n, und kuañ Keit hout g'falt va' ti
taus'nd Mëitzn. „Tëis is' ta g'lunga'", sok ta Khinni, „hiaz houst' naañ a' Stickl
z mocha"! Heiñt Noot rnuisst af meini Rouss aufpass'n. Hundattreiazwuanzk
sein im Stol, kuañ'nuañzign teaf wos passian1)". Ta Prinz is in Stol gaanga' und
hout si' af ti Howankistn2) nidag'sëitzt. Wia s' Mittanocht g'schlogn hout, hout
si' wos g'richlt3) hinta' ta' Kist'n. Ea hout na' an Aug'nplick seini Aug'n va ti
Rouss o'g'wëind't, und in tëin Aug'nplick is' an jed'n Rouss ta Koupf o'g'schnidn
g'wëi'n. Schnöl hout a seiñ Flaschal aussag'nâamma' hout in Rouss'n nou ta'
Reih' ti Këipf aufg'sëitzt und in Schnitt mit tëin Öl aang'schmiat, und glei' seiñ
ti Këipf wida' aañg'wox'n. Wia-r-a' zan lëitztn Rouss kimp, hout a' grod nään
an Troupfm g'ho't. Tea hout grod nâàn g'iëmng'4). Und wia-r-a' in lëitztn
Troupfm vaklëiiit5) hout g'ho't und olii Rouss wida' lewéiñti seiñ g'wëi'n, tou is'
grod t Sum'6) aufgáanga', und ti Puak und tas gâanzi Lâand is'tarlest g'wëin. Und
t' Leit, tëi fria vastuanat7) sein g'wein, seiñ umaranâand gâanga', und ta oidi
Khinni hout g'sok: „Walst ins olii tarlest houst, kriast ti Prinzessin und tas
gâanzi Khëinigreich."
Und 's is' a grassi Házat8) o'g'holtn gwoat'n, und seiñ Yoda is a g'këimma',
und tea hout'n a seiñ Khëinigreich iwagëi'm. Und sou hout a'-r-iwa zwoa Khëinig-
reich regiat, und 's Yulk hout' 'n recht ge'n") g'ho't, wal a-r-a prava Khinni
g'wëi'n is.
Ö denb urg.
Hausinschrifteii aus Nord- und Mitteldeutschland.
Yon August Andrae.
(Mit 2 Abbildungen.)
Brände, wie sie im glutheissen Sommer 1911 die Städte Duderstadt,
Buxtehude und andere Ortschaften heimgesucht haben, wobei "wer weiss
wieviele Hausinschriften und Schnitzereien, so in Duderstadt beim Brande
des aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts stammenden, wegen seiner bau-
lichen Eigentümlichkeiten bekannten Gasthauses 'Zur Sonne', zugrunde
gegangen sein mögen, sind uns eine dringende Mahnung, unsere noch
übrigen, aber immer mehr und mehr verschwindenden alten Hausinschriften
vor und bei dergleichen Nöten und dem unaufhaltsam gewaltsam vor-
dringenden, niederreissenden Zeitgeiste wenigstens durch Schrift und
Druck möglichst schnell sicherzustellen. Aus diesem Grunde schon ma»
° O
der Abdruck der nachfolgenden Inschriften, die fast alle von Herbst 1910
an in den verschiedensten Gegenden gelesen und gesammelt wurden, ge-
rechtfertigt erscheinen.
1) passieren — 2) Haferkiste — B) gerührt — 4) ausgereicht — 5) verstrichen —
6 Sonne — 7) versteinert — 8) Hochzeit — 9) gern.
32
Andrae :
Göttingen.
1. WIK BAWEN ALLE FESTE VNDT SEIN DOCH
FREMDE GESTE:VNDT DAR WIR EWIG
SOLLEN SEIN . DAR BAVWEN WIR WEN.
NIG EIN : > HANS OVDEN ANNO 1618 «
Yon zwei Krokodilen (flügellosen Drachen) eingefasste, über den Fenstern
befindliche Inschrift; das Haus stammt also aus dem ersten Jahre des Dreissig-
jährigen Krieges. Dieser Krokodilinschrift gegenüber
2. Auf dem Hofe des Gasthaus „Goldener Hirsch":
HANNS [s. Abb. 1, 2J PoRSSEN
Zu beachten ist die eigentümlich mit Eicheln verzierte Fünf.
3. |ut bem tar als man nacfy djrift tmfers fyern geburt $ ïïï $ £(£<£(£(£ $ jrr v $
Seiet tjot fyans rofenfyagen bis fyaus loffen bauten
[Eine Reihe; es folgen die Verzierungen Abb. 1, 3.]
Die Schnitzereien am Ende werden als Violinbogen und Schlüssel im Familien-
wappen, andrerseits als Zimmermanns Werkzeuge, Säge, Winkelmass gedeutet.
4. Börnersches Haus:
[2 Wappen, s. Abb. 1, 5, links und rechts über der Inschrift.]
(Sobes ÍDort blíft (Eimcfy § 36
(Sobe To loue Vn Diffe fiat Abel Borneman Dit Hns (Sfye Bumet H
a t
Möglicherweise sollen die Figuren im linken Familienwappen Blätter (Efeu)
vorstellen.
5. Schrödersches Haus:
To.....4 . . . Welt . . .
tot myn gobes bes fyeren ....
on bie Atem nttbe enbe
fteit in gobes Henben
Gobe to Ione un bib Ail feeit
Heft fyoenet brt fjns gebtnt
Mehr ist von der Inschrift leider nicht zu entziffern. Das mit der Jahres-
zahl 1549 versehene Haus weist ausserdem eine ganze Reihe herrlicher, farben-
leuchtender Holzschnitzereien auf, u. a. auch Weberschiffchen und Wollkämme,
woraus geschlossen wurde, dass das Haus ursprünglich der Tuchmacherzunft oder
einem Tuchmachermeister gehört habe. Nach einem auf dem Boden gefundenen
Schild mit Ring muss das Haus später auch einmal Gasthaus (Zum goldenen
Ring) gewesen sein; der Name „Ring" ist ihm bis heute verblieben. Sogar im
Innern trifft man prächtige Schnitzereien an, so in einem nach der Strasse zu ge-
legenen Zimmer im ersten Stock sechs Medaillonbilder. Grosse Ähnlichkeit mit
diesem Gebäude hat, auch aus derselben Zeit, Mitte des 16. Jahrhunderts stammend,
das „Junkernhaus", ein Ratshaus, in dem die Ratsherren der Stadt zusammen-
kamen, um bei einem Glase Wein über das Wohl und Wehe der Stadt zu be-
raten. Wiederum mit viel Schnitzereien, so Wappen einiger, jedenfalls hervor-
ragender Ratsherren (Gildemeister), mit Schwanenflügel und Fuchs mit Traube im
s
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland. 33
Maul (Swanflügel und Yoss). Dann fällt die interessante Darstellung „ Sim son
und Delila" auf, sowie Johannes der Täufer und der die Weltkugel haltende
Heiland, die beide auf diese Inschrift an der Eckkonsole hinweisen:
6. fcyt. bat • bat. lam gofls . bas . irr. Welt. fünft
Drecfyt 3ofycmes . an .
Die Inschrift aus Ev. Joh. 1, 29 kehrt unten in nr. 18 wieder.
Als wahrer Schmuckkasten zeigt sich noch ein Haus aus dem Jahre 1545
mit grossen bunten Köpfen, Ritter mit Visier und Schwert, Wappen mit Haus-
marke [s. Abb. 1, 6] und Kleeblättern. Noch ein anderes, ebenfalls mit zum Teil
phantastischen Schnitzereien geziert, trägt die Jahreszahl 1568. Als ältestes Haus
in Göttingen gilt das aus dem Jahre X>9" (1497 oder 95, beachte die halbe
8 = 4, die noch in Witzenhausen am Gasthof „Zum Deutschen Haus" 1& 80 und
in Frankenhausen (Thüringen) an einem Hause 153^ gefunden wurde).
Eine wertvolle Schnitzerei wurde noch an der Hofseite eines mächtigen Ge-
bäudes der Gronerstrasse entdeckt, die sich früher an der Sirassenseite befunden
haben soll: zwei geflügelte Drachen, die eine Art Frucht, Birne oder Apfel, im
Hachen zu halten scheinen (es kommt der Gedanke an die Äpfel der Hesperiden,
die doch von einem Drachen gehütet werden, hier im Rachen zwischen den
Zähnen) und deren Schweife nach oben zu sich in breite Rosetten umbiegen;
zwischen den beiden Tiergestalten halten zwei geflügelte Engel ein Hausmarken-
wappen [Abb. 1, 5 a]. Angeblich ist das Haus ursprünglich ein Kloster gewesen
mit — wohl nur sagenhaftem — unterirdischem Gange nach der Kirche in Dorf
Nikolausberg; später ein Wirtshaus, als Einkehr und Ausspann für die Fuhrleute
„Zur Peitsche" genannt; 16. Jahrhundert. In der Seitengasse ist das altertümliche
Türschloss beachtenswert.
7. Ganz dasselbe Drachenmotiv mit Spruch findet sich noch auf einer alten
Spruchtafel, die sich früher auf der Diele eines Hauses der Jüdenstrasse (17. Jh.)
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 1. 3
a
34
Andrae :
über einer jetzt zugemauerten Tür befand, zurzeit aber im „Junkernhause" auf-
bewahrt wird. Die Frucht erweist sich hier deutlich als Apfel. Nach altem Volks-
glauben gilt der Drache als unheilabwehrend und segenbringend, so sind wohl
die Drachengebilde an Häusern zu erklären.
Der Spruch lautet:
Da§ . inerti. lobet. ben . meifter [Verzierung]
und ist dem Buche Sirach (9, 24) entnommen, er kommt noch sonst vor. An
dem Hause fallen ausserdem zwei Fratzen (Masken) auf und von weitem eine Art
Katzengesicht, das aber beim Näherkommen in eine blosse Verzierung übergeht;
möglicherweise ist ein Vexierbild beabsichtigt. Am alten Hause nebenan erfreut
die wundervoll geschnitzte Schlagleiste des Tores: Blätter-Blumen-Weintrauben-
gewinde.
8. Dorf Diemarden bei Göttingen am Eingange des Gartetales (einreihig):
WELT TOBE WIE DU WILT GOTT IST MEIN SCHIRM UNT SCHILD/
DER WIRD MICH WOL BESCHUCZEN / FÜR IHRES ZORNES BLITZEN MEIN
UNGLÜCK KAN ER WENDEN E ABER DER HERR SORGET EUR MICH: DARUM
SEIN FRÖLICH DIE AM * * *
18. bis 19. Jahrhundert; hinter 'wenden' ist zu ergänzen: 'es steht in seinen hendenV
9. Dorf Klein-Lengden (Kr. Göttingen; einreihig):
WER GOTT VERTRAUET. HAT WOL GEBAUET . IM HIMMEL
UND AUF ERDEN . ALLE DIE VORÜBER GEHEN . UND MICH
KENEN. DEN GEBE GOTT DIE EHRE . DAS SIE ES MIR GÖNNEN
Erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1814.
10. Zwischen Kl.-Lengden und Dorf Benniehausen die alte Gastwirtschaft
„Eichenkrug" mit der Inschrift:
WER GOT VERTRAVWET DER HAT WOL GEBAVWET 1574.
Mit hübsch geschnitztem Balkenwerk.
11. Dorf Rittmarshausen, Kr. Göttingen:
a) DER HERR UNSER GOT SEY MIT UNS . WIE ER GEWESEN IST MIT
UNSERN ViETERN . ER VERLAS UNS NICHT . UND ZIEHE DIE HAND NICHT
AB VON UNS . IOHAN CHRISTIAN EGGERT . MARIA ELIESABETH EGGERT.
GEBOHBNE DIETRICH. ANNO 1747 . MONAT MAJUS.
Eine Reihe; an der Hofseite steht sogar noch Vater- und Muttername des Er-
bauers eingeschnitzt.
b) ALLES WAS MEIN DUN UND ANFANG IS2' DAS GESEH IN DEN NAMEN
HERR IESUSKRI DER STEH MIR BEI FRVCH UND SPA7 BIS DAS DUN _
EINENDE HAT. JOHANN HENRICH SCHV2TE . ANNA MARIA ANDREAS . DEN
25 APRILIS . ANNO 1749.
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
35
Eine Reihe. Ich belege die Inschrift noch in meinen „Hausinschriften aus
dem Kreise Einbeck" aus Dorf Rengershausen, erste Hälfte des 18. Jahrhunderts
(Einbecker Zeitung, 14. Oktober 1898).
12. Aus dem benachbarten Dorfe Kerstlingerode (einreihig):
DIES HAUS 1ST . MEIN . UND . IST . DOCH NICHT MEIN NACH MIER KOMT
WOL . EIN . ANDER DAREIN . IST . AUCH . NICHT SEIN . GOTT . WOHL .UNS. AUS.
GNADEN . DEN . HIEMMEL . VERLEIEN .
Weitverbreitete Inschrift, mit den Namen des Bauherrn und der Baufrau,
Datum und Jahreszahl 1782. Im nahen Dorfe Beienrode (Kr. Göttingen) finden
wir die ebenso berühmte, verbreitete und uns schon aus Güttingen (nr. 1) bekannte
Inschrift wieder:
WIR. BAUEN. ALLE. FESTE. UND. SEIND. DOCH. FROMDE. GÄSTE . .
mit Erbauernamen. Die Jahreszahl beim Umbau gefallen, 18. Jahrhundert. Am
Eckständer fällt noch ein interessantes eingeschnitztes Gesicht auf, eine Art Fratzen-
gesicht (Maske), mit gesenkten Augenlidern, auf zwei Balkenflächen verteilt, wofür
nach Aussage des Hausbesitzers 'die Zigeuner viel Geld geboten haben', wahr-
scheinlich ein unheilabwendendes, glückbringendes Symbol. In diesem Sinne sind
jedenfalls auch die Pratzen und Köpfe, ursprünglich die von Schutzheiligen, an
unseren alten Häusern zu erklären. Das benachbarte 'Bremkertal' weist ebenfalls
einige hübsche, wertvolle Inschriften auf an einem alten Hause in
13. Dorf Bremke (Kr. Göttingen; einreihig):
DREI DINGE SINT DIE BEIDE GOTT UNT DEN MENSCHEN WOL GE-
FALLEN WEN BRUDER EINS SINT UNT NACHTBAHREN SICH LIEB HABEN
UNT MAN UNT WEIB SICH MIT EIN ANDER WOL BEGEHN SIRAH
'Sirah' ist natürlich das Buch Sirach, dem die Inschrift entnommen ist (25, 1 — 2).
Trotz stellenweiser Undeutlichkeit und Verwitterung konnte die Inschrift so richtig
entziffert werden. An der Haustürseite:
Die bereits früher gelesene: Wer gott vertraut . . . erden. Es schliessen
sich an die Erbauernamen:
IOHANNIS ASCHOF UNT MARGRETA CA . ERS HABEN DIS HAUS MIT DER
HÜLFE GOTTES LASSEN ERBAUWEN : HL : UNT M:HL GEBRUDER
Einreihig; der Buchstabe hinter CA verwischt (Capers) und die Stelle hinter
Erbauwen durch Schild verdeckt. Über der Haustür endlich:
MENSCH DU DUHST WAS DU DUHST SO BEDENKE
DAS ENDE SO WIRST DU NIMMER ÜBELS DUHN SRAH
'Srah' ist wieder Buch Sirach (7, 40), der Langstrich von R ist gleichzeitig^!.
Das eingemeisselte Kreuzchen erinnert daran dass die Gegend früher katholisch war.
3*
ANNO : J669 t DEN : J8 MAGUS
IST DIS HAUS ERBAUWET
36
Andrae:
Ein hübsches Seitenstück zu der Diemardener Inschrift lesen wir an einer
anderen Stelle des Kreises in
14. Dorf Holzerode, unterhalb des 'Hünenstollens' (einreihig):
DU : O : SCHÖNES : WELT : GE : BOU : DE : MAGST G : F : L : WEN : DU : AVILST :
DENEN : SCHEIN : BAR : LICH : GEN : FREUN : D : IST : MIT : LAUTTEB ANGST : UND :
MC : DEN : DI : DEN : HIMMEL : HASSE : WIL : ICH : IHRE : WOLLUST : LASSEN : MICH :
VERLANGET : NACH : DIR : ALLEIN : ALLER : SCHÖNSTE : IESULEIN
Zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es ist J. Francks Dichtung: 'Du, o
schönes Weltgebäude, magst gefallen, wem du wilt; deine scheinbarliche Freude
ist mit lauter Angst umhüllt. Denen, die den Himmel hassen, will ich ihre Welt-
lust lassen: mich verlangt nach dir allein, allerschönstes Jesulein' (Fischer-Tümpel,
Kirchenlied des 17. Jahrh. 4, 90).
15. Aus dem nahen Dorfe Oberbillingshausen, Kr. Göttingen:
GOTT BEWAHRE DIESES HA
$ US.ALLE. DIDA GEHEN . EIN. @
UND . AUS . JHR . SLL . 1799
Jhr . Sil = Johann Heinrich Schnelle. An der Scheune gegenüber einge-
geschnitztes Kreuz mit der Jahreszahl 1800, also ein Jahr jünger als das Haupt-
gebäude. Noch zweimal wurde die Inschrift im Dorfe gefunden: 1819 und 1821.
An einem anderen Hause:
16. BIS . HIE HERR . HAT . MIR . MEIN . GOTT
GEHOLFEN . CHRISTIAN . GARBODE . 1784
Öfter im Kreise Einbeck gefunden (s. Einbecker Zeitung, 6. Dezember 1898).
An einem andern Hause stand Salomos Wort aus 2. Chronica 6, 20.
17. Dorf Hetjershausen, Kr. Göttingen:
"SIHE ZV WAS DV THVST VND BE
DENKE DAS ENDE. HANS KVMACKER
MARIA ALRVTZ. ANNO . 1665.
M.C.K.
Jetzt im Göttinger Museum aufbewahrt. Nach Sirach 7, 40.
Hanno ver.
18. Osterstrasse an einem Gasthaus (einreihig):
DAT . IS DAT. LAM . GADES .WELCKER . DEI .WERLT . SVNDE . DRECHT. (
GODT . DE . HERE . SI. VN S . GNE
Vgl. oben nr. 6. Am Hofgebäude steht: ANNO . DOMINI. 1584 mit je einem
Wappen links und rechts. Das rechte mit Hausmarke zeigt Abb. 1, 18, während
das linke mit demselben Umriss einen Wollkamm und darunter die Buchstaben GE
aufweist lind rechts von diesem linken Wappen ein Weberschiff sichtbar wird.
Demnach hätten wir wohl wieder ein altes Tuchmacherhaus vor uns.
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
37
19. An einem anderen Hofgebäude derselben Strasse (einreihig):
WO . GODT . NICHT . SVLVEST . DAT . HYS . VPRICHTET . VNDE . SCHAF-
FET . ALLE . DINCK . DA RINSE . SO . IS MIT . VNS . NICHT. VTH . GERICHTET .
VORLAREN . IS . STARCK . YNDE . SINNE . ALLE . MOIE . YNDE . SORGE . VOR-
GEVES . GEIT.WO . GADES . HVLPE . NICHT.BI .VNS . STEIT.ALL . ARBEIT . IS .
VORLAREN
Am Hauptgebäude auf der Strasse steht: ANNO . DOMINI.. 1. 600
20. Bilderinschrift von einem Hofe der Köbelinger Strasse (jeder Spruch
eine Reihe):
a) S MENSCHEN [Herz: s. Abb. 1, 20a] IN [Rose; s. Abb. 1,20a] GEHT.
WENS MITTEN VNTERM + . STEHT . DAS 4- IST . SCHWER DAS GLVCK .
IST GVHT . TRVBSAL . DIE [Rose] BRINGEN THVT.
b) DES . VATERS . SEGEN . BAVWET . DEN KINDERN . HEVSER . ABER .
DER . MVTTER FLVCH REISSET . SIE . NIEDER . ANNO . 163 . 5
[Verschnörkelte Ziffern].
c) o DER.HER DVRCH DER.ENGEL.SCHAR.MEINE EIN.VND AVSGANG ♦
• BEWAHR
Die Bilderinschrift verwertet den bekannten Spruch Luthers. An der vorderen
Wand des Hofgebäudes liest man noch:
d) EWIGE . FREVDE ODER PEIN . WIRD VNSER ALLER LONVNG SEN und
e) WER GOT VERTRAVT . HAT WOL GEBAVT . IM HIMEL . VNT A VF
ERDEN
21. V on der Bäckerstrasse (einreihig):
VIL LEVTE OHNE VERSACE TVN MICH HASEN ICH TRAVWE A VF GOT
DER WIRT MICH NICHT VERLASEN ABGVNST DER LEVTE KAN NICHT
SCHADEN WAS GOT WIL DAS MVS WOL GERATEN
Früher ein Haus, 17. Jahrhundert; jetzt ist die linke Hälfte durch einen
Neubau ersetzt und die Inschrift bis 'Verlasen' verschwunden.
22. Strasse 'Tiefenthal' (einreihig):
fraget mennyd? mo jbt my geyt (Synge vt my mol jbt tuer em leibt £at folfen
reben alfe I]e ybt mertet So JPyl y<f ladjett mett fye U?enet ^bt fy fyft fcfyymp ebber Spot
Wat be my gminet bat gfyeue ohne gobt B K
'ohne = ihn; heute nur noch sichtbar von Wyl an, der verputzte und verschalte
Anfang ist, hier und da berichtigt, nach Mithoff, Kunstdenkmale 1, 90; 16. Jahrh.
Früher soll an der Stelle ein Kloster gestanden haben; im Keller staunt man noch
über den mächtigen Grundpfeiler, auf dem vermutlich der Klosterturm geruht hat.
23. Eckhaus Tiefenthal-Burgstrasse wurde nun auch die obere Inschrift ent-
ziffert (vgl. meine 'Hausinschriften' Globus 1906 S. 186ff.):
Hobe . bycfy . cor. ben . faÇett. Pbeit. pout?. dfen . tmbe. adma . fragen
38
Andrae:
Also das alte berühmte Sprichwort: Hüte dich vor den Katzen, die vorne
lecken und hinten kratzen, das u. a. beim Anekdotenerzähler Abraham a Santa
Clara, bei Hans Sachs und schon in Luthers „Tischreden" vorkommt. Das Sprich-
wort wurde nochmals als Hausinschrift vorgefunden in Wiedenbrück (Westfalen)
an einem mächtigen Hause am Markt und wiederum als oberste Reihe (ein-
reihig) :
24. HOIT DICH VOR DE KATZEN DE VOE LICKEN VND ACHTER KRATZEN
Am Ende der zweiten und untersten Reihe steht die Jahreszahl 1635. Von
den vielen Inschriften des altertümlichen Städtchens wurden noch folgende aufge-
zeichnet:
25. HELFGODT AYS NODT
AFGVNSTT IST GRODT
16 40
26. Über dem Türeingange eines anderen sehr interessanten Hauses (ein-
reihig):
GADES . WORT . BLIFT . IN EVIF . HEIT .1.5.6 7
Unter den zwei kleinen Fenstern links die Mahnung:
27. HALTET . FREDE . YPPE . DÖSER . STEDE.
Dazu drollige Schnitzereien, Narrenköpfe, einer mit ausgestreckter Zunge.
Leider ist viel verwischt, verwittert und verputzt. Die erste Inschrift begegnete
nochmals lateinisch:
28. VERBVM . DEI . MANET . IN ETERNVM . A . DO . 1 5 8 3
[darunter zwei Hausmarken, s. Abb. 28a und b.]
29. Braunschweig (einreihig):
ANNO . 1665 . AVF . GOTT . BAYWE . ICH . YND . TRAVWE . IHME . FEST .
DAS . ER . DIH . SEINEN . NICHT . VERLEST.
Harzgegend.
30. Goslar, Abzuchtstrasse (einreihig):
(Sott ber alie btrtg rermagf, Behüte big fyaú§ 311 ZTacfyt r>rtb CEagf. tooííe uitg
aiid? geleiben. Jüan tmr uort giriert (djeiben.
16. bis 17. Jahrhundert.
31. Glockengiesserstrasse (einreihig):
a) (Sott ber. ^err beœar btfj.fyaus: 2liicfy all bie bar gefju £ttt tmb au3 fyettmt»arn?en.
\. 6,6 . 6
b) ÏDet" (Sott üertratot. fyat mol geban>t:tm fjtmmel tmb auff (Erbett : ÎDer fidj rerleft
auff 3efutn dfyrtft : berfelb . trnrb felig tuerben : 2irtrto : ¡ 605 .
Weiter unten, rechts von der Haustür:
c) (Sott ber Ejerr betoare . . . (wie 31a).
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
39
Dicht neben diesem Hause steht Haus 'Bartoldt. bethman', das Stammhaus
der Familie des Reichskanzlers, über dessen Inschrift und andere s. meine 'Haus-
inschriften aus Goslar', oben 15, 428—438.
Die altehrwürdige, verlassene, halbverfallene, jetzt zum Trocknen von Kräutern
benutzte Zementmühle (Lohmühle) im 'Klapperhagen' am Abzuchtgewässer trägt
am Balken eingeschnitzt die Jahreszahl 1544.
32. Osterode, Gasthof zur Ratswage:
ï»at fin nid?t. alie . ieger be be fyorne blafeti
Bogenförmig auf einem Spruchbande; Horn, dasselbe oben noch einmal ver-
kleinert, halbe Rosette und Kopf ganz oben im Giebel, unter dem die alte Wage
an Ketten aufgehängt gesehen wird, während der Haken, woran sie einst hing, noch
in einem Balken sitzt; es soll dort früher die Wolle gewogen worden sein. Der
hintere Teil der Diele ist mit Kieseln mosaikartig ausgelegt. Der Wirt brachte
das Horn mit dem Hirten, der das Yieh austrieb, zusammen. Nach einem Artikel
in 'Niedersachsen' vom 15. Juni 1912: 'Aus Osterodes Vorzeit' stammt das Haus,
ursprünglich ein Hochzeitshaus, aus dem Jahre 1653.
33. Herzberg (Flecken, Kreis Osterode):
WER GODT VER
TRAWET HADT
WOL GEBAWET
M • V • E • H •
Mit vielen Verzierungen: Rosette, Früchte, Vögel, Kopf, der Zunge aus-
streckt, Kopf, der mit breitem Munde die Zähne zeigt, Hammer, Winkeleisen.
b) Dégagé nicfyt V Œran> (Sott 2Weimt. D Sein (Snabe unb Œrat? M 3ft Dîorgen
neu I H?er (Sott rertraaiüet ♦ A £jat tuoll (Sebatnet ♦
[Die fetten Buchstaben V D M I A sind je mit einem Kreis umgeben.]
Einreihig. Vor und hinter der Schrift Verzierungen; die lateinischen grossen
Buchstaben ergeben natürlich den bekannten Sinnspruch EYiedrichs des Weisen
(Lobe, Wahlsprüche der Kurfürsten und Herzöge von Sachsen 1878 S. 4): Verbum
Domini Manet In Aeternum. Weiter unten steht noch in viel kleinerer Schrift:
c) Der ganzen 2£>elt pradjt mu§ pergefyn
2illem (Sottes îDort trnrt etoig ftefyrt.
OP9 LADET ¿RTIFICEM. Œut £uber
ORA ET LABORA £ajj (S0Œ Sorgen
15 94
Tut ist Abkürzung von Timotheus. An der andern Seite liest man:
f) S So abeneurlicfy gefyts uff (Erben ♦ D Das einer oftt 3um Haren mujj rcerbn
P Den man einr meint er tjab bas (Slitcf N So n?enbt bas gliicf fid? balb 3urü<f Q LU)ann
eytxr meint es fei mit tfytn au§ C So fompt ifym balb bas (Sliitf 311 fyaujj N
[Die fetten Buchstaben S D P N Q, C N sind je mit einem Kreis umgeben.]
a) ANNO
1666
d)
e)
40
Andrae :
Eine Reihe; die Auflösung dieser lateinischen Majuskeln ergibt ebenso sicher
die weitverbreitete Inschrift (in Lemgo u. a.): Si Deus Pro Nobis Quis Contra
Nos (Römer 8, 31). Auch die dritte Seite des Hauses, wo jetzt der Eingang ist,
enthielt eine solche, jetzt bis auf wenige Spuren unleserlich gewordene Inschrift
mit lat. Majuskeln. Hier läge also der interessante Fall von der Einfügung einer
Inschrift in eine Inschrift vor. Das Ganze war arg verfallen und ist nun so
wieder hergestellt, allerdings stellenweise nach Gutdünken.
34. Duderstadt (Eichsfeld; einreihig):
IN GOTTES MANNT STEH ICH GEGRÜNDET ♦ OB ES GLEICH VIEL
NEIDER FINDET ♦ JEDER GÖNNE MIR DAS MEINE WIE ICH GÖNNE JHM
DAS SEINE
35. Überm Eingangstor:
GOTTES . SEEGEN 7: NEIDER SIEHE . ? .
MACHET REICH . OHN . UIELE . MUHE .
I • C * S • ANNO 1723 M ■ E • S •
Sollinggegend.
36. Uslar (einreihig):
a) WIL TY RICHTEN MICH YNDT DIE MEINEN SO BESIEHE ZVVOR
DICH YNDT DIE DEINEN YNDT KOMB DARNACH WIEDER ZV MIHR SO WIL
ICH ANTWORDT GEBEN DIHR.
Über der Haustür:
b) ZV GOTT ALLEIN DIE HOFNUNG MEIN o
MORITZ ♦ WILCKE MARGRETA ♦ RICKEN ♦
ANNO ♦ o 6 Z 9 ♦
37. Dassel:
17 32
ZUR HERBERGE
SOLL DÍES HAUS UND
NÌCHT ZUR HEIMAT DÌKEN
DÍEWEÍL MEÍN WTERLANT
DES HiftELS WOHNUNG ÍST
LAS ÏN DER EERBERG
HÌE
GOTT UNSERE BLÄTTER GRÜJSEN
UND RÌCHTE UNSER EERZ HIN WO DU SELBER BÍST
Hübsche poetische Inschrift des ehemaligen 'Rauschenplattschen Hofes', der
späteren 'zweiten alten Pfarre', in dem über dem Eingang befindlichen grossen
Rauschenplattschen Familienwappen, das noch ein Spruchband mit Anfangsbuch-
staben der Namen, zwei Hirsche, ein Jagdhorn und Blätter, eben die 'Rausche-
blätter', aufweist, die in schöner poetischer Beziehung zu dem Familiennamen
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
41
stehen. Ähnliches werden wir noch in Jena lesen (nr. 51). Weitere Inschriften
aus der Sollinggegend finden sich in meinen 'Hausinschriften aus dem Kreise
Einbeck', Einbeck 1898 und in 'Niedersachsen' vom 15. Nov. 1908, S. 58 ff.
Werra-Weser-Diemelgegend.
38. Witzenhausen (Werra), Thiermannsches Haus (einreihig):
CONTVLIT HAVD IACILFS SVMTUS WIDEKINDVS IN .ED MEINHARTVS :
DEVS HAS VICIBVS SERVARE MEMENTO: [Hausmarke, s. Abb. 1,38] IN DO-
MINO CONFIDO : PS : XI : AO DNI 1579
Altes Patrizierhaus mit vielen Schnitzereien. Kopfzerbrechen macht anfangs
das dritte Wort, das eine sinnlose Buchstabenumstellung und weiter nichts als
'facilis' (oder 'facile') ist. Der erste Hexameter besagt: Es ist dem Erbauer nicht
leicht geworden, die Mittel zum Baue zusammenzubringen (Aed ist zu ergänzen:
Aedes); der zweite: Gott möge diese Wohnung vor Schicksalsschlägen bewahren.
Uber der Tür befindet sich nochmals das Hausmarkenwappen mit Gründungs-
inschrift darunter.
39. Hedemünden (Werra; einreihig):
a) WER VIEL FRAGT NACH NE VEN MERN . DER SCHWATZT NACH
VND LEVGT GERN . SOLCHE LEVT THV MEIDEN . WILT DV NICHT FALN IN
LEIDEN? LEID MEID SCHWEIG . VND VERTRAG . DEIN NOT NIEMAND KLAG .
AN GOT NICHT VERZAG . GLUCK KOMPT ALLE TAG . GEDVLT VBERWINDET
VIELES 8
Den ersten Teil der Inschrift kannten wir bereits von früher aus Hannover
(vgl. Globus 89, 188), von Leid bis Tag ist wieder ein Wort Luthers. Die In-
schrift der andern Seite ist stark verwittert und verwischt, doch wurde sie noch
einigermassen entziffert:
b) ^iircfyte (Sott Dnb fyalt feine gegebot... ANNO • ) • 5 ■ 9 * 3 • fyat fyanf benningf mit
(Sottes fyiilff e Diit (fdjon häufen 3tmmern laffett nnb bauen?)
Zum Glück sind Jahreszahl und Erbauername erhalten. Auch fanden wir
in diesem Städtchen das uns schon von früher aus Dorf Volksen (Leinegegend)
bekannte und als 'Liebesknoten' ausgegebene Zeichen wieder (vgl. Globus 89,
S. 183) an einem Hause aus dem Jahre 1755 zwischen den Namen des Paares,
und es könnte wiederum als solcher gelten. Dennoch glauben wir heute besser
diese knotenartige Verschlingung, den Knoten, ins Gebiet des Aber- und Volks-
glaubens verweisen zu müssen, wonach er, an einem Hause angebracht, dieses
vor Schaden, vor Behexung bewahren könne, ein z. B. in Süddeutschland ver-
breiteter Glaube. Hedemünden reicht dem Süden schon so die Hand, und an
einem andern Hause aus dem Jahre 1747 findet sich diese Verschlingung zweimal,
und zwar nur hinter je einem Spruche! Von Liebesknoten kann also hier keine
Rede sein.
40. Adelebsen (Kr. Uslar):
□ Q CHRISTOPH AVGVSTAS AMALIA HERMEN
GOTTES GUTE VND TREW □ IST ALLE MORGEN NEW ¡«J
ANNO ** X o 1649 o
42
Andrae :
mit altertümlicher Haustür; ein älteres Haus an der Stelle angeblich im 30jährigen
Kriege niedergebrannt; wie man sieht, ist dies neue gleich nach Schluss des
Krieges wieder aufgebaut. Ygl. nr. 33b.
41. ßodenfelde (Weser), altes Bauernhaus:
WOR.M EN BEN HEREN FRVCHTET DAR IS77 KE\>N ARMO ET
^SA^AS AM 40 CAP|)T Y DM j> E ANNO DOMN> 1588
^VRGi-'N ROY) EKER D=C
Der Bibelhinweis kann sich nicht auf das Vorhergehende beziehen, da im
ganzen Propheten Jesaias nichts Ähnliches steht, muss also auf das Nachfolgende,
V-DM-IE- gehen; das ist nichts anderes als die oben S. H9 als Wahlspruch des
sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen angeführten Worte: Yerbum Domini
Manet In Eternum, die zuerst bei Jesaia 40, 8 erscheinen. Ebenso in nr. 62.
42. Dorf Wehrden (Weser), altes Bauernhaus:
DIS HVS STEHET IN GOTTES PNST ER WOLLE ES BEWAREN VOR FEVR VN) BRANT
HEINEICH GADEKEN VND ILSABE CATARIM REMERS IIIHVHTE
ANNO 1696 DEN 26 NOVEMBER
Die zweite Reihe gegen Ende lückenhaft und unsicher; das Monogramm
Christi zeigt die katholische Gegend an. Vgl. nr. 63.
48. Rinteln (einreihig):
a) (Efaie 3:1 2Me btrttf is uorgemfltcF . (Sottes tnort blift enriçj f 3"* tar tncn i<^rßf *
1565 " fyeft £jans Debber unbe 3ííaí,e^ fro tjiiffrautpe bùt fyiís baùtoen laten 2
(Sobt ft Ioff. rmbe (Efyre
Die Inschrift geht wieder auf den 8. Vers des uns schon bekannten Kapitels
zurück. Weiter steht u. a. noch an dem altehrwürdigen Hause am Kirchplatze,
die wichtige Stelle aus Hiob 19, 25:
b) m^n crlöfer Ier»et. . .
und das ebenso wichtige neutestamentliche Seitenstück Ev. Joh. 3, 16:
c) 2tlfo t^ett gobt be œelt geleut . . .
Die Inschrift aus Hiob wurde früher schon gefunden in Hannover und Hel-
singör (Dänemark); siehe darüber meine 'Hausinschriften aus Dänemark' (Globus 84).
An einem Häuschen fiel noch auf (einreihig):
44. (EIN . LEVENT . ID . SI. WO . GVT . IDT . WOLLE . SO .WART . IDT . EIN .
KLEIN. TIDT . ABER . EIN . GVDT . NAME . BLIFT . EWIGH
16. bis 17. Jahrhundert. Am Markt noch: Si deus pro nobis . . anno 1659,
die uns schon bekannte Inschrift (nr. 33).
45. Stadtoldendorf:
©er §ew bttrii) ber ©ngelfdjar ©einen ein SSnb 3iu§«
gang Setnaijr: 2ln ©otte§ Segen ift 2tffe§ gelegen. j.662
Jürgen Sappen ©attrina $tmeen
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland. 43
Ungefähr aus derselben Zeit, zweite Hälfte 17. Jh., stammt noch diese
charakteristische Inschrift:
4(>. MANGER REDET VOMIR Q\i T DER SELBST NICHTS GVTS IM JERZE Mi T
ÌI1N DAS VOR SENER STR TWE GESCIHBEN MS ER SEN EBTAG HETTE
GETRBENER WWE SÌCH ZWMAIL BEDEMEM 1ER WRDE MMR EIRE
KRENKEN
Zieht sich in einer Reihe am Hause hin, ein alter Balken mit nur wenig
Schrift ist bei der neuen Türanlage verschwunden. Die vielen Buchstaben-
zusammenziehungen sind eine Folge der Raumknappheit. Qvat = Böses, Schlechtes;
Str = Stirn; der Langstrich von E in Ebtag soll zugleich L bedeuten.
Andere Inschriften aus der Wesergegend s. Niedersachsen 1908, 58.
47. Helmarshausen (a. Diemel):
MARTIN ALLE DIE MICH KENNEN . DEN GEBE ILSEBEH
GODEKEN GOTT WAS SIE MIIB GÖNNEN. FRIBERG
ANNO 1683
die überaus weit verbreitete Inschrift. Ebenso verbreitet ist
48. Ifer auff (Sott trauet ber fyatt moli gebauu>ett Svili gartS
Anno J585
mit Hammer, Kneifzangen, Bohrer (Zimmermannswerkzeugen) und Hufeisen, dem
Unheilabwehrer und Glücksbringer.
49. 3m J56J 3ar fjabe 3<i? fyenrtcfy
Hintan bit fyus laten 23muen íüer
auff (Sobt rortruœet ber befft toall
(Sebutuet
Ein Haus aus d. J. 1694 'den 10. ivli' fällt noch auf durch viele Inschriften
(so PS 38, 23) und Schnitzereien, Ranken- und Blattwerk in Drachen- und
Schlangenköpfe auslaufend. Vgl. den Göttinger Deutschen Boten 1913, 10. Januar.
Thüringen.
50. Altenburg:
AUXILIVM MEVM A DOMINO ANNO 1554
Die mit kleinen Verzierungen durchsetzte Inschrift befand sich vor Er-
neuerung des Giebels bei der Tür des Hauses, das im Innern noch alte Bauart
aufweist.
51. Jena:
a) Der Ejerr b) 3^5
betjüte beinen CEtrtc Verberg ift
aufj únb Drumb beiuf bey §ett
etngang ans £oben fyaufj
00 : Damit bir offenftefy
Das (Sroge
fjtmels tjauß
Hof-Haus „Jenaische Zeitung"; Schiller wohnte in dem Hause 1804, also ein
Jahr vor seinem Tode. Wie schon angedeutet, hat diese hübsche Inschrift grosse
Ähnlichkeit mit der im fernen Dassel (nr. 37).
44
Andrae:
52. Weimar:
DER . GEREcHtTE . MVS
VIL . LEIDEN . AWER
DER . HERR . HILFFT IM
AVS . DEM ALLEM . 34 .
PSALM. DAI
WAS . GOT . WILL
IST . MIEN ZIL . 1. 5 . 52
Mit einigen kleinen Verzierungen und Wappen, dessen Schrift nicht mehr zu
erkennen ist, und Hausmarke; der Inschriftenstein wurde beim Umbau entdeckt.
Sollte DAI ein Abkürzung von David sein (34. Psalm Davids)?
53. RVF ZV GOT AN ALE
SCHEV . SO HILFT ER
DIR BEI SEINER
TREV .
1550
I C M
1740
H
54. Am Erker der Hofapotheke: Die Stelle aus Ev. Joh.: Also hat Gott..
1598 und allegorische Figuren Fides, Forti (tudo) und a. m.
55. Erfurt (einreihig):
a) FRAVDIS. ET. INVIDLE . TANDEM. PACIENCIA . VICTRIX VIRTVTISQVE .
OPVS. EST. TRISTIA. POSSE. PATI.
b) SINT . MAGNI QVICVNQVE . NIHIL . NISI MAGNA . LOQVVNTVR NOS
IVVAT . EX . ANIMO . QVOD IVBET . ESSE . DEVS
Interessante Inschrift mit kleinen Verzierungen über und unter den Fenstern.
Auf deutsch lauten die Distichen etwa: Des Truges und des Neides Besiegerin
ist endlich die Geduld, und es ist das Werk der Tugend Trauriges leiden zu
können — Mögen alle diejenigen gross sein, die nur tote Reden führen können,
uns frommt von Herzen das zu sein, was Gott zu sein gebietet. — Auf einem
Spruchband befindet sich noch eine Inschrift, während ein zum Hause gehörender
Stein mit Greif, wonach es wohl 'Zum Greif' hiess und heisst, sich im Museum
befindet. Man erzählt noch, vor Jahren sei bei einer Hochzeit die Decke
durchgebrochen und alle bis auf ein Kind seien umgekommen, wohl nur eine
Sage1).
1) Eine Ortssage hörte ich noch in Zwickau (Sachsen), die sich an das 'Gewand-
haus' anknüpft, dessen Giebelverzierung Ähnlichkeit mit einer Brille hat: der Erbauer
dieses Gebäudes und der des Eckhauses schräg gegenüber hätten miteinander gewetteifert
in der Fertigstellung ihrer Häuser. Der des Gewandhauses sei nun zuerst fertig ge-
worden mit seinem Bau, habe eine Brille aufgesetzt und höhnisch seinem Gegenüber zu-
Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
45
56. ANNO 15 GOTT . SPRICHT ES . SO GESCHICHIES 61 EM
ilgen anna . schwa.
m il wic z nflogelin
Im rechten Wappen ist ein Schwanenilügel sichtbar, wie wir ihn bereits am
Göttinger 'Junkernhause' (nr. 6) erblickt haben. Ausserdem kleine Verzierungen.
57. 1.5.5.6
[Bild eines Rades, s. Abb. 1,57]
3Ü bem gülbe rabe
Also ein Hausname, wie deren noch einige gefunden wurden.
58. DAS HAVS STEHET
IN GOTTES HAM) ZVM
STOCKFISH ISTS GENANT
mit Stockfisch im Relief, und Familienwappen; altes Patrizier-, eine Art 'Junkern-
haus', angeblich aus d. J. 1601.
59. DAS . HAYS . STHET . IN . GOTTES . HANT . ZV . DER
BLAVWEN . LIEGEN . IST . ES . GENANT . 1576
.1.5. 76 a
4-
ffl
H N
Mit Lilie und zwei Wappen: Greif, nackter Mann. — Auf dem Hofe:
60. IM . JAR . 1.5 76 . NACH
CHRISTI. GEBVRD . HAT .
HERBORD . NACK . DISEN .
BAYW . AVFF . GEFHVRDT
Der Name Nack steht jedenfalls mit dem Wappen im Zusammenhange.
61. Am Gasthaus 'Vaterland':
ZUM GVLDEN
STERNEN GENANT
15 72
[sechseckiger Stern, s. Abb. 1, 61]
WAS GOT BES
CHERT. BLEIBT
VN. ERWERDT.
gerufen: „Man sieht ja noch nichts von deinem Baue, man muss ja durch eine Brille
suchen . . .!" Die ostfriesische Haussage aus Norden (Globus 75, 388) knüpft sich auch
an ein Haus in Utrecht (Fr. Halm, Adrian von Utrecht. Werke 1856 1, 322): ein Junge
■will später ein Haus bauen so hoch, wie er jetzt seine Mütze in die Luft wirft.
46
Andrae: Hausinschriften aus Nord- und Mitteldeutschland.
62. Weimar, am Markt, der Hofapotheke gegenüber:
DAS . HAYS . STEHT
IN. GOTTES . HANDT
ZVM. SCHWARTZEN
KEREN IST . ES GENANT
IH
Y D M I E
Diese Schriftzeichen sind, wie in nr. 41 aufzulösen: Yerbum Domini.. das Wort
des Herrn bleibt in Ewigkeit. IH sind wohl Anfangsbuchstaben von Namen; mit
ausgelassenem, hinzugedachtem S ergäbe sich Jesus Hominum Salvator. Da-
zwischen im Bilde der Bär.
63. Eine derartige gereimte Hausnameninschrift fügt Luise Schulze-Brück in
ihre Novelle 'Die heiligen drei Könige' (Kölnische Zeitung vom 2. Januar 1911)
aus Hettstädt ein:
Dies £]cms, es ftetjt in (Sottes fjanb,
„§u ben ^eiligen brei Königen" ift es genannt,
(Sott fcfyiitje es cor Reiter uttb Sranb.
21nno J6U-
Mit Stern und drei Köpfen. Ähnlich aus dem Elsass 1603 in der Frankfurter
Zeitung 1907, 23. März. Andere Hausnamen siehe in meinen „Bausinschriften aus
Holland", Emden und Borkum 1902 und „H. aus Friesland" (Globus 72, Nr. 24).
64. Eger (Böhmen; einreihig):
/Vw p. OA-REjV"o HVIF$ n
&NS VIR0 ¿4BE,
Altes Patrizierhaus; angeblich Stammhaus des jetzt ausgestorbenen Geschlechtes
Adler von Adlerfels (feld), deshalb oben ein Adler mit Ring im Schnabel. Niedriger
thront die Jungfrau mit dem Jesuskinde. Elf von den Buchstaben der Inschrift
sind vergoldet, und zwar nur sog. Zahlenbuchstaben, die deshalb auch sofort an
ein Chronogramm denken lassen. Ich stelle nun so zusammen: YIC = 600, L=50,
DI = 501, VI = 6, YCV = 505 ergibt die Jahreszahl 1662, die sehr gut für das
Haus passt, das keinen älteren Eindruck macht. Bringt man allerdings das nicht
vergoldete und deshalb auch wohl auszuscheidende M von Curam (= 1000) mit in
Rechnung und zählt einfach zusammen, so ergibt sich 1773. Die mächtige, vom
Verderben freie Jungfrau nehme dieses Haus in ihren Schutz, lautet die Inschrift
und erinnert somit inhaltlich an die lateinische aus Witzenhausen (nr. 38). Be-
achtenswert ist noch der altertümliche Hof mit Holzgalerie.
<>5. PAX INTRANTIB9
SAL YS EXEVNTIBVS.
Œaû§ent Secfysfyünbert ^efyenbtn
(Saittj X>acfy onb (Smeür eingriffen roar
Don neroen roibr (Erbauet ebn
(Sott gnab rmb fegn roettr roolle gbn
Gebhardt-Oechsler: Die Windsheimer Handschrift.
47
an einer anderen Stelle die Jahreszahl 1684; dann Wappen mit Adler, Einhorn,
Pelikan, Anker u. a. m. Alte Schlossmühle an der Eger, der aus Schillers
'Wallenstein' bekannten Kaiserburg gegenüber, zu der sie auch gehört hat.
Abb. 2.
Zum Schluss bringen wir noch die Abbildung eines Kamins (Abb. 2) mit
Inschrift, der sich in der Küche des Klasingschen Hauses in Lemgo (Lippe) be-
findet. Zwei Seitenstücke dazu, Kamin aus Biesterfeld (Ostfriesland) und aus
Seedeich (Oldenburg) siehe Globus 89, 186.
Göttingen.
Die Windsheimer Handschrift des Liedes 'Von Sankt
Martins Freuden'.
Yon August Gebhardt und Elias Oeclisler.
Das Trinklied 'Yon Sand Marteins Freuden' oder 'Yon Sant
Marteins Gesellschaft', das allgemein dem sogen. Mönch von Salz-
burg zugeschrieben wird, war bisher nur aus der Lambach-Wiener Hand-
schrift der Hofbibliothek Nr. 4696, 4to aus der ersten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts und der gleich alten, gerade an dieser Stelle sehr stark ver-
witterten Tegernsee-Münchener Hs. Cgm. 715, 4to bekannt, in welch
letztere noch ein in Freising erworbenes nur Str. 1 und Tenor enthaltendes
Bruchstück eingeklebt ist, endlich in alemannischer, teilweise recht ver-
derbter Fassung des 15. Jahrhunderts aus dem Berliner Mscr. germ,
fol. 1035.
48
Gebhardt-Oechsler :
Gedruckt ist der Text nach der Lambacher Handschrift von Haupt
und Hoffmann in den Altdeutschen Blättern 2, 314 (Leipzig 1840), so-
dann von F. Arn. Mayer und Heinr. Rietsch in den Acta Germanica
4, 511 (Berlin 1896) und zuletzt hiernach bei Wilhelm Jürgen s en,
Martinslieder, Breslau 1910, als Nr. 104, wo auch die Anmerkung zu
Nr. 104 die nötigen Nachweise bringt. Den Berliner Text bringt Johannes
Bol te, Alemannia 26, 74f.1).
Der Abdruck, den K[arl] S[imrock] auf S. 1—5 des Büchleins 'Mar-
tinslieder hin und wieder In Deutschland gesungen Yon Alten und von
Jungen ... in Druck gegeben säuberlich durch Anserinum Gänserich,
Bonn [1846]' mit der sehr richtigen Bemerkung 'Hier und da unverständ-
lich' geliefert hat, beruht jedenfalls auf demjenigen in den altdeutschen
Blättern; kann aber, weil ohne Quellenangabe und Anmerkungen, nicht
als Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen gebraucht werden.
Die Melodie zum ganzen Liede ist nach der Lambacher Hs. in den
Altdeutschen Blättern 2 auf einem vor Seite 311 eingefügten Blatte abge-
druckt, aber leider in moderne Noten umgesetzt, während sie in den alten
Zeichen, aber mit einer kleinen Korrektur und in Beschränkung auf die
Tenorstrophe bei Franz M. Böhme, Altdeutsches Liederbuch (Leipzig 1877)
5. 322 als Nr. 349 gedruckt ist2).
Nun sind aber unlängst in der Stadtbibliothek zu Windsheim von
den beiden Deckeln einer Papierhandschrift aus dem 1525 aufgehobenen
Augustinerkloster daselbst, enthaltend Sermones sacri de tempore
hi emali, die zwei Hälften eines Doppelblattes losgelöst worden, die
ebenfalls dieses Lied, aber ohne Überschrift, enthalten. Die Bruchstücke
sind uns von dem Entdecker, Herrn stud. hist, et germ. Friedrich Horn-
schuch freundlichst zur Veröffentlichung überlassen worden.
Da sowohl der Wortlaut des Textes als auch die Melodie von der
Uberlieferung in der Lambacher und der Münchener Handschrift etwas
abweicht, der Text übrigens an einigen Stellen besser zur Melodie passt,
so lassen wir zunächst den buchstaben- und zeichengetreuen Abdruck des
Textes, jedoch mit Auflösung der Abkürzungen, und der Melodie nach
der Windsheimer Hs. folgen und fügen einige Anmerkungen zu beiden
hinzu. Yorauszuschicken sind folgende Angaben.
Die Handschrift ist im allgemeinen wohl erhalten und gut lesbar.
Nur von dem durch die übrigen Hss. völlig gesicherten Worte un-
verczeit 1, 1 sind einige Buchstaben und Buchstabenteile, sowie die
darüber stehenden Noten = ° ^zzrpprzz: durch eine von einem Be-
schlägnagel verursachte Lücke zu Yerlust gegangen. Ein paar Noten sind
1) Nicht 27, 74ff., wie bei Jiirgensen Anm. zu Nr. 104 verdruckt ist.
2) Die bibliographischen Nachweise hat uns zum grossen Teile Herr Professor
Johannes Bolte geliefert, dem dafür der wärmste Dank ausgesprochen sei.
Die Windsheimer Handschrift.
49
— wahrscheinlich gelegentlich der Lostrennung der Blätter vom Deckel
mittels warmen Wassers — etwas verblasst, aber noch recht gut zu er-
kennen. Das Wort, das an der Stelle des vast der übrigen Hss. in
Strophe 3, 7 steht, ist durch Pliessen des grossen Anfangsbuchstaben un-
kenntlich geworden. Ich lese es für Soent. Aber was lieisst das1)?
Strophe 4, 1 zeigt der Text eine starktonige Silbe zu wenig. Es ist
ganz sicher das Wort naht der übrigen Hss. versehentlich ausgeblieben,
und wir haben es daher, wenn auch in eckigen Klammern, in den unten
folgenden Textabdruck eingesetzt.
Das Bruchstück besteht jetzt aus zwei nicht oder nicht mehr zu-
sammenhängenden Blättern aus Papier in mittlerem Folio, von denen eines
als Wasserzeichen eine heraldische Lilie trägt, ganz ähnlich derjenigen,
die Charles Moise Briquet2) aus Würzburger und Nürnberger Urkunden
nachweist, und ist von einer Hand des 15./16. Jahrhunderts beschrieben.
Der nicht von unserem Martinslied eingenommene Raum auf Blatt I sowie
beide Rückseiten enthalten — anscheinend von der gleichen Hand —
lateinisch-kirchliche Texte in Kurrentschrift mit Melodien, beides durch
starke Abkürzungen und viele Ligaturen schier unleserlich. An ein paar
Stellen der Ränder finden sich kaum lesbare Einträge; wie es scheint,
rechnerische Notizen.
Der Text des Martinsliedes ist auf den beiden Blättern so verteilt,
dass auf Blatt I unten die in der Wiener und den Münchener Handschriften
als 'Der Tenor' bezeichnete und zwischen die erste und zweite der vier
gleich gebauten Strophen eingeschobene ungleiche Strophe Seyt wille-
kumen steht bis zu den Worten 0-, während der Schluss,
trüncklein ein daz
von den Worten---a---^ G— an, auf Blatt II, ebenfalls unten, folgt.
vns vn-ser
Auf Blatt II oben steht zunächst Strophe 1 mit darüber gesetzter Melodie,
dann folgen die übrigen drei Strophen wie Prosa, nicht abgesetzt; nur
dass vor Str. 3 und 4 jedesmal das Zeichen steht.
Sollte aus dem Umstände, dass die Tenorstrophe in der Windsheimer
Handschrift ganz für sich, in der Berliner am Ende, in den übrigen aber
zwischen Str. 1 und 2 steht, nicht der Schluss zu ziehen sein, dass sie
den Refrain bildete, der nach jeder der vier unter sich gleichen Strophen
gesungen wurde?
Der Text und die Melodie der Windsheimer Handschrift lauten wie
folgt :
1) Sollte es etwa aus zu end entstellt sein und bedeuten 'endlich', 'also'?
2) Briquet, Les Filigranes, Paris und Leipzig 1907, 2, Nr. 6836. 6837.
Zeitsclir. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 1.
4
50
Gebhardt-Oechsler :
-I-
Windsheimer Handschrift.
i
ZÊ—-—□—-"g—-g—3—g—g—g—o-
j_j—g--©—
1. Wol-auf lie - ben ge - sel - Ieri vn-ver-czeit seit ge-meyt in der frew-den
-g--^ a--G>--S -
:Dz=¡-en
-g--©~
cleit, last sor - gen vnd auch leyt vns hat frew-den pracht Mar-tein der mil-
---g--o--g-
t~ tlZB—
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-0—Ö~E?—
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de man ge - seyt — "wir vnd vnß genossen die grossen
—g-- 1 _ {= J —=1
_p—2— ... a .. S »- » -HL ®_ „ - _E 1- tí g- - g —g—
- -* I 1
die cley - nen ge - may - nen sii! - len sein be - rayt die - weil vns die
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tí—~c—tí—g——tí—g——g—g"
-o—g:
S--E:
fia - sehen die kan - dein auz den vassen gu - ten wein her treyt geuz
2)
----B-
aus schenek ein.
il
^s— EP—C§=®.=®:
Seyt wil - le - ku - men her Mer - teyn liber
-n—e—
--g-—o—g"
zarter trawter herre mein schenck ein vns den wein sunder pein
g
-U--g___g__
rS=Ë=S
—^—9—g'~
daz wir ymmer selick müssen sein schenck vns ein guts triincklein
-tí—--g-
—S:—^rr~
n:g--=:^=:
ein, daz vns vn - ser wen - ge - lein wer - den veyn. Seyt wil - le-
F=£=^
F-g--
kumen her Mer - tein.
1) Hier ist in der Handschrift eine Lücke: diese wurde, da die beiden ersten Vers-
zeilen genau mit der Münchener Handschrift übereinstimmen, nach letzterer ergänzt.
2) Diese Note ist in der Handschrift radiert, aber noch lesbar.
Die Windsheimer Handschrift,
51
10
I. Wol auf lieben gesellen
unverczeit1)
seit gemeyt
in der frewden cleit
last sorgen vnd auch leyt
Yns hat frewden pracht
Martein der milde man geseyt
wir vnd vnß genossen
die grossen
die cleynen
gemaynen
süllen sein berayt
die weil vns die Haschen
die kandeln auz den vassen
guten wein her treyt
geuz auz schenck ein
II. Wir3) sullen yns frewen seyt
die schrift
guter gift
die vns allen tri ft
mit großen bechern schifft
keker truncke stift
zu beyden packen sam der pfeyft
auz weyten nassen krawsen
das pawsen
vnd nyphen
vnd snyphen
das vns die lebs entsliphen
wie nü her epel
her3) dyetel vnd her trepel
vb ir nun zugrift
geuz auz schenck ein
III. Wer nti wolle sein sand
Merteins gast
sorgen laßt
sey im als ein past
er zyh unmaßen vast
wenn er wöll gen rast
er sweb als vor dem wind ein ast
Soent so wöll wir trincken
daz hincken
die lungen
die czungen n
vnd vmb die wend gen tasten
Nu raych her den becher
vnd laz vns aber zechen
ob du icht mer hast
geuß auz schenck ein
IV. Das sand Merteins [naht]4) noch
werd volbracht
heint zu naht
so hab ich gedacht
daz hie vns werd gemacht
vnd auch hy her bracht
alles daz vnß hercze lacht
nii schib wir ein die gense
die flense
die kesten
die besten i<
vnd den külen wein
trag her bey vieren
die küten und die piren
ob sie gepraten sein.
geuß auz schenck ein. n
[Tenor ] Seyt willekumen her mertein
über zarter trawter herre mein
schenck ein
vns5) den wein
sunder pein ¡
daz wir ymmer selick müßen sein
schenck vns ein guts truncklein ein
daz vns vnser wengelein
werden veyn
Seyt willekumen her mertein. i<
Anmerkungen.
A. Zur Melodie.
Die Melodie zu dem Liede 'Von sand Marteins frewden' darf als eine ur-
sprüngliche, als eine Originalmelodie bezeichnet werden. Eigentliche Anklänge an
alte weltliche oder kirchliche Weisen sind — von einzelnen motivischen Ge-
staltungen abgesehen — soweit mir die einschlägige Literatur bekannt, nicht zu
1) Das letzte "Wort teilweise ausgerissen. — 2) Nach Wir noch ein zweites wir
über der Zeile eingetragen. — 3) Das erste h aus v korrigiert. — 4) Naht fehlt. —
5) s aus d korrigiert.
4*
52
Gebhardt-Oechsler :
finden. Die Melodie verdient Beachtung; sie erhebt sich an vielen Stellen zu
geradezu wirkungsvollen Steigerungen, insbesondere in ihrem zweiten Teil bei der
Textstelle: 'seyt willekumen', und diese musikalische Steigerung ist auch vor-
waltend bis zum Schlüsse der Melodie, der, wenngleich die Windsheimer Hand-
schrift die Textworte: 'Seyt willekumen' wiederholt, wohl bei der Textstelle
'Wangelein werden veyn' angenommen werden darf. (Vgl. in dieser Beziehung
die anderen Handschriften.) Da es mir möglich war, Einblick in die der
Münchener und der Wiener Bibliothek gehörigen Handschriften des gleichen Liedes
zu nehmen und die drei Handschriften zu vergleichen, vermag ich zu konstatieren,
dass diese in der alten Fassung der Melodie im ganzen übereinstimmen, wenn-
gleich sich an einzelnen Stellen teils kleinere, teils auch erheblichere Ab-
weichungen zeigen. Über die dem alten Liede zugrunde liegende Tonart be-
merke ich: die Melodie steht in der Hauptsache in der phrygischen Tonart. Es
mag auf den ersten Blick befremdend wirken, dass der Erfinder der Melodie bei
Vertonung des Textes zum phrygischen Modus griff, da doch jedem Kenner des
alten Tonartensystems bekannt ist, dass diese Tonart wegen ihres tiefsinnigen,
geheimnisvollen und düsteren Wesens sich zunächst zum Ausdruck der Klage
eignet und in diesem Sinne in der alten Zeit auch Verwendung fand. Allein es
sind bei unserer Melodie auch die tonartlichen Wendungen, die Beziehungen zu
anderen, meist heiteren Charakter tragenden Tonarten des alten Systems, also die
Modulationen in frischere Tonarten in Betracht zu ziehen. Und in dieser Be-
ziehung sind Modulationsrichtungen nach Tonarten, die freudigen Charakter tragen
(jonisch, selbst lydisch), deutlich erkennbar. Auch das Gebiet des dorischen
Modus wird berührt; dieser alte Modus trägt aber keineswegs düsteren Moll-
charakter, sondern ist „ein durch vorwaltendes Dur verklärtes Moll von grosser
Kraft." In der richtigen Verkettung der Tonarten liegt hiernach die Möglichkeit,
der phrygischen Tonart ein freundlicheres Gepräge aufzudrücken, und so konnte
sie sich sogar auch zum feierlichen Lobgesang, zum Te Deum laudamus, erheben.
B. Zum Texte.
Das Schema des Strophenbaues und der Reimstellung ist also für die vier
gleichen Strophen, wenn wir die Zahl der Hebungen, mit folgendem w klingenden,
ausserdem stumpfen Reim, mit a, b, c, d den Reim selbst, mit K ein sog. Korn,
d. h. einen durch die einzelnen Strophen gehenden Reim und durch vorgesetztes A
einen notwendigen Auftakt in klingenden Zeilen bezeichnen:
4 a 3 (y)
3 « b 2 ^ d
A 1 w b 3 ^ d
A 1 w c 3 a
A N c 2 K
Bei Zeile 11 findet sich keine volle Übereinstimmung: in Str. 1 hat sie den
Reim a, in 3 ebenfalls a, aber durch unbetontes -en zum klingenden Reim
verändert, wenn nicht statt tasten die Infinitivform der Würzburgnr Mundart tast
einzusetzen ist1); in Str. 2 bringt sie den vorhergehenden Reim c nochmals, und
in der vierten reimt sie, gleich der Zeile 14 (diese anstatt des Reimes a) auf den
Kehrreim.
5 a
2 a
O cl
O cl
3 a
1) Vgl. Zí'dMda. 5, 146 f. (1910).
Die Windsheimer Handschrift.
53
Für die Tenorstrophe — den Refrain — ist das Schema:
4 a
0 ä
1 a
1 a
1 a
4a oder wie die früheren Herausgeber lasen: 4a
4 a 2 a
4 a 3 a
la 4 a
4 a la
4 a
Abgesehen von der elften Zeile der gleichen Strophen, bei der keine durch-
gehende Gleichförmigkeit beabsichtigt zu sein scheint, lassen sich Abweichungen
der Windsheimer Hs. von den übrigen leicht bessern.
Str. 1, 5 wäre vielleicht — trotz der Übereinstimmung aller Hss. — reiner
Reim herzustellen durch Änderung von bracht in berait, d. i. bereitet.
Str. 2, 9—12 scheint mir die Windsheimer Hs. die richtige Lesart zu haben.
Einmal kann ich mir unter nymphen, entslimphen sowie hier unter
schimphen sprachlich nichts vorstellen, während mir nyphen und snyphen
sog. überverschobene Formen zu sein scheinen, das erstere zu nippen, das andere
mit Ablaut zu schnappen, und entsliphen ist selbstverständlich nichts anderes
als ungenaue Schreibung für entslüpfen. Ferner aber fügt sich Z. 12 mit dem
konsekutiven daz besser an das Vorhergehende an als mit dem und der Lam-
bacher Hs., während Z. 10 das Umgekehrte der Fall ist. Die drei Wörter paws en
'bauschen', d. i. Aufblähen (des Mundes oder des Leibes?), nyphen und snyphen
sind wohl substantivische Infinitive, abhängig von schift, d. i. schiftet 'austeilt'.
Endlich fügt sich auch die alte starke Pluralform lebs, mhd. lefse 'Lippen'
besser ins Versmass als die von Lamb, eingeführte zweisilbige schwache.
Str. 3, 11 scheint mir gleichfalls die Windsheimer Lesart mit ihrem gen
statt gent besser: der Infinitiv ist noch abhängig von dem vorhergehenden so
wel l wir.
Ebenso gefältt mir 4, 6 die Lesart der Windsheimer Hs. sowohl des Sinnes
wie auch des Metrums wegen besser — nur ist der für den veraltenden Genitiv
des eingesetzte Akk. daz sicher eine Neuerung des Schreibers.
Str. 4, 11 ist vielleicht die richtige Lesung herzustellen durch Aufnahme des
Artikels den aus Windsh. und der Konjunktion auch aus Lamb.
und auch den külen wein
ist entschieden der elften Zeile der übrigen Strophen metrisch am ähnlichsten.
Dagegen scheint mir 2, 6 Windsh. abgeändert zu haben: es hat hier die
fränkische Überlieferung das mitteldeutsch ausschliesslich übliche Wort backen
für das ihr ungewöhnliche oberdeutsche wangen eingesetzt, wogegen mir freilich
umgekehrt das s am in Windsh. ursprünglicher vorkommt als das als in Lamb.
Str. 4, 7/8 sind mir so, wie sämtliche Hss. überliefern, unverständlich, und
es ist vielleicht, wenn auch gegen alle Handschriften, mit Simrock flense und
gense umzustellen. Das ein die flense der Windsheimer Hs. dürfte dann
wohl ein früher Beleg für die heute in und um Würzburg, Rothenburg o. Taub. usw.
übliche Ausdrucksweise sein nei n Mund '(hinein) in den Mund'.
54
Gebhardt-Oechsler: Die Windsheim er Handschrift.
Denn so viel ist sicher: unsere Niederschrift ist fränkisch. Dafür zeugen
ausser dem Fundort und dem Wasserzeichen (vgl. oben S. 49) sprachlich das
Nebeneinander von i e und i für mhd. ie, z. B. Tenor i liber gegen lieben 1, i,
schib wir 4, r, zyh 3, 4, hy 4, s neben hie 4, 4 und die Wiedergabe von mhd.
uo durch einfaches u, von üe durch einfaches ü, z. B. guten 1, 14, guter 2, 2,
guts Tenor r; külen 4, 11, müßen Tenor 6, sowie das ö in wolle, wöll
3, 1. 5. 7.
Auch das vnß genossen 1,7 scheint mir die fränkische Gestalt des Possessivums
zu enthalten1).
Sprachlich wäre noch zu bemerken, was die früheren Herausgeber übersehen
zu haben scheinen, dass 2, 6 der Dichter wohl noch sprach pfift, was der Beim
erfordert und wie es die alemannische Mundart der Berliner Hs. auch bietet2).
Aus mhd. phîfet war zunächst durch oberdeutsche Synkope pfîft geworden, und
vor der Konsonantenverbindung ft war î zu ï verkürzt, also nicht diphthongiert
worden. Erst die spätere Überlieferung hat dann das analogische ei eingeführt.
Sollte etwa die Rasur der letzten Note über dem Worte willekumen — vgl.
oben S. 50 — anzeigen, dass der Schreiber der Windsheimer Hs. die Lautgruppe
kumen noch nach mhd. Weise mit 'Verschleifung' als éine Silbe empfand?
Was noch bezüglich der Textgestalt das Verhältnis der Windsheimer zu den
übrigen Handschriften anlangt, so scheint mir der Windsheimer Text am nächsten
zu stehen dem Bruchstück des 14. Jahrhunderts, das aus dem Besitze des Frei-
singer Antiquars Motzler stammte und in Cgm. 715 eingeklebt ist. Auch dieses
liest 1,7 vnß genossen. Der vermeintliche schwache Akkus, vns allen der
Windsh. Hs. 2, 3 geht vielleicht auf eine Vorlage zurück, die gleich dem Frei-
singer Bruchstück las: vns al an tri ft. Endlich teilt Windsh. mit Freis. die
Lesart Tenor 9: schenck vns ein guts trüncklein ein, wo die früheren
Herausgeber nach der Lambacher und, soweit der gerade hier arg beschädigte
Zustand erkennen lässt, auch der Tegernsee!' Handschrift lesen: schenckh vns
ein / ein guetes trunckchelein.
Dagegen liest allerdings das Freisinger Bruchstück in Tenor 6 mit der
Tegernsee-Münchener Handschrift ir .... müesset, während die Lambach-
Wiener Ir . . . müesset aus wir . . . müessen korrigiert hat.
Fassen wir das Ergebnis dieser textlich-sprachlichen Anmerkungen
zusammen, so scheint mir der Windsheimer Text trotz seines geringsten
Alters dennoch an allen Stellen, mit einziger Ausnahme von Strophe 2
Zeile 6, den Vorzug vor den anderen Fassungen zu verdienen.
Erlangen.
1) Paul, Mhd. Gramm., § 151 Anm.
2) Sonst konnte Boites Textabdruck nach dieser Handschrift mit ihrer meist sehr
sorglos entstellten Textgestaltung nichts erbringen.
Carstens: Volksglauben und Volksmeinungen aus Schleswig-Holstein.
55
Volksglauben und Volksmeiuungen aus Schleswig-
Holstein.
Von Heinrich Carstens f.
(Vgl. oben 20, 382. 23, 277.1
8. Haus und Herd.
1. Wer im Alter anfängt, ein Haus zu bauen, muss bald sterben (Gegend
von Husum). — 2. Von einem Bauplatz muss man zuerst die Fruchterde ent-
fernen, bevor man ein Haus darauf baut (Nindorf b. Hohenwestedt). — 3. In die
neue Wohnung wird zuerst Salz und Brot getragen (allgemein). — 4. Kommt ein
Kind zum ersten Male in ein Haus, so muss man ihm ein Geschenk, etwa ein
Stück Brot oder Backwerk geben (Feddring in Dithm.). — 5. Bei jedem Besuch in
einem Hause muss man sich nach erhaltener Aufforderung setzen; sonst nimmt
man den Kindern des Hauses die Ruhe fort (Süderstapel in Stapelholm). In
Dithmarschen heisst es: Setzt man sich nach erhaltener Aufforderung nicht, so
nimmt man dem Hause die Ruhe fort. — 6. Wird zu Möbeln 'windbraken' Holz,
d. i. Holz vom Winde abgebrochen, verarbeitet, so knacken diese (Drage in
Stapelholm). — 7. Wenn die Uhr schlägt, darf man den Mund nicht verziehen,
da der dann so stehen bleibt (Dahrenwurth bei Lunden). — 8. Ein Funke am
Licht bedeutet für die nächste Zeit einen Brief (Dithm.). — 9. Hat das Licht
einen hellen Kopf, so kommt Besuch (Norderdithm.). — 10. Wenn die Lampe
flackert, gibt es einen Brief (Kellinghusen a. d. Stör). — 11. Wenn bei einem
Zündholz zwei Mann die Pfeife anzünden können, so leben sie noch ein Jahr zu-
sammen (Dithm.). — 12. Die Pfeife darf man nicht bei einem Licht anzünden
(Dithm.). — 13. Wenn ein Messer niederfällt und senkrecht im Fussboden stecken
bleibt, so gibt es Besuch (Kuden bei Burg). — 14. Fallen beim Öffnen der Ofentür
Kohlen aus dem Ofen und rauchen, so kommt Herrenbesuch (Angeln). — 15. Eine
Bettstelle muss mit dem Fussende nach der Tür hin stehen (Lübeck). — 16. Stets
muss man sich rücklings ins Bett legen (Angeln). — 17. Passt man einen
Schlafenden, der im Schlafe spricht, an die grosse Zehe, so gibt er auf jede an
ihn gerichtete Frage Antwort (Schwienhusen bei Delve). — 18. Wenn das Schüssel-
wasser (Wasser zum Schiissel-aufwaschen) kocht, ist eine heimliche Braut im
Hause (Dithmarschen).
9. Arbeit und Mahlzeit.
1. Das angeschnittene Brotende darf nicht nach dem Fenster und nicht nach
der Tür hinzeigen; dann geht die Nahrung (der Segen) fort (Osdorf bei Gettorf
im Dänischenwohld). — 2. Der Knust darf nicht aufgegessen werden, bevor ein
neues Brot wieder im Hause ist (Osdorf im Dänischenwohld). — 3. Der Knust
darf nicht weggegeben werden (Feddring in Dithm.). — 4. En olen Knust holt
Hus (Schütze, Holsteinisches Idiotikon 2, 309). — 5. Den ersten Knust vom Brote
56
Carstens:
nennt man Tachknust, den letzten Brummknust (Drage in Stapelholm). — 6. Ein
Brot darf man nicht auf den Rücken legen (Osdorf). — 7. Ist im Brote ein Loch,
so hat der Bäcker seine 'Seele' da hinein gebacken (allgemein). — 8. Auf das
Brot macht man ein Kreuz (Dithm.). — 9. Beim Ansäuern muss man drei Kreuze,
mindestens doch ein Kreuz auf den Teig machen; sonst kommen die Hexen
dabei (Dithm., Stapelholm). — 10. Ist das Brot an der Seite gerissen, so gibt es
Arbeit (Sehestedt in Südschleswig). — 11. Ist das Weissbrot an der Seite aus-
gelaufen, so werden Gäste kommen und mit davon essen (Schwienhusen bei Delve
in Dithm.). — 12. Hat das Brot einen Mund, so werden Gäste mit davon essen
(Feddring in Dithm.). — 13. Sobald das Brot in den Ofen geschoben, muss man
den Tisch, worauf es gelegen, rasch rein waschen (Feddring). — 14. Ist das
Brot in den Ofen geschoben, so muss man laut aufjauchzen, in die Hände
klatschen und sprechen: 'Nu lach, Kathrin!' Dann gerät es (Dahrenwurth bei
Lunden). — 15. 1st das Brot in den Ofen geschoben, so spreche man: 'Uns
Härgott segn' dat Brot in'n Ab'nd' (Ofen). Oder:
„Dat Brot is in'n Ab'nd,
Uns Härgott is dar bab'n;
Un all, de dar vun ät,
Dat de era nicht vergilt."
(Osdorf bei Gettorf im Dänischenwohld). — 16. Die Brotkrumen vom Tische darf
man nicht an die Erde schütten (Lunden). — 17. Wem die Zähne weitläufig
stehen, muss sein Brot auch weitläufig (d. i. weit in der Fremde) suchen (Drage
in Stapelholm). — 18. Kommt während des Butterns jemand dazu und sagt: 'Dat
is en schön Vatt Melk' oder: 'Das is en schön Stück Botter', so muss man ihm
gleich erwidern: 'Wenn din grot Muul ni weer, so weer et noch beeter'. Unter-
lässt man dies, so läuft man Gefahr, dass die Butter überrufen wird. Man buttere
dann, so lange man will, die Butter schäumt und stinkt, oder gibt weniger, als
sonst (Schütze 1, 144). — 19. Kann man nicht buttern, so muss man 'raden';
hilft das nicht, so — verrichte man seine Notdurft ins Butterfass und werfe alles
durcheinandergerührt in die Schweinedranktonne (Schütze 2, 144. 3, 269). —
20. Die Butter darf man nicht übermässig loben (överropen); sie gedeiht nicht
(Schütze 3, 306). — 21. Man stelle das Butterfass nicht unter einen Balken
(Lunden). — 22. Auf der Stelle, wo das Butterfass stehen soll, mache man ein
Kreuz (Drage in Stapelholm). — 23. Man lege unter das Butterfass, wenn man
nicht abbuttern kann, einen Sargnagel (Feddringen in Dithm.). — 24. Ist das
Butterfass behext, so fahre man mit einer glühenden Stange in dasselbe; dann
brennt man die Hexe (Drage). — 25. Um die Butter vor dem Behexen zu schützen,
binde man einen Zwirnsfaden, und zwar unter dem Eisenband, um die 'Karrn'.
Die Hexen zählen jedesmal die Bänder, und wenn dann ein Band mehr -um das
Fass ist, so haben sie die Gewalt über dasselbe verloren (Lunden). —
26. Das Dreschen des Korns am Sonnabend bringt Segen (Schütze 2, 241). —
27. Am Weihnachtsabend muss gedroschen werden und dem Yieh, damit es fürs
folgende Jahr gedeihe, von dem gedroschenen Stroh etwas gegeben werden
(Schütze 2, 241). — 28. Beim Bierbrauen muss man ein Kreuz von Holz über
den Gärkübel anbringen und auf jedes Ende etwas Salz legen, so kann keiner
den Gest rauben und das Bier kann nicht verrufen werden (Schütze 2, 29). —
29. Wenn gebraut werden soll, so stellen Brauer einen Querbaum in ihre Tür,
damit niemand, der sich unrein weiss, ins Haus laufe und den Brau verderbe
(Schütze 4, 43). — 30. Was an 'drögen Dagen', nämlich am Mittwoch, Freitag
Volksglauben und Volksmeinungen aus Schleswig-Holstein.
57
und Sonnabend gesät oder gepflanzt wird, gedeihet nicht (Schütze 2, 201). —
31. Was an einem hochheiligen Tage, als am Stillfreitag, am 1. Ostertag usw.
gesät oder gepflanzt wird, gedeiht nicht (Lehe bei Lunden). — 32. Was zwischen
Weihnacht und heil, drei König gesponnen wird, missrät (Schütze 4, 171). —
33. Gesponnen und gewaschen darf in den Zwölften nicht werden (Dithm.). —
34. Was abends nach Uhr 12 gesponnen wird, gerät nicht (Wilster Marsch.
Schütze 4, 171). — 35. Wenn eine Näherin sich beim Nähen eines Kleidungs-
stücks in die Finger sticht, so dass das Blut danach fliesst, so wird diejenige,
die das Kleid tragen wird, Glück darin haben (Lunden). — 36. Wenn ein Mädchen
sich beim Nähen ihres Hemdes sticht, so dass Blut fliesst, so wird sie in dem
Hemde geküsst werden (Schwienhusen bei Delve). — 37. Beim Einschiachten
darf man keinen wunden Pinger haben; dann verdirbt das Fleisch (Siiderstapel
in Stapelholm). — 38. Beim Eieressen muss man ja die Schalen entzweischlagen,
damit keine Hexen darin wohnen (Schütze 3, 194). — 39. Saftausdrücken darf
nur eine gesunde Person; sonst kann der Saft nicht aufbewahrt werden (Süder-
stapel in Stapelholm). — 40. Den Kehricht darf man nicht über die Türschwelle
hinwegfegen; sonst fegt man das Brot hinaus (Süderstapel; Stadt Schleswig). —
41. Beim Ausfegen darf man niemanden anfegen, da man der Person dann das
Glück wegfegt (Marne in Süderdithm.). — 42. Beim Lichtziehen muss gelogen
werden (Schütze 3, 33; Heimat 12, 67). — 43. Wer beim Bettzeugrecken und
Zusammenlegen desselben die Mitte nicht treffen kann, heiratet einen Witmann
(Stadt Schleswig). — 44. Wenn es beim Zeugrecken und Zusammenlegen genau
einläuft, d. h. die Enden genau zusammentreffen, so heiratet die betreffende Person'
einen Witwer (Stadt Schleswig). — 45. Dem Fischer darf man, wenn er auf den
Fang ausfährt, kein Glück wünschen (Delve in Dithm.). — 46. Wer beim Essen
des Federviehs den Brustknochen bekömmt, fasst das eine Ende an, während sein
Tischnachbar das andere anfasst, und indem nun beide sich etwas wünschen,
zieht ein jeder an seinem Ende; derjenige nun, der, wenn es auseinanderreisst,
das grössteEnde erhält, dessen Wunsch geht in Erfüllung (Kellinghusen a. d. Stör).
— 47. Liegt ein Messer auf dem Rücken, so gibt es Nahrungssorgen oder einen
scharfen Tag (Osdorf bei Gettorf im Dänischenwohld). — 48. Liegt ein Messer
auf dem Rücken, so gibt es Leibschmerzen (Schwienhusen bei Delve). —
49. Liegt ein Messer auf dem Rücken, so reiten die Hexen darauf. Daher auch
die Redensart: 'Dat Meß is so stuv, dar kann en old Wief mit'n Bloten op riden
na 'n Blocksbarg'. Oder: 'Dar kann en Hex op na 'n Blocksbarg rieden' (Lunden).
— 50. Liegt ein Brotmesser auf dem Rücken, so geht die Nahrung fort (Lunden).
— 51. Liegt ein Messer auf dem Rücken, so schneidet es den lieben Herrgott,
oder sticht ihm die Augen aus (Wesselburen). — 52. Liegt ein Messer auf dem
Rücken, so gibt es Streit (Kellinghusen a. d. Stör). — 53. Eine Harke darf man
nicht mit den Zinken nach oben tragen; sie sticht dann dem Herrgott die Augen
aus (Drage in Stapelholm). — 54. Was ein Kind in der Schule auswendig gelernt
hat, darf es nicht im Freien laut aufsagen, da es dann 'hartlehrig' wird (Dahren-
wurth bei Lunden). — 55. Buttermilch trinken macht träge: Wenn de Karrnmelk
küinmt, so nimmt de Lenz Lüde an (Schütze 3, 26). — 56. Wer im Dunkeln
einen Dienst antritt, hält nicht lange aus (Dithm.). — 57. 1st man bei fremden
Leuten und verschüttet schon den ersten Tag Salz, so gibt es Streit (Feddringen
in Dithm., Angeln). — 58. Wer Salz verschüttet, muss soviel mal an der Himmelstür
vorbeigehen und anklopfen, als er Salzkörner verschüttet hat, bevor er hinein-
kommt (Dahrenwurth bei Lunden). — 59. Wer falsch gewogen oder gemessen
hat, muss ewig stehen und wägen und messen (Dithm.). — 60. Mit dem Umrühr-
58
Carstens:
löffei darf man nicht auf den Grapenrand schlagen, da dann das Essen anbrennt
(Süderstapel in Stapelholm). — 61. Mit einem Messer darf man kein Getränk um-
rühren; dann bekömmt man Leibschmerzen (Feddringen). — 62. In einer Tee-
gesellschaft muss man erst Zucker und dann Rahm nehmen; nicht umgekehrt
(Lunden. Angeln). — 63. Wenn Teekraut auf der Tasse schwimmt, so kömmt
Besuch. Ist das Kraut hart, so ist der Kommende kein guter; wenn weich, dann
ist er gut. Oder: Ist der Teestengel hart, so ist der Kommende eine männliche
Person; ist er weich, so eine weibliche (Dithm). — 64. Beim Flachsbrechen muss
der letzte Flachs verbrennen (Feddringen). — 65. Der Leinsame muss aus einer
Schürze gesät werden; und ist man mit dem Säen fertig, so muss man die Schürze
hoch in die Luft werfen; dann wird der Flachs recht lang (Schwienhusen bei
Delve). — 66. Kartoffeln müssen bei zunehmendem Mond gepflanzt werden; bei
abnehmendem Mond gepflanzt, gedeihen sie nicht (Kellinghusen a. d. Stör). —
67. Was am Osterabend gesät oder gepflanzt wird, gedeiht nicht (Lehe bei
Lunden). — 68. Das Erste und Letzte, was ein Mensch sät oder pflanzt, gedeiht
am besten (Feddring in Dithm.). — 69. Kohlsamen muss man am Abend des
25. März (lev Fruen, unse leven Fruen) nach Sonnenuntergang säen; der erfriert
nämlich nicht (Dithm.). — 70. Sollen die Vögel die gelegten Erbsen nicht ver-
zehren, so nehme man zwei in den Mund und lege die eine zuerst an das eine
Ende und die andere zuletzt an das andere Ende des Beets (Lehe bei Lunden). —
71. In der Galluswoche (16. Oktober) darf man keinen Roggen säen (Dithm.). —
72. St. Vitus (15. Juni) darf man keine Gerste säen; denn: Vietsgast ist Schiet-
gast! (St. Vitusgerste taugt nichts. — Feddringen). — 73. St. Urbans (25. Mai)
darf man keinen Buchweizen säen (Dithm.). — 74. Herbstrüben müssen St. Mar-
gareten (13. Juli) gesät werden; denn:
Wer Harströben will geneten,
De mut se sain St. Magrethen
(Feddringen).
10. Zeiten.
1. Am Neujahrstage darf man kein Geld ausgeben; sonst hat man das ganze
Jahr hindurch nichts (Gegend von Breklum, Nordfriesland). — 2. Lichtmess muss
man fertig sein mit dem Dreschen; dann heisst es:
Dör tosnappt
Un to Bett stappt.
Licht wird dann nicht mehr angezündet; und weil man das Licht 'missen muss,
ist der Tag 'Lichtmess' genannt (Drage in Stapelholm).
3. Lichtmeß is 't heten:
schast dat Fuer utgeten,
de Dör tosnappen
un int Bett stappen
(Klaus Groth, Gesammelte Werke 3, 119 in der Erzählung 'Witen Slachters'). —
4. Zu Lichtmess legt man einen Büschel Heu auf den Düngerberg; weht dieser fort,
so ist das ein gutes Zeichen; bleibt er liegen, so nehme man ihn wieder mit
hinein, da man ihn noch gebrauchen muss (Drage in Stapelholm; Lehe bei Lunden).
— 5. Lichtmess helle Luft bringt kein gutes Jahr (Feddringen). — 6. Weht es
St. Blasius (3. Febr.), so gibt es im Jahr viel Wind (Drage).
Volksglauben und Volksmeinungen aus Schleswig-Holstein.
59
7. Wat 't Aschermittwoch deit,
so de ganze Fastentid hendör steit
(Drage). — 8. Fass'lab'nd kumt en hitten Steen in'e Eer (Dithra.). — 9. Fass'lab'nd
fallt en hitten Steen in't Water (Hansen, Charakterbilder S. 11). — 10. St. Peter
sinkt en heeten Steen in't Water (Schütze, Holsteinisches Idiotikon 3, 207). —
11. Friert es Matthiasnacht, so friert es noch 40 Nächte (Dithm.). — 12. Am
Ostermorgen tanzt die Sonne; auch ist ein Lamm in der Sonne zu sehen (Dahren-
wurth bei Lunden). — 13. Am Osterabend werfen die Mädchen Eierschalen vor
die Tür; den Beruf des Mannes, der dann zuerst vorübergeht, wird der Zukünftige
haben (Gegend von Husum). — 14. Woher am Ostermorgen der Wind weht,
daher weht er sechs Wochen (Bergewöhrden bei Delve). — 15. Wenn es in der Nacht
vom 11. auf den 12. Mai friert, so friert es noch 40 Nächte (Lunden). — 16. Regnet es
am Siebenschläfertag (27. Juni), so regnet es sieben Wochen (Dithm.) — 17. Regnet
es St. Margareten (13. Juli), so werden die Nüsse taub. Magreth pisst in'e Nöt
(Schütze 3, 81). — 18. Wenns am Margaretentag regnet, so regnet es vier
Wochen (Schütze 3, 81). — 19. Am 14. Juli ist Judas Ischariots Geburtstag.
Wer an diesem Tage geboren ist, dem wirds nicht gut gehen (Kleinsee bei
Bergenhusen in Stapelholm). — 20. Nach Jakobi (25. Juli) muss man nach Osten
sehen, ob dort eine Bank (Wolke) sitzt; ist das der Fall, so wird es am andern
Tage regnen (Feddringen). — 21. Regnet es 'Peter Kett' (1. August), so regnet es
vier Wochen (Dithm). — 22. Egidi (1. Septbr.) geht der Hirsch 'op'n Brunn', d.h.
in die Brunst; regnet es dann, so regnet es vier Wochen (Dithm.). — 23. Weisse
Weihnachten, grüne Ostern; grüne Weihnachten, weisse Ostern (allgemein). —
24. Alle söben Jahr en Flöhjahr, alle söben Jahr en Rupenjahr, alle söben en
Käver- (Seve-) Jahr (Schütze 2, 182).
11. Wetter.
1. Wenn der Kuckuck lacht, so wird es regnen (Dahrenwurth bei Lunden). —
2. Wenn die Fische im Wasser stark plätschern, so wird es regnen (Dithra.). —
3. Liegt eine Harke auf dem Rücken, so wird es regnen (Dahrenwurth). —
4. Wenn die Enten im Wasser viel Lärm machen und rufen: 'Natt, natt', so wird
es regnen (Drage in Stapelholm). — 5. 1st das Feld mit Spinngeweben bedeckt,
so wehen oder regnen sie binnen drei Tagen ab (Drage). — 6. Wenn der Wind
auch nachts weht und nicht zu Bett geht, so wird es regnen (Drage). — 7. Wenn
es beim Sonnenschein regnet, so hat der Teufel seine Grossmutter auf der Bleiche,
oder es kommt ein Schneider in den Himmel (allgemein). — 8. Abendrot makt't
Well'r got; Morgenrot bringt Wat'r in'n Sod (Brunnen) (Dithm.). — 9. Abendrot,
Morgen god, Morgenrot bringt Water in'n Sod (Schütze, Holsteinisches Idiotikon
4, 159). — 10. Wenn der Fussboden, die Steine, das Salz nass sind, so gibt es
Regen (allgemein). — 11. Wenn die Hunde stinken, wirds regnen (allgemein). —
12. Frisst der Hund Gras, so wird es regnen. — 13. Wenn die Kinder beim
Spiel laut schreien, so wirds bald regnen (Dithm.). — 14. Ostwind mit Smut un
Reg'n, steit he dre Dag, steit ok näg'n (neun). — 15. Wenn es Freitags anfängt
zu regnen, so regnet es die ganze Woche (Drage). — 16. Wenn es unter der
Predigt regnet, so regnet es die ganze Woche (Lunden). — 17. Wenn die Schweine
mit Stroh schleppen, so wird es regnen (Dithm.). — 18. Entstehen beim Regen
Blasen auf dem Wasser, so gibt es noch viel Regen (Friedrichstadt a. d. Eider).—
19. Wenn es zwischen 10 und. 11 Uhr vormittags regnet, so regnet es den ganzen
Tag (Dithm.). — 20. Wenn das Schweinefutter gärt, so wird es regnen (Kelling-
60
Carstens :
husen a. d. Stör). — 21. Auf 'Rugriep' (Rauhreif) folgt Regen in wenig Tagen
(Drage). — 22. Wenn mehrere Frauen beisammenstehen (in der Nähe einer Haus-
ecke?), so wird es sicher regnen (Sehestedt im siidl. Schleswig). — 23. Liegt der
Mond auf dem Rücken, so fährt er zu Boot; liegt er schräge und zeigt mit der
Spitze nach vorne über, so giesst er Wasser aus; steht er steil, so ist er auf dem
Trocknen (Drage). — 24. Ein Donnerstagsmonat, d. i. ein Monat, der mit einem
Donnerstage beginnt, ist vorbedeutend für das Wetter des betreffenden Monats
(Kellinghusen). — 25. Wenn ein Butterbrot mit der Butterseite nach unten fällt,
so wird es regnen (Dithm.). — 26. Krait de Hahn to Stohl, so regnt dat morra
en grot'n Pool. (Kräht der Hahn auf der Stiege, so wird es am andern Tage
tüchtig regnen) (Delve in Dithm.). — 27. Wenn der Hahn abends kräht, so gibt
es Regen (Kellinghusen). — 28. Wenn der Hahn abends oder nachts auf dem
Reck (Stiege) kräht, so ändert sich das AVetter (Dithm.). — 29. Wenn die Schwalben
tief fliegen, so gibt es Regen; wenn sie hoch fliegen, so wird es schönes Wetter
(Dithm.). — 30. Wenn die Schnecken umherkriechen und Erde auf dem Schwanz
haben, so wird es regnen (allgemein). — 31. Wenn Sonntags während der Predigt
die Sonne auf die Kanzel scheint, so wird es die ganze Woche gutes Wetter
(östl. Holstein). — 32. Wenn es Freitags gutes Wetter ist, so ist es auch Sonn-
tags gutes Wetter, und umgekehrt (Dithm.). — 33. Ist mittags alles rein auf-
gegessen, so wird es den andern Tag gutes Wetter (allgemein). — 34. Ostwind
deutet auf eine trockne Zeit. Ostwind mag man gern haben bei der Bohnenernte
im Herbste, weshalb man einen anhaltenden Ostwind auch 'Ostubohnârn' (Osten-
bohnenernte) nennt (Dithm.). — 35. Wie das Wetter am dritten Tage nach dem
Neumond ist, so bleibt es bis zum nächsten Neumond (Dithm.). — 36. Wenn es
friert, so friert es immer Donnerstags am stärksten (Drage in Stapelholm). —
37. Ist der Brustknochen einer gebratenen oder gekochten Gans weiss oder dunkel,
so gibt es entweder einen heftigen oder einen gelinden Winter (Schütze 2, 51). —
38. Wenn der Flieder (Hollunder) stark blüht, gibts einen strengen Winter
(Dithm.). — 39. Wenn eine Schlange einen quackenden Ton hören lässt, so gibt
es eine trockne Zeit (Dithm.). — 40. Wohin eine Windhose (plattd. Küsel) geht,
daher kommt nach drei Tagen der Wind (Drage). — 41. Streifen in der Luft
verkünden Wind; man nennt sie daher Windstreifen (allgemein). — 42. Wenn
die Hühner stark schreien, gibt es Wind (Dithm.). — 43. Wenn die Katze niest,
so wird es schneien (Stapelholm). — 44. Wenn die Katze prustet, so wird es
morgen gutes Wetter (Schütze 2, 236. 3, 237). — 45. Wenn das erste Gewitter
im Frühjahr über kahle Bäume geht, so gibt es im Sommer viele Gewitter (Sehe-
stedt im südl. Schleswig). — 46. 'Lait' (= wetterleuchtet) es zur Zeit, wo der
Buchweizen blüht, «o wird dieser taub (Stapelholm). — 47. Wo ein Donnerstein
(versteinerter Seeigel) im Hause ist, schlägt der Blitz nicht ein. Vielfach hat man
solche auf Blumentöpfen liegen (Stapelholm). — 48. Beim Gewitter legt man einen
Donnerstein auf den Tisch (Dithm.). — 49. Bei einem Gewitter muss man fromme
Lieder singen, und bei einem heftigen Donnerschlag muss man sprechen: 'Help
Gott Jesus Christus!' (Schütze 2, 58). — 50. Ein Himmelsbrief im Hause schützt
das Haus gegen Blitzschlag (Lunden). — 51. Man nimmt sechs Zwiebeln, schneidet
diese in der Mitte durch, höhlt sie aus und füllt in die Höhlungen Salz. Diese
Zwiebelstücke stellt man nun in den Zwölften nach der Reihe der Monate an
einen trocknen Ort. Die Zwiebelstücke, in denen das Salz trocken bleibt, geben
die trocknen Monate des Jahres an, während diejenigen, in denen das Salz zur
Soole geworden ist, die feuchten Monate des Jahres erkennen lassen (Kleve in
Norderdithmarschen). — 52. In den Zwölften wird der Kalender gemacht
Volksglauben und Volksmeinungen aus Schleswig-Holstein,
61
(Dithm.). — 53. Sind die Kühe nachts im Felde unruhig, so gibt es am nächsten
Tage ein Gewitter (Dithm.). — 54. "Wenn die Schafe einander stossen, so wird
es anderes Wetter (Dithm.). — 55. Ein schmutziger Storch deutet auf Regen;
ein weisser oder sauberer auf trocknes Wetter (allgemein).
12. Tiere.
1. Ein Pferd ist als Füllen neun Tage blind; daher kann es im Dunkeln neun
Schritte voraus sehen (Drage in Stapelholm). — 2. Wenn die Pferde nicht ge-
deihen, so hole man einen Totenkopf vom Kirchhof und vergrabe ihn im Pferde-
stall (Schütze, Holsteinisches Idiotikon 3, 201). — 3. Halten die Pferde in der
Neujahrsnacht den Kopf hoch, so kommen sie im nächsten Jahr vor den Braut-
wagen, wenn niedrig, vor den Leichenwagen (Lunden). — 4. Einen Ziegenbock
im Stalle frei im Stalle umherlaufen lassen, schützt gegen Krankheit der Pferde
(Feddringen in Dithm.). — 5. Reitet man zu Markte, um ein Füllen zu verkaufen
und das Füllen will nicht von der Hofstelle, so wird es nicht verkauft (Feddringen).
— 6. Die Nachgeburt von einer Stute hängt man in einen Baum, da dann das
Pferd den Kopf hoch tragen wird (Schwienhusen bei Delve in Dithm.). —
7. Ins Wasser darf die Nachgeburt nicht kommen, da das Füllen dann später
ertrinken wird (Feddringen). — 8. Wird im Frühjahr das Vieh auf die Weide
getrieben, so lege man ein Beil auf die Stalltürschwelle und lasse das Vieh eins
nach dem andern darüber hinwegschreiten. Gut Gedeihen bringt es dem Vieh,
wenn es das Beil nicht berührt, Missgedeihen aber, wenn es daran stösst (Tielen
und Drage in Stapelholm). — 9. Man bindet dem Vieh, wenn es im Frühjahr auf
die Weide gebracht wird, 'Düwelsdreck' (Assa foetida) in den Schwanz (Schütze
I, 278. 4, 157). — 10. Wenn das Vieh auf die Weide gebracht wird, reibe man
ihm Salz zwischen die Hörner, so kann es nicht verrufen werden (Schütze 4, 157). —
II. Sonntags darf man kein Vieh auf die Weide bringen (Feddringen). — 12. Vor
dem Austreiben gab man früher dem Vieh einen gesalzenen und in Teer ge-
tauchten Hering ein (Heide). — 13. Wird das Vieh auf die Weide gebracht, so
legt man einen Besen vor die Stalltür und lässt es darüber hinwegschreiten
(Krempel bei Lunden). — 14. Bringt man das Vieh auf die Weide und man will
verhüten, dass es nicht von der Weide fortlaufe, so ziehe man es an einem
(neuen?) Strick hin, und zu Hause angekommen, verstecke man diesen an einem
Platz, wo weder Sonne und Mond scheint; dann kommt das Vieh nicht nach
Haus (Preil bei Lunden). — 15. Beim Austreiben der Kühe muss man den Strick
unter dem 'Heck' (Tor) vergraben; dann läuft das Vieh nicht aus (Lehe bei
Lunden). — 16. Wenn eine Kuh zum ersten Male gekalbt hat, so muss eine reine
Jungfrau dreimal unter ihr durchkriechen, und zwar stillschweigend, so steht sie
gut (Schütze 2, 313). — 17. Auch überstreiche man die Kuh dreimal mit einer
Handvoll Futter schweigend vom Nacken bis an den Schwanz und lasse es hinter
ihr niederfallen (Schütze 2, 313). — 18. Einer kalbenden Kuh hänge man einen
Himmelsbrief um (Dahrenwurth bei Lunden). — 19. Hat eine Kuh gekalbt, so
gebe man ihr eine Sechlingsschale1) voll Branntwein mit Brotkrume (Drage in
Stapelholm). — 20. Einer Kuh gebe man nach dem Kalben drei 'Schrap'2) vom
Teekessel ein (Dahrenwurth). — 21. Will eine Kuh die Nachgeburt nicht lassen,
1) Eine Schale, die früher einen Sechsling (3J/2 Pfg- an Wert) kostete.
2) Soviel schwarzer Rost, als man in drei Malen mit einem Messer von den schwarzen
Stellen des Teekessels abschaben kann.
62 Carstens: Volkglauben und Volksmeinungen aus Schleswig-Holstein.
so stehle man drei Kohlbüschel und gebe sie der Kuh ein (Schwienhusen bei
Delve). — 22. Sobald eine Kuh gekalbt hat und die Nachgeburt noch nicht fort
ist, so stelle man die Mistforke hinter das Tier verkehrt um (Wesselburen.
Christiansholm b. Hohn im südl. Schleswig). — 23. Den Hamen hängt man hoch
in einen Baum, damit kein Hund dabei kommen kann; sonst hat das Vieh kein
Gedeihen (Dithm.; vgl. Schütze 2, 96). — 24. Beim Viehstapel ist die Zahl 13
eine Unglückszahl. 7, 14, überhaupt alle Zahlen, die durch 7 teilbar, sind glück-
bringend für den Viehstapel (Drage). — 25. Einen Wiepeldorn1) an dem Stall-
türständer befestigen, schützt das Vieh gegen Krankheit (Nindorf bei Hohen-
westedt). — 26. "Wenn eine Kuh auf das Fuel2) wässert, so tut sie es jedesmal,
wenn man gerade melken will (Lehe bei Lunden). — 27. Gegen das Behexen des
Viehes muss man in einen Balkenständer Teufelsdreck stecken (Kellinghusen). —
28. Will eine Kuh nicht rindern, so gebe man ihr einen Schrapstuten (den letzten
Teig aus dem Backtrog); am dritten Tage rindert sie (Schütze 2, 313). —
29. Kauft man Kühe (Schweine, Schafe) von jemand, dem man nicht recht traut,
so gebe man ihm unvermerkt einen Schilling über den bedungenen Preis, so kann
er das Gedeihen nicht hindern. Tut er es dennoch, so gebe man ihm einen
Verweis; sagt er dann: 'Gah man hen, et gift sik', so hat man Hoffnung, dass das
Vieh gedeihe. Hilft auch das nicht, so muss man das Vieh 'raden' lassen oder
es verkaufen; denn sobald das Vieh in die dritte Hand kommt, so kann ihm der
Beschwörer nichts anhaben (Schütze 2, 313. 3, 269). — 30. Gibt man der Kuh
geschnittenes Futter, so spucke man dreimal ins Gefäss, woraus sie fressen soll
(Schütze 2, 313). — 31. Will eine Quie beim Melken nicht stehen, so lege man ihr
eine Männerhose hinten auf den Rücken, aufs Kreuz; oder man binde ein Strumpf-
band vom rechten Bein um das linke Horn des Tiers (oder umgekehrt); oder
aber man nehme dreimal den Milcheimer um den Leib des Tieres herum
(Christiansholm bei Hohn in Südschleswig. Dithmarschen). — 32. In den Zwölften
muss man das Vieh mit Asche einstreuen, dann bekommt es keine Läuse (Drage).
— 33. Wenn sieben Stück Vieh alle nach einer Seite hin liegen, so kommt
Besuch (Neuenkirchen). — 34. Im Stall gerade da, wo das Vieh seinen Stand
hat, vergrabe man Teufelsdreck; das bringt dem Vieh Gedeihen (Dithm.). —
35. Tröpfelt beim Melken Milch an die Erde, so werden die Kühe 'göst' (trocken)
(Dithm.). — 36. Ein Quiekalb ist ein Eckständer im Hause (Lehe bei Lunden). —
37. Einem nüchternen Kalb muss man in das erste Trinken ein Zweipfennigstück
legen und dieses dann einem Bettler schenken (Lehe). — 38. Wenn man mit
einer Kuh zum Stier zieht, so muss man durch das eine Tor hinauf auf die Hof-
stelle ziehen, wo der Stier steht, und durch das andere mit der Kuh wieder fort-
ziehen; dann 'bullt' (rindert) sie nicht ab (Dahrenwurth bei Lunden).
1) Wiepeldorn heisst im östlichen Holstein, auf dem Mittelrücken und im Ddnischen-
wohld die Heckenrose, Rosa canina.
2) Fuel, in Süderdithmarschen auch Heel = Nachgeburt.
Ilg: Maltesische Legenden von der Sibylla. 68
Maltesische Legenden von der Sibylla1).
Von Bertha 11g.
1. Issettisibella oder Settusibilla, die weise Herrscherin.
Diese Schöne, Weise lebte nach der Sünde Adams bis zur Geburt Marias,
also gerade 4000 Jahre und einige Tage in den zuversichtlichsten Gedanken und
den ehrgeizigsten Plänen. Und dies kam so: da von der ersten Tochter Adams
und Evas an bis zur Geburt Marias alle Mädchen vom Versucher umgarnt und zu
Fall gebracht wurden, so dass sie in das ewige Feuer kamen, dachte die kluge
Issettisibella, dass der Sohn des Meisters, der Mensch werden sollte, allein in ihr
zu Fleisch werden könnte, die die schönste unter den Schönen, die weiseste unter
den Weisen und die hochmütigste unter den Hochmütigen war. Sie durchschaute
alles und gab dem Meister vom Anbeginn an Rat und weissagte, was aus diesem
oder jenem würde, falls er wirklich erschaffen werden möchte. Sie galt sehr viel,
und ihr Mut war so gross, dass sie Furcht oder Zurückhaltung nicht kannte
Neues gab es nicht für sie; über Erfindungen lächelte sie und sagte höchstens,
dies wüssten, die vor tausend Jahren zu den dümmsten gerechnet wurden: „Euch
ist's heute neu, weil es Mühe machte, es aufzufinden. Ihr bleibt kleine Mensch-
lein." — An die Geburt eines Mädchens aber, das zur Mutter des Gottessohnes
bestimmt sei, hatte sie nie gedacht, da der Meister ihr nie etwas vorenthalten
hatte. Sie war jederzeit die Bevorzugte gewesen und verlangte die Ehren für sich
allein. Dafür nahm sie sich der grossen und kleinen Geschicke an und regierte
mit fester, kundiger Hand. Die Natur wusste sie zu biegen nach ihren Wünschen
und ebenso die Herzen und Geister der Menschen. — Wann der Meister sich
diese Gehilfin erschaffen hatte, weiss keine menschliche Seele. Einige der alten
Weisen vermuten, sie sei dagewesen vom Anbeginn der Welt, andere halten sie
für einen der Engel, die mit Lucifer gestürzt wurden, wieder andere sehen in ihr
das Geschöpf, welches der Meister dem Adam als Weib bestimmt hatte, mit dem
dieser aber nichts anzufangen wusste, da seine Klugheit nicht hinreichte, sich ihr
gleichzustellen. Und sie sollte ihm doch untertänig sein. Die Schönheit der
Issettisibella blieb immer dieselbe, da sie der Keuschheit pflog und der Reinheit,
trotzdem die Zeiten verderbt waren. Es ging etwas Überirdisches von ihrem
Körper aus, etwas das bannte, und ihre Weisheit konnte nicht mit irdischer Klug-
heit verglichen werden.
Sie war die Schwester des starken Samson, des weisen Salomon und des
geduldigen Job. Aber den dreien war sie weit über an Stärke, Weisheit und
Geduld; sie war älter als sie, und ihre Weisheit war, wie andere Vorzüge, uralt,
ururalt. Sie regierte schon einige tausend Jahre, als der Meister ihr die drei zu
1) [Über die Sagen von der mit der Königin von Saba zusammengeworfenen Sibylle
vgl. Bousset in Herzogs Eealencyclopädie f. protestant. Theologie8 18, 265 (1906).
R. Köhler, Kleinere Schriften 2, 87 (1900). W. Hertz, Gesammelte Abhandlungen 1905
S. 436. Kübnau, Schlesische Sagen 1, 555. 617 (1910).]
64
Brüdern gab. Und diese Brüder achteten sie sehr hoch, fürchteten sich aber vor
ihr, da sie alles durchschaute und gerne nicht nur Zänkereien, sondern auch lang-
wierige Kriege anzettelte. Sie war nämlich eine Kämpferin und führte ihre Leute
unter mannigfaltigen Verkleidungen an.
Dann war sie besonders tüchtig und gelehrt als Doktorin. Eines Tages, es
war in den Jahren, die ein Ausruhen vom Kriegsgetümmel brachten, machte sie
sich daran, ein Buch über die Medizin zu schreiben, da sie gegen jedwede Krank-
heit ein Kraut kannte. Dieses Buch nun handelte von den schwersten inneren
Leiden, die heute die Arzte unheilbar nennen. Dazu schrieb sie die angebrachten
Heilmittel und nannte die wichtigen Kräuter; von diesen Sachen wusste dazumal
noch kein Mensch Bestimmtes ausser ihr. Dies also stand im ersten Buch. Das
zweite Buch handelte ebenfalls über innere Krankheiten, doch solche, die leichter
an äussere Zeichen zu erkennen sind. So schrieb sie über alles, was dem Men-
schen begegnen kann, Bücher, bis sie neun beisammen hatte. Im zehnten aber
sprach sie nicht für diejenigen, die etwas Einsicht haben in den menschlichen
Körper, sondern für die Laien, die Leute, die sich gerne selber helfen bei kleinen
Unpässlichkeiten. Da stand etwas über das Kopfweh, über das Magenweh, wie
mit den Augen, die lichtscheu geworden, verfahren werden soll und mit den Ohren,
die schmerzen. Auch über verrenkte Glieder wusste sie zu reden und über die
Krankheiten, die die Frauen treffen. Da gab sie die nötigen Mittel an, die aller-
einfachsten: Umschläge heisser Breie, warme Getränke; für den vom Wurm be-
fallenen Finger empfahl sie das Abbrühen, für andere Gebrechen wieder das
Aderlassen und die Blutegel. Steife Glieder liess sie solange im Meerwasser
baden, bis sie gelenkig geworden, und für warzenartige Gebilde auf der Haut
empfahl sie die Pflanze Wolfsmilch (tenghuda). Sie setzte den 'gewürzten Wein'
zusammen, der viel seltsame Sachen enthält, auch das Blut verschiedener Tiere
und eine Anzahl von Heilkräutern, ein Getränk, das die Folgen eines Schrecks
aufheben kann; auch stammt von ihr das Rezept des siebenfachen Mischtrankes,
der schon für viele ein Segen war, trotzdem die Ärzte dagegen eifern. Dieser
bestand aus Meerwasser, der Abkochung des Habnenkammes (coxcomb, common
ceiosia, amarante), der Gewürznelken, des gelben Safrans (Safran), der Samen-
körner des Frauenhaars (maidenhair, capelvenere), der Orangenschalen und des
roten Pfeffers1). Aber im Vergleich mit den andern Büchern war dieses zehnte
fast wertlos, es behandelte keine schwierigen Dinge. Kurz und gut, in den zehn
Büchern war die Weisheit der Weisheiten aufgestapelt, und der Belesene, der ein
wenig eigenes Denken mitbrachte, konnte sogar herausfinden, wie lange dieser
und jener am Leben bleiben könne, ob das Leben eines Kranken oder eines neu-
geborenen Kindes wert sei, erhalten oder vernichtet zu werden. Über die Liebe
war gesprochen, über die Macht der Weisheit und des Reichtums, wie sie zu
erzwingen, zu erhalten sei. Es war eine gelehrte Arbeit, so unübertrefflich, dass
ein gewöhnlicher Mensch sie nie und nimmer zustande gebracht hätte. Nun schloss
sie die zehn Bücher in ein Glasgehäuse und schrieb darauf: ,,Wer Lust hat zu
lernen, sich zum Doktor auszubilden, wende sich an mich!" Dieses Glasgehäuse
stellte sie so hin, dass die vorübergehenden Leute es sehen mussten. Natürlich
1) Der Erzähler, ein Strassenarbeiter, hat eine genaue Kenntnis der meisten Kräuter,
die auf der Insel zu finden sind, und geniesst beim Volke einen gewissen Ruf als Kenner
der 'alten Mixturen'. Da er sich viel mit Kurpfuschereien abgibt und vor der Polizei
ängstlich auf der Hut ist, überlieferte er erst nach vielem Widerstreben das vorstehende
'medizinische Buch' der Issettisibella.
Maltesische Legenden von der Sibylla.
65
ward es von vielen gesehen und besprochen. Gleichzeitig war es überall bekannt
geworden, dass diese klügste Frau in den angegebenen Rezepten alles verwendet
hatte, was die Natur hervorbringt: angefangen von den Würmern und giftigen
Tieren, bis zu den Pflanzen und verschiedenen Wassern. Alles, alles war klar
gemacht, doch hat man es vergessen, weswegen wir heute so viel unheilbare, so
viel ansteckende Krankheiten haben. Nun aber weiter:
Eines Tages kam ein Jüngling; er wollte den Preis erfahren, der für die
zehn Bücher gesetzt sei. Sie sagte: „Hundert Goldstücke von den grossen, die das
Siegel meines Bruders aufweisen." Da lächelte der Jüngling spöttisch, da es ihm
zu viel schien. Es war dies aber einer der reichsten, angesehensten Jünglinge des
Landes. Issettisibella oder, wie andere sagen, Settusibilla versetzte: „Ohne diese
meine Bücher wirst du nie zur Erkenntnis kommen; ein Arzt aber, der ohne diese
Erkenntnis ist, ist weniger wert als ein Esel, weil dieser nicht imstande ist, zu
schaden. Also kaufe du nur die Bücher!" — Er aber begann zu handeln und zu
feilschen. Feilsche und bringe jemanden, der feilscht! Zuletzt ging er hinweg,
und sie verbrannte ein Buch, wie sie angedroht hatte. Das erste, das beste Buch
verbrannte sie. Am nächsten Tage erschien der Jüngling wieder und staunte über
die neun Bücher. Er hatte ihre Drohung für leere Worte gehalten. Nun aber
begann er erst recht zu feilschen und sagte: „Für zehn Bücher hundert Goldstücke
mit dem Siegel des Sultans, für neun bedeutend weniger." Sie aber verlangte
hundert, nach wie vor. Da wurden sie wieder nicht handelseinig, und ärgerlich
ging der Jüngling fort. So verbrannte sie ein zweites Buch; und um eine lange
Geschichte kurz zu machen, sagen wir nur dies: sie vernichtete neun Bücher
hintereinander, und dabei ging sie nie mit der Forderung herunter. Das letzte
Buch nun erstand der Jüngling für diese Menge Geld, und siehe, das Wichtigste
war nicht darin. Sie aber lachte ihn aus und sagte: „Du warst ein Esel, als du
es dir überlegtest, für die zehn Bücher hundert Goldstücke zu geben. Du bist
ein Esel, weil Erkenntnis nie und nimmer Platz nehmen wird in deinem Kopfe.
Du bleibst ein Esel, da das Buch deiner Minderwertigkeit nicht aufhelfen kann.
Nun geh und lass die Totengräber nicht zulange warten!" Und sie behielt Recht;
der Jüngling ward ein unfähiger Arzt und büsste später schwer für seine Miss-
erfolge. Nun weiter in der Geschichte.
Ein andermal geschah es, dass Salomo, als er zufällig wieder mit ihr im
Streite lag, an den Augen erkrankte, und zwar derart, dass er das gedämpfte
Licht des Tages und das Licht, das seine Öllampen spendeten, nicht mehr er-
tragen konnte. Es bildeten sich eitrige Ansammlungen, und die Augenwimpern rupfte
er sich aus vor Pein; er litt grosse Schmerzen und ward verzagt wie ein Bettler,
der von Hunden verfolgt wird. Da er aber seine Schwester, die kluge Settusibilla,
nicht um Hilfe angehen wollte, weil diese sie ihm nicht ohne Hohn und Spott'
oder gar nicht hätte angedeihen lassen, so versuchte er es mit allen möglichen
Mitteln. Er liess sich Kräuter holen von nah und fern, er badete alle Augenblicke
die kranken Teile und liess sie sogar von Zauberern besprechen, er, der König
und Richter. Aber das Übel verschlimmerte sich mit jedem Tag, und er lebte
beständig in der Furcht, hilflos wie ein Aussätziger erblinden zu müssen. So litt
er volle vier Jahre, und fast täglich versuchte er ein neues Mittel; die Gaukler
und Quacksalber hatten nun freien Zutritt, und schöne Zeiten wussten sie daraus
zu schlagen. Zuletzt aber musste er es einsehen, dass all seine Mühen vergeblich
waren, und so sagte er zu sich in seiner Seele: „Ich muss versuchen, das Heil-
mittel durch eine List aus meiner Schwester herauszulocken. Freiwillig steht sie
mir nicht bei, und demütig zu sein steht mir nicht an!" So rief er einen grossen
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 1. 5
66
Ilg:
Haufen Kinder seiner Stadt zusammen und sagte ihnen: „Versammelt euch und
lauft und springt durch die Strassen! Dabei sollt ihr frohlocken und jauchzen
und schreien; ich werde euch reichlich belohnen. Begebt euch wie von ungefähr
hin an den Palast meiner Schwester und jubelt und schreit noch lauter. Tritt sie
dann heraus und erkundigt sich nach der Ursache eures Lärmens, so antwortet:
Wir sind so übermütig und lärmen so froh, weil Salomon, unser Sultan, nun end-
lich von seinem Augenübel geheilt ist, so dass er das Licht des Tages und seiner
tausend Öllampen schauen kann! Dann merkt genau auf, was sie erwidert, und
hinterbringt es mir getreulich! Grosser Lohn soll euch werden." — So gingen die
Kinder, die sich keinen lustigeren Auftrag denken konnten, hin und vollführten
einen unbeschreiblichen Lärm. Als sie hinkamen an den Palast der Settusibilla,
trat diese richtig ganz verwundert heraus (sie war nämlich sehr wissensbegieriger
Natur und ging jedweder grossen oder kleinen Sache auf den Grund) und er-
kundigte sich nach der Ursache des Freudengeschreis, worauf die Kinder ver-
setzten: „Unser Sultan ist von seinem Augenübel geheilt und kann jedes Licht
schauen. Wir aber jubeln und frohlocken." Da sagte sie: „Ich glaube es wohl,
denn als kluger Mann wird er seine Augen wohl nur mit dem Ellbogen berührt
haben." Da gingen die Kinder heim und berichteten alles, Wort für Wort. Salomon
aber schlug sich vor die Stirn und rief: „Dacht' ich's doch! 'Mit dem Ellbogen
berühren' heisst 'nicht berühren', und so gebe ich jetzt die Kuren auf." Er tat
es auch wirklich und badete die Augen fortan nur so, dass er sie offen in das
mit reinem Wasser gefüllte Becken hielt. Bald waren sie rein und frei von dem
wilden Fleisch, das sich gebildet hatte mit dem Eiter.
Sie, die unerbittliche Settisibella, die selber über grosse Reiche herrschte,
lebte lange Zeit mit Salomo zusammen. Es geschah dies aber, um ihn zu prüfen
und um die geheimnisvollen Kräfte, die er in sich hatte, kennen zu lernen. So
kam es auch, dass Settisibella die erste Ursache seines Unterganges war; er hatte
sich ihr verraten in Stunden, die ihn lässig, dem Vergnügen hingegeben, gefunden.
Settisibella gab nämlich nie, ohne zu nehmen, auf den eigenen Vorteil bedacht
zu sein. Sie war sehr oft in Streit mit Salomo. Dieser ärgerte sich oft zu Tode,
weil sie ihn stets zu überbieten, zu überführen wusste. War z. B. von den ersten
Menschen die Rede, so fragte sie ihn: „Was dachte sich Eva, als sie sich Mutter
fühlte?" Und Salomo antwortete: „Sie fand einen Trost darin, gesegnet zu sein."
Sie aber lachte ihn aus und sagte: „Falsch! Sie hatte so entsetzliche Angst vor
sich selber, eine Angst, die sich mit der Zeit bis zum Wahnsinn steigerte, dass
Adam vor ihr fliehen, sich verbergen musste, bis ihre Zeit gekommen." Oder sie
fragte Salomo: „War es gemäss dem Willen unseres Meisters, dass Eva sich dann
ein zweites Mal Mutter fühlte?" Salomo versetzte dann: „Sicher! Er wollte die
Erde bevölkern." Settisibella aber spottete: „Falsch! Du müsstest es an den
Folgen ersehen: Kain, das Kind der Sünde, empfangen gegen das Gebot des
Meisters, trug den Fluch in sich und lebte nur, um die Frucht der zweiten Sünde,
begangen an Eva, zu töten. Der Meister hätte andere Mittel und Wege gehabt,
die Erde zu bevölkern, wäre ihm daran gelegen gewesen." Settisibella kannte
nämlich die alte Geschichte gar gut, da sie vom Anbeginn gelebt hatte und mit
allen Geistern in Verbindung war. Sie wusste, in wessen Leibe sich eine der
wundervollen Perlen befand, und konnte genau sagen, welche Wanderung diese
vorgenommen! Sie selber glaubte eine Perle in sich zu tragen, und ihr un-
beschreiblicher Stolz wird wohl deshalb so stark gewesen sein; sie hoffte immer,
die Mutter des Sohnes ihres Meisters zu wTerden. Wir werden davon erzählen
und die Geschichte dann abbrechen. Sagen müssen wir noch, dass sie schwierige
Maltesische Legenden von der Sibylla.
67
Aufgaben, über welche Salomo und andere weise Männer Wochen und Monate
lang- nachgedacht hatten, um pie zu verwirren, zu beschämen, in kurzer Zeit löste.
Und da sie Salomo an "Weisheit übertraf, so stellte sie ihm ihrerseits Aufgaben,
die zu lösen er nie imstande war. So gab es stets Hader und Zank zwischen den
beiden; jedes wollte den Meister spielen, und wenn Settisibella sich für eine
Stunde unterwürfig zeigte, so durfte Salomo gewiss sein, dass sie etwas Böses
gegen ihn ausspielen wollte. Sie beherrschten aber die ganze Welt und hatten
grosse Macht über die Herzen und die Geister; auch Salomo glaubte die wunder-
herrliche Perle in sich zu fühlen und schrieb ihr alles zu, was an Kräften in ihm
war. Und so wollen wir sagen, wohin Settisibella gebracht wurde durch diesen
ihren Glauben, dass ihr Leib geheiligt sei.
Sie lebte sehr gern mit jungen Mädchen zusammen. Es war ihre Lust, deren
Wachsen an Leib und Seele zu verfolgen. So gründete sie eine Art Schule; da-
mals hiess man es anders, wir wollen aber Schule sagen. In diese Schule
nun konnte kein Mädchen aufgenommen werden, welches nicht schon körperlich
entwickelt war. Eltern, die ihre Mädchen vor dieser Zeit in die Schule geben
wollten, bedeutete sie, dass das geistige Wachsen im Verhältnis zum Wachstum
des Körpers stehe, und dass sie deswegen nur vollkommen entwickelte Mädchen
in die Lehre nehmen könnte. Diese Mädchen nun, die alle aus den angesehensten
Familien stammten, behielt sie bis zum achtzehnten Jahre, nicht länger. Hatten
sie dieses Alter erreicht, so war ihre Lehrzeit beendet. Im ganzen hatte sie
meistens 15, einige Male 17 Mädchen. Es war aber etwas Geheimnisvolles um
diese Schule, und die Schülerinnen wurden zum Schweigen verpflichtet. Nun
weiter; da es Sitte war, dass die angesehenen Leute ihre Töchter in die Schule
der Settisibella gaben, bevor sie verheiratet wurden, geschah es, dass Maria1),
die spätere Mutter des Gottessohnes, auch in diese Schule kam und dort verbleiben
musste, trotzdem sie Tränen weinte, die andere Menschen, ja selbst solche, die
Steine an der Stelle tragen, wo das Herz sein soll, erweicht haben würde. Nicht
so die Settisibella.
Die Meisterin hatte eine besondere Sitte eingeführt; jeden Morgen fragte sie
die Mädchen, die einzeln vor ihr erscheinen mussten, was sie geträumt. Oft legte
sie dann die Träume aus, doch war ihr nicht darum zu tun, ihre Neugierde zu
befriedigen. Das eine Mädchen erzählte nun z. B., sie hätte von einem schönen
Kleide geträumt, das andere von angebissenen, gekochten Saubohnen (einem von
den Maltesern hochgeschätzten Gericht), das dritte von einem herrlichen Jüngling
usw. All diese Mädchen fertigte sie meist kurz ab und war nur darauf bedacht,
zu erfahren, was die stille Maria für einen Traum gehabt. Es schien ihr sehr
viel daran zu liegen, und immer war es ihr, als trüge dieses Mädchen die heilige
Perle, die den Leib heilig machte, in sich, nicht sie selber, die Settisibella, Aber
seltsamerweise träumte Maria nie, was der Meisterin so grosse Freude machte,
dass sie sie vor allen auszeichnete. Immer wieder sagte sie sich dann: ,,Der
Empfängnis des Gottessohnes geht ein Traum voran, der von der Perle kommt,
und ich selber bin wohl die Erkorene, werde die Geliebte des Meisters." — Eines
Tages fragte sie die stille Maria wieder, und diese berichtete freudig: „Ich träumte,
dass ein Same in meinem Schoss keimte, zum Pflänzchen wurde, Sprossen trieb,
bis ein Baum daraus entstand, dessen blätterbesetzte Äste sich über die ganze
Welt breiteten, Schatten spendend und zur Rast einladend." — So erzählte die
stille Maria in aller Einfalt; die Lehrmeisterin aber wurde ausser sich vor Wut
1) Vgl. De Nino, Usi e costumi abruzzesi 4,16 (bei Dähuhardt, Natursagen 2, 263 nr. 4 e)
5*
68
Ilg:
und Enttäuschung, raufte sich die Haare aus, die so lang waren wie die doppelte
Länge ihres Körpers; sie schlug mit dem Kopfe an die Wand, biss sich die
Zunge blutig uud wälzte sich wie ein unreines Tier auf dem Estrich, Laute aus-
stossend, die an Irrsinnige gemahnten.
Im Himmel beobachtete man dieses verzweifelte Rasen, und da sie die grösste
Meisterin war, vom Anbeginn gelebt hatte und so durch viele Auszeichnungen,
die ihr durch den Meister geworden, sich als durch die göttliche Perle geheiligt
betrachten durfte, hatte man Mitleid mit ihr, wollte sie vielleicht auch unschädlich
machen zum Besten der stillen Schülerin Maria. Es flog also ein Engel zur Erde,
der sprach: „Meisterin, sei ruhig! Was du verlangst, soll dir werden; nur von
dem einen Wunsche, Mutter des Meistersohnes zu werden, musst du ablassen.
Diese Gnade kann dir nicht gewährt werden, sie ist einer reinen Jungfrau vor-
behalten. Wähle also eine andere Gnade!" Sie aber, die grosse, weise Meisterin
Settisibella, begann nun erst recht ein tolles Rasen, und der Engel war entsetzt,
als er ihr Gebahren gewahrte. Sich wie ein wildes Tier wälzend und mit den
erniedrigendsten Gebärden, die alles, was ihr noch Hoheit verblieben war, aus-
löschten, schrie sie zuletzt wie besessen: „Ich wünsche ewig in der Hölle zu
leben." Im selben Augenblick öffnete sich ein Spalt, eine entsetzliche Kluft, und
sie fuhr hinunter, mitten hinein in das unterirdische Reich. Seitdem lebt sie dort,
in derselben Weise, wie sie auf Erden gelebt hatte; sie lebt, sie kann nicht
sterben, in alle Ewigkeit muss sie dort verweilen, da es für sie, die die Perle ge-
kannt und den Sinn derselben, keinen ewigen Tod geben kann. Das Feuer aber
und all die Qualen, die den Verdammten kein Ausruhen gönnen, verspürt sie
nicht und lebt verhältnismässig glücklich; sie ist immer noch Herrin, zwar im
dunklen Reiche, aber doch Gebieterin1).
Maria aber, die stille, bereitete sich unwissentlich darauf vor, die Mutter des
Erlösers zu werden. Nun geschah es aber eines Tages, dass Lucifer, der bis dahin
über das Reich der Hölle zu gebieten hatte, von seiner nunmehrigen Gebieterin,
der Settisibella, einen Auftrag erhielt, den er sofort ausführen musste. Nun hört:
Bis dahin hatte ihm kein Mädchen widerstanden, es gab auch, ausser der
stillen Maria keine Jungfrau, sie alle waren gefallene Mädchen und insgesamt für
die Hölle bestimmt. So nahm Lucifer sich vor, die stille Maria zu versuchen, um
dann hinzutreten mit dem Zeichen ihres Falles vor die stolze Settisibella. Er
nahm die Gestalt eines sehr einnehmenden Jünglings an und trat vor die stille,
schöne Maria, indem er, linde Schmeichelei in die Stimme legend, sagte: „Du
Schönste unter den Schönsten, im freiwilligen Gewähren liegt nie und nimmer
eine Schuld, nur im Erzwungenen und ohne Vorbedacht, im Leichtsinn Gegebenen.
Mir dürftest du eine Gnade freien Herzens gewähren, einen Kuss. Lass mich dich
küssen; deine Reinheit, alles, was an Lichtem, Gutem in dir ist, wird aufleben,
wird dich hochstellen über deine Genossinnen. Alles, was du tust, wird nie
Schatten werfen, sondern Licht austrahlen auf deine Bestimmung. Du wirst sie
dann erkennen, sie wird dich entwickeln, aufnahmefähig machen. Lass mich für
diesmal deinen Lehrer sein!" — Und die stille Maria, die einzige, die unter den
Mädchen ihrer Zeit nicht für die Hölle bestimmt war, sagte: „Tu, wie es dir im
Sinne liegt!" und dabei lud sie ihn mit einer Handbewegung ein, näherzukommen.
Kaum aber beugte er sich über ihr Gesicht, so schlug sie ihn mit der flachen
Kinderhand so heftig ins Genick, dass er laut mit den Zähnen knirschte. Die
ganze Welt vernahm es, dieses Knirschen, es war ein schreckliches Erdbeben,
1) Vgl. oben 17, 57. 250. 21, 3 über den hohlen Berg der Sibylle.
Maltesische Legenden von der Sibylla.
69
auch das Meer trat aus seinem Rinnsal. Seit dieser Zeit trägt der Teufel die
Merkmale dieses Schlages am Nacken, da dieser breitgedrückt ist und wulstig.
Und die stille Maria erfüllte so das Wort, das geschrieben steht vom Tage an,
als der Herr Adam und Eva aus dem Garten wies: „Es wird eine Jungfrau
kommen, die dich auf den Nacken schlägt und ihn dir breitquetscht."
So endet die Geschichte der klugen Settisibella, derengleichen es durch
Gottes Willen nicht mehr geben wird. Sie hatte des Meisters Gaben gemissbraucht,
Salomo, den weisen Herrscher, zu bösem Ende geführt und die Völker aufgewiegelt.
Die Macht stund eben ihrer eigenwilligen Hand nicht an. Deswegen entriss sie
ihr der Herr, der Meister.1)
2. Der weise Salomon und seine kluge Schwester Issettisibella.
Der weise Salomo hatte eine Schwester, die Issettisibella hiess oder auch
Sittazbrilja2). Es kam nun oft vor, dass diese beiden sich gegenseitig mit Rätsel-
aufgaben neckten, und da seltsamerweise stets, oder fast stets, die kluge Schwester
die rechte Lösung brachte, so zürnte ihr Salomon sehr oft und begann zu streiten
über Nichtigkeiten.
Einst unterhielten sich diese beiden über die Geschichte des Joseph, der in
Ägypten König war. Sie kamen nun über die Frau des Putiphar zu reden, die
es versucht hatte, den Joseph zu verführen. Und so kam es, dass Issettisibella
den Bruder fragte: „Was hättest du an Stelle des Putiphar getan, wie hättest du
gerichtet?" Salomon sagte: „Der Schein war gegen ihn. Und er hatte seine
Frau nie Lügen oder falsche Worte aussprechen hören. So gab der Mantel, den
die Frau in der Hand hielt, mit Fug und Recht den Ausschlag." Da lachte Issetti-
sibella den Bruder aus und sagte: „Dass ihr Männer von Anbeginn das Nächst-
liegende übersehen müsst; dass euer Urteil immer aus Worten besteht, die
ängstlich und unklar angespannt sind, und dass trotzdem euer Mut nicht fällt,
weiter als Herrscher und Richter zu gelten! Siehe, Putiphar hätte das zu fällende
Urteil einfach und schlicht vom Rock ablesen können, den seine Frau ihm vor
die Augen hielt: war der Rock auf der Vorderseite zerrissen, so war Joseph der
Angreifer, der Schuldige; war er auf der Rückseite zerrissen, wie es ja auch war
(ich überzeugte mich selber), so war sie die Angreiferin, die Schuldige. Aber
das Urteil der Männer ist wie der Topf aus Tonerde, der einen Klang in sich
hat, solange er heil ist und nicht in Scherben." — Da staunte Salomon über ihre
Weisheit, wollte dies aber nicht zugestehen, weil er sich wieder gekränkt fühlte,
und sagte nur: „Deine Rede mag gut sein; mich mahnt sie aber an ein Bild aus
Lehm, aus weichem, das willkürlich unter den Fingern entsteht, ohne dass man
Wert darauf legt. Es kann ein solches Bild gut oder schlecht sein, Bestand hat
es keinen und also keinen Wert. Folgerungen lassen sich unschwer aufstellen."
— issettisibella aber, die ihn wohl durchschaute, sagte abweisend und höhnisch:
„Würdest du, wenn ich dir ein Bild machte von der körperlichen Erscheinung des
Putiphar, daraus schliessen können, welche Veranlagung und Gewohnheiten er
1) Der Erzähler, ein einfacher, aufrichtiger Mann, ist etwas zur Mystik geneigt und
spricht gerne in dunklen Ausdrücken. Er nimmt es sehr ernst mit seinen Ausführungen
und Erklärungen; oft berichtigt er unaufgefordert nach Tagen irgendeinen Punkt, „damit
nichts geändert oder falsch aufgefasst werde von den alten Worten der Vorfahren, die
diese Überlieferungen weitergeben von Sohn zu Sohn".
2) In sicilischen Legenden (Pitrè, Fiabe e leggende sic. 1888 p. 127. 129) heisst
Salomos Schwester Sapienza oder Stella.
70
Ilg: Maltesische Legenden von der Sibylla.
hatte? Das ist mehr als ein Bild aus Lehm." Salomo wollte sich nicht unsicher
zeigen und bat um die Beschreibung. Issettisibella aber sagte nur: „Es sei dir
genug zu wissen, dass sein Bart und auch sein Schnurrbart weiss waren, das
Kopfhaar hingegen dunkel, ohne einen weissen Strich. Was siehst du, mein
kluger Bruder, darin?" — Darauf wusste Salomon nichts Ganzes zu sagen, er
behalf sich mit allgemeinen Redensarten, und dabei galt er als weiser Mann, als
ein wahrhaft kluger. Sie aber antwortete: „Wer viel denkt und mit dem Kopfe
arbeitet, dessen Haar wird bald weiss, er wird müde. Wer viel kaut, viel isst,
mit dem Munde und den Kinnladen schafft, dessen Bart wird auch bald weiss. So
sollst du leicht ein Urteil fällen können, welche Charaktereigenschaften er besass."
Ein andermal besprachen sich die Geschwister wieder über viel wichtige
Sachen, solche, die von anderen Leuten hingenommen werden, wie sie sind, richtig
oder unrichtig. Issettisibella aber liess nichts leicht unbeachtet und nahm nichts
leicht als Wahrheit an. Es war eine grosse Fähigkeit in ihr, die ein Niederziehen
zum Gewöhnlichen nicht gestattete. So besprach sie sich gerne mit Salomo, dem
klügsten Menschen seiner Zeit. Und sie sprachen von Eva und darüber, wie sie
zur Schlange gestanden hatte. Salomo sagte das, was er gehört, Issettisibella
das, was sie gesehen. Und da stritten sie. Zuletzt aber überzeugte sie ihn etwas,
trotzdem er dies nicht wollte. Sie führte aus: „Eva war die Freundin der
Schlangen. Sie spielte mit diesen Tieren, und diese waren es, die sie dazu
brachten, die Sünde zu kosten, um sich dann mit Adam zu vergehen gegen den
Willen des Meisters, der ihnen eine Frist festgesetzt hatte. Und da der böse
Engel wusste, wie nah sie den Schlangen stand und wie sie sie liebte, nahm er
diese Gestalt an und versuchte sie nochmals; da lernte sie Verderbliches, und
Adam wusste nichts davon. Der Meister aber, der Herr, erzürnte über die unreine
Frau und den leichtsinnigen, blinden Mann und fügte es, dass beide sich in be-
stimmten Zeiträumen, dem Laufe des Mondes gemäss, unwohl fühlten. Es blieb
dies auch lange Zeit so, doch änderte der Meister dies dann dahin ab, dass die
Frau allein mit der Unpässlichkeit heimgesucht wurde, da der Mann es nicht ver-
stand, sich in anständiger Weise zu verhüllen. Doch geschah dies viel, viel
später und erst dann, nachdem auch die Männer Kinder zur Welt gebracht hatten,
die aber samt und sonders schwach und krüppelhaft waren: der Mann muss seiner
schweren Arbeit nachgehen und kann auf sich selber nicht viel Rücksicht nehmen."
So redete Issettisibella mit Salomo und sagte viel wahre Worte.
Auch sprachen sie einst über Kain, und Salomo hatte eigene Ansichten. Issetti-
sibella wusste aber mehr und erzählte folgendes, um zu zeigen, wessen Kind er
war: „Eva gebar Zwillinge, erst ein Mädchen, das Adam zum Vater hatte, und
einen Sohn, dessen Vater die Schlange war, oder umgekehrt; aber es wird wohl
so sein, wie ich gesagt. Und Adam hatte keine Liebe zu Kain, er fühlte sich hin-
gezogen zum Mädchen, welches sehr schön war. Und der Meister sagte: „Diese
beiden Kinder sind für einander bestimmt, sie sollen Mann und Weib werden und
ein neu Geschlecht bilden." Nun geschah es aber, dass Eva wieder Zwillinge
gebar, und zwar diesmal einen Sohn, den sie Abel hiessen und eine Tochter.
Nun war aber dieser Sohn Adams Kind, das Mädchen aber hatte denselben Vater
wie Kain. Eva gebar dann noch viele Kinder, aber wir wollen nur über diese
vier reden. Die Kinder wuchsen auf, und eines Tages sagte Abel zu seinem Vater:
„Meine Frau gefällt mir nicht; ich hange an der, welche meinem Bruder zugesagt
ist. Gib sie mir! Kain soll sich zufriedengeben mit meinem Weibe." Da staunte
Adam sehr, ohne zu wissen, welchen Vater die beiden anderen hatten. Er hatte
nämlich gerade Abel und die Schwester Kains gar lieb. Da ging er hin zu
Menghin: Kleine Mitteilungen.
71
Kain und suchte ihm sein Weib, das schöne, mit Gewalt zu nehmen, da Worte
und Drohungen nichts fruchten wollten. Kain ward nun sehr betrübt und wusste
sich vor Leid und Hass nicht zu fassen. Zuletzt sagte er: „Wir wollen Altäre
errichten und Opfer bringen. Wessen Feuer Rauch zu erzeugen vermag, der in
die Höhe steigt, der soll das schöne Weib haben. Steigt der Rauch von beiden
Holzstössen in die Höhe, so bleibt es so, wie es sich bei der Geburt begeben:
jeder habe seine Zwillingsschwester zum Weibe." Nun geschah es aber, dass
Eva dies Gespräch hörte und ihrem Lieblingskinde Kain helfen wollte, denn sie hatte
ihn sehr lieb. Eilig ging sie hin und schüttete rund um das Opfer Abels Wasser,
auf dass sich keine Flamme bilden könne. Die Brüder wussten nichts davon.
Sie zündeten ihre Stösse an, und das Wasser, das aussen alles benässt hatte, liess
es nicht zu, dass das Feuer sich ausbreitete. Es brannte nur in der Mitte des
Stosses, und siehe, der Rauch stieg gerade zum Himmel, während Kains Opfer
loderte und nicht rauchte, oder nur sehr wenig aus den Fugen heraus. Da froh-
lockte Abel und wandte sich heimwärts, um seine schöne Schwester, das Weib
Kains, zu besitzen. Kain aber lief ihm nach und erschlug ihn; er hatte das
Wasser gesehen, das um Abels Stoss geschüttet war. So kam das grosse Leid
über Adam und Eva.
La Vallette, Malta.
(Schluss folgt.)
Kleine Mitteilungen.
Über Tiroler Bauernhochzeiten und Priniizen.
(Vgl. oben 23, 399-406.)
3. Eine Primizfeier im Burggrafenamte und ein Primiztafellied aus dem Pustertale.
Die Primiz, d. i. die erste Messe eines neugeweihten Priesters, vom
Volke als Vermählung desselben mit der Kirche aufgefasst, wird in den Alpen-
ländern allgemein überaus feierlich begangen und stellt so gewissermassen eine
geistliche Parodie der Hochzeit dar. Es ist klar, dass bei solcher innerer Ver-
wandtschaft auch die Formen der weltlichen Hochzeit in die Primizfeier ein-
gedrungen sind. Allerdings ist die Primiz, wie schon Kohl in seinem oft an-
gezogenen Buche betont1), im allgemeinen an Gebräuchen viel ärmer und gleich-
förmiger als die weltliche Hochzeit. Kohl bringt eine Primizbeschreibung aus
dem Sarntale, die ganz gut als Typus der südtirolischen Primiz überhaupt an-
gesehen werden kann, wenn auch anderorts Abweichungen vorkommen. Ins-
besondere ändert sich der äussere Eindruck dieses Festes nach den wirtschaft-
lichen Verhältnissen der Gegend; eine Primizfeier wird im reichen Etschtal
natürlich mit viel mehr Gepränge und Kostenaufwand verbunden sein als in einem
1) Kohl, Die Tiroler Bauernhochzeit 1908 S. 276. — Vgl. Piger, Eine Primiz in
Tirol (oben 9, 396—399) und Blümml, Drei Primizlieder (oben 18, 88—90).
72
Meiighin :
Bergdörflein reines hochgelegenen Seitentales. Ich möchte daher hier, obgleich
die Ähnlichkeiten grosse sind, die Beschreibung einer Primiz oder 'nuien Möss'
(neue Messe) bieten, wie sie sich in einem reichen Weindorfe des Burggrafen-
amtes (Meraner Gegend) abspielt. Vielleicht lohnt es sich auch deswegen, weil
ich doch den einen oder den anderen Zug mit grösserer Ausführlichkeit zu be-
handeln in der Lage bin. Mein Gewährsmann ist ein geistlicher Freund, der vor
einigen Jahren hier primiziert hat.
Zu den wichtigsten Vorbereitungen der Feier gehört die Aufstellung von
Tri ump h bögen. Solche stehen vor dem Kirchenportal, vor dem Widen (Pfarr-
haus), am Eingange des Dorfes, vor dem Elternhause, gelegentlich auch in einer
Dorfgasse, durch die der Zug kommen muss, und vor dem Wirtshause, in dem
das Festessen stattfindet. Die notwendigen Taxen (Fichten- oder Tannenäste) und
das Gerüstholz werden auf Kosten der Gemeinde herbeigeschafft. Das Winden
der Girlanden übernehmen meist freiwillig junge Burschen, die dafür vom Hause
des Primizianten reichlich mit Wein versorgt werden. Zwischen den einzelnen
Triumphpforten stehen oft noch 'Mandlen' (taxenumwundene Säulen), die mit
Bogen von Taxengewinden untereinander und mit den Triumphpforten verbunden
sind. Der Bau dieser Bogen geschieht nach gewissen Traditionen, und es gibt
eigene Leute, die sich darauf verstehen. Der Hauptstolz jedes Bogenbauers ist
es, die Tore möglichst hoch zu machen. Das Grundschema der Pforten nähert
sich zumeist der Form eines gotischen Kirchenfensters. In den Giebel werden
allerlei Zierrate, gewöhnlich auch ein Kelch, hineinkomponiert. Zahllose Fahnen,
die zwischen die Gewinde gesteckt werden, beleben das Gesamtbild. In hervor-
ragender Weise müssen auch deutsche und lateinische Chronogramme der Ver-
herrlichung des Festes dienen. Gewöhnlich ist es ein alter Frühmesser oder
Pater, der diese Dinge zusammenstellt; es gibt deren, die in diesem Metier
berühmt sind. Chronogramme werden vor allem an den Triumphbögen, dann am
Widen, an der Kirche, am Wirtshaus, im Speisesaale und vor dem Schlafzimmer
des Primizianten angebracht; sie enthalten in aphoristischer Form (manchmal auch
in Versen) Gratulationen an den Primizianten, an seine Eltern, an die beglückte
Gemeinde, auch fromme Sprüche. Die aufgelösten Zeitangaben geben das Geburts-
jahr des Primizianten, das Jahr der Primiz u. dgl. an.
Eine sehr wichtige Rolle bei jeder bäuerlichen Feier in Tirol spielt das
Schiessen. In alten Zeiten wurde zu Hochzeiten, Kindstaufen und Primizen mit
Gewehren geschossen, wie aus den Verordnungen Maria Theresias und Kaiser
Josephs II. hervorgeht, die sich lange vergeblich bemühten, den Unfug, zwischen
den Häusern zu schiessen, abzustellen, und strenge Strafen dafür androhten1).
Diesem Brauche müssen wohl alte Vorstellungen zugrunde liegen, da es dem
Bauern gar so schwer fällt, sich davon loszusagen. Heute begnügt man sich
zwar mit Pöllern, die auf einer Anhöhe ausserhalb des Dorfes losgelassen werden;
aber sie kommen desto reichlicher zur Verwendung. Bei der Primiz meines
Gewährsmannes wurden jedesmal nicht weniger als 154 losgelassen. Es gehört
zu den Vorbereitungen der Primiz, die Poller zusammenzuleihen, um möglichst
viele Schüsse in einer Reihe abgeben zu können.
1) Hofentschliessung vom 6. Juli 1752 (k. k. Theresianisches Gesetzbuch 1, 367), Ver-
ordnungen vom 13. Februar 1754 (ebd. 2, 330), 17. Jänner 1756 (ebd. 3, 350), 17. Juni
1766 (ebd. 5, 61), 17. Mai 1768 (ebd. 5, 297), 16. August 1775 (ebd. 7, 349 für Steiermark ,
15. Jänner 1787 (Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph II. f. d. k. k.
Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze 13, 55 für Böhmen), 24. März 1800
(Sr. k. k. Majestät Franz II. politische Gesetze und Verordnungen 15, 42 für Böhmen).
Kleine Mitteilungen.
73
Umfassende Vorbereitungen werden natürlich auch für das Primizmahl ge-
troffen. Da wird schon tagelang vorher gesotten, gebacken und gebraten, und viel
Vieh muss das Fest mit seinem Leben bezahlen. Die Tafel wird mit Blumen.
Türmen von Obst- und Backwerk, Eispyramiden usw. aufs prunkvollste heraus-
geziert. Auch für diese Verrichtungen gibt es eigene Leute, die oft weit und
breit berühmt sind und herbeigeholt werden. Sie machen sich natürlich recht
wichtig und tragen schon im Gesicht einen Abglanz ihrer Bedeutung. Die Sitz-
ordnung wird vorbestimmt: der Festgast findet seinen Namen neben dem Teller.
Den Ehrenplatz nimmt natürlich der Primiziant ein, neben ihm sitzen der Primiz-
prediger und die Eltern, unfern auch die Primizbraut. Im übrigen ist man nicht
sehr heikel, lässt aber die Geistlichen, die Städter und die Bauern möglichst in
Gruppen beisammen sitzen. Alle neugierigen Leute gehen am Tage vor der Primiz
ins Wirtshaus und sehen die Primiztafel an.
Einen wichtigen Teil der vorbereitenden Handlungen bildet ferner das Ein-
laden. Es wird gewöhnlich von einem Bruder des Primizianten, der dazu die
schmucke Nationaltracht anlegt und einen grossen Buschen auf dem Hut hat, und
dem Pfarrer des Ortes besorgt. Die beiden fahren im "Wagen zur ganzen'Freund-
schaft', auch in den entlegeneren Nachbargemeinden herum, und bringen ihre Ein-
ladung an. Überall bekommen sie Essen und Trinken vorgesetzt. Es ist Sitte,
bei dieser Gelegenheit nur weissen Wein zu bieten. Eingeladen werden ausser
den Verwandten die Geistlichen der Umgebung, alte Schulkollegen, Theologen,
besonders die vom selben Jahrgang. Die Zahl der Festteilnehmer überschreitet
150 nicht selten.
Zur Priesterweihe, die in unserem Falle in Trient stattfindet, finden sich nur
die allernächsten Verwandten ein. Mit ihnen reist dann der Primiziant in seine
Heimat, gewöhnlich kommt er dort erst am Vorabende des Festtages an, damit er
die Vorbereitungen zur Feier nicht sieht. Am Eingang des Dorfes — in Eisen-
bahnstationen am Bahnhof — erwartet ihn die Geistlichkeit, eine Abordnung der
Gemeindevertretung und die Verwandtschaft, ferner was an Primizgästen schon
da ist und natürlich viel schaulustiges Volk. Unter dem Krachen der Poller hält
der Vorsteher eine Anrede an den Gefeierten, auf die derselbe kurz erwidert. Der
Zug geht dann zur Kirche, wo ein kurzes Gebet verrichtet wird, und darauf in
den Widen zum Abendessen. Der Primiziant zeigt sich wenig und schläft nicht
zu Hause, sondern im Widen.
Am nächsten Tage, dem der eigentlichen Feier — gewöhnlich ein Sonn- oder
Festtag — wecken schon in aller Frühe, beim Betläuten um 4 oder 5 Uhr, Pöller-
schüsse. Die Primiz beginnt gewöhnlich um 8 Uhr. Vorher kommen alle Gäste
in Festtracht, die Bauern im Nationalkostüm, Jungfrauen mit einem Kranz in den
Haaren, im Widen zusammen und erhalten den Primizbuschen, Geistliche einen
Kranz am Arm, Laien ein Sträusschen für Hut oder Rock, der Primiziant selbst
einen Kranz mit Kelchbild oder ähnlichem. Das Befestigen besorgen Verwandte,
alte Tanten u. dgl. Der Primiziant wird hier auch mit Albe und Pluviale be-
kleidet, ebenso die Diakonen, gewöhnlich Primizianten desselben Jahrganges. Vor
dem Widen warten die Leute und die Himmelträger. Beim Verlassen des Widens
sagen Kinder oder die weissgekleidete und bekränzte Primizbraut nicht selten ein
Gedicht auf. Dann beginnt der Einzug in die Kirche, der, wenn viele Leute da
sind, oft grosse Umwege machen muss, um sich entwickeln zu können. Im Zuge
befinden sich die Musik, die Geistlichkeit mit dem Primizianten unter dem Himmel,
die Braut, die auf einem Kissen einen Kranz trägt, und die Verwandten und
Gäste. Das Volk bildet Spalier. Dazu läuten die Glocken und krachen die
74
Menghin:
Poller. Beim Betreten der Kirche erschallt vom Chor ein Einzugslied, dann das
Yeni creator spiritus. Darauf folgt die Primizpredigt, die gewöhnlich der Priester
hält, der den Primizianten seinerzeit für das Gymnasium vorbereitet hat; sonst
ein Verwandter oder besonderer Gönner. Zur Primizpredigt, die sich vornehmlich
mit der hohen Bedeutung der Priesterwürde beschäftigt, gehört unbedingt eine
Apostrophe an den Primizianten, dessen Eltern, Verwandte und Gönner. Das ist
der Moment allgemeiner Erbauung und Rührung und geht nicht ohne reichliche
Tränen ab. Nach der Predigt erteilt der Primiziant den Segen, der ein eigenes
Formular und besondere Kraft besitzt. Nun folgt das Amt, bei dein zwei Diakonen
assistieren. Der Pfarrer des Ortes ist Zeremoniär; der Dekan fungiert gewöhnlich
als Assistent, ein tirolischer Abusus, da das Recht auf eine Assistenz von der
Kirche nur infulierten Prälaten zuerkannt wird. Die Primizbraut, womöglich eine
Schwester des Primizianten, tritt während des Hochamtes wieder in Funktion.
Sie ist gewissermassen das Symbol der Kirche Christi, mit der sich der Primi-
ziant im Augenblicke seines ersten heiligen Messopfers vermählt, und tritt daher
beim Offertorium an den Altar, legt dort das Kissen mit dem Kranze nieder und
holt es wieder nach der Wandlung. Bei den Hauptteilen der Messe erdröhnen
auch wieder die Poller. Bei der Kommunion empfangen die Braut, die Eltern und
Verwandten das Sakrament. Nach dem Amte wird wieder der Primizsegen erteilt.
Der Primiziant geht nun mit den Geistlichen in den Widen, um dort zu früh-
stücken. Die liturgischen Kleider hat er schon in der Kirche abgelegt. Vor dem
Widen wartet das Volk und die Musik, bis der Primiziant wieder herauskommt;
dann gehts in lustigem Zuge zum Wirtshaus.
Das Essen beginnt ungefähr um 11 Uhr. Zuerst kommt die Suppe; am vor-
nehmsten ist Milzschnittensuppe. Die gewöhnlichen Leute, die nicht eigentlich
zu den Primizgästen gehören, aber sich durch Aufstellen von Triumphbogen und
ähnliche Arbeiten verdient gemacht haben, werden in einem anderen Räume,
etwas weniger üppig, abgespeist. Sie erhalten zumeist Nudelsuppe mit Wurst,
das Ideal der bäuerlichen Bevölkerung. Wein fliesst natürlich von allem Anfang
an in Strömen. Besonders die Musikanten, die sich vor dem Wirtshaus auf-
stellen und fleissig spielen, fühlen sich zu grossem Durst verpflichtet. Auch Bier
wird getrunken. Als erster Gang folgt auf die Suppe regelmässig kalter Aufschnitt,
besonders Schinken. Inzwischen wird es 12 Uhr. Der englische Gruss wird ge-
betet. Draussen krachen die Poller. Man sagt sich gegenseitig guten Nach-
mittag. Dann kommt das Rindfleisch. Nach diesem Gange folgt die erste Rede,
die dem Primizprediger zufällt. Sie ist humoristisch gehalten und nimmt ins-
besondere die Jugendzeit, die Freuden und Schmerzen der Studienjahre des
Primizianten zum Thema. Der Rede folgt grosser Tusch, Pöllerkrachen und
Hoch auf den Primizianten.
Damit ist gewissermassen der offizielle Teil erledigt, und die Stimmung geht
ins Gemütliche über. Braten folgt auf Braten, dann kommen Mehlspeisen,
Bäckereien, Obst, Eis und wenn einer schon genug getan zu haben glaubt, muntern
ihn die andern zum Essen und Trinken auf. Dabei werden viele Reden ge-
schwungen. Gewöhnlich spricht noch der Dekan auf die Eltern und Wohltäter
des Primizianten, der Pfarrer, der Vorsteher, ein Studienfreund usw. Am Schlüsse
auch noch der Primiziant; er richtet seine Dankesworte an die Eltern, den Orts-
pfarrer, seine Wohltäter, an alle, die sich um die Primiz verdient gemacht oder
daran beteiligt haben. Nach dieser Rede folgt ein grosses Anstossen und Leben-
lassen. Nicht selten treten dann noch Kinder in Nationaltracht auf, die Gedichte
deklamieren und Blumensträusse überbringen.
Kleine Mitteilungen.
75
Um 2 Uhr beginnt, durch Pöllerschüsse eingeleitet, die Vesper, zu der sich
der Primiziant, die Geistlichkeit, und wer sonst noch will, entfernen. Die meisten
bleiben im Wirtshaus und tun sich ungezwungen gütlich. Es ist unglaublich,
was die Bauern bei solchen Gelegenheiten vertilgen können. Dass diese Gelage
früher masslosen Umfang angenommen haben, lehrt wieder eine Verordnung aus
der Zeit Maria Theresias1), die die bei Hochzeiten und Primizen üblichem Gelage
und Tänze der Bürger und Bauern von drei Tagen auf einen einschränkt. In
Tirol ist man ja verhältnismässig recht bescheiden. In Niederösterreich hingegen
herrschen z. B. noch Esssitten, die an Zustände des 15. und 16. Jahrhunderts
erinnern. Nach der Vesper, die nicht sehr lange dauert und mit dem Segen, zu
dem wieder gepöllert wird, schliesst, setzt das Essen ganz obligat wieder mit ge-
backenen Schnitzeln ein. Die frohe Stimmung steigt immer höher an; es werden
nun heitere Gesänge, in unserer Gegend jedoch kaum mehr Volkslieder oder
eigene Dichtungen vorgetragen. Den Chor bestreiten meist sangestüchtige Geist-
liche, Theologen, Studenten und Lehrer. Dass besonders letzteren früher das
Musizieren und Singen bei Hochzeiten, Kirchtagen und ähnlichen Anlässen über-
tragen war und oft zu Unzukömmlichkeiten führte, zeigt uns das Verbot, das Maria
Theresia dagegen erliess2). Auch das Brautstehlen wird, wo es noch Sitte ist, in
diesen vorgerückten Stunden besorgt. Gewöhnlich wird die Primizbraut von
Theologen in ein benachbartes Wirtshaus entführt. Der Primiziant muss sie
suchen und durch Bezahlung der Zeche auslösen.
Den Beschluss des Mahles bildet auf jeden Fall das Anschneiden der Torten
und der Kaffee. In früheren Zeiten waren Krapfen üblich. Die Torten sind in
grosser Zahl vorhanden, viele mit Sprüchen und Darstellungen versehen. Eine
derselben ist die Primiztorte. Sie steht an der Tafel vor dem Primizianten und
ragt durch einen besonders hohen Aufbau, häufig auch durch eine Darstellung
des Primizianten am Altar aus Zucker, hervor. Jeder Primizgast hat das Recht,
für seine Angehörigen etwas von den Speisen mitzunehmen. Man heisst das die
Âschneatlen. Die Gäste werden von den Angehörigen des Primizianten auf-
gefordert, nur ungeniert einzustecken; es gehört zum guten Ton, sich zu weigern.
Es kommt da oft zu lustigen Szenen, wenn einer sich mit allen möglichen Redens-
arten dagegen wehrt, etwas mitzunehmen, und es sich dann herausstellt, dass er
die Taschen schon zum Platzen voll hat. Im Verlaufe des Nachmittags werden
ferner auf Tellern die Primizbilder mit der Inschrift 'Andenken an das erste hl.
Messopfer des N. N. in N. am soundsovielten' herumgereicht. Man nimmt sich
davon, was einem gefällt.
Beim Avemarialäuten wird wieder mitgebetet. Die Poller werden zum letzten
Male losgelassen. Man wünscht sich gegenseitig guten Abend. Es wird dann
nicht allzuspät Schluss gemacht. Gelegentlich findet noch ein Feuerwerk oder
eine Bergbeleuchtung statt. Dann gehen die Geistlichen und die allernächsten
Verwandten in den Widen, wo noch ein kleines Nachtessen wartet.
Damit ist die Feier zu Ende. Der Primiziant verbringt die Tage bis zur Be-
rufung auf einen Posten durch den Bischof im Heimatsdorfe. Er wohnt nicht
bei den Eltern, sondern im Pfarrhofe. Für die künftige Amtstätigkeit laufen bei
ihm verschiedene Geschenke der Verwandten: Kelche, liturgische Kleider, Breviere,
Messbücher, Versehbeutel u. dgl. ein; zumeist werden die Sachen schon zur
Primiz mitgebracht.
1) Hofdekret vom 24. Juni 1771 (k. k. Theresianisehes Gesetzbuch 6, 363).
2) Patent vom 6. Dezember 1774 (k. k. Theresianisehes Gesetzbuch 7, 135).
76
Menghin, Behrend:
Oben wurde erwähnt, dass der volkstümliche Gesang in der Meraner Gegend
bei solchen Gelegenheiten nicht mehr gepflegt wird. Die Regensburger und
andere Quartette haben ihn ganz verdrängt. Es ist aber nicht überall in Tirol
so. Besonders im Puster- und Eisacktale blüht die Sitte noch, sowohl die Ein-
ladungen zur Primiz ganz nach den bei der Hochzeit üblichen Formen vor-
zunehmen, — Kohl veröffentlicht drei solcher Reimreden1) — als auch während
der Tafel eigens für den Tag gedichtete Lieder abzusingen. Kohl bringt ein
geistliches Tafellied aus dem Eisacktale und eines aus Hocbfilzen-Pillersee bei2).
Ich verdanke die Handschrift eines solchen aus Reischach bei Bruneck wiederum
der Liebenswürdigkeit P. Gaudentius Kochs. Es ist eigens für die Primiz, die
zugleich mit der Hochzeit eines Bruders stattfand, gedichtet und sehr charakteristisch
für die Gefühle, die das Volk einem solchen Bieste entgegenbringt. Für Sprache
und "Wiedergabe gilt hier dasselbe wie beim oben abgedruckten Brautbegehren.
Tafellied zur Primitz des H
H. Georg Kronbichler.
3. Dir Vater vergun mir0) die Freude,
Die dir durch die Söhne zu Theil,
Der eine in den Priester Kleide,
Der Menschheit zum "Wohle und Heil,
Der andr als Baur in der Gemeind,
Allen gut gemeint,
Hat sich heut vereint
Mit der Moidlan, seiner Braut,
Die ihn anvertraut
Als Braut,
Uud die Moidl thuit7)
Als was recht und guit8),
Schaugt, so wie sie kan,
Geht ihn an die Hand.
Regiert in Hause nach Gebühr
Immer für und für
Nach Gebühr.
4. Geschwister, Verwandte und Freunde,
Die ihr da versammelt hier seid,
Ihr Nachbarn der Reiscbinger Gmeinde
Denkt oft zurück an diese Freud
Und danket Gott für diese Tag
Und die große Gnad,
Welche er uns hat
Erwiesen uns zur größten Freud,
Danket ihn allzeit,
Nicht bloß heut.
Diese Freudenzeit
Ins Gedächtnis schreibt,
Diesen Freudentag,
Der in Reischach ivar
lin neunzehnhundert dritten Jahr,
Da im Juli war
Zwölfter Tag.
Oswald Menghin.
1) Kohl S. 186. — 2) Kohl S. 87. — 3) Der Vater war also 78 Jahre alt. — 4) Georg,
der Primiziant. — 5) Nachbar hier in dem Südtirol vielfach gebräuchlichen Sinn 'Gemeinde-
genosse'. — 6) Vergönnen wir. — 7) Pustertaler Ma. für tut. — 8) gut.
1. Komt her, ihr geladenen Gäste,
Du ganze versammelte Schaar,
Heut zu diesen freudvollen Feste
Wie keines in Reischach nie war,
Primitz und Hochzeit-Tag zugleich,
O wie freudenreich
Heut für alle gleich,
Ein Tag wie noch keiner nie
War bei uns allhier
Noch nie.
Und der Vater feurt
Den Geburt Tag heut
Und das Namensfest
Auf das allerbest,
So wie durch acht und siebzig Jahr
Nie kein Namenstag
So schön war3).
2. Du Jörgl4), du hast das errungen,
N'ach don du dich lange gesehnt
Und uns ist es auch nun gelungen,
Dich Priester des Höchsten zu nenn,
Des ist für dich a Himmelsgiück
Das dir Gott geschickt
Und für uns a Glück
In der Gmeuude in und aus,
Freud in jeden Haus,
In und aus,
O welch große Freud
Ist in der Gemeind,
Wenn ein Nachbars5) Sohn
Priester werden kan,
Ist für die Gemeind a
Immer für und für,
Eine Zier.
W ien.
Zier
Kleine Mitteilungen.
77
Aus den Reiseberichten des Freiherrn Augustin von Mörsperg.
Eine lange als verschollen geltende Chronik, über die zum erstenmal wieder
Professor Wagner in den Preussischen Jahrbüchern 73, 484 (1893) Kunde geben
konnte, ist jüngst in den Besitz der neubegründeten Landesbibliothek zu Sonders-
hausen gelangt und bildet ihren wertvollsten Schatz. Es ist: „Ein schönne
lustige vnd warhafftige Erzellung vonn dem hochloblichen vnd Ritterlichen Sant
Johan Ordens .... zue dem andere, was sich bey meinen Zeitten in 14. Jaren
ron anno 1573 anfangent Namhafftigs vnd wirdigs zue wasser vnd land zuegetragen,
zum dritten nach abzug von Malta was Ich nachgentz für lustige vnd fürneme
Reisen durch etìliche Königreich in Europa . . . verricht vnd gesehen hab, dz
alles In Kürtze In drey bûcher, hie ein ander nach sovil möglichen durch mich
Augustin Freiherr zu Mörsperg vnd ßeffort, dises Ordens Ritter vnd commenden
zu Sant Johan Dorlesheim, Bassell, Kemendorf vnd Rexingen, ordentlich be-
schryben . . ."
Der Freiherr von Mörsperg war ein tapferer und menschlicher Ordensritter,
von schier ungebändigter Neubegier, vieler Menschen Städte und ihre Landsart
kennen zu lernen; vor 1606 muss er noch im rüstigen Alter gestorben sein.( Dem
Historiker bleibt die Frage zu lösen, wie viele seiner Reisen in nordische Länder:
Dänemark, Schweden, Norwegen, England und Schottland dem persönlichen "Wunsch
oder dem sachlichen Ordensinteresse entsprangen; beides wird sich miteinander
verbunden haben, möchte ich zunächst annehmen. Der Freiherr beobachtet gut
und weiss mit einem trockenen Humor zu erzählen, wenn auch seine Prosa zer-
hackt ist. Starken Eindruck hat auf ihn der Hof der Königin Elisabeth gemacht;
er bemerkt aber nüchtern-drastisch, dass man der gewaltsam jugendlichen, präch-
tigen Königin anmerke, sie sei kein 'heurigs Häslein' mehr. — Wie schade, dass
der Freiherr nicht genug englisch verstand; so flüchtet er aus den kurz gestreiften
Theatern Londons zu den Hunden, Bären und Eseln und beobachtet bei den
Tierkämpfen das erregt anteilnehmende Volk.
Besonderen Wert verleihen der Handschrift die überaus zahlreichen, gut aus-
geführten Bilder oft in Blattgrösse. Freilich, so sehr der Reisende auch den
Schein zu erwecken sucht, als habe er die Menschen und Trachten an Ort und
Stelle 'abreissen' lassen, so ist das ein naiver Täuschungsversuch; für die grösste
Zahl der Trachtenbilder konnte mir ein Kenner wie Dr. Doege an unserem Kunst-
gewerbemuseum binnen kurzem die Vorbilder älterer Reisewerke vor Augen
führen; immerhin mögen einige (wie das Bild Bl. 187r 'Wie die frauwen vnd
megt zue Hamburg Im Karren ziehen miessen' und die bildliche Darstellung des
Rattenfängers von Hameln, die wir unten bringen) bisher unbekannt sein. Kritische
Betrachtung wird auf jeden Fall geboten sein; denn gleich am Eingang begegnet
uns ein eingeklebter Stich mit der Unterschrift 'Augustin Freiherr zu Mörsperg'.
Wir freuen uns, den kühnen Reisenden vor uns zu haben, und suchen Gesicht
und Schicksal in Einklang zu bringen. Eine lateinische Umschrift, die früher
überklebt war, kündet uns aber, dass der stattliche Ritter 'summus Caesarei
exercitus imperator illustrissimus princeps Carolus Mansfeldus comes' sei;
oder, sagen wir vorsichtiger, ihn vorstellen solle.
Immerhin richtig gefasst, bleibt das Buch ein Kleinod. Mögen sich die
Gönner finden, welche die vollständige Wiedergabe ermöglichen! Auch für die
Volkskunde wird manches dabei abfallen; als Proben hebe ich folgende Teile
heraus:
■■
78 B ehr end:
(. Vom Rattenfänger zu Hameln1).
Yon der Stat Hamblen In Westfalen vnd von den ISO Kindern, so sich da
verloren haben.
Von Cassell wider fortzogen vff Minden, so 2 Meil, zuo Pfert nach, von
Cassell laufft auch ein Wasser die Fulda genant, by Minden oberhalb in die
"Weser, können auch kleine schiff drauf faren.
Zue Minden vff ein schiff gesessen vnd auf der Weser gefaren biß gen
Hamblen, In Westfalen an Braunschwig, dohin ich dan Vorhabens whar, so man
1) Augustin von Mörsperg, Reisebuch (Reise 1592) Bl. 193b. — Vgl. Grimm, Deutsche
Sagen 2 nr. 245. Dörries, Zs. des histor. Vereins f. Niedersachsen 1880, 169. Meinardus,
Der historische Kern der Hameler Rattenfängersage (ebd. 1882, 256). Jostes, Der Ratten-
fänger von Hameln (1896). Meissel, Die Sage vom Rattenfänger von Hameln (1907).
Gutch, Folklore 3, 227. Bode, Des Knaben Wunderhorn 1909 S. 511. Schmidt, Studien
zur vgl. Litg. 8, 125.
Rechnet zu wasser 12. Meil, jn drythalb dagen verricht vnd vff der Weser durch-
zogen oder für vber, nämlich [Hier fehlen zwei Zeilen].
Hamblen ein feyne Statt, dem hertzogen von Braunschwig zuestendig, an der
Weser. Dieweil ich dan allerhant abenthür von disem Ortt gehört, jch selber es
sehen vnd hören wolt, vnd nämlich mier nit allein von den fiirnempsten des Rhatts
vnd prediger, sonder menniglich bestettet whartt, das vor 308. Jar, do man zeit
1284, vff Johanni vnd paulj Tag dohin komen sei ein pfiffer vnd spilman, mit einem
bundten Kleidt von vil färben jn dise Statt, so vil wunders gedriben haben soll
mit syner pfiffen, damit er jhnen vff ein kleine zeytt alle Ratten vnd meuß, durch
*
Kleine Mitteilungen.
79
sein pfiffen für die Stadt hinaußer jn denn wasser fluß die Weser gefiert vnd
bracht, dem sie all nachzogen, also vf ein schiffly gehalten uf dem wasser, biß
sie all erseufft vnd vmbkommen seint, deren ein vnsegliche wuest da gewesen
sein soll. Vnd aber jme die Stat ein schlechte besoldung oder Vererung vmb
ein gar geringers, ja ein spott gegen jrem Versprechen nach, so 30 golt gülden,
geben wellen, das er nit annemen wollen. Sondern bald darnach an einem
Sontag, dieweil man In der Kirchen gewesen, sein pfiffen wider braucht vnd hören
lassen, do jme ein große menge Kinder, so do zu hauß bliben waren, nämlich
130 Kinder von ettlichen straßen in der Stat, dardurch er pfiffen gieng, mit jme
hinauß fhuerett für die Statt ettlich 100 Schrit gegen einem Bergly Calvariâ genant,
welches bergly sich aufgethon, dorin der pfiffer mitsampt seinen Kindern zogen,
mit allenn sammen, biß auf eins, so vff der Strassen vnderwegs ligen bliben, aber
Erstumet gewesen, also nur zeigen vnd nit hören können, vnd gedeut, wo die
andern hinkommen seint, also solche Kinder mit grossem schrecken vnd klagen
Jamer[lich] verloren worden, das niemantz mer von jhnen gehortt hatt, wo sie
hinkommen.
Vnd solches factum die Statt jn jerem Ratsbuch geschrieben befindet vf Jar
vnd dag, das die fürnempsten Ratsherrn vnd auch geistlichen mir das gezeuget
war sein, vnd aber diser actus vf Johanni et pauli anno 1*284 sich begeben vnd
wenig zuvor zu jhnen komen. Dise geschieht ist an gar vilen ortten jn der Statt,
Rathauß, Kirchen biß jn den Wirtsheusern nit allein abgemalt, sondern jn vil
glaßfenstern gar artlich gemacht. Vnd hab hieneben, wie ich gesehen jn glaß
fenstern, abmalen lassen.
Also von der Zeit an hatt die Stat vnd Rhatt jn allen jeren schreyben zue
Endt gebraucht, nämlich noch Cristus geburtt vnd was es den gewesen, vnd
doran gesetzt: vnd nach vnser lieben Kinder außfartt, vnd auch so lang es dan
geweßt, vnd noch erst vor wenig Jaren by menschen gedencken solcher brauch
abgang wider [!]. Vnd noch vf diße stundt laßt man kein seittenspyl durch solche
straßen passieren by hocher straff, das hab jeh gesehen.
2. Von einer dänischen Bauernhochzeit.
Yon einer wunderbarlichen bauren hochtzeit jn Dennemarck gegen Nort-
wegen zue, dahin jeh geladen wart vnd kam.
Anno 1592. Vff eynen Sontag ward Jacob Krabbe von eynem seyner Richen
Bauren geladen, vff ein Hochzeit, vff ein groß dennemarckisch dorff jme zuestendig,
dahin er mich dan auch mit namb, erstlich zum. kirchgang, volgentz zue der mittag
Maltzeit. Da waren seltzam zue sehen die Ceremonien vnd gebreuch, wie klei-
dungen. Dan die Hochzeitterin sonderlich [hatte] ein Rock vnd Kleidt1), blau-
farb, vnd vberall mit kleinen silbern, auch vergulten blechly, von allerhant buech-
staben, blumen, rosen, sternen vnd zeichen vberzogen, wie hie vornne abgerißen,
jtem ein breitte gürtel rott, auch also von allerhant sachen, vnd wie schellen
formiert, auch klingten vmblegt, den Kopf wunderbarlich zugericht; jn summa es
glitzet gar fast.
In einem iedem langen Haus2) von holtz gebaut, do die fenster oben jm
dach, stuenden . 3 . langer disch, vberlegt mit proviant, vf einander gebigt vnd
1) Am Eande steht: Notta. Jedes dorf oder gemein haben ein solch kleid für jere
Hochtzeiterin.
2) Am Rande: Dennemarckhisch auch Nortwegische Hochtzeit vnder den Bauren.
80
Behrend, Philipp, Boite:
zusamengelegt, von brott oder langen kuchen, darzwischen von gedortten brot-
würsten, schuncken, gedigenen1) gensen, huner, Caponen, allerhant gereucht fleisch,
vnd auch wilpret vnd fisch, aber nichtz kocht, sonder wie man es auß dem rauch
oder kemmern herab nimpt, vf ein halb elen hoch, vf einander gelegt, vnd [war]
gleich wol ein provision Verhanden, das ein fendly knecht, ein dag oder zwee
genuegsamb hatten gehabt. Do kam nichtz warmbs vf den disch, biß schier zuem
lesten kam haber kerne2) auch von korn vnd reiß, aber alles vf ein weiß kocht,
in lautter butter wie jn erden schißlen, wart eim jeden gast ein schißel voll, mit
4 oder 5. finger hoch mit butter vberschwembt. Das fleischwerck wie auch fisch-
werck von Laxen, Hechten, braxmen, vnd allerhant sortten, gleich wie das fleisch
gedort, aß man also, schneyd jm ein jeder ein stuck ronder, wa jme gefellig,
bestreichs mit butter, vnd aß (zecht) dahin. Die gewonheit vnd hunger war in
disem ort ein guetter koch. Dise provision lag vf ein ander ein halb elen hoch
durch den disch außen, das kümmerlich 4. oder 5. finger platz mer vf beiden seiten
whar vf dem disch. Was das gedrenck [anlanget], war guet starck bier, so man
tlranck nit auß glesern, sonder auß schisslen, nepfen, döpfen, kantten3), krügen,
heffen, kublen, vnd allerhant geschir; aber die gemalten schisslen war der großt
bracht, vnd groß gemalt leffell mit langen stilen. Das Haus oder Zimmer, dan
doselbsten jedes Haüß ein sonder zimer ist, whar zimlich hell, wiewol es keine
fenster vf der seitten [hatte], sonder oben jm dach ettlich wenig, do dorzue jrs
Junckern Wappen jnstuent, vnd ein Zimer [hat] selten vber 2. fenster, aber den
gantzen dag die son, die dorüber und dorm scheint, vnd dergleichen Heusser jn
Nortwegen vnd Schweden gewinlich seint.
Große Ehr nach jerem brauch geschah vnß von disen leutten, aber mit
hungrigen bauch wie auch durstig zogen wier vf den abent darvon, vf seiner
Heußer eins gegen Nortwegen, zue Rußhalm genant 2. meil, aida wier vnß er-
quickten wider mit vnser gewonlicher proviant, vnd allein mier zue gefallen die
seltzamen brauch diser lantzartt sehen wellen laßen; dan diser Erlich von Adel
mier vil freintschafft vnd Ehr andhatt.
Gross-Lichterfelde. Fritz Behrend.
Zum Bahrrecht.
Die bisher veröffentlichten Belege über Ausübung des Bahrrechts auf deutschem
Boden beziehen sich meines Wissens nur auf den Süden, vgl. diese Zeitschrift
6, 208; Zs. f. dt. Altertum 39, 6ff.; Elsässische Monatsschrift f. Gesch. u. Volks-
kunde 1, 238 ff. und 436ff. (1910). Auch das Bildchen 'Bahrprobe' bei Georg
Steinhausen, Geschichte der deutschen Kultur3 (1913) S. 328, stammt aus Ober-
deutschland: es ist entnommen aus Diebold Schillings Schweizerchronik (1507—13)
in der Bürgerbibliothek zu Luzern.
Für Mitteldeutschland kannte ich aus der mir zugänglichen Literatur bisher
kein Beispiel. Erst ein kürzlich erschienenes Buch4) machte mich darauf auf-
1) Gediegen = geräuchert, gedörrt.
2) Haberkerne = Hafergrütze.
3) Kanten = Kannen.
4) Edm. Wauer, Geschichte der Industriedörfer Eibau und Neueibau (Dresden 1913^
S. 160 f.
Kleine Mitteilungen.
81
merksam, dass bereits vor zehn Jahren Aug. Weise in seinen Geschichtsbildern
von Ebersbach1) und Umgegend aus älterer Zeit (Ebersbach 1904) S. 79, folgende
Stelle aus dem zweiten Löbauer Rügenbuch abgedruckt hat: „Dornstags den
18. December 1557 ist von den königl.2) Gerichten alhier zur Löbau ein peinlich
Halsgericht vnd dingk gehalten, durch den Fronbothen publicirt vnd außgeschrien,
darauf Brosig Windisch mit gebiirlicher protestation ihm nahmen Christoff Webers,
seyner Bruder vnd Freundschaft vorgetreten vnd gebethen, den ermordeten zu be-
sichtigen. Dorauff ßoviel erschienen, daß ehr einen todtlichen schos vnter der
rechten Achsel gehabt, daß ihm der Odem außgegangen vnd also davon hat sterben
müssen. Dorauff ehr geklagt, daß Ihme Jurge Panewitz von der Eibe3) solchen
schaden zugefügt vnd vom leben wider got, gleich vnd recht zum Tode bracht
habe. Als aber Jurge Panewitz solches nicht geständig ist, ist er zur Leiche
gefurt vnd dieselbe anrühren müssen vnd als er sie zum drittenmal angerührt, ist
aus der wunden schwarze Jauche gelauffen." — Dies Zeugnis erscheint mir
namentlich deshalb wertvoll, weil die Gegend, aus der es stammt, dem Deutschtum
erst verhältnismässig spät gewonnen wurde, im wesentlichen erst im 13. Jahrh.
Im Zusammenhang hiermit sei daran erinnert, dass der Brauch ausserhalb
Deutschlands nicht nur in Nordfrankreich4) geübt wurde, dessen Bevölkerung ja
einen starken germanischen Einschlag hat, sondern auch in England bekannt war.
In Shakespeares Richard III. (I, 2) ruft Anna am offnen Sarge Heinrichs VI.
in Gegenwart des Mörders5):
0, gentlemen! see, see! (lead Henry's wounds
Open their congeal'd mouths, and bleed afresh!
Hierbei verweist Nie. Delius6) auf des Dichters Landsmann Michael Drayton
(aus Warwickshire, 1563—1631), der in einem seiner Sonette folgende Stelle hat:
If the vile actor of the heinous deed
Near the dead body happily be brought,
Oft 't has been proved the breathless corse will bleed.
Dresden. Oskar Philipp.
Zur Wanderung der Sckwankstoffe.
I. Münchhausens Entenjagd.
Unter den neun Geschichten, die Bürger 1786 seiner Verdeutschung von
Raspes englischem 'Münchhausen' einfügte, um sie zwei Jahre später um weitere
fünf Nummern zu vermehren, ist eine der eindrucksvollsten die Luftfahrt des
ingeniösen Barons mit den listig gefangenen Enten, die im Schornsteine seines
eignen Hauses ein überraschend glückliches Ende nimmt. An den von Müller-
Fraureuth7) und Grisebach8) nachgewiesenen älteren Parallelen kann man die
1) Südwestlich von Löbau, Oberlausitz.
2) Löbau gehörte damals, wie überhaupt die Oberlausitz, zum Königreich Böhmen.
3) Dorf Eibau, nordwestlich von Zittau.
4) Oben 6, 208; Zs. f. dt. Altert. 39, 6.
5) Die Stelle erwähnt schon Bieger in seiner Schulausgabe des Nibelungenlieds2
(Leipzig 1908) S. 65.
6) Shakspere's Werke4 (1876) 1, 994.
7) Müller-Fraureuth, Die deutschen Lügendichtungen 1881 S. 70. 136.
8) Wunderbare Reisen des Freyherrn von Münchhausen hsg. von Grisebach 1890
S. 16 und XXXVI.
Zeitsohr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 1.
6
82
Boite:
Entstehung dieses Lügenschwankes aus geringen Anfängen studieren. Im Volks-
buch vom Eulenspiegel (1515 cap. 8) foppt der Held einen geizigen Bauern,
indem er dessen Hühnern Fäden, an denen Brotstückchen angebunden sind, hin-
wirft, und ergötzt sich daran, daß die Hühner danach schnappen und sich um
das Luder ziehen, d. h. Strebekatze spielen1). Bleibt es hier bei einem blossen
Schabernack, so zieht in dem 1579 erschienenen französischen Schwankbuche 'La
nouvelle fabrique des excellens traits de vérité' von Philippe d'Alcripe2) ein
schlauer Vogelsteller Nicolas des Murs aus einer ähnlichen List besondern Vorteil;
er wirft den Kranichen eine an eine Angelschnur gebundene Bohne hin, die vom
ersten verschluckt bald unverdaut hinten herauskommt, vom zweiten aufgerafft
wird und so fort, bis Nicolas alle Vögel packt und heimträgt, wenn sie auch
anfangs mit ihm in die Höhe flattern (combien qu'il fat enlevé assez haut de
terre). Diese Entführung durch die Luft ist in der Jagdgeschichte des Vincentius
Ladislaus beim Herzog Heinrich Julius von Braunschweig3) und in einigen
späteren von Müller-Fraureuth zitierten Schwankbüchern zur Hauptsache geworden:
ein Schütz, der zwölf Kraniche mit einem Schrotschuss verwundet und eilig in
den Gürtel gesteckt hat, wird von den sich wieder erholenden Vögeln in die Ferne ent-
führt. In einer neuerdings aufgezeichneten brandenburgischen Sage4) sind
es nicht Kraniche, sondern Wildgänse, die von dem aus einem lecken Fass auf
den Weg geflossenen Spiritus trinken und betäubt daliegen. Ein Schneider kommt
des Weges und steckt die gefundenen Gänse mit den Hälsen in seinen Gürtel.
Allmählich aber erwachen diese aus ihrem Rausch, regen die Flügel und tragen
den Schneider durch die Luft davon.
Münchhausens Abenteuer entspricht am meisten der französischen Jagd-
geschichte, die nach Grisebach auch Bürgers Vorlage bildete. Wenn man aber
die nachstehende Geschichte vom Entenfange durch einen Bindfaden mit einem
Speckköder liest, die dem ersten Teile von Bürgers Erzählung auffällig gleicht,
wird man mindestens zugeben müssen, dass Philippe d'Alcripe nicht die einzige
Quelle Bürgers war. Ich entnehme sie einem bisher kaum beachteten Abenteuer-
romane, der sowohl als Nachahmung von Grimmelshausens Kriegsschilderangen
als durch die eingelegten galanten Lieder5) interessiert: Der verkehrte doch
wiederbekehrte | Soldat, | Adrian Wurmfeld | von Orsoy, | . . . Durch Crispinum
1) Vgl. über dies Spiel Bolte-Seelmann, Niederdeutsche Schauspiele 1895 S. *31. Zs.
f. Volkskunde 17, 244. Alemannia 35, 126.
2) Neudruck, Paris 1853 S. 66. Übernommen von Du Moulinet, Facécieux devis
1612 p.78.
3) Heinrich Julius von Braunschweig, Schauspiele hsg. von Holland 1855 S. 536
(1594) = Goedeke, Schwanke des 16. Jahrh. 1879 S. 69. — Dagegen fehlt in der Enten-
geschichte der Zimmerischen Chronik 3, 568 = Goedeke S. 71 der Flug durch die Luft.
4) Graffunder, Nachtrag zu den Sagen der Mark Brandenburg (Progr. Berlin 1912
nr. 99) S. 20 'Der Schneider von Petersdorf'. Der Herausgeber vergleicht damit Lokis
Abenteuer mit dem Adlerriesen Thjazi (Herrmann, Nord. Mythologie 1903 S. 439).
5) S. 8 ein Tabakslied: 'Hab ich schon itzund nichts dann dieses dürre Kraut
(5 Str.). — S. 12 ein March-Liedgen: 'Frisch auff, frisch auff, Soldaten-Blut, Frisch auff,
erhebe deinen Muth' (4 Str.; ähnlich Kopp, Ältere Liedersammlungen 1906 S. 87). —
S. 15 ein Liebeslied: 'Schwartzes Mädgen, meine Freude' (6 Str. Chr. Weise, Überflüssige
Gedanken 2, 52. 1674). — S. 17 : 'Gesteh es nur, mein Kind, und lächle nicht zu viel'
(7 Str. Aus Olodius hsl. Liederbuch von 1669 nr. 65 bei Blümml, Futilitates 3, 41. 1908
und bei Hoffmannswaldau, Gedichte 1, 33. 1695). — 'S. 18: 'Soldaten-Manier Erfordert
nicht hier' (2 Str.).
Kleine Mitteilungen.
83
Bonifacium | Von Diisseldorp |[ Gedruckt im Jahr 1675. (39 S. 4°. — Berlin
Pb 11 080). Hier steht auf S. 20 folgendes Abenteuer des Helden:
Als er sich einmahls zu Fusse in das Holtz geschlichen, ein Wildpret zu suchen, hat
er einen grossen Teich angetroffen, auff welchem sich sehr viel wilde Endten befunden^
weil er aber keine Schrot-büchse nicht bey sich, und mit seinem Carbiner nicht viel
würde außgerichtet haben, als brauchte er diese List. Er nahm einen Knaul Bindfaden^
machte unten ein Stückgen Speck sehr fest an, und ließ es auff dem Wasser hin schwimmen^
er aber versteckte sich in dem Schilff und laurte, biß die Endten deß Specks gewahr
worden, da schwummen sie mit grossem Geschrey darauff [21] zu. Die erste, auß Beysorg,
die andern möchte ihrs wegrauben, verschluckte den Speck sehr geitzig, und worgte sich
wegen deß Bindfadens so starck ab, biß der glatte Speck ihr durch den hintersten fuhr,
welchen flugs eine andere erschnappte, der es wie der ersten ergieng, worauff auch die
dritte herbey kam, mit welcher sichs gleichfalls nicht anders ereignete, also daß Adrian
auff einem Zug drey Enden an einem Bindfaden hinter einander herauß ziehen und ihnen
die Hälse umbdrehen konte.
Ähnlich lautet eine kleinrussische Erzählung 'Wie ein Jäger Gänse ohne
einen Schuss eingefangen'1).
2. Die misslungene Ehestiftung Friedrich Wilhelms I.
Über den Ruhm Friedrichs des Grossen beim niederen Volke erzählt der
Turnvater F. L. Jahn2) im Jahre 1800:
'Im Yaterlande und Auslande wurden nun bald alle Begebenheiten, welche Volks-
sagen fortpflanzten, auf den großen König übergetragen. So wie im Orient noch jetzt
alles Merkwürdige, die größten Denkmäler und wichtigsten Unternehmungen Alexander,
dem großen Eroberer, zugeschrieben werden, so wurde in Preußen und Deutschland fast
alles Vergangene dem großen König angedichtet. Auf Reisen durch Preußen und
Deutschland habe ich in verschiedenen Ländern die Volkssage erzählen gehört, welche
der treffliche Bürger in seinem Abt von St. Gallen verewigt hat3). In Preußen und an-
grenzenden Landen ist der Kaiser aus diesem lustigen Märchen verschwunden, Friedrich
der Große ist an seine Stelle gekommen, aber der Geistliche und Schäferknecht haben
sich behauptet.'
Diese Beobachtung Jahns lässt sich, wie hoffentlich nächstens ein besonderer
Aufsatz in diesen Blättern genauer schildern wird, auch aus späterer Zeit vielfach
belegen. In geringerem Masse als die Gestalt Friedrichs II. hat die seines Vaters,
des strengen und sparsamen Königs Friedrich Wilhelm I., sich im Andenken des
Volkes fortgepflanzt und dessen Phantasie beschäftigt. Immerhin hat seine Lieb-
haberei für die 'langen Kerls' seiner Garde mindestens in einem Falle eine ähn-
liche Anekdotenübertragung wie die von Jahn beschriebene veranlasst. In einem
lesenswerten Aufsatze machte E. Damköhler4) darauf aufmerksam, dass sich
in dem umfänglichen Romane Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig 'Die
römische Octavia' eine Episode finde, die auffällig mit einer Begebenheit aus dem
1) Tarasev.skyj, Hnatjuk und Krauss, Das Geschlechtleben des ukrainischen Bauern-
volkes 1, 55 nr. 83 (1909).
2) Über die Beförderung des Patriotismus im Preussischen Reiche (unter dem
Pseudonym O. C. C. Höpffner gedruckt Halle 1800) S. 7 = Jahn, Werke 1, 4 (Hof 1884).
3) Vgl. Oesterley zu Pauli, Schimpf und Ernst ur. 55. R. Köhler, Kl. Schriften 1, 82.
267. 492. Grimm, KHM. nr. 152 'Das Hirtenbüblein'. Eine Monographie wird von
Dr. W. Anderson in Kasan vorbereitet.
4) Zeitschrift für den deutschen Unterricht 22, 595—599 'Anekdotenübertragung' (1908).
6*
84
Boite:
Leben des preussischen Königs übereinstimme. In der unvollendeten letzten,
siebenbändigen Bearbeitung der Octavia, die in den Jahren 1712—1714 erschien,
berichtet der Gesandte Vatinius über Julius Vindex, den römischen Statthalter in
Aquitanien, (5, 63) folgendes:
Es hatte Julius Vindex sich fürgenommen, unter seine Leib-Wache lauter grosse
starkke ansehnliche Kerls zu nehmen, und war damit nicht vergnügt, daß die für ihre
Persohn und bey selbiger Zeit solcher gestalt angeschaffet wurden, besondern er wolte
auch diese grossen Arth auf die Nachkommen fortgepflantzet wissen; daher musten alle
diese grosse Soldaten sich mit den grossesten Weibs-Bildern, die man nur im Lande
ausfinden konte, vereidigen, daß sonder eintzige Ein- noch Wiederrede öflters Lenthe zu-
sammen kamen, die sich vorhin nie gesehen hatten, auch die geringste Zuneigung einer
zu dem andern in sich nicht entfunden.
Gleich wie nun zu dieser Musterung sich sehr viele Zuschauer, so mehrentheils in
Land-Volcke bestunden, einfanden, also muste es sich auch so fügen, daß Julius Vindex
unter denen Weibes-Leuthen eine überaus grosse Dirne erblickte, die ihm gleich so für
käme, daß sie sich für einen seiner Soldaten schickte. Er erkiesete demnach einen darzu,
der unferne von dar unter den damahligen Obristen Aelius Gracilis eingelagert war, an
welchen Obristen dann sofort ein schriftlicher Befehl ergienge, daß er vorerwehnten Sol-
daten mit derjenigen, die ihn diesen Befehl zubringen würde, gleich solte trauen lassen.
Diese Dirne nun, welcher solches nicht anstünde, muste zwar gehorsahmen und mit den
Befehl fortwandern; unterwegens aber traffe sie eine alte Frau an, welcher sie den Brief
gäbe, mit Bitte selbigen an ihrer statt den Aelius Gracilis zu überbringen.
Die guthertzige Alte an nichtes arges gedenckend, liesse sich mit diesem Schreiben
gantz gutwillig beladen, welches sie auch dem Aelius Gracilis sofort überbrachte, der den
Befehl des Julius Vindex ersehend, nicht wüste, wie er daran war, und es dahin aus-
deutend, als wann diesem Soldaten zu sonderbahrer Straffe dis alte Weib solte gegeben
werden, forschete er nicht ferners nach, wie es hierum bewand, besondern aus der Er-
fahrung wol wissend, daß Julius Vindex ohne einige Wiederrede gehorchet wolte seyn,
liesse er die Alte in eine Neben-Kammer treten und den Soldaten auch zu sich fordern,
deme er bedeutete, daß zufolge des erhaltenen schriftlichen Befehls er ihn sogleich eine
Frau solte geben lassen. Der Soldat aus schuldigem Gehorsam war hiezu sofort bereit,
mit Verlangen erwartend diejenige zu sehen, so man ihme bestimmet, worauf dann Aelius
Gracilis das alte Weib zum Vorschein kommen liesse. Man kan sich leicht einbilden,
wie dieser junge Kerl bey Ansichtigung derselben, wie nicht weniger die Alte bestürzt
müsse seyn geworden; massen die, als ihr dieser Fürtrag auch geschähe, fast sinnloß
bliebe, daß sie einen so jungen Menschen nehmen solte, der unmüglich wohl mit ihr
würde hausen können. Ihrer beider Wiederreden halffe aber nichtes, weil der gemessene
Befehl des Stadthalters da war, sondern es muste sofort ein Druide erscheinen, der die
gewöhnlichen Gebräuche bey der Hochzeit solte verrichten. Die Verzweifflung demnach,
so den gezwungenen Bräutigam und die gezwungene Braut darauf überfiele, verursachte,
daß sie an statt sich die ehliche Hand zu geben, sich beiderseits einander in die Haare
fielen und mit allen Kräfften sich zur wehre setzeten. Da dann der starcke Soldat die
schwache Frau dergestalt zurichtete, daß, ehe man diese Gewaltthätigkeiten steuren
konte, sie von Eyfer, Schrecken und von ihres Bräutigams plumpen Umtahungen nicht
allein ohnmächtig wurde, sondern auch darauf so schwehrlich befiele, daß unumgänglich
die Vertrauung aufgeschoben muste werden.
Einige Tage nach der verrichteten Musterung bekäme Julius Vindex von dem Aelius
Gracilis hievon Bericht, der also lautete: Daß, so gerne er auch dem Befehl des Stadt-
haiters sofort wollen ein Genügen thun, die Wiedersetzlichkeit der beiden Persohnen
dennoch so groß gewesen wäre, daß er noch zur Zeit damit inhalten müssen. Julius
Vindex, der aus diesem Bericht nicht erfahren, daß ein Irrthum in der Persohn für-
gegangen, ergrimmete dergestalt auf den Soldaten, daß der an Händen und Füßen ge-
schlossen, sofort ins Lager gebracht muste werden, da man seines Ungehorsams halber
ihn zum Tode verdammete und sogleich auf den Richtplatz führte, allwo er getödtet
Kleine Mitteilungen.
85
solté werden. Die Neugierigkeit brachte daselbst viel Yolck zusammen, unter denen sich
dann auch nebst andern die grosse Dirne befände, so dieses Spiel angerichtet, die, den
jungen frischen Soldaten ersehend, deme man sie bestimmet gehabt, in sich ein Mit-
leiden empfände und, um ihn vom Tode zu retten, alles bekannte, wie sie es damit an-
gefangen. So sehr des Julius Vindex Zorn zuvor entbrandt gewesen, so sehr verwandelte
sich derselbe hierauf in ein gnädiges Urtheil, daß sowohl der Dirne ihr Fürwitz, als dem
Soldaten sein Ungehorsam vergeben und sie beide darauf mit einander verehlicht wurden.
Die entsprechende Geschichte über den preussischen Soldaten, für die Dam-
köhler nur K. F. Beckers Weltgeschichte 7, 274 (1886) als Beleg anführt, ist oft
erzählt und bearbeitet worden1); ich setze sie nach dem ältesten mir bekannten
Bericht in dem 11. Bande der 'Karakterzüge aus dem Leben König Friedrich
"Wilhelm I.' (Berlin 1797) S. 98—104 her:
Einst befand sich der König auf einen Spatzierritt in der Nachbarschaft von Pots-
dam, als ihm auf dem Wege ein wohlgewachsenes Mädgen entgegen kam. Ihre ansehn-
liche Leibesgestalt fiel ihm gleich in die Augen. Er wandte sich zu den ihn begleitenden
Generaladjutanten von Derschau2) und sagte zu ihm: Nicht wahr, das wäre so ein Mädgen
für Mackdoll? (Dies war ein Irrländer, der bei den großen Grenadiers stand, und welcher
dem Könige sehr gefiel, indem er ein schöner Kerl war.) Derschau wagte es nicht zu
widersprechen und gab dem Monarchen geradehin Beyfall. Wo willst du hin? fragte
hierauf der König dem [!J Mädgen. Diese, welche ihn nicht kannte, antwortete ganz
schüchtern: Nach Potsdam, lieber Herr. — So? fuhr der König fort, willst du mir wohl
einen Gefallen thun und etwas an den Kommandanten da zu [!] bestellen? — Warum
nicht, antwortete das Mädgen. Sogleich mußte Derschau ein Blatt Papier aus der Brief-
tasche geben, worauf der König schrieb: Sobald Überbringerin dieses zu euch kömmt, so
laßt sie ohne Verzug und Widerrede dem Mackdoll antrauen. Dies Blatt schlug der
König zusammen, gab es dem Mädgen und band es ihr recht ernstlich ein, es ja sogleich
abzugeben, welches sie zuversichtlich versprach. Hierauf schenkte er ihr einen Gulden
und verließ sie, mit sich selbst vergnügt, ein gutes Werk gestiftet zu haben, und zu-
frieden, daß sein Mackdoll eine so gute Frau bekommen würde.
Inzwischen dachte das Mädgen nach, was das wohl zu bedeuten haben möchte. Ein
Gulden für den kleinen Dienst schien ihr zu viel, und da sie etwas blöde war und nicht
lesen konnte, so sann sie nach, wie sie sich dieser ihr verdrießlichen Kommission ent-
ledigen könnte. Indem sie darauf dachte, begegnete ihr kurz vor Potsdam ein altes
Weib, welches sie anredete und ihr sagte, sie hätte eine Bestellung bei einem Officier in
Potsdam, der der Kommandant hieße; da sie aber nicht gerne bei Officiere ginge, weil
die Herren nicht immer mit den Mädgen gut umgingen, so wollte sie ihr einige Groschen
geben, wenn sie die Mühe übernähme und dies Billet an den Kommandanten abgeben
wollte. Das Weib versicherte, daß sie diesen Kommandanten wohl kenne, daher sie keine
Bedenklichkeit fände, für diese kleine Mühe einige Groschen zu verdienen, und versprach
alles wohl auszurichten. Das Mädgen gab ihr mit Freuden das Billet nebst einigen
Groschen, und darauf schieden sie.
Sogleich ging das Weib zum Kommandanten, der das Billet durchlas, fand, daß
es3) mit des Königs Hand geschrieben war, sähe aber mit Verwunderung das Weib
von oben bis unten an und konnte nicht begreifen, wie der Monarch zu dieser Idee ge-
1) Fr. Förster, Friedrich Wilhelm I. König von Preußen 2, 300 (Potsdam 1835);
A. Streckfuß, 500 Jahre Berliner Geschichte 1880 S. 310; Julius v. Voß, Berlin 1724 (Lust-
spiele für das kgl. Hoftheater zu Berlin 1824. J. Hahn, J. v. Voß 1910 S. 130) usw.
2) Der Generaladjutant C. R. v. Derschau, Major, später Oberst beim Forcadischen
Infanterie-Regiment, 1738 Kommandeur des späteren Regiments Prinz von Preußen,
t 1742, war ein Liebling des Königs (Beneckendorf 1, 89. 2, 37. Allg. dt. Biographie 5, 67).
3) er] Druck.
86
Boite :
kommen wäre, mit einem solchen abgelebten Gerippe einen so schönen Kerl, als der
Grenadier war, zu verheirathen. Inzwischen beschloß er zu gehorsamen. Mackdoll
mußte erscheinen, ein Prediger gleichfalls, und nachdem er ihnen des Königs Willen be-
kannt gemacht hatte, befahl er die Trauung vorzunehmen. Mackdoll wollte unsinnig
werden und protestirte dagegen aus allen Kräften. Das half aber zu nichts, da ihm der
der Kommandant die Ordre des Königs vorzeigte und sagte, daß dawider nichts einzu-
wenden sey; er müsse sich fügen. Nach der vollzogenen Kopulation, die sehr unruhig
herging, ließ der Kommandant das neue Paar in Mackdolls Quartier eskortiren, weil
letzterer von nichts wissen wollte und seiner neuen Gattin, die ebenfalls nicht begreifen
konnte, wie ihr geschehen und ganz stumm geworden war, eine nicht geringe Anzahl
Rippenstösse beibrachte, die sie nicht verdient hatte.
Kaum war der König auf den Abend zurückgekommen, als er nachfragen ließ, ob
der Kommandant seine Ordres vollzogen habe und Mackdoll kopuliren lassen. Dieser
ließ zurück melden, er hätte Sr. Majestät Befehl zwar gehorsamst beobachtet, allein er
befürchte, daß ein Unglück entstehen werde, weil sich das Paar unmöglich für einander
schicke. Der Kerl ist ein Narr, sagte der König lächelnd, sie werden sich wohl an ein-
ander gewöhnen. In der Abendgesellschaft sprach er noch viel von der gestifteten
Heirath und versicherte, daß man seinem Beispiele, stets Gutes zu thun, wo man könne,
nachzuahmen sehr wohl thun würde.
Am folgenden Tage ganz früh trat Mackdoll den Monarchen an und beklagte sich
gegen ihn heftig, daß man ihn mit Gewalt und wider seinen Willen mit einem so häß-
lichen alten Thiere zusammengebracht und auf dessen Befehl kopulirt hätte. Der König
wunderte sich über diesen Ausdruck sehr und erwiederte, er müsse keine Augen im Kopfe
haben, um das artige Mädgen zu sehn, das er selbst für ihn gewählet hätte und von
dem er zuverlässig glaube, daß er mit ihr glücklich sein werde, wozu er denn noch
übrigens alles weiter beitragen wolle. Mackdoll wußte gar nicht mehr, was er sagen
und vorbringen sollte, um sein Unglück zu schildern; so unzusammenhängend und wun-
derbar war ihm alles, was mit ihm vorgegangen war. Inzwischen nahm er nochmals alle
seine rednerische Kräfte zusammen, beschrieb dem Könige das alte Weib, so gut er
konnte, indem er gebrochenes Deutsch sprach, und fragte, ob er wohl mit einem solchen
Geschöpfe glücklich seyn könnte; lieber wolle er sich ersäufen als das Ungeheuer länger
um sich leiden. Der König wüste nun auch nicht aus der Sache klug zu werden und befahl,
den Kommandanten sowohl als die neue Frau eiligst vor ihm zu bringen.
Als sie gekommen waren und der König die letztere erblickte, wußte er gar nicht,-
was er zu diesem allen sagen sollte, und schwieg einige Minuten ganz ernsthaft still
Mackdoll rief nun aus: Nun, Ew. Majestäten, sehen Sie nun das schöne Thier! Mit der
soll ich leben! Lieber todt! — Hierauf erzählte der Kommandant dem Könige, wie alles
geschehen sei, und dieser merkte nun wohl, daß das Mädgen ihn, den Kommandanten
und am meisten den armen Mackdoll hintergangen habe. Er schalt heftig darauf und
verlangte, dass man die H . . . aufsuchen sollte; die sich aber nirgend finden lassen wollte.
Mackdolls Ehe ward sogleich für null und nichtig erkläret, und dieser erhielt ein Ge-
schenk, um alles wieder zu vergessen.
Über die enge Verwandtschaft dieser beiden Anekdoten kann kein Zweifel
herrschen, ebensowenig darüber, dass die Lösung bei Anton Ulrich durch den
Jähzorn des Statthalters, der den armen Ehemann wider Willen zum Tode ver-
urteilt, und durch das Schuldbekenntnis der reuigen Dirne bedeutend romanhafter
und effektvoller wirkt als der zahme Schluss der Potsdamer Geschichte, wo der
König die Ehe aufhebt und den bedauernswerten Soldaten durch ein Geschenk
tröstet. Nun hat Damköhler (Zs. f. dt. Unterricht 22, 598) darauf hingewiesen,
dass die Erzählung noch nicht in der vorhergehenden sechsbändigen Ausgabe der
Octavia von 1711 steht und somit vom Herzog 1712 oder 1713 hinzugefügt sein
muss1), dass ferner Friedrich Wilhelm I. am 25. Februar 1713 den preussischen
1) Uber die bis zu seinem Lebensende währende Arbeit des Herzogs Antou Ulrich
Kleine Mitteilungen.
87
Thron bestieg und möglicherweise ein Vorfall aus den ersten Monaten seiner
Regierung den Anlass zu jener Einschaltung in den Roman lieferte1). Diese
Möglichkeit jedoch erscheint an sich wenig glaublich und verliert noch mehr an
Wahrscheinlichkeit, wenn man das älteste Zeugnis für die Potsdamer Geschichte
näher ins Auge fasst. Die 11. Sammlung der'Karakterzüge' nämlich ist nicht wie
die voraufgehenden 10 Bände von dem Präsidenten K. F. v. Beneckendorf
(-J- 1788), sondern von einem wenig gebildeten, breit erzählenden Anonymus ver-
fasst, der in der Vorrede S. 4f. selber bekennt: 'Um diese Sammlungen nicht
allein zu vermehren, zu ergänzen und vollständiger zu machen, hat man alles auf-
gesucht, was dazu dienen kann .... Und wenn es auch seyn sollte, daß eine
oder die andere Anekdote nicht ganz so der Wahrheit gemäss vorgetragen wäre,
als es bey näherer Kenntniß mit ächten Quellen hätte seyn können, so thut dies
zur Sache wenig oder nichts, indem sie doch immer in den [!] Ton abgefaßt ist,
in welchem sie sich bis jetzt von Mund zu Mund erhalten hat, und also wird sie
stets eine Art von Eigentümlichkeit behalten, welche sie der Aufbewahrung werth
macht.' — Es ist also nach dem eigenen Geständnis des Verfassers eine trübe
Quelle, aus der die späteren Berichterstatter wie Friedrich Förster, K. F. Becker
usw. geschöpft haben, und trotz der bestimmt auftretenden Personennamen
v. Derschau und MacDoll werden wir ihr so wenig Glauben schenken, als etwa
der Anekdote vom Brotlöffel, den der alte Ziethen an der Tafel Friedrichs des
Grossen improvisierte2). Entweder stammt die Potsdamer Geschichte aus der
Römischen Octavia oder aus einer noch unbekannten älteren Vorlage für diese3)
ab und ist später auf den durch eine Vorliebe für hochgewachsene Soldaten be-
kannten Friedrich Wilhelm I. übertragen worden.
3. 'Hast du denn mehr?'
Vor einigen Jahren ging eine Geschichte durch die Zeitungen, die dem Herzog
Johann Albrecht von Mecklenburg bei einem Aufenthalte auf einem mecklen-
burgischen Rittergute begegnet sein sollte, als er frühmorgens allein umher-
wandelnd, sich mit einem Hütejungen unterhielt. Genau dieselbe Geschichte finde
ich jetzt bei einem vergessenen oldenburgischen Schriftsteller G. A. von Halem
wieder, der sie vor mehr als hundert Jahren in seinen Schriften 1, 269—275
(Münster 1803) von einem alten Herzoge von Baiern erzählt. Bei einer Unter-
haltung über den Ausspruch des Sokrates, Genügsamkeit sei der natürlichste Reich-
tum, berichtet der Herzog folgendes Erlebnis (S. 274):
an seinem grossen Romane vgl. Zimmermann, Braunschweigisches Magazin 7, 90. 102
(1901); auch Bolte, Zs. f. vgl. Literaturgeschichte 3, 454.
1) Dass Anton Ulrich vielfach Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse und Per-
sonen einflocht, ist bekannt; doch existiert gerade zur 'Gesandtschaft des Vatinius' (4. Aus-
gabe 1712 5, 57—67) kein Schlüssel; s. Zimmermann, Braunschweigisches Magazin 7, 108.
Es gab aber auch vor dem preussischen Könige Fürsten, die auf eine Garde von Riesen
ausserordentlichen Wert legten und dadurch dem braunschweigischen Herzoge Anlass zu
einem kleinen Stichelschwanke geben konnten.
2) Vgl. darüber Bolte, Forschungen zur brandeiiburgisch - preussischen Geschichte
11, 20á (1898).
3) Vielleicht deuten auf eine solche gedruckte Quelle die Schlussworte des Vatinius
bei Anton Ulrich: 'Des damahls berühmten Petronius seine nunmehr bekannte Schrifft
Eustion hat diese Begebenheit gar artig ausgeführet. . . gleichwie ich bey meinem Herrn,
den Calpurnius Piso, selbige nachdem mit meiner großen Belustigung gelesen.'
88
Boite, Calanti:
Ich traf auf dem Felde, nahe bei der Wildbahn, einen Bauernknaben, der die Schafe
hütete. Er kannte mich nicht. Ich Hess mich mit ihm in ein Gespräch ein. 'Wie viel
Lohn bekommst du?' — 'Ich habe Kost und Kleidung.' — 'Was mehr?' — 'Sonst nichts.'
— 'Ei,' erwiderte ich, 'das ist doch zu wenig.' Der Knabe sah mich an von oben bis
unten; dann fragte er schnell: 'Hast du denn mehr?' Die Frage machte mich stumm.
So viel Wahrheit in vier Worten hatte ich noch nie gehört. Glaubt ihr's wohl, dass ich
nicht das Herz hatte, dem genügsamen Buben Avas zu schenken? Ich ritt meines Weges.
Berlin. Johannes Bolte..
Der Schwank vom Zeichendisput in Litauen und Holland.
Im 31. Heft der Mitteilungen der Litauischen literarischen Gesellschaft (1912)
werden von den verschiedensten Dialekten des Litauischen von Dr. A. Doritsch
eine Menge Proben mitgeteilt. Eine von diesen, in der Mundart von Wisborienen
abgefasst, lautet in möglichst wortgetreuer Übersetzung wie folgt:
Ein gewisser Spanier war einmal in Gesellschaft eines Fürsten in der Stadt
London angekommen. Nach dem Mittagessen fragte er den Fürsten, ob nicht in
dieser Stadt jemand zu finden wäre, der die Geberdensprache zu reden verstände.
„Freilich nicht hier," antwortete der Fürst, „sondern (wohl) in Glasgow." „Gut,"
antwortete der spanische Professor, „dann werde ich (dahin) reisen." Da bedachte
der Fürst mit Schrecken, was er jetzt machen sollte; da depeschierte er sofort
nach Glasgow an die Studenten der Universität, dass ein Professor Soundso dort-
hin auf Reisen sei, der die Geberdensprache reden wolle. Da erschraken auch
jene, und (unmittelbar) nachdem die Depesche eingelaufen, war auch dieser Spanier
da. Als er fragte, ob der Professor (da) war, der die Geberdensprache zu reden
verstand, antworteten sie: „Er ist nicht zu Hause, er ist verreist." Da antwortete
der Spanier: „Ich werde warten, wenn auch drei Tage; ich will mich mit ihm
unterhalten." In der Stadt gab es nun einen gewissen Fleischer, der nur ein
Auge hatte, Nilsen mit Namen. Die Studenten bestellten diesen zu sich (und
fragten ihn), ob er es nicht übernehmen wolle, mit dem spanischen Professor die
Geberdensprache zu reden. Als er es übernommen hatte, kleideten sie ihn in die
Professoren-Toga, und als sie fertig waren und der Fleischer ein Stück Brot in der
Tasche hatte, wie die Fleischer, wenn sie die Schenke besuchen, beim Schnaps
davon einen Bissen zu nehmen lieben — jetzt als der Fleischer fertig war, riefen
sie den Spanier und sagten ihm, dass der Professor schon von der Reise zurück-
gekehrt war. Da begab sich der Spanier auf den Rasen, wo jener Professor
war. Beim Eintreten verbeugte sich der Spanier, und der Fleischer ver-
beugte sich dreimal so viel mehr. Da steckte der Spanier einen Finger empor,
der Fleischer aber steckte zwei empor. Der Spanier steckte drei Finger empor,
der Fleischer aber, die ganze Faust zusammenkneifend, hielt ihm dieselbe vor.
Der Spanier nahm eine Apfelsine aus seiner Tasche und hielt ihm dieselbe vor.
Der Fleischer nahm das Stück Brot aus seiner Tasche und hielt ihm dasselbe
vor. Jetzt hatten die beiden alles ausgeredet, und als alles erledigt war, verbeugte
sich der Spanier, und der Fleischer verbeugte sich wiederum seinerseits. Als der
Spanier jetzt in das Universitätsgebäude hereinkam, da fragten ihn die Studenten,
wie er sich mit dem Professor unterhalten hätte. Da antwortete jener: „Pracht-
voll! Solch einen Menschen habe ich weder in Spanien noch anderswo angetroffen
wie in Glasgow: ich steckte ihm einen Finger empor, da steckte er mir zwei
Kleine Mitteilungen.
empor; ich steckte ihm drei empor, da hielt er mir die ganze Faust vor; ich
zeigte ihm eine Apfelsine, da nahm er ein Stück Brot aus der Tasche und hielt
es mir vor." Der spanische Professor entfernte sich. Jetzt riefen sie den Fleischer
zu sich. Der Fleischer nun antwortete ihnen: „Wenn ich mit ihm auf der Strasse
zu reden bekommen hätte, würde er Prügel bekommen haben. Er steckte einen
Finger empor und zeigte, dass ich nur ein Auge habe; ich steckte ihm zwei
Finger empor und zeigte, dass ich mit dem einen Auge soviel sehe wie er mit
den zwei; aber er steckte wieder drei Finger empor und zeigte mir, dass wir
beide nur drei Augen hätten. Es ist sein Glück, dass wir uns nicht auf der
Strasse getroffen haben."
In dieser hübschen Geschichte vermissen wir etwas, nämlich erstens die
Deutung der Geberden von seiten des spanischen Professors und zweitens den
Schlussteil der Deutung der vom Fleischer ausgeführten Gesten.
Dieselbe Geschichte nun, aber vollständig, ist in Holland bekannt. Mein
Kollege und Freund Dr. S. D. van Veen, Professor der Theologie an der hiesigen
Universität, erzählte sie mir einst in der folgenden Weise. Er hatte schon als
Student die Geschichte von jemandem erzählen gehört, konnte sich aber seines
Gewährsmannes nicht mehr entsinnen.
Ein indischer Prinz kam nach Holland und wollte auch die Leidener
Universität besuchen. Die Studenten wollten ihm alle Ehre erweisen und zu
gleicher Zeit einen guten Eindruck ihrer Universität beibringen. Als Bauern ver-
kleidet reisten sie ihm entgegen. In einem Dorfe redeten einige von ihnen den
Prinzen auf Lateinisch, in einem zweiten einige andere auf Griechisch, in einem
dritten wieder einige auf Hebräisch an. Da war der Prinz ausserordentlich er-
staunt. „Wenn schon die Bauern in diesem Lande so gebildet sind, wie müssen da
erst die Leidener sein," sagte er, „und dann wird es dort unter den gelehrten
Professoren wohl auch einen geben, der die Geberdensprache zu reden versteht."
„Gewiss," wurde ihm geantwortet. „Dem möchte ich wohl gerne einmal be-
gegnen," sagte der Prinz wieder, „ich selber habe nämlich auch ein besonderes
Studium dieser Sprache gemacht." Man versprach nun, ihm Gelegenheit zu geben,
sich auch in dieser Sprache zu unterhalten. Nun hatten die Studenten einen ge-
wissen einäugigen Kees als ihr Faktotum in ihrem Dienste; dieser wurde von
den Studenten gerufen, und nachdem man ihn als Professor gekleidet hatte, wurde
er beauftragt, sich genau nach den Vorschriften zu betragen: er solle einem
Herrn begegnen, dürfe aber kein Wort reden, sondern nur Geberden machen.
Jetzt wurde dem orientalischen Prinzen mitgeteilt, dass der Professor der Ge-
berdensprache bereit sei, ein Kolloquium mit ihm zu halten. Als sich die beiden
zur bestimmten Zeit und am bestimmten Orte eingefunden hatten, verbeugte man
sich gegenseitig, und der Prinz steckte einen Finger empor, worauf Kees zwei
erhob. Darauf steckte der Prinz drei Finger empor, Kees aber zeigte ihm die
geballte Faust. Der Prinz hielt dem Kees eine Apfelsine vor. Kees aber holte
ein Stück Brot aus seiner Tasche und zeigte ihm dasselbe. Als die Unterredung
damit beendet war, bezeugte der Prinz den Studenten seine grosse Zufriedenheit
über den in der Geberdensprache so überaus erfahrenen Professor. „Denn," so
sagte er, „wir haben eine tiefsinnige Unterredung über theologische Sachen ge-
führt. Ich sagte ihm: „Es gibt nur einen einzigen Gott: Allah," da antwortete
er, indem er zwei Finger empor hob: „Und dennoch glaubet ihr, dass Mohammed
der Prophet als zweiter neben ihm steht." Da erhob ich drei Finger und sagte
damit: „Aber ihr Christen glaubt auch an die Dreieinigkheit." Da erhob er die
geballte Faust und besagte damit: „Und diese drei sind Eins" (1. Joh. 5, 7).
90
Caland, Boite, Müller:
Da holte ich eine Apfelsine aus der Tasche hervor und versicherte ihm damit,
dass wir doch denselben Gott erkennen, der die Welt geschaffen und alles so
schön gemacht hat; er seinerseits zeigte mir ein Stück Brot, damit andeutend:
„Der Mensch lebt nicht allein von Brot, sondern von einem jeglichen Worte
Gottes" (Luk. 4, 4). — Nachher wurde aber der Kees von den Studenten befragt,
was er denn eigentlich mit dem fremden Herrn gemacht habe. „Der verfluchte
Kerl!" antwortete Kees. „Er hat angefangen mich tief zu beleidigen, indem er,
einen Finger emporsteckend, sagte: „Nur ein Auge hast du." Ich erwiderte un-
mittelbar, zwei Finger in die Höhe steckend: „Und ich sehe mit meinem einen Auge
gerade so viel wie du mit den zwei." Er aber steckte drei Finger empor, wo-
mit er offenbar sagen wollte: „Wir beide haben aber doch nur drei Augen." Da
wurde ich böse und zeigte ihm meine geballte Faust. Er aber wollte mich ver-
söhnen, indem er mir eine Apfelsine darbot. Da sagte ich, ein Stück Brot aus
meiner Tasche nehmend: „Kerl, friss du Brot," und damit kehrte ich ihm den
Rücken." —
Vielleicht ist diesem oder jenem Leser dieser Zeitschrift der Ursprung dieser
Geschichte bekannt, wodurch es möglich wird zu erklären, wie dieselbe in so
weit voneinander entfernten Ländern wie Litauen und Holland gleichlautend ge-
funden wird.
Utrecht. Wilhelm Caland.
Die vorstehende Geschichte von der Disputation durch Zeichen zwischen
einem Gelehrten und einem Ungelehrten wird schon im 13. Jahrhundert von dem
Juristen Accursius, im 14. von Giovanni Sercambi und Juan Ruiz, im 15. von
Hans Rosenblüt, im 16. von François Rabelais und Béroalde de Yerville erzählt,
von vielen andern zu schweigen; vgl. R. Köhler, Kleinere Schriften 2, 479 (1900)
und dazu etwa Toldo, Revue des études Rabelaisiennes 1, 23 (1903); Spina, Die
alttschechische Schelmenzunft Frantova práva 1909 S. 172; Chauvin, Bibliographie
des ouvrages arabes 8, 125; Revue des traditions pop. 26, 178. — Die litauische
Fassung des Schwankes zeigt deutliche Abhängigkeit von einem englischen Volks-
buche 'George Buchanan the king's fool', das J. Napier (Folk-lore Record 3, 127.
1880) nach einem um 1830 zu Glasgow erschienenen Drucke besprochen hat; hier
disputiert ein spanischer Professor in Aberdeen mit einem Schuhmacher. Viel-
leicht bildete eine englische Grammatik, eine Zeitung oder ein Kalender die Brücke
für die Übertragung des Schwankes nach dem Osten; doch kann natürlich auch
mündliche Übertragung stattgefunden haben. Johannes Bolte.
Nachbarreime aus Obersachsen.
Die Dorfgenossen unserer alten Dörfer bildeten seit altersher eine innige
Lebensgemeinschaft, die in Freud und Leid zusammenhielt. Dass innerhalb einer
solchen die Eigenart des Einzelnen, besonders dessen Eigentümlichkeiten und
Sonderbarkeiten allen klar vor Augen lagen, ist natürlich. An diesen Eigenheiten
hat von jeher der Kritische und Spottsüchtige unter den 'Nachbarn' seine Zunge
gewetzt und sie in Spitznamen und Spottreimen der Öffentlichkeit und Allgemeinheit
möglichst drastisch ins Ohr gerufen und diese öffentliche Kritik in Umlauf gesetzt.
Kleine Mitteilungen.
91
Während die Kinder in ihren persönlichen Spottreimen an die Vornamen an-
knüpfen und diese selbst möglichst verunglimpfen, bedienen sich die Erwachsenen
der Familiennamen oder der traditionellen Beinamen. Neben Reimen, die auf
einzelne bestimmte Personen gemünzt sind, erregen besonderes volkskundliches
Interesse die sogenannten 'Nachbarreime', längere volkspoetische Gebilde, in denen
in einer Art Kettenreimen die Bewohner des ganzen Dorfes oder einer Strasse
durchgehechelt werden. Die Volkspoesie ist ja auch sonst reich an ähnlichen
Erscheinungen in den Kettenreimen, Kettenpredigten, Zählgeschichten, Klöppel-
reimen usw., das Volk liebt es, rhythmische und gereimte Sätze mit einer festen
gegebenen Reihe zu verknüpfen. So sind auch die Reihereime in vielen Dörfern
unserer mittel- und norddeutschen Gebiete sehr beliebt und verbreitet. 1896 hat
bereits Andree oben 6, 367 f. auf diese Bauernspottverse hingewiesen, ebenso in
seiner 'Braunschweiger Volkskunde' S. 459f., wo er sie als Nachbarreime und
Bauernreihereime bezeichnet, betont, dass sie sehr alt sein müssten1). Sie haften
häufig mehr am Hofnamen als am Namen etwaiger neuer Besitzer, werden aber
durch neue Zusätze für Zugezogene vermehrt. Selbst in alten Städten, wie Braun-
schweig, sind sie nachweisbar, so heisst es in einer 'dat schichtspeel' genannten
Reimchronik von 1492 über die Braunschweiger Bürger:
Hans Scheppenstidde de goltsmedt
Hinrik Wetenborne nastredt,
Hinrik Myddendorp de güde was in der herschop by mode,
Hinrik Scrader, Hennigh Reymbolt, Hans Pitik was tomalen stolt usw.
(Z. f. Vk. 6, 369.)
Noch um 1840 gab es in einigen Braunschweiger Strassen ähnliche Nachbar-
reime, so in der Wilhelmstrasse:
Daubert de lêrt, Glindemann de smfirt,
Stockmann kîkt an de wand, Schwartz is in de ganse Welt bekannt,
Graf Schulenburg wônt in de midde, Schreiber hat ne glie stidde,
Kuhlmann, de de Anzeigen dräggt, Michel, de dat Dach besläggt,
[Winter?] de hat fûlen kese, Meyer is darum böse.
Hecht, de vele kinner hat, Gemmeke frett sik nimmer satt.
(Braunschw. Vk. S. 460 f.)
Man erkennt schon aus diesen wenigen städtischen Beispielen, denen Andree
viele andere aus niederdeutschen Dörfern anreiht, die eigenartige ähnliche Form
und die volkskundliche Bedeutung des Inhalts. Aus meinen umfangreichen Samm-
lungen zum Kinder- und Volkslied im Königreiche Sachsen seien folgende ver-
wandte Erscheinungen aus diesem Gebiete angeführt und dann einige Parallelen
aus verschiedenen Gebieten angeschlossen.
A. Spottreime gegen Einzelne.
1. Busa, ty kozana dusa ta sukna je ci kusa.
(Wendisch: Busch, du lederne Seele, der Rock ist dir zu kurz.)
(Radibor, säcbs. Oberlausitz)2).
1) Vgl. auch W. Seelmann, Nachbarreime (Jahrbuch für niederdeutsche Sprach-
forschung 36, 65—74).
2) Die wendischen Reime stammen aus der Sammlung Pilks im Archiv d. Ver. f.
Sachs. Volksk. zu Leipzig.
92
Müller :
2. Bennewitz, Bennewitz hascht en Floh,
Bennewitz, Bennewitz kriegt'n nich,
Bennewitz, Bennewitz ärgert sich. (Rosswein. Dähnhardt, Volkstümliches aus
Sachsen 2, 148.)
3. Baldauf gieh ne Dorf nauf, klaub Zeppln (Gebäck in Zopfform) auf,
schmier Butter drauf, 's schmeckt gut. (Kleinriickerswalde i. Erzg.)
4. Stille, stille, sonst kimmt der Burthels Hille,
Hat e Sack voll Steene, die wirft dreh alle a de Beene.
(Hertigswalde b. Sebnitz.)
5. Boßler Lob (= Gottlob) hot Sopp verschott mitten offn Wäg,
kimmt der Gelner (Gelenauer) Ehregott, dar frißt se mitn drâk.
(Ehrenfriedersdorf i. Erzg.)
6. Bale mit dr weißen Fahle (= Falbe, Pferd). (Lawalde, Oberlaus.)
7. Eichelgruß hot e Löchel in Fuß,
steckt e Röhrl rei, nahn kimmt Wasserbrei. (Thalheim i. Erzg.)
Spottreim eines Kuhjungen, der an der Haustüre seines Herrn angeschrieben
gefunden wurde, als jener ausgerissen war:
8. Gute Nacht, Günther, bei dir is nischt 'n Sommer, viel wenger'n Winter,
bei dir is weiter nischt wie Fleh und Drack, gute Nacht, der Kuhjung is wag.
(Dänkritz i. Erzg.)
Auf eine Wirkmagd:
9. Franziska Gabler heiß ich, schön bin ich, das weiß ich,
schön bin ich von Angesicht, dreizehn, vierzehn zähl ich nicht.
Geh ich in Gesellschaft mite, ei, so mach ich große Schritte,
doch der Gang verändert nicht
und de Flieh sind mir gemeen, ich ho a ganzes Nest derheem.
(Dittersbach b. Ostritz.)
10. Günzels Wilhelm bläst Posaune, wenn an Dürfe is wos lus,
huttr ober schlechte Laune, wird de Äberlippe grüß. (Herwigsdorf b. Zittau.)
11. Hantus sedzi w saeku zonu ma kaz kacku.
(Hantusch sitzt im Nestchen, eine Frau hat er wie ne Ente).
(Radibor b. Bautzen.)
12. Handrika ma wjela bozu zonu ma kaz staru kozu.
(Handrik hat viele Holunder, eine Frau hat er wie ne alte Ziege.)
(Radibor b. Bautzen.)
13. Härtelmaus gecht de junge Hihner aus,
gecht se bis of Wiesental, kriegt en Dreier überall. (Ehrenfriedersdorf i. Erzg.)
14. Hentschel Bentschel Besenbinder, du verfluchter Rattenschinder.
(Cunewalde, Oberlaus.)
15. Herrmanns Schimmel war imgefall'n,
se hurtens bis a Rummeah (Rumburg i. B.) knall'n. (Ebersbach, Oberlaus.)
16. Klonkemichel, Klonkemichel, heirot net,
nahm das alle dicke fette Sauleder net.
Gald hot se wühl, schie sieht se net,
Klonkemichel, Klonkemichel, heirot net. (Thalheim i. Erzg.)
Kleine Mitteilungen.
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17. Kôdn Fitzfôd'n, zieh iibr dn Teich,
drei Mützen, drei Spitzen, is Kôdn sei Reich. (Östl. Erzgeb.)
18. Kûmmelandrês, Kümmelandres, wo bist de gewest?
Bi drin meiner Wies' rümgehupft, ho mr weng Kümmel zamgezupft.
Kümmelandres, Kümmelandres, wo bist de gewest.
Dieser Reim ist schon traditionell geworden in mehreren Orten des Vogt-
lands.
19. Hüller Lieb hat's Geld vertan mit de Mâd im Stalle,
hat ersch uf de Scharz gezählt, hat gesät, 's is alle. (Hainichen.)
Der Name wechselt bei diesem traditionell gewordenen Reime.
20. Fritzens Lobs Lirche (?) ließ an Bumbs (Leibwind) a de Kirche,
ließ an Bumbs as Butterfaß, Sapperlot, wie knallte das. (Oderwitz, Oberlaus.)
Auch hier ist ein sonst traditioneller Reim aus einer Scherzgeschichte auf eine
bestimmte Person gemünzt worden, ebenso wird häufig derselbe Spottreixn auf
Personen gleichen Familiennamens bezogen.
21. Meier schlacht ein Kalb, und Jedermann nimmts halb. (Mühlbach.)
22. Müllersch Auguste, wenn de nich willst, da mußte. (Hainichen.)
23. Mlynkowa, ricata, tajka dolha whota.
(Müllerin großarschige, so eine langbeinige). (Radibor.)
24. Moritz Schwenke ging in die Schenke uud huppt über die Bänke,
was ist das für eine Mengenke (= Verwirrung). (Mühlbach.)
25. Natus, Tatus, beìo konja, wsitke psy so za nim konja.
(Natusch, Tatusch [hast] ein weißes Pferd, alle Hunde laufen ihm nach).
(Radibor.)
26. Nudelmüller vu Breetenburn ging uffs Siessen Kuchen schnurrn (= betteln).
(Oderwitz.)
27. Pippigslob, Pippigslob, gehste de mit in de Pflaume?
Ich ka net miet, ich ka net miet, ho an biesen Daume. (E. Werdau.)
28. Recklebäck, mir schmeckts heit net,
wenn ich nêr Eeckele1) hätt'. (Netzschkau i. Vogtl.)
29. Die Schniebsen in der Bude saß und verfaulte Griebsche aß. (Löbau.)
30. Sattler Karlie Brotwurscht und Brüh,
Sattlerkar Hannel, Brotwurscht und Sammel. (Zschorlau i. Erzg.)
31. Stocke hoppe, friß de Soppe mit e Toppe. (Kamenz.)
32. Schießelbeen, Schießelbeen gieht an Dürfe runter,
hot a schienes Rockel a und a blôes drunter. (Eibau, Oberlaus.)
33. Schubertlob, Schubertlob, geh nur in de Pflaume!
Ka net miet gieh, ho en biesen Daume.
Schubertlob, Schubertlob, geh nur in de Schuten!
Ka net miet gieh, ho en biesen Pfuten. (Zschorlau i. Erzg.)
1) Reckele, ein Roggengebäck.
94
Müller, Róheim, Höfler:
34. Viertelland hat den Finger verbrannt
of dr kalten Ufenbank. (Affalter i. Erzg.)
35. Schmiedeheckel hots Feuer an Säckel,
hots Feuer am Loche de ganze Woche. (Friedersdorf b. Löbau.)
Leipzig. Curt Müller.
(Schluss folgt.)
Nachtrag zu den Igelsagen.
(Oben 23, 407 f.)
Nach Drucklegung meines Aufsatzes finde ich noch folgende Fassung:
k) Aus Neu-Süd-Wales. "Wathi-wathi und Wonghibonstämme.
Das wenige Essen, welches vorhanden war, wurde dem Ameisenigel zur Auf-
bewahrung anvertraut, alle anderen waren auf der Suche nach neuen Vorräten.
Sie hatten jedoch wenig Glück, und am Nachmittag bei ihrer Rückkehr fanden
sie, dass der Ameisenigel die Vorräte allein verzehrt hatte und danach einge-
schlafen war. Hierüber erzürnten sie sich so sehr, dass sie alle Speere, die im
Lager aufzutreiben waren, in den schlafenden Ameisenigel stiessen. Die Stacheln
sind noch heute sichtbar und erklären die Wahrheit der Geschichte1).
Die Gefrässigkeit des Tieres wird hier betont wie in Fassung g. In etwas
abweichender Form, als Antropophagie, kommt derselbe Zug auch in den
Fassungen e und h vor.
Zu S. 414 Anm. 2 sei ferner noch auf folgende Werke verwiesen: L. E. Threlkeld,
An Australian Language as spoken by the Awabakal (1892) S. 49; E. V. Palmer, Nineteenth
Century 1906 Aug. Nr. 354 S. 319; A. Oldfielcl, Transactions of the Ethnological Society
1865 S. 258; J. W. Gregory, The Dead Heart of Australia (1906) S. 209—221; C. Lum-
holtz, Au Pays des Cannibales (1890) S. 311.
Budapest. Géza Róheim.
Ein Helgoland er Brautsclimuck.
Der Güte der Frau John Suhr "Witwe in Hamburg verdankt der Unterzeichnete
beifolgende Abbildung eines Helgoländer ßrautschmuckes 'Dat Hatje' (das Herzchen)
genannt, aus der Mitte des 17. Jahrhunderts (1660); Material Silber; Zweidrittel
der natürlichen Grösse. Oben in der Mitte das Brautpaar, darüber die Braut-
krone von Engeln gehalten. Das Anhängsel zeigt links die Rückseite des
Lootsenzeichens mit Namenszug Christian V. mit Krone; rechts das Lootsen-
zeichen Nr. 60 (Lootse mit Senkblei und Rettungsring), weiter unten zwei Engel
mit Palmzweigen, und zwei Schellfische. In der Mitte das mit Ornament um-
1) A. L. P. Cameron, Traditions and Folklore of the Aborigines of New South Wales.
(Science of Man 1903) S. 48.
Kleine Mitteilungen. 95
gebene Herz. Unten an einem Anker hängend das Lootsenboot mit zwei Glücks-
engeln. Auf der Rückseite in Prunkscbrift C H — AR 1660. Auf dem Lootsen-
boot nochmals die Zahl 1660.
Bei der Seltenheit des Schmuckes dürfte die Abbildung das Interesse der
Freunde der Volkskunde erwecken.
Bad Tölz. Max Höfler.
96
Boehm, Sclieftelowitz:
Biicheranzeigen.
Karl Knortz, Amerikanischer Aberglaube der Gegenwart. Ein Beitrag
zur Volkskunde. Leipzig, Th. Gerstenberg 1913. 156 S. 8°. geb. 3 Mk.
Unter 'amerikanischem Aberglauben' versteht der Verf., wie aus dem Inhalt
des Buches hervorgeht, im allgemeinen den der weissen Bevölkerung der Ver-
einigten Staaten, wenn er auch bisweilen die Bewohner von Kanada, die Neger
und Indianer, z. T. sogar die Südamerikas in den Kreis seiner Darstellung zieht.
Reiches Material über alle möglichen Äusserungen des Aberglaubens im alltäg-
lichen Leben und an Festtagen hat der durch zahlreiche Schriften über volkskund-
liche Gegenstände bekannte Verfasser zusammengestellt, teils aus eigenen Samm-
lungen, teils aus gedruckten Quellen. Dankenswert sind die an verschiedenen
Stellen (S. 13. 53. 130. 152) beigebrachten Züge aus dem Seemannsaberglauben.
Auch Sagenhaftes (Spukhäuser, Geisterschiffe, Teufelssagen) und Volksbräuche,
wie das aus Deutschland (Pfalz, Rurhessen) nach Pennsylvanien mitgewanderte
'Elfentritschen' (S. 102) finden wir mitgeteilt. Von einem einheitlichen Bilde kann
bei dem bunten Völkergemisch Amerikas natürlich noch viel weniger die Rede
sein als etwa in Deutschland, B^ast in jedem Falle kann man feststellen, dass die
aufgezählten Volksmeinungen und -brauche denen der verschiedenen Vaterländer,
wie Englands und Deutschlands, genau entsprechen. Der Verf. will davon ab-
sehen, „Untersuchungen über die Herkunft oder Vergleiche mit ähnlichen Er-
scheinungen bei anderen Völkern zu liefern" (S. 8), tritt aber doch häufig aus
dieser Zurückhaltung heraus; bisweilen sind seine Erklärungen rationalistisch ge-
färbt und wenig ansprechend, so S. 11: „Wer ein Waisenkind aufnimmt, hat
Glück; warum auch nicht? Er ist unstreitig ein gutmütiger und wohltätiger Mann,
dem niemand so leicht eine Gefälligkeit abschlägt." Das bekannte Rezept, einen
Vogel zu fangen, indem man ihm Salz auf den Schwanz streut (S. 57), gehört
doch wohl mehr zu den Neckereien, als zum Aberglauben, dasselbe gilt von dem
Mittel, ein durchgehendes Pferd dadurch zum Stillstehen zu bringen, dass man es
in das Ohr beisst (S. 130). Weit unerfreulicher als solche kleinen Anstösse sind
die zahlreichen Wiederholungen innerhalb des Werkes. Von den zukunftkündenden
körperlichen Empfindungen (Jucken, Brennen) ist zuerst S. 21, dann wieder S. 143
die Rede, von Liebesorakeln S. i5 und S. 144 f., vom "Verschütten des Salzes
S. 56 und S. 139 u. a. m. Der Mangel einer festen Gliederung des Stoffes wird
noch verstärkt durch das Fehlen einer Inhaltsangabe oder eines Wortregisters.
^ iele Leser hätten gewiss gern anstatt der heftig gegen die Kirche polemisierenden
Einleitung ein solches Hilfsmittel gesehen. Es ist zu bedauern, dass durch diese
methodischen Mängel die Benutzung des inhaltreichen Buches sehr erschwert wird.
Berlin-Pankow.
Fritz Boehm.
Bücheranzeigen.
97
Micha Josef Bin Gorion, Die Sagen der Juden, bearbeitet. Bd. I: Yon
der Urzeit. Frankfurt a. M., Kütten & Loening 1913. XYI, 378 S. 8°.
Geheftet 6 Mk.
Der Verfasser will die in den Midrasch-Werken enthaltenen Sagen, die sich
an die Bibel anknüpfen, nach der Reihenfolge der biblischen Geschichte ordnen.
Der hier vorliegende erste Band, der die Sagen der Urzeit enthält, zeugt
von grosser Sachkenntnis. Wer sich mit der vergleichenden Sagen- und Volks-
kunde befasst, der wird hier manches interessante Material finden und dafür dem
Verfasser Dank wissen. An einzelnen Beispielen werde ich dieses darzulegen
suchen: S. 14: Die Fabel von dem Eisen, bei dessen Erschaifung die Bäume zu
zittern begannen, ist bereits B. Talm. Sanhédrin 89 b erwähnt und kommt schon
in der syrischen Version der Ahikar-Erzählung vor (Conybear, Rendel Harris,
Smith Lewis, Story of Ahikar 1898 S. 70 nebst Übers. S. 82). Durch David
Friedländer, Der Philosoph der Welt, Berlin 1860 S. 36 ist diese Fabel in die
deutsche Literatur aufgenommen und findet sich in vielen Schullesebüchern. In
der Friedländerschen Bearbeitung lautet sie: „Aus einer Eisenschmiede fuhr ein
mit neugehämmerten Äxten beladener Wagen durch den nahe gelegenen Wald.
Die Sonne glänzte mit dem Stahle, und die Bäume des Waldes erzitterten ob der
Erscheinung: „Wer wird vor ihnen bestehen? Diese Eisen fällen uns alle!" So
klagte ihr Angstgeräusch. Aber eine bejahrte Eiche rief ihnen zu: Fürchtet nichts!
Solange keiner von euch diesen Ästen Stiele leiht, kann euch ihre Schärfe nichts
schaden." — S. 44: 'Der Ozean ruht auf den Flossen des Leviatans'. Nach Pirqë
des R. Eliezer c. 9 ruht die Grundlage der Erde zwischen den beiden Flossen
des Leviatan. Da diese Anschauung in der jüdischen Literatur erst spät auf-
taucht, so könnte sie wohl von den Arabern entlehnt sein. Denn die Moham-
medaner glauben, dass die ganze Welt auf einem gewaltigen Fisch ruht (Dieterici,
Rechtsstreit zwischen Mensch und Tier S. 277 Anm. 8; derselbe, Chrestomathie
ottomane LS54 S. 58. Über den Leviatan vgl. Scheftelowitz, Arch. f. Rel.-Wiss. 14, 6).
Diese Anschauung hat sich weit verbreitet, so bei Firdusi, Sähnäme (vgl. v. Schack,
Firdusi i860 S. 160), in Burma (H. J. Wehrli, Beitrag zur Ethnologie der Chingpaw
von Ober-Burma, Leiden 1904 S. 51), auf den Carolinen (A. Bastian, Die mikro-
nesischen Kolonien 18'9 S. 112); in Japan verursacht dieser gewaltige Fisch, so
oft er sich bewegt, Erdbeben (B. H. Chamberlain, Things Japanese, London 1902
S. 127). In Indonesien glaubt man, dass eine gewaltige Schlange die Trägerin
der Erde sei, die, wenn sie sich bewegt, Erdbeben hervorruft (Globus 42, 45; 65,
95f., A. Bastian, Indonesien 4, 22). — S. 85 (vgl. S. 287): 'Mann und Weib waren
zu Anfang ein Fleisch und zwei Angesichter; dann zersägte der Herr den Leib in
zwei Leiber und machte einem jeden einen Rücken' ^Midr. Ber. R. VIII, 1). Auch
nach Midr. Jalqut zu Gen. § 20 hat Gott den Adam ursprünglich als ein Mann-
weib (das mit dem griechischen Wort âvÔQoyvvi]ç übersetzt wird) geschaffen. Diese
Sage entstammt meines Erachtens aus dem Griechischen. Plato erzählt in seinem
Symposion, dass der Urmensch einen hermaphroditischen Körper hatte; hierauf
habe ihn Zeus in zwei Hälften geteilt. Darum hat jede Hälfte Sehnsucht nach
ihrer andern Hälfte. Im Altindischen ist diese Sage gleichfalls zu belegen.
So heisst es im Catapatha Brähmana: 'Der Ätman war im Anfang allein da, einem
Manne gleich; „er schaute um sich und sah nichts anders als sich selbst, er sprach
das erste Wort: 'Ich bin', daher kommt der Name: 'Ich' ... Er fürchtete sich,
Zeitsehr. d. Vereine f. Volkskunde. 1914. Heft 1. 7
98
Scheftelowitz, Kohler:
deshalb fürchtet sich, wer allein ist. Da gedachte er: Da nichts ist als ich, wovor
fürchte ich mich denn?" Da verschwand seine Furcht. Wovor hätte er sich
auch fürchten sollen? Vor einem Zweiten empfindet man Furcht. Er fühlte sich
auch nicht zufrieden; deshalb fühlt sich nicht zufrieden, wer allein ist. Er be-
gehrte nach einem Zweiten; er umfasste in sich die "Wesenheit von Weib
und Mann, die sich umschlungen halten. Er spaltete diese seine
Wesenheit in zwei Teile; daraus wurden Gatte und Gattin; deshalb
sind wir jeder gleichsam eine Hälfte, sagt Yäjfiavalkya, deshalb wird diese Lücke
durch das Weib ausgefüllt. Er vereinte sich mit ihr; so wurden Menschen
erzeugt.' — S. 116: 'In der Stunde, da der Mensch schläft, steigt die Seele empor
und schöpft ihr Leben von oben.' (Ber. R. P. 14.) Dieselbe Auffassung findet
sich auch Debärim Rabbä Par 5 (zu c. 20, 10): 'Alle heidnischen Völker erzürnen
Gott; während sie aber schlafen, steigen alle Seelen zu ihm empor.' Im Midr.
Tehillim 11, 6 heisst es: 'Schläft der Mensch, so geht seine Seele hinaus und
schweift in der Welt umher, und das sind die Träume, die der Mensch sieht.'
Diese primitive Anschauung vermag ich für die verschiedensten Völker der fünf
Erdteile nachzuweisen. — S. 190f.: Das Hahnenkrähen verscheucht die bösen
Geister (Wajiqrä R. P. 5). Diese Anschauung ist weit verbreitet. Sie findet sich
z. B. im altchristlichen Glauben, vgl. Aurelius Clem. Prudentius, Hymnus ad
galli cantum 10: Ferunt vagantes daemonas laetos tenebris noctium gallo
canente exterritos sparsim timere et cedere. Gemäss dem deutschen Volksglauben
weichen beim Hahnenkrähen die nächtlichen Gespenster und der Teufel (A. Wuttke,
Deutscher Volksaberglaube3 § 156; Siebs, oben 3, 383; R. Eisel, Sagenbuch
des Voigtlandes 1871 S. 7 ff.; Ch. Schneller, Märchen und Sagen in Wälschtirol
1867 S. 13). Derselbe Glaube findet sich bei den Schweden (oben 10, 201), den
Zigeunern (H. v. Wlislocki, Aus dem innern Leben der Zigeuner 1892 S. 135)
und den Russen (A. Bastian, Rechtsverhältnisse S. 280). Weiteres Material
bei Scheftelowitz, Huhnopfer 1914 S. 51 f. — S. 320: Die Auffassung, dass
der Dämon eine katzenähnliche Gestalt annimmt, die in der aus einem mittel-
alterlichen kabbalistischen Werke entnommenen Sage enthalten ist, taucht zuerst
in Sêfer Hasidim auf (vgl. Sëfer Hasidim § 465, Sulzbach 5445), also um 1200
n. Chr. und ist entlehnt. Im deutschen Mittelalter verwandelten sich Hexen in
Katzen, weshalb sie auch Wetterkatzen genannt wurden. (Schindler, Abergl. d.
Mittelalters 1858 S. 28; G. Grupp, Kulturgeschichte des Mittelalters 3 2 1912 S. 32).
Nach dem deutschen Volksglauben nehmen die Hexen nachts die Gestalt von
Katzen an (A. Wuttke, Deutscher Volksabergl.3 § 217. 402; J. W. Wolf, Nieder-
ländische Sagen 1843 Nr. 246. 293. 561). Die galizischen Juden lassen darum
keine Katze in das Zimmer einer Wöchnerin ein. Auch nach dem russischen
Volksglauben verwandeln sich Hexen oft in Katzen (Globus 18, 171). Dieselbe
Anschauung treffen wir bei den Zigeunern (v. Wlislocki a. a. O. S. 115). Dämonen
erscheinen häufig in Gestalt von Katzen bei den Malaien (Skeat und Bladgen,
Malay Magie 1900 S. 191 398), den Imeretiern im Kaukasus (Globus 80, 306),
den Japanern (Globus 32, 124f.), den Chinesen (R. B. Johnston, Lion and Dragon
in Northern China 1910 S. 293f.), den Mohammedanern Ägyptens (E. VV. Lane,
Sitten und Gebräuche der heutigen Ägypter, übers, v. Zenker 2, 35), den Indern
und Persern (Crooke, Natives of North. India p. 198. 256; Bundehes c. 32). Nach dem
Glauben der Eingeborenen von Madagaskar wird ein Sünder nach seinem Tode
eine Katze, weshalb dieses Tier ängstlich gemieden wird (J. Sibree, Madagaskar
1870 S. 244. 378). — S. 348: Die Anschauung, dass der ganze Luftraum von un-
zähligen Geistern erfüllt ist, kommt bereits B. T. Beräköt 6 a, Midr. Debärim
Bücheranzeigen.
99
R. P. 4 (zu c. 10, 1) vor. Sie findet sich im primitiven Glauben der ver-
schiedensten Völker. So bevölkern nach griechischer Anschauung böse Geister
den Luftraum, weshalb sie àéoioi heissen und noch heute in Griechenland die Ge-
spenster âéoiy.a genannt werden (Kroll, Rhein. Mus. 1897, S. 345). Auch nach
dem Glauben der Grönländer und der Sundanesen ist die ganze Welt von un-
sichtbaren Geistern erfüllt (Globus 19, 23; 44, 301). Noch M. Luther sagt: „Es
sind viele Teufel um uns, die uns alle Stunden wohl könnten töten" (M. Luthers
sämtl. Schriften 3, 1561).
Cöln a. Rhein. Isidor Scheftelowitz.
Maurice Lacombe, Essai sur la Coutume Poitevine du Mariage au
début du XV. siècle d'après le vieux 'Coustumier de Poictou'. Paris,
M. Champion 1910.
Dieses Werk handelt von der Coutume von Poictou aus dem Jahre 1417 und
ihren rechtlichen Bestimmungen, einer coutume, welche die Grundlage bot für
die späteren offiziellen Coutumes von 1514 und 1559.
Die Ehe war in dieser Zeit eine Ehe mit priesterlicher Einsegnung (bénéisson
des nopces); der altkanonische gratianische Standpunkt war völlig verlassen, die
Mitwirkung der Kirche gesichert. Die Vermögensfolge der Ehe war die Güter-
gemeinschaft des beweglichen Vermögens und der Errungenschaft, dieselbe wie
heutzutage nach dem Code Napoleon: diese Art des Güterrechts war schon damals
in Frankreich weit verbreitet. Die Frau aber hatte, wenn die Gemeinschaft ver-
schuldet war, bei ihrer Auflösung nicht wie heutzutage die freie Möglichkeit des
Verzichts; dieses Recht stand bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts nur der femme
noble zu, nicht der roturière: der Adel war damals durch vornehme Allüren,
allerdings auch durch Kriege und durch Züge in das Ausland stark verschuldet,
und die Adelswitwe sollte vom Konkurs gerettet werden — die bürgerliche Frau
war selten in solcher Bedrängnis, und war dies der Fall, so überliess man sie
ihrem Schicksal.
Bei dem Verzicht auf die Gütergemeinschaft herrschte der Brauch, dass
die Frau bei Beerdigung des Mannes ihre Geldbörse in das Grab warf und
dann nicht mehr in das Heim zurückkehrte, ein Brauch, der im Grand
Coutumier de France von Ableiges (herausgegeben von Laboulaye und Dareste
p. 376) geschildert wird. Im übrigen hatte die Frau Anspruch auf ein Wittum
von Eindrittel oder der Hälfte des Vermögens des Mannes, aber in der Art, dass
sie nicht Eigentum, sondern blosse lebenslängliche Nutzniessung erwarb.
Das Verhältnis der ehelichen Kinder zu dem Hausvermögen war in der Art
geregelt, dass der Hausvater nicht von der gesetzlichen Teilung abweichen durfte:
er durfte nicht 'lieb Kind' machen, also keinem Kinde mehr als den gesetzlichen
Teil zuwenden, und dieser Teil war nicht mathematisch gleich, denn es be-
stand ein droit d'aînesse des ältesten Sohnes und betreffendenfalls der ältesten
Tochter.
Doch war folgendes möglich: der Vater konnte einem Kinde etwas zuwenden,
was bei der Erbteilung angerechnet werden musste; war dies mehr als sein Teil,
so konnte das Kind auf die Erbschaft verzichten und das Zugewendete behalten,
jedoch nicht über den Betrag der quotité disponible hinaus. Dies ist das in den
französischen Rechten viel verbreitete System der Egalité imparfaite, über
100
Notizen.
welches ich in dem Kollationsrecht in den französischen Coutumes (Fest-
gabe für Gneist 1888 S. 206) eingehend gehandelt habe. Uneheliche Kinder
waren von der väterlichen Erbschaft ausgeschlossen, beerbten aber die Mutter
wie eheliche.
Von besonderem Werte für uns ist neben den juristischen Erörterungen der
Abdruck der wesentlichen einschlagenden Bestimmung des Rechtsbuchs von 1417.
Berlin. Josef Kohler.
Notizen.
L. Bechstein, Thüringens Sagenschatz 1. Band: Sagen von Eisenach und der Wart-
burg, dem Hörselberg, Reinhardsbrunn und der Ruhl, neu hsg. von Arthur Richter-
Heimbach. Quedlinburg, H. Schwanecke (1918). 210 S. 80 geb. 2 Mk. — Die hier ver-
einigten Sagen sind zumeist aus den beiden ersten Bänden des zuletzt 1862 erschienenen
Bechsteinschen Werkes entnommen; aber die Ordnung ist zum Teil verändert, und die
anderweitigen Quellen sind nirgends angegeben. [J. B.]
Franz Cramer, Deutschland in römischer Zeit. Berlin und Leipzig, G. J. Göschen
1912. 165 S. 23 Abb. kl. 8°. 0,90 Mk. (Sammlung Göschen Nr. 633). — Der Hauptteil
des sehr nützlichen Buches ist rein geschichtlich und gibt in Kap. 1—16 eine Darstellung
der römisch-germanischen Beziehungen in Krieg und Frieden von den ältesten Zeiten bis
zum Zusammenbruch des weströmischen Reiches. Besonders ausführlich und mit steter
Berücksichtigung der neusten Ausgrabungen und Funde werden die römischen Waffen-
plätze und Stützpunkte, der Limes usw. behandelt. Volkskundlichen Inhalt bieten zum
Teil die Kapitel 17—20, in denen von den römischen Handelsbeziehungen, von Kunst-
gewerbe und Handwerk, von der interessanten Mischkultur im Mosellande und von
mannigfaltigen Kultureinflüssen auf deutschem Bocien die Rede ist. [F. B.j
Alfred Haas, De Pir(d)kopp in der pommerschen Volkssage. (Monatsblätter, hsg.
v. d. Ges f. Pommersche Geschichte und Altertumskunde 1913, H. 9 S. 136—140). — In
einer Anzahl norddeutscher Ortssagen wird erzählt, dass Ortschaften, die heutzutage durch
breite Flüsse oder Meeresarme getrennt sind, in früheren Zeiten durch Wasserläufe ge-
schieden wurden, die so schmal waren, dass man sie auf einem ins Wasser geworfenen
'Pferdekopf' (Perdekopp, Pärkopp) überschreiten konnte. H. Handelmann hatte oben 16,
397 nr. 134a diesen Sagenzug auf eine missverständliche oder absichtlich witzige Deutung
des slawischen Percop = Kanal, Meerenge zurückgeführt. Haas, der diese Erklärung in
seinen Rügenschen Sagen 4. Aufl. S 175 abgelehnt hatte, widerruft sich in dem vor-
liegenden Aufsatz, da ihm eine Fassung der Sage von der Insel Vilm bekannt geworden ist,
in der mit 'Pirkopp' zwar nicht ein Graben selbst, wohl aber ein zu dessen Überschreitung
dienender Stein bezeichnet wird und von einem Pferdeschädel überhaupt nicht die Rede
ist. Als Entsprechung führt er ausserdem die volkstümliche Deutung der rügenschen
Bezeichnung 'Perd' (si. perd = das Vordere, Vorgebirge) als 'Pferd' an, die durch die
Gestalt der so benannten Höhenrücken erklärt wird. [F. B.]
A. Haas, Das Riesenschiff in der pommerschen Volkssage (Pommersche Heimat 3, 2).
— Die Sage von einem in alter Zeit die Ostsee befahrenden Schiffe von ungeheurer Aus-
dehnung, mit tausend Masten usw. ist an der Ostseeküste vielfach anzutreffen. Zu zwei
schon früher von ihm veröffentlichten Fassungen fügt der verdiente Sammler pommerscher
Überlieferungen hier eine dritte von K. Rosenow jüngst mitgeteilte, in der das Schiff den
Namen 'Nackeltragar' trägt, der mit dem 'Naglfar' des nordischen Mythus identisch wäre.
Es würde sich um ein interessantes Überlebsel handeln, wenn man die von Rosenow
angegebene Quelle als unbedingt rein und unbeeinilusst ansehen dürfte. Sollte sein alter
Kapitän den Namen doch nicht vielleicht von irgendeiner Seite her gehört und in sein
'Garn' mit eingesponnen haben? [F. B.]
Notizen.
101
Historia septem sapientum I: Eine bisher unbekannte lateinische Übersetzung
einer orientalischen Fassung der Sieben weisen Meister (Mischie Sendabar) hsg. und
erklärt von A. H ilka, Heidelberg, C. Winter 1912. XXV, 35 S. 1,20 Mk. — II: Johannis
de Alta Silva Dolopathos sive De rege et septem sapientibus, nach den festländischen
Handschriften kritisch hsg. von A. Hilka. Ebd. 1913. X1Y, 112 S. 2,20 Mk. (Sammlung
mittellateinischer Texte 4—5). — Die für die mittelalterliche Novellistik bedeutsame Ge-
schichte des indischen Sindibad-Buches erhält durch Hilkas beide Publikationen erwünschte
Förderung. Bekanntlich ist die im 13. Jahrhundert entstandene hebräische Bearbeitung
dieses Romans von den sieben weisen Meistern, Mischie Sendabar, deshalb besonders
wichtig, weil sie die Brücke von den orientalischen Fassungen zu den abendländischen ge-
bildet zu haben scheint. Sie beruht auf einer verlorenen arabischen Vorlage und enthält
21 Novellen, die in die bekannte Rahmenerzählung von dem durch die ehebrecherische
Stiefmutter verleumdeten Prinzen eingelegt sind, darunter aber mehrere neue. Der
hebräische Text ist zwar dreimal, von Sengelmann, Carmoly und Cassel, herausgegeben
worden, bedarf aber, wie die von Hilka aus einer Berliner Hs. vom Jahre 1407 hervor-
gezogene lateinische Übersetzung zeigt, durchaus noch einer kritischen Behandlung. Aller-
dings ist in der lateinischen Version die Einleitung gekürzt, aber verschiedene Einzel-
heiten, z. B. der Feuertod der schuldigen Königin, stimmen näher zu den occidentalen
Bearbeitungen. Auf die Abweichungen von Cassels Text und von den übrigen Fassungen
der Sieben weisen Meister hat H. durch Sperrdx-uck und kurze Fussnoten hingewiesen
und eine Tabelle über die Novellen der sämtlichen orientalischen Fassungen hinzugefügt.
— Mit der kritischen Ausgabe des Dolopathos führt Hilka den von G.Paris und Stude-
mund gehegten Plan aus, Oesterleys mangelhaften Druck vom Jahre 1873 zu ersetzen.
Ausser der Luxemburger Hs. des 13. Jahrhunderts benutzt er noch fünf jüngere Hss. aus
dem 15. Jahrhundert und liefert auch Nachweise für die antiken und christlichen Zitate
des lothringischen Mönchs von Haute-Seille, der die orientalische Rahmenerzählung mit
einem christlichen Schluss versehen und neue Novellen eingeflochten hat; doch erzählt
jeder Weise nur eine, nicht zwei Geschichten, während die Erzählungen der Königin bei
Johannes ganz fortgefallen sind. [J. B.]
Wilhelm Hotz, Die Flurnamen der Grafschaft Schlitz (Flurnamenbuch des Gross-
herzogtums Hessen, hsg. im Auftrag der hessischen Vereinigung für Volkskunde von
J. R. Dieterich und 0. Schulte, Heft 1. Provinz Oberhessen Bd. V, Kreis Lauterbach,
Heft 1). Darmstadt, Grossherzoglich hessischer Staatsverlag 1912. XLIV, 67 S. 8°. —
W. Hotz, durch dessen Sammlertätigkeit dieses erste Heft der hessischen Flurnamen-
sammlung entstanden ist, hat dessen Erscheinen nicht mehr erleben können (f 14. Juni
1910), die abschliessenden Arbeiten sind von Prof. Alles geleistet worden. Mit Hilfe von
Fragebogen, deren Bearbeitung sich besonders Lehrer und Geistliche haben angelegen
sein lassen, werden die Flurnamen der einzelnen Gemarkungen des Schlitzerlandes in
übersichtlicher Anordnung mitgeteilt. Vorbildlich ist die Reichhaltigkeit der Angaben,
es werden möglichst bei jedem Gewann die durch Hofrat Koflei in Darm Stadt festgestellten
offiziellen Namen, die daneben vorkommenden alten, historischen Bezeichnungen, mund-
artliche Formen und volkstümliche Erklärungen beigebracht. Besonders die letzte Rubrik
enthält mancherlei Interessantes aus Volkssage und Ortsgeschichte. Sehr hübsch und
lehrreich ist das neben anderen Beigaben in der Einleitung enthaltene ausführliche
'Gespräch über hessische Ortsbezeichnungen und vom Wert ihrer Sammlung' von Dieterich
zwischen dem 'Sammler und einem Lehrer. [F. B.]
Gross - Berliner Kalender 1914. Herausgegehen von E. Friedel, Berlin,
K. Siegismund. 368 S. 8 °. Geb. 2 Mk. — Zum zweiten Male ist das schmucke Kalender-
buch erschienen, herausgegeben von unserem unermüdlichen Stadtältesten unter redak-
tioneller Beihilfe von Dr. H. Brendicke und gefüllt mit einer reichen Anzahl von kurzen,
äusserst belehrenden Aufsätzen aus der Feder von Männern, deren Namen im geistigen
und kommunalen Leben unserer Reichshauptstadt zum grossen Teil an erster Stelle stehen,
wie Ludw. Hoffmann, Reicke, Holtze, Lindenberg, Silbergleit usw. Die meisten Beiträge
beschäftigen sich naturgemäss mit der Geschichte und den modernen Problemen Berlins,
doch fällt auch für die Volkskunde etwas ab. So bringt Jülicher (S. 253f.) eine Fort-
UNIVERSITÄTS-
BIBLIOTHEK
BERLIN
setiung seiner im 1. Jahrgang begonnenen 'Atemzüge der Berliner Volksseele', Pfeffer-
kuclienpoesie und allerlei Blüten der Berliner Denk- und Mundart, von denen freilich
viele schon aus H. G. Meyers 'Richtigem Berliner"' bekannt sind. Etwas störend wirkt die
inkonsequente Wiedergabe der Mundart ('breete Schnauze' [S. 260] sagt kein echter Berliner),
auch sind die S. 262 aus den 'Lustigen Blättern1 mitgeteilten Wendungen auf keinen Fall
als 'zu den Äusserungen der Berliner Volksseele unentbehrlich gehörend' zu bezeichnen.
Volkskundlich von Interesse sind ferner die Beiträge von A. Förster 'Innungsschicksale'
und die kleine Schlussplauderei von Elisabeth Lemke über 'Märkisches Fischerei-
gerät'. Es ist nicht zu bezweifeln, dass dies mit vorzüglichen Text- und Einschalt-
bildern geschmückte Berliner Jahrbuch denselben Erfolg haben wird wie der erste Jahr-
gang. [F. B.]
E. Mai, Das mittelhochdeutsche Gedicht vom Mönch Felix auf textkritischer Grund-
lage philologisch untersucht und erklärt (Acta Germanica, Neue Reihe, Heft 4). Berlin,
Mayer & Müller 1912. VIII, 515 S. 8°. 15 Mk. — Vorliegende, gründlich gelehrte Arbeit,
die dem 380 Verse umfassenden mhd. Gedicht mit allen denkbaren Mitteln der Philologie
Erkenntnisse abzugewinnen, ja abzutrotzen weiss, hat auch schöne Resultate und
Beobachtungen gezeitigt, die der Volkskunde zugute kommen. Einen Ausschnitt seiner
Forschungen legte Erich Mai bereits in der 1908 erschienenen Berliner Dissertation vor,
die einer Anregung Karl Weinholds entsprang und auch Max Roediger als zuhtâri guato
zu danken hatte. Den rein germanistischen Fragen, denen Mai mit seltener Hingabe
Jahre hindurch seinen Scharfsinn zugewandt hat, ist hier nicht nachzugehen: sie haben
eine Besprechung und Kritik u. a. durch Privatdozenten Dr. Ludwig Pfannmüller in der
Deutschen Literaturzeitung 1913 Nr. 20 Sp. 1250—53 gefunden. — Wie oft begegnen wir
nicht in unseren Volksbüchern und Volksballaden grauen Mönchen. Die Nachweise Mais
belehren uns, wie die Bezeichnung der Orden zu den verschiedenen Zeiten geschwankt
hat: „ . . bereits im 14. Jahrhundert wurden die Mitglieder beider Orden — der Zister-
zienser und der Franziskaner — als Graumönche charakterisiert, trotzdem eine Ver-
wechslung (wenigstens für Fremdlinge in den jeweiligen Ortsverhältnissen) keineswegs
ausgeschlossen war. Das eigentliche Konkurrenzjahrhundert aber ist . . . das 15., während
das 16. den Franziskanern zu fast unbestrittener Alleinherrschaft in Nord- und Ostmittel-
deutschland verhalf . . . Vielmehr gehört, wenn auch nicht gleich das 12., so doch das
für den Mönch Felix in Betracht kommende 13. Jahrhundert den Zisterziensern" (S. 79fi'.).
Überzeugend ist die Beweisführung, dass ein Angehöriger eines thüringischen Zisterzienser-
Klosters des 13. Jahrhunderts als Dichter des M. F. zu gelten habe; wir lernen die
Dichtung geradezu als ein Mittel zisterziensischer Heiligung und Propaganda auffassen;
literarhistorisch fällt so auf die häufig als bäurisch beleumundeten Zisterzienser ein besseres
Licht. Höchst fesselnde Erörterungen bringt die Besprechung des 'Mönches von Helster-
bach', einer Ballade Wolfgang Müllers von Königswinter, die, zuerst 1S41 in Simrocks
Rheinsagen 3 erschienen, einen dem Mönch Felix aufs nächste verwandten Stoff behandelt.
So bestechend auch die Hypothese erscheint, dass Müllers Mönch von Heisterbach
niemals in Heisterbach gewandelt habe, sondern nur vom Dichter dorthin lokalisiert sei,
mit Recht macht Mai, mit Hilfe von älteren Reisehandbüchern die Frage klärend, doch
bei der Feststellung halt, „dass schon für die dreissiger Jahre des 19. Jahrhunderts eine
Heisterbacher Lokalsage existiert", deren Held zwar nicht über dem Gesang eines
engelischen Vögleins drei Jahrhunderte vergisst, sondern über seiner eigenen dämonisch ge-
steigerten Spekulierwut. „Die Spur des Heisterbachers verliert sich im Dunkeln." Die
Darlegung des stofflichen Problems (ein verwandtes behandelte 1910 Michael Huber in
der 'Wanderlegende von den Siebenschläfern') veranlasst Mai zu einer schnellen Übersicht
über die räumlich weit getrennten, ältesten Fassungen und legt von seiner Gelehrsamkeit
und Umsicht günstigstes Zeugnis ab. [Fritz Behrend.]
Heinrich Marz eil, Die Klette im Volksglauben (Naturwissenschaftliche Wochen-
schrift lisg. von H. Potonié, N. F. 12, 2, S. 23—26). I)ie Klette spielt im Volksglauben
eine wenig hervortretende, aber doch in manchen Punkten interessante Rolle. Besonders
ausführlich behandelt der Verf. die in einigen Krankheitsbeschwörungen vorkommenden
Anrufungen der Klette. Hieraus zu folgern, dass die Klette als Verkörperung eines Haus-
«
Notizen.
103
dämous galt, geht wohl zu weit. Auch der S. 25 mitgeteilte albanesische Brauch, gegen
die Bedrängungen durch einen Waldgeist in Wein getauchtes Brot auf eine Klette mit
grossen Blättern zu legen, kann diese Annahme kaum stützen ; die breiten Klettenblätter
sind eben besonders dazu geeignet, die Opfergabe darauf zu legen. Im übrigen dürften
in dem Aufsatz wohl alle wichtigeren Notizen über die volkskundliche Bedeutung der
Klette zusammengestellt sein; nachzutragen wäre nochWuttke3 § 523 (Weichselzopf durch
Klettensamen erzeugt, Ostpreussen). [F. B.]
J. Mink, Vorschläge für eine zukünftige Benennung der Fleischstücke vom Rinde
im Fleischergewerbe des Deutschen Reiches. Leipzig 1912. 66 S. 4 °. — Die Schrift erfüllt
ohne Zweifel einen dringenden Wunsch der Fachkreise des Fleischergewerbes. Denn da
auch diese sonst mehr bodensässigen Kreise, ebenso wie die gesamte Bevölkerung des
Deutschen Reichs vielmehr umher und durcheinander kommen, wurden die vielfach hier
so besonders ausgebildeten Dialekt- und Lokalbezeichnungen im Gewerbe wahrscheinlich
ebenso störend empfunden, wie anderswo. Steht doch der norddeutsche Reisende häufig
vor einer österreichischen Speisekarte wie vor einem Buch mit sieben Siegeln, und um-
gekehrt ist es nicht anders. Nun haben wir es als Volkskundler sicher zu bedauern,
wenn manch gute alte Bezeichnung hier jetzt dem Aussterben überantwortet wird, um so mehr
ist aber es da zu begrüssen, dass hier alle Bezeichnungen noch einmal zusammengefasst
werden. So ist von Fachseite eine Menge Sprachgut für den künftigen Forscher auf-
bewahrt und deshalb habe ich auch hier auf dieses Schriftchen hinweisen wollen.
[Ed. Hahn.]
G. Pi tré, The swallow book; the story of the swallow told in legends, fables, folk
songs, proverbs, omens and riddes of many lands gathered; rendered into english and
arranged for the use of our boys and girls by Ada Walker Oamehl. New York, Ameri-
can book company. (1912). 158 S. 8 °. — Die behenden, zierlichen und zutraulich in der
Nähe menschlicher Behausungen nistenden Schwalben haben Denken und Glauben des
Volkes oft beschäftigt. Es war daher ein hübscher Gedanke des Altmeisters der
italienischen Volkskunde, für seine Enkelin ein Büchlein zusammenzustellen, das die
Lebensgewohnheiten der Schwalbe und die von ihr handelnden Märchen, Legenden, aber-
gläubischen Vorstellungen, Sprichwörter, Lieder sowie ihre Verwendung in der Volks-
medizin aus reicher Kenntnis der europäischen und aussereuropäischen Überlieferungen
beleuchtet. Da es ein Kinderbuch sein soll, ist der gelehrte Anstrich und der z. B. in
Paulus Cassels Schriftchen 'Die Schwalbe und ihre Heimkehr' (Berlin 1866) hervor-
tretende Notenballast vermieden. Der englischen Übersetzung sind viele hübsche Zeich-
nungen beigegeben. [J. B.]
Chr. Ranck, Kulturgeschichte des deutschen Bauernhauses. Zweite Auflage. (Aus
Natur und Geisteswelt Nr. 223.) Leipzig, Teubner 1913. VI, 88 S. 71 Abb. 1,25 Mk. —
Rancks Kulturgeschichte des deutschen Bauernhauses ist in der zweiten Auflage im wesent-
lichen unverändert geblieben. Gegen die Darstellung der Entwicklung lässt sich ebenso-
wenig einwenden wie gegen die landschaftliche Gruppierung, die der Verfasser eng an
die Zweiteilung in das ober- und niederdeutsche Haus anschliesst. Dadurch wird die
Aufmerksamkeit nie von den Hauptsachen abgelenkt. Bei einer neuen Auflage würde
wohl auch das ostdeutsche Vorhallenhaus etwas Berücksichtigung finden müssen, für das
heute bereits ein umfangreicheres Material vorliegt, als Meitzen und Henning zur Ver-
fügung stand. Nicht völlig gerecht wird Ranck dem nordischen Hause, das der Verfasser
in seine Entwicklung einbezieht. Vereinzelt erweckt seine Darstellung Widerspruch. So
seine Ausführung über den Skot, der keineswegs im Norden allgemein verbreitet ist.
Auch das Sparrendach ist nicht, wie man nach R. annehmen könnte, gemein-nordisch,
sondern kommt nur in einem grösseren, aber von Niederdeutschland beeinflussten Gebiet
vor. Die angeführte Literatur, in der man manches wichtige deutsche Werk (von
Dachler, Eigl, Nordhoff, Lindner, Rhamm u. a.) vermisst, zeigt allerdings, dass dem Ver-
fasser das nordische Haus nur unvollkommen vertraut ist. Ohne die Kenntnis der
Schriften von Eilert Sund, Feilberg, Gudmundsson, Hyltén-Cavallius, Lauridsen, Ni-
colaissen wird man ein klares Bild über die Entwicklung nicht gewinnen. Es soll
dies den Wert der Ranckschen Arbeit nicht herabsetzen, sondern nur hinweisen auf
104
Notizen.
die Schwierigkeit, die deutsche Entwicklung mit der nordischen in Beziehung zu setzen.
[Robert Mielke ]
G. Schierghofer, Altbayerns Umritte und Leonhardifahrten. München, Bayerland-
Verlag 1913. XII, 73 S. 2,50 Mk. — Die besonders in Bayern üblichen, aber auch in
Schwaben, Belgien, Frankreich und sonst nachweisbaren Umritte sind eigentlich Wall-
fahrten zu Ehren eines Heiligen, von dem der Bauer für sich und seine Haustiere Segen
und Gedeihen erhofft. Nachdem Andree, Höfler u. a. mehrfach auf diesen Brauch hin-
gewiesen hatten, hat sich der Vf. daran gemacht, durch fleissige Umfragen und Studien
dessen Art und Ausdehnung genau festzustellen. Er ordnet die Nachrichten über die
einzelnen Orte nach dem Kalender; denn es gibt fast keinen Monat, indem nicht irgendwo
in Bayern ein Umritt gehalten wurde oder noch wird. So ziehen zu Ostern in Traun-
stein und St. Georgen zu Ehren des heiligen Georg die Bauern mit ihren Pferden hinter
den ebenfalls berittenen Geistlichen, Engeln und Kriegern in römischer oder mittelalter-
licher Tracht einher; andere Umritte finden zu Pfingsten, Martini und Stefani statt; be-
sonders aber am G. November, dem Feste des h. Leonhard. Über den heidnischen Ursprung
solcher Bräuche äussert sich der Vf. S. 11 mit löblicher Vorsicht. Das hübsche Büchlein,
das die Liebe zu heimatlichen Bräuchen wecken und pflegen will, ist mit treffliehen Ab-
bildungen von Klemens Thomas geziert. [J. B.j
Bichard Schlegel, Uhrumschriften, gesammelt und herausgegeben. Berlin,
B. Poetschki 1913. 22 S. kl. 8°. 0,80 Mk. — Inschriften auf Uhren sind bisher unseres
Wissens in grösserer Menge nicht zusammengetragen worden. Verwiesen sei auf die un-
nötigerweise in novellistische Form gekleidete Studie über Inschriften auf Sonnenuhren
von M. L. V. in Korrbl. f. d. höh. Schulen Württembergs 19, 48-51 und die Nachträge
von Nestle ebda. S. 208, sowie auf die Behandlung zweier antiker Sonnenuhrinschriften
im Musée Belge 17, 145 f. Die vorliegende Sammlung enthält ungefähr neunzig Sprüche.
Leider fehlen fast ausnahmslos Angaben über Ort und Zeit der Inschriften sowie bei den
literarischen die genaueren Bezeichnungen der Stellen. Zu 'horas non numero nisi
serenas' (S. 21) vgl. oben 15, 429; ich glaube die Worte auch in Sanssouci gelesen zu
haben. Manche dieser Sinnsprüche, wie der bekannte 'Vulnerant omnes, ultima necat',
sind übrigens nichts anderes als Rätsel. [F. B.]
Joh. H. Schwalm, 'Schwälmer Wees' (Schwälmer Weizen). Das Schwälmerleben
im eigenen Sprichwort, Kassel, F. Scheel 1913. GGS. kl. 8°. 1,20 Mk. — Der Vf. hat
seine ursprünglich im 'Hessenland' veröffentlichten Sammlungen in einem mit hübschen
Zeichnungen von J. Happ gezierten Büchlein vereinigt. Der Begriff 'Sprichwort"' ist von
ihm im weitesten Sinne gefasst, da er auch bildliche Redewendungen, Neckereien, Wetter-
regeln u. dgl. bringt. Die Kapitelüberschriften (Kindheit, Wie die Zucht, so die Frucht,
Berufswahl, Scherz und Ernst, Liebeszeit und Ehestandsleben, Tages-, Jahres- und Lebens-
arbeit) lassen die Art der Anordnung erkennen. Etwas schwerfällig wird die Darstellung
dadurch, dass der Vf. es für nötig gehalten hat, jedes Sprichwort wörtlich ins Schrift-
deutsch zu übertragen, selbst wenn, ein Missverständnis ausgeschlossen ist. Auch darf
man doch voraussetzen, dass den Lesern die Bedeutung des Wortes 'Ferkel bekannt ist
S. 35). Die Redensart 'Schlecht wie Galgenholz' ist sicherlich älter, als die dafür an-
geführte ätiologische Sage (S. 37), vgl. patibulum-patibulus, auch das siavovQyixòv çv/.ov
in dem von Preisendanz Hess. Bl. f. Vkde. 12, 139 f. veröffentlichten Diebeszauber gehört
in diesen Gedankenkreis. Die Redensart 'Bann de Gugguk reïft, muss m r sich of de
Reck leeng' erklärt der Vf.: Wenn der K. ruft, muss [= darf] man sich auf den Rücken
legen (weil dann der Boden warm ist]. Das 'darf' scheint mir etwas willkürlich ein-
geschoben. Sollte es sich nicht um einen unbewussten Stärkungs- oder Fruchtbarkeits-
ritus handeln? (s. Dieterich, Mutter Erde 2 S. 8 f.) — Die Sammlung bedeutet nicht nur
einen Beitrag zur Kenntnis der Schwälmer Denkart, wie der Vf. es im Untertitel aus-
drückt, sondern auch für die Kenntnis der hessischen Mundart. |F. B.]
Carlo Sganzini, Die Fortschritte der Völkerpsychologie von Lazarus bis Wundt.
(Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte hsg. von Richard
Herbertz, 2). Bern, A. Francke 1913. 247 S. kl. 8°. 4 Mk. — Ein vortreffliches Buch,
das alle Richtungen der Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal bis zu Wundt
Notizen.
105
Revue passieren lässt und kritisch mustert. Auch Grenzgebiete wie Soziologie und
Massenpsjchologie werden gebührend berücksichtigt. Die Einleitung orientiert umsichtig
über die Entstehung der Völkerpsychologie, wobei nur wieder die alte Fabel vom 'un-
geschichtlichen Sinn1 des 18. Jahrhunderts aufgetischt wird. Sehr ausführlich behandelt
der Vf. Wundts monumentales Werk, obwohl er gegen Grundlagen, Aufbau und Aus-
führung höchst beachtenswerte Einwände vorzubringen weiss. Dagegen werden Stein-
thals Verdienste zwar zutreffend, aber etwas summarisch gewürdigt: auch hätte noch sein
methodisch wichtiger Aufsatz im 1. Bande unserer Zeitschrift (1891 S. 10—17) herangezogen
werden können; er stellt zudem das letzte Wort dar, das dieser feine und tiefe Geist in
Sachen der Völkerpsychologie gesprochen hat. Ungern vermisst man ein Register.
[H. Michel.]
A. Stenz el, Das Riesenbett im Sachsenwalde (Wissenschaft und Technik, Beilage
zu Nr. 8 der Astronomischen Korrespondenz', 7. Jahrg. 1913). — Ausführliche Be-
schreibung des Dassendorfer Hünengrabes und Mitteilung einer darauf bezüglichen Volks-
sage. [F. B.]
Julio Vicuña Cifuentes, Romances populares y vulgares, recogidos de la tradición
oral chilena. Santiago de Chile, Imprenta Barcelona 1912. XXXIII, 581 S. 8o (Biblio-
teca de escritores de Chile 7). — Zum ersten Male erhalten wir durch die vorliegende
dankenswerte Arbeit einen tieferen Einblick in das Leben des spanischen Volksliedes in
Chile. 16G Texte hat der Vf. in zwölf Jahren aus dem Volksmunde aufgezeichnet, die, da
in dieser Summe auch blosse Varianten mitgezählt sind, 83 Romanzen angehören. Durch
Heranziehung der spanischen Volksliedliteratur liess sich feststellen, dass der grössere
Teil davon durch mündliche Fortpflanzung oder durch fliegende Blätter (pliegos sueltos)
im Laufe des 1(>. bis 19. Jahrhunderts aus dem Mutterlande eingeführt worden ist. Eine
Reihe anderer Lieder gibt sich durch Inhalt und Ausdruck als einheimisches Gewächs zu
erkennen, z. B. nr. 101 'Atahualpas Tod', 144 'das Erdbeben in Chile' u. a. Auch zeigen
nach S. XXII die chilenischen Melodien, von denen wegen der unüberwindlichen Scheu
der Sänger vor dem Phonographen leider keine Proben mitgeteilt werden konnten, einen
lebhafteren Charakter als die in Spanien üblichen. Unter den geistlichen Stoffen begegnen
Legenden von der Jungfrau Maria, von Magdalena und Katharina (nr. 88), der auf die
mittelalterliche Visio Fulberti zurückgehende Streit von Seele und Leib (136), die dem
Leontius- und Don Juan-Drama zugrunde liegende Sage von dem zu Gast geladenen
Totenschädel (50; vgl. Zs. f. vergi. Litgesch. 13, 389. Studien zur vergi. Litgesch. 9, 190) ;
aus den weltlichen Stücken hebe ich hervor die ovidische Fabel von Procne und Philo-
mela, hier Bianca Flor und Filomena genannt 24—34), die von ihrem unkeuschen Vater
verfolgte Delgadiua (8—14), den heimkehrenden Gatten (15- 23. 41—45. 160; vgl. oben
12, 59; und Mambrú d.i. Marlborough (68-70; vgl. Erk-Böhme, Liederhort nr. 325), um
von den bekannten spanischen Nationalhelden, dem Cid, Bernardo del Carpio, dem Grafen
Alarcos, zu schweigen. Wenn der Herausgeber über das Schwinden der alten Lieder klagt,
die vielfach nur bruchstückweise zu erlangen sind, wenn verschiedene Romanzen nur als
Kinderspiele fortleben (S. 155. 170. 176. 178. 543) oder gar in Prosaerzählungen umge-
gewandelt sind (nr. 150—152), so sehen wir darin eine Wiederholung von Erfahrungen, die
auch anderwärts von den Sammlern der Volksdichtung gemacht wurden. [J. B.]
Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen
gesammelt und herausgegeben vom Institut für angewandte Psychologie und
psychologische Sammelforschung. 1. Teil. 124 S. — Ethno-psychologische Studien
an Südseevölkern auf dem Bismarck-Archipel und den Salomo-Inseln von Richard
Thurnwald. Mit 21 Tafeln. 163 S. (Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie
und psychologische Sammelforschung hsg von William Stern und Otto Lipmann, 5 und 6).
Leipzig, J. A. Barth 1912 und 1913. 4 Mk. und 9 Mk. — Es ist erfreulich, dass die zum
Teil sehr fein ausgebildeten Methoden der experimentellen Psychologie, die lange Zeit in
stark esoterischer Weise gehandhabt wurden, nun auch auf Wissensgebieten Anwendung
finden, wo sie mit Nutzen verwertet werden und in Zukunft wichtige Ergebnisse liefern
können. Sprachwissenschaft, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Ästhetik u. a. sind bereits
mit Hilfe der psychologischen Forschung nicht unbeträchtlich gefördert worden, und es
106
Notizen.
ist mir gar nicht zweifelhaft, dass auch die Völkerkunde aus Untersuchungen dieser Art
reichen Gewinn ziehen, ja vielleicht auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung als Wissen
schaft gelangen wird. Aber auch für die Volkskunde ist diese Forschungsweise mit ge-
wissen Einschränkungen und Änderungen verwendbar: mit vollem Recht fordert Thurn-
wald neben der Analyse der zeitgenössischen Fremdvölker eine nach ähnlichen Grund-
sätzen auszuführende Zergliederung der modernen europäischen Völker in ihren ver-
schiedenen Schichten. Eine methodische Anleitung zu derlei Forschungen bieten die'Vor-
schläge', zu denen ausser Thurnwald auch Tschermak, Guttmann, Lipmann, Stern, Vier-
kandt und Meinhof sachkundige Beiträge geliefert haben. Thurnwald, dem diese Unter-
suchungen vor allem am Herzen liegen, hat sich dann dadurch kein geringes Verdienst
erworben, dass er die neuen Methoden auf seiner Reise nach den melanesischen Südsee-
Inseln an den Bewohnern des Bismarck-Archipels und der Salomo-Inseln praktisch erprobt
hat. Er darf mit seinen Resultaten zufrieden sein. Für die Fruchtbarkeit der ethno-
psychologischen Fragestellungen legt sein Buch beredtes Zeugnis ab. Die Mitteilungen
über die Sprache und die Zeichnungen der behandelten Völker seien besonders hervor-
gehoben; auch was S. 39ff. über die Fortpflanzung von Berichten gesagt wird, ist sehr
beachtenswert und sollte von Märchen-, Sagen- und Volksliedforschern nicht übersehen
werden. [H. Michel.]
A. Wrede, Eifeler Bauernleben in Sitte und Brauch (Sonderabzug aus der Eifel-
festschrift 1913, S. 392—423). Mit acht Abbildungen. Gr. 8 °. — Teils auf eigenen
Beobachtungen, teils auf früheren Veröffentlichungen fassend, gibt der Verfasser eine kurze
Übersicht über Glaube und Brauch der bäuerlichen Bevölkerung der Eifel bei Geburt,
Hochzeit, Tod und anderen wichtigen Lebensereignissen und -abschnitten, ihre Wohnstätte,
Tracht, Feste usw. Volksglaube und -brauch deckt sich fast durchgeliends mit dem aus
dem übrigen Deutschland bekannten; als besonders bemerkenswert seien hervorgehoben
die fast orgiastisch anmutenden Weiberumzüge nach der Kindtaufe (S. 402) und das wohl
auf alte Frühlingsriten zurückgehende Anzünden der 'Burg' am Sonntag Invocavit (S. 417);
die Verbände der Burschen und Mädchen spielen auch in der Eifel im Leben der
Dorfgemeinde eine sehr wichtige Rolle (S. 404f.). Sehr gut gelungene Abbildungen
nach Photographien schmücken die übersichtliche und reichhaltige Zusammenstellung.
[F. B.]
Zeitschrift für Kolonialsprachen hsg. von C. Meinhof 3, 3 (Berlin, D. Reimer 1913) ;
0. Dempwolff, Beiträge zur Kenntnis der Sprachen in Deutsch-Ostafrika, C. G. Selig-
mann, Five melanesian vocabularies from British New-Guinea. H. Rehse, Die Sprache
der Baziba in Deutsch-Ostafrika. W. B our quin, Adverb und adverbiale Umschreibung
im Kafir. G. Schürle und M. Klamroth, Afrikanische Liebeslieder. — 4, 1 (ebd.
1913): J. Irle, Herero-Sprichwörter. S. H. Ray, The languages of the papuan Golf
district. W. Bourquin, Adverb im Kafir. [J. B.]
Victor Chauvin f.
Am 19. November 1913 verstarb infolge eines Schlaganfalles, der den zur
Universität Schreitenden auf der Strasse traf, der Lütticher Universitätsprofessor
Dr. Victor Chauvin, in dem wir nicht nur einen Barscher von seltener, erfolg-
reicher Arbeitskraft, sondern auch einen hochgeschätzten Mitarbeiter unserer Zeit-
schrift betrauern.
Chauvin, der am 26. Dezember 1844 zu Lüttich geboren wurde, entstammte
einer französischen Familie, die zeitweise auch in Deutschland heimisch war; er
selber jedoch blieb seiner Vaterstadt, die er nur zu kürzeren Reisen verliess, zeit-
lebens treu. In Lüttich besuchte er das königliche Athenäum, an welchem Felix
Liebrecht als Lehrer angestellt war, das Lehrerseminar (Ecole normale des huma-
Victor Chauvin f.
107
nités), studierte auf der Universität die Rfechte und wirkte bis 1872 als Advokat1).
Zugleich aber widmete er sich unter Burggraffs Leitung so eifrig dem Studium
des Hebräischen und Arabischen, dass er 1872 als Chargé de cours und nach
kurzer bibliothekarischer Tätigkeit 1878 als ordentlicher Professor der orientalischen
Sprachen angestellt wurde. Über die Grammatik hin zog es ihn bald hin zu den
Realien; er las über moslemisches Recht und ältere Geschichte des Orients,
übertrug auch Dozys Geschichte des Islam ins Französische (1879). Sein Haupt-
werk aber ward die nach langjähriger Vorbereitung 1892 ans Licht tretende
'Bibliographie des ouvrages arabes ou relatifs aux Arabes publiés dans l'Europe
chrétienne de 1810 à 1885', von welcher bis 1909 elf Bände erschienen sind.
Hier schreitet Chauvin über die Aufgabe einer sämtliche Ausgaben und Über-
setzungen beschreibenden und die einschlägigen Zeitschriftenartikel buchenden
Bibliographie weit hinaus, um Inhalt und Charakter der behandelten Schriftwerke
mit wirklicher Sachkenntnis und Ausführlichkeit darzulegen. Seine Arbeit, die
sich etwa mit Goedekes Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung ver-
gleichen lässt, gibt von dem Fabelwerke Kaliiah und Dimnah, von Loqmans Fabeln,
der Barlaamlegende, der 1001 Nacht, dem Romane Syntipas, den Erzählungen des
Petrus Alphonsus usw. genaue Analysen und verfolgt die Geschichte der einzelnen
Novellenmotive in erstaunlich reichhaltigen Anmerkungen durch die Weltliteratur.
Aus langjährigen, ausdauernden Studien erbaut sich hier eine sichere Grundlage
für die orientalische Literaturgeschichte und für die Würdigung der Vermittler-
rolle zwischen Orient und Occident, die den Arabern im Mittelalter zugefallen ist.
Der hohe Wert dieses leider noch nicht vollendeten Werkes ist von der Pariser
Akademie wie von der deutschen morgenländischen Gesellschaft durch Erteilung
von Preisen und Druckunterstützungen wiederholt anerkannt worden. Aus der
langen Reihe seiner übrigen Werke stehen uns seine Aufsätze zur Volkskunde am
nächsten, die in der Wallonia (z. B. 1900—1901 La parabole des trois anneaux;
1902 Les souliers usés), in den Annales de l'académie d'archéologie de Belgique
(1902: Le jet des pierres au pèlerinage de la Mecque), in den Mémoires delà soc.
des sciences du Hainaut (1902: La légende égyptienne de Bonaparte), in der Revue
des traditions populaires (13: Le rêve du trésor sur le pont. 16: Les obstacles
magiques), in unserer Zeitschrift: (12: Felix Liebrecht; 14: Wunderbare Ver-
setzungen unbeweglicher Dinge; 15: Die rechtliche Stellung der wiedererwachten
Toten; 21: Les contes populaires dans le livre des rois de Ferdausi) u.a. ver-
öffentlicht wurden. Sie zeigen alle ebenso Chauvins treue Sorgfalt im kleinen
wie seinen auf die grossen Zusammenhänge gerichteten Blick. Eifrig wirkte er
als Mitglied der Gesellschaft für wallonische Literatur und widmete sich als
Stadtrat verschiedenen Aufgaben der Wohlfahrtspflege. Was er hier in engeren
Kreisen wirkte, entzieht sich naturgemäss dem Blicke der Fernerstehenden. Deutlich
aber steht von einem Berliner Besuche her sein freundliches Lächeln, die aus
seinen blauen Augen strahlende lebendige EYische und der elastische Gang der
kaum mittelgrossen Gestalt vor meinem Gedächtnis. Ehre seinem Andenken!
Berlin. Johannes Bolt e.
1) Für diese Lebensnachrichten habe ich dem Sohne des Verewigten, Herrn Hermann
Chauvin, Repetenten am Institut Montefiore in Lüttich, zu danken.
108
Brunn er:
Aus den
Sitzungs- Protokollen des Aereins für Volkskunde.
Freitag, de« 24. Oktober 1913. Der Vorsitzende Geh. Rat Prof. Dr. Roediger
teilte eine Einladung zur Eröffnung des Landesmuseums für sächsische Volks-
kunst in Dresden mit, die der Ferien wegen leider nicht rechtzeitig zur Kenntnis
der Vereinsmitglieder gebracht werden konnte. Hr. Dr. Paul Przygodda sprach
über typische Erscheinungen in Charakteren nnd Motiven der Grimmschen
Märchen. In den Vorreden zu verschiedenen Auflagen der Märchen hat Wilhelm
Grimm abweichende Auffassungen über das Wesen des Märchens kundgegeben.
Ursprünglich hielt er sie für autochthon, aber schon in der dritten Auflage hat er
diese Auffassung widerrufen. Typische Motive und Charaktere, besonders auch
Tierfabeln weisen auf den Zusammenhang des deutschen Märchens mit dem in-
dischen hin. In älteren Auflagen hat W. Grimm auch mehr den mythischen
Gehalt der Märchen betont. Die in neuerer Zeit bekannter gewordenen afrikanischen
Märchen klingen zwar oft mit den deutschen zusammen, sind jedoch durch eigen-
tümliche Auffassung wieder verschieden. Die gegenwärtige Märchenforschung
arbeitet im Sinne der Kombination, und von der Leyen hat die Grimmschen
Märchen in diesem Sinne neu geordnet. Betont wird die künstlerische Vorstufe
des Märchens; Traumerlebnisse werden zu Märchen umgestaltet, und primitive
Anschauungen sowie kulturelle Einflüsse werden als Hauptbestandteile des Volks-
märchens nachgewiesen. Solche primitiven Anschauungen z. B. von der Seele
sind der Glaube an verwunschene Menschen, singende Knochen, Namenzauber
und dergleichen. Auf die weitere Ausgestaltung der ethischen Begriffe hat später
das Christentum eingewirkt. Im 16. Jahrh. sind viele Motive aus dem damals
blühenden Handwerk ins Märchen eingedrungen. Ebenso sind die Spuren be-
merkenswerter Perioden der deutschen Geschichte und Kulturgeschichte in den
Märchen nachzuweisen. Tierfabeln stammen vielfach aus dem Altertum, Schild-
bürger- und Schwabenstreiche, gemütvolle Erzählungen von Christus und seinen
Jüngern gehören auch bestimmten Zeitaltern an. Manche Zeitalter haben gewisse
Ähnlichkeit miteinander, und daher ist die Einordnung gewisser Märchen schwierig.
Der Redner erklärte sich gegen den Neudruck der Grimmschen Märchen in
anderer Ordnung und hält die ursprüngliche, deren Absicht Abwechselung war,
für unantastbar. — Hr. Prof. Dr. J. Bolte erwähnte, dass schon Jakob Grimm
versucht habe, die Märchen nach Jahrhunderten zu ordnen; eine andere An-
ordnung, nach Stoffen, habe Dr. Aarne getroffen; eine Schwierigkeit, Aufschluss
über bestimmte Märchenstoffe zu erhalten, liege darin, dass die einzelnen Märchen-
forscher die Motive verschieden bezeichneten. Der Vorsitzende legte den neu-
gedruckten 1. Band 'Anmerkungen zu den Grimmschen Märchen' vor, der von
Bolte und Polivka (Leipzig 1913) herausgegeben ist. Er bemerkte noch gegen
v. d. Leyens Auffassung, dass nicht immer erst die literarische Verarbeitung den
Märchen ihre Form gegeben habe. — Hr. Prof. Bolte berichtete dann über die
i agung des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde in Marburg (s. oben
Protokolle. 109
23, 440). — Hr. Rittergutsbesitzer Treichel verlas ein noch ungedrucktes Epi-
gramm von Justinus Kerner, in dem Korse und Korsett miteinander in Beziehung
gebracht werden. Er legte dann ein Tonfragment vor, das er für ein Bruchstück
eines primitiven Leuchters hält, und eine aus einem Stücke Holz gearbeitete
Streichholzbüchse aus Westpreussen, die er der Sammlung für deutsche Volks-
kunde überwies.
Freitag, den 28. November 1913. Vorsitz Geh. Rat Roediger. Hr. Prof.
Dr. Bolte widmete dem verstorbenen Mitarbeiter an unserer Zeitschrift, Prof.
Dr. Viktor Chauvin in Lüttich, warme "Worte ehrenden Gedächtnisses. — Der
Vorsitzende legte die neu erschienene volkskundliche Bibliographie vor, die als
erweiterte Portsetzung der bisherigen 'Zeitschriftenschau' von A. Abt unter dem
Titel: Die volkskundliche Literatur des Jahres 1911 bearbeitet ist und den Vereins-
mitgliedern zu ermässigtem Preise geliefert werden kann. Für eine in Aussicht
genommene Änderung der Satzung erbat und erhielt er von der Versammlung
Aufschub der Beratung bis zur Januarsitzung. Dann sprach Frl. Elisabeth Lemke
über 'Glück' und anderes Neujahrsgebäck, worüber sie selbst wie folgt berichtet:
„Unter Hinweis auf die Zusammengehörigkeit von Weihnachten, Neujahr und
Dreikönigstag kamen (durch 12 Blätter mit Abbildungen unterstützt) die in diese
Zeit fallenden Kult- bzw. Heilgebäcke zur Erörterung. Einen grossen Anteil an
diesen zum Teil in ferne Zeit zurückreichenden Gebäcken haben die in dieselben Tage
fallenden Totengedenkfeiern, die allerdings schon lange nicht mehr an die Vinter-
sonnenwende gebunden sind, sondern von der Kirche auf andere Tage verlegt
wurden. Ausser der Treue und Furcht, mit denen man der Verstorbenen gedenkt
(das Umherschwärmen der Seelen ist noch immer nicht vergessen), spricht die
Furcht vor Dämonen mit; die Gesundheit bei Menschen und Haustieren wird
durch mancherlei Gebäck 'gesichert'; es werden Menschen, Tiere, Sterne usw. ge-
backen. Zum sog 'Glückgreifen' in der Sylvesternacht gehören neun Figuren:
1. Ring, 2. Mann und Frau, 3. Kind, 4. Geld, 5. Brot, (>. Kreuz (oder Glück oder
Engel), 7. Tod, 8. Himmelsleiter, 9. Himmelsschlüssel; dreimal kann man je drei
der Teller aufheben, unter denen dies Gebäck geborgen ist, das allemal anders
geordnet wurde. Es kamen ferner zur Schilderung: Fieberbrötchen, Neujahr-
backen, Glück für die Tiere, Neujahrshündlein (allerlei Dinge), Howölfel, Neu-
jahrsbaum, Drei Könige (am Sylvester gebacken und bis zum 6. Januar auf-
bewahrt) usw. In einer Gegend Ostpreussens setzte man am Sylvesterabend ein
gebackenes Neujahrsbäumchen und gefüllte Salzfässer für die Toten hin. Auch
streut man vor dem 'für die Toten geheizten Ofen' Asche, um Fussspuren sehen
zu können." Dazu teilte Hr. Pastor Jahn mit, dass in Züllchow bei Stettin der
Ausdruck 'Wolf' für ein Weihnachtsgebäck allgemein sei. Der Vorsitzende er-
wähnte, auch in Sachsen sei die Bezeichnung 'Hoch-Neujahr' für den Epiphanias-
tag noch üblich. — Hr. Dr. Antti Aarne hielt darauf einen Vortrag über die
Veränderungen in den Märchen. Die Ursachen dieser Veränderungen sind selten
zufällig. Es kommt häufig vor, dass eine Person des Märchens in der Weiter-
erzählung vergessen wurde, was dann weitere Änderungen erforderlich machte.
Andrerseits ist Erweiterung der Stoffe sehr allgemein, besonders am Anfange
oder Ende des Märchens. Oft werden auch verschiedene Märchen zu einem
Ganzen vereinigt. Ferner sind Vervielfältigungen von Daten, Personen usw. häufig.
Sehr gewöhnlich sind Dubletten oder Analogieformen in den Märchen. Verall-
gemeinerungen oder Vertauschung an Stelle eines bestimmten Zuges im Märchen
sind weitere Ursachen der Veränderung. Lösungen der Handlung und Verbin-
dung der Personen zu anderen sind ebenfalls nicht selten. In den anthropo-
110
Branner:
morphischen Märchen ist die Verwandlung eines Menschen- in ein Tierabenteuer
selten, während Vermenschlichungen von Tieren häufig vorkommen. In alte
Teufelsmärchen sind später oft Tiere hineingekommen. Veränderung der Gegend
bringt naturgemäss Akklimatisierungsversuche hervor, was an dem verbreiteten
Märchen von der Einkehr in ein Gasthaus gut erkennbar ist. Dieser Grund zur
Veränderung der Märchen spielt überhaupt eine grosse Rolle. Von grösster
Wichtigkeit ist es, dass alle Veränderungen nach bestimmten Gesetzen erfolgen.
Hr. Prof. Bolte wies darauf hin, dass der gehörte Vortrag das Ergebnis langer
gründlicher Studien auf dem Gebiete der vergleichenden Märchenforschung sei.
Er erinnerte dann an die von Ulr. Jahn beobachtete Tatsache, dass einer seiner
Gewährsmänner, der als Husar gedient hatte, alle Helden seiner Märchen als
Husaren auftreten liess. Auch begabte Erzähler bilden, wie Bünker nach-
wies, im Laufe der Zeit ihre Märchen um, und Volkslieblingen wie Eulen-
spiegel oder dem alten Fritz werden viele ältere Geschichten angehängt. In
jüngerer Zeit macht sich eine Neigung des Volks bemerkbar, eine glückliche
Lösung des Märchens herbeizuführen, während die Urform öfter einen tragischen
Ausgang bietet.
Freitag, den 19. Dezember 1913. Der Vorsitzende, Geh. Rat Roediger,
beantragt mit Rücksicht auf das Programm des Abends die Verschiebung der
Vorstandsneuwahl auf die Januarsitzung, wogegen sich kein Widerspruch erhebt.
Hr. Musikdirektor Karl Becker hielt dann einen Vortrag über das deutsche, ins-
besondere das rheinische Volkslied, welcher durch eine Anzahl von Volkslieder-
vorträgen des 15. bis 19. Jahrhunderts, trefflich ausgeführt vom Chor des Kgl.
Lehrerseminars in Köpenick, erläutert wurde. Am Klavier begleitete mit Anmut
Frl. Dora Becker. Der Redner führte aus, dass die Geschichte der Entstehung
des Volksliedes noch nicht geschrieben sei. Seit Herder, Goethe und Uhland ist
es aber von den Literaturforschern vielfach behandelt wol-den, nach Hoffmann von
Fallersleben in neuerer Zeit besonders durch M. Friedlaender und John Meier.
Im Gegensatz zum Kunstliede bringt das Volkslied typische, allgemeine Erlebnisse
zur Darstellung, nicht subjektive Empfindungen. In sprunghaftem Stile wird Selbst-
verständliches übergangen. Text und Melodie sind miteinander verwachsen. Daher
der unvergängliche Zauber der Jugend im Volksliede. Im fortgesetzten Gebrauch
schwanden allmählich alle Ecken und Härten des Liedes. Man ordnet die Volks-
liedersammlungen zweckmässig nach dem Stoffe, den sie behandeln. In Deutsch-
land sind Kriegslieder häufig im Volksmunde anzutreffen, besonders zahlreich in
der Rheinebene. Dagegen wurden Balladen, die aus der Mythologie und Tier-
sage schöpfen, durch kirchliche Einflüsse verdrängt, während Liebeslieder in
Balladenform sehr zahlreich sind. Nach dem Abklingen des Minnegesanges und
der Marienhymnen kam im 15. Jahrhundert das Volkslied auf, im 16. Jahrhundert
waren sie noch zahlreicher vorhanden, aber im Zeitalter des Dreissigjährigen
Krieges gingen viele Volkslieder unter. Im 18. Jahrhundert kam der noch heute
nicht überwundene Bildungsdünkel auf und drängte das Volkslied zurück. Aller-
dings setzte nun bald die mit Herder beginnende Gegenströmung ein und führte
für das Volkslied eine neue Ära herbei, bei der aber die Melodie vernachlässigt
wurde. Erst Erk widmete auch ihr die nötige Aufmerksamkeit, ausserdem Böhme,
Liliencron u. a. Am Rhein sammelte zuerst Hoffmann von Fallersleben Volks-
lieder. Sein 'Liederhort' wird in der Berliner Kgl. Bibliothek aufbewahrt, welche
überhaupt die meisten hsl. Volksliedersammlungen enthält. W. von Zuccalmaglio
sammelte über 600 Volkslieder, änderte aber leider sein Material nach Gutdünken
um. Auch Kretschmer und Simrock sammelten Volkslieder des Rheingebietes,
Protokolle.
Ill
wenn auch nicht erschöpfend. Der Redner selbst hat etwa seit 1870 im ganzen
Rheinlande Volkslieder mit besonderer Berücksichtigung der Melodie gesammelt
und beabsichtigt nahezu 1000 zu veröffentlichen, von denen viele Variationen, bis
zu 20, vorliegen. Die Notierung der Melodien ist schwieriger als die der Texte,
und es gehört dazu viel Erfahrung und musikalische Begabung. Grossen Reiz
geben den Melodien die oft wechselnden Taktarten. Zu einer umfassenden Dar-
stellung des deutschen Volksliedes mtissten noch mehr Sammlungen, besonders
auch der Melodien, in allen deutschen Gauen veranstaltet werden1). Der Vor-
sitzende dankte Hrn. Becker für die willkommenen Belehrungen über das
deutsche Volkslied und die musterhaften Vorträge des von ihm geleiteten Chores.
Er sprach die Hoffnung aus, dass die aus der trefflichen Schule des Hrn. Vor-
tragenden hervorgehenden jungen Lehrer mit ganz besonderem Verständnis sich
in Zukunft die Pflege des Volksliedes, zumal auf dem Lande angelegen sein lassen
werden.
Freitag, den 28. Januar 1914. Der Vorsitzende, Hr. Geh. Rat Roediger,
erstattete den Jahresbericht und der Schatzmeister Hr. Tr eie hei den Kassen-
bericht. Dann wurde der bisherige Vorstand wiedergewählt. Er besteht also aus
den Herren Roediger, Bolte, Brunner, Mielke, Treichel, Minden und Sökeland.
Der gleichfalls neugewählte Ausschuss setzt sich wie folgt zusammen: Friedel als
Obmann, Schulze-Veltrup, Boehm, Behrend, Hahn, Ludwig, Samter, Maurer, Lemke,
Heusler, Simon, Ebermann. Auf Antrag des Vorstandes stimmte die Versammlung
einer Änderung der Satzung zu, welche neugedruckt und den Mitgliedern über-
sandt werden soll. Darauf hielt Hr. Prof. Dr. Ernst Samter einen Vortrag über
Religion und Sittlichkeit bei den Griechen. Die Götter haben nach griechischer
Anschauung die Welt und die Menschen nicht erschaffen, aber sie regieren sie.
Dass sie immer gerecht regieren, kann nicht behauptet werden. Die homerischen
Götter ergreifen bekanntlich in den Kämpfen der Griechen und Trojaner sehr
energisch Partei. Durch Opfer an die Gottheit glaubte man sozusagen einen
Kontrakt zwischen Gott und Mensch festzusetzen. Die Gunst der Götter beruht
keineswegs nur auf guten Taten; das gilt auch für spätere Formen des griechischen
Volksglaubens. Auch in die Mysterien ist erst später ein sittliches Moment ein-
getreten. Natürlich gab es auch Gegner der unethischen Anschauungen des Volks-
glaubens. So hat besonders Xenophanes (6. bis 5. Jahrhundert) scharf diese un-
sittlichen Auffassungen der Dichter über die Gottheit kritisiert. Er gelangte so
zu einer mono- oder pantheistischen Religionsanschauung, die viele geistig hoch-
stehende Griechen mit ihm teilten. Hesiod gibt in seiner Theogonie und seinen
'Werken und Tagen', die eine Art von Bauernkalender sind, eine weniger poetische
als moralisierende Götterlehre. So spricht er z. B. von einer segensreichen Eris,
die zu Fleiss und Arbeit anreizt. Ähnliche Vorstellungen von gerechter göttlicher
Regierung hegte auch Solon. Er spricht auch von dem Erbe des Bösen, d. h.
der Strafe an den Nachkommen. Herodot dagegen schreibt den Göttern mensch-
liche Schwächen zu, z. B. den Neid, der es dem Menschen verwehrt, zu glücklich
zu sein. Auch Pindar spricht ähnlich, ferner urteilen so die sieben Weisen in
1) Es kamen folgende Volkslieder zum Vortrag: 15. Jahrhundert: Ich fahr dahin.
Innsbruck, ich muss dich lassen. 16. Jahrhundert: Es ist eine Ros' entsprungen. 18. Jahr-
hundert: Drei Lilien. O Strassburg, du wunderschöne Stadt. 18. bis 19. Jahrhundert:
Jetzt gang i ans Brünnele. 19. Jahrhundert: Ich habe den Frühling gesehen. Zu Strass-
burg auf der langen Brück. Weh, dass wir scheiden müssen.
112 Brunner: Protokolle. — Zum Marburger Verbandstag. — Berichtigung.
ihren Sprüchen an dem Heiligtume von Delphi. Unter den grossen Tragikern hat
Aeschylus in vielem am alten Glauben festgehalten, aber seine Vorstellungen
über die Gottheit sind doch weit über den Volksglauben hinausgewachsen. Mass-
halten ist ihm eine Notwendigkeit für den Menschen, denn Zeus ist ein scharfer
Richter der Überhebung. Eine Forderung der Gerechtigkeit ist Strafe, auch an
Kindern und Kindeskindern. Aber die Sünden der Väter sind nur Mithelfer der
bösen Tat, zum Entschluss ist der Mensch frei. Zeus ist ihm der Gott schlechthin;
seine Weisheit und Güte preist er in fast alttestamentlicher Kraft und Majestät. Im
Chor des 'Agamemnon' gibt er seiner Anschauung über die Macht des Zeus ge-
waltigen Ausdruck. Bei Sophokles findet sich ähnliche Frömmigkeit, doch steht
sie dem Volksglauben näher als bei Aeschylus. Zu seinen religiösen Forderungen
gehört auch die Erfüllung äusserlicher Vorschriften, und er hält noch fest am
Alten, auch zuweilen im Gegensatze zum Geiste seiner Zeit. Sein Philoktet muss
wie Odysseus nach dem Willen der Gottheit schuldlos leiden. Der Mensch hat
sich eben dem unbegreiflichen Willen der Gottheit zu unterwerfen, und als Trost
bleibt ihm nur die Ergebung in den Willen der Gottheit. Eine Hoffnung auf
Lohn im Jenseits wird nicht gegeben. Im Gegensatze dazu spricht aber Aeschylus
von einem Gerichte im Jenseits. Auch Pindar weist auf diese Gerechtigkeit hin
und entwirft von ihr ein blumenreiches Bild. Aber dem Volksglauben waren
solche Anschauungen fremd. Im (>. Jahrhundert lehrten die Orphiker, die Schüler
des Thrakers Orpheus, dass in der Ekstase des Dionysoskultes Vereinigung mit
der Gottheit erfolge. Es war eine Erlösungsreligion mit Vorstellungen von Seelen-
wanderung und körperlicher Askese, z. B. Enthaltung vom Fleischgenuss. Aber
eine sittliche Umwandlung war ursprünglich nicht verlangt. Unter dem Schutze
des Pisistratos hingen die attischen Bauern des 6. Jahrhunderts dieser Sekte an.
Bei Pindar finden sich Erinnerungen an diese Anschauung von Seelenwanderungen
wieder; aber stärker wirkte die orphische Lehre auf die Philosophen, besonders
Plato ein. Manches ging auch in das Christentum über. Der Vorsitzende
legte zum Schlüsse einen neu erschienenen Leitfaden zur Märchenforschung von
Dr. A. Aarne vor.
Berlin. • Karl Brunner.
Zum Bericht über den Marburger Verbandstag
(oben 23, 441)
sei liier eine Berichtigung nachgetragen. Der geschäftsführende Ausschluss bestand und
besteht aus den Herren John Meier (Freiburg), A Götze (Freiburg), Hoffmann-Krayer
(Basel) und Lauffer (Hamburg). Dagegen gehören die Herren Fehrle (Heidelberg) und
Helm (Giessen) mit Hepditig, Jostes, Spamer und Wünsch der Kommission für die
Sammlung der Segen- und Zauberformeln an. (J. B.)
Berichtigung.
Oben 23, S. 424, Z. 9 von unten ist statt 'Streitberg' zu lesen: 'Helm'.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
Yon Alfred Martin.
(Mit 3 Abbildungen.)
Im Jahre 1832 liess der Berliner Geschichtsforscher und Arzt Hecker1)
eine Monographie über die 'Tanzwut' erscheinen, die von Dubois2) ins
Französische übersetzt und 1865 yon dem Berliner Professor August
Hirsch1) nochmals und mit Zusätzen herausgegeben wurde.
Die Autorität Heckers auf dem Gebiet der grossen Yolkskrankheiten
des Mittelalters hat bewirkt, dass die Grundzüge seiner Darstellung bis
heute massgebend gewesen sind3) und Berichtigungen sowie einige neu
hinzugekommene Ergebnisse fast unberücksichtigt blieben.
Ich bin bei keiner Arbeit auf soviel unkritisch zusammengetragenen
Stoff, auf so wenig Ausnutzen der den Autoren zu Gebote stehenden
Quellen und des von ihnen selbst mitgeteilten Stoffes gestossen als bei
der Geschichte der Tanzkrankheit.
1. Der Veitstanz in Strassburg 1518.
Am schärfsten umschrieben steht die Strassburger Veitstanzepidemie,
wie ich gleich vorwegnehmen will, vom Jahre 1518 da. Die grossen
Medizinhistoriker Hecker, Hirsch und Häser legen sie ins Jahr 1418.
In einer Anmerkung zu Königshovens Elsässer Chronik sagt der
Herausgeber Schilter 1698, dass man von der Strassburger Tanzplage
in Chron. M. S. Argent, p. 318 folgende Reime finde:
1) J. F. C. Hecker, Die Tanzwuth. Berlin 1832. Abdruck mit Zusätzen von Hirsch
in: Die grossen Yolkskrankheiten des Mittelalters, Historisch-pathologische Unter-
suchungen von J. P. C. Hecker, Gesammelt und in erweiterter Bearbeitung heraus-
gegeben von Dr. August Hirsch. Berlin 1865. S. 143 — 192. — 2) Mémoire sur la choree
épidémique du moyen age; par le docteur J. F. C. Hecker (Traduit de l'allemand par
M. Ferdinand Dubois). Annales d'Hygiène publique et de médicine légale, 12. Bd.
Paris 1834. — 3) H. Hapser, Lehrbuch der Gesch. der Medizin und der epid. Krank-
heiten, 3. Bearbeitung. 3. Bd. Gesch. d. epid. Krankh. Jena 1882; 0. v. Hovorka und
A. Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, 2. Bd. Stuttgart 1909.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2. Q
114
Martin:
„St. Yeits Tantz An. 1418.
Viel hundert fingen zu Straßburg an
Zu tantzen und springen, Fraw und Mann,
An offnen Mark, Gassen und Strassen.
Tag und Nacht ihren viel nicht assen,
Biß jn das Wüten wieder gelag.
St. Vits Tantz ward genant die Plag"1).
Was Schilter weiter mitteilt, ist ohne Angabe eines Jahrhunderts. Da
Heckers Mitteilungen nur auf denen von Schilter beruhen, ging die
Jahreszahl 1418 in die spätere Literatur über.
Bei einer gelegentlichen Durchsicht der Chronica neuer Geschichten
des Nürnberger Chronisten Wilhelm Rem fiel mir auf, dass dort die
Epidemie 1518 datiert ist.
Es heisst da: „Wie zu Straspurg vil leut sant Yeitz tantz ankam. Anno dni.
1518 im summer da kam es zu Straspurg fast vil leutt sant Yeitz tantz an, daß
ain tag wol bei 15 menschen ankam.es weret fast lang, also verbott man das
tantzen und pfeiffen und paugkenschlagen"2).
Zunächst glaubte ich an einen Druckfehler, zumal der Herausgeber
der Chronik Roth unter den Hinweisen auf andere Quellen auch eine
von Häser veröffentlichte und bei diesem 1418 datierte Ratsverordnung
anführt. Als ich mich dann mit den weiteren Quellen beschäftigte, gab
es Überraschungen.
Die Epidemie von 1518 steht nach dem mir vorliegenden Stoff fest.
Längere Zeit glaubte ich an eine zweite, im Jahre 1418, einmal wegen
der Stelle bei Scliilter, dann wegen des Ratsbeschlusses von 1418 bei
Häser, und drittens, weil 1418 Tanzkranke im obern Deutschland erwähnt
-werden. In Zürich kommen sie in diesem Jahre nach Yögelin3) in den
Rats- und Richtbüchern vor. Er macht ausdrücklich darauf aufmerksam,
dass sie in den Züricher Chroniken, die sonst Kleinigkeiten berichten,
.nicht erwähnt werden, und nimmt deshalb Yeitstänzer an, die von Zabern
im Elsass kamen, denn dorthin hatte Strassburg seine Kranken geschickt.
Die Jahreszahl über den Yersen bei Schilter konnte nicht nach-
geprüft werden. Wie mir die Strassburger Landesbibliothek mitteilt, ist
die angeführte Chronik beim Bibliotheksbrande 1870 zugrunde gegangen.
Ich glaube, es geschah schon früher, da keiner der Schriftsteller vor 1870,
die nach handschriftlichem Stoff suchten, ausser Schilter ihrer gedenkt.
1) Die älteste teutsche so wol allgemeine als insonderheit elsassische und Straß-
burgische Chronike, von Jacob von Königshoven, Priestern in Straßburg, von Anfang der
Welt biß ins Jahr nach Christi Geburth MCCCLXXXVI beschrieben. Anjetzo zum ersten
mal heraus und mit historischen Anmerkungen in Truck gegeben von D. Johann Schiltern.
Straß bürg 1698. Anmerkung: Vom Veitz-Tantz S. 1085-1090. — 2) Wilhelm Rem,
Chronika newer Geschichten. Bearb. von Friedrich Roth, Chroniken der deutschen Städte
25. Bd. Leipzig 1896. — 3) Salomon Vögelin, Geschichte der Wasserkirche in Zürich.
Zürich 1848 (Neujahrsblatt hsg. v. d. Stadtbibliothek in Zürich auf das Jahr 1847—48).
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
115
Die bei Häser wörtlich abgedruckte Ratsverordnung findet sich schon
bei Schilter und ist dort datiert „Veneris post Magdalene etc. XVIII".
Das Original (Anlage II) liegt noch im Archiv der Stadt Strassburg
(GUP 200) und hat auch nur etc. XYIII. Nach der Charakteristik der
Schriftzüge ist 1518 anzunehmen. Auch ein ausserdem von Schilter mit-
geteiltes Ratsprotokoll (Anlage I), das nicht datiert ist, gehört demselben
Jahre an; das geht aus den dort mitgeteilten Namen der Magistrats-
personen hervor (Angabe des Archivs der Stadt Strassburg).
1836 gab nun Boersch1) eiue französisch geschriebene grössere Arbeit
über die Sterblichkeit in Strassburg heraus und bringt richtig die Veits-
tanzepidemie beim 16. Jahrhundert. In einer Anmerkung schreibt er
aber, dass die verschiedenen Chronisten sich mit dem Jahre 1518 geirrt
hätten. Nach seinen letzten Forschungen stehe es ausser Zweifel, dass, wie
Schilter angibt, 1418 richtig sei, auch Hecker sage das; er bedaure, dass
er wegen des vorgeschrittenen Druckes die betreffende Stelle nicht mehr
berichtigen könne. Und doch hat er noch geändert, nämlich in die fran-
zösische Übersetzung der erwähnten Ratsverordnung das Yierzehn-
hundert eingesetzt, wodurch aus dem 18. Jahre 1418 wurde. Den deutschen
Originaltext bringt er noch richtig mit etc. XVIII. Darauf hat Häser2)
dem deutschen Originaltext das 14.. hinzugefügt (er gibt keine Quelle
an, zitiert aber an anderer Stelle Boersch), und so entstand in der Rats-
verfügung die gefälschte Jahreszahl 1418. Damit war für die Medizin-
historiker die Strassburger Veitstanzepidemie abermals und nun doppelt
begründet auf 1418 festgelegt.
Von elsässischen Schriftstellern nehmen Grandidier3), Hermann4), Glöckler5)
das Jahr 1418 an, Krieger6), Witkowski7), Adam8) 1518, Boersch, wie erwähnt,
zuerst 1518, dann 1418, Strobel9) und Fischer10) 1418 und 1518. Beiläufig sei
bemerkt, dass Holländer11) ohne Quelle die falsche Jahreszahl 1438 bringt.
Wesentlich falsche Schilderungen der Epidemie geben Grandidier und
Strobel a. a. 0., welche Vorkommnisse einer früheren Tanzplage, die im H.Jahr-
hundert vorzugsweise in Niederdeutschland herrschte, für die Strassburger an-
geben.
Die Schilderung der Strassburger Epidemie, wie sie die bekannteren
ärztlichen Geschichtsschreiber (Hecker, Hirsch, Häser und die, welche aus
ihnen schöpfen) geben, gründet sich auf Schilter und auf das, was
1) Charles Boersch, Essai sur la mortalité à Strasbourg. Strassburg 1836. —
2) Lehrbuch 3, 3. — 3) Ph. A. Grandidier, Oeuvres historiques inédits, 4. Bd. Colmar
1861). — 4) Jean-Fréd. Hermann, Notices historiques etc. sur la ville de Strasbourg,
2. Bd. Strassburg 1819. — 5) L. Glöckler, Gesch. des Bistums Strassburg. Strassburg
1879. — 6) J. Krieger, Beiträge zur Gesch. der Volksseuchen etc. von Strassburg, l.Heft.
Strassburg 1879. — 7) L. Witkowski in Laehrs Allg. Zs. f. Psychiatrie 35. Berlin 1879.
— 8) A. Adam, Sankt Veit bei Zabern oder der hohle Stein. Zabern 1879. —
9) A. W. Strobel, Vaterländische Geschichte des Elsasses, 3. Teil. Strassburg 1843. —
10) Dagobert Fischer, Das alte Zabern. Zabern 1868. — 11) E. Holländer, Die Medizin
in. der klass. Malerei, Stuttgart 1903.
8*
116
Martin :
Boersch1) zusammengetragen hat, der die Angaben aus der (1870 ver-
brannten)2) handschriftlichen Chronik von Schadaeus (Oseas Schad,
17. Jahrhundert)8) und den im 17. Jahrhundert gedruckten yon Gold-
meyer und Kleinlawel vermehrte.
Nach Schadaeus fing eine Frau 1518 acht Tage vor [Häser sagt
falsch nach] Maria Magdalenentag [2*2. Juli] zu tanzen an. Sie tanzte vier
ganze Tage. Der Magistrat liess sie zur Kapelle des heiligen Veit nach
Zabern führen, und sie blieb ruhig. Darauf begannen noch mehrere bei
den Stadtställen zu tanzen, und im Yerlauf von vier Tagen waren es
34 Personen, Männer und Frauen. Der Magistrat verbot Trommeln und
Pfeifen, und man führte die Tänzer nach St. Yeit, aber in wenigen Tagen
vermehrte sich die Zahl auf mehr als 200. Die Chroniken von Gold-
meyer und Kleinlauel fügen hinzu, dass die Kranken Tag und Nacht
tanzten, bis sie erschöpft und ohnmächtig umfielen, und viele unter ihnen
konnten sich nicht erheben und starben. Soweit Boersch a. a. 0.
Ähnlich ist die Schilderung in Duntzenheims Chronik. Nach ihr
ging die Tollheit von einer Frau aus, welche zuerst vier Tage in einem-
fort tanzte; wenige Tage darauf waren es schon vierunddreissig, und in
der vierten Woche — darin weicht sie von der Schadschen ab — stieg
die Zahl auf mehr als zweihundert4).
Kleinlawel bringt unter Vitsdantz 1518 die Verse:
„Ein Seltzam sucht ist zu der zeit
YTnder dem Volck vmbgangen,
Dan viel Leut auß Vnsinnigkeit
Zu Dantzen angefangen,
Welches sie allzeit Tag und Nacht
Ohn vnter laß getrieben,
Biß das sie fielen in ohnmacht,
Viel sind Todt drüber blieben"5).
Die Goldmeyersche Chronik erwähnt nach Angabe der Strassburger Landes-
universität den Veitstanz von 1518 nicht.
Aus den sogenannten Brantschen Annalen, die Auszüge aus den Ratsproto-
kollen sind, führe ich noch an: „1518. Als diss jars um Margarethen ['22. Juli]
ein schwäre erschreckliche krankheit mit St. Vitstanz erhub, also dass uff fünfzig
personen damit behafft tag und nacht tantzeten dass jämmerlich zu sehen war,
wurden dieselben alle in der Stattcosten verwahrt und zn dem lieben heil. St. Vit
im Hohenstein bei Zabern geführt und fast erledigt [vollständig frei von der
Krankheit]. Da setzten unsere herren uff und lissen ein gebot üssgon, daß nie-
mand tantzen soll bis Michaelis [29. September] in der ganzen Statt und burgban,
bei 30 sch pf. und kein beucken [Pauken] schlagen; wol möchte man bey braut-
läuften und ersten messen mit saitenspiel tantzen nach eines jeden conscienz"0).
1) Essai 1836. — 2) Haeser a. a. 0. — 3) Desgl. — 4) Fragments de diverses
vieilles chroniques, nr. 3981. Mitt. d. Ges. f. Erhaltung der gesch. Derikni. des Elsass,
2. 1 olge, bd. 18). Strassburg 1897. — 5) Kleinlawel, Strassburgische Chronik. Strassbg.
162o. 6) Jac. Wencker, Extractus ex protocollis Dom. XXI vulgo Sebastian Brants
Annalen, nr. 3443 (Mitt. 2. Folge, Bd. 15). Strassbg. 1892.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
117
Die Bürger, welche Kranke in ihren Familien hatten, mußten die Kosten zum
heiligen Veit nach Zabern tragen, für die Armen übernahm sie der Rat. Der
Transport geschah auf drei dreispännigen Wagen, nicht auch zu Fuß, wie Hecker
und Häser angeben, auch wurden die Kranken nicht hingeschleppt, wie Holländer
schreibt; aus allem geht hervor, daß sie gern die Wallfahrt machten. Die
Knechte hatten der Kranken zu warten und bei ihnen zu bleiben. Wenn sie
Zabern nahten, sollte einer vorausreiten und drei oder vier Priester mit Rat des
Dechanten von Zabern bestellen, um jeder Rotte gesondert nacheinander gesungene
Ämter zu halten. Nach jedem Amt sollten die armen Leute um den Altar geführt
werden und jeder Kranke 1 Pfennig opfern; wo ihn der Kranke nicht hatte,
mußte es der Führer für ihn tun. Was vom Almosengeld, das den armen Leuten
mitgegeben war, übrig blieb, sollte in den Opferstock gelegt werden. (Beschlüsse
Freitag nach Marie Magdalene, Anlage I und II.)
Nach dem einem Ratsprotokoll waren die Kranken nach St. "Vit,
nach dem anderen in der Wiedergabe bei Schilter nach St. Vit zum Roten-
stein, nach den Brantschen Annalen im Hohenstein zu schicken. Es muss
zum Holl lenstein heissen. Scliilter hat falsch gelesen, es steht im
Original Holenstein (Anlage II, zu der die bei Scliilter als Überschrift zu
Anlage I gegebenen Worte gehören). Hecker und Häser schreiben sogar
zu den Kapellen des heiligen Veit zu Zabern und Rotenstein.
Der Yeitsberg, gewöhnlich Vixberg genannt, liegt nach Fischer 399 in über
dem Meere, westlich hinter Zabern mit einer Felsenhöhle, nach der der Berg einst
der Hohlestein genannt wurde. (Unter diesem Namen kommt er öfter im Stadt-
archiv zu Zabern vor.) Diese ist 4 m hoch, 7 m breit, 13 m tief. Zu ihr führt ein
schmaler ansteigender Pfad1). In Wenckers handschriftlicher Chronik von 1637
heisst es, die Kranken seien nach St. Veit zum hellensteg hinter Zabern ge-
schickt worden2). Mit diesem Hellensteg ist sicher der zur Höhle ansteigende
Steg gemeint, der also auch dem Kultort den Namen gab.
Die Grotte war als Kapelle eingerichtet, in ihr nahm man das Grab des
hl. Veit an (Sankt Fitts Grab under dem Felsen). Diese 'untere Kapelle' (1554)
heisst sonderbarerweise 1542 'Sant Trügen Kapelle', 1604 und später Aurelien-
kapelle. Die eigentliche Veitskapelle lag oberhalb der Höhle.
1758 wurde die Kirche vom Kardinal von Rohan visitiert, der verfügte, dass
die wurmstichigen und zersprungenen St. Veitsstatuen wegzunehmen seien. Er
verbot ausdrücklich, in dieser Kapelle fernerhin eiserne Kröten, Fratzenbilder von
Menschen and andere abergläubische Figuren auszustellen und in der unterhalb
der St. Veitskapelle erbauten Aurelienkapelle Messe zu lesen; die dortigen Statuen
sollten hinweggenommen werden. Der Pfarrer von Zabern wurde mit der Aus-
führung beauftragt, um jeden Aberglauben zu verhindern3). In der Revolutions-
zeit ging das ganze Gebiet in Privatbesitz über und wurde dann als Meierei be-
wirtschaftet. Die Kapelle zerstörte und verbaute der Käufer. Aber 1818 wurde
die Grotte wieder zum Kultus eingerichtet und der Altar dorthin geschafft4).
Heute ist auch hier kein Gottesdienst mehr5).
1 Fischer, Das alte Zabern 1868. — 2) Schnégans, Auszüge aus Wenckers Manusc.
Chronik von 1637, nr. 3007 (Mitt. 2. Folge, Bd. 15). Strassbg. 1892. — 3Ì Adam, St. Veit
1879. — 4) Fischer 1868. — 5) Adam a. a. 0.
118
Martin :
Am Ostermontage und am 15. Juni, dem Veitstage, kamen auf dem Berg
zahlreiche Wallfahrer zusammen. Die Bewohner der unteren Ortschaften zogen
in Prozession hinauf. Zu den Reliquien pilgerten an Veitstanz und fallender
Sucht (Epilepsie) Leidende. Manche Epileptiker stellten ihre Stöcke an den Weg
in der Meinung, dass, wer den Stock wegnehme, auch die Krankheit mit fort-
nehme. Hysterische und unfruchtbare Frauen opferten eiserne Kröten. Der
Heilige wurde auch bei Viehseuchen angerufen1). Der letzte Pächter von St. ^ eit,
ein 86jähriger Mann, versicherte, wie Adam 1897 schreibt, dass er zu seiner Zeit
noch Kröten bringen sah. Das Zaberner Museum besitzt übrigens solche Opfer-
bilder2). Es geht aus diesen Angaben hervor, dass die eisernen Kröten von un-
fruchtbaren Frauen geopfert wurden. Das erklärt sich aus dem Volksglauben, die
Gebärmutter sei eine Kröte. Ich kann deswegen Glöckler1) nicht zustimmen,
wenn er behauptet, die Strassburger Veitstänzer wären nach St. Veit gepilgert,
um dort als Sinnbilder ihrer Krankheit 'eiserne Fröschen' zu opfern.
Fischer hat aus der Lage des Berges und den abgemeisselten Flächen der
Höhle auf einen druidischen Kultort geschlossen, der Einbau der Kapelle soll nach
Adam die Abglättungen erklären.
Nach dem bisher Mitgeteilten ist die Strassburger Veitstanzepidemie
nur von medizinischem, allenfalls noch von theologischem Interesse. Die
Kranken wurden der damaligen Anschauung entsprechend behandelt, als
Geisteskranke der Fürbitte der Kirche anheimgestellt und durch gottes-
dienstliche Handlungen in der Kapelle ihres Krankheitspatrons geheilt.
Volkskundliche Besonderheiten kamen dabei nicht vor. Ein eigentlicher
Veitstanzaberglaube tritt uns — nach den bisherigen Darstellungen —
erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts entgegen. Und doch lassen sich
die Bräuche von den sagenhaften Anfängen bis zum 17. Jahrhundert
nachweisen, auch im Strassburger Veitstanze, nur sind sie da sonderbarer-
weise nicht bekannt geworden.
Die Heilweise iu St. Veit war nämlich eine andere als die bisher
geschilderte — was dort geschehen sollte und wras in Wirklichkeit ge-
schah, ist zweierlei —, und ausserdem hatte der Rat von Strassburg in
Strassburg selbst die Kranken auf zwei andere Arten zu heilen gesucht,
aber ohne Erfolg. Das ist den grossen Literaten der Geschichte der
Medizin unbekannt geblieben.
Nach den schon erwähnten sogenannten Annalen des Sebastian Brant
(der von 1458—1521 lebte und seit 1503 Ratsschreiber war)4), die nicht
von Brant, sondern später von Wencker aus den Ratsprotokollen aus-
gezogen und vor ihrer Vernichtung beim Brande 1870 von anderen teil-
weise abgeschrieben waren6), wurde in mehreren Sitzungen des Rats der
21 von Veitstänzern gesprochen. Die Ärzte erklärten es für eine natür-
liche Krankheit, die von hitzigem Geblüt komme. Indessen 'die armen
1) Fischer a. a. 0. — 2) Adam a. a. 0. — 3) Gesch. d. Bistums Strassbg. 1879. —
4 Wittkowski, Allg. Z. f. Psychiatrie 1879. — 5) Armales de Sebastian Brant, nr. 4398
(Mitt. d. Ges. f. Erlialtg. d. gesch. Denkm. d. Elsass, 2. Folge, Bd. 19). Strassbg. 1899.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland. U9
leute1 wünschten, dass man für sie Messe lese usw. Der Eat schickte
deswegen zu dem bischöflichen Vikarius, der antwortete: „Dass dis im
unnot zu sin dünkt, sondern diwyl die Artz anzeigen, daß es eine natür-
lich krankheit sy, daß man auch natürlich mittel mit in versuche, aber
domit nit nichts beschehe, woll er alle Predikanten beschickhen und in
bevelhen, daß sie öffentlich in cancellis ermaneten zu betten und an-
zurieffen, daß er sin gnad und barmherzigkeit uns sende1)."
Was der Rat ausserdem tat, geht aus folgenden Berichten hervor.
Die sogenannte Imlinsche Familienchronik der Strassburger Landes-
bibliothek bringt als Zeugnis eines Zeitgenossen: „Anno 1518 jar 8 tag
vor S. maria magdalena hub ein frauw an zu dantzen, vnd dan[a]ch weren
woll 6 tag da leiss sey ineinw y [gnädigen Herrn] nach St. Vit gehn
Zabern füren da war sey still, vnd die will sey noch uff dem weg da
fing noch mehr an zu dantzen bei dem y [Magistrats-1 stall also daz in
4 tagen bey 34 frauw vnd man waren, da verbatten meinw y [gnädigen
Herrn] die drummeln ynd pfiffen vnd fürt ein teil uff die gewererstub
I Zunftstube der Gerber] die and uff die Zimmerleutstub, vnd an demand
tag da leiss man sey alle nach S. Arit füren vnd da dantz, und in
4 wochen wurden Ir mehr denn 400 Dantzer" 2).
In der handschriftlichen Chronik des Daniel Specklin, der 1536 in
Strassburg geboren wurde, also seine Nachrichten noch von älteren Leuten
haben kann, die den Tanz erlebten, heisst es:
„1518. Da erhub sich ein dantz von i ungen und alten leutten, die
tantzten tag und nacht, dass sie nieder fielen, also dass über 100 zu
Strassburg auff einmal tanzten. Da gab man in etliche zunftstuben
ein, auch auff dem Ross- und Kornmarckt macht man geriist
und bestellte eigene leutt umb lohn, die mussten stets mit
ihnen, tanzten mit trummen und pfeiffen; es half alles nichts.
A7iel tanzten sich zu tode. Do schickte man sie hinder Zabern zu
St. Veit, zum holen stein, auf waegen; da gab man ihnen creuzle
und rothe schuh, und macht mess über sie. An den schuhen war
unten und oben creutz mit dem chrisam [geweihtem, mit Balsam
gemischtem Salböl3)] gemacht und mit weywasser besprengt in
St. Yeits nahmen, das halft' ihn vast [sehr] allen. Und kam solches viel
leuth an, denen man St. Yeitstantz fluchte, lieft' auch viel schelmenwerk
mit unter"4).
Wencker hat diesem Bericht 1637 hinzugefügt, dass man den Tänzern
die Zimmerleut- und Gerberstub gab, viel nach St. Veit schickte, andere
selbst dahin liefen und 'also dantzend vor dem bild niederfielen'.
1) Séb. Brant 1899. — 2) Witkowski a. a. O. — 3) M. Lexer, Mhd. Handwörterbuch.
Leipzig 187*2. — 4) B. Beuss, Les collectantes de Daniel Specklin, architecte de la ville
de Strasbourg, nr. 221(î (Mitt., 2. Folge, Bel. 14). Strassbg. 1889.
120
Martin :
Wegen der dortigen Behandlung habe man die Krankheit S. Yitstanz
genannt1).
Hermann schreibt 1819 ohne Quellenangabe, dass die allgemeine
Meinung war, wenn man in St. Veit um den Altar tanze, werde man
von der ungeregelten Leidenschaft des Tanzes geheilt2).
Hieraus geht hervor, dass der Tanz nicht nur die Krankheit selbst
war, sondern man ihn auch als Heilmittel benutzte, der Rat öffentliche
Tanzplätze auf Zunftstuben und Märkten errichtete, Musik stellte, den
Kranken gesunde Mittänzer gab, dass bis zur Bewusstlosigkeit getanzt
wurde. Mit deren Eintritt glaubte man die Krankheit beseitigt. Yiele
starben dabei, den andern halfs nicht.
Ich möchte hier daran erinnern, dass man bis in den Anfang des 19. Jahr-
hunderts erregte Geisteskranke in besonderen Apparaten schüttelte, drehte, bis
Schwächezustände eintraten, eine scheinbare Beruhigung sich einstellte.
Und bei St. Yeit gings anders her, als man bisher annahm, vor allem
anders, als Hecker annahm (und Hirsch hat die Stelle übernommen), wenn
er schreibt: „Nach vollbrachtem Gottesdienst führte man sie in feierlichem
Umzüge um den Altar, liess sie von ihrem Almosen ein geringes opfern,
und viele mögen durch Andacht und die Heiligkeit des Orts von trost-
losem Irrwahn genesen sein. Man beachte hier wohl, dass sich in dieser
Zeit die Tanzwut an den Altären des Heiligen nicht erneute, dass man
von diesem nur Hilfe flehte und von seiner Wundertätigkeit die Genesung
hoffte, welche ausser dem Bereich menschlicher Einsicht lag", und damit
der Strassburger Epidemie eine Ausnahmestellung zuweist. In Wirklich-
keit tanzte man auch in St. Yeit zu Heilzwecken (neben der Messe, die
gelesen wurde) um den Altar in besondern, geweihten roten Schuhen, die
unten und oben ein mit geweihtem Ol gemachtes Kreuz trugen, doch
wohl, um auf die tanzenden Beine einzuwirken. Die selbst hinliefen,
fielen tanzend vor dem Bild des Heiligen nieder, nach meiner Meinung
ohne gottesdienstliche Handlung, weil keine Priester auf St. Yeit wohnten
(die deswegen der Rat für die von ihm hingeschickten Kranken aus Zabern
kommen liess). Das half.
In der aus der Specklinschen Chronik mitgeteilten Stelle wird die
vermeintliche Ursache des Yeitstanzes wenigstens für viele von den
Tänzern angegeben. Man hatte ihnen St. Yeitstanz geflucht.
'Gott geb dir Sankt Yeit' oder 'Dass dich Sankt Yeit ankäme', waren
damals sehr gebräuchliche Yerwünschungsformeln3). Die letztere Formel
kommt bei elsässer Schriftstellern des 15. und 16. Jahrhunderts häufig
vor4), und im Rottweiler Stadtrecht heisst es 1485:
1) Sclinégans 1892. — 2) Notices historiques, Strassburg 1819. — 3) Adam 1897. —
4) Fischer 1868.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
121
„Item welcher den andern unzüchtigldich schältet oder fluchet, den ritten
[das Fieber] sant Yitstantz oder derglychen wort, der sol verfallen sin 5 sh. h. )."
Ich habe noch weiter von der Strassburger Epidemie zu berichten,
denn waren auch die nach St. Yeit Geschickten geheilt, so kamen neue
Fälle vor.
In den Brantschen Annalen heisst es weiter: „5a Mariae Magdalenae.
Item als etlich frauen und knaben den bössen dantz tantzen, soll die
termen(?) abstellen und heimlich seitenspiel haben2)." Was mit termen
gemeint ist, weiss man nicht. Nach diesem Beschluss wurde aber nicht
mehr zu Heilzwecken öffentlich mit Musik getanzt, sondern es sollte
heimlich geschehen.
Weiter heisst es in den Annalen: „Darnach uff 4a post Laurentii
[10. August] ist erkannt den ziinfften zedel zu schicken dass jedermann
sin kind und die sinen verwart und die bruderschafften ir briider in ihren
kosten undersuchten oder zu den heyligen schickten."
Im Stadtarchiv zu Strassburg finden sich sechs gleichlautende, undatierte Be-
kanntmachungen, die wohl zum Verteilen an die Zünfte bestimmt waren: „Aissich
yetzt die kranckheit des dantzens wider erhept unnd zu besorgen von tag zu tag
meren möcht, do habent unser herren rete und XXI. erkandt, das eyner yeden
bruderschafft buchssenmeistere, die jhennen so inn irer bruderschafft sindt und mit
solcher krankheit beladen werden, versorgen, und versehen, das die nyder ge-
ttischet oder zu dem heiligen sant Viten gefürt werden, und inen keynerley seytten
oder fröydenspiel gebruchen, cleynötter oder hübsche cleyder uff oder anthün, ouch
sie nirgent lossen, uff den gassen louffen, dann welche brüderschafft oder büchssen-
meistere solchs verbrechent, die wöllent unser herren darumb straffen, unnd ir
ernstliche hut daruff setzen, des wiß sich menglich zu halten." (Archiv der Stadt
Strassburg G U P 200.)
Hier wurde nun die ursprünglich vom Rat angewandte Methode, durch
Musik und Tanz zu heilen, gänzlich verboten, dafür sollten die Kranken
niedergetuscht oder nach St. Veit geschickt werden.
Dann finden wir wieder Kranke, wahrscheinlich Arme, und, im Gegen-
satz zu früher, im Spital. Im Anschluss an deren Sendung nach St. Veit
brachte der dankbare Rat dem Heiligen ein gewaltiges Opfer dar, nach-
dem er noch vorher beschlossen hatte, die Leichtfertigen eine Zeit lang
aus der Stadt zu weisen:
„Item die verordneten herren bringen an des tantzens halb. Erk. in Unser
Frauen capell mittwuch ein herrlich amt halten, porro erkant die tantzent im
Spittal zu dem heiligen schicken und ein opfer von der ganzen Statt wegen dem
heiligen bringen. Die leichtfertigen der Statt ein zitlang verwisen, darauf die hh.
bedacht des opfers halb zu St. Viten." „Herren bringen ihren bedacht des opffers
halben zu St. Viten, dass man ein wäccen bild eines centners schwer mit dem
1 Greiner, Das älteste Recht der Stadt Rottweil. Stuttgart 1900. — 2) Wencker,
Extractus 1892.
12 2
Martin :
rentmeister oder kornmeister zu St. Viten schicke für ein opffer, oder aber das-
selbig wächserin bild auf einen altar im Münster stelle und da ehre bis die neu
capell ausgemacht, dann einen altar in derselben Capellen in St. Viten ehren
weyhen lassen. Erkt. den zentner wachs zu einer kerzen machen und zu dem
lieben heyligen mit dem Rentmeister schicken, und ein singent erlich ampt und
3 neben messen lassen lesen von wegen des ganzen Raths und gemeiner Statt
wegen. Dienstag post Adolphi [29. September]')."
Die Krankheit hielt trotzdem noch an, und der Rat drohte energischer
mit Strafen:
„Als dann die kranckheit mit dem dantzen sich leider nit enden will, do
haben unser herren rät und XXI erkant daz ein jeder burger sin kind, der massen
behafft, und gesind die daz vermögen, inn iren husern behalten nnd zutuschen soll;
wo aber ein dienstknecht also behafft wurt, sollen die briiderschaftmeister sins
hantwercks, inn der bruderschaft costen, denselben verwaren oder zu dem heiligen
Sant Viten ('dem heiligen Sant Viten' durchgestrichen und dafür steht
'den heiligen, wo inen geliebt') schicken, domit sie nit also öfflich uff der
gassen, zu beswernis anderer menschen, sich des dantzens annemen, dann welcher
den sinen nit also verwaret, den wollen unser herren darumb heffteklich straffen."
(Archiv der Stadt Strassburg G U P 200.)
Ob sämtliche Schriftstücke zeitlich so aufeinander folgen, weiss ich
nicht. Jedenfalls heisst es in dem einen 'zu den heyligen' und im letzten
deutlich 'zu den heiligen, wo inen geliebt', nachdem vorher der heilige
Veit bei Zabern allein an der Stelle gestanden hatte. (Über andere
Heilige in der Nähe siehe später unter Tanzkrankheit nach 1518.) Das
werden wohl die letzten Schriftstücke gewesen sein. Dass die einzelnen
Ratsmitglieder den heiligen Veit bei Zabern verschieden bewerteten, geht
aus den stark voneinander abweichenden Vorschlägen zur Ehrung des
Heiligen hervor. Das Zutrauen war nicht mehr das alte, und Wencker
sagt 1637: 'Da mans anfing aus Gottes wort zu widerlegen, liss alles
nach2).' Er setzt Gottes Wort dem heiligen Veit entgegen und meint
wohl den Einfluss der Reformation.
Der Strassburger Veitstanz begann demnach acht Tage vor Maria
Magdalentag (22. Juli), also am 15. Juli, und dauerte weit länger, als man
bisher annahm, mindestens bis nach Adolphi, dem 29. September 1518.
Anlagen zum Strassburger Veitstanz.
I.
„Vff FYitag post Marie Magdalene in presentía Herrn Gladi Bocklin, Caspar
Hoffmeisters vnd Martin Herlin als verordent Herren ist geratslagt der armen
menschen halb so izt dantzen.
Haben sy anfenglich geradtslagt die Burger so kind daby haben zu beschicken
vnd sagen, das sy jr kind versorgen by jn haben oder aber nach anzall costen
mittheilen.
1) Wencker, Extractus 1892. — 2) Schnégaos 1892.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
123
Staden Jerg daruff beschickt vnd jm solchs furgehalten, sagt, er sy selber ein
armer dienstknecht, sy in sym vermugen nit jn zu jm zu halten und nemen, bit
aber jn by den andern zu behalten, oder zu dem Heiligen zu füren, wil er nach
sym vermiegen nach miner Herren erkantnus vnd willen leben. Sin mume hab
auch dem knaben, sim son XV. ß gesamlet, die haben die uff der Zimmerlüt
Stuben hinder sich genomen.
Wither geradtslagt die armen personen in dry huffen theilen vnd nach ein-
ander zu dem Heiligen schicken, vnd so es sin mag dry gesungen Empter singen
lassen, so nit, eins singen vnd zwey lesen lassen, von eim Ambt XVIII Pfenning
geben fur eins, darzu 1. pfenning zu pfrymen1) vnd 1. pfenning zu opfern dem
Heiligen geben, vnd 1. pfenning in stock für das opffer.
Balthasar Burgawer der Lermeister hinder den Barfußen beschickt vnd jm
solchs ouch fürgehalten, Sagt, sin Son Bernhart hab zugesehen und hüt morgen
angefangen dantzen, do er jm die kindt solt helffen vnderwisen; hab er jn ge-
dutzset bitz nachmittag, nach den zweyen hab er zu dem dantz geweit, hab jn
dohin müssen füren. Erbüt sich nachmals sin costen so uff sin Son godt ußzu-
richten, dan er dhein Frauw noch gesind hab, könne ouch von sin lerkinden nit wichen.
Antheng Silinger der Wagener Apolonigen Hußwürt so dantzt, uff der Zimer-
lut stuben befragt, Er sy uß der Erne kommen, sy sin frauw in der stuben ge-
standen vnd uffgehüpfft, hat sy dryer gefragt, wie jr sy, vnd geachtet, sy wer
abermals, als sy dan vormals ouch gewesen, von Sanct Martzolff [Epilepsie] be-
laden, vnd nider gedutscht vnd nach die armen 1 üte mit einer Sackpfiffen kommen,
sy sy uffgewust vnd jn nachgelouffen, wol gern sin frauw do hinfüren, sy sonst
ein arme mensch.
Item Hanß Eckart von Prüssel got dem Almusen noch, hat ein Dochter by
dantz, genant Apolo nia, Sagt, er sy ein armer alter gebrochner Man, wil aber gern
die dochter hin zum Heiligen füren, wen es min Herren wellen, vnd als er ein
armer swacher man, haben jm die Herren miner Herren meynung gesagt vnd er-
laubt heim zu gon.
Karle Schansleben [Lesart zweifelhaft] sins sons halb beschickt, sagt er sy
ein armer gesel, sy mer schuldig, dan er in lip und gut hat.
Dem schaffner im spital gesagt, gerust zu sin mit dry pferden und 1 wagen
und warten uff die subent ure uff bescheidt. Dem schaffner uf unser frauenhus2)
gerust zu sin mit 2 wegen und in jden dry pferd.
Dilchin und Heintz zum ersten huffen, Peter von Rixingen zum andern huffen
und Pantaleon zum dritten huffen zu ritten verordnet. Hans Wagner zum ersten,
Jacob Buckenheim zum andern und Barthel Schryner zum dritten huffen. Und
denselben bevelch geben zu handeln lut ingelipter instruction."
Strassburger Stadtarchiv G U P 200. Bei Schilter unvollständig und mit sinn-
störenden Fehlern.
II.
„Instruction der armen dantzen[den] Personen so zu Sant Vit ge-
schickt. Veneris post Magdalene etc. XVIII. Gedencken angfenglich die armen
menschen in den dryen huffen, wie sy dan gerodt [soll wohl heissen: „in Rotten
eingeteilt"] werden, zu behalten.
1) Bedeutung von 'pfrymen' ist unklar. Vgl. Scherz, Glossarium; Brinckmeyer,
Glossarium diplomaticum etc. — 2) Das Frauenhaus oder Stift Unser Frauen Werk diente
zur Bauunterhaltung des Münsters.
124
Martin :
Vnd das die knecht so uff die armen lût bescheiden, derselbigen warten vnd
by jn bliben.
Vnd so sy gon Zabern nohen, der ein zu Zabern in ryten vnd do dry oder
vier Priester mit rat des Dechans zu Zabern, bestellen, die do ider Rotten in-
sonders noch einander gesungen empter halten.
Vnd wann je ein Ambt einer rotten gesungèn, sollen dieselbigen armen lüt
in derselbigen rotten umb den Altar gefürt werden, vnd ein iedes kranckes mensch
ein pfennig pfrymen, desglichen dornach ouch opfern, vnd so ein person nit so
geschickt wer, das es solchs thun mecht, sol der jhin so es umb den altar fürt,
für jn darlegen.
Vnd also demnach je ein Rot nach der andern also vmbgefürt und gehalten
werden.
Vnd wan die dry empter also volbracht, sollen sy Erlich nach rat des Dechans
usgericht werden.
Daryn jdes armes mensch 1 pfennig in den stock geben, vnd solchs von dem
almusen gelt, so den armen lüten geben ist, ußrichten.
Vnd was uberig blibt in den stock ouch stossen."
Auf der Rückseite: „Dantzende arme personen sozuSanctVit zum Holenstein
geschickt."
Strassburger Stadtarchiv G U P 200. Bei Schilter unvollständig und mit Lese-
fehlern, dann aus Schilter bei Boersch und bei Häser (über deren Abänderungen
siehe oben).
2. Die Tanzkrankheit nach 1518.
Dieselbe Methode des Niedertanzens mit Ausschluss der Hilfe eines
Heiligen, wie sie anfänglich der Strassburger Rat gebrauchte, wandte
einige Zeit später die Stadt Basel an. Der dortige Professor Felix
Plater, der 1536 geboren wurde1), erzählt in seinen Observationen unter
St. Vits Dantzf
„Als ich noch ein Knabe war, wurde eine an dieser schrecklichen Krankheit
leidende Frau aus dem niedern Volk der Aschenvorstadt hier zu Basel zu einem Hause
zum Rupff [in seiner Praxis medica sagt er 'an einen öffentlichen Ort'a)], nicht weit
vom Hause des Vaters, von den Stadtdienern geführt, welchem Weibe die Obrigkeit,
wie ich in meiner Praxis2) bemerkt habe, einige starke Männer bestimmte, welche
abwechselnd (wenn einer müde geworden, folgte der andere) mit ihr Tage und
Nächte tanzten, was beinahe den Zeitraum eines Monats unter dem Zuschauen vieler
mit seltener Unterbrechung dauerte, obgleich die Haut ihrer Füsse abgerieben war.
Und wenngleich sie bisweilen, um Speise zu nehmen und vom Schlaf ergriffen, zu
sitzen gezwungen war, bewegte sich dennoch durch unruhige Haltung und Be-
wegung zeitweise nichtsdestoweniger der Körper wie tanzend, bis sie nach Verlust
ihrer Kräfte, sodass sie nicht einmal mehr stehen konnte, mit dem Tanz aufzuhören
genötigt war und ins Hospital gebracht wurde, wo sie gekräftigt und allmählich
wieder gesund geworden ist3)." (Übersetzung aus dem Lateinischen.)
1) J. Pagel, Einführung in die Gesch. d. Medizin. Berlin 1898.— 2) Felicis Plateri
praxeos medicae opus. Basel 166(5. — 3) Observationum Felicis Plateri quondam archiatri
et profess. Basil, libri tres. Basel 1680.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
125
Gross1) bringt in seiner Basler Chronik einen Auszug dieses Berichtes unter
Zugrundelegung der ersten Ausgabe der Observationen, während ich eine spätere
benutzte. Dem Grossschen Auszug nach sollen die von der Obrigkeit verordneten
Männer in roten Kleidern und mit weissen Federn auf dem Hute getanzt haben.
Es wäre nachzuprüfen, ob das bei PJater ursprünglich stand oder von Gross hinzu-
gefügt ist, weil auch zu St. Veit bei Zabern die rote Farbe (rote Schuhe) eine
Rolle spielte.
Während Gross richtig angibt, dass der Tanz in der Kindheit Platers geschah,
und bemerkt, den Bericht habe er aus den 1614 ausgegangenen Observationen
genommen, verlegt Böhme2) unter Hinweis auf Gross den Tanz ins Jahr 1615.
Wir müssen ihn am Anfang der vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts annehmen.
Ich lasse nun die Berichte folgen, bei denen Heilige in Frage
kommen.
Philipp Camerarius (geb. 1537 in Tübingen, seit 1573 Rats-
konsulent in Nürnberg, hier 1624 gestorben)8) schreibt 1610, als er von
Tanzkrankheiten im allgemeinen gesprochen hat:
„Aber damit wir nicht zu viel Beispiele bringen, ich denke an die bei uns,
die nicht vor langem [vielleicht die Strassburger oder die nachher geschilderten
in Schwaben] geschah und die im untern Deutschland [hier ist die Epidemie im
14. Jahrhundert gemeint], die einstmals stattfand, die durch eine Käserei, welche
das Volk die Krankheit des heiligen Veit oder Modestus [Lehrer des hl. Veit],
wir in unserer Gelehrtensprache Veitstanz nennen, Verwirrung brachten ... Es
wird wirklich noch jetzt eine Kapelle auf einem Berge bei der Stadt Ravensburg
in Schwaben gezeigt, auf welchem eine berühmte Burg [die Stammburg der
Weifen] erbaut ist, der nach St. Veit heutigen Tags genannt wird [heute heisst
der Berg nicht mehr Veitsberg, sondern Veits bürg], weil in einzelnen Jahren
vor nicht so langem die Schar der Tanzenden gleichsam jenem Heiligen
Opfer brachte, mit dessen Hilfe gesund wurde und gewohnt war, hierher mit
Tanzen Zuflucht zu nehmen. Aber da der Zutritt verhindert wurde und
jene Kapelle zu anderem Gebrauch bestimmt wurde, hörte der Zulauf bis jetzt
auf4)." (Übersetzung aus dem Lateinischen.)
Ziemliche Verwirrung hat eine Beschreibung von "Schenk von Graf eil-
berg8) gegeben. Er lebte von 1530 bis 1598 und war Stadtarzt seiner
Vaterstadt Freiburg im Breisgau6).
Er berichtet zunächst, dass 'nach der Erinnerung unserer Väter' damals lange
und heftig eine furchtbare Art des Wahnsinns sowohl anderswo als besonders in
Deutschland wütete. Und dann beschreibt er deutlich und ziemlich eingehend
die Epidemie im 14. Jahrhundert und kürzer den Strassburger Veitstanz, ohne
allerdings Ort und Zeit zu nennen. Er trägt auch Nachrichten, die wir vom
Tarantismus haben (z. B. das blinde Hineinstürzen in Gewässer), in den deutschen
Veitstanz hinein.
1) Joh. Gross, Kurtze Basler Chronik. Basel 1614. — 2) Franz M. Böhme, Geschichte
des Tanzes in Deutschland. Leipzig 1886. — 3) Allg. Deutsche Biographie 3. Leipzig
1876. 4) Ph. Camerarius, Operae horarum subcisivarum, sive meditatioues historicae.
Centuria altera. Frankfurt 1601. — 5) Joannis Schenckii a Grafenberg observationum
'medicarum variarum libri VII. Frankfurt 1665. — 6) Hecker-Hirsch a. a. 0.
126
Martin:
Da Hecker1) die Vorgänge für das 16. und den Ausgang des 15. Jahr-
hunderts gelten lässt, den Strassburger Veitstanz auf 1418 festsetzt und ihn
anders, als er wirklich war, schildert, so gibt er uns von der im Laufe der Zeit
geschehenen Änderung im Wesen der Tanzkrankheit ein falsches Bild.
Leider ersieht man bei Schenk den Übergang von der Zeit der Väter
zu seiner Zeit nicht deutlich.
Durch 'neuere Beispiele' ist belegt, „dass schwangere Frauen, den übergrossen
Leib mit erweitertem Gurt umspannt, auf- und niederwärts ohne Schaden für die
Frucht in auffallenden Sprüngen unter den andern dahinliefen. Die Unsrigen ver-
sichern, dass dies [Tanzen] auch durch Musikinstrumente so in Bewegung gesetzt
und hervorgerufen werde, dass der Magistrat aus öffentlichen Mitteln nicht sowohl
Pauker und andere Musiker beordert hat, als auch einige sehr starke Leute, welche
die Tänze durch Führen der Rasenden solange, bis die Wut ausgetobt hatte, aus-
trieben. Die Unsrigen wurden auch beobachtet, wie sie oft ihre eigenen Kleider
zerrissen. Aber die mit Rot Bekleideten halten sie für so feindlich, dass sie die
schon von weitem Erblickten anzufallen und feindlich anzugreifen sich bemühten,
wenn sie nicht gehindert wurden. Daher ist es ernstlich zu vermeiden, dass jemand
mit Rotem bekleidet sich erblicken lässt und eine weitere Gelegenheit zur Raserei
bietet. Einen Grund zu dieser Antipathie kann niemand leicht nennen. Die
Reicheren führen auf eigene Kosten Begleiter, welche aufpassen, dass nicht
andern oder ihnen selbst eine Gefahr zustosse, welche gleichsam als Tanzführer
die Reigen der rasenden Genossen leiten."
Dann kommt wieder eine Stelle aus der Epidemie des 14. Jahr-
hunderts. Und weiter sagt er, es sei auch sicher, dass die meisten vom
Veitstanz so geschwächt und von gebrochenen Kräften sind, dass sie oft
kaum durch belebende Mittel wiederhergestellt werden können.
Schliesslich berichtet er Lokales:
„Die Unsrigen nehmen auch zu heiligen Helfern, zum heiligen Veit oder zu
Johannes dem Täufer ihre Zuflucht in der Hoffnung, die Gesundheit zu er-
langen. Die, welche in unserm Breisgau und der Nachbarschaft dieser Raserei
unterworfen sind, kommen alljährlich am Vorfeste Johannes des Täufers
an zwei Heiligtümern, das eine ist in Biessen, dem heiligen Veit geweiht und
Breisacher Herrschaft, das andere sehr nahe bei Wasenweiler, aber diesseits
des Rheins gelegen und dem heiligen Johannes dem Täufer geweiht, zusammen,
wo die eilig Herbeigeeilten sich nach deutschem Reigen [also zum deutschen
Tanz, der später Allemande genannt wurde] ordnen, sei es, dass sie durch ein
abzuleistendes Gelübde gehalten werden, sei es, weil sie von jenen Heiligen Hilfe
zur Unterdrückung ihrer Raserei erhoffen. Und worüber man sich wundert, sie
gehen allgemein in jenem Monat, welcher dem Feste des heiligen
Johannes vorausgeht, sehr traurig, furchtsam, ängstlich, nur mit ge-
drückt em Geist einher und spüren am ganzen Körper rupfende und
gleichs am hüpfende Schmerzen wie Vorspiele und Zündstoff dieses
Übels. Sie sind davon überzeugt, dass sie im übrigen nie beruhigt und
befreit werden würden, wenn sie nicht durch Tanzen bei der Stätte
des Heiligen diese Krankheit herausschütten könnten, indem der Erfolg
1) Hecker-Hirsch a. a. 0.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
127
die Sache bestätigt. Freilich werden sie nach Vollendung dieser jährlichen
Tanzereien, welche sie vorzüglich im Zeitraum von drei Stunden vor-
nehmen, in der Regel von dieser Raserei im selben Jahr frei gesehen1)". (Über-
setzung aus dem Lateinischen.)
Horstius2) (geb. 1578 in Torgau, von 1608 — 1622 Professor in Giessen,
später Stadtphysikus in Ulm, wo er 1636 starb,3) schreibt:
„Ich entsinne mich, im vorigen Frühjahr mit einigen Frauen gesprochen zu
haben, welche alljährlich die St. Veitskapelle, die in Drefelhausen ist,
nicht weit von Geislingen bei Weissenstein im Ulmer Gebiet in Rechberger
Herrschaft, besuchen und dort Tag und Nacht mit verwirrten Sinnen tanzen,
bis sie in Ekstase zusammenbrechen, auf welche Weise sie wieder hergestellt
erscheinen, dass sie ein ganzes Jahr hindurch wenig oder nichts spüren bis zum
nächsten Mai, wo sie durch Unruhe der Glieder gequält werden, wie
sie berichten, dass sie wieder gezwungen werden, sich um die Zeit des heiligen
Veits fes tes zu dem genannten Ort des Tanzes wegen zu begeben, wie eine von
diesen Frauen 20 und mehr, eine andere 32 Jahre hindurch dort jährlich getanzt
haben soll . . . Ich habe ein ehrbares Mädchen kennen gelernt, die Tochter eines
Kaufmanns in dieser Gemeinde, welche schon einige Jahre hindurch zur Frühjahrs-
zeit mit einer allerdings leichten Geistesstörung an einer ähnlichen Affektion
leidet, dass sie unruhig bald dies, bald das Glied zu bewegen gezwungen wird,
indem öfter auch die Zunge und das Sprachvermögen unterbrochen ist, die von
einer Stelle zur andern bald hierhin, bald dorthin bewegt wird, was durch einige
Wochen in einzelnen Jahren Tag und Nacht anhält. Ich fürchte sehr, dass hier
noch etwas Schwereres zu erwarten ist. Obgleich ich von einigen Autoren weiss,
dass sie am Veitstanz nichts Konvulsivisches zugeben wollen, im Gegensatz zu
den arabischen Autoren, insofern ihnen eine geistige Erkrankung vorzuliegen
scheint, wodurch der perverse Drang und das Verlangen nach Tanz entsteht, so
stelle ich nichtsdestoweniger, wenn jenen Frauen, mit welchen ich über die Sache
im vergangenen Frühling geredet habe, Glauben beizumessen ist, fest, dass hier
konvulsivische Bewegungen statthaben, zumal sie versicherten, dass sie während
mehrerer Wochen, ehe sie zur St. Veitskapelle kamen, an spannenden Schmerzen
aller Glieder zusammen mit von selbst eingetretener Mattigkeit und Schwere des
Kopfes gelitten hätten, worin sie verblieben wären, bis sie zum gewohnten
Tanzort hinzutretend das Musikinstrument gehört, das für sie ge-
schlagen wurde, wo sie mehr und mehr im Geiste verwirrt (vielleicht durch
das hinzutretende seelische Einwirken der stärkeren Einbildung, die Hoffnung
auf Genesung) zu tanzen gezwungen wurden". (Übersetzung aus dem Latei-
nischen).
Als neu kommt jetzt hinzu, dass auch Johannes der Täufer Krank-
heitspatron war, und vor allem, dass nicht nur eigentliche Tanzkranke
zur Heilung tanzten, sondern auch sonst anscheinend Gesunde, die an ge-
wissen Tagen tanzten, am Johannistag (24. Juni) und am Veitstage
(15. Juni), worüber später noch berichtet wird, um von allerlei un-
angenehmen Empfindungen in den Muskeln und seelischer Verstimmung
1) Schenck a. a. 0. — 2) Gregorii Horstii observationum medicinalium singularium
libri quatuor. Ulm 1625. — 3) Hirsch, Biogr. Lexikon der hervorragenden Ärzte 3. Wien
und Leipzig 1886.
128
Martin :
befreit zu werden. Diese krankhaften Veränderungen stellten sich aber
erst ein, wenn der Tanztag herannahte.
Sind die eigentlichen Tänzer Leute, die die Zwangshandlung des
Tanzens vornehmen, so haben wir es hier mit Kranken zu tun, die unter
dem Zwangsgedanken stehen, am Johannis- oder Yeitstag tanzen zu
müssen. Von der Zwangsidee zur Zwangshandlung ist nur ein kleiner
Schritt und die Krankheit in beiden Fällen dieselbe, der Veitstanz. Das
möchte ich Wicke1) gegenüber hervorheben, der meint, dass die zu den
Kapellen wallfahrenden Kranken keine Veitstänzer waren (siehe später
Brueghels Bild, das das Gegenteil beweist), der Veitstanz sei hier nur
Heilmittel gewesen.
In Italien, namentlich in Apulien [dem Stammlande des hl. Veit], haben wir eine
Parallele des Veitstanzes im Tarantismus. Die ersten Nachrichten darüber stammen
aus dem 15. Jahrhundert, es wird aber da schon von ihm als einem bekannten
Übel gesprochen. Die von der Tarantel Gebissenen, oder die sich gebissen
glaubten, verfielen gewöhnlich in Trübsinn und waren wie betäubt, ihres Verstandes
kaum mächtig. Bei den ersten Tönen der Musik sprangen sie aber jauchzend
vor Freude auf und tanzten ohne Unterlass so lange, bis sie erschöpft und halb
leblos niedersanken. Es bestand der Glaube, jedes Jahr wieder tanzen zu müssen,
und so wurde die Heilung der 'Tarantati' ein wahres Volksfest, das man mit un-
geduldiger Freude erwartete. Man nannte die Zeit des Tanzes und des Spiels
— die Sommermonate — im 17. Jahrhundert den kleinen Karneval der Frauen,
weil diese meist ergriffen waren2).
Was war überhaupt der Veitstanz für eine Krankheit, und wer waren
die Veitstänzer?
Der Veitstanz als Krankheit, mit dem wir es zu tun haben, ist eine
Hysterie. Er heisst auch der grosse Veitstanz und führt den wissen-
schaftlichen Namen Chorea hysterica rhythmica3). Sicher fanden sich
unter den Veitstänzern auch ausgesprochen Geisteskranke: Maniakalische
(im heutigen Sinne) mit grossem Bewegungsdrang und froher Stimmung,
chronisch Verrückte, die infolge von Wahnideen tanzten, Katatoniker mit
dauernd wiederholten Bewegungen einzelner Körperteile. Das waren wohl
die Kranken, die in Strassburg den Tanz begannen, denen es Hysterische
nachmachten, und vor allem waren sie es, die sich zu Tode tanzten.
Selbst die Tollwut fasste die Anschauung der Zeit als eine Art Veits-
tanz auf. Der berühmte Züricher Naturforscher und Arzt Conrad
Gessner schreibt 1551: „Aus dem Biss eines tollwütigen Hundes wird
bisweilen anteneatmos (der Name ist verderbt), eine Art der Wut, an die
Gariopontus (gest. 1056 4) I. II erinnert; die Unsrigen nennen sie gewöhn-
lichst. Veitstanz5)". Baglio (Diss, de Tarantol. c. 12) erwähnt, dass, wer
1) E. C. Wicke, Versuch einer Monographie des grossen Veitstanzes. Leipzig 1844.—
2) Hecker a. a. 0. — 3) H. Eichhorst, Handb. d. spez. Pathologie6 3, 2. Berlin und Wien
1907. 4) Hecker a. a. 0. — ö) Conradi Gesneri historiae animalium lib. I. Zürich
1551.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
129
vom tollen Hunde gebissen, vor dem 40. Tage sich zu der Stadt des
hl. Yeit begibt und dort aufrichtig betet, durch die Fürbitte dieses
Heiligen bald befreit werde, wie jeder in Apulien wisse1).
Die Kranken, welche am Yeits- oder Johannistage zu den Kapellen
jener Heiligen wallfahrteten, waren nur zum kleinsten Teile eigentliche
Veitstänzer (denn die gingen hin, wenn sie krank waren, ohne sich an
den Tag des Heiligen zu halten). Es waren an der Zwangsidee des
Veitstanzes Leidende, sonstige Hysterische (besonders mit hysterischen
Krämpfen), Kranke, die am kleinen Veitstanz, der sogenannten Syden-
ham sehen Chorea, litten (wie das Mädchen, bei der Horstius vermutet,
dass etwas Schwereres vorliegt), allerlei Schwachsinnige, vor allem
Epileptiker, und andere Kranke, bei denen unnatürliche Muskelbewegungen
das Krankheitsbild beherrschten.
Ausser in den drei letzten Berichten haben wir das bei der Be-
schreibung der Wallfahrt zum hl. Veit bei Zabern gesehen, vor allem tritt
es heute noch in der Springprozession von Echternach zutage, die
ursprünglich weiter nichts als ein Heiltanz der genannten Krankheiten ist.
Die Prozession findet alljährlich am dritten Pfingstfeiertage zu
Echternach im Luxemburgischen zu Ehren des hl. Willibrord statt.
Angetreten wird an der Sauerbrücke. Der Klerus stimmt die Willi-
brorduslitanei ('Hl. Willibrord, bitte für uns') an und eröffnet den Zug.
300 bis 1000 Sänger schliessen sich ihm an. Hinter sie reiht sich die
Echternacher Stadtmusik und spielt die Springmelodie [welcher der Volks-
mund den Text 'Adam hatte sieben Söhne' untergelegt hat, der aber
nicht gesungen wird]. Die Leute verbinden sich untereinander mit
Tüchern, die aus der Nähe gekommenen Marxweiler gar mit Regen-
schirmen, und nun wird nach der Musik gesprungen, zwei Schritte vor,
einen schräg rückwärts. Die Ordnung wird durch die Stadtkapläne auf-
recht gehalten. Im Zuge befinden sich mehrere Musikkapellen oder
wenigstens Trommler und Pfeifer. Er bewegt sich durch die Strassen
die Ortschaft hindurch. Aber anstatt in die Basilika zu gehen, springt
man die 62 Stufen des Petersberges zur Pfarrkirche hinauf, zur Evan-
gelienseite der Pfarrkirche hinein, um das Grab des Heiligen, wo ge-
wöhnlich zwei Geistliche den Pilgern ihre Devotionalien anrühren, zur
Türe der Epistelseite wieder hinaus, um mit dreimaligem Umspringen
des grossen Holzkreuzes auf dem ehemaligen Friedhofe die Prozession
zu beenden. Die Länge des zurückgelegten Weges beträgt 1225 Schritt,
die Dauer ist zwei bis drei Stunden.
Die meisten Wallfahrer tragen einen schweren Kummer auf dem
Herzen, da meist ein wegen fallender Sucht oder 'Wilvertskrankheit'
1) R. J. Camerarii et Th. Ch. Scharf Dissert, de Alysso clavo, Tübingen 1709.
Albrecht v. Hallers Sammlung akad. Streitschriften, in einen vollständigen Auszug ge-
bracht und mit Anmerkungen versehen v. Lorenz Crell. 1. Bd. Helmstedt 1779.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2. 9
130
Martin:
[Epilepsie] gemachtes Gelübde sie hierhergeführt. Unter 10 000 Mit-
springern, von denen viele von Kindheit an mit der Fallsucht und anderen
epileptischen Krankheiten behaftet sind, die aber selbst im Arm ihrer
Verwandten mitspringen wollen, kommt es vor, dass einer oder der andere
wieder einen Anfall seiner Krankheit erleidet oder in Ohnmacht fällt.
So selten aber geschieht dies, dass mein Gewährsmann Heiners1), der
sieben Jahre die Ordnung der Prozession mit überwachte, kaum jedes
Jahr ein bis zwei Fälle gesehen hat. Man frage nur den ersten besten
Springer, sagt er, entweder verdankt er selbst dem hl. Apostel die Ge-
sundheit und kommt aus Dank alljährlich zu springen, oder er springt,
weil er sich für einen Bruder, ein Kind usw. zu springen vor-
genommen hat.
Reiners sagt, dass viele der Springer mit Fallsucht [Epilepsie] und
anderen epileptischen Krankheiten behaftet sind. Unter diesen sind die
oben genannten Bewegungskrankheiten zu verstehen. Yom Springen
gegen Veitstanz und auch gegen Schwachsinn ist mir berichtet worden.
Die Prozession ist also der Heiltanz, wie wir ihn kennen.
Heiners will allerdings in der Prozession eine Buss- und Sühneandacht sehen
und im Springen mit Musik ein sehr mühevolles Gebet. Wenn Leute, wie ich
erzählen hörte, den stark mit Steinen beschwerten Korb auf dem Rücken, mühe-
voll mit blaurotem Gesicht springen, so ist das sicher eine Bussübung. Das kann
später hinzugekommen sein, wie dies bei dem Schritt rückwärts, der die Prozession
so sehr erschwert, der Fall ist, obwohl ja bei manchen Tänzen nicht nur vor-,
sondern auch rückwärts gegangen wird. Die von Heiners herangezogene Parallele,
nach der eine Königin von Prankreich gelobte, beim Gelingen eines Unternehmens
einen Pilger nach Jerusalem zu Fuss zu senden, der immer drei Schritte vor und
einen rückwärts ginge, beweist deshalb nichts. 1842 sprang man einen Schritt
rechts, einen links und einen vorwärts2). Man sprang auch drei vor, einen zurück
oder fünf vor und zwei zurück3). Reiners selbst sagt, dass die Prozession, 1786
unterdrückt, nach dem Tode Josephs II. wieder gehalten wurde, aber ein anderer
Sprung in Übung kam, indem man nunmehr einen Schritt schräg zurücksprang.
Wie's vorher war, gibt er nicht an, wahrscheinlich war doch der Rücksprang weg-
geblieben.
Übrigens tanzten schon zur Zeit Schenk von Grafenbergs4) Leute im
Veitstanz mit, die durch ein abzuleistendes Gelübde dazu gehalten waren. Auch
die von ihm berichtete kurze Dauer des Tanzes von drei Stunden und das Auf-
rechterhalten der Ordnung durch Reigenführer erinnert sehr an die Echternacher
Prozession.
Noch einige Angaben nach anderen Quellen über die Springprozession.
Sie begann auf der Brücke, die die luxemburg-preussische Grenze bildet8).
1) Adam Reiners, Die Springprozession zu Echternach, Haffners Frankfurter Zeit-
gemässe Broschüren, N. F 5. Frankfurt a. M. 1884. - 2) Hecker a. a. O. — 3) Paul
Richer, L'art et la médecine. Paris (o. J.). — 4) Observ. medic. 1665. — 5) Hecker
a. a. O.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
' 131
M. Majerus, Richter in Luxemburg, berichtet aus eigener Anschauung-,
dass man für sich, für andere, Angehörige, Freunde, sogar für Tiere
springt. Wer zu alt, zu krank ist, bezahlt Echternacher Burschen, die für
1'2—20 Sous springen, häufig für mehrere Pilger und Pilgerinnen. Man
sieht nicht selten epileptische Krämpfe1). Ich weiss, dass gebildete Leute
für ihr schwachsinniges Kind springen liessen.
Der Übernahme durch bezahlte Leute ist nichts Auffallendes. Sie kam auch
bei anderen Heilverfahren vor. Im kalten Bad auf der Rischi-Alp hinter der Eck
in Unterwaiden (Schwendi-Kaltbad), das bis ins 19. Jahrhundert schwer zugänglich
war, bestand vormals, wie Ziegler 1799 schreibt, die Sitte, Leute für Geld zu dingen,
um sich für einige Minuten ins kalte Bad zu setzen für Rechnung und Frommen
irgend eines Kranken, welcher diese Verrichtung an dem wilden, sehr entlegenen
Orte selbst nicht übernehmen wollte oder konnte2).
Die Springprozession wird von der nicht unbedeutenden Anzahl namhafter
Geschichtsschreiber der Echternacher Benediktinerabtei, die oft bis in kleinste
Einzelheiten die Erlebnisse der Abtei berichten, nicht erwähnt. Selbst der Abt
Berteis (gest. 1607) spricht von den unbedeutendsten Dingen, über Yolkssitten,
religiöse Feste, sogar von dem religiösen Tanz auf dem Johannisberg bei Luxem-
burg, erwähnt sie aber mit keiner Silbe3).
Die erste schriftliche Nachricht yon der Echternacher Springprozession
gibt der triersche Historiker Brow er (gest. 1617), der als gangbare Er-
zählung mitteilt, dass seine Zeitgenossen als Knaben von den ältesten
Leuten gehört hätten, bei jeweiliger Unterlassung des Gelöbnisses der
Yotiv-Springprozession habe das Yieh in den Ställen zu tanzen an-
gefangen und nicht eher abgelassen, bis die Springprozession abgehalten
war4), also der Abwehrtanz gegen Bewegungskrankheiten. Dass man
auch für derartige Erkrankungen des Yiehs in Echternach springt, wurde
oben erwähnt.
"Weiteres üher Echternach folgt im nächsten Abschnitt.
Aus dem Jahre 1564 besitzen wir eine Abbildung von Tanzkranken
auf einer Handzeichnung in der Albertina zu Wien von Pieter Brueghel
d. Ä. Romdahl hat sie veröffentlicht (siehe Abb. 1) und sie für eins
der bedeutendsten Werke des Meisters erklärt. Es ist eine grössere (ein
wenig mit Weiss gehöhte) Federzeichnung auf blaugrauem Papier, die
von Brueghel eigenhändig mit einer Unterschrift versehen ist6). Sie
lautet: dit sin dye pelgerommen die up sint Jans dach buyten bruessel
de muelebeec danssen moeten ende als sy ouer een brugge gedanst oft
gesprongen hebben dan sin sy genesen vor een heel Jaer van sint Jans
siechte . bruegel • M • ccccc • lxiiij .
1) Richer a. a. 0. — 2) A. Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen.
Jena 1906. — 3) Reiners a. a. 0. — 4) Ebenda. — 5) Axel L. Romdahl, Jahrb. der
kunsthist. Sammlungen des Allerh. Kaiserhauses 24, 3. Wien und Leipzig 1905.
9*
132
Martin:
's Rijks Prentenkabinet in Amsterdam besitzt eine Zeichnung, die sich im
Bild beinahe mit der in der Albertina deckt. Sie trägt rechts unten die (falsche?)
Signatur 'brueghel', und die Unterschrift ist durch eine horizontale Linie von der
Komposition getrennt (wie das vielfach auf Stichen vorkommt). In der mir mit-
geteilten Unterschrift fehlt hinter 'buyten bruessel' die nähere Ortsangabe lde
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
133
muelebeec'. Das Bild ist in dem zweibändigen Handzeichnungswerke des Amster-
damer Kupferstichkabinetts auf Tafel 22 von E. W. Moes herausgegeben worden.
(Mitteilung des Kupferstichkabinetts in Amsterdam). Nach Romdahl ist es 1569
(nicht 1564 wie das in der Albertina) datiert.
1642 hat Hondius die Brueghelsche Zeichnung in drei Stichen (im Spiegel-
bild) reproduziert. Zwei davon sind bei Holländer1) und Richer2) (die linke Tanz-
gruppe) und bei Hovorka und Kronfeld3) (die rechte Tanzgruppe) abgebildet; sie
zeigen weit mehr und zum Teil andere Zeichnung als das Original (siehe Abb. 2 u. 3).
Romdahl sieht in den dargestellten Frauen Fallsüchtige [Epileptiker];
Richer, der Umrisszeichnungen des Bildes ohne die Unterschrift bringt,
behauptet, Brueghel habe die Echternacher Springprozession gezeichnet2).
Abb. 2 und 3. Stiche von Hondius von 1642 nach Brueghel.
(A.US Spemanns historischem Medizinal[abreiss]kalender.)
Uns illustriert die Abbildung das, was wir bereits von anderen Orten
wissen. Romdahl nennt den Ort des Vorgangs Molenbeck Sint Jans in
der Nähe von Brüssel. Die dortige Kirche wird also dem hl. Johannes
geweiht sein. An seinem Tage tanzen dort Frauen in geordnetem Zuge
unter Sackpfeifenbegleitung, jede mit zwei gesunden Mittänzern.
Wo die Kräfte versagen, stützen die Mittänzer. Die Prozession musste
auf jeden Fall über die Brücke hinwTeg, dann trat Gesundung ein auf ein
Jahr. Die Frauen waren also erst kurz vor St. Johannestag krank ge-
worden. Ihr Zustand gleicht dem der Frauen, von denen Schenk von
Grafenberg und Horstius berichten.
1) Die Medizin in der klass. Malerei. — 2) L'art et la médecine.
3) Ygl. Volksmed. 2.
134
Ebermann:
Im Hintergründe sehen wir eine Kirche, die auf dem Hondiusschen
Stiche fehlt. Auffallend sind zwei neben dem Zuge vorwärtsstürmende
Personen, ein Mann und eine Frau, die jeder in den Händen vorsichtig
eine Schale halten. Yon den Tänzerinnen hat eine den Mund weit ge-
öffnet, sie ringt nach Atem oder schreit, eine andere sinkt ermattet um,
bei einer dritten treten Krämpfe auf, die den ganzen Körper verzerren.
Hier gesellt sich zu den krankhaften rhythmischen Bewegungen des
Tanzes, dem Charakteristikum des grossen Veitstanzes, noch ein weiteres
hysterisches Zeichen, der hysterische oder hystero-epileptische Krampf.
Yon ihm werden wir später noch hören. Man beachte auch die Mittänzer,
wie sie überanstrengt sind und teils mit sorgenvollen Gesichtern die
Kranken unterstützen. Bei den Musikanten sieht man fast den Schweiss
an den Haaren herunterlaufen. Das Original charakterisiert dies alles
viel feiner als der Stich.
Bad - Nauheim.
(Schluss folgt.)
Le Médecin des Pauvres.
Von Oskar Ebermann.
Die Kommission für Sammlung der deutschen Zauber- und Segens-
sprüche hat in dankenswerterweise auch die Erforschung der Entwicklung
der volkstümlichen Segensbücher mit in ihr Arbeitsprogramm einbezogen.
Gerade diese Untersuchungen werden aber voraussichtlich auf besondere
Schwierigkeiten stossen. Die Zauberbücher geben nur in seltenen Fällen
Ort und Jahr ihrer Entstehung richtig an, suchen vielmehr auf die
gläubigen Benutzer durch Angabe eines frühen Erscheinungsjahres und
eines entlegenen Druckortes Eindruck zu machen. Die Bibliotheken haben
diesen interessanten Zweig volkstümlicher Literatur leider wenig oder gar
nicht beachtet, so dass Material aus älterer Zeit nur mit grossen Schwierig-
keiten aus Privatbesitz zu erlangen ist. Schliesslich — und das ist für
die Untersuchung das Wichtigste — haben diese Bücher zwar den Titel
meist mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit bewahrt, dagegen ist zuweilen
<ler Inhalt stark verändert worden, so dass Bücher gleichen Titels ge-
legentlich inhaltlich kaum etwas miteinander gemein haben. So gibt es
neben Ausgaben des Albertus Magnus, die in vier Teilen fast ausschliess-
lich Segenssprüche enthalten, auch solche, in denen keine einzige derartige
Formel vorhanden ist.
Le Médecin des Pauvres.
135
Wie in Deutschland, so werden auch in Frankreich Zauberbücher
noch massenhaft durch gewissenlose Buchhändler vertrieben, und Hefte
wie 'La poule noire aux ceufs d'or', 'Le Grand Grimoire', 'Cla-
vicule de Salomon1, 'La baguette divinatoire', 'Le dragon
rouge", 'Les merveilleux Secrets du Petit Albert', 'L'enchiri-
dion du Pape Leon III', 'Curiosités infernales et occultes'u. a. sind
J
in Paris bei den Bouquinisten der Seinequais stets zu billigen Preisen zu
haben. Auf der Suche nach derartigen Heften wurde ich im Jahre 1904
von dem nunmehr verstorbenen, um die französische Yolkskunde hoch-
verdienten Emile Rolland auf ein in Frankreich weitverbreitetes Heftchen
'Le Médecin des Pauvres' aufmerksam gemacht. Yon den 17 in der
Bibliographie de la France bis zum Jahre 1901 angeführten Heften enthält
die Bibliothèque Nationale 15, so dass sich der Entwicklungsgang eines
solchen Segensheftes — denn um ein solches handelt es sich — für den
Y erlauf des letzten Jahrhunderts einigermassen übersehen lässt.
Ich gebe zunächst eine Übersicht in zeitlicher Reihenfolge, wobei die
einzelnen Hefte durch den Erscheinungsort unterschieden werden.
1. Yalence, de l'imprimerie de J.-F. Ioland. 4 p. 1821.
2. Coulommiers, Impr. de Brodard. 8 p. 1827.
3. St.-Quentin, Impr. de Cottenest. 8 p. 1828.
4. E pin al, Impr. de Faguier. 8°, d'une demi-feuille. (Bibliogr. de
la France 1832.)
5. Doudeville, chez Patin. Impr. de Delamarre, 12°, d'un tiers de
feuille. 1833.
6. Paris, Librairie populaire des villes et campagnes, 18 p. 12°.
1848. (Nisard 2, 78.)
7. Laon, Typ. Ern. Maréchal, rue Châtelaine, 16. 8 p. 8°. 1850.
8. Rouen, Imp. veuve A. Surville, rue des Bons-Enfants, 46. (Stem-
pel der Bibl. Nation, vom J. 1851.)
9. Châlons-sur-Saône, Typ. Montalan. 16 p. 16°. 1857.
10. Troyes, chez Baudot. Imp. Libraire. Rue du Temple, 30. 11p.
12°. 1858.
11. Paris, Impr. de Cosse et J. Dumaine, rue Christine, 2. 8 p.
8°. 1862.
12. Paris, Impr. Prissette, passage Kuszner, 17. — Maison passage
du Caire, 17. 8 p. 8°. 1863.
13. Beaune, Autographie Boutton. 1868.
14. Argenteuil, Typogr. Worms. Henry, Lithographe à Argenteuil.
8 p. 8°. 1868.
15. Mâcon, Impr. Protat. 24 p. 16°. 1868.
16. Mâcon, Impr. Romand. 64 p. 16°. 1875.
17. Orléans, Impr. Morand, rue Baunier, 47. (Stempel der Bibl.
Ration, vom Jahre 1896.)
136
Ebermann:
Ferner werden in der Revue des traditions populaires (7, 243) zwei
Hefte erwähnt unter dem Titel 'Médecine des Pauvres', und zwar:
18. Paris, chez Moronval, rue Galande. 12 p. 32°.
19. Youziers, par Auguste Lapie.
Schliesslich sind wegen der Ähnlichkeit des Titels noch zu er-
wähnen :
20. Le Médecin des Pauvres. Dans les Communes rurales des
Basses-Pyrénées, par M. Blandin, Pau, 1852. (Eine Wohltätigkeitsschrift,
die mit den übrigen Heften nichts gemein hat als den Titel.)
21. Le Médecin du Tillage. Contenant un choix de Moyens
simples et efficaces pour la guérison de plus de cent Maladies. Amiens,
1851. (Enthält Rezepte.)
Diese Aufzählung ist sicher sehr lückenhaft1), denn viele Auflagen
des Heftes werden wegen ihres geringen Umfanges der Statistik entgangen
sein, und dann fehlen alle diejenigen, die auf französischem Sprachgebiete
ausserhalb Frankreichs erschienen sind2).
Ich lasse nunmehr den Inhalt der einzelnen Hefte, soweit ich ihrer
habhaft werden konnte, in der Weise folgen, dass ich jeder Formel ein
Yariantenverzeichnis beigebe. Yon der obigen Reihenfolge bin ich ge-
zwungen abzuweichen.
1. Prière pour arrêter le mal de dents.
Sainte Apolline assise sur la pierre de marbre, Notre-Seigneur, passant par là,
lui dit: Apolline, que fais-tu là? Je suis ici pour mon chef, pour mon sang et
pour mon mal de dents. Apolline, retourne-toi; si c'est une goutte de sang, elle
tombera; si c'est un ver, il mourra. — Dites cinq Pater et cinq Ave Maria en
l'honneur et en l'intention des cinq plaies de N.-S.-J.-C., et faites le signe de
croix sur la joue avec le doigt, en face du mal que vous ressentez, disant: Dieu
t'a guéri; et en très peu de temps vous serez guéri.
Ygl. Ch. Nisard, Histoire des livres pop. "2, 76; Aug. Hock, Croyances et re-
mèdes pop. (3. Aufl.) S. 42; Meyrac, Traditions, coutumes etc. des Ardennes S. 179
nr. 95; Reinsberg-Düringsfeld, Calendrier belge 1, 108 Anm. 1; Sauvé, Polk-Lore
des Hautes-Yosges S. 35; G. Yicaire, Études sur la poésie pop. S. 73; Mélusine 3,
1) Nisard 2, 78f. erwähnt noch eine Auflage aus Montereau, 12 p. 12°. o. J. und
druckt daraus einige Formeln ab, die in den unten angeführten Heften nicht ent-
halten sind.
2) Vgl. Hock, Croy. pop. S. 42; Monseur, Folkl. wallon S. 23; Wallonia 5, 112.
I. Le Médecin des Pauvres. (Oben Nr. 8.)
Titelbild.
Christus régnât.
J.-C. règne.
Christus imperat.
J.-C. commande.
Christus vincit.
J.-C. est vainqueur.
En Dieu la confiance.
Le Médecin des Pauvres.
137
114 nr. 10a: Rev. celt. 6, 73 nr. 8; Rev. des trad. pop. 1,36; Ons Volksleven 12, 97;
J. W. Wolf, Beitr. z. deutschen Mythol. 1, 260 nr. 34. — Spanisch: Nisard, Hist,
des livres pop. 1864 2, 82; F.-R. Marin, Cantos pop. españoles (Sevilla 1882) 1, 445
nr. 1063—64. — Der Name der Apollonia ist in diese Formel eingedrungen wegen
der Beziehung auf das Martyrium dieser Heiligen. In den älteren, lateinischen
Fassungen dieses Segens wird statt ihrer Petrus genannt. Vgl. dazu: R. Köhler,
Kl. Sehr. 3, 544ff.; 0. Ebermann, Blut- u. Wundsegen S. 19f.; Fr. Hiilsig, Der
Zauberspruch bei den Germanen S. 79ff.; H. Affre, Lettres à mes neveux (Ville-
franche 1858) 2, 73; Derselbe, Dictionnaire des institutions etc. duRourge (Rodez
1903) S. 388.
2. Prière pour arrêter le sang de telle coupure que ce soit et de toute sorte
de plaie.
Dieu est né la nuit de Noël, à minuit; Dieu est mort; Dieu est ressuscité; Dieu a
commandé que le sang s'arrête, que la plaie se ferme, que la douleur se passe, et que
cela n'entre ni en matière, ni en senteur, ni en chair pourrie, comme ont fait les cinq
plaies de N.-S.-J.-C. NATÜS EST CHRISTUS; MORTUUS EST ET RESUR-
REX1T CHRISTUS. — On répète trois fois ces mots latins, et, à chaque fois, on
souffle, en forme de croix, sur la plaie, en nommant le nom de la personne,
disant: Dieu t'a guéri. Ainsi soit-il. On commencera ensuite la neuvaine à jeun,
à l'intention des cinq plaies de N.-S.-J.-C.
Vgl. Hock, Croyances pop. S. 43; Sauvé, F.-L. des Hautes-Vosges S. 230;
Melusine 3, 114 nr. 9a; Schweiz. Arch. 10, 53; Rev. des trad. pop. 1, 39.
Die französische formelhafte Einleitung und der entsprechende lateinische
Schluss sind nicht diesem Segen eigentümlich, sondern werden auch oft anderen
Formeln vorausgeschickt oder angehängt, z. B. Mélus. 6, 282. — Vgl. den deutschen
Segen gegen Seuchen und Geschwülste (1460) in Mitt. d. Schles. Ges. f. Vk. Heft 18, 24.
Die Worte sind schon früh in deutsche Reime gebracht worden: ZfdA. 4, 577 (1405)
oder in anderer Weise Germania 26, 230. Vermutlich hat sich daraus der Typus
der Segen von den drei glückseligen Stunden entwickelt; vgl. Ebermann, Bl. u. W.
S. 71 ff. — Der Teil des Segens, der den Wunsch ausdrückt, dass die Wunde sich
nicht verschlimmern möge, geht auf eine lat. Formel zurück. Vgl. Ebermann, Bl.
u. W. S. 52f.; Hälsig a. a. 0. S.85ff.
3. Oraison pour guérir les rhumatismes ou douleurs quelconques.
Sainte Anne, qui enfanta la Vierge Marie, la Vierge Marie qui enfanta Jésus-Christ,
Dieu te bénisse et te guérisse, pauvre créature, N.....de renouure, blessure, rompure,
d'entraves et de toutes sortes d'infirmités quelconques, en l'honneur de Dieu et de
la Vierge Marie, de Saint Come et Saint Damien. Amen. — Dites trois Pater et
trois Ave pendant neuf jours, tous les matins à jeun, en l'honneur des angoisses
qu'a souffertes N.-S.-J.-C. sur le calvaire.
Vgl. Sauvé a. a. 0. S. 266; J.-B. Thiers, Traité des superst. (3. Aufl.) 1,412;
Rev. des trad. pop. 1,36; 1,37 nr. 8; 19,488. — Die zahlreichen lateinischen
Varianten dieser Formel, die ursprünglich ihrem Inhalt entsprechend als Segen
zur Erleichterung der Geburt Verwendung fand, lassen sich bis in das 10. Jahrh.
zurückverfolgen. Vgl. ZfdA. 52, 171; Hälsig, Der Zauberspruch bei d. Germ.
S. 96ff.; Ad. Franz, Die kirchl. Benediktionen im Ma. 2, 198f.
4. Prière pour la teigne.
Paul, qui est assis sur la pierre de marbre, N.-S. passant par là lui dit: Paul,
que fais-tu là? Je suis ici pour guérir le mal de mon chef. Paul, lève-toi et va
trouver sainte Anne; qu'elle te donne telle huile quelconque, tu t'en graisseras
138
Ebermann:
légèrement à jeun, une fois le jour et pendant un an et un jour. Celui qui le
fera n'aura jamais ni rogne, ni gale ni teigne, ni rage. — Il faut répéter cette
oraison pendant un an et un jour, sans y manquer, tous le matins, à jeun, et,
au bout de ce temps, vous serez radicalement guéri et exempt de tous ces maux
pour la vie.
Vgl. Hock a. a. 0. S. 44; Monseur, Folklore wallon S. 28; Rev. des trad,
pop. 1, 37 nr. 11. Ähnlich auch Sauvé a. a. 0. S. 350: Saint Pierre sur le pont
de Dieu s'assit. — Notre-Dame de Caly vint et lui dit: — Pierre, que fais-tu là?
— Dame, c'est pour le mal de mon chef que je me suis mis là. — Saint Pierre,
tu te lèveras, — A Saint-Agie tu t'en iras; — Tu prendras le saint onguent —
Des plaies mortelles de Notre-Seigneur, — Tu t'en graisseras, — Et trois fois tu
diras: — „Jésus, Maria." — J. W. Wolf, Beitr. z. deutschen Myth. 1, 261 Nr. 39.
5. Oraison pour couper et guérir toutes sortes de fièvres.
Quand J.-C. porta sa croix, il lui survint un juif nommé Marc-Antoine, qui
lui dit: „Jésus, tu trembles?" Jésus lui dit: „Je ne tremble ni ne frissonne."
Et celui qui dans son cœur ces paroles prononcera, jamais fièvre ni frisson n'aura.
Dieu commande aux fièvres tierces, fièvres quartes, fièvres intermittentes, fièvres
purpureuses, de se retirer du corps de cette personne. JESUS, MARIA, JÉSUS!
Il faut faire une neuvaine à jeun, à l'intention de la personne, en mémoire des
souffrances qu'a endurées N.-S.-J.-C. sur le calvaire.
Vgl. A. Meyrac, Traditions, coutumes etc. des Ardennes S. 179 nr. 96; Sauvé
a. a. 0. S. 269; Mélus. 3, 111 nr. 4; Rev. d. trad. pop. 1, 36 nr. 6; 18, 298. —
Ähnlich: Rolland, Faune pop. 5, 106; Mèi. 3, 197; Schw. Arch. 14,259 (18. Jh.);
Thiers, Traité 1,412; Hock. Croy. pop. 1,412. — Engl.: W. Henderson, Notes on
the Folk Lore of the Northern Counties of England S. 137.— In deutschen Fieber-
segen ist das Motiv des Zitterns vor dem Kreuz seit dem 15. Jh. nachweisbar:
ZfdA. 17, 429; Alem. 25, 266 (16. Jh.); J.W.Wolf, Beitr. z. deutschen Myth. 1,257
Nr. 17. — Öechisch: Grohmann, Abergl. etc. S. 164 nr. 1157.
6. Oraison pour guérir promptement la colique.
Mettez le grand doigt de la main droite sur le nombril, et dites: Marie qui
êtes Marie, ou colique, passion qui êtes entre mon foie et mon cœur, entre ma
rate et mon poumon, arrête, au nom du Père, du Fils et du Saint-Esprit. Dites
trois Pater et trois Ave, et nommez le nom de la personne, disant: Dieu t'a guéri.
Ainsi soit-il.
Vgl. Meyrac a. a. 0. S. 175 nr. 68; Monseur, Folkl. wallon S. 23; Rev. des
trad. pop. 1, 36 nr. 7; 19, 488; Musée Neuchâtelois 34, 57.
Es hat den Anschein, als ob im Anfang dieser Formel Maria angerufen würde,
indessen hat ursprünglich dafür zweifellos ein Ausdruck gestanden, der dem
lateinischen matrix entspricht. Es begegnen in Segen die Formen amarry, matrice,
mare, maire, mère u. a. Auch marris ist zu belegen in der Bedeutung 'Maladie
de la matrice.' (La Curne de St.-Palaye, Diet, de l'ancien langage franc. 7, 291).
Demnach entspricht unsere Formel genau den zahlreichen deutschen Segen für
die Bermutter. Diesen liegt die Anschauung zugrunde, dass die Kolik dadurch
entsteht, dass die Gebärmutter gegen das Herz aufsteigt (vgl. M. Höfler, Deutsches
Krankheitsnamen-Buch S. 427). Die aufsteigende Gebärmutter wird in den Segen
aufgefordert anzuhalten und an den ihr von Gott bestimmten Platz zurückzukehren.
Dieselbe Vorstellung finden wir in mehreren französischen Koliksegen. Vgl. Schweiz.
Arch. 10, 49 nr. 58; 12, 104 nr. 43. — Die folgende Formel findet sich bei
Le Médecin des Pauvres.
139
M. L. Joubert, La première et seconde partie des erreurs populaires, touchant la
Médecine et le regime de santé. Rouen 1601.
Conjuration de l'amarry delouee, en langue Angenoise.
Mayre mayris, que as cinquanto dos rasits,
Et uno mays que l'on non dits:
Tiro te das coustas,
A qui non son pas tas estas.
Tiro te de las esquinas.
A qui non son pas tas esinas.
Tiro te del son de ventre:
A qui non te podes estendre.
Mais bouto te à l'ambonnil.
Là ou la Vierge (Marie) portet son (car) fil.
Cric, croc, Mairo torno tel al loc.
Pater noster. Ave Maria. Faut reiterer cela par trois fois.
C'est à dire en François.
Amarry merasse, qui as cinquante et deux racines,
Et une plus que l'on ne dit,
Tire toy aux costez:
Ce ne sont pas là tes estres, ou places.
Tire toy vers l'eschine:
Yci ne sont pas tes aises.
Tire toy au fond du ventre:
Yci tu ne te peux estendre.
Mais boute toy au nombril,
Là où la vierge (Marie) porta son (cher) fils.
Cric, croc, maire retourne à ton lieu.
Pater noster etc.
7. Oraison pour guérir et arrêter toutes sortes de brûlures.
Par trois fois différentes, vous soufflerez dessus en forme de croix et direz:
Feu de Dieu, perds ta chaleur-comme Judas perdit sa couleur-quand il trahit
N.-S.-au Jardin des Olives; et nommez le nom de la personne, disant: Dieu t'a
guéri par sa puissance; sans oublier la neuvaine à l'intention des cinq plaies de
N.-S.-J.-C. Ainsi soit-il.
Vgl. Hock, Croyances pop. S. 130; Sauvé, Folk-Lore des Hautes-Vosges S. 215;
Thiers, Traité des superst. 1,409; Mélus. 1, 400; 3, 112; Musée Neuchâtelois 34, 56;
Rev. de l'Avranchin 2, 364; Rev. d. trad. pop. 1, 38; 15, 380; 18, 298; 19, 489;
Schweizer Arch. 12, 102. — In deutschen Segen ist mir das Motiv nur einmal be-
gegnet: Gegen das wilde Feuer.
Feuer, feuer, feuer,
verliere deine hitz,
wie der Judas seine färb verloren hat,
als er den herrn Jesum Christum verrathen hat.
ZfdA. 7, 536 nr. 14.
8. Oraison pour l'épine.
Pointe sur pointe. — Mon Dieu guérissez cette pointe comme saint Come et
saint Damien ont guéri les cinq plaies de N.-S.-J.-C. au Jardin des Olives.
NATUS EST CHRISTUS, MORTUUS EST ET RESURREXIT CHRISTUS. —
140
E b ermann:
Après que vous aurez dit cette oraison, vous prendrez un linge d'homme, blanc de
lessive, que vous couperez long et large comme le doigt, puis vous le mettrez en
croix sur l'épine, et ensuite vous l'envelopperez comme il est dit; ensuite le
souffrant fera une neuvaine à jeun, à l'intention des souffrances qu'a endurées
N.-S.-J.-C. sur le calvaire.
Vgl. Hock a. a. 0. S. 478; Rev. d. trad. pop. 1, 38 nr. 15; Musée Neuchât. 35, 68;
J. AV. Wolf, Beitr. z. deutschen Myth. 1, 261 nr. 41.
9. Oraisons à saint Antoine de Padoue, pour les pestes et autres besoins que
nous avons chaque jour.
Père et patron, saint Antoine de Padoue,
Qui vous invoque au besoin évident,
Péril de mort et de calamités,
Remédie à mort subite et peste,
En terre et mer, en foudre et tempête.
Pour retrouver toutes choses perdues,
Des bonnes sont par vous défendues,
Et bien souvent aux pauvres innocents
Faites gagner procès tous contents;
Jeunes et vieux, qui à vous ont recours,
A leurs besoins vous donnez tous secours.
Priez pour nous, qu'en sortant de ce monde,
Dans le ciel, en joie et paix durable,
Toujours en repos délectable. Ainsi soit-il.
Dieses verdorbene Stück besteht offensichtlich aus zwei Gebeten, so dass die
Mehrzahl 'oraisons' in der Überschrift gerechtfertigt ist. Zeile 6 ist die Über-
schrift des zweiten Gebetes; zu diesem vgl. Rev. d. trad. pop. 12, 511:
Saint-Antoine de Padoue
Qui êtes si bon et si doux
Et qui faites qu'on retrouve toujours tout,
Faites que je retrouve (l'objet perdu).
Nisard, Hist, des livres pop. 2, 54 zitiert: Prières et oraisons en l'honneur de
saint Antoine de Padoue, pour les âmes dévotes qui les diront ou qui les porteront
sur elles dans toutes leurs nécessités, maladies, adversités et périls, 32°; 23 pages.
Toulouse, Bonnemaison et Fages. o. J. — Der Grund, weshalb Antonius Ver-
lorenes wiederfindet: Nisard 2, 55.
10. Prière pour dissiper les mauvais esprits.
Chaque matin, à votre lever. — 0 Père tout-puissant, Mère la plus tendre
des mères, ô exemple admirable des sentiments et de la tendresse de toutes les
mères; ô Fils, la fleur de tous les fils, ô femme de toutes les femmes; âme, esprit,
harmonie; ô nombre de toutes choses, conservez-nous, protégez-nous, et soyez-
nous propice en tous temps et en tous lieux.
Puis vous direz par trois fois: Mon Dieu, j'espère en vous, le Fils et le Saint-
Esprit, et en moi. Ainsi soit-il.
11. C'est ici la mesure de la plaie du côté de N.-S.-J.-C.
(Stilisierte Abbildung einer Wunde.)
Laquelle fut apportée de Constantinople à l'empereur Charlemagne, dans un
coffre d'or, comme relique très-précieuse. Elle a telle vertu, que celui qui la
Le Médecin des Pauvres.
141
portera sur soi, avec respect et dévotion, bravera tout danger, ne périra ni en feu
ni en eau, ni en bataille, et aura bonheur et victoire sur tous ses ennemis; et
celui qui toujours la portera, de mauvaise mort ne mourra.
Vgl. Ch. Nisard, Hist, des livres pop. 2, 5. Das beinahe wörtlich gleich-
lautende Zitat stammt aus: Le Trépassement de la Sainte Vierge, contenant les
litanies et plusieurs oraisons; ensemble la plaie du côté de Notre-Seigneur;
36 pag. 24°. Épinal, Pellerin, s. dat. — Thiers, Traité 1, 312: Haec est mensura
plagae quae erat in latere Christi delata Constantinopoli etc.
12. L'oraison suivante a été trouvée sur le sépulchre de Notre-Dame, en la
vallée de Josaphat, et a tant de vertus et de propriétés, que celui qui la lira ou
la fera lire une fois le jour, ou qui la portera sur soi en bonne intention et
dévotion, ne peut périr ni par le feu, ni par l'eau, ni en bataille; il aura bonheur
et victoire sur ses ennemis; on ne peut lui faire ni dommage ni gêne; et a tant
d'avantages, que si une personne était tombée en péché mortel, Dieu lui donnera
la grace de s'en relever avant sa mort; elle verra la vierge Marie à son aide et
réconfort.
Oraison précieuse pour dissiper les nuages, en la répétant trois fois, comme
ayant trois propriétés différentes.
O glorieuse vierge Marie, Mère de Dieu, dame des anges, bénigne et pure
espérance et réconfort de toute bonne créature;
Plaise à vous, dame et mère et mère des anges, nous garder le corps et l'âme.
Nous prions votre précieux fils qu'il veuille nous garder de tout péril et de tout
danger, de l'ennemi, d'enfer et de tentation, par les mérites de son amère passion;
fasse cesser mortalité, guerre, et conserve les fruits de la terre, afin que nous
puissions vivre en concorde. O mère de Dieu, pleine de miséricorde, ayez pitié
des pauvres pécheurs et gardez-nous de l'infernal tourment et menez-nous au
royaume céleste où nous nous trouverons tous devant Dieu, le père tout-puissant,
à qui à genoux nous demanderons pardon; et lui plaise nous pardonner comme
à la Madeleine et au bon larron, lorsqu'il demanda pardon sur l'arbre de la croix.
Une femme en travail d'enfant, en mettant la dite Oraison sur elle, sera
d'abord délivrée.
13. Oraison pour guérir le mal d'yeux.
Bienheureux saint Jean passant par ici, trois vierges sur son chemin, leur
dit: „Que faites-vous là?" „Nous guérissons de la maille." Guérissez, vierges;
guérissez l'œil ou les yeux de N . . . Puis faisant le signe de la croix et soufflant
dans l'œil, on dit: „Maille, feu, grief ou que ce soit ongle, graine ou araignée,
Dieu te commande de pas avoir plus de puissance sur cet œil, que les Juifs, le
jour de Pâques, sur le corps de N.-S.-J.-C.; puis on fait encore un signe de
croix en soufflant dans les yeux de la personne, disant: Dieu t'a guéri; sans
oublier la neuvaine à l'intention de la bienheureuse sainte Claire.
Vgl. Hock a. a. 0. S. 44; Sauvé a. a. 0. S. 188; Mélus. 3, 113 nr. 8a; Rev.
d. trad. pop. 19, 49; 22, 453; Schw. Arch. 14, 260; J. W. Wolf, Beitr. z. deutschen
Myth. 1, 260 nr. 36; Enchiridion du pape Léon III nr. 7 (arg verstümmelter Über-
rest). — Die Segen von den drei Frauen werden auch in Deutschland häufig gegen
Augenleiden gebraucht, z. B.: Bartsch, Mekl. 2, 11; das. S. 358ff.: Curtze, Volks-
überlieferungen aus . . . Waldeck S. 424; Engelien und Lahn, Der Volksmund in
der Mark Brandenburg S. 153; K. Müllenhoff, Sagen usw. S. 516; Alem. 16,56; Ndd.
Korrespbl. 21, 23; ZfdPh. 6, 160; oben 7, 54; Zs. f. rhein. u. westf. Vk. 1, 217. —
Dasselbe Motiv zum Stillen von Blutungen: Ebermann, Bl. u. W. S. 80ff.
142
Ebermann:
14. Prière pour guérir les tranchées des chevaux.
Cheval noir ou gris (car il faut distinguer la couleur du poil de la bête),
appartenant à N., si tu as les avives, de quelque couleur quelles soient, ou
tranchées, ou rouges, ou trente-six sortes d'autres maux, en cas qu'ils y soient,
Dieu te guérisse et le bienheureux saint Eloi; Au nom du Père, du Fils et du
Saint-Esprit. Ainsi soit-il.
Et vous direz cinq Pater et cinq Ave pour remercier Dieu de sa grace.
Vgl. Hock a. a. O. S. 476; Volkskunde (ndl.) 7, 139; Rev. d. trad. pop. 19, 490.
15. Lettre miraculeusement trouvée dans un lieu nommé Arois, à trois lieues
de Saint-Marcel, écrite en lettres d'or par la main de notre Sauveur et rédempteur
Jésus-Christ.
Umfangreicher Himmelsbrief, abgedruckt Wallonia 5, 112. — Über Himmels-
briefe vgl. Hess. 131. f. Yk. 8 (1909) 81 ff.; Mitt. d. Schles. Ges. f. Vk. Heft 19, 45ff.;
Wiener Akademie (philos.-hist. Kl.) 1901, wo eine umfassende Bearbeitung der H.
in Aussicht gestellt wird.
16. Oraisons au saint-sépulchre de N.-S. Jésus-Christ.
Lange Gebete ohne volkskundliches Interesse.
17. Saint Roch, qui ne fut jamais invoqué en vain dans les contagions,
n'aquit (!) à Montpellier en 1284. Ayant perdu ses parents à l'âge de vingt ans,
il distribua ses biens aux pauvres; déguisé en pèlerin, il prit le chemin de Rome,
en passant par Aqua. Cependant il apprit que la peste y faisait de grands
ravages; il s'offrit pour soigner les pestiférés qu'on transportait à l'hôpital. A peine
fut-il parmi les malades, que la peste disparut de l'hôpital et de toute la ville;
le fléau ayant passé à Cesane, il y va, et sa présence fait cesser la maladie; la
contagion ayant pénétré dans Rome, ce fut un motif pour presser notre saint d'y
aller. A son arrivée le mal cessa encore. De là il se rendit à Plaisance, où une
maladie épidémique désolait toute la ville; il y signala sa charité. 11 fut attaqué
lui-même d'une fièvre ardente et d'une douleur cruelle dans la cuisse gauche, ce
qui l'obligea à se retirer dans une hutte au fond d'un bois jusqu'à sa guérison.
Il retourna dans son pays où il mourut en odeur de saint, après avoir reçu
pieusement les sacraments de l'église. Après sa mort on trouva ces mots écrits
près de son corps: Ceux qui, frappés de la peste, invoqueront mon serviteur Roch
seront guéris.
Seigneur, qui avez glorieusement récompensé les vertus de saint Roch en
rendant sa protection si puissante et si salutaire pour les pestiférés, exaucez dans
votre grande miséricorde les vœux ardents de votre peuple affligé, qui implore
aujourd'hui avec confiance la protection de votre illustre serviteur; daignez prêter
l'oreille à nos humbles supplications et nous accorder, par les mérites de saint
Roch, d'être préservés de toute maladie, des épidémies et surtout du péché, le
plus grand de tous les maux; nous vous en prions par Jésus-Christ, notre seigneur,
notre refuge, notre consolateur. Ainsi soit-il.
ORAISON.
Jésus-Christ, fils du Dieu vivant, ayez pitié de moi; Sauveur du monde, sauvez-
moi; Vierge sainte, priez pour moi votre cher fils bienaimé; Reine des anges et
des bienheureux, aidez-moi; et à l'heure de ma mort, où mon âme sortira de mon
corps, priez pour moi votre cher fils, afin qu'il daigne me pardonner mes péchés.
Rouen, imp. veuve A. Surville, rue des Bons-Enfants, 46. — Stempel der
Bibl. nat. von 1851.
Le Médecin des Pauvres.
143
II. Le Médecin des P auvres ou recueil de prières et oraisons précieuses
contre le Mal de Dents, les Coupures, les Rhumatismes, les Fièvres, la Teigne,
la Colique, les Brûlures, les Mauvais Esprits etc. (Ohne Angabe des Jahres;
Stempel der Bibliothek von 1896. Am Schluss: Orléans. —■ Imp. Morand, rue
Baunier, 47). — (Oben nr. 17.)
1. Oraison pour toutes sortes de brûlures.
Par trois fois différentes, vous soufflerez dessus en forme de croix et vous
direz à saint Laurent: Sur un brasier ardent, — vous retourniez et n'étiez pas
souffrant, — faites-moi la grâce — que cette ardeur se passe, — feu de Dieu, perds
ta chaleur — comme Judas perdit sa couleur, — quand pour sa passion juive, —
il trahit Jésus au jardin des Olives, — et après avoir nommé la personne vous
ajouterez: Dieu t'a guéri par sa puissance. — Sans oublier la neuvaine à l'intention
des cinq plaies de N.-S. Jésus-Christ. Ainsi soit-il.
Der hl. Laurentius wird mit Beziehung auf sein Martyrium in deutschen und
niederländischen Formeln gegen Brandwunden angerufen, z. B. Frischbier, Hexenspr.
und Zauberb. S. 40; Ganzlin, Sächsische Zauberformeln. Progr. Realsch. Bitterfeld
1902. S. 9; Alem. 22, 122; 25, 127; Hess. Bl. 1, 17; 2, 18;Mitt. d. schles. Ges. f. Vk.
Heft 6, 31; Pfarrhaus 16, 104; Schweiz. Arch. 4, 322; 7, 48; oben 7, 65—66
nr. 4a—c; Zs. f. rh. u. wf. Vk. 2, 286; 6, 289; 8, 77; Yerdam, Over Bezwerings-
formulieren S. 26 und 32; Biekorf 4, 176; Ons Volksleven 6,58. — Zur zweiten
Hälfte unseres Segens vgl. oben S. 139 nr. 7.
2. Oraisons pour les épines et échures et pour le bourbillon des clous et
furoncles.
Doux Jésus, la couronne d'épines qui fut posée sur votre front n'y laissa que
trous de gloire, pourtant l'épine est malfaisante, mais où règne la foi, elle n'est
qu'innocente: j'espère en vous et vous prie à mains jointes, que vous retiriez
cette pointe; mon Dieu, commandez qu'elle sorte, et pour tout dire, ouvrez la
porte (nommez la personne) per Christum natum mortuum resurrectum et vivum
in aeternum exi spina aut vermiculum.
Cette oraison dite, vous prendrez du linge d'homme, blanc de lessive, vous en
taillerez deux morceaux que vous poserez en croix sur l'épine, et en ayant soin
d'en envelopper le doigt, avant comme après l'oraison, vous soufflerez trois fois
sur l'épine, sur le clou ou le furoncle, le patient fera une neuvaine à jeun en
mémoire des souffrances de Jésus-Christ sur le Calvaire.
3. Prière pour arrêter la rage de dents, pour guérir un mal de tête ou un
mal d'oreilles.
Der Segen entspricht dem ersten des vorigen Heftes (S. 136), ist aber wie die
ersten fünf Formeln des vorliegenden Heftes durchgereimt; er ist abgedruckt bei
Nisard, Hist, des livres pop. 2, 76 und R. Köhler 3, 548.
4. Oraison pour mal d'aventure et panaris.
Après avoir plongé le doigt dans l'eau bouillante, couvrez-le d'un linge que
vous aurez fait toucher à une relique de saint et dites: qui bout, qui bat, qui cuit
sous cette peau — m'ôte sommeil et repos. — C'est germe venu de Satan — qui me
cause un si grand tourment, — j'ai croyance et mon âme est pure, — soulage-
moi, saint Bonaventure.
On récitera cette prière jusqu'à ce que guérison s'ensuive. — Vgl. Nisard
2, 76.
144
Ebermann:
5. Oraison pour le mal d'yeux.
Le bienheureux saint Jean, — s'en allait cheminant et méditant, — trois
vierges il vit qui lui passaient devant, — que faites-vous séant pureté et lumière.
Nous guérissons de souffrir et mal voir. — Vierges guérissez l'oeil ou les yeux
de (on nomme la personne en lui soufflant dans l'œil) et l'on dit en faisant le signe
de la croix: mal-orbit, dragon, taie, feu grégeois, ongle, graine, pouron, araignée
ou poussière, ongle ou paille de fer. Dieu te commande de n'avoir pas plus de
puissance sur cet oeil que les juifs après l'Ascension sur le corps de Notre
Seigneur Jésus Christ. On fait un second signe de croix en soufflant de nouveau
dans l'œil du malade, et l'on dit: Dieu t'a guéri. Si le mal persiste, on fait une
neuvaine à l'intention des bienheureuses sainte Claire et sainte Luce. — Vgl.
oben S. 141 nr. 13.
6. Oraison contre le choléra, le typhus, la suette, la scarlatine, la vérole, et
toute espèce de contagion.
Umfangreiches Gebet ohne volkskundliches Interesse.
7. Oraison à la vraie croix.
Elle doit être récitée avec grande dévotion par le malade et par les personnes
qui l'assistent.
1. — Sainte vraie croix arrosée du sang du juste.
2. — Bois sacré qui fut orné du corps de Dieu à l'heure suprême de la
Passion.
3. — Rélique précieuse et sans pareille, défends mon corps de mal engence
de putridité et de souffrance.
4. — Et donne à mon âme allégeance.
5. — Par les larmes des saintes femmes.
6. — Par ton signe glorieux.
7. — Par la couronne d'épines.
8. — Que mort ne me surprenne et me mette au cercueil que confessé et
administré. Ainsi soit-il.
8. Oraison contre la maladie des pommes de terre.
Abgedruckt bei Nisard 2, 77.
9. Oraison pour la femme qui est en mal d'enfant, afin d'obtenir prompte et
heureuse délivrance.
La femme enceinte doit toujours avoir sur elle cette oraison, et quand vien-
dront les douleurs, elle devra la lire ou se faire lire, et la répétera à mesure
qu'on la lui lira.
Anne a enfanté Marie; Marie le Sauveur; Elisabeth, saint Jean-Baptiste;
Marie Jacobé, Jacques de Galice; ainsi pauvre femme qui souffre enfantera comme
elles enfantèrent, sans qu'il y eût trace de vives douleurs; au nom du divin
Sauveur, enfant qui est dans le ventre, mâle ou femelle, viens au baptême où
t'appellent Jean et Jésus, viens au baptême te laver et te purifier, que l'eau efface
le péché. Femme qui enfante est en angoisse et en tristesse parce qu'elle craint
deux morts en ce moment; mais est-elle délivrée elle n'a mémoire de la torture
et tout est joie en elle, car l'homme est né en ce monde et Jésus triomphant
fera répandre sur son chef l'eau de miséricorde. Jésus de Nazareth, roi des Juifs,
ayez pitié de nous; Jésus le commencement et la fin ne nous abandonnez pas;
Jésus, régnez et soulagez, Jésus fermez la plaie. Ainsi soit-il.
Le Médecin des Pauvres.
145
On récitera cinq Pater et cinq Ave, en mémoire des cinq plaies de Notre
Seigneur, et à chaque étoile marquée ci-dessus (?), on devra faire le signe de la
croix.
Zum Anfang dieser Formel vgl. S. 140 nr. 3.
10. Oraison contre les crouelles, scrofules, humeurs froides et mauvaises
humeurs.
Jésus qui avez guéri le lépreux, délivrez votre serviteur du vilain mal qui
l'afflige.
Grand saint Louis, vous qui touchiez les scrofuleux et les renvoyiez sains et
purs en leur logis, faites descendre votre esprit sur le pauvre monde, et que toutes
plaies soient fermées.
Bienheureux saint Maclou, soulagez ceux qui vous vénèrent et renouvelez en
leur faveur le miracle de Reims.
On répétera cette oraison soir et matin, la veille de toutes les grandes fêtes
et après avoir récité cinq Pater et cinq Ave, on dira trois fois: Mon Dieu, je
vous offre mes affections comme Job sur son fumier vous offrit les siennes. Mon
Dieu, j'élève mon âme à vous comme Job élevait la sienne. Mon Dieu, ayez
pitié de moi.
11. Oraisons à saint Hubert, contre les bêtes enragées, scorpions, basilice, et
autres animaux venimeux.
O grand saint Hubert, veillez sur nous, et qu'aucune bête enragée ou veni-
meuse ne puisse nuire à nous, à nos parents, amis ou connaissances. — 0 grand
saint Hubert, préservez-nous de tous dangers par les champs, par les chemins,
par les bois, par les vallées, par les monts et en autres lieux. — 0 grand saint
Hubert, préservez aussi toutes les bêtes de notre maison, et qu'aucune d'elles ne
soit atteinte ou mordue. — 0 grand saint Hubert, guérissez-nous, soufflez de votre
esprit sur* la plaie et sur le venin, que la plaie se ferme et que le venin se
dissipe. — Ce dernier verset ne doit être prononcé que quand la personne a été
mordue. Après avoir bien lavé avec de l'eau et du sel la plaie faite par la
morsure, sur étendue de laquelle on appliquera en appuyant fortement à plusieurs
reprises une grosse clef de fer rougie au feu; pendant qu'on fera cette opération,
on récitera le Miserere.
Über die Anrufung des heiligen Hubertus zum Schutz gegen den Biss toller
Hunde vgl. die ausgezeichnete Monographie von H. Gaidoz, La Rage et St.-Hubert.
Paris 1887 (Bibliotbeca Mythica I.), worin jedoch das vorliegende Gebet nicht
enthalten ist. Ähnliche Anrufungen des hl. Hubert s. Wallonia 6, lOOf.; E. Rolland,
Faune pop. 11, 69. — Über den im Schluss unserer Formel erwähnten Hubertus-
schlüssel vgl. Gaidoz a. a. 0. S. 126 ff. ; Thiers, Traité des superst. 1, 371; P. Lebrun,
Histoire critique des pratiques superst. Paris 1702, p. 358; oben 11, 207 und 342.
12. Oraison aux deux Genevièves pour obtenir que tous les troupeaux soient
préservés des loups et de toutes mauvaises maladies.
Sainte Geneviève de Paris vous qui gardiez les brebis comme jadis Joseph a
gardé les troupeaux de Pharaon en Egypte, donnez votre houlette au berger pour
que le loup ni aucune méchante bête ne le puisse approcher. — Sainte Geneviève
de Brabant, dont Jésus et votre bon ange gardèrent votre biche de tout péril et
votre personne de la fureur de Golo, veillez sur les brebis du Bon Pasteur et
défendez-les du loup dévorant. — Jésus notre doux sauveur, qui naquîtes dans la
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2. i()
146
Ebermann:
crèche de Bethléem, ne souffrez pas, nous vous en conjurons, que mal arrive à
aucun des animaux qui furent les premiers témoins de votre veniie en ce monde.
Sainte Geneviève de Paris, intercédez pour nous.
Sainte Geneviève de Brabant, priez pour nous.
Le troupeau dont le berger portera sur lui cette oraison, qu'il devra réciter soir
et matin, ne sera jamais attaqué.
Eine dem ersten Teil unseres Gebetes ähnliche Formel verzeichnet Sauvé,
F.-L. des Hautes-Vosges S. 15. Daher Rolland, F. pop. 8, 85. — Andere Formeln
zum Schutze des Viehes gegen Wölfe sind im Französischen recht häufig, vgl.
z. B. Rolland, Faune pop. 1, 124 ff. u. 8, 84ff.
13. Oraison contre toutes sortes de charmes, enchantements, sortilèges, visions,
illusions, possessions, obsessions, empêchements, maléfices de mariage, et tout ce
qui peut arriver par le maléfice des sorciers, ou par l'incursion des diables et
aussi très profitable contre toutes sortes de malheur qui peut être donné vent aux
chevaux, juments, bœufs, moutons, brebis, et autres espèces d'animaux.
Lange Beschwörung ohne volkskundliches Interesse.
14. Prière pour l'hydropsie, les pâles couleurs et les boules d'eau dans
la tête.
Mon Dieu, ordonnez à l'eau de se retirer de mon sang, comme vous retirâtes
autrefois les eaux du déluge et l'eau du Jourdain. Mon Dieu, changez en sang
l'eau de mon corps, comme vous changez en vin l'eau des cruches aux noces de
Cana. Mon Dieu, ne me refusez pas ce miracle, et qu'il s'opère enfin, per Dominum,
nostrum Jesum Christum.
Nr. 15—19 entsprechen Heft I nr. 2—6; 20—21 entsprechen I, 9—10.
22. Oraison précieuse pour la parfaite guérison du charbon.
O Jésus, mon Sauveur, vrai Dieu et vrai homme, je crois fermement que
vous avez répandu votre sang pour nous; je crois dans l'Eucharistie, avoir souffert
pour nous, répandu votre sang précieux de votre grâce et ne m'oubliez pas dans
votre sainte grâce pour ma maladie dont j'implore notre saint patron, intercédez
pour nous. Ainsi soit-il. — Au pied de l'autel, il faut intercéder le patron de
l'endroit où est le malade, et ensuite vous prendrez du lierre le plus proche de
la terre, du savon qui n'a point servi, vous le battrez le tout ensemble avec de
la jeune crème, vous appliquerez cela avec l'oraison et on est promptement
guéri.
Nr. 23 entspricht I, 14; nr. 24 entspricht I, 12.
III. Auf dem Titelblatt eine Darstellung der Kreuzigung, umrahmt von einer
Dornenkrone. Darunter 'Christus régnât' etc. wie bei Heft I. Am Schluss: A Va-
lence, de l'imprimerie de J.-F. Joland. Erscheinungsjahr 1821. (Oben Nr. 1.)
Das Heft enthält vier Formeln, die mit geringen Abweichungen den nr. 1—2
und 4—5 des Heftes I gleichen. An die vierte Formel schliesst sich eine Er-
mahnung an Väter und Mütter, die Kinder zu gottesfürchtigen Menschen zu er-
ziehen, die so schliesst: Portons sur nous le Saint-Suaire de Notre Sauveur Jésus
Christ, cette image sainte et salutaire sera en tout lieu notre appui; elle met les
Chrétiens à l'abri du feu du ciel et du tonnerre; portons les armes du Seigneur,
pour nous préserver de malheur.
Le Médecin des Pauvres.
147
Journée-Pratique.
Chrétien,
Souviens-toi que tu as aujourd'hui :
Un Dieu à glorifier,
Un Jésus à imiter,
La Vierge et les Saints à prier,
Les bons Anges à honorer,
Une âme à sauver,
Un corps à mortifier,
Des vertus à demander,
Des méchans à expier,
Un Paradis à gagner,
Un enfer à éviter,
Une éternité à méditer,
Un temps à menager,
Un prochain à édifier,
Un monde à appréhender,
Des démons à combattre,
Des passions à abattre,
Peut-être la mort à souffrir,
Et le jugement à subir.
IV. Das Titelbild zeigt Gott Vater umgeben von Wolken und Sternen.
Darunter: Laissez dire et faites le bien. Quiconque me méprisera plus tard s'en
repentira. Christus régnât usw. 8 Seiten. Am Schluss: Imprimerie de Brodard,
à Coulommiers. (Oben Nr. 2.)
Inhalt: Nr. 1—10 wie Heft I, 1—10. Nr. 11 wie Heft II, 22. Nr. 12 wie II,
24. Nr. 13 wie II, 5. Nr. 14 wie II, 23. Nr. 15 wie I, 15.
V. St.-Quentin. Impr. de Cottenest, 1828. (Oben Nr. 3.) — Der Inhalt ist
derselbe wie der des vorigen Heftes, nur steht an Stelle von Nr. 15 folgendes
Gebet: Oraison à Notre-Dame des affligés. — O Dieu, infiniment miséricordieux,
qui ne voulez pas que le pécheur périsse, mais qu'il se convertisse, et qu'il vive,
accordez-nous par l'intercession de Notre-Dame des Affligés, consolatrice des
malheureux, secours de tous nos maux, tant de l'âme que du corps; nous vous
supplions, avec une parfaite résignation à sa sainte volonté. Par Jésus-Christ,
notre Seigneur.
VI. Titelblatt ähnlich den übrigen. Châlons-sur-Saône, typ. Montalan, 1857.
16 Seiten. (Oben Nr. 9.)
1. Prière pour guérir de l'enflure.
Dieu et la bonne Sainte Notre Dame se promenant parmi les champs ren-
contrèrent le bienheureux St.-Pierre qui gardait son troupeau, et lui dirent: Bien-
heureux St.-Pierre que fais-tu là? — Mon bon grand Dieu et ma bonne Sainte
Notre Dame, je garde mon troupeau qui est attaqué de l'enflure; je crois que j'ai
mal gardé et qu'il en périra. — Dieu et la bonne Sainte Notre Dame lui répondi-
rent: Mon bienheureux Saint-Pierre, va-t-en, et pendant que tu t'en iras et que tu
reviendras, ta bête se guérira.
10*
148
Ebermann:
2. Remede contre la rage.
Vous prendrez quatre œufs frais et du jour, vous enôterez les germes.
Vous prendrez des verses pilées, que vous trouverez sous l'écorce d'un vieux chêne
abbatu depuis 7 à 8 mois; vous ferez sécher cette poudre et après l'avoir tamisée,
vous en prendrez une pleine cuillère que vous mettrez dans l'omelette. Vous
fricasserez l'omelette avec de l'huile de noix pure. Vous la mangerez sans
crainte et vous serez guéri pour la vie. — Nota: Ce remède est celui de madame
Morange, de la commune d'Igé.
3. Prière pour les cochons malades.
Quand vous voyez votre cochon malade, jetez-le à terre, et mettez-lui dans la
gueule un morceau de bois, de crainte qu'il vous morde. Mettez ensuite votre
main sous le gueuloyon, et votre cochon sera guéri du poil du loi (?), du rouge et
du charbon. Continuez de tenir votre main sous le gueuloyon, jusqu'à ce que la
prière soit achevée, en disant: Ronfe, saute à la moëlle, ce qui est à la moelle
saute aux os, ce qui est aux os saute à la chair, ce qui est à la chair saute à la
peau, ce qui est à la peau saute au poil, ce qui est au poil saute à bas, je te
souhaite, et dire trois fois sur le cochon, au nom du Père, du Fils et du St. Esprit
et ne pas ajouter: Ainsi soit-il. Saignez votre cochon à la gueule ou à la queue et
il sera guéri.
Das stufenweise von innen nach aussen Zaubern dieser Formel, das dem Rück-
wärtszaubern ähnlich ist, habe ich sonst in französischen Segen nicht gefunden,
dagegen ist es in deutschen Formeln nicht selten. So lautet ein Segen 'für die
wilden Geschoss oder bösen Luft', der im Jahre 1617 aufgezeichnet ist, folgender-
massen: 'Wilde schoss, ich gebeut dir aus dem Markh in das Bain, wilde Ge-
schoss, ich gebeut dir aus dem Bain in das Flaisch, w. G. i. g. d. aus dem Flaisch
in das Bluot (die Anfangsbuchstaben werden bei jedem folgendem Satze wieder-
holt), aus dem Bluot in die Haut, aus der Haut in das Haar, aus dem Haar in die
Erden, neun Claffter tief!' Mones Anzeiger 6 (1837) 470 nr. 27. Daselbst noch
zwei andere Lesarten. Vgl. ferner: Alemannia 15, 123 (1650); Germ. 26, 235 nr. 33;
31, 345 nr. 2; oben 11, 84; Zföst. Vk. 6, 6; ZdVfrh. u. wf. Vk. 2, 296; 8, 68 nr. 9;
8, 70 nr. 21; Hovorka u. Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin 2, 864. Vgl. auch
M. S. Dkm. 1, 17 Nr. 5.
4. Remède pour la fièvre.
Prenez trois cuillerées de miel et trois verres d'eau, prenez aussi trois petits
bouquets de saule, faites réduire le tout à un verre, et donnez le au malade qui
sera bientôt guéri.
5. Recette pour détruire les mouches qui tourmentent les animaux.
Prenez des feuilles de noyer, faites-les bouillir ou tremper, frottez avec un
chiffon votre bétail, et jamais mouche ou taon ne le tourmentera. — Pour détruire
les mouches des maisons, prenez du sucre avec du poivre, réduisez le tout en
poudre et faites-en un mélange que vous déposerez sur une assiette. Le mouches
très avides de ce remède, l'avaleront et périront infailliblement.
6. Prière pour guérir la matrice.
Monsieur de St.-Jean, madame St.-Jean et le fils St.-Jean, j'espère que vous
guérirez cette personne, comme je crois que la Ste-Vierge est la mère de notre
Sauveur, Jesus-Christ. Au nom du Père etc.
Le Médecin des Pauvres.
149
7. Prière pour le scorbut.
Chancre blanc, chancre rouge, chancre noir et toutes sortes de chancres ma-
lins, je referme le scorbut dedans, je te jure et je te conjure de t'en aller aussi
vite devant moi que la rosée s'en va devant le soleil le jour de la St.-Jean, en
soufflant pendant trois matins de suite dans la bouche de la personne avant le
soleil levé. — Vgl. Mélus. 3, 116 nr. 15; Rev. d. trad. pop. 7, 243; 7, 247 nr. 17;
Schweiz. Arch. 12, 104; 14, 2G5. — Der Wunsch, dass die Krankheit so schnell
verschwinden möge, wie der Tau vor der Sonne, ist ein in französischen Segen
häufig wiederkehrendes formelhaftes Element.
8. Recette pour avoir de beaux bœufs exempts de maladie pendant un an.
Prenez une fourche de noisetier que vous couperez au lever du soleil, et
arrangerez promptement le matin de la première Notre-Dame. Vous entrerez ensuite
dans l'écurie et vous direz trois fois: Bonjour mes bœufs, mes bœufs mangeront,
boiront, y tireront et y seront victorieux comme moi. Donnez à manger à vos
bœufs avec la fourche que vous avez coupée. Cinq Pater et cinq Ave à l'honneur
de St.-Thomas. Au nom etc.
9. Prière pour les convulsions.
Dieu y a part et la Sainte Vierge aussi. St.-Jean de Brési, convulsion, va-t-en
d'ici, nous ne t'avons pas été quérir.
10. Prière pour faire rendre le lait.
Achetez un pot neuf, allez sous votre vache, et tirez la première fois du lait
dans le fumier, disant: Rendez à César ce qui est à César. Tirez ensuite dans
le pot: rendez à César ce qui appartient à César; tirez enfin dans le fumier: rendez
à Cesar ce qui appartient à César. Apportez votre lait à la maison et passez le
pot derrière la crémaillère d'une main et reprenez le de l'autre. Alors vous vous
mettez à genoux devant votre pot, et vous dites: Dieu est né la nuit de Noël à
minuit, puis bénissant le pot vous répétez: Au nom etc. Jetez dans le feu tout
le lait qui est dans le pot, et jamais sortilège n'aura pouvoir sur votre lait. — Zu
dem Durchziehen der Milch hinter dem Kesselhaken vgl. Schweiz. Arch. 12, 119
nr. 4. — Milch auf den Mist giessen als Schutz gegen Milchhexen vgl. Mitt. u.
Umfragen z. bayrischen Vk. 1910 S. 36.
11. Moyen de dégonfler subitement le bétail.
Pour dégonfler un bœuf, une vache ou un mouton, ouvrez-lui promptement la
gueule, faites un petit cornet du surot, et soufflez-lui trois fois dans la gorge.
Aussitôt qu'ils ont reçu du vent de chrétien, ils sont promptement guéris.
12. Pour l'accouchement des femmes.
Prenez un poulet tout vif, que vous ouvrez. Otez-lui le cœur, et mettez le
sur la poêle pour le faire griller pendant une minute. Faites-le prendre par la
personne souffrante dans du vin et du bouillon, et dites: Ste-Notre-Dame,
prenez pitié de cet accouchement, et abbattez tranchées contre tranchées. Au
nom etc.
13. Pour regogner.
Vous dites: Veine à l'aise, veine à l'aise, veine à l'aise, vade l'endroit où tu
étais, que ce soit de la droite ou de la gauche. Au nom de la Sainte-Vierge et
au nom du patron de la personne. Dire trois fois, au nom etc.
150
Ebermann:
14. Pour le sang.
Demandez le prénom de la personne, et dites trois Notre-Dame pour le sang.
La première Notre-Dame dit, en répétant le prénom: Jaques ou Pierre perd tout
son" sang, au nom etc.; la seconde Notre-Dame dit: mon Dieu nous le guérissons,
au nom etc.; la troisième répond: Mon Dieu, il est guéri au nom etc.
15. Conjuration de la colique.
On doit dire: colique cordée, colique tranchée, colique tranchée rouge, colique
tranchée noire, colique tranchée jaune, colique tranchée verte, colique tranchée
bleue, colique tranchée grise, colique tranchée blanche, colique tranchée qui est
venue, ou qui a été donnée, je te renvoie comme tu est venue ou donnée. — Coli-
que tranchée ou cordée, je te décorde, colique tranchée je te déboucle, colique
cordée qui es dans les entrailles, je te détranche. — Colique tranchée cordée que
Dieu te tranche, comme je te tranche.
VII. Le Méd ecin des Pauvres ou Recueil de Prières pour le soulagement
aux maux d'estomac, Charbon, Pustule, Fièvres, Plaies, Flux de sang, Hydropsie, Rhu-
matismes, Asthmes, Etouffements, Rompures, Convulsions des enfants, Choléra,
Typhus, Scarlatine, Suette, Vérole, Piqûres ou Morsures, Maux de dents, mauvaises
Humeurs, Gales, Dartres etc. — Das Titelbild zeigt den im Tempel lehrenden
Jesus. — A Troyes, chez Baudot, Imp. Libraire; rue du Temple, 30. (Oben Nr. 10.)
Préface.
Loin de nous ces idées de maléfices et enchantements, de semblables croyances
ne peuvent qu'irriter le Seigneur. — Que l'on accepte donc cette nouvelle édition
du Médecin des Pauvres comme seule digne de l'homme pieux et de bon sens,
ce petit livre nous rapprochera de Dieu et pourra nous en attirer toutes les grâces,
s'il y a foi et piété dans la récitation de ces prières. — Sur terre il n'y a jamais
eu que Dieu visible ou invisible et l'homme; croire aux revenants est absurde, on
a pendant des siècles abusé de la faiblesse des intelligences, on a fait jouer des
pantins, ou on a fait parler ou gémir dans l'ombre; tout cet échafaudage d'une
sorcellerie organisée aurait pu être souvent renversée par la simple balle d'un
pistolet; un enfant de notre époque eut fait, avec son sabre de fer-blanc, fuir ces re-
venants qui trompèrent si longtemps la crédulité publique.
1. Oraison pour demander la guérison du mal caduque, de la danse de saint
Gui, et des maux d'estomac.
Le malade dira ou bien l'on dira à son intention la prière que voici: Comme
David avec sa harpe guérit le roi Saul, Dieu, guérissez le cerveau du pauvre en
son affliction; bienheureux saint Gui, intercédez pour celui qui a perdu son guide
et la liberté de son mouvement.
2. entspricht Heft II nr. 22. Nr. 3 entspricht I nr. 5.
4. Prière pour arrêter le sang d'une coupure ou d'une plaie, le flux de
sang etc.
Dieu est né la nuit de Noël à minuit, Dieu est mort, Dieu est ressuscité,
Dieu a commandé au sang de s'arrêter, le sang ne coula plus, à la marque des
clous; il dit de s'effacer et cette marque disparut, sta sanguis, ut sanguis Christi,
ut sanguis Christi, sta sanguis. On repète cinq fois ces mots latins en mémoire
Le Médecin des Pauvres.
151
des cinq plaies de Jésus, ô Seigneur nous vous supplions pour celle de . . . (dire
le nom du malade).
5. wie II, 14.
6. Oraison pour demander guérison des rhumatismes, fraîcheurs, douleurs,
rhumes, toux, asthmes, coquetuches, étouffements, nouures, rompures, blessures et
autres infirmités.
Par la bienheureuse sainte Anne, mère de la vierge Marie qui enfenta Jésus,
par les mérites de la Passion, par les miracles de la croix de salut, nous prions
Dieu de guérir (on nomme la personne) comme par ta grâce saint Come et saint
Damien ont guéri les plaies du Maître divin.
7. Oraison pour demander guérison des convulsions des enfants et des
entorses.
O mon Dieu, nous supportons tout pour l'amour de vous, cependant dès que
nous vous en supplions, répandez sur nous votre bénédiction, dissipez ces maux
qui nous assiègent. O mon Dieu, daignerez-vous guérir (dire le nom du malade).
On récite ensuite cinq Pater et cinq Ave.
Nr. 8 wie II, 6. — 9 wie II, 2. — 10 wie I, 1. — 11 wie II, 10. — 12 wie
1, 4. — 13 wie II, 12. — 14 ähnlich II, 21, aber kürzer.
15. Oraison pour demander la guérison de la pierre, des retentions d'urine et
des maux de reins.
Mon Dieu qui îîtes tomber les rochers de Jéricho, brisez les pierres qui font
souffrir votre serviteur, et que par l'efficacité des rochs de hirim et thumim por-
tées par le grand-prêtre Melchisédec en l'arche d'alliance, elles éclatent en poussière
et ne puissent se reformer. Amen.
Abgedruckt bei Nisard, Plist. des livres pop. 2, 80.
16. Oraison à saint Antoine de Padoue, pour quand on est dans le besoin ou
qu'on implore quelques objets perdus ou volés.
Grand Saint que partout on loue,
Vertueux saint Antoine adoré à Padoue,
Daigne nous préserver de calamités,
De fièvres, tourments, lèpre et infirmités.
Fais que nous ne soyons frappés de mort subite,
Et ne soyons atteints des maux que l'on évite;
Jeunes et vieux, en toi s'ils ont recours
Espèrent tous d'avoir ton bon secours.
En terre en mer, prie que toutes tempêtes
Se détournent et fuient loin nos têtes.
Aux bons et innocents, prie pour gain en procès,
Aux travailleurs procure bon succès.
A qui te prie, rends-toi si favorable,
Que tu voudras nous être secourable,
Nous t'invoquons, daigne nous écouter,
Et de tout ton pouvoir au moins nous protéger,
Pour retrouver toutes choses perdues,
Fais que nos vœux de Dieu soient entendus;
Pour que l'objet cherché, si caché nous soit-il,
Nous puissions retrouver bientôt. Ainsi soit il.
Vgl. oben Heft I, 9.
152
Ebermann:
17 wie II, 11.
18. Précieuse oraison pour demander la préservation de tous maux et dangers
O glorieuse Vierge Marie, mère de Dieu, plaise à vous, dame et mère des
anges, nous garder le corps et l'âme! Nous prions votre précieux fils, qu'il nous
veuille garder de tout péril et danger. O mère de Dieu, pleine de miséricorde,
ayez pitié des pauvres pécheurs, et nous menez au royaume céleste où nous nous
trouverons tous devant Dieu, le père tout-puissant.
Maria virgo, ora pro nobis,
Jesus gloria coeli, exaudi nos.
VIII. Titelblatt wie gewöhnlich, ohne Bild. Laon, Typ. Ern. Maréchal, rue
Châtelaine, 16. — 1850. — 8 Seiten. 8°. (Oben nr. 17.)
1. Prière de saint Bernard à la sainte Vierge. — Gebet um Erhörung.
2. Prière à Saint Roch. — Gebet um Abwendung der Pest.
3. Prière à saint Sébastien. — Gebet um Befreiung von .ansteckenden
Krankheiten.
Nr. 4—13 wie IV, 2—11. — 14 wie I, 13.
15. Pour guérir le chancre.
Chancre blanc, chancre rouge, chancre douloureux, éteins ton feu et ta rougeur
comme Judas a perdu sa couleur quand il a trahi Notre Seigneur. — Vous dites
l'oraison trois fois, vous soufflez en croix sur la bouche de la personne et vous
trouvez une parfaite guérison. — Vgl. VI, 7 und I, 7.
16 wie II, 24. — 17 wie I, 14.
18. Oraison pour guérir l'entorse.
Vous dites trois fois: Et te, super ante, super ante te, puis vous soufflez en
croix sur l'entorse et à la fin de chaque oraison, vous ferez la même chose pour
un faux écart à un cheval.
Diese letzte Formel ist in der auf dem Titelblatt verzeichneten Inhaltsangabe
nicht enthalten. — Die anscheinend sinnlosen lateinischen Worte dieser Formel
finden sich — mit gçringen Änderungen — nicht selten. Vgl. Vicaire, Etudes
S. 68; Mélus. 1, 499; Rev. des trad. pop. 7, 247; 17, 413; 19, 489; 21, 307; 22, 451;
23, 268; Schweiz. Arch. 10, 52. Auch wenn in der niederländischen 'Volkskunde'
7, 140 gegen Fussverrenkung beim Pferd die Worte empfohlen werden: aulé, aulelé,
super aulé, so sind diese Worte zweifellos durch Verlesen aus unserer Formel
entstanden.
IX. Paris. — Imprimerie de Cosse et I. Dumaine, Rue Christine, 2. — 1862.
— 8 Seiten. 8°. (Oben nr. 11).
Nr. 1—13 entsprechen denselben Nummern in Heft IV, wo auch diese
Formeln durch einen auf nr. 13 folgenden Strich als besonderer Abschnitt ge-
kennzeichnet sind. Aber nr. 9 des vorliegenden Heftes stimmt im Wortlaut nicht
mit der entsprechenden Formel von IV, sondern von I überein.
14. Oraison pour le Tonnerre, à saint Donat, évêque et martyr. Langes
Gebet ohne besonderes Interesse.
15 wie I, 15.
Le Médecin des Pauvres.
153
X. Paris. — Imprimerie Prissette, passage Kuszner, 17. — Maison passage
du Caire, 17. — 1863. — 8 Seiten. 8°. (Oben nr. 12.)
Wortgetreuer Abdruck von Heft IX.
XI. Beaune. — Autographie Boutton. 186$. (Oben nr. 13.)
Diese schriftliche Vervielfältigung stimmt inhaltlich mit Heft IV überein; am
Schluss ist hinzugefügt:
Prière pour remettre les Entorses, les Hernies et les Cassures.
Les quatre Evangélistes St.-Jean, St.-Luc, St.-Mathieu et St.-Marc sont ici
présents pour remettre cassures et démétures, faire le signe de la croix sur le
mal en disant trois fois ces paroles. — Pendant la neuvaine dire cinq Pater et
cinq Ave, à jeun.
XII. Argenteuil, Typographie Worms. Henry, Lithographe à ArgenteuiL
(Oben nr. 14.)
Nr. 1—8 stimmen überein mit den entsprechenden Nummern von Heft IV.
9. Oraison pour nous préserver des ennemis qui nous environnent, comme
ennemis ou alliés, et qui nous persécutent.
Fils de Dieu vivant, ayez pitié de moi! que la puissance de Dieu paraisse,
que l'ennemi se dissipe, et que tous ceux qui me haïssent fuient de moi et de ma
présence, comme la fumée se dissipe par les vents, comme la cire fond au feu!
De même que les pécheurs périssent en la présence de Dieu, et que Jésus soit
élevé et réjoui en la présence de Dieu! Gloire soit au Père etc.
10 wie I, 11. — 11 wie II, 24. — 12 wie I, 13. — 13 wie I, 15.
Am Schluss: Vu et permis d'imprimer, Sens, le 8 septembre 1817 (!). Signé
Ferrand, sous-préfet.
1 wie I, 1. — 2 wie I, 6. — 3 wie I, 2. — 4 wie I, 3. — 5 wie I, 7. —
6—7 wie I, 8—9. — 8 wie I, 4. — 9 wie I, 5. — 10 wie I, 10. — 11 wie II, 22 —.
12 wie I, 12. — 13 wie I, 14. — 14 wie I, 13. — 15 wie I, 15.
16. Prière pour le mal de dents.
On offre neuf Pater et neuf Ave Maria pendant neuf jours, à l'honneur de la
mort et de la passion de notre Seigneur Jésus-Christ, pour le repos des âmes
dans le Purgatoire; à l'honneur de sainte Appoline et de saint Lazare. On se
met un doigt sur la dent, en disant: Dent malade que tu guérisses selon la
volonté de Notre Seigneur Jésus-Christ et de la Très-Sainte Vierge. Et, faisant
trois signes de croix, on répète trois fois: Au nom etc.
17. Prière pour guérir l'entorse. Antè, au nom du Père, du Fils et du Saint-
Esprit. Antè te, au nom etc. Per super antè te, au nom etc. Ainsi soit-il. —
Vgl. Heft Vili, 18.
18. Contre la colique.
On prend un morceau de pain que l'on met sur la main, en disant: Pain, je
te bénis, que Dieu et la Sainte Vierge te bénissent aussi. Au nom etc. On omet
Ainsi soit-il. — En répétant ainsi trois fois les mêmes mots: Au nom etc. La
dernière fois on ajoute Ainsi soit-il, en disant: Que Dieu te guérisse vite, s'il lui
plaît; ensuite vous donnez le morceau de pain au malade.
XIII. Macon, imp. Protat. — 1868. — 24 Seiten. 16°. (Oben nr. 15).
154
Ebermann:
19. Prière pour guérir l'entorse.
Entorse, détorse, veines nerfs, veines sautées, tressautées, je prie Dieu et la
bonne Notre-Dame de Mars d'y remettre dans l'endroit où elle était. Au nom etc.
20. Prière pour la brûlure.
Notre Seigneur Jésus-Christ, un jour se promenant avec Saint Simon,
rencontrèrent une personne qui souffrait beaucoup; Saint Simon lui dit: Seigneur,
voilà une personne qui souffre bien. Jésus-Christ lui répondit: Si tu voulais, Simon,
tu la guérirais bien. Seigneur, je n'ai pas cette puissance. Simon, approche
d'elle, tu souffleras trois fois sur la brûlure et elle sera guérie. Au nom etc.
21. Pour la guérison des bestiaux.
Saint Pierre et saint Jean, s'en allant parmi les champs, rencontrèrent un
berger. Berger gardes-tu bien? Non, pas trop, j'ai une bête qui est bien malade,
peut-être qu'elle en va périr. Non, berger (en pronoçant le nom de la bête), que
ce qui est à la gorge saute au pansigot; ce qui est au pansigot saute à la moelle;
ce qui est à la moëile saute aux os; ce qui est aux os saute à la chair; ce qui
est à la chair saute au poil; ce qui est au poil saute à bas. Au nom etc.
Vgl. Heft VI, 3. — Ähnlich Mélusine 3, 115 nr. 14; Rev. des trad. pop. 25,
390. — Schweiz. Arch. 12, 108 nr. 58.
22. Prière contre la morsure de la vipère.
Saint Simon s'en va à la chasse; il a chassé, lui et ses chiens, trois jours et
trois nuits, sans rièn trouver qu'une mauvaise bête venimeuse de plusieurs
couleurs, qui l'a mordu lui et ses chiens; Saint Simon a fait un si haut cri que
Notre Seigneur Jésus-Christ l'a entendu et lui a dit: Simon, qu'as-tu donc? Mon
Seigneur, j'ai chassé trois jours et trois nuits sans avoir trouvé qu'une mauvaise
bête venimeuse de plusieurs couleurs qui m'a mordu moi et mes chiens. Notre
Seigneur Jésus-Christ lui a dit: Ya-t-en, Simon, tu prendras neuf feuilles de ronces
et de la graisse de porcelin, et tu frotteras la plaie de chaque feuille jusqu'à neuf,
en mettant un morceau de graisse dessus, tu guériras toi et tes chiens et la bête
en périra. Au nom etc.
Vgl. Rolland, Faune pop. 11, 68—69; Yicaire, Poés. pop. S. 159.
23. Pour guérir l'érisipèle.
On prend trois cuillerées d'huile de noix et trois cuillerées d'eau qu'on bat
bien ensemble, et l'on s'en frotte la plaie avec une plume plusieurs fois, et on
est guéri.
24. Prière pour guérir la matrice.
La Sainte Vierge s'en va promener de bon matin, et rencontre son fils Jésus.
Bonjour mon fils. Bonjour ma mère; où allez-vous ma mère? Je m'en vais
guérir la fille d'un tel, qui est dérangée de la matrice. Retournez-vous-en, ma
mère, vous prendrez de la graisse de porcelin et vous lui en frotterez les flancs
et les côtés, en disant que Dieu et la bonne Notre-Dame de Mars la remettent
dans l'endroit où elle était. Au nom etc.
XIV. Mâcon. — Imp. Romand. — 1875. — 64 Seiten. 16°. (Oben nr. 16.)
1—4 volkstümliche abergläubische Vorschriften.
5. Prière pour faire dégonfler les bestiaux.
Il faut prononcer ces mots: Pierre ronde, la mère de Dieu te commande que
la gonflure de la vache blanche (on indique la couleur de la bête) fonde comme
Le Médecin des Pauvres.
155
le sel dans l'onde, au secours de St.-Antoine de Berry, puis réciter trois Pater et
trois Ave Maria en l'honneur de St.-Antoine de Berry; si on ne peut pas voir la
bête, on dit: quel poil que ça soit.
6. Prière pour empêcher Je sang à couler.
Notre Seigneur Jésus-Christ est né le jour de Noël, Jésus-Christ a été
circoncis le jour de la circoncision, Jésus-Christ est mort le Vendredi-Saint, Jésus-
Christ est monté au Ciel le jour de l'Ascension, Jésus-Christ a envoyé le Saint-
Esprit à ses apôtres le jour de la Pentecôte; Jésus-Christ commande que le sang
s'arrête. A chaque verset on fait le signe de la croix.
7. Prière à Saint-Hubert.
Saint-Hubert a des vertus et bienheureux toutes choses, nous défend de
l'ennemi et le serpent, toute bête sauvage ne puissent nous approcher de
cinquante-deux pieds et demi, moi et (hier bricht die stark verstümmelte Formel
plötzlich ab.)
8. Prière pour arrêter le mal en buvant dans les rivières, fontaines ou
ruisseaux.
Voilà de l'eau, c'est le Bon Dieu qui l'a faite. La bonne Vierge a bu, elle
n'a pas pris de mal, ni moi non plus, s'il plaît à Dieu. Au nom etc.
9. Prière pour l'entorse.
Entorse maudite, entorse rentre dans ton endroit comme Jésus-Christ aux
Oliviers. Au nom etc.
10—13. Anweisungen.
14. Remède par les prières et oraisons du pape Léon.
Sagaroth + Aspanidore + paatia 4- vra jodion + Samacron + Fondon Aspargon
Alamar Bourgavis Veniat. Serebonis, on ajoute le verbe qui a été fait chaire et
habité parmi nous.
In meinem Exemplar des Enchiridion du Pape Léon III ist diese Formel
nicht enthalten.
15. Pour les brûlures de feu.
Notre St.-Père sauva par une voix cet enfant d'un brasier ardent; prenez du
sang de porc, frottez-en trois fois le sang de votre corps et le feu sera dehors. —
Diese Formel steht vollständig bei Nisard, Hist. d. livres pop. 1, 188: Notre Saint-
Père s'en va une voie, trouve un enfant qui crie: Père, qu'a cet enfant? Il est
chu en braise ardente. Prenez du sang de porc et trois fascines de votre corps,
et le feu en sera dehors.
16. Entorse.
Dites, ce que Dieu a fait est bien fait, os désossé, veine noire, nerf foulé,
entresauté, que Dieu et la bonne Notre-Dame de Mars le remette dans l'endroit
où il était. Au nom etc. — Répéter trois fois les mots suivants: forçure, blessure,
foulure, sang, humeur, chaud et froid, ne fais pas plus de mal que la Sainte-
Vierge n'en a pas fait quand elle a marché sur terre.
17. Contre la maille. Entspricht I, 13.
18. Pour la piquûre de la couleuvre.
Martin s'en va à la chasse avec son chien, il a rencontré N.-S. J.-C. qui lui
.dit: j'en ai bien le sujet de l'être. — N.-S.: Pourquoi donc Martin? — Mon chien
156
Ebermann :
a été piqué à mort. N.-S. lui dit: Martin, retourne à ta maison, tu prendras des
feuilles de l'angiles (?), de la graisse de porcelin, tu en frotteras de haut en bas,
la couleuvre en périra, ton chien en guérira et toi aussi.
Wie in vielen anderen Formeln dieses Heftes, so ist auch in dieser der
Wortlaut arg entstellt. Hinter 'dit' ist etwa einzuschieben: Martin, pourquoi es-tu
si triste? — Vgl. Heft XIII, 22.
19. Prière pour les dartres.
Dites: dartres rouges de neuf racines, de neuf à huit, de huit à sept, de sept
à six, ... de une à rien, dites: que toutes se passent, comme elles sont venues;
dites une neuvaine de dix jours ou de dix-huit jours, et 5 Pater et 5 Ave Maria.
Vgl. Mélus. 9, 210; Rev. Celt. 3, 203 nr. 908; 6, 70 nr. 4; Rev. des trad. pop.
1, 37; 25, 392. — Das in dieser Formel empfohlene Rückwärtszaubern scheint
über ganz Europa verbreitet zu sein, was sich aus der lateinischen Herkunft der
Formel — sie wird zuerst von Marcellus erwähnt — erklärt. Vgl. P. Drechsler,
Das Rückwärtszaubern im Volksglauben (Mitt. d. Schles. Ges. f. Vkd. Heft 7,
45ff.); Hälsig, Zauberspruch bei d. Germ. S. 103ff.
20. Pour les vers.
Notre-Seigneur s'en va avec St.-Pierre faire une neuvaine, soit dans un champ,
il trouve trois vers, un blanc, un rouge et un noir. Vers rongeurs, je vous défends
de ne plus gâter le sang de N. Dites trois Pater etc.
Verwandte Wurmsegen sind in Deutschland ungemein häufig, vgl. z. B. Hälsig,
Germ. Zauberspr. S. 92 ff.
21. Anweisung.
22. Contre l'hydropisie. (Adresser une prière fervente à St.-Eutroque).
23. Contre la goutte.
Dites neuf mois (!) à jeun: terra, pastem, ténéré, satene, falèréné, salenes,
monetes, his, hirco, pedibus; puis, baisez la terre et crachez dessus, frottez d'une
goutte, les membres atteints, avec de la colle volatile pendant sept jours.
24. Anweisung.
25. Pour le mal caduc.
Soufflez dans l'oreille droite, dites ces paroles: Jasparé, fers, migraine, thus,
maléchiar, balthazard, ou ronce, il restera une heure pour le guérir, il faut avoir
trois clous de la longueur du petit doigt, enfoncez-les profondément au lieu de sa
première chute, sur chacun d'eux nommez le nom de la personne. Cinq
Pater etc.
In dieser Formel sind noch die verstümmelten Überreste des Dreikönigssegens
erkennbar, der folgendermassen lautet:
Gaspar fert myrrham, thus Melchior, Balthasar aurum.
Haec tria qui secum portabit nomina Regum
Solvitur a morbo Christi pietate caduco.
Vgl. H. Affre, Dictionnaire . . du Rourgue S. 387; H. Affre, Lettres à mes
neveux 2, 71; Reinsberg-Düringsfeld. Cal. Belge 1, 22; Rolland, Faune pop.
4, 198 nr. 58; Thiers, Traité 1, 107; Mélus. 3, 115; Wallonia 5, 186ff. — Hälsig,
Germ. Zauberspr. S. 98.
26 30. Anweisungen: Contre mal caduc. 31—32 desgl. contre mal de tête.
Le Médecin des Pauvres.
157
33. Pour la teigne.
Dites pendant dix jours ce qui suit: Saint Pierre sur le pont de Dieu s'assit.
Notre-Dame de Calais vint et lui dit: Pierre que fais-tu là? — A, dame, c'est
pour le mal de mon chef que je suis mis là. — Pierre tu te lèveras; à saint
Oyer, tu t'en vas, tu prendras du saint onguent des plaies mortelles de Notre-
Seigneur, tu t'en graisseras, tu diras trois fois: Jésus, Maria etc.
Vgl. Heft I, 4.
32. Pour le flux de ventre.
Il faut boire à jeun, trois jours de suite, du plantin des prés et dire ce qui
suit: je suis au très-saint Jardin des Oliviers, j'ai rencontré sainte Elisabeth; elle
me parla du flux de son ventre; je lui ai demandé grâce pour le mien et elle
m'a ordonné de dire trois Pater etc.
33. Pour le flux de sang.
Buvez deux onces de jus d'ortie (sa fleur rouge) et dites: Omnia, péruvie,
Marianne, Elisabeth, peruvis, Joannem, Maria, Antem, Christini in nomine, Jesum
cessit, sanguis ad hoc omelo ou ab hoc famula. — Der verstümmelte lateinische
Text wird etwa so zu lesen sein: Anna peperit Mariam, Elisabeth peperit Joannem,
Maria autem Christum. In nomine Jesu cesset(?) sanguis ab hoc famulo vel ab
hac famula.
34. Pour la colique.
On dit: Colique passez, colique fâche, colique, vat-t-en comme Judas a trahi
Notre Seigneur au Jardin des Olives et faites le signe de la croix. Vous serez
guéri.
35. Pour la colique.
Saint Biaise, serviteur de Dieu, je te commande de faire descendre la matrice
et le ventre de N. Au nom etc. — Ygl. Schw. Arch. 10, 49 und 58; 12, 104
nr. 43. Oben Heft I, 6.
36. Pour les hémorroïdes. (Ohne Interesse.)
37. Pour arrêter le sang.
Au sang d'Adam ne la mit au sang, es-tu là? ô sang, arrête-toi! aussitôt bandé,
il faut le voir.
Die Formel ist unheilbar verdorben. War sie vielleicht verwandt mit dem
Blutsegen 'in sanguine Adae orta est mors' etc.? Ygl. Ebermann, Blut-und Wunds.
S. 78 ff.
38. Pour arrêter le sang. (Ohne Interesse.)
39. Pour la coupure. — Das Auflegen von Spinngewebe wird empfohlen.
Vgl. dazu Hovorka-Kronfeld, Yergleiehende Volksmedizin 2, 358.
40—41. Anweisungen.
42. Pour le mal de dents.
On offre neuf Pater et neuf Ave Maria pendant neuf jours en l'honneur de
la sainte mort et la passion de Notre Seigneur Jésus-Christ pour le repos des
âmes du purgatoire, en l'honneur de sainte Brigitte, sainte Appoline et saint
Laurent. On se met le doigt sur la dent en disant: Dent, je veux que tu
158
Eb ermann:
guérisses comme les plaies de N. S. J.-C. et les maux de la sainte Vierge vous a
guéri par la permission de Dieu. On fait le signe de Ja croix en disant: Au
nom etc.
43. Contre le mal de dents. (5 mal Pat. nost. ; 5 mal le Salue Marie.)
44. Pour le mal d'yeux.
Saint Jean traversant la mer Rouge rencontra Notre Seigneur qui lui dit: Saint
Jean, où allez-vous? Monseigneur, je vais chercher la guérison pour mes yeux,
soit pour les rougeurs, soit pour la chaleur. Saint Jean, retourne-toi, car il ne
reste aucun mal. Au nom etc.
45. Pour les meurtrissures des yeux. (Anweisung.)
46. Pour les paillettes de fer dans les yeux. /
Dites ou faites dire l'oraison suivante, adressée à sainte Claire, vierge dont
on célèbre la fête le 13 août: Bienheureuse sainte Claire qui êtes morte dans les
sentiments de piété si pure et si mère que Dieu a voulu que vous soyez calomniée,
faites que, par votre efficace intercession, j'obtienne la prompte guérison des maux
que j'endure. Durant cette prière, tu te seras procuré un fort aimant. Tu le feras
mettre sur les paupières ouvertes, tandis une personne promènera l'aimant tant
près que possible. Si la prière à sainte Claire a été fervente, tu seras bientôt
guéri. A défaut d'aimant, on racle un morceau de papier blanc, de manière que
d'un côté il forme une pointe, qu'avec cette pointe, la personne remuant la
paillette bien doucement vers le coin de l'oeil, on l'enlève.
47. Pour les yeux. Verstümmeltes Bruchstück von I, 13.
48. Dieu est venu au monde pour nous racheter de nos péchés. Il a jeûné
pendant trois ans et trois jours. Il a été vendu aux Juifs trente deniers. Fièvres
tierces, fièvres quartes, fièvres de quelle qualité qu'elles soient ne puissent demeurer
sur mon corps, à l'arbre de la croix, où il a répandu son sang juste pour nos
péchés. Etc.
49. Pour les fièvres. (Ähnlich I, 5.)
50—52. Anweisungen.
53. Pour se débarrer.
Je me barre, je me débarre, au nom du Père et du Fils et du bardebarre et
contredébarre, au nom du Saint-Esprit. Trois Pater etc.
54—55. Anweisungen: Pour les écrouelles und Pour les envies des enfants.
56. Oraison pour guérir toutes sortes de maladies. (Lateinisches Gebet.)
57. Pour les bêtes à cornes. (Anweisung.)
58. Pour les bêtes à cornes.
Il faut arracher 7 brins de crin de la queue de la bête, disant à chaque
brin: Venin, sens respire (?) ne sont plus. Les tordre à gauche et les mettre dans
l'oreille gauche de la bête.
59. Pour les sorts. (Anweisung.)
60. Pour lever le sort qui est dans une écurie. (Anweisung.)
61. Pour lever toutes sortes de sorts.
Prenez un cœur de mouton et le percer de clous, le suspendre à la cheminée,
disant: Restia clasta, avario, chasta, castadia, dara, N . . . Il faut dire ces mêmes
Le Médecin des Pauvres.
159
paroles sur le corps: Il nye et bovuite (!). Un jour ne passera pas que le sorcier
qui a jeté le sort, s'il en a été jeté, ne vienne presser le laisser le cœur, parce
qu'il sent de grandes douleurs au sien, celui qui demandera d'ôter le sortilège,
et il demandera quelques animaux pour lui jeter, ce que tu pourras lui accorder,
sinon il crèvera par le miliard du coq^(le milieu'du corps?), et dites la prière des
Commandements de Dieu et de l'Eglise.
62—65. Pour les sorts. (Anweisungen.)
66. Pour le lait caillé. (Anweisung.)
67. Pour rompre tout malfaisant.
Prenez une tasse de sel, plus ou moins, selon la quantité des animaux
malfaisants. Prononcez dessus: Herego, gomet, hum guerdon visseront déliberont.
Faites trois tours autour des animaux en commençant du côté du soleil levant et
continuant suivant le cours de cet astre, les animaux devant vous et faites les
mêmes paroles, disant: Délivrez-moi, Seigneur, s'il vous plaît, Seigneur de tous
les maux, et à l'avenir ayez recours à Dieu dans toutes vos entreprises. Dieu
soit loué.
Von der verstümmelten lateinischen (?) Formel werden Mélus. 18, 301 und 305
zwei ähnliche, gleichfalls verdorbene Lesarten mitgeteilt.
68. Oraison merveilleuse pour faire marcher une voiture qu'un cheval ne peut
pas bouger.
Chostia, sacra, vego, cavrum. En déposant le grand Putiphar des embarras
tout pour l'enchantement et caractère qui ont été. Dites-lui et célébrer sur le corps de
mes vifs chevaux. Après cela, vous réciterez le verbe: Que le Seigneur soit avec
vous etc.
Die Eingangsworte der Formel haben vermutlich gelautet: 'Eíostia sacra veho
carrum', der Rest ist rettungslos verdorben.
69. Pour faire périr les chenilles.
Il faut écrire sur un morceau de papier ce qui suit et entourer l'arbre et
dites: Christus régnât, Christus imperat, Christus vincit, Christus, vobis (Christus)
imperat ibi acciderunt qui operator. Gloire à Dieu.
70. Pour la grêle.
Dites: Uno, apôtre un abe, un apôtre, coro me. Que Dieu nous garde de
la grêle, de l'orage du ciel, temps, deux apôtres, deux sobe(?), deux apôtres cou-
ronnés. Que Dieu nous garde de la grêle, de l'orage, du mauvais temps. Que
Dieu nous garde de l'orage du ciel, tempête du ciel. Continuez jusqu'à douze fois
apôtres, etc.
71. Pour arrêter le feu du ciel.
Il faut prendre un œuf du jour de Noël et le jeter contre le feu du ciel,
en disant: Que Dieu t'arrête, comme Judas arrêta Jésus-Christ au Jardin des
Oliviers.
72. Pour arrêter le feu d'une maison.
Qu'il arrête, qu'il arrête, qu'il arrête. J'espère en Dieu; il confondra tout
pour sa gloire dans l'éternité qui lui appartient. In te domine speravi, non con-
fundo in aeternum. Dieu de bonté, protégez-moi. Dieu de miséricorde.
160
E b ermann:
73. Pour tirer un bon numéro.
Seigneur, qui n'avez pas voulu que votre robe fut déchirée, mais jetée au
sort, faites-moi la grâce de m'acquitter aujourd'hui que je suis exempt. Seigneur,
exemptez-moi, s'il vous plaît.
74. Pour ses ennemis.
In nomine patris . . . amen, in nomine domini Jésus-Christi crusifi, sigo
(sic!) qui me odini perti osesimo quinipe me regati benedicit custodiat possidiat
hac horate, et die in semper ut in super una volúntate sua semper fiat. Amen.
75. Pour déposséder. (3 Seiten.)
76. Grande Oraison. (3*/2 Seiten.)
77. Pour dompter les animaux. (Kurze Anweisung.)
Amen.
Über die Entstehung1 dieser Hefte ist bisher nichts bekannt. Zwar
lässt sich der Titel in ähnlicher Form weiter zurückverfolgen, aber wenn
Nisard (Hist, des livres pop. 2, 79) behauptet: 'C'est un très-mince
extrait d'un livre célèbre: La Médecine et la Chirurgie des pauvres, par
Dom Nicolas-Alexandre, Paris 1714, in — 12; souvent réimprimé', so ist
diese Angabe irrig. Herrn Prof. Dr. J. Bolte, der die Güte hatte, diese
Angabe nachzuprüfen, verdanke ich darüber folgende freundliche Mit-
teilung: 'Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes, 1875 (3, 100)
zitiert drei Werke ähnlichen Titels:
1. [Dom Nicolas Alexandre,] La médecine et la chirurgie des
pauvres, qui contiennent des remèdes choisis, faciles à préparer & sans
dépense, pour la pluspart des maladies internes & externes qui attaquent
le corps humain. Par Paris 1714. — Ferner Paris 1740. 1753. 1758.
Rouen 1818. Avignon 1820. Lyon 1822. Avignon 1823. 1835. Paris
1869. Avignon 1868.
2. Phil. Hecquet, La médecine, la chirurgie et la pharmacie des
pauvres. Paris 1740 u. ö.
3. Dubé, Le médecin et chirurgien des pauvres. Paris 1669.
Diese drei Werke enthalten nur wirkliche Heilmittel, aber keine
Wundsegen, Krankheitsbesprechungen und Gebete, und kommen daher
als Quelle unserer Hefte nicht in Betracht'. Es ist auch von vornherein
unwahrscheinlich, dass diese Heftchen Auszüge aus umfangreichen Büchern
darstellen, näher liegt die Annahme, dass sie zusammengestellt sind aus
Flugblättern ähnlichen Inhaltes. Solche sind schon im Anfang des
16. Jahrhunderts sicher bezeugt: 'Nicol. Le Rouge l'imprimeur à Troyes
(wird am 26. Juni 1521 bestraft, weil) ... il a imprimé depuis, en grande
qualité (quantité?), un papier sur lequel il y avait une croix, avec
certaines oraisons écrites en latin et en françois et qui sont super-
stitieuses'. (Rev. des trad. pop. 6, 691).
Le Médecin des Pauvres.
161
Ein Vergleich des Inhaltes der verschiedenen Hefte zeigt, dass
eine bestimmte Zahl von Formeln sich durch die meisten von ihnen
hindurchzieht. Es sind das besonders die Formeln 1 — 8 des Heftes I,
die nur in VI und XIV ganz fehlen. Sie finden sich in der gleichen
Reihenfolge wie in I auch in IV, V, Vili, IX, X, XI und besonders auch
in XII, das am Ende eine Druckerlaubnis vom Jahre 1817 anführt. Die-
selben Formeln sind auch, wie sich aus den Anmerkungen ergibt, am
häufigsten aus dem Volksmunde aufgezeichnet worden, in ihnen werden
wir mithin den ältesten geschlossenen Kern unserer Hefte erblicken
dürfen. Auch die in I vorhandenen Gebete wiederholen sich in mehreren
Auflagen. Trotz dieser mannigfachen Übereinstimmungen, die die Ab-
hängigkeit der verschiedenen Auflagen von den früheren gewährleisten,
ist es selten, dass ein Heft dem anderen so vollkommen gleicht, dass es
als einfacher Abdruck desselben angesehen werden muss. In dem vor-
liegenden Material ist das nur bei IX und X der Fall. Sonst haben sich
die Herausgeber bemüht, durch Auslassungen, Umstellungen und besonders
durch Hinzufügung neuer Formeln ihrer Auflage eine gewisse Selbständig-
keit zu geben. Zuweilen sind auch besondere Gründe für die Änderungen
massgebend gewesen. So werden im Vorwort zu Heft VII die in früheren
Heften gleichen Titels enthaltenen abergläubischen Vorstellungen aus-
drücklich verworfen, und die Formeln dieses Heftes nähern sich deshalb
dem kirchlichen Gebet. Heft VI versucht offenbar, sich den Bedürfnissen
ländlicher Benutzer anzupassen, und dass der Médecin des Pauvres
auf dem Lande sich einer sehr grossen Verbreitung erfreut, wird mehrfach
hervorgehoben1), Heft XIV hat gegenüber den übrigen bedeutend an
Umfang gewonnen, was darauf zurückzuführen ist, dass — in sehr ver-
stümmelter Gestalt — lateinische Formeln anscheinend aus einer Fassung
des Enchiridion du Pape Léon III darin abgedruckt sind. Der ver-
wahrloste Zustand, in dem sich die lateinischen wie auch die französischen
Segen dieses Heftes befinden, lässt vermuten, dass die Vorlage, nach der
es gedruckt wurde, durch handschriftliche Verbreitung unter einfachen
Leuten zustande gekommen ist.
Zuweilen scheint auch der Titel der Hefte geändert worden zu sein,
denn Monseur (a. a. 0.) berichtet von dem Médecin des Pauvres: 'Il a été
édité très souvent dans ce siècle; nous en connaissons une édition de Huy
et deus (!) de Nivelles, dont l'une sous le titre ordinaire, l'autre sous celui
de Les heureux secrets, trésor des ménages (12 pages sans date
ni nom d'imprimeur)'. Indessen ist hier noch die Möglichkeit gegeben, dass
es sich um ein Heft ähnlichen Inhaltes gehandelt hat, das aber nicht in
unmittelbarer Abhängigkeit von dem Médecin des Pauvres stand, denn
1) Monseur, Folkl. wallon S. 23; Hock, Croy. pop. S. 42.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2.
11
162
Buturas:
wenn wir in diesem wohl das Hauptarsenal der französischen Segensprecher
vor uns haben, so ist die Zahl der anderweitig veröffentlichten Segen, die
in unserem Material nicht enthalten sind, doch so bedeutend, dass wir
annehmen müssen, dass noch andere, ähnliche volkstümliche Segens-
bücher vorhanden sind.
Abschliessend mag noch bemerkt werden, dass die hier gemachten
Feststellungen nicht ohne weiteres auf die entsprechenden deutschen Ver-
hältnisse übertragen werden dürfen. Vielmehr scheint hier, soweit ich
das Material zu übersehen vermag, der wörtliche Abdruck älterer Segens-
bücher im allgemeinen bis heute noch die Regel zu sein.
Berlin-Halensee.
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter1).
Von Athanassios Buturas.
Vorbemerkungen.
Die Erforschung des Lebens, der Sprache und der Überlieferungen
der Neugriechen beweist, dass sie alle geistigen, sittlichen und kulturellen
Vorzüge ihrer Vorfahren, der Altgriechen, geerbt haben und sie allmählich
auch in die Tat umsetzen. Trotz der grossen Last einer Überlieferung
von Jahrtausenden und nationaler Missgeschicke trifft man bei dem neu-
griechischen Volke auf Schritt und Tritt denselben fröhlichen Geist in
den Einrichtungen des sozialen Lebens, eine ähnliche Beweglichkeit und
Kraft in der Gestaltung der sprachlichen Elemente und eine ebenso grosse
Phantasie in Metaphern und Vergleichungen wie sie für die Altgriechen
charakteristisch sind2). Gerade wie der seinen Nachbarvölkern kulturell
überlegene, das Schöne in der Natur verstehende und Harmonie in die
1) Diese Abhandlung ist als Supplement der vor Jahren von Prof. S. Lampros
unter den Titel 'Edvixal vßgeig veröffentlichten zu betrachten, welcher gründlicher den
Spott bei den Altgriechen und den Byzantinern untersucht hat. Ein grosser Teil des
Materials derselben stammt aus dem Nachlasse meines in dem letzten Kriege gefallenen
Freundes Dr. K. Gunaris, der in den vor Jahren mit dem Preis der rkcoaoixrj 'Eraiosía
zu Athen gekrönten und seitdem unediert gebliebenen Sammlungen sprachlichen und
volkskundlichen Materials aus den neugriechischen Idiomen viele darauf bezügliche Be-
merkungen gemacht hat. Ausserdem sind auch die unedierten volkskundlichen Samm-
lungen des 'EXXfjvtxôç 'IhÀo/.oyixôç Hv/J.oyoç KcovoravrivovjióXscog berücksichtigt worden.
2) Ygl. meine zwei Abhandlungen Ta ovó/Liara rcöv ¡ir¡vwv sv xf¡ NsoeXXijvixfj, Athen 1910
und Ta Neoellrjvixà xvgia òvóf.iaza, Athen 1912.
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
163
Gesellschaft bringende Altgrieche, hat auch der Neugrieche, sein echter
und mit denselben Eigenschaften begabter Nachkomme, die seinem Ge-
schmacke widerstrebenden geistigen und körperlichen Mängel seiner
Nachbarvölker und mancher seiner Landsleute bemerkt, fröhlich ver-
spottet und scharfsinnig kritisiert. Der Spott, welcher sehr oft im alltäg-
lichen Leben gegen einzelne Individuen gerichtet wurde, gestaltete sich
allmählich zu einer der Hauptquellen der mittel- und neugriechischen Zu-
namen, die jetzt eine reiche und ausserordentlich wichtige Quelle der
Forschung darstellen und unbedingt systematisch erforscht werden müssen,
weil sie das ganze Leben des Mittel- und Neugriechentums repräsentieren.
Yon diesem wichtigen Abschnitt der mittel- und neugriechischen Forschung
wird in dieser Abhandlung nicht die Rede sein, da diese Fragen mit dem
ganzen Material der Zunamen zusammen behandelt werden müssen, wie ich
es nächstens in einer grösseren Arbeit zu tun gedenke. Hier soll allgemeiner
die Rede sein erstens von der Verspottung der schlechten Eigenschaften
von Fremdvölkern, die zu den Neugriechen in irgend eine geschichtliche
Verbindung getreten sind, und zweitens von der Verspottung mancher in
der neugriechischen Gesellschaft selbst zu bemerkenden Tendenzen und
Mängel.
1. Fremd völker.
I. Asiaten. Trotz seines nationalen Missgeschicks seit der zweiten
byzantinischen Periode und des Verlustes seiner Freiheit durch den Fall
von Konstantinopel hat das neugriechische Volk niemals die Überzeugung
aufgegeben, dass es im Orient allen anderen Völkern geistig und kulturell
überlegen sei, gerade wie die Altgriechen, die darin soweit gegangen
sind, dass sie alle anderen Nationen als ßägßagoi kennzeichneten, und wie
später auch die Byzantiner. Obwohl die Neugriechen sich nach der
byzantinischen Auffassung geographisch in den Orient einrechnen und
Westeuropa bloss mit dem Namen Evqcdth) kennzeichnen, rechnen sie sich
doch kulturell zu den westeuropäischen Völkern und unterscheiden sich
in dieser Beziehung scharf von den Orientalen. Mit dem Namen
Avaro^krjg 'der Orientale' benennen sie hauptsächlich den Kleinasiaten,
den sie als schwerfällig und dumm ansehen und deswegen mit der Be-
nennung :'AvaroHnxo oqvij) 'orientalischer Dummkopf und gleichbedeutenden
Adjektiven wie Xalvxovnr¡g und ôovôovjurjg belegen. Von den Arabern
haben sie nur eine dunkle Vorstellung. Ihren Namen 'Agámjg haben sie
auf die nordafrikanischen Völker im allgemeinen übertragen (s. weiter
unten), weil die Araber diese Völker einst beherrscht haben. Ihre byzan-
tinische Überlieferung stellt die Araber als Eindringlinge und Seeräuber
und besonders als Verfolger der christlichen Religion dar. Deswegen
benennen die Neugriechen dieselben ausschliesslich mit den Religions-
bezeichnungen ZaQaKYjvot und Ayagrjvoi, welche sie auch auf die moham-
11*
164
Buturas:
medanischen Türken übertrugen und welche den Begriff der Härte und
Ungläubigkeit in sich schliessen, wie der sprichwörtliche Ausdruck
'Agarenische Hunde' bezeugt. Aus diesem Grund wird Zagaxrjve in Syros
als Schimpfwort gebraucht, und ZaQaxr¡voí werden in Kreta die bösen
Dämonen genannt. Die Armenier werden von dem neugriechischen Yolke
als Häretiker betrachtet und durch die Adjektive juayaQio/xsvoi 'besudelt'
und ¡MnoÇfjôeç 'Mistesser' (von türk. bök 'der Mist') verspottet, weil sie nach
einer Yolksüberlieferung, als sie einmal mit den Orthodoxen über Religions-
sachen stritten, die Wette verloren und danach gezwungen wurden Mist
zu essen. Deswegen glaubt jetzt das Volk, dass die Armenier eine
Gelegenheit suchen sich dafür zu rächen, und mahnt jeden Griechen zur
Beherzigung des Sprichwortes 'Iss im Hause des Juden und schlafe bloss
(nicht: iss) im Hause des Armeniers'. Ausserdem wird der Armenier als
viel zu sanft und mutlos angesehen, und so verspottet ihn das auch sonst
gebräuchliche Sprichwort 'Schlachte mich, mein Herr und Gebieter
(== Türke), damit ich ein Heiliger werde'. Ebenso werden die Armenier
als sehr feige betrachtet und spottweise nuiegiéç 'Pfefferbaumfrüchte'
genannt, weil sie nach der Yolksüberlieferung bei den zur Zeit des Auf-
standes von 1821 von den Türken unter den Griechen angerichteten
Gemetzeln zur Unterscheidung von ihrem Fes eine Pfefferbaumfrucht
baumeln Hessen. Sie werden auch als lästig verspottet, wie es der sprich-
wörtliche Ausdruck Ag/uévixr] ßiQixa 'armenischer (= langer) Besuch' zum
Ausdruck bringt. Die armenischen Frauen sind auch als sehr schlimm
und hart gegen die Kinder verschrieen, was den Ausdruck oàv 'Agjuevioaa
'wie eine Armenerin (schlimm)' entstehen liess. Von den anderen asiatischen
Yölkern hat das Yolk bloss von den Tataren (TáraQrjg oder Tó.Qxaor¡g) eine
dunkle Vorstellung und verspottet sie als ungebildet und grob. Die
Perser aber sind in dem Bewusstsein des Volkes mit den Türken in ein
Volk verschmolzen (vgl. weiter unten). Über die Hebräer und Türken
wird noch später die Rede sein.
II. Afrikaner. Von diesen kennt das neugriechische Volk bloss die
Bewohner der nördlichen Küsten, die es mit dem allgemeinen Namen
der ehemaligen Beherrscher derselben Araber 'Agájir¡óeg nennt, wie auch
Afrika Aganicx genannt wird. Sie werden allgemein als wild betrachtet,
was der Spottname derselben KayAganaç 'schlimmer Araber' zum Ausdruck
bringt. Ebenso werden sie als hartnäckig und eigensinnig angesehen, wie
der sprichwörtliche Ausdruck ròv etújxoe to aQámxo 'das Arabische hat ihn
eingefangen (= er verharrt hartnäckig bei seiner Idee)' und der gleich-
bedeutende ágámxo ¡ujiovqí 'arabischer Eigensinn1 bezeugt. Auch sonst
werden sie wegen ihrer schwarzen Farbe verspottet, und daher bedeutet
àgàjirjç im Neugriechischen den schwarzen Menschen. Von den einzelnen
Völkern Nordafrikas hat das neugriechische Volk nur eine sehr dunkle
\orstellung. Die Ägypter kennt es bloss von den obdachlosen Wanderern
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
165
Ivcproi (— Aiyvjinoi), welche die griechischen Länder durchziehen lind sich
fast ausschliesslich mit Schmiedehandwerk beschäftigen, so dass der
Gattungsname yvcpxog jetzt im Neugriechischen den Schmied bedeutet,
während ihre Frauen Zauberei treiben. Auch sie werden wegen ihrer
halbschwarzen Farbe verspottet, und yvqnog bedeutet in der neugriechischen
Sprache fast dasselbe wie das oben erwähnte agámjg. Ausserdem gelten
sie als höchst schmutzig, weshalb das Wort yvcpxila im Neugriechischen
den schlechten Geruch bedeutet. Eine Sprache haben sie nach der
Meinung des Volkes nicht. Sie wurden nämlich nach der Volksüber-
lieferung von Gott durch Sprachlosigkeit bestraft, weil sie die Nägel
schmiedeten, mit denen Jesus Christus ans Kreuz genagelt wurde. Ab-
gesehen davon, dass sie als immer mittellos gelten, sind sie auch als sehr
geizig verschrieen, und diese Bedeutung haben im Neugriechischen die
Wörter yvqnog, yvcpxvi, yvcpxü,a und yvcprolaoiá. Sie werden spottweise
auch (fragaoì genannt von dem Titel <I>agaco der alten Ägypterkönige,
weshalb das Wort q?agacóvi]g im Neugriechischen den tyrannischen und
unersättlichen Menschen bedeutet. Im übrigen werden sie als ein und
dasselbe A7olk mit den Zigeunern betrachtet, obwohl letztere eine eigene
Benennung :'Axoiyyavoi oder Toiyyavoi oder Toeyyevéôeg oder KaroißeXoi haben.
Auch diese werden wegen ihres Wanderlebens, ihrer Armut und Schmutzig-
keit verspottet, weshalb das Wort zotyyaviá im Neugriechischen Schmutzig-
keit bedeutet. Wegen ihrer Geizigkeit haben diese Bedeutung auch die
Wörter aroiyyavog und roeyyevsg und die daraus entstandenen roiyyovvrjg,
Totyyovviá, roiyyovvEvojuai. Die Tripolitaner, Tunesier und Algerier
(Mua g /ujiagéÇ oi, 'Afo&gívoi) kennt das neugriechische Volk bloss vom Hören-
sagen als Seeräuber und betrachtet ihr Land als ungastlich, wie der Fluch
/mao/iJiagià xal rovveÇa và ok nuíoj] beweist. Die Mamelucken werden
wegen ihrer Schwelgerei verspottet, und diese Bedeutung hat das Wort
LiafJxxXovxog. Die Bengasier aber, von denen ein Teil in Kreta ein-
gewandert ist, werden wegen ihrer Art, durch die Kehle zu sprechen,
verspottet und deswegen yalixovxEg aus dem Tone 'hál-hál' genannt.
III. Balkan Völker. Diese Völker hat das Griechentum seit dem
Falle von Konstantinopel und während der ganzen Periode der traurigen
Türkenherrschaft unter seine Fittiche genommen und als christliche durch
sein Patriarchat ebenso wie sich selbst verwaltet. So ist mit dem Namen
Rum (= rPcojuaïoi), womit die Türken die um ihr nationales Dasein
kämpfende griechische Nation benannten, auch die Nationalität dieser
Völker gerettet worden. Die Griechen übten natürlich eine ungeheure
Einwirkung auf diese Völker aus, und so entstand eine gemeinsame Kultur
mit denselben Überlieferungen aus der verfallenen byzantinischen Welt,
eine Kultur, welche die natürlichen Gegensätze zwischen ihnen grossen-
teils ausglich. So erklärt sich die Tatsache, dass diejenigen Völker,
welche auf dem Balkan in keinen Gegensatz zu den Griechen, besonders
166
Buturas:
in religiöser Beziehung, getreten sind, auch vom neugriechischen Volke
versöhnlich und freundlich behandelt werden, wie es mit den Serben der
Fall ist, die dem Patriarchat immer treu geblieben sind, und mit den
Rumänen, deren Land den Griechen gegenüber immer gastfreundlich
geöffnet war. Anders verhält sich die Sache mit den turanischera Ursprung
entstammenden und von Natur aus viele schlechten Eigenschaften be-
sitzenden Bulgaren, mit den zum Islam übergetretenen und seiner Ein-
wirkung entgangenen Albanesen und mit dem aus dunklem Ursprung
hervorgegangenen nomadischen Hirtenvolke der Walachen oder Arro-
munen, welche sich frühzeitig unter den Griechen niedergelassen haben.
Diese alle werden schon seit den byzantinischen Zeiten mit scharfen Aus-
drücken beschimpft und verspottet. Besonders verachtet das neugriechische
Volk als wild, treulos und häretisch die Bulgaren, die es mit dem
Spottnamen ägxovösg 'Hirsche' belegt, welche Benennung zugleich ihre
Häuslichkeit verspottet. Um ihre durch viele Mordtaten und Plünderungen
bezeugte Wildheit und Unersättlichkeit auszudrücken, hat der Grieche
kürzlich das Wort ßovlyaQio^og geprägt, welches mit 'Yandalismus' gleich-
bedeutend ist. Sie werden auch als sehr schmutzig betrachtet und es
gibt ein Gedicht, worin der Dichter erzählt, er habe 'Läuse wie Büffel
auf bulgarischen Köpfen gesehen'. Um ihre Grobheit und Unwissenheit
zu verspotten, gebraucht das Volk ein mit ihrem Namen fast gleich-
lautendes bulgarisches Wort und sagt Bovgyagoi /uayxági 'die Bulgaren
sind Esel', und um ihre Nichtswürdigkeit und Hässlichkeit auszudrücken,
sagt es spottweise 'Bulgare, ungesalzen und mit einem Zwiebelkopf. Er
wird sogar als unwürdig, wie ein Mensch zu leben und sich zu nähren,
verspottet mit dem Sprichwort 'wir (Griechen) essen Käse und Fische,
und du (Bulgare) frissest die Kruste des Esels1. Die Albanesen werden
wegen ihrer Rauheit und Rachsüchtigkeit verspottet, die auch das Wort
aQßavixrjg im Neugriechischen ausdrückt. Sie werden auch als Analphabeten
verlacht, denn als Gott nach der Volksüberlieferung den Menschen die
Buchstaben gab, kamen zuletzt auch die Albanesen, ihr Alphabet von ihm
zu bekommen; da er aber kein Papier mehr bei sich hatte, schrieb er
die albanesischen Buchstaben auf ein Kohlblatt, welches aber bald aus
Unvorsichtigkeit der Albanesen von einer Kuh gefressen wurde, so dass
dieselben ohne Buchstaben blieben. Die Wralachen = BM%oi} von denen
ein grosser Teil, besonders die sogenannten Kutzowalachen, hellenisiert
wurden, werden als grob und ungeschliffen verspottet, welche Bedeutung
auch die Wörter ßlayog, ßlayvx im Neugriechischen haben. Da die meisten
Hirten sind, gelten sie als schlecht riechend, was auch durch das Wort
ßlayu\a im Neugriechischen ausgedrückt wird.
IV. Westeuropäer. Von den westeuropäischen Völkern hat das
neugriechische Volk bloss eine dunkle Vorstellung. Es betrachtet sie als
ein fast gleichmässiges Ganzes und gibt ihnen ohne Unterschied von Nation
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
167
und Religionsdogmen den gemeinsamen Namen Franken (<Pgáyxoi). Da
es täglich die Erfahrung macht, dass alles Gute für seine Lebenshaltung
aus &oayxiá oder Evqcdtzi] kommt, so betrachtet es sie als auf ähnlicher
Kulturstufe mit ihm stehend. Die Vorwürfe gegen sie sind entweder
Reminiszenzen aus den byzantinischen Zeiten oder entstanden infolge
dogmatischer Spaltung in Religionsangelegenheiten und der Abweichung
in manchen Lebenseinrichtungen, hauptsächlich aber infolge der katho-
lischen Propaganda im Orient, in welcher man eine Gefahr für seine
heilige Orthodoxie und Nationalität zu sehen glaubte. So entstanden die
Benennungen ol Aaxlvoi xà oxvlhá 'die Hundelateiner' oder 2xvlXócpQayxot
'Hundefranken', womit der Abscheu gegen die kirchlichen und politischen
Angriffe der westeuropäischen Völker auf das Byzantinische Reich seit den
Kreuzzügen ausgedrückt wird. Von der katholischen Propaganda im
Orient werden besonders geringschätzig diejenigen betrachtet, welche sich
im Orient ständig niedergelassen haben und mit dem fast spöttischen
Namen QayxoXeßavxlvoL 'orientalische Pranken' benannt werden, von denen
manche der griechischen Nationalität angehören. Diese werden beschul-
digt, weil sie sich in den Freiheitskämpfen feindselig gezeigt haben und
manchmal den Türken die Absichten und Pläne der Griechen verraten
haben. Daher kommt es, dass sie als listig betrachtet werden, wie hervor-
geht aus den sprichwörtlichen Ausdrücken 'den Franken kannst du zum
Freund haben, aber es ist nicht gut ihn als Nachbarn zu haben' und
Mooìe xal Mioü orò otilxl oov fir¡ ßaQrjg 'nimm du nicht in dein Haus den
Mosche und Mische'. Die Geistlichen derselben, die @qáqoi oder <£>Mqoi,
werden ebenfalls verspottet, wie der gemeingriechische Fluch xbv xaxó oov
xò cpMgo und die Bedeutung des Wortes rpkdooq 'Teufel' in Kastellorizo
beweisen. Sie werden ausserdem als unrein betrachtet, weil sie Frösche
und Schildkröten essen. Auch ihre A7orliebe für die Maccaroni wird ver-
spottet durch den Spielvers ^gáyxo vxe vxio, òcód xcov naiòico, và cpáye
jLiaxaoóvia 'Herrgottsfranke, gib den Kindern, Maccaroni zu essen'.
V. Hebräer. Obwohl das neugriechische Volk fast nur die unter
ihm lebenden spanischen Juden kennt, so hat es doch starke religiöse
Reminiszenzen, dass es bei den Namen^oaíoí—cOßoaToi — Oßgioi—Oßgoi sich
hauptsächlich der gegen seinen Religionsstifter von diesem Geschlecht be-
gangenen Freveltaten erinnert. Die Juden werden also ohne Rücksicht
auf ihre Herkunft als lästerlich betrachtet, weil sie unseren Herrgott ans
Kreuz schlugen, und mit der Benennung KagyoxQioxoi 'Kreuziger Christi'
und Hdäxa vom Namen des Pontius Pilatus, der im Neugriechischen
gleichbedeutend mit 'Quäler' ist, belegt. Das Volk unterlässt keine Ge-
legenheit seinen Abscheu gegen sie zu zeigen, und besonders ist dies der
Fall während der Osterfeiern, wenn von den Bauern das Bild des
Judas, dessen Name gleichbedeutend mit'Verräter' ist, öffentlich auf einem
Esel verspottet und endlich erschossen wird. Sie werden als desto ab-
168
Buturas :
scheulicher betrachtet, weil sie nach der Volksüberlieferung noch jetzt
das Blut christlicher Kinder gemäss ihren Religionsvorschriften trinken.
Wegen ihrer Freveltat gegen Christus sind nach dem Glauben desYolkes
die Juden von Gott zu nationaler Zerrissenheit verurteilt. Sie werden
deswegen auf immer vereinzelt umherirren, und der sprichwörtliche Aus-
druck sjirjys xarà 'IogayX 'er ging in der Richtung von Israel' bedeutet im
Neugriechischen 'er ist ruiniert'. Man glaubt sogar, ôèv jiedaívovv à/là
xpocpovv 'sie sterben nicht (wie die Menschen), sondern sie verrecken (wie
die Tiere)'. Sie werden ebenso wie Judas als verräterisch und intrigant
betrachtet; dies wird durch den sprichwörtlichen Ausdruck 'der Hebräer
wird ausgehen, um Nüsse zu verkaufen' ausgedrückt, was von Leuten ge-
sagt wird, die kein Geheimnis behalten können. Sie werden als unge-
tauft, schmutzig und schlecht riechend angesehen, wie aus dem sprich-
wörtlichen Ausdruck 'schlecht riecht der Jude und auch sein guter Anzug'
hervorgeht. Sie werden als die feigsten Menschen verspottet, man sagt
von einem Feigling rgé/xei, oàv Eßgaiog 'er zittert wie ein Jude'. Trotzdem
glaubt man, dass sie, wenn sie vereinigt sind, keine Gelegenheit unter-
lassen, ihre Härte gegen die Christen zu zeigen, und besonders werden
als solche die Juden aus Saloniki betrachtet, wie der spöttische Ausdruck
JZaXoviwog 1EßgaTog bezeugt. Ihre Unfähigkeit, etwas Mannhaftes zu denken,
wird durch den sprichwörtlichen Ausdruck 'der Jude auch hat eine Salbe'
verspottet. Ihr einziger Gedanke ist das Geld, und diese Nebenbedeutung
hat das Wort "Eßgalog im Neugriechischen. Um Geld zuverdienen, werden
sie als jeder Lüge und Schmutzigkeit fähig betrachtet, gerade wie ihr
Vorfahre Judas. Besonders beim Verkaufen wird vor ihrem Geiz und
ihrem Wucher gewarnt, welche Eigenschaften durch den sprichwörtlichen
Ausdruck eßgauxa nai^áqnx 'jüdische Verhandlungen' verspottet werden.
Diese Eigenschaften bedeuten im Neugriechischen die aus ihren türkischen
Benennungen Eeyovvrfjg und Toicpovrr¡g entstandenen Wörter ysyovvriá,
roicpovxr¡g, Toicpovxyí. Endlich werden sie als Lärmmacher verspottet, und
diese Bedeutung haben die sprichwörtlichen Ausdrücke oàv EßaaToi xávexs
oder oàv XaXöaloi xávexs 'sie machen's wie Juden (oder Chaldäer)', was
auch die Benennung xoicpovxijg bedeutet. Dieselbe Nebenbedeutung hat
das Wort yaßga 'Synagoge' in den sprichwörtlichen Ausdrücken êôco elvai
ydßga 'hier ist es zu lärmend', wie auch der Name ihres Geistlichen
y(ílá¡xr¡g.
VI. Türken. Seine Eroberer unterschied das neugriechische Volk
von sich hauptsächlich hinsichtlich der Religion. Deswegen umfasste es
unter dem Namen Tovqxol alle mohammedanischen Völker und hauptsäch-
lich die zwei grösseren, die Araber und die Perser. Die oben erwähnten
Benennungen der Araber Zagaxijvoi und 3Ayagr¡voí werden deswegen auch
für die Türken gebraucht. Als Hauptkennzeichen der Türken betrachteten
die Griechen ihren Fanatismus gegen die christliche Religion und be-
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
169
schimpften sie deswegen mit axvXXyx 'Hunde' oder JExvXXóxovgxoi 'Hunde-
türken'. Auf ihre Wildheit und Härte deutet die Benennung des scharfen
Essigs durch rovgxog im Neugriechischen. Als wildeste unter diesen werden
die Kurden, die Zirkassier (= ToegxéÇoi) und die in Kreta lebenden Türken
(= Tovgxoxgrjreg) angesehen. Berüchtigt wegen ihrer Grobheit aber sind
die Geschlechter der Koviágrjósg und riovgovxi]ôeg, woraus das Wort
yiovgovxrjg im Neugriechischen entstanden ist, welches 'ungeschickt' be-
deutet. Besonders hat das neugriechische Yolk die Härte und Willkür
der türkischen Soldaten schmerzlich empfunden, und deswegen sind auch
die Namen von verschiedenen Armeeabteilungen unvergesslich in dem Be-
wusstsein des Volkes haften geblieben. So sind die Wörter ysvkoagog
und yevnoagio/idg nach den Janitscharen jetzt gleichbedeutend mit 'Roh-
heit', âzÇovnàÔEç nach den Azapen werden in Kreta die bösen Geister ge-
nannt, vrarjg nach den Dais bedeutet einen Arroganten, vreXfjg nach den
Delis einen Tollen, und ßaoißov^ovxog, ßaoißovCovxio/uog nach den Basclii-
bosuks ist gleichbedeutend mit Ruine. Die verschiedenen Fehler der
Türken kennzeichnen die Griechen durch die türkischen Fremdwörter
¡iovgxáxr\g, '/ovvtovxr¡g, âojuovj7]g, junovgjuäg u. a. Ihre Schwelgerei wird auch
sprichwörtlich erwähnt. Besonders aber wird ihre Religion verabscheut
und als grosser Eid gilt Tovgxog (oder Movyafxexrjg} và mdàvœ 'wenn ich
mein Versprechen nicht halte, so will ich als ein Türke (oder Mo-
hammedaner) sterben'. Sie werden deswegen ebenso wie die Juden ver-
spottet, dass sie 'nicht sterben, sondern verrecken', und als ämoxoi 'Un-
gläubige' und oxarò ri]g Méxxag 'Mist von Mekka' beschimpft. Sie werden
ausserdem mit dem Spottnamen yovgovvo/,ivxr¡g 'Schweinsnasler' benannt
wegen der Volksüberlieferung, dass die Absicht Mohammeds, den Moses
nachzuahmen und mit List aus versteckten Schläuchen Wasser hervor-
springen zu lassen, durch die Schweine vereitelt wurde, die mit ihren
Rüsseln die Schläuche durchbohrten, und das Wasser während der Nacht
zum Auslaufen brachten. Der türkische Geistliche aber, der yóx^ag, spielt
in dem Bewusstsein des Volkes immer eine lächerliche Rolle. Endlich
werden die Türken von jeher vom Volke stark verachtet und immer nur
als provisorische Eroberer des Byzantinischen Reiches betrachtet, die aus-
schliesslich deswegen dazu gekommen sind, weil 'es Gottes Wille war,
dass Konstantinopel (provisorisch) türkisch würde', wie ein Volksgedicht
sagt. Das Volk hält unerschütterlich an dem Glauben fest, dass früher
oder später die Türken von den Griechen wieder aus Konstantinopel,
Brussa und Ikonium nach der Kóxxivrj Mrjhà 'Roter Apfelbaum (= Persien)'
verjagt werden, weil es ihm prophezeit wurde, dass 'nach Jahren diese
Städte wieder in unsere Hände fallen werden', wTie dasselbe Volksgedicht
besagt.
170
Buturas :
2. Griechen.
I. Nationalnamen der Griechen. Infolge der in verschiedenen
Epochen erfolgten Veränderung der Religions- und Lebensauffassungen
der griechischen Nation wurden auch ihre Nationalnamen gewechselt und
haben Anlass zum Spott gegeben. Es ist bekannt, dass nach dem Verfall
des Klassizismus und dem Siege des Christentums die Kirche dem Namen
EÂhjv die üble Bedeutung 'Heide' gegeben hat und dass die Griechen
ihren Nationalnamen gegen die Bezeichnung ihrer römischen Staatsange-
hörigkeit ausgewechselt haben und sich seitdem cPco¡j,oXol nannten. Während
der ganzen byzantinischen Periode, als die griechische Gesellschaft ihr
theokratisches Zeitalter durchlief und im Mittelpunkt ihrer sozialen
Fragen die Religionsangelegenheiten standen, wurde der Nationalname
1EÂbjveç der einer anderen Religionsauffassung huldigenden Arorfahren ver-
mieden und verspottet, wenigstens von der Kernmasse der griechischen
Nation, während einige ferngelegene Zweige eine Ausnahme machten, wie
z. B. Pontus, wo der alte Nationalname immer seinen Glanz be-
wahrt hat.
Als sich nun nach den Freiheitskämpfen der Brennpunkt der sozialen
Ideen verschob und den Griechen wieder der Glanz der alten Hellas vor-
zuschweben begann, nahmen sie den alten Nationalnamen wieder an. Und
da der bisherige Nationalname rPco¡uáioi—rPco¡uioí einerseits der fremden
römischen Herrschaft seinen Ursprung verdankte und anderseits an die
lange Türkenherrschaft und die nationalen Leiden der Griechen erinnerte,
nahm er allmählich eine üble Nebenbedeutung an und bezeichnet jetzt
spottweise jede schlechte Gewohnheit und jede Unordnung in dem neu-
errichteten griechischen Staat und der neubelebten griechischen Gesell-
schaft.
Ebenso hat auch der Name der byzantinischen Griechen Bv'Qavxivoi,
deren Kultur von den jüngeren Gelehrten zu Unrecht nach den jetzigen
Kulturzuständen beurteilt und folglich als rückständig betrachtet wurde,
eine üble Nebenbedeutung angenommen und drückt Rückständigkeit,
eitle Zeremonien und komplizierte bureaukratische Organisation im Staats-
wesen aus.
II. Öffentliches und privates Leben. Auch die Lebensweise der
Neugriechen gab Anlass zu allgemeinem oder gegenseitigem Spott. Da
wegen der langen Sklaverei unter den Türken und der langen Dauer des
Befreiungskrieges die finanzielle Lage ebenso des Staates wie auch der
einzelnen lange Zeit nicht eben günstig und blühend sein konnte, gab
sie Veranlassung zu allgemeiner Verspottung der Armut des Staates
durch lF<x)Qoxd)OTaiva 'krätzige Frau Konstantins' wie auch des Adels,
welcher, wie seine Titel, in Griechenland nicht anerkannt ist, durch
ipœooxôvTr]ç 'krätziger Graf', fa/ioxovrógog 'hungriger Graf' und À.ooôoxôcprr]ç
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
171
'der von grossem Hunger gepeinigte Lord11). Mit der Armut ist gewöhn-
lich auch die Unreinlichkeit verbunden, weswegen die Griechen sich selbst
mit dem Spottnamen xpsigoaxozcóvìjg 'Läusemörder' verspotten. Nur in
Mane werden die Bewohner in zwei Klassen geteilt, in Adelige, die
Niy.bávoi, und Unadelige, die &a/uéyioi. heissen. Bevor sich ein erheblicher
Teil des Landes der Schiffahrt, dem Handel und der Industrie zuwandte,
was ebenso für den Staat wie für die einzelnen eine Quelle finanzieller
Hebung und Veränderung der sozialen Verhältnisse war, beschäftigten sich
die Bewohner Griechenlands hauptsächlich mit Landwirtschaft und Vieh-
zucht, und die Bergbewohner unterschieden sich scharf von den auf dem
flachen Lande Wohnenden. Die Bergbewohner, stolz auf ihre Selbst-
benennung ßovvyoioi, welche die Nebenbedeutung der 'Stärke, Gesundheit
und Willenskraft' hat, betrachteten die anderen als schwächlich und un-
gesund, und diese Nebenbedeutung hat das Wort xctjurnjoiog im Neu-
griechischen, wie auch das Wort roónelog = xónslog in Messenien, womit
von den Bauern spöttisch die in der Stadt Lebenden bezeichnet werden.
So halten die Bewohner der Berge Pindos und Olymp die Thessalier für
geistig niedriger stehend als sie selbst. Die Bewohner der Berge von
Olympia verspotten die Bewohner der Triphyllia als schwerfällig und faul
unter dem Spottnamen ¡unaxaviágrjósg. Die Bewohner von Levadia werden
von den Bergbewohnern ¡-maxohßaöaeg, die Bewohner von Naxos von den
Bewohnern der Insel Tenos jujiaxova&wreg genannt. Ausserdem verspotten
die Bergleute die anderen als nicht so reine Griechen wie sie selbst, weil
sie sich angeblich mit den Türken, mit welchen sie verkehrten, ver-
mischten, weswegen sie auch als xovgxóonogoc 'Türkenprodukte' verspottet
werden. Anderseits verspotten die Bewohner der Städte und der Ebene
die Bergleute als arm, ungehobelt und grob und nennen sie spöttisch
ß/Ayoi. Die Bewohner von Triphyllia nennen ihrerseits die Berg-
bewohner von Olympia oxctojuéveg cpzégveg 'zersprungene Ferse' wegen
ihrer harten Lebensart. Die Armut der Bergleute von Arkadien wird ver-
spottet durch den sprichwörtlichen Ausdruck neiva Aohavirixirj, Kaoxgíxix,r¡
if'eTga 'Hunger von Doliana und Laus von Kastri (sind berühmt)', ebenso
wie die Altgriechen Ai/uoôcogieïg spöttisch gebrauchten. Die Bewohner des
Dorfes Kalamion in Attika, die sich von Feigenbrot nähren, werden mit
dem Spottnamen o(v)xofxdíó^ gehöhnt. Endlich hat auch die verschieden-
artige Tracht manchmal Anlass zu gegenseitigem Spott gegeben. So wird
die ßgaxa der Inselbewohner verspottet und werden diese von den Be-
wohnern des Festlandes spöttisch ßgaxocpogoi genannt, wie diese umgekehrt
die (fovoravéXla der anderen verspotten und sie :Agßavireg 'Albanesen'
nennen. Die Peloponnesier verspotten die Rumelioten durch naboxanóreg
lv Dieses Wort hat als erstes Kompositionsglied den Namen Ióqòoq 'Lord1 mit An-
spielung auf Xóoòa 'grosser Hunger', auf welches das zweite Kompositionsglied sich bezieht.
172
Buturas:
wegen der xanóra 'bäuerlicher Mantel' und letztere wieder die ersteren
durch xaxoovba wegen der spitzigen Kapuze, die sie an ihrem Mantel
haben.
III. Eigenschaften. Die Einfälle verschiedener barbarischer Völker
und dann die lange Knechtschaft unter den Türken hatten als Ergebnis
die Vernachlässigung der Wissenschaften und des Unterrichts und infolge-
dessen die ehemals in grossem Umfange anzutreffende Verbreitung von
Unwissenheit bei dem Volke. Selbst die Geistlichen, die immer mehr
oder weniger gebildet waren und für die Bildung des Volkes sorgten,
wurden oft als ungebildet verspottet. So verspottet ein Sprichwort die
Geistlichen, die nicht lesen konnten, durch aßißlog nan&g fieyákog xpevxrjg
'Ein Pfarrer, der keine Bücher kennt, ist ein grosser Lügner'. Viele Ver-
höhnungen gibt es für Geistliche, welche das Evangelium missverstanden
oder das für jedes Fest geeignete Stück nicht finden konnten oder den
Tag, wann diese gefeiert werden sollten, nicht wussten. Die Mediziner
wurden verspottet mit der Benennung xofxnoyiavvirrjg, was den Unwissenden
und zugleich den Betrüger bedeutet. Als Folge der Unwissenheit ward
die Dummheit verspottet, die in unbestimmter Weise verschiedenen Pro-
vinzialen zugeschrieben wurde, welche einst angeblich den Mond aus dem
Ziehbrunnen durch einen Haken zu ziehen versuchten oder Salz säten
oder eine Sardine in einen Käfig setzten, damit sie singe. Besonders
sind die Chioten Ziel derartigen Spottes, wie auch das Sprichwort
'Alle Chioten sind Narren, der eine weniger und der andere mehr1 be-
zeugt. Eine weitere Folge der Vernachlässigung der allgemeinen Bildung
waren verschiedene schlechte Eigenschaften, die jetzt manchen Landsleuten
spottweise zugeschrieben werden. So werden die Bewohner des Peloponnes
als Lügner und charakterschwach verspottet, welche Nebenbedeutung auch
ihr Name MwQaírrjg 'Peloponnesier1 hat. Die Bewohner von Naxos werden
als Diebe verspottet und Klecpratuoreg 'diebische Naxioten' genannt. Fast
in jeder Provinz gibt es ein oder mehrere Dörfer, deren Bewohner wegen
verschiedener schlechter Eigenschaften verspottet werden. Die Athener
und die Bewohner von "Agra werden als schlimm gebrandmarkt durch den
sprichwörtlichen Ausdruck 'Gott behüte dich vor einem Juden aus Saloniki,
einem Türken aus Euböa und einem Griechen aus Athen (oder Arta)'.
Die Bewohner von Kravara werden als Bettler verspottet, und das Wort
KQaßßaQixrjg hat diese Nebenbedeutung in der Sprache bekommen. Be-
sonders werden in dieser Beziehung die Kreter, die Manioten und die
Bewohner von Kephallonia verspottet, indem die Volksüberlieferung
zu erzählen weiss, dass 'der Teufel drei Kinder hatte, deren eines
sich in Mane, das andere in Kreta und das dritte in Kephallonia nieder-
liess'.
IV. Sprache. Besonders aber stammen die gegenseitigen Ver-
spottungen der Neugriechen aus der mundartlichen Einteilung der neu-
Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
173
griechischen Sprache. Diese Einteilung hat sich ganz natürlich vollzogen,
und diejenigen irren sich stark, welche sie als eine Folge der nationalen
Verhängnisse and die Mundarten als durch fremden Einfluss verdorben be-
trachten. Die nationalen Missgeschicke und besonders die Knechtschaft
unter den Türken haben bloss dazu beigetragen, die schnellere Vervoll-
ständigung, Bereicherung und Verbreitung der Gemeinsprache (.Koivr¡) zu
hemmen. Diese Tatsache ist auch die Hauptursache der jetzigen Doppel-
sprachigkeit in Griechenland, weil die Gelehrten des 17., 18. und 19. Jahr-
hunderts deswegen eine Schriftsprache aus der gelehrten Uberlieferung
einführten und die gesprochene Gemeinsprache vernachlässigten. Diese
existierte immer beim Volke, und es ist ein Irrtum, die Spielereien in
der Baßv/icovia des K. BvÇàvuoç ernst zu nehmen. Sie will nicht zum
Ausdruck bringen, dass es nach dem Befreiungskrieg in Griechenland
keine Gemeinsprache gab, sondern verspottet nur in grösserem Umfange
die Idiomatismen, wie dies jetzt noch manchmal hie und da verschiedene
Komiker in Griechenland tun. Diese Abweichungen von der üblichen
Norm verspottet das Volk ebenfalls, entweder allgemein oder speziell. Das
Volk, das seine Schriftsprache leicht zu verstehen wünscht, duldet keine
übertriebene Archaisierung derselben noch die Anwendung einer solchen
im gewöhnlichen Gespräch und verspottet beides als 'EUrjvixovgsg 'tiefes
und unverständliches Altgriechisch'. Da es seine Schriftsprache zu achten
gelernt und in dieser seine ganze Bildung gewonnen hat, kann es nicht
verstehen, was die Anhänger der Volkssprache wollen und verspottet sie
mit der Benennung [xalbaQol 'die Haarigen'. Diejenigen, die in einem
grossen Zentruni ihre Ortsmundart sprechen und sich den Regeln der
gemeiugriechischen Sprache nicht anpassen, werden als /uioóyXcooooi 'Halb-
sprachige" verspottet. Diejenigen, welche unverständlich oder gebrochen
sprechen, werden verspottet als ZxaQjiadi<x>TLxa 'die Sprache der Insel
Karpathos (die sehr idiomatisch ist)' oder als 'Eßgauxa 'Hebräisch' oder
KivéÇiy.a 'Chinesisch' oder 'AgßavivTixa 'Albanisch' oder 'AA.a¡urtovQvé£i>ca
'ganz verwirrt' sprechend. Diejenigen, welche grob und unfein sprechen,
werden mit ßM^og (s. oben) verspottet, diejenigen endlich, welche eine
schreiende Sprechweise haben, mit 'Eßgaiog oder XaXòaiog (vgl. oben).
Viel ausgedehnter sind die speziellen Verulkungen verschiedener Orte.
So wurden die Athener von verschiedenen Gelehrten und Reisenden
wegen ihrer stark idiomatischen Sprechweise getadelt. Das Idiom
von Kastellorizo wird von den Nachbarn, den Bewohnern von Livision
als juioi] tudà 'halbe Sprache' verspottet im Gegensatz zu dem ihrigen,
das jujiovTovv ¡udà 'ganze Sprache' ist. Fast in jeder Provinz werden
ein oder mehrere Dörfer Ziel des Spottes wegen ihrer ungewöhnlichen
Sprechweise. Allgemein wird verspottet die Sprechweise der Lesbier,
Zyprioten, Kreter, Tzakoner, Pontier und Kappadokier. Die nördlichen
Griechen, welche die unbetonten Vokale u und i ausfallenlassen, werden
174
Buturas: Neugriechische Spottnamen und Schimpfwörter.
als unverständlich sprechend verlacht durch den Ausdruck nl<h nlo
— novlá) nrjlò 'ich verkaufe Lehm', wo beide Wörter nach dem Ausfall
der Vokale gleich lauten; ebenso die Bewohner von Tenos, deren Mund-
art im Gegensatz zu denen der naheliegenden Inseln des Ägäischen Meeres
den nördlichen Sprachgesetzen folgt, von ihren Nachbarn durch jicmäg
slot r¡ nlaág 'bist du ein Geistlicher oder ein Füllen', was als von einem
Tenier gesprochen gemeint ist. Wegen der häufigen Anwendung des
Suffixes -élh für Hypokoristika in Lesbos werden die Lesbier spöttisch
juœgéllia xal natdelba genannt. Die Zakynthier werden verspottet wegen
des Suffixes -ta, das sie ohne Synizesis aussprechen, ebenso die Mainoten,
die deswegen scherzhaft naiòia xal Jiovlia genannt werden. Ebenso wurden
die Athener, die das Suffix -éa einst ohne Synizesis aussprachen, ver-
spottet durch agéa xal nlaxea. Die Anwendung des alten Suffixes -ovoi
und -aoi statt des modernen -ovv und -av wird verspottet besonders bei
den Mainoten durch av egfiovoi xal (pégovoiv ano xsìvo nov xgœyovoiv ol
yjovgoi xal Jiijôovot jurj ocooovoi xal èodovot ' ¡uà äv cpêgovoi ano xeìvo nov
TQcooiv ol âïïgwnoi xal Çoïoi xalcög và êgdovoi. Die Epiroten und West-
makedonier werden verspottet wegen des Suffixes der ersten und zweiten
Person Pluralis -a¡xav, -axav statt des gemeinen -ajue, -are. Diejenigen,
welche ro statt x aussprechen, werden spöttisch xoexoégrjôsg und xoóneloi
genannt.
Ebenso wird die häufige Anwendung mancher Wörter oder Aus-
drücke in verschiedenen Orten Griechenlands verspottet, so wegen der
häufigen Anwendung von ôgs (ovge) 'du, höre' in Rumelien und Epiros
diese Provinzen als xónog xov oge 'Ort des ore'. Solche häufigen An-
wendungen, über die man sich lustig macht, sind für Korfu yia/xa 'nun',
für Zakynthos /Àmia ¡uov 'meine Augen', für Attika xovjunáge 'mein Pate',
für Olympia xale 'mein Guter', für Chios oyovvovg 'o weh' und evxo 'dies
ist', für die ägäischen Inseln und besonders für Kreta elvxa 'was', für
Pontos 3xi 'nein'. Die ausserordentlich häufige Anwendung des Eigen-
namen Nióviog in Zakynthos hat dazu beigetragen, dass spöttisch jeder
Zakynthier Nióvwg genannt wird. Das häufige Yorkommen der Eigen-
namen Ilavxelrjg in Chios, Nixr¡xag in Syme und Mavólr¡g in Kreta wird
verspottet durch das Sprichwort onov Xviojrxòq Nixr¡xag xf onov Xumijg
Ilavxelrjg xf onov Kgrjxixog Mavcólr¡g 'wenn du jemanden aus Syme triffst,
der wird Ncxrjxag heissen, wie der aus Chios TIavxelrjg und der aus Kreta
Mavôhjç1.
Hierher gehören auch manche Verspottungen, die durch eine Art
von Volksetymologie zu anderen gleichlautenden Wörtern entstanden
sind, wie auch die Altgriechen den Namen 'OÇôlag aus o'Çco 'riechen'
und den Namen Ahwloi aus alxCo 'verlangen' herleiteten. So sind spöttisch
Aegog mit léga 'Schmutz', NàÇog mit âvàçiog 'unfähig', Aißgalog mit dig
cEßgaiog 'zweimal Jude', Xaoi<x>xr¡g mit %aoo¡Liégr¡g 'Faulenzer', Zrjxovvi mit
Hellwig: Misshandlung eines Gespenstes.
175
ÇrjTcb 'verlange', IláQog mit naÎQvœ 'nehme', Tfjvoç mit ôivco 'gebe' in Zu-
sammenhang gebracht worden, weshalb auch folgender Spottvers auf die
Geizhälze entstanden ist: Akv sljuai ano tt/v Tfjvo, yià va ôivco, sï/uai ano
Tìjv Ilágo, yià và nágco 'ich bin nicht aus Tenos, damit ich (etwas) gebe,
ich bin aus Paros, damit ich (immer) nehme'.
Athen.
Misshandlung eines Gespenstes.
Yon Albert Hellwig.
Der Gespensterglaube gehört zu denjenigen Formen des kriminellen
Aberglaubens, mit welchen sich der Kriminalist verhältnismässig selten zu
befassen hat, wenn man von den Prozessen gegen betrügerische Medien
absieht, da es sich hierbei um eine moderne Form des Aberglaubens
handelt, die zwar mit dem alten Volksglauben an Gespenster gewisse Be-
rührungspunkte hat, sich aber immerhin wesentlich von ihr unterscheidet.
Ähnlich wie der Hexenglaube kann auch der Gespensterglaube in
verschiedener Form vor das Forum des Kriminalisten kommen. Einmal
ist es nämlich möglich und kommt auch vor, dass der Gespensterglaube
von Betrügern, Dieben, selbst Falschmünzern usw. benutzt wird, um ihrem
unsauberen Handwerk ungefährdet nachgehen zu können; und auf der
andern Seite begehen die Gespenstergläubigen selbst infolge ihres Aber-
glaubens Handlungen, die sie mit dem Strafgesetz in Konflikt bringen.
Ein derartiger Fall, in welchem sich drei Gespenstergläubige wegen ge-
fährlicher Körperverletzung zu verantworten hatten, beschäftigte das
Schöffengericht zu Wasungen am 13. Februar 1907. Der Angeklagte
Wilhelm Bach wurde durch das Schöffengericht freigesprochen, die
beiden andern Angeklagten dagegen verurteilt, und zwar Adolf Bach
wegen gefährlicher Körperverletzung zu sechs Monaten Gefängnis und
Schellenberger wegen Beihilfe dazu zu einer Woche Gefängnis; beide
auch zur Zahlung einer Busse von 445,25 Mark an den Verletzten.
Gegen dieses Urteil legten die beiden Verurteilten Berufung ein und
beantragten ihre Freisprechung. Durch Urteil vom 11. Juli 1907 sprach
die 1. Strafkammer des Landgerichts Meiningen — Nr. 1 46/07 (37/07) —
Schellenberger frei, verwarf aber die Berufung des Adolf Bach.
Uber diesen sehr interessanten Fall habe ich vor Jahren schon auf
Grund von Zeitungsberichten über die Hauptverhandlung berichtet1). Ich
1) A. Hellwig, Ist Misshandlung eines Gespenstes strafbar? Archiv f. Kriminal-
anthropologie und Kriminalistik 31, 106ff.
176
Hellwig:
knüpfte daran einige Bemerkungen über die juristische Seite der Frage,
ob und unter welchen Voraussetzungen ein Abergläubischer, der ein Ge-
spenst, an das er glaubt, misshandelt, wegen vorsätzlicher Körperverletzung
bestraft werden kann. Die gleiche Frage hat im Anschluss an diesen
Fall auch Professor Reichel1) erörtert.
Leider ist es mir nicht möglich gewesen, die Akten zur Einsicht zu
erhalten, dagegen war der Herr Oberstaatsanwalt so liebenswürdig, mir
eine Abschrift des Urteils der Strafkammer zugehen zu lassen2). Ich muss
mich deshalb darauf beschränken, an Stelle einer aktenmässigen Dar-
stellung in folgendem nur den Auszug aus dem Urteil der Strafkammer
zu veröffentlichen; ich hoffe, dass dies aber auch genügen wird, um die
volkskundlich besonders interessanten Begleitumstände zu erkennen, und
um es uns zu ermöglichen, die juristische Frage, die sich an diesen,
meines Wissens bisher einzigartigen Fall anknüpft, auf sicherer Grund-
lage zu erörtern.
„Auf Grund des eidlichen glaubwürdigen Zeugnisses des Landwirts Bern-
hard Giinkel in Wasungen, der glaubhaften Angaben und des Gutachtens des
praktischen Arztes Meyer daselbst und des Augenscheins an der vom Zeugen
Günkel vorgelegten Laterne und an der von demselben vorgelegten Mütze in Ver-
bindung mit einigen Angaben des als Zeugen vernommenen Wilhelm Bock und
der beiden anderen Angeklagten ist folgender Sachverhalt für erwiesen zu er-
achten.
Am Abend des 31. Dezember 1906 waren die drei Angeklagten, der Ziegelei-
arbeiter König von Wasungen und mehrere Familienangehörige der Angeklagten
Bach in der Wohnung des Vaters der letzteren beisammen. Während der Unter-
haltung kam das Gespräch auf Gespenster- und Geistergeschichten, wobei die An-
geklagten bemerkten, dass sie nicht an Gespenster und Geister glaubten. Dies
veranlasste den König, eine eigene Wahrnehmung mitzuteilen; er erzählte, auch
im Wasunger Friedhof spuke ein Geist, jedesmal in der Neujahrsnacht um Mitter-
nacht erscheine dort in der Nähe ein Licht und gehe um; das habe schon der
frühere Turmwächter vor Jahren gesehen, und er habe es in den letzten Neujahrs-
nächten selbst wahrgenommen. Dies bestritten die Angeklagten, insbesondere
Adolf Bach, so dass König schliesslich zur Bekräftigung seiner Mitteilung erklärte,
er wolle ihm — Adolf Bach — 20 Liter Bier bezahlen, wenn das, was er gesagt
habe, nicht wahr wäre. Darauf beschlossen die drei Angeklagten und noch ein
Bruder und zwei Schwestern der Bachs, vor Mitternacht auf den Friedhof zu gehen,
um zu sehen, ob sich dort in der Nähe wirklich ein Licht zeigen würde. Kurz
vor 12 Uhr, bei klarem Mondscheine, dessen Helligkeit durch die Schneedecke der
Landschaft noch gesteigert wurde, begaben sich denn auch die genannten sechs
Personen, und zwar Adolf Bach mit einem Taschenrevolver, Wilhelm Bach mit
einem Stocke und der dritte Bach mit einem schweren scharfen Säbel versehen,
nach dem Friedhof. Als sie am Zaun angekommen, bemerkten sie auf dem hinter
dem Friedhof gelegenen Gebäude Licht. Die beiden Schwestern der Bachs gingen
infolgedessen wieder auf die Landstrasse, die in der Nähe des Friedhofes vor-
1) Arch. f. Kriminalanthropologie u. Kriminalstatistik 29, 344f. — 2) Inzwischen
sind mir die Akten doch noch zugänglich gewesen; über ihren weiteren Inhalt werde ich
im Arch. f. Kriminalanthropologie berichten.
Misshandlung eines Gespenstes.
177
tiberführt, zurück, die drei Gebrüder Bach und Schellenberger dagegen über-
schritten den Friedhof, stiegen über die Mauer ins Feld und gingen nach dem
Lichte zu. Als sie noch ein Stück davon entfernt waren, riefen sie: „Höh! Höh!"
und Adolf Bach gab aus dem Taschenrevolver zwei Schüsse in die Luft ab. Da
sich daraufhin niemand vernehmen liess, gingen sie weiter auf das Licht zu.
Dieses befand sich in dem von einer Hecke umschlossenen Garten des Zeugen
Günkel und kam von einer mit einem farblosen, die Flamme nach allen Seiten
durchleuchten lassenden, bauchigen Glaszylinder versehenen sogenannten Sturm-
laterne her. Diese trug Günkel in der an der Körperseite herabhängenden linken
Hand. Günkel war nämlich infolge eines alten Aberglaubens, dass Kreuzdorn-
zweige, schweigend in der Neujahrsnacht um 12 Uhr herum gebrochen und nach
Hause gebracht, gut gegen Krankheiten von Menschen und Vieh seien, in herge-
brachter Weise in seinen Garten gegangen und hatte, als es 1 2 Uhr geschlagen
hatte, Kreuzdornzweige gebrochen, um sie nach Hause zu bringen; die Laterne
hatte er trotz des hellen Mondscheines mitgenommen, um beim Brechen der
Zweige in die Kreuzdornhecken zu leuchten, damit er sich nicht an den Dornen
verletze. Bekleidet war er mit einem dunklen Anzüge und einer Arbeitsschürze,
und auf dem Kopfe trug er eine dunkelgrüne Mütze, vermummt war er nicht. Da
infolge des Läutens der Glocken in den umliegenden Ortschaften und der Neu-
jahrsrufe, die er aus der Stadt hörte, eine feierliche Stimmung über ihn ge-
kommen war, verweilte er, nachdem er die Zweige gebrochen hatte, noch einige
Zeit in seinem Garten. Plötzlich hörte er zweimal Schiessen und Leutestimmen,
insbesondere „höh höh" rufen, und bemerkte aus der Richtung, aus der die
Stimmen herkamen, mehrere Personen über das vor seinem Garten gelegene Feld
kommen. Er kümmerte sich nicht weiter darum, sondern hörte weiter auf das
Läuten der Glocken. Plötzlich sah er ganz nahe vor sich einige männliche Per-
sonen auftauchen und erhielt unmittelbar darauf, ohne dass jemand etwas zu ihm
gesagt hatte oder er etwas hat sagen können, zwei bis drei starke Hiebe über den
Kopf. Infolgedessen stürzte er zusammen. Daliegend rief er: „Was schlagt ihr
mich denn!" und hielt zum Schutze gegen weitere Hiebe seinen linken Arm mit
der Laterne empor. In dieser Lage erhielt er weiter noch mehrere Hiebe auf den
linken Arm, die linke Hand und auf den Kopf. Dann wurde von ihm abgelassen.
Aber als er nun den davonlaufenden Personen nachrief : „Ich kenne euch!" drehte
sich einer von ihnen um, kam einige Schritte zurück und sagte: „Wenn du nicht
ruhig bist, so steche ich dich tot!" — Die Personen, die an Günkel herange-
kommen waren, waren die drei Angeklagten, die durch eine Lücke in der Hecke
neben dem Tor in den Garten eingedrungen waren. Der dritte der Gebrüder
Bach war nicht mit in den Garten gegangen, vielmehr vor der Hecke stehen-
geblieben. Yon ihm hatte sich vorher Schellenberger den Säbel, den er mitge-
nommen hatte, geben lassen. Kaum waren die Angeklagten in den Garten ge-
kommen, als der Angeklagte Adolf Bach, der einige Schritte voraus war, zu
Schellenberger zurückging und ihm mit den Worten: „Gib doch mal das Ding
her, ich will mal sehen, ob's ein Mensch oder ein Geist ist", den Säbel aus der
Hand nahm. Mit diesem ging nun Adolf Bach auf den Träger des Lichtes los
und schlug auf ihn ein, liess auch auf den von ihm gehörten Ruf des, wie er
sah, nach den ersten Schlägen hingestürzten Laternenträgers: „Was schlagt ihr
mich denn?" sich nicht abbringen, noch weiter auf ihn loszuschlagen. Er war es
auch, der nach dem Rufe Günkels: „Ich kenne euch!" sich umwandte und die
obengenannte Drohung ausstiess. — Durch die Schläge mit dem Säbel wurden
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2. 12
178
Hellwig :
nach Durchtrennung der Mütze und des linken Rockärmels an verschiedenen
Stellen dem Günkel folgende Verletzungen beigebracht:
a) Durch drei Schläge wurde auf dem Hinterkopf an drei Stellen die Kopf-
haut oberflächlich durchtrennt.
b) Durch einen über die rechte Gesichtsseite geführten Hieb wurden Haut
und Muskeln vom Schläfenbein zur Mitte der Backe bis auf den Knochen durch-
schlagen.
c) Durch drei über den hinteren Vorderarm geführte Schläge wurden die
Muskeln auf der Streckseite gleichfalls bis auf den Knochen durchtrennt, durch
einen von ihnen wurde das Ellenbogengelenk freigelegt und durch einen andern
die Ellenschlagader durchschnitten.
d) Durch einen Hieb über die linke Hand wurde das mittlere Gelenk des
kleinen Fingers durchtrennt bis auf die Kapsel.
e) Durch einige flache Schläge wurden auf dem linken Oberarm einige un-
blutige, aber blutunterlaufene Muskelschwellungen verursacht.
Sämtliche Wunden sind wieder gut geheilt und vernarbt, nur der verletzte
kleine Finger bleibt dauernd steif, so dass er zum Arbeiten nicht mehr ordentlich
verwendet, insbesondere nicht zum umfassen von Gegenständen gebraucht werden
kann. — Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Angeklagte Adolf Bach, als er
auf Günkel in der geschilderten Weise losschlug, gewusst hat, dass er in dem
Träger des Lichts einen Menschen vor sich hatte. Denn es war sehr hell, wie
der Angeklagte selbst in der Hauptversammlung erklärt hat, „beinahe so hell wie
jetzt," also fast tageshell, so dass er in dem Laternenträger, der gewöhnliche
dunkle Kleidung trug, sich also von dem schneebedeckten Boden scharf abhob,
einen Menschen hatte erkennen müssen. Diese Wahrnehmung hat er um so mehr
machen müssen, als er sah, dass infolge der ersten zwei bis drei Schläge der
Laternenträger zu Boden fiel, und erhörte, dass dieser rief: „Was schlagt ihr mich
denn!" Auch aus der von ihm ausgestossenen Drohung: „Wenn du nicht ruhig
bist, erschlage ich dich!" geht klar hervor, dass er gewusst hatte, einen Menschen
zu schlagen. Die Angaben des Angeklagten Adolf Bach, er habe, weil die Laterne5
die seiner Meinung nach eine Blendlaterne gewesen sei, ihm von deren Träger in
Gesichtshöhe entgegengehalten und er dadurch geblendet worden sei, nicht er-
kennen können, wer die Laterne gehalten habe, ob ein Mensch oder ein Geist,
und er habe das letztere angenommen, da auf seinen Anruf: „Bist du ein Mensch
oder ein Geist? Bist du ein Mensch, so antworte," keine Antwort erfolgt sei;
diese Angaben erscheinen daher ganz unglaubwürdig.
Hiernach ist festzustellen, dass der Angeklagte Adolf Bach zu Wasungen am
1. Januar 1907 den Landwirt Günkel daselbst vorsätzlich mittels einer Waffe körper-
lich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt hat.
Nicht dagegen ist festzustellen, dass der Angeklagte Schellenberger dem Adolf
Bach zur Begehung der Körperverletzung durch die Tat wissentlich Hilfe geleistet
hätte, indem er diesem zum Zwecke der Misshandlung den Säbel gegeben hätte,
wie ihm durch Anklage und Eröffnungsbeschluss zur Last gelegt ist und wie das
Schöffengericht für erwiesen erachtet hat.
Denn nach den übereinstimmenden Angaben der Angeklagten Adolf Bach und
Schellenberger und nach den von ihnen dem Gericht vorgeführten Bewegungen,
die ersterer gemacht hat, um den Säbel in seinen Besitz zu bekommen, hat
Schellenberger dem Bach den Säbel nicht gegeben, sondern dieser hat nach der
Hand des ersteren gegriffen, den Säbelgriff erfasst und mit der oben angeführten
Misshandhmg eines Gespenstes.
1-79
Bemerkung den Säbel mit einem Ruck weggenommen, ohne dass Schellenberger
eine hinreichende Bewegung gemacht hat.
Es ist daher der Angeklagte Schellenberger freizusprechen, und mithin das
angefochtene Urteil, soweit es ihn betrifft, aufzuheben. Dagegen ist der Ange-
klagte Adolf Bach auf Grund des § 223 a StGB, zu verurteilen, wie dies das
Schöffengericht getan hat. Die von diesem ausgesprochene Strafe erscheint mit
Rücksicht auf die Roheit der Tat, die erheblichen, beinahe lebensgefährlichen
Verletzungen und auch die Vorstrafen des Angeklagten wegen gleicher Vergehen
keineswegs zu hoch, vielmehr gering. Da der Verletzte in gesetzlicher Weise die
Zuerkennung einer Busse beantragt hat, hat ihm das Schöffengericht eine solche
auf Grund des § 231 StGB, mit Recht zugesprochen. Gegen den zugesprochenen
Betrag von 444 Mark 25 Pfennig hat der Angeklagte für den Fall seiner Ver-
urteilung zur Strafe keine Einwendung erhoben, und besteht gegen ihn auch aus
den im angefochtenen Urteil angeführten Gründen, die das Berufungsgericht auf
Grund derselben Feststellungen zu den seinen macht, kein Bedenken. Die Be-
rufung des Adolf Bach ist daher zu verwerfen."
Mit einigen Bemerkungen sei es gestattet, auf die volkskundliche
und juristische Seite dieses Prozesses noch ein wenig näher einzu-
gehen:
Was zunächst das volkskundlich Interessante anbetrifft, so können
wir vor allem darauf hinweisen, dass der Prozess ein neuer Beleg dafür
ist, dass der Gespensterglaube, auch wenn man von seiner modernen Form,
dem Spiritismus, absieht, im Volke noch lebendig ist.
Wenn die drei Angeklagten auch erklärt hatten, sie glaubten nicht
an Gespenster und Geister, und wenn auch das Gericht offenbar davon
ausgegangen ist, dass sie den Misshandelten für ein Gespenst nicht ge-
halten haben, so steht doch jedenfalls fest, dass König des festen Glaubens
war, es gebe Gespenster und Geister. Es will mir sogar scheinen, als
seien auch die Angeklagten vom Gespensterglauben keineswegs frei ge-
wesen. Es wäre sonst kaum verständlich gewesen, weshalb sie sich sämt-
lich bewaffnet hätten, als sie um mitternächtliche Stunde zusammen den
Friedhof aufsuchten. Man könnte allerdings gerade die Mitnahme von
Waffen dafür anführen, dass die Angeklagten an Gespenster nicht ge-
glaubt hätten; doch würde dies fehlgehen, da auch sonst uns aus dem
Volksglauben bekannt ist, dass man Gespenster, trotzdem sie keine
Menschen von Fleisch und Blut sind, doch auf recht irdische Weise durch
Waffengewalt vertreiben kann. Für die Annahme, dass die Angeklagten
den Günkel für ein Gespenst gehalten haben, spricht auch, dass sie ihn
vorher angerufen haben und angeblich gerade aus seinem Schweigen den
Schluss gezogen haben, dass es ein Gespenst sei. Man glaubt in der Tat,
dass Geister auf derartige Anrufe sich schweigend verhalten. Dass
Günkel von einem derartigen Anruf nichts gehört haben will und sicher-
lieh auch nichts gehört hat, kann die Angabe der Angeklagten m. E.
nicht entkräften, da Günkel einmal seine Aufmerksamkeit auf ganz etwas
12*
180
Hell wig:
anderes lenkte, die Äusserung der Angeklagten also auch aus diesem
Grunde leicht überhört haben kann, und da ausserdem ja gerade die
Glocken läuteten.
Wenn Günkel auch nach den Feststellungen des Urteils in seiner
Kleidung nicht dem entsprach, wie man sich ein Gespenst vorzustellen
pflegt, so ist damit doch nicht ausgeschlossen, dass er von den Angeklagten
für ein Gespenst gehalten worden ist. Denn es kommt nach dem Volks-
glauben auch vor, dass der Teufel, Dämon oder Gespenster Menschen-
gestalt annehmen. Endlich spricht gegen die Angeklagten nicht unbedingt
die Äusserung, die sie auf die Bemerkung Giinkels hin taten, er kenne
sie und werde sie anzeigen; denn diese Äusserung ist erst erfolgt, nach-
dem die Misshandlungen schon beendet waren. Wenn es nun auch mög-
lich, ja sogar wahrscheinlich ist, dass sie nach erfolgter Misshandlung des
Günkel diesen erkannten, so ist damit natürlich noch nicht dargetan, dass
sie auch schon im Momente der Misshandlung sich bewusst waren, einen
Menschen vor sich zu haben, nicht ein Gespenst.
Aus diesen Gründen scheint es mir — soweit man auf Grund des
mir ja allein zur Yerfügung stehenden Urteils sich über diese Frage ein
Urteil überhaupt bilden kann — keineswegs als ausgeschlossen, dass
Günkel von den Angeklagten im Momente der Körperverletzung für ein
Gespenst gehalten wurde.
Interessant ist andererseits vom volkskundlichen Standpunkt aus, dass
Günkel nach altem Volksglauben alljährlich in der Neujahrsnacht still-
schweigend sich Kreuzdornzweige holte, in dem Glauben, dass diese bei
allerlei Krankheiten dienlich seien.
Was nun die juristische Betrachtung anbelangt, so ist es für sie
von ganz wesentlicher Bedeutung, ob wir mit dem Urteil davon aus-
gehen, dass die Angeklagten zur Zeit der Körperverletzung gewusst
haben, dass sie auf einen Menschen losschlugen oder ob man es für
wahrscheinlich oder doch für nicht widerlegt erachtet, dass sie den Günkel
zur Zeit der Misshandlung für ein Gespenst gehalten haben.
Geht man von der ersten Voraussetzung aus, so liegt die Sache
einfach, da dann daran nicht zu zweifeln ist, dass es sich um eine vor-
sätzliche Körperverletzung handelt. Dies ist auch der Standpunkt des
Urteils.
Schwieriger ist die Frage, wenn man davon ausgeht, dass die Ange-
klagten des Glaubens waren, ein Gespenst zu misshandeln. Wie ich
schon früher ausgeführt habe, kann in derartigen Fällen m. E. von einer
vorsätzlichen Körperverletzung gar keine Rede sein, da diese nur dann
vorliegen kann, wenn sich der Täter bewusst ist, dass er einen Menschen
misshandelt. Glaubt man aber an Gespenster, so ist man der Über-
zeugung, dass dies Menschen jedenfalls nicht seien. Hieraus ergibt sich
ohne weiteres, dass Handlungen, welche der Abergläubische als Angriff
Misshandlung eines Gespenstes.
181
auf Gespenster auffasst, als Körperverletzungen in seinem Yorsatz nicht
aufgenommen werden. Es handelt sich in solchen Fällen zwar objektiv
um Körperverletzungen, doch kann dem Abergläubischen gemäss § 59 StGB,
diese Körperverletzung nicht zugerechnet werden, da er sich dessen nicht
bewusst gewesen ist, dass er einen Menschen verletzte.
Nach dieser Richtung hin unterscheiden sich die Misshandlungen an-
geblicher Gespenster wesentlich von den Misshandlungen angeblicher
Hexen. Während bei ersteren, wie bemerkt, eine vorsätzliche Körper-
verletzung nicht in Frage kommen kann, ist sie bei Misshandlungen von
Hexen stets gegeben. Im Gegensatz nämlich zu Gespenstern werden die
Hexen und Zauberer im Volksglauben auch für Menschen gehalten, aller-
dings für Menschen, die besonderer Zauberkräfte teilhaftig sind; dadurch
scheiden die Hexen und Zauberer aber noch nicht aus der Kategorie der
Irdischen aus und werden noch nicht zu überirdischen Erscheinungen, wie
es Gespenster und Geister nach dem Volksglauben und dem ihm analogen
Glauben der Spiritisten sind.
Wenn wir mithin, von jener Voraussetzung ausgehend, eine vorsätz-
liche Körperverletzung der Angeklagten nicht für gegeben erachteten,
so würde damit doch noch nicht gesagt sein, dass die Tat der Ange-
klagten strafrechtlich überhaupt gleichgültig wäre. Es kommt nämlich
in Frage, ob in der Misshandlung eines Gespenstes nicht eine fahr-
lässige Körperverletzung liegt. Soviel lässt sich jedenfalls sagen, dass
unter Umständen ein Abergläubischer, der ein Gespenst misshandelt oder
ein Gespenst tötet, sich wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahr-
lässiger Tötung wird verantworten müssen; andererseits kann man sagen,
dass nicht in allen derartigen Fällen eine dem Abergläubischen zuzu-
rechnende Fahrlässigkeit gegeben sein wird. Wann der Abergläubische
wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung wird be-
straft werden können und wann dies nicht der Fall ist, wird auf die Um-
stände des einzelnen Falles ankommen. Es ist dabei zu berücksichtigen,
dass der Abergläubische bei Anwendung der gehörigen Sorgfalt hätte er-
kennen können, dass er es im konkreten Falle mit einem Gespenst nicht
zu tun hatte.
Ob in dem vorliegenden Falle die Angeklagten fahrlässig gehan-
delt haben, lässt sich auf Grund der festgestellten Tatsachen schwer
entscheiden. Wenn man davon ausgeht, dass sie gespenstergläubisch
waren, wenn man berücksichtigt, dass sie von König erfahren hatten,
schon mehrere Jahre habe sich in der Neujahrsnacht das Gespenst mit
einem Lichte gezeigt, wenn man bedenkt, dass sie auch diesmal wieder
das Licht sahen, wenn man beachtet, dass sie Warnungsschüsse abgaben,
und dass sie ihrer wohl kaum widerlegten Angabe nach das Gespenst zu-
nächst anriefen, eine Antwort nicht erhielten und daraus gemäss ihrem
Aberglauben entnehmen mussten, dass es sich tatsächlich um ein Gespenst
182
Hell wig: Misshandlung eines Gespenstes.
handle, so wird man kaum sagen können, dass sie bei Anwendung ge-
höriger Sorgfalt hätten erkennen müssen, dass Günkel ein Mensch
und nicht ein Gespenst sei. Wenn man allerdings andererseits bedenkt,
dass heller Mondschein war, dass Günkel nichts Gespensterhaftes an
sich hatte und dass auf ihn auch dann noch losgeschlagen wurde, als
er zu schreien begann, so wird es wiederum zweifelhaft, ob die Ange-
klagten nicht hätten erkennen können, dass sie einen Menschen miss-
handelten und nicht ein Gespenst; das, was an konkreten Tatsachen uns
bekannt ist, lässt m. E. also eine hinreichend sichere Beantwortung dieser
Frage für den konkreten Fall nicht zu. Im allgemeinen aber möchte ich
noch bemerken, dass der Gespensterglaube an sich m. E. niemals als ein
fahrlässiges Verhalten des Betreffenden angesehen werden darf. Denn
wenn es auch uns, die wir nicht abergläubisch sind, so scheinen will, als
müsse doch jeder nicht gerade geistesschwache Mensch bei Anwendung
gehöriger Sorgfalt sich davon überzeugen können, dass es Gespenster
nicht gäbe, so ist in Wirklichkeit die Sache doch nicht so einfach, was
auch derjenige, der mit der Macht des Aberglaubens und mit seinen
psychologischen Vorbedingungen nicht hinreichend vertraut ist, doch dar-
aus wird ersehen können, dass sich der Aberglaube, insbesondere auch
der Gespensterglaube, keineswegs auf die ungebildeten Kreise beschränkt;
auch zahlreiche akademisch Gebildete, selbst Gelehrte von Weltruf, zählen
oder zählten zu den Anhängern des Spiritismus und Okkultismus. Wenn
selbst solche Persönlichkeiten, denen man im allgemeinen doch eine hin-
liinreichende Urteilsfähigkeit wird zutrauen müssen, sich aus dem Banne
des Aberglaubens nicht vermocht haben freizumachen, so wird man es
ungebildeten Leuten sicherlich nicht zum Vorwurf machen dürfen, wenn
es ihnen nicht gelingt, die Unhaltbarkeit ihrer abergläubischen Vor-
stellungen zu erkennen. Dessen muss man sich immer bewusst bleiben,
wenn es sich darum handelt, die Handlungsweise eines Abergläubischen
strafrechtlich zu bewerten.
Berlin-Friedenau.
Müller: Kleine Mitteilungen.
183
Kleine Mitteilungen.
Nachbarreime aus Obersachsen.
(Vgl. 24, 90—94)
B. Nachbarreime gegen mehrere Personen.
3G. Bei Richtern homse e böses Haus, da treibt dr Wind de Schoben
(Strohdach) naus.
Renger hat ein böses Kind, und durch die Schoben pfeift der Wind.
(Hainewalde b. Zittau.)
37. Dreimal drei is neune, Schimch (= Schönbach) ging a de Scheune,
Hohlfeld trieb die Pferde aus, Schimch dar macht an Narren draus.
(Sohland a. d. Spree.)
38. Kowarjowa konja kowa, Smisowa tarn na nju wola.
(Die Schmiedin beschlägt die Pferde, die Schmeißin ruft ihr zu.) (Radibor.)
39. Solta jëdze z Laza do kholow so Zmaza
prindze pódla Wrobelec, Wróbl praji: Solta,
twoja rie je zolta!
(Schulze kommt aus Lohse, versudelt sich die Hose,
kommt bei Sperlingsdamm vorbei. Sperling sagt: Schulze, ei,
dein Hinterer ist gelbe.) (Radibor.)
40. Grahl wohnt im Winkel, und Liebsheim sieht kein Finkel
(= kein bisschen). (Mühlbach.)
41. An Kratsclien (Kretscham, Wirtshaus) schlachten se a Kalb, Olbert dar
nemmt's holb,
Rudolph nemmt's Gekriese, der Poster spricht: 's schmeckt biese.
(Jonsdorf, Oberlausitz.)
42. Rätz's Hanne is schneid'g, Heng's (= Hennigs) Honne is geiz'g,
Kaisers hon a engs Schüppel (Schuppen), Woiners Klenns (Wagners Kleines) hon ka
Hühnertippel. (Cunewalde, Oberlaus.)
43. Der Kaiser leeft am Bachrand rim, der König der fährt Apun rim,
der Herzog der is abgebrannt, und seine Frau is fortgerannt.
(Großschönau, Oberlaus.)
44. An Hiibel schlachtens a Kolb, Zimmer nimmts holb,
Schramms nahms Geschlinke und hangs 'n Backen an de Klinke.
Schubert Arnst nimmts Gekriese, Wendlers Körle spricht: 's schmeckt biese.
Filvs hon a enges Gassei, Ochsefriedeis hon ka Ziegefassel. (Cunewalde.)
Müller:
45. N schlacht a Kolb, O dar nimmts holb,
P nimmts Gekriese, Q spricht: 's schmeckt biese.
R nimmt cle Plauze und heb's 'n im de Schnauze. (Oberlaus.)
46. Genau so, nur 4. — und hebt se Gottin im de Schnauze.
(Oberkunnersdorf, Oberlaus.)
47. Alberschiobel schlacht an Hund, der gab dr Frölch'n o a Pfund.
Müllerschuster kriegts Gegriese, Schneiderschgottlieb sagt: 's schmeckt biese.
Jahnlobl kriegt de Plauze, der hieb se Siegfriedn im de Schnauze.
(Ebersdorf, Oberlaus.)
48. Fahrig schlacht e Kalb, der Pastor der kriegt's halb,
Ulbricht kriegt's Gekröse, und Schlegel der is böse. (Hermsdorf b. Rochlitz.)
49. Wauer aus dem Grunde, Belger mäst't de Hunde,
Hase hat e huch Haus, Grafs Priedel schäßt zum Fenster naus.
usw. (Forts, unbekannt). (Bischdorf b. Löbau.)
50. Dokters schlachten e Kalb, Körners kriegens halb,
Kartens kriegens Gekröse, Hahns sind darum böse,
de Kretschmarn guckt zum Fenster raus, Stocks* denken, 's is ne Fledermaus.
(Kohren.)
51. Der Goldschmied schlacht a Kalb, Eger nimmt's halb,
Schneider nimmt's Geschlinke, hängt's ba Micheln a de Klinke,
Köhler guckt zum Fenster raus, Dreßler treibt de Frôe ims Haus.
(Spitzkunnersdorf, Oberlaus.)
52. Bei Benndorfs an der Ecke, Dietels flicken Säcke,
Grauls ham e großes Haus, Kretschmar macht sich garnichts draus.
Bühnau hat ein'n großen Garten, Vogtländer müssen die Kinder warten,
Staude hat e schlechtes Haus, bei Kretschmarn guckt der Kobold raus.
(Brandis b. Leipzig.)
53. Der Hartmann is e grober Maa, der alte Tülle Kerling hat e
Buckeln dra,
und der Fritschaugust der führt en großen Eang, und bei der Pollackmathilde
da stehts an Schrank.
Der Gräßler der hot de Habergritzenmühl und der gibt den Bettlern net viel.
(Rittersgrün i. Erzg.)
Auf Bewohner von Glauchauer Strassen:
54. Mätersch schlachten e Kalb, Wernersch kriegens halb,
der Hertsch der kriegt's Gekriese, der Landgraf wird sehr biese,
der Ebersbach guckt zum Fenster naus, bei Heinzes is großer Kaffeeschmaus.
Der Erler hat ne Metze, der Braune hat ne Petze (Hündin),
der Blei verkauft gute backne Birn, der Blechschmidt aber Helfenzwirn.
(Glauchau.)-
55. Bei Saigern schlachten se e Kolb, bei Püschen nahm se's holb,
bei Friedrichen nahm se's Geschlinke, se hängs bei Bairigen a de Klinke,
der Sçhuster wullts ne leiden, do müßt's Körle wegschneiden.
Ben Vurstande hatten se's Gekriese, dr Bäcker soite 's schmeckt biese.
(Ebersbach b. Löbau.)
Kleine Mitteilungen.
185
Auf die Häusler des Ortsteils Schneidenbach bei Sohland a. d. Spr.
56. Fischer schlacM't e Kalb, dr Bäcker nahm's halb,
Hans Aden nahm's Gekröse, Liebsch sagt: das schmeckt böse.
Eckardt der bäckt Haferbrot, Christophe hat keene Not,
Schmarrn weist den Weg, Schulze frißt den Dreck,
Eisert sitzt auf dem Berge, Thonig niest auf die Quärge,
Wemmanns Jahns is e alter Man, Haarig is der Kapphahn.
(Sohland a. d. Spr. Pilks Sammlung.)
57. Horsts schlachten e Kalb, Wingers kriegen's halb,
Richters kriegen's Gekriese, Secherminne wird biese,
Vogts Vater hat en dicken Bauch, Obenaus guckt zum Bornloch raus,
Obenaus is e braver Mann, Baßchensbauer mag die Frau nich han,
Hjns ham en grüßen Huf, Wendchens Vater gieht seegen (= pissen) druff,
Kaichens backen weißes Brut, Schmiederhasens schlân die alten Weiber tut,
mir wohn'n an der Ecke, der alte Kunze flickt de Säcke.
(Priestewitz b. Meißen.)
58. Mibs (Möbius) wohnt an der Ecke, Gastschuster der flickt Säcke,
Dietrich guckt zum Fenster raus, der Schmieder macht sich garnischt draus.
Sammig hat an lächr'gen Hut, Teich'n schmeckt der Tabak gut,
Haub'l'd hat viel Kinger, Biehme is der Läuseschlinger,
Schuster schlät den Uchsen tut, Glambrich spricht: Guttschwereuut.
(Churschütz b. Lommatzsch, um 1870 bek.V
59. Großenernst wohnt in der Ecke, Schulzenmelcher flickt de Säcke,
Hanschrist säuft den Kaffee aus, Quaaslob guckt zum Fenster raus.
Moosdorf hat ne schiene Schäcke (Kuh), Großenlob der sitzt im Drecke,
Soms hom e schie Gescherre, Klugenfriedrich wird de Fro nich herre.
Jakobs schlachten e Kalb, Ebers kriegens halb,
Ehrlichs lob's Gekriese, Heimeremil wird drieber biese. (Terpitz b. Kohren.)
60. Vogtsgottlieb sclilacht a Kalb, Schreiber nimmt's halb,
Schenker nimmt's Gekriese, Palmer spricht: 's schmeckt biese.
Schimbch is a ormer Mon, Klix dar kreucht zur Frôe ro,
Barth-das is dar Basenbinder . . .?
ba Hinliche treiben se 'n Teifel ins Haus, ba Grunerten beißen se de Tischecke o,
ba Hantsche schreit der Kikerikihohn, Wahrgüttier (Güttier am Wehre) is a
aler Mon,
Wolf dos is a bieser Hohn . . .?
ba Wulfe gihts gor feine zu, ba Ritge stuppen se de Mäuselöcher zu,
Ritg dos is a Bohnorbeiter, Weise is der Eirichtemôn,
ba Richtern lussen se'n Zug arbei, a dr Ziegelei lussen se de Siffliche (Süffel) rei.
(Neufriedersdorf b. Löbau.)
61. Sachsens wohn'n in der Ecke, Schönfelds flicken Säcke,
Schlegels backen Weißbrot, Strobel hat die Kindernot,
Petzold hat en großen Hund, A e verliert den Hosenbund,
Scheibe hat ene große Scheune, Wickert guckt zun Fenster raus,
die Krebsen hat e großes Haus, de Kühn' macht sich nichts daraus.
62. Dr Montag hot no viel zu hufen, be Kerns do is de Kotz ersuff'n,
be Neugartners hon se keene Kinder, Mälzer is a Weiberschinder,
be Eiselts is dr weise Rot, be Herrmanns is dr Advukat,
be Karassürs is a enges Gassei, Gokschtrauguk ho kee Ziegenfassel.
(Weigsdorf, Bez. Bautzen.)
Müller:
63. Wolf is dr Hundebauer, und Blaasche is dr Grußbauer,
und Donath is dr Hasenbauer, und Winkler hat a Grußpferd,
und Liebscher dar is ganz aalt ... ?
Gitterschgirge hot zwee weiße Schimmel, un Bascheliansgörge fährt an Himmel,
Grohe hot a grüß Haus, bei Richter gucken de Meise zun Fenster raus.
(Niederfriedersdorf, Oberlaus.)
G4. Köhler is der Tagewähler, Baukelts Junge wird immer schlechter,
ba Eisoltn da is miserabel, ba Mühin assen se all mit dr Gabel,
ba Exnern assen se lauter Quark, Gulich dar is gor ne stark,
ban Schuster roochen se lauter Schwartel, Clemense die han a schie Gartel,
der Mitterbäcke bäckt schie Brut und Tietze dar sieht aus wie dr Tud.
(Spitzkunnersdorf, Oberlaus.)
65. Streubel schläft bis um sieben, Seidel frißt ne Rübe,
Sonntagens kochen Ebernbrei, Pöge schläft bei'n Pferden ei,
Wagner hat zwee große Ochsen . . .?
Hankens fahrn bis nach Mutschen, Richter muß aufm Arsche rutschen,
Zimmermann hat ein großes Haus, die Schön guckt zum Fenster raus,
Niese der is garnich dumm, Kern der mahlt das ganze Korn,
Brinschwitz fährt mit'n Luftballon, Lehmanns hab'n en kleenen Jung'n.
(Kühren, Bez. Grimma.)
66. In der Uchsenmühle gihts klipp klapp, bein Fleescher gihts schnipp
schnapp,
bei Bernerts werd der Quark ni sauer, der Zimmer is a grußer Bauer,
Gritzners sinn de Hihnerspitze, bei Bienertshernnann is de Frau nischt nitze,
de Guttermiene hot drackge Beene, bei Bars do is der Monn alleene,
der Brachmann is e Distlkupp, der Mendenhelf is recht grub.
(Dorfhain. Bruchstück.)
67. Hampels Christoph dar hot dn Hut uf dr Seite, dr Erbrhampel hot de
Frau uf dr Weide,
de Katherin macht grüße Bissen, Wenchs Guttlieb will vili wissen,
Rudolfs Körle giht mit der Flinte aus, dr ale Rudolf fällt mit der Frô as
Haus,
ba Tim han se ock ene Könne, ba Echlern hon se ene schine Honne.
(Eibau, Oberlaus.)
68. A wohnt in der Ecke, B's flicken Säcke,
C's backen Weißbrot, D hat keene Not,
E hat en klen Garten, F muß de Kinder warten,
G hat kee Taubenhaus, H guckt zum Fenster raus,
I hat en grauen Bart, J . . . ?
K hat Ratten in der Kammer, L schlät sie mit'n Hammer,
M is e guter Mann, N hat graue Hosen an,
O's haben viele Kinner, P haben bloß drei Hinner,
Q hat ne gelbe Kuh, R hat de Fenster zu,
S hat bloß enen Burn, T geht Kuchen schnurrn,
U bläst das Nachtwächterhorn,
Y hat ene klene Scheune, W hat nur drei Schweine,
X bringt das Bauchgurt im. (Kühren, Bez. Grimma.)
69. Kießlings in der Ecke, Teichgräbers flicken Säcke,
Vetters backen Weißbrot, de Reimern schlägt den Teifel tot,
Pretschmanns schlachten e Kalb, Günthers kriegen's halb,
Kleine Mitteilungen.
187
Prosts kriegen's Gekröse, Kießigs sind drüber böse,
Rothens ham en großen Garten, Dögens müssen Kinder warten,
Fleckeis is e braver Mann, Neider will de Frau nich harn,
Hartchens harn e Tuch verlorn, Antrags harn de Ohrn erfrorn,
De Gindeln hat e großes Haus, de Merkein guckt zum Fenster raus.
(Stockhausen b. Döbeln.)
70. Der Müller is der Mehldieb, Bruchelt hat seine Fraa lieb,
Schôke wohnt ufm Barge, Schöne macht spitze Quarge,
Funke is der ale Vater, N is der Bankhader,
Uhlemann wohnt in der Gasse, Grusche hat keene reen Fasse,
de Kretzschmarn tut gern Schweine schlachten, Gruschen Karl tut nach Gelde
trachten,
Pietzsch hat ene schwarze Pfütze, Rabe is uf der Walt nisclit nütze,
Lehnert is e Lügenmaul, Leuschner Lieb is lang und faul,
Fischer der hat weite Hosen, Rilker hot s'n aufgeblosen,
Graf hat ene scheene Fraa, der Schmied spielt gerne Kuntra,
Weißig hat en kahlen Kupp, Kühne is e Hundsfutt,
Löwe is der Hengstreiter, Hermann is der Hackschschneider,
Rückert der wohnt ganz alleene, bei Hilligs is de Stube nich reene,
Krausgen Lieb hat keene Kinder, Beger is der Pferdeschinder,
Beckert hat nur eene Kuh, Pretzschens machens Falltor zu,
Rumpelts liam e Wachtelhaus, bei Mendens guckt der ? raus,
der Schäfer treibt de Schafe aus, der Schulmeester prügelt de Kinder aus.
(Sachsdorf b. Wilsdruff. Mitt. f. Sachs. Volksk. 1910 S. 195 f.)
71. Geisel ime der Ecke, Peschel flickt de Säcke,
Philipp Schlacht ne schöne Kuh, Gläsche gibt nen Taler zu,
de Dämmigen kriegt's Gemüse, dadrüber werd de Schneidern biese,
Kost guckt zum Fenster raus, Franke macht sich garnischt draus,
Scheller in der Zippelmütze, Heibig is ooch garnischt nütze.
(Riemsdorf b. Meißen. Dähnhardt, Volkstüml. aus Sachsen 2, 145.)
72. Grenkel wohnt in der Ecke, Ohmich flickt Säcke,
Kaiser hat en schönes Haus, Höde guckt zum Fenster raus,
Platz schlacht en Kalb, Naumann kriegt's halb,
Albrecht kriegt's Gekröse, Lamprecht ist darüber böse,
Thomas hat zwei schöne Schimmel, Kurth der denkt, er ist im Himmel,
Berger der trinkt Bier und Wein, Richter denkt, das muß so sein,
die Krausen hat en schönen Mann, die Schüttgen möcht en gerne han,
bei Otten sin de Läden krumm, bei Mains is 's Mädchen dumm,
bei Kuhnerts führt ne Straße naus, Metzlers wohn' im Spittelhaus.
(Luppa bei Dahlen. Dähnhardt a. a. 0. 2, 147.)
73. Altemanns wohn' in der Ecke, Straubens flicken Säcke,
Hamann hat eene schöne Katze, Klemm leckt de Tatze,
der Schmidt hat e hohes Haus, Ulbricht guckt zum Fenster raus,
Kerbachs backen Weißbrot, Lippmann schlät den Teifel tot,
Höpner trinkt gern e Gläschen Wein, Hübler spricht: es muß so sein.
Bartheis haben hohe Tor'n, Gelbig is im Backofen erfrorn,
Goldammer denkt, er hat 'ne schöne Frau, Schubert spricht: se is nich ennen
Teifel wert.
Scheunert . . . ?, Jäbel guckt in de Kaffeekanne,
Langes haben Wanzen, Frankens können schön tanzen.
(Schmalbach b. Roßwein. Dähnhardt a. a. 0. 2, 146.)
188
Müller, Stratil:
Parallelen ausserhalb Sachsens1):
74. Lammert schlacht e Schwien, Heckert kriegt Tri chin,
N kriegt en Knochen, Winks habens gerochen,
Graupener kriegt en Schwanz, Zimmermann der hält Tanz,
Leser kriegt de Darm, Petzold schlägt den Lärm,
Krüger kriegt en Schinken, Dutke kriegt de Wurst,
Fries kriegt en großen Durst. (Sondershausen.)
Leipzig. Curt Müller.
Weihnachtslieder aus Mähren.
[Über die Entstehung des dramatischen Weihnachtsliedes aus lateinischen Hymnen
und seine verschiedenen Gattungen s. K. Weinhold, Weihnacht-Spiele und Lieder aus
Süddeutschland und Schlesien, Wien 1875; F. Yogt, Die schlesischen Weihnachtspiele,
Leipzig 1901; vgl. auch Hauffen oben 4, 29. Die beiden hier mitgeteilten Lieder ent-
sprechen zum Teil wörtlich den von Weinhold S. 34f. und S. 104f. aus Schlesien auf-
gezeichneten. Das erste wird, wie Herr Stratil angibt, noch jetzt in mehreren Varianten
von verkleideten Burschen und Mädchen gesungen, die zur Weihnachtszeit von Haus zu
Haus ziehen und auch in den Nachbardörfern auftreten.]
I. Weihnachtslied aus Stachenwald bei Fulnek.
Gabriel:
Gelobt sei Jesus Christus!
Ein' schön' guten Abend geb euch Gott,
ich bin ein ausgesandter Bot',
bin ausgesandt aus Engelland,
der Engel Gabriel werd' ich genannt,
den Zepter trag' ich in meiner Hand,
den hat mir Gottes Sohn ernannt,
die Krön' trag' ich auf meinem Haupt,
die hat mir Gottes Sohn erlaubt.
Wer reicht dem König einen Stuhl,
darauf soll sitzen Gottes Sohn?
Der heiige Christ ist auch mit mir,
er steht schon draußen vor der Tür,
er steht schon draußen, er will schon
rein
zu diesen kleinen Kindel ein.
(Hinausrufend):
0 heiiger Christ, geh' doch herein,
laß hören deine Stimme fein.
Christkind:
Gelobt sei Jesus Christus!
Ein' schön' guten Abend, ihr lieben Leut',
die ihr allhier versammelt seid,
ich komm' herein getreten,
will schauen, ob die Kinder fleißig beten.
Wenn eure Kinder fleißig beten und singen,
werd' ich ihnen Äpfel und Nüsse bringen,,
wenn sie aber nicht fleißig beten und
singen,
wird die Rut' um sie herumspringen.
Der heiige Josef ist auch mit mir,
er steht schon draußen vor der Tür,
er steht schon draußen, er will schon rein
zu diesen kleinen Kindelein.
(Hinausrufend):
Ach Josef, liebster Josef mein,
geh' doch herein zum Kindelein.
Josef:
„Gelobt sei Jesus Christus!
Ich komm' herein geschritten
mit höflichen Tritten,
ich bin der Pflegevater übers kleine Kind,
das man in der Krippe findt ! "
Christkind:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
erzähl' mir was von'n Kindelein!"
1) Beisp. a. d. Grafschaft Glatz oben 9, 446; Vierteljahrsschr. f. d. Gesch. d. Grafsch.
Glatz 9, 17. Niederlausitz: Niederlaus. Mitt. 5, 1379ff. — Böhmerwald: Das deutsche
Volkslied 7, 62. — Gegend von Braunschweig: oben 6, 367f.; Andree, Braunschweiger
Volkskunde S. 459ff.
Kleine Mitteilungen.
18»
Josef:
„Ich möcht' darüber wohl überzeugen [!],
kann aber nicht mehr stille schweigen;
wenn die Kinder aus der Schule gehn,
bleiben sie auf allen Gassen stehn,
Blätter aus den Büchern reißen
und in alle Winkel schmeißen:
solche Possen treiben sie.
Christkind:
„Blätter aus den Büchern reißen
und in alle Winkel schmeißen.
Solche Possen treiben sie?
Ei hätt' ich dies zuvor gehört,
so war' ich hier nicht eingekehrt,
so will ich mich bedenken
und will den Kindern gar nichts schenken."
Josef:
„Ei, lieber Christ, sei nicht so hart,
die Kinder sind nicht nach deiner Art,
die Kinder werden insgemein
den Eltern wieder gehorsam sein."
Chri stkind:
„So will ich mich bedenken
und will den Kindern etwas schenken.
(Zu Gabriel):
Ei Engel, liebster Engel mein,
reich1 her mir doch das Körbelein,
2. Christkindlsingen aus
Laufer:
Ein' schön' guten Abend geb' euch
Gott,
Ich bin ein ausgesandter Bot'.
Von Gott bin ich daher gesandt,
Der Laufer, der werd ich genannt.
Die heiligen Engel schicken mich herein,
Sie wer'n wohl auch nicht weit mehr sein.
Ach, ihr heiligen Engel, tretet doch herein
Und laßt eure Stimme hören fein.
(Er läutet.)
Zwei Engel:
Ein' schön' guten Abend geh' euch Gott,
Wir sind zwei ausgesandte Bot',
Von Gott sind wir daher gesandt,
Die heiligen Engeln werden wir genannt.
Das Zepter tragen wir in unser' Hand,
Die Krön' tragen wir auf unserem Haupt,
Die hat uns Gottes Sohn erlaubt,
Der kleine Christ schickt uns herein,
Er wird vielleicht nicht weit mehr sein.
(Laufer läutet, das Christkind tritt ein.)
ich will ihn' geben diese Gab',
die ich vom hohen Himmel hab'.
Draußen hab' ich Schlitten uud Wagen,
d'rauf hab' ich köstliche Gaben
für junge Mädel und junge Knaben."
Alle:
Laufet ihr Hirtlein, laufet alle zugleich,
nehmet Schalmeien und Pfeifen mit euch,
laufet alle zumal
mit freudenreichem Schall
zum Kindelein,
zum Krippelein;
zu Betlehem im Stall,
ein Kindelein gesehen [!],
wie ein Engel so schön,
dabei auch ein alter Vater tut steh'n,
eine Jungfrau so zart,
nach englischer Art,
das tut mich erbarmen
gottsj ämmerlich h art ;
der Weg ist uns mit Rosen gebaut,
wir wollen uns wieder gegen Himmel
umschaun.
Der Himmel ist ein schönes Haus,
Gottes Segen wohnt in eurem Haus,
wir danken euch für diese Gaben,
die wir von euch ererbet haben,
und lebet alle recht froh beisammen,
wir geh'n jetzt wieder in Gottes Namen.
Waltersdorf bei Fulnek.
Christkind:
Ich komm' herein getreten,
Komm' sehn, ob die Kinder fleißig beten
und singen,
Cndwenn die Kinder fleißig beten und singen,
So will ich ihnen eine Gabe bringen.
(Zum ersten Engel):
„Ach Gabriel, du Engel mein,
Sag, wie verhalten sich die Kindelein?"
Gabriel:
„Ach Christ, wenn ich dir sagen soll,
Die Welt ist böser Kinder voll.
Die Kinder tun nichts als schelten und lügen,
Die Eltern bis in den Tod betrügen."
Christkind:
„Ach hätt' ich diese Red zuvor gehört,
So wären wir nicht eingekehrt."
Die zwei Engel:
„Ach kleiner Christ, sei nicht so hart,
Die Kinder sind wohl nicht nach deiner Art
190
Stratil, Knoop:
Und auch nicht nach deinen Sitten,
Drum wollen wir um eine Gabe bitten."
Christkind:
„Und wenn mich die Engelein so schön
bitten,
So will ich ihn' eine Gabe schicken.
Draußen hab ich Roß' und Wagen,
Drauf hab ich gar köstliche Gaben.
Wohl für die kleinen Mädelein
Und für die kleinen Knäbelein."
(Maria und Josef treten auf.)
Maria:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
Komm rein und wieg das Kindelein !"
Josef:
„Ach soll ich denn schon wieder wiege,
Ich konn doch ka(u)m dan Pockel biege.
Hulei, Hulei, Hulei."
Maria:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
Wie soll dem Kind der Name sein?
Josef (macht eine Kniebeuge und sagt):
„Jesus soll der Name sein."
Maria:
„Nun so sei es, Josef mein,
Jesus soll der Name sein.
Ach Josef, liebster Josef mein,
Wer kocht dem Kind das Papelein?"
Josef:
„Josef kocht das Papelein."
Maria:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
Was hat das Kind für Windelein?"
Josef:
„Schneeweiße Windelein, schneeweiße
Windelein."
Maria:
„Nun so sei es, Josef mein,
Schweeweiße Windelein.
Maria:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
Was hat das Kind für Schnürelein?"
Josef:
„Rosarote Schnürelein."
M aria:
„Nun so sei es, Josef mein,
Rosenrote Schnürelein.
Ach Josef, liebster Josef mein,
Was hat das Kind für Dienerlein ?"
Josef:
„Ochs und Esel solln die Diener sein."
Maria:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
Was hat das Kind für Wiegelein?"
Josef:
„Die Krippe soll die Wiege sein."
Maria:
„Ach Josef, liebster Josef mein,
Wo werden wir denn kehren ein?"
Josef:
„Im Stalle werden wir kehren ein!"
Alle:
Habt Dank, habt Dank, ihr Eltern
mein,
Daß ihr uns habt gelassen ein
Zu euren Kindern groß und klein.
Gloria, Gloria; uns ist der Weg auf Rosen
gebaut,
Wir wollen gegen Himmel naufscliauen.
Gelobt sei Jesus Christus.
Das Ganze im singenden Ton nach folgenden Melodien:
hfc#-3- . _i— . H-- — p-0-g, •--_— ---m—#- -0--*--1—S_ i— Hr-r- ß-A 0 Ì • :
tw +3 —y— . 5 U-- —C-L-1--£—V— -1/--- --^— --pJ p < — "
Ein' schön' gut'n A-bend geb euch Gott, ich bin ein aus - ge - sandter Bo',
Yon Gott bin ich da-her ge-sandt, der Lau-fer, der werd ich ge-nannt usw.
:2L5zp?== _#__ ' r r » • r Pc »4?
-^-- : •- Lp t= t— t—y—Ë -
Ach Jo - sef, lieb- ster Jo - sef mein,
Komm rein und wieg das Kin - de - lein usw.
Das Christkind singt nicht, es spricht nur. Die Antworten Josefs sind mürrisch,
brummig und im Dialekt.
Fulnek (Mähren). Domitius Stratil.
Kleine Mitteilungen.
191
Die kluge Königstochter,
ein polnisches Märchen.
Es war einmal eine Königstochter, die war sehr gescheit. Sie war des
Königs einziges Kind. Da nun ein Königreich einen König haben muss, so
musste sie sich, um Königin zu werden, verheiraten. Doch weil sie selbst so
klug und gescheit war, wollte sie auch keinen dummen Mann heiraten; wenigstens
sollte er eben so gescheit sein wie sie selbst. Da kamen nun jeden Tag viele
Freier, um sich der Königstochter vorzustellen; aber sobald sie gar klug zu fragen
anfing, wussten sie nichts zu antworten und mussten beschämt von dannen ziehen.
In demselben Königreich lebten auch drei Brüder. Die beiden älteren waren
klug, ja man sagte sogar von ihnen, sie wüssten, wo der Teufel seine Jungen
habe. Das wussten sie zwar nicht, sondern die Leute redeten es nur so. Der jüngere
war dumm. "Wenigstens sagten es dieselben Leute, und man glaubte es ihnen.
In Wirklichkeit aber war er nicht so dumm. Diese Brüder hörten auch von der
klugen Königstochter, und die beiden älteren beschlossen, ihr Glück zu ver-
suchen. Sie zogen sich schöne Kleider an und machten sich auf die Reise zum
Schlosse.
Als der Dumme das sah, ging er mit. Zwar lachten ihn die älteren Brüder
aus und trieben ihn fort, aber er ging doch hinter ihnen her, und schliesslich
mussten sie ihn gehen lassen. So von ungefähr lag auf dem Wege ein toter
Spatz. Die beiden Älteren zogen vorbei, ohne ihn anzusehen; der Jüngere aber
blieb stehen, rief die beiden andern zurück und zeigte ihnen, was er gefunden
hatte. Sie sahen sich den Spatz an und gingen dann ärgerlich weiter. Der
Dumme aber steckte den Spatz in seine Tasche. Nicht weit waren sie gegangen,
da sah der Jüngere einen Keil liegen, und wieder rief er die Brüder zurück und
zeigte ihnen seinen Fund, den er glückstrahlend in der Hand hielt. Da wurden
sie gar böse und prügelten ihn durch. Als er nun noch einen Reifen und einen
Dreckhaufen fand, da rief er die Brüder nicht erst zurück, sondern steckte diese
Dinge stillschweigend in seine Tasche und folgte den Voranschreitenden.
Sie kamen nun vor das Schloss. Die beiden älteren Brüder, die zugleich
angekommen waren, wurden auch zugleich vorgelassen. Die Königstochter bewill-
kommnete sie freundlich, aber sie wussten nicht viel zu sagen, obwohl sie sich
auf eine schöne Rede vorbereitet hatten; und als sie gar anfingen, vom Wetter
zu reden, da mussten sie das Gemach verlassen.
Jetzt kam der Dumme an die Reihe. Als er in das erwärmte Gemach trat,
rief er: „Holde Königstochter, wie warm habt Ihr es hier!" „Im Hintern ist's
noch wärmer," antwortete darauf die Königstochter. „Da kann ich wohl meinen
Spatz darin braten?" sagte der Dumme. „Ja, aber es wäreschade um das schöne
Fett, das herauslaufen würde," erwiderte die Königstochter. „Dafür habe ich
gesorgt," sagte darauf der Dumme; „hier hab ich einen Keil zum Zustopfen mit-
gebracht." „0," rief da die Königstochter, „davon könnte aber der Hintere
platzen!" „Keine Sorge," war die Antwort, „ich habe einen Reifen mitgebracht,
der das Platzen verhindern wird." „Ja, aber wo bleibt denn der Dreck?" fragte
die Königstochter. Kaum war die Frage gestellt, da griff der Dumme in seine
Tasche, nahm den mitgebrachten Dreckhaufen heraus und, klatsch, lag dieser auf
dem Fussboden. Infolge seiner Schlagfertigkeit gefiel der Dumme der Königs-
tochter, und sie wollte ihn schon am nächsten Tage heiraten.
Aber damit war der Minister, der auch gern König werden wollte, nicht ein-
verstanden, und als er am Abend dem Dummen eine Stube zum Nachtquartier
192
Knoop, Müller-.Rüdersdorf:
anweisen sollte, führte er ihn anstatt in ein Zimmer in den Zwinger, in dem ein
Löwe gehalten wurde, und machte das Tor zu. So, glaubte er, werde der Löwe
den Dummen auffressen. Aber dieser hatte sich wohl vorgesehen; denn er hatte
sich, um sich während der Nacht die Zeit zu vertreiben, mehrere Nüsse, einen
Stein, einen Stubben, ein Beil, eine Geige, eine Peitsche und eine Schere mit-
genommen.
Als er den Löwen bemerkte, der sich zum Sprunge duckte, warf er ihm eine
Nuss hin; denn er glaubte, der Löwe habe Hunger. Der Löwe frass sie auf und
verlangte mehr davon, denn die Nuss schmeckte ihm. Er warf ihm eine zweite
hin, und wieder wurde sie verzehrt. Dann warf er ihm den Stein hin und sagte:
„Die Nuss kannst du dir selbst aufknacken!" Der Löwe suchte den Stein zu
zerbeissen, aber er konnte es nicht; und da der Dumme vorhin so leicht jede
Nuss aufgeknackt hatte, so glaubte der Löwe an eine grosse Stärke des Menschen
und trat näher zu ihm, um ihn sich ordentlich anzusehen.
Jetzt nahm der Dumme die Geige und spielte dem Löwen ein lustiges Stück
vor. Dem Löwen gefiel das, und er wollte das Spielen auch erlernen. Der
Dumme gab ihm den Bogen in die Tatze, und der Löwe versuchte zu spielen;
aber es gelang ihm nicht. Da sagte der Dumme: „Mit solchen ungeschickten
Krallen kannst du es zu nichts bringen." Und nun spaltete er mit dem Beile den
Stubben und bedeutete dem Löwen, seine Tatze in den Spalt zu legen. Der
Löwe ahnte nichts Böses und legte seine Tatze in den Spalt hinein. Darauf hatte
der Dumme nur gewartet. Schnell zog er das Beil heraus, und nun sass der
Löwe fest und konnte ihm nichts mehr anhaben. Jetzt schnitt er ihm auf dem
Rücken die Haare ganz kurz, nahm dann die Peitsche und gerbte ihm damit
ordentlich das Pell, so dass er laut brüllen musste. Darauf legte er sich hin
und schlief bis zum Morgen.
Als es Tag wurde, kam der Minister an das Tor, klopfte an und rief den
Dummen, um sich zu überzeugen, ob der Löwe ihn schon gefressen habe. Da
aber brüllte der in den Stubben eingeklemmte Löwe und rief:
„Cicho, kpie !
Ci dupe okrzoja,
Kantorem wykrzoja
Jak mnie."1)
Als der Minister das vernahm, eilte er schnell davon. Der Dumme aber ver-
liess unversehrt den Zwinger, ging in das Königsschloss und hielt Hochzeit mit
der Königstochter.
Aufgezeichnet von Herrn Lehrer A. Szulczewski in Brudzyn bei Janowitz. Über
die Redeweise: „Er weiss, wo der Teufel Junge hat" vgl. meine Posener Dämonensagen
(Rog. Programm 1912) ISr. 5 und Rog. Familienblatt 10, 55. — [Das Märchen ist eine
Variante des Redekampfes zwischen der Prinzessin und dem Dummling, über
den R. Köhler, Kleinere Schriften 2, 465 und Bolte-Polivka, Anmerkungen zu Grimms
Märchen 1, 201 (1913) handeln; vgl. auch Carstens oben 3, 458. Zur Überlistung des
Löwen vgl. Bolte-Polivka 1, 68.]
Rogasen. Otto Knoop-
1) Still, Dummkopf! Sie werden dir den Hintern scheren, Mit der Peitsche durch-
prügeln Wie mich.
Kleine Mitteilungen.
193
Acker und Garten im Aberglauben des Isergebirges.
Zu dem in dieser Zeitschrift bereits erschienenen Kapitel 'Die Haustiere im
Aberglauben des Isergebirges' (oben 23, 181) bildet die Darstellung der im gleichen
Landschaftsgebiete verbreiteten Sitten und abergläubischen Regeln betreffs Acker
und Garten ein nicht minder reichhaltiges Seitenstück.
Ehe der Ackerbau treibende Isergebirgler mit der Aussaat beginnt, steckt er
einige Samenkörner in einen Blumentopf. Von ihrer Entwicklung schliesst er auf
das Keimen im Acker. Soll die Saat viel Frucht treiben, so darf man nach
seiner Meinung nicht im Neumond säen. Blumensamen streut man am besten
zur Zeit des Vollmonds aus, weil diese eine volle Blüte verheisst. Damit die
Zimmerpflanzen reich und voll blühen, beschneidet man sie während des Christ-
monats (Dezember). Den Acker sucht man dadurch besonders ertragreich zu
machen, dass man den Dünger am ersten Freitag während des Neumonds auf das
Feld schafft. Auch die jungen Obstbäume düngt man an den Tagen des zu-
nehmenden Mondes. Als besonders günstig zum Pflanzen eines Ablegers oder
jungen Baumes betrachtet man die Zeit des Vollmonds. Demjenigen, der die
Weiden während des Vollmonds beschneidet, verheisst man viel neue und volle
Stöcke. Damit Gras und Blumen gut gedeihen, soll man bereits beim Umgraben
des Gartens einige Saatkörner verstreuen. Bemerkt man auf seinem Saatfelde
oder an einer anderen verbotenen Stelle seines Grundbesitzes eine Fussspur, so
misst man sie zuweilen. Man glaubt, dadurch käme über den, der sie getreten,
die Strafe einer Fusskrankheit. — Soll ein junger Baum glücklich gedeihen, darf
man beim Pflanzen nicht fluchen. Mit seinen Wurzeln soll man ein Stück Eisen,
eine Kohle und einen entsprechenden Fruchtkern eingraben. Man sagt: das Eisen
kühlt den Baum während der Sommerhitze, die Kohle schützt ihn vor nagenden
Tieren, und der Kern ist ihm die stärkende Kraft. Beim Pflanzen eines Nuss-
baumes schnitt man früher von demselben drei Zweige ab und sprach:
'Du lieber Nussbaum, sei nu mein,
an bring' mir viele Früchte ei' !'
Den Obstbäumen glaubt man mit dem Wasser, in dem man ein geschlachtetes
Schwein gebrüht hat, eine recht kräftige Nahrung zuzuführen. Eisengehalt sucht
man den Bäumen dadurch zu geben, dass man ihnen Nägel einschlägt. Damit
ein junger Obstbaum künftig viel schöne Früchte bringt, gibt man sein erstes
Obst einer jungen Frau zu essen. [Vgl. Sartori, Sitte und Brauch 2 (1911), 121.]
Kommen im Winter Hasen oder Fasanen in den Garten und nagen die Rinde der
jungen Bäume ab, so soll man sie dadurch unschädlich machen, dass man sagt:
'Labst ne mih' lang'! Geht ein Baum, der äusserlich keine Beschädigung zeigt,
plötzlich ein, so befürchtet man einen baldigen Todesfall im Hause. Von einem
Apfel oder einer Birne soll man die 'Krutsch' (das Kernlager) mitessen. Man
sagt, 'darin sind die zehn Gebote enthalten'. Damit der Obstbaum nicht eingeht,
darf man nach dem Aberglauben des Isergebirglers von seinen Früchten keine
'Krutsch' verbrennen. Überhaupt soll man niemals frische Zweige ins Feuer
werfen oder ihre Blätter dem Vieh zu fressen geben. — Dürre Äste, die noch
Früchte tragen, müssen noch ein Jahr lang liegen bleiben. Myrtenzweige, die man
beim Begräbnis eines jungen Toten gebraucht hat, soll man wieder einpflanzen;
sie treiben weiter.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2. 13
194
Müller-Rüdersdorf, Witt:
Bei der Ernte darf man nicht mit dem Rechenstiel ins Heu stechen. Man
sagt, sonst regnet es hinein. Liegt ein Rechen mit den Zinken nach oben, so
erwartet man baldiges Regenwetter. Früher war es im Isergebirge verschiedentlich
Sitte, beim Umackern des Stoppelfeldes zu sprechen: 'Im Namen des Vaters,
des Sohnes und des Heiligen Geistes.' Dem, der Schnee mit umackert,
prophezeit man eine schlechte Ernte für das nächste Jahr. Manche Leute dreschen
am letzten Jahrestage in der Meinung, dass sie dadurch die Ratten und Mäuse
aus Scheune und Haus vertreiben. Wer beim letzten Dreschen den letzten Schlag
tut, ist der 'Scheunesel'. Er muss Branntwein zum besten geben und wird tüchtig
gehänselt. [Vgl. Sartori 2, 100 f.]
Charlottenburg. Wilhelm Müller-Rüdersdorf.
Doppeldeutige Volksrätsel aus Schleswig-Holstein.
Als Ergänzung zu den früheren Mitteilungen Jungwirths (oben 20, 83) und
Andraes (oben 22, 96) kann ich eine Reihe doppeldeutiger Rätsel, die noch heute
auf der Halbinsel Schwansen durchaus bekannt sind, mitteilen. Aus meiner
Schulzeit erinnere ich mich, dass gerade Rätsel mit recht derben Anspielungen
auf geschlechtliche Vorgänge u. dgl. sehr beliebt waren. Unter den 20 bis
30 Rätseln meiner volkskundlichen Sammlangen aus meinem Heimatsdorf haben
die meisten eine derartige Doppeldeutigkeit. Ich lasse einige Rätsel aus Damp
in Schwansen folgen, wie ich sie seinerzeit aus dem Gedächtnisse oder dem Volks-
mund aufgezeichnet habe.
1. Mit een Wuppdi
Sitt ik up di.
Du büst ünner mi,
Ik sitt up di,
Ik heff een Ding
Dat kettelt di.
Vgl. Wossidlo, Mecklenburgische Volksüberlieferungen
Rüch an Ruch,
Buk an Buk,
Stick twischen dör,
Rummel achteran.
(Pferde und Wagen.) — Wossidlo 1, 64 nr. 119.
3. Veer runne Runsein,
Zwee fette Bunzeln,
Brotschapp,
Schrnick-Schmack,
Klisterbüdel in'n Bummelsack.
(4 Räder, 2 Pferde, Kutscher, Peitsche, Teerquaste unter dem Wagen.) — Wossidlo 1,
nr. 120.
Neben diesem Pferd- und Wagenmotiv ist besonders das Alte-Frau-Motiv,
wenn ich diesen kühnen Ausdruck gebrauchen darf, beliebt. Drei Varianten davon
sind mir noch bekannt:
(Reiter und Pferd; Sporn.) —
1, 44 nr. 74.
2.
Kleine Mitteilungen.
195
4. Een ol Fru seet up een Block
Un bekeek çr Lock.
Un dacht in çr Sinn:
Harr'k dat lang Dert man çrs rin.
Frau fädelt einen Faden ein.) — Wossidlo 1, nr. 434 b.
5. Dor seet mal 'n Fru achder de Tun
Un beseeg çr Brun.
Se dach in çr Sinn,
Harr'k man een dicken fetten dorin.
(Die Frau besah im Garten den Kohl [in Schwansen meist 'BrunkohP genannt] und
wünschte sich Speck zu einer Mahlzeit Kohl.) — Wossidlo 1, nr. 434 a.
6. Dor sitt een Fru up't Is
Un schiiert çr Kapis
Un denkt in çr Sinn:
Harr'k man een rin.
(Eine Frau will bei einem Loch im Eise Aal fangen.) — Wossidlo 1, nr. 434c.
Zum Schluss noch einige andere zweideutige Rätsel:
7. Ik stiinn un pampluse mi,
Dor keem een lütte Liumliitt
Un stött' mi an min Pliumplütt.
„Na, du Deuwel Liumlütt,
Wat stöttst mi an min Pliumplütt?"
(Eine Ente plustert sich und wird dabei von kleinen Entlein gestört.) — Wossidlo 1, nr. 13.
8. Lange Johann,
Stieg up de Stang!
Weiht de Wind,
So bummelt din Ding.
(Hopfen an der Stange.) — Wossidlo 1, nr. 189 d.
9. Rüche rüche rïp,
Gçl is de Pip,
Swart is de Sack.
Ra, wat is dat!
(Gelbe Wurzel in der Erde.) — Wossidlo 1, nr. 121.
Das von Andrae unter Nr. 6 angebene Rätsel ist wohl kaum zu der Gruppe
der doppeldeutigen zu rechnen. Mir ist folgende Fassung bekannt:
10. Tweebeen nehm Dreebeen, schmeet Vçrbeen dormit,
Dat Dreebeen een Been verlor.
(Das Melkmädchen wirft nach der Kuh mit dem Melkschemel.)
Ausser bei Rätseln sind in der von mir durchforschten Gegend geschlechtliche
Anspielungen zum Teil der allerdeutlichsten Art besonders häufig in Umdichtungen
hochdeutscher Lieder und in Begleitreimen zu beliebten Tanzweisen (z. B. Vater
Michel, Schlachtertanz). Die Tänze sind oftmals längst vergessen, die Reime
aber leben fort.
Kiel. Arthur Witt.
13*
196
Brandsch:
Noch ein Vorschlag zur lexikalischen Anordnung von Yolksmelodien.
Wieviel wäre doch der vergleichenden Melodienforschung damit gedient, wenn
jede der vielen Volksliedersammlungen am Schluss neben dem Verzeichnis der
Textanfänge auch einen Index der Melodien enthielte, so dass der Forscher mit
einem einzigen Blick eine ganze Seite des Verzeichnisses überfliegend, in wenigen
Sekunden die gesuchte Melodie herausfände, statt jedesmal die oft recht dick-
leibigen Bände von Anfang bis zu Ende durchblättern zu müssen, wenn ihm der
Textanfang zu der gesuchten Melodie zufällig aus dem Gedächtnis entschwunden
ist! Der Mangel der mir bisher bekannt gewordenen Methoden lexikalischer An-
ordnung von Melodien beruht in der ungenauen und schwer lesbaren Form der
Wiedergabe der Melodien durch Ziffern, Sowohl 0. Koller (Sammelbände der
Internationalen Musikgesellschaft 4, 1) als auch R. Zoder (oben 18, 307) bedient
sich der Ziffern, wTobei ersterer die metrischen Werte der einzelnen Töne gar
nicht, letzterer in gewissem Grade berücksichtigt. Der Auftakt am Beginn der
Melodien wird wegen seiner in der Tat grossen Variabilität von beiden Forschern
fortgelassen. Um aber ein Gebilde wie dieses VII2 2 V I111 | VII22Vi zu lesen,
dazu bedarf es, mindestens für den Ungeübten, eines anstrengenden Denkprozesses,
so dass sich diese Methode schwerlich allgemein einbürgern dürfte.
Der Vorschlag, den ich hiermit zur Prüfung und versuchsweisen Anwendung
empfehlen möchte, ist so einfach und liegt so nahe, dass es ein Wunder wäre,
wenn er nicht schon irgendwo wenigstens in ähnlicher Form aufgetaucht wäre.
In der Tat hat J. Pommer in seinen mir erst nachträglich bekannt gewordenen
'444 Jodlern und Juchezern' (Wien 1906) die einzelnen Melodien nach fast genau
denselben Grundsätzen innerhalb seiner Sammlung angeordnet, die ich bei der
Zusammenstellung meines Melodienlexikons befolgte. Freilich ist Pommer sozu-
sagen auf halbem Wege stehen geblieben und hat auf einen Index am Schluss
der Sammlung, der erst eine rasche Übersicht ermöglicht hätte, verzichtet.
Zu meiner über 800 Melodien umfassenden Volksliedersammlung legte ich
den Zettelkatalog in folgender Weise an:
1. Jeder Zettel enthält die 1. Zeile einer Melodie, und nur im Falle der Über-
einstimmung mehrerer Melodien in der 1. Zeile wird über den Schluss derselben
hinausgegriffen.
2. Sämtliche Melodien sind im Katalog (nicht in der Sammlung) nach
C-dur, beziehungsweise nach A-moll transponiert. Die wenigen äolischen und
dorischen Melodien wurden dabei als Mollmelodien behandelt.
3. Die Melodien sind nach dem Anfangston in aufsteigender Reihe angeordnet,
beginnenden Melodien folgen. Durch Transposition sämtlicher Melodien in diese
mittlere Tonlage erreichen wir, dass die Melodien weder nach oben noch nach
unten allzuweit über das System der gebräuchlichen Notenlinien hinausgehen,
wenn sie im G-Schlüssel notiert werden.
4. Innerhalb einer mit demselben Anfangston beginnenden Gruppe sind die
Melodien ebenfalls genau nach der Tonhöhe in aufsteigender Reihenfolge an-
geordnet, wobei natürlich auch Tonversetzungen durch V oder $ berücksichtigt
werden.
in der Weise, dass zuerst
zuletzt
Kleine Mitteilungen.
197
Zur Veranschaulichung möge der Anfang und Schluss des nach diesen Grund-
sätzen zusammengestellten Verzeichnisses zu meiner Sammlung hier folgen, wobei
die Seitenzahlen, da die Sammlung nicht gedruckt, sondern nur im Manuskript
vorliegt, fingiert sind.
rd8zz$i:
--8—•
S. 45.
S. 250 v251).
—fr—¡V
h-8—•—
»■-
S. 23.
=±=.
£--8—3-
—\-----\--1\—H—■]—V-—-I-
S. 251 (250).
--Ñ--fr--N-
z^-z\~
S. 5G, 98.
:±=zz?z=^5=^ s =fÜrq—
—0—H—■ -1 ft. "> 0 #- " 4
S. 15, 24,113.
Fe=i
.0• —«-»-1---
S. 60.
dt=3s==fc===C
-0--------0--1-0-
S. 121.
—f--
)—&•—*—fa-* i * *-0--[NT--1—
S. 14.
ir--S-T—S---—jfïz?—---K
■--1—4-—ij--K----! ä---*--'■
\r—»—\-0-f---N-*{- ---*
S. 304.
ESp ^ --K—s * ~ß—0—0—s— ■ h p p f
—t— 0—l_, 1... _4-->-
-0—: -* i ï -»— Í:ÍEÍ=t=3=
198
Brandsch, Frankel:
-»■
£Î#=ëe
S. 12.
Aus dem Schluss des Verzeichnisses:
-V'
y-
-j—-1---1/-1^—+—j—---p-
S. 52.
Wo einer Melodie mehrere Seitenzahlen beigefügt sind, da ist ersichtlich, dass
dieselbe Melodie zu verschiedenen Texten wiederkehrt; Seitenzahlen in Klammern
bezeichnen eine nahe verwandte Melodie oder ein Melodiefragment usw.
Der nächstliegende Einwand, der gegen diese Art der Registrierung der
Melodienanfänge am Schluss der Liedersammlungen erhoben werden wird, ist buch-
händlerisch-praktischer Natur. Eine Notenzeile in dem gebräuchlichen Fünflinien-
system ist bei engem Druck ungefähr vier- bis fünfmal so breit als eine klein-
gedruckte Textzeile; dementsprechend würden sich auch Umfang und Kosten eines
Melodienregisters etwa vier- bis fünfmal so hoch stellen als die des Textregisters
zu derselben Sammlung. Darf dieser Gesichtspunkt entscheidend ins Gewicht
fallen gegenüber der grossen Ersparnis von Kraft und Zeit, die für die Melodien-
forschung aus der Einführung von Melodienverzeichnissen in obiger Art erwachsen
würde?
Alle anderen Einwände, die sich etwa noch geltend machen Hessen und die
zum Teil schon (von Zoder gegen Pommer) geltend gemacht worden sind, treffen
meines Erachtens die Textverzeichnisse der Lieder genau ebenso wie die Melodien-
verzeichnisse. Wird auf die grosse Variabilität der Melodienanfänge hingewiesen,
so darf ich wohl entgegnen, dass die Textanfänge nicht minder veränderlich sind.
Ein und dasselbe Lied (vom Wettstreit zwischen Wasser und Wein) wird bei-
spielsweise in Siebenbürgen allein mit folgenden verschiedenen Textanfängen ge-
sungen: 'Es waren zwei Gesellen fein', 'Merkt auf, ihr Christen und Leute', 'Hört
zu, ihr Christen und Leute', 'Ich sing ein Liedchen hübsch und fein'. Dazu
kommen aus Deutschland folgende Varianten: 'Wir woll'n eins singen so hübsch
und so fein' (Ditfurth, Fränkische Volksl. 2, nr. 352), 'Ich weiss mir ein Liedlein
hübsch und fein' (A. Bender, Oberschefflenzer Volkslieder nr. 142), 'Jetzt lasst
uns mal singen' (Becker, Rheinischer Volksliederborn nr. 27). Zieht man noch
in Betracht, dass ein und dasselbe Lied hier mit der ersten, dort aber mit der
zweiten oder dritten Strophe begonnen wird, so wird man nicht sagen können,
dass die Mannigfaltigkeit in der Variation bei den Melodieanfängen eine grössere
sei als bei den Textanfängen. Ein genaues Melodienregister wird eben nach
Möglichkeit ebenso wie ein genaues Textregister alle in der betreffenden Sammlung
Kleine Mitteilungen. 199
enthaltenen Varianten, auch wenn sie nur zum Vergleich herangezogen werden,
aufnehmen. In ähnlicher Weise erledigt sich ein anderer irgendwo laut ge-
wordener Einwand gegen eine Registrierung der Melodie an fänge, dass nämlich
zuweilen nicht der Anfang, sondern eine später auftretende Wendung der Melodie
sich durch ihre charakteristische Form dem Gedächtnis am festesten einpräge,
einfach durch den Hinweis auf dieselbe Möglichkeit auch bezüglich der Liedertexte.
Alles in allem sollte man meinen, dass die hier in Vorschlag gebrachte
Methode der Registrierung schon infolge ihrer, ich möchte sagen, Selbstverständ-
lichkeit nach Analogie der Textregister sich in kurzem allenthalben einbürgern
müsste.
Kleinscheuern b. Hermannstadt (Siebenbürgen). Gottlieb Brandsch.
Auffrischung alter Fastnachtsfeiern in der Rheinpfalz.
Zwei alte volkstümliche Bräuche wurden heuer bei Fastnachtsschluss hier
zu Lande mit Eifer neu belebt: ein christlicher aus dem 17. Jahrhundert und
ein wesentlich älterer wohl aus altgermanischer Zeit. Auf den lustigen Faschings-
dienstag, den 24. Februar, fiel diesmal in Wattenheim der Matthias- oder
Viehdienstag, ein örtlicher Buss- und Bettag der zwei christlichen Konfessionen,
der mit vormittägigem Gottesdienst in beiden Pfarrkirchen, namentlich aber seitens
der Katholiken gefeiert wird, wozu sich dann eine grössere Anzahl beicht-
hörender Geistlichen und viele Beichtkinder aus den Nachbarorten einfinden. Die
Einwohner Wattenheims, besonders die bäuerlichen, halten ernst an diesem Buss-
tage fest, der der Überlieferung zufolge zur Erinnerung an ein ausgedehntes Rind-
viehsterben eingesetzt wurde, als dieses die Altvordern einst in arge Not ver-
setzte. Wahrscheinlich reicht dieser Feiertag bis zum Ausgange des sogenannten
orleanischen (Pfälzer Raub-) Kriegs oder gar des 30jährigen zurück. Eine einzige
milchende Kuh soll damals übriggeblieben sein. Darum hat das Rindvieh am
Matthiastag Ruhe. Es wird nicht eingespannt, ja kommt überhaupt nicht vor den
Stall, da dies Unheil bringen könnte. Die Viehbesitzer fasten da oft bis nach
dem Frühgottesdienste, und oft wird auch dann erst dem Vieh das Morgenfutter,
und zwar früher zuerst Brot und Salz, gegeben. Indem die Wattenheimer an diesem
Feiertage neuerdings festhalten, hatten sie das deutliche Bewusstsein, einen ehr-
würdigen Akt der Pietät gegen ihre frommen Ahnen zu erfüllen. — Und an dem-
selben Datum abends Uhr flammte auf dem Felsen des sagenumsponnenen
Brunholdisstuhles in der vorderen Haardt ein mächtiges Fastnachtsfeuer
auf, das über eine Stunde lang weit in die Rheinebene hinausleuchtete. Schon
in frühen Zeiten wurden hier Holzreiser und Zasseln in der Fastnacht auf-
geschichtet und angezündet. Alt und jung tanzte vergnügt im Kreise um die
Flammen, und Feuerräder wurden weit in die Ebene hinausgerollt. Dieser Brauch
wurde noch um 1820 betätigt, obwohl eine Visitationsordnung des Pfalzgrafen
Johann von Zweibrücken vom 12. Dezember 1579 ausdrücklich verbot „Haifeuer
am Rhein, Redder schieben, Braten heischen, verbutzen und dergleichen Fast-
nachtsspiel und Gauckelwerk." So lebt jetzt nach längerer Zeit dieser Brauch,
der zweifellos in gar altem Herkommen fusst, wieder auf. Die uralte Thingstätte an
der vorderpfälzischen Heidenmauer übt augenscheinlich noch ihre starke Anziehungs-
kraft aus.
Ludwigshafen a. Rh. Ludwig Fränkel.
200
Höfler, Zachariae:
Vernageln.
(Mit einer Abbildung.)
Die beiden hier abgebildeten alten, eng aneinanderstehenden Föhrenbäume be-
finden sich nahe dem Punkte, an dem sich die Grenzen der Gemeinden Tirschen-
reuth, Gumpen und Hohenwald treffen, im Gemeindewald Tirschenreuth, Kr. Ober-
pfalz, fern von Verkehrsstrassen. Die eine Föhre trägt ein aus Bretterholz aus-
gesägtes, vor drei bis vier Jahren renoviertes Kruzifix mit darunter befindlichem
Marien- und Fegefeuerbild (in einem Stück). Beide Bäume sind nahe am Erd-
boden, an der Stelle, an der sie ursprünglich sich berührten, durch Axthiebe der
Rinde entblösst, und zwar jeder Baum ziemlich bis zur gleichen Höhe — etwa
P/s m vom Erdboden — auf beiden Seiten (auf der Rückseite also ebenso wie
auf der Vorderseite). Während die Behauung auf den beiden Vorderseiten und
auf der Rückseite mit Gesicht gegen den Baum auf der rechten Seite alt und
wettergrau ist, ist auf der linken Rückseite eine erst einige Wochen alte, frische
Behauung vorgenommen worden. Die Axtspuren sind deutlich zu erkennen, die
Holzteile sind entfernt. Soweit der Baum von Rinde entblösst ist, sind etwa
120 Hufschmiedenägel und Nägel mit kleinerem Kopf (sog. Zimmermannsnägel)
eingeschlagen (auf dem Bilde als schwarze Punkte sichtbar). Auch in der Rinde
Kleine Mitteilungen.
201
sind, soweit sichtbar, etwa 30 Nägel eingeschlagen; manche werden von der
Rinde überwachsen sein (dies zu verhindern wohl die Behauung). An der frischen
Hauptstelle befindet sich kein Nagel, doch sind Nagelspuren (Löcher) älteren
Ursprungs sichtbar.
Der Baum (und das Bild) haben keinen Namen; etwa 2 km entfernt befindet
sich ein wundertätiges Marienbild 'Maria-Weiher', zu dem Einheimische und Aus-
wärtige (Böhmen) mit Wachsopfern wallfahrten.
Über den Gebrauch des Nageleinschlagens konnten hiesige, mit der Bevölkerung
vertraute Persönlichkeiten keinen Aufschluss geben. Die Tatsache ist überhaupt
sonst hier unbekannt.
(Mitteilung von Herrn Daxenberger in Tirschenreuth vom 9. Juni 1909.)
Es ist ein 'Stock im Eisen', wie das einstmals so hochgehaltene Wahrzeichen
Wiens hiess; die Krankheiten wurden so insgeheim in den frischen rindenlosen
Holzstock 'vernagelt', namentlich in der Nähe von Kultquellen.
Bad Tölz. Max Höfler.
Das kaudinische Joch.
Am Schluss meines Aufsatzes über Scheingeburt1) oben 20, 141—181 habe
ich den Durchzug eines kriegsgefangenen Heeres durch das sogenannte iugum,
gr. 'Qvyóv oder nvlr¡ 'Torweg', behandelt und dieses Durchziehen oder 'Durch-
kriechen' im Anschluss an eine Bemerkung Frazers in seinem Golden Bough als
eine Reinigungszeremonie bezeichnet. Zum Vergleich mit dem iugum habe
ich die porta triumphalis und das tigillum sororium herangezogen (S. 177
A. 4 und S. 180). Der Durchzug eines heimkehrenden Heeres durch die porta
triumphalis kann ebenfalls als eine Reinigungszeremonie betrachtet werden, als
eine Zeremonie, die die Reinigung des Heeres von der Befleckung des Krieges
und zugleich die Zurückführung des Heeres aus dem Kriegszustand in den Friedens-
zustand bezweckte. Die von mir a. a. O. zitierten Äusserungen2) von Alfred
v. Domaszewski in seinen Abhandlungen zur römischen Religion S. 222 f. waren
es, die mich zu dieser Auffassung bestimmten, und ich bedaure nur, dass ich
mich früher mit einem blossen Hinweis auf die porta triumphalis begnügt und
meine Auffassung des Brauches nicht genauer formuliert habe. Nachtragen möchte
ich hier einen Verweis auf die Bemerkungen von Arnold van Gennep über den
römischen Triumphbogen3) in seinem Buche Les rites de passage, Paris 1909 p. 28,
und auf den ausgezeichneten Artikel 'Door' in der Encyclopaedia of Religion and
Ethics 4, 846—852.
1) Zum indischen Hiranyagarbha-Ritus (S. 159 ff.) hätte ich auf den Aufsatz von Emil
Schmidt: Die Wiedergeburt der Herrscher von Travaucore, Globus 63, 21 ff., verweisen
sollen. Man sehe jetzt auch Frazer, Totemism and Exogamy 1, 32. 4, 208 ff.
2) Die Ausführungen Domaszewskis (die sich in erster Linie auf den Durchzug des
Heeres durch die Porta Carrnentalis beziehen) sind kritisiert worden von Wissowa, Deutsche
Literaturzeitung 1909 Sp. 2633f. und von Deubner, Archiv für Religionswissenschaft 13, 502.
3) Cette même évolution, du portique magique au monument, semble avoir été
celle de l'arc de triomphe romain, le triomphateur ayant d'abord, par une série de
rites, à se séparer du monde ennemi, pour pouvoir rentrer par son passage sous l'arc
dans le monde romain, le rite d'agrégation étant ici le sacrifice à Jupiter Capitolin et
aux divinités protectrices de la cité. — Vgl. S. 30 Anmerkung.
202
Zachariae :
Über das tigillum sororium, den 'Schwesterbalken', habe ich auf S. 180 meines
Aufsatzes gehandelt, im Anschluss an die Ausführungen von W. F. Otto im
Rheinischen Museum für Philologie 64, 466ff. Dabei habe ich mich leider einer
Unterlassungssünde schuldig gemacht. Ich hätte auch auf Roschers Lexikon
der griechischen und römischen Mythologie 2, 21 verweisen sollen1). 'Wie alt
dieses bis ins 5. Jahrh. nachweisbare Heiligtum (das tigillum) war', schreibt
Roscher hier, 'ersieht man aus der Legende, wonach die Errichtung des Tigillum
und der beiden Altäre auf die Sühne des von dem letzten Horatier begangenen
Schwestermords bezogen wurde. Zum Verständnis der Legende erinnere ich an
die von Grimm DM.3 1118 erörterte Sitte, einen verderblichen Zauber (Fluch)
dadurch zu lösen, dass man durch gespaltene Bäume, durch Erd- und Felsen-
höhlen hindurchging oder -kroch'. Roscher fasst also das Durchgehen unter
dem heiligen Schwesterbalken als ein 'Durchkriechen' auf, das zur Entsühnung
vorgenommen wurde. Und so schreibt denn auch Wissowa in der zweiten
Auflage seines Buches über die Pteligion und den Kultus der Römer 1912 S. 104,
dass das Durchgehen unter dem Balken 'eine Sühnzeremonie gewesen sein mag';
zum Durchgehen durch ein enges Tor oder einen Spalt als Reinigungs-
zeremonie verweist er, wie W. F. Otto a. a. 0., auf Frazer, The golden bough 2
3, 399ff. (in der 3. Auflage: 7, 2, 175ff.).
Sonst wüsste ich dem, was ich in meiner Abhandlung namentlich über die
ursprüngliche Bedeutung des Jochganges gesagt habe — wobei mein Bestreben
war, den "Weg für Frazers Erklärung zu ebnen —, nichts hinzuzufügen. "Wenn
ich dennoch hier noch einmal auf den Gegenstand zurückkomme, so geschieht es,
um meine Befriedigung darüber auszudrücken, dass Frazer in der dritten Auf-
lage des Golden Bough 7, 2, 193 ff. (1913) seine Erklärung des Jochganges wieder-
holt und, übrigens ohne meine Abhandlung zu kennen, nunmehr auch das
Tigillum sororium und die Porta triumphalis zum Vergleich mit dem Jugum
herangezogen hat. Da ich bei den Lesern einer Zeitschrift für Volkskunde Interesse
für Frazers Ansichten voraussetzen darf, so erlaube ich mir ausführlich mitzuteilen,
was Frazer a. a. O. über den Schwesterbalken und die Triumphpforte bemerkt hat.
Zunächst weise ich darauf hin, dass Frazer seine Vermutung, der Jochgang
sei ursprünglich eine Reinigungszeremonie gewesen, nicht, wie in der 2. Auf-
lage des Golden Bough, in eine Anmerkung versteckt, sondern jetzt in den
Text gesetzt hat2). An seine Erklärung des Jochganges schliesst Frazer S. 194
die folgenden, in der 2. Auflage noch fehlenden Bemerkungen:
This conjectural explanation of the ceremony is confirmed by the tradition that the
Roman Horatius was similarly obliged by his fellow-countrymen to pass under a yoke as
a form of purification for the murder of his sister. The yoke by passing under which he
cleansed himself from his sister's blood was still to be seen in Rome when Livy was
writing his history under the emperor Augustus. It was an ancient wooden beam
spanning a narrow lane in an old quarter of the city, the two ends of the beam being
built into the masonry of the walls on either side; it went by the name of the Sister's
Beam, and whenever the wood decayed and threatened to fall, the venerable monument,
1) Das Zitat ist gegeben worden von Fowler, Classical Review 27, 50 und fast gleich-
zeitig von Frazer, Golden Bough3, 7, 2, 194.
2) Im Wortlaut besteht zwischen dem, was Frazer 2 3, 406 Anm. und neuerdings in
der 3. Auflage 7, 2, 193 f. sagt, kaum ein Unterschied. In der 3. Auflage steht am Rande
der Seite die folgende Inhaltsangabe: The ancient Roman custom of passing
enemies under a yoke was probably in origin a ceremony of purification
rather than of degradation.
Kleine Mitteilungen.
203
which carried back the thoughts of passers-bj to the kingly age of Rome, was repaired
at the public expense1). If our interpretation of these customs is right, it was the ghost
of his murdered sister whom the Roman hero gave the slip to by passing under the
yoke; and it may have been the angry ghosts of slaughtered Romans from whom the
enemy's soldiers were believed to be delivered when they marched under the yoke before
being dismissed by their merciful conquerors to their homes.
In a former part of this work we saw that homicides in general and victorious
warriors in particular are often obliged to perform a variety of ceremonies for the pur-
pose of ridding them of the dangerous ghosts of their victims2). If the ceremony of
passing under the yoke was primarily designed, as I have suggested, to free the soldiers
from the angry ghosts of the men whom they had slain, we should expect to find that
the victorious Romans themselves observed a similar ceremony after a battle for a
similar purpose. Was this the original meaning of passing under a triumphal arch?
In other words, may not the triumphal arch have been for the victors what the yoke
was for the vanquished, a barrier to protect them against the pursuit of the spirits of
the slain? That the Romans felt the need of purification from the taint of bloodshed
after a battle appears from the opinion of Masurius, mentioned by Pliny, that the laurel
worn by soldiers in a triumphal procession was intended to purge them from the slaughter
of the enemy3). A special gate, the Porta Triumphalis, was reserved for the entrance of
a victorious army into Rome4); and it would be in accordance with ancient religious
views if this distinction was originally not so much an honour conferred as a precaution
enforced to prevent the ordinary gates from being polluted by the passage of thousands
of blood-guilty men.
Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass Frazer im Rechte ist, wenn er das
iugum und das tigillum auf eine Stufe stellt. Die Entscheidung darüber, ob er
mit seiner Ansicht über die ursprüngliche Bedeutung des Durchzugs durch die
porta triumph al i s das Richtige getroffen hat, wird wesentlich von der Beant-
wortung der Frage abhängen: Fühlten die Römer wirklich 'die Notwendigkeit der
Reinigung von dem Makel des Blutvergiessens nach einer Schlacht', hielten sie
eine Entsühnung der heimkehrenden Krieger — und zugleich ihrer Streitrosse,
Waffen usf. — für nötig? Man hat diese Frage meist im bejahenden Sinne be-
antwortet; und, wie ich meine, mit vollem Recht. Ich verweise nur auf die Er-
örterungen von W. Warde Fowler in seiner Vorlesung über die Lustration5)
und auf die von Ludwig Deubner (der die Kriegsbräuche der neuseeländischen
Maori heranzieht) in seinem Vortrag Zur Entwicklungsgeschichte der altrömischen
Religion6). Soweit meine Kenntnis der einschlägigen Literatur reicht, hat nur
1) In der Anmerkung zitiert Frazer die klassischen Stellen, wo das Tigillum sororium
erwähnt wird, und ausserdem beruft er sich auf Roschers Lexikon der Mythologie 2, 21
und auf Wissowa, Religion und Kultus der Römer2 S. 104.
2) Frazer zitiert: 'Taboo and the Perils of the Soul', pp. 165 sqq. Gemeint ist der
zweite, mir jetzt nicht zugängliche Teil der 3. Auflage des Golden Bough. In der
2. Auflage entspricht: 1, 331—341, eine Stelle, worauf ich in meiner Abhandlung über
Scheingeburt oben 20, 1802 bereits verwiesen habe.
3) Frazer zitiert: Plinius n. h. 15, 135 'Quia suffimentum sit caedis hostium et pur-
gatio.' — Vgl. die oben 20, 1802 von mir angeführte Stelle Festus p. 117, 13 Laureati
milites sequebantur currum triumphantis, ut quasi purgati a caede humana intrarent
Urbem.
4) Frazer zitiert: Cicero, in Pisonem 23, 55; Josephus, Bellum Judaicum 7, 5, 4.
5) Die Anthropologie und die Klassiker, sechs Vorlesungen .... übersetzt von
Johann Hoops, Heidelberg 1910 S. 205. 223.
6) Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur
14, 324 ff.
204 Zachariae:
J. S. Reid die oben gestellte Frage mit Entschiedenheit verneint. 'It can hardly
be supposed', schreibt er, 'that the Romans ever regarded the triumph as in any-
way a lustral ceremony. The lustratio is a means of putting away guilt and
winning favour from the gods; but an army which has just been vouchsafed a
victory in answer to vows has ample proof that the countenance of heaven has
been secured, and the shedding of blood in a iustum bellum did not,
to the Roman mind, call for purification' (The Journal of Roman Studies
2, 46). Ich sehe aber nicht ein, weshalb wir den Römern einen Glauben ab-
sprechen sollen, den wir bei anderen Völkern reich genug vertreten finden. Wie
weit verbreitet die Anschauung war und noch ist, dass Krieger, die Blut ver-
gossen haben, entsühnt werden müssen, hat ja Frazer im Golden Bough 2 1, 331 ff.
unter der Überschrift 'Manslayers tabooed' gezeigt und mit vielen Beispielen
belegt. Zu der von Frazer S. 335 und auch von Fowler (Die Anthropologie und
die Klassiker S. 223) zitierten Stelle Numeri 31, 19 f. (Lagert euch ausserhalb des
Lagers sieben Tage, jeder, der Menschen getötet oder Erschlagene angerührt hat,
und entsündigt euch am dritten und siebenten Tage, ihr samt euren Ge-
fangenen. Alle Kleider sowie alle Geräte von Leder, Ziegenhaar und Holz müsst
ihr entsündigen) vergleiche man auch die Kapitel 'Verunreinigung durch Leichen'
und 'Rückkehr in den profanen Stand' in Friedrich Schwallys Semitischen
Kriegsaltertümern 1, 66f. 106ff. sowie Robertson Smiths Lectures on the Religion
of the Semites 2 491.
Zum Schluss muss ich noch auf ein merkwürdiges Zusammentreffen hinweisen.
Die von mir mitgeteilten und besprochenen Ausführungen Frazers über das iugum,
das tigillum und die porta triumphalis waren von ihm niedergeschrieben aber noch
nicht dem Druck übergeben, da erschien ein Artikel von W. Warde Fowler mit
der Überschrift Passing under the yoke in der Classical Review 27 (1913),
48—51. Ähnlich wie ich selbst vor vier Jahren, so geht dieser Autor von Frazers
Vermutung über den Jochgang (Golden Bough 2 3, 406) aus und zeigt, dass das
Durchgehen unter dem Schwesterbalken und der Durchzug durch die Triumph-
pforte mit dem Jochgang auf eine Stufe gestellt, dass alle drei Bräuche auf den-
selben Grundgedanken zurückgeführt werden können. Merkwürdig ist dieses
Zusammentreffen von Frazers und Fowlers Ansichten allerdings; 'the closeness of
the coincidence between our views is a welcome confirmation of their truth',
bemerkt Frazer im Golden Bough 3 7, 2, 195, Anm. 4. Im übrigen habe ich nicht
die Absicht, alle die Gründe hier zu wiederholen, mit denen Fowler seine Auf-
fassung gestützt hat. Doch will ich besonders hinweisen auf die Bemerkungen
Fowlers über die älteste Form der porta triumphalis und das herausheben, was
er am Schluss seines Artikels über die Bedeutung des Jochganges sagt. Was für
einen Zweck hatte man wohl im Auge — so fragt er —, wenn man die Kriegs-
gefangenen dieselbe Zeremonie durchmachen liess, wie den Mörder (z. B., der
Sage nach, den Horatier) oder das siegreiche Heer? Nach Frazer wollte man die
Gefangenen, ehe man sie nach Hause entliess, von ihren 'malignant and hostile1)
powers' befreien. 'I do not see', bemerkt Fowler hierzu, 'that we can find a
better explanation, though I might put it somewhat differently. They had to
be brought out of one status into another; they must not be any longer
the same beings they were before the deditio; just as in historical times the
dediticius passed out of his former status into a new one, and became absorbed
in the body politic of the conqueror, to be henceforward harmless.' Oben 20, 179
1) 'Some uncanny powers' sagt Frazer in der 3. Auflage des Golden Bough
7, 2, 194.
Kleine Mitteilungen.
205
hatte ich die Vermutung ausgesprochen, dass das Durchgehen unterm Joch die
Zuriickführung der Kriegsgefangenen in ihre frühere Stellung bezweckte.
Aber das sollte nur eine Vermutung sein. Denn da das 'Durchkriechen' den
verschiedensten Zwecken dient, so kann man allerdings über den ursprüng-
lichen Sinn des Jochganges verschiedene Ansichten aufstellen. Aber damit scheint
mir Frazer durchaus das Richtige getroffen zu haben, dass er die gewöhnliche
Annahme, der Jochgang sei eine Zeremonie der Erniedrigung oder Demütigung
gewesen, zurückgewiesen hat. Das möchte ich besonders betonen. Wer dem
genialen englischen Forscher nicht beizupflichten vermag, dem wird nichts anderes
übrig bleiben, als zur 'Symbolik' seine Zuflucht zu nehmen. Schon Livius be-
hauptet an der Stelle, wo er das iugum zum ersten Male erwähnt (3, 28: Sieg
der Römer über die Aequer), dass die Kriegsgefangenen unter dem Joch davon-
ziehen mussten, 'ut exprimatur confessio subactam domitamque essegentem';
und H. Nissen gibt in seiner Beurteilung des Jochganges der Römer bei Caudium
allerdings zu, es sei kein besonderer Schimpf gewesen, den C. Pontius den ge-
fangeneii*Legionen antat, wenn er sie das Joch passieren liess; aber dann fügt er
hinzu: die Symbolik deutet an, dass sich die Römer als kriegsgefangen und nur
durch Gnade in Freiheit gesetzt bekannten1). Ähnlich erklärt Henri Gaidoz in
seinem Buche über das Durchkriechen2) den Jochgang für einen Unterwerfungs-
ritus (rite de soumission). Er geht aus von dem Rasen gang, der als ein Heil-
ritus und auch als ein Zeichen der Unterwerfung vorkommt (oben 20, 148f.;
177), erinnert an das Werfen auf die Erde, an Ausdrücke wie Mordre la poussiere
ou la terre, Ins Gras beissen usf., und unter den Belegen teilt er mit, was
Baber in seinen Denkwürdigkeiten von den Afghanen erzählt3). Als Baber
Afghanistan erobert hatte, und als die Afghanen einsahen, dass weiterer Wieder-
stand vergeblich sein würde, da erschienen ihre Gesandten vor Baber, Gras im
Munde haltend. Das sollte bedeuten: Wir gehören dir, wir sind dein Vieh4).
'C'est ainsi', bemerkt Gaidoz dazu, 'que ce rite de soumission était compris: c'est
un rite représentatif d'asservissement, où l'homme asservi est ravalé au rang de
bétail, rite identique, par l'intention, à celui des Romains quand ils
faisaient passer l'ennemi vaincu sous le joug, c'est-à-dire l'assi-
milaient à une bête de labour'. Aber jenes torartige Gerüst oder Gestell,
1) Gegen diese Erklärung habe ich mich bereits oben 20, 179 ausgesprochen. So
wendet sich auch Schwally bei der Besprechung von gewissen Bundschliessungsriten
(vgl. oben 20, 150ff.) mit Entschiedenheit gegen die symbolische Theorie. 'Wenn auch
bereits sehr früh aus diesen Riten ein symbolischer Sinn herausgefühlt wurde, so muss
derselbe doch schon um deswillen sekundär sein, weil religiöse Motive immer älter
sind als symbolische' (Semitische Kriegsaltertümer 1, 54f.). Ich verweise noch auf
die treffenden Bemerkungen von W. Kroll in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1905,
243 f. und von P. Sartori, Sitte und Brauch 1, 15 f.
2) Un vieux rite médical 1892 p. 83. Ich habe mich zwar schon früher über die
von Gaidoz hier vorgetragene Ansicht geäussert, halte es aber für erspriesslich, hier noch
einmal darauf zurückzukommen; ist doch Un vieux rite médical ein seltenes, durchaus
nicht allgemein zugängliches Buch. Übrigens vergleiche man auch den Artikel 'La
soumission par le symbole de l'herbe', den Gaidoz in seiner Mélusine 9, 33—34 ver-
öffentlicht hat (mir jetzt nicht zugänglich).
3) Ich benutze hier auch eine Mitteilung von G. A. Grierson, Indian Antiquary 20
(1891), 338 f.
4) Zu diesem Ausdruck vergleiche man R. Pischel (der übrigens den von Gaidoz
aus Babers Denkwürdigkeiten beigebrachten Beleg nicht kennt) in seiner Abhandlung
über die Redensart 'Ins Gras beissen', Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1908, S. 448.
206
Zachariae, Boehm:
unter dem besiegte Feinde hindurchgehen mussten, ehe sie nach Hause entlassen
wurden, ist wohl einem Joch ähnlich und wird geradezu Joch genannt, aber es
ist darum kein Joch im eigentlichen, gewöhnlichen Sinne des "Wortes; es ist
nichts weiter als ein 'extemporised arch', um Fowlers sehr glücklichen Ausdruck
zu gebrauchen (Classical Review 27, 48). Einen solchen Bogen mit drei Speeren
zu bilden, von denen zwei in die Erde gesteckt und einer quer darüber gebunden
wurde, lag draussen im Felde nahe genug. Sehr wenig unterscheidet sich das
Gestell, das die Römer iugum nannten, von dem, das die Tartaren errichteten
(duas hastas ponunt iuxta ignes, et unam cordam in summitate hastarum) und
unter dem sie nach einem Todesfalle hindurchschritten, um sich zu reinigen; und
dieses Gestell wiederum ist sehr nahe verwandt dem Bogen — oder dem 'Joch',
wie es Oldenberg nennt —, unter dem in Indien die Angehörigen eines Ver-
storbenen, wenn sie von der Verbrennungsstätte zurückkehrten, hindurchgehen
mussten: zwei Äste eines heiligen Baumes werden in den Boden geschlagen und
oben mit einer dünnen Schnur zusammengebunden (oben 17, 470; 20, 180f.).
•
Halle a. S. Theodor Zachariae.
Zur Pflege üer Volkskunde in Italien.
Unter den mannigfaltigen Veranstaltungen, mit denen im Jahre 1911 das
50jährige Jubiläum des Königreichs Italien gefeiert wurde, stand die auf der
Piazza d'Armi in Rom errichtete 'Mostra Etnografica' an einer der ersten
Stellen. Sie war der 'Etnografia Italiana', der italienischen Volkskunde, gewidmet
und zerfiel, wenn man von dem üblichen Vergnügungspark u. dgl. absieht, in
zwei Hauptteile: Einmal waren die historischen Provinzen des Königreichs durch
besondere Gebäude vertreten, die jedesmal in der für ihre Gegend charakteristischen
Bauart errichtet waren und in ihrem Inneren in ebenfalls charakteristischem
Rahmen Sonderausstellungen der bezeichnenden Industrie-, Handwerks- und Heim-
arbeitserzeugnisse enthielten, zum Teil diese sogar (Flechtereien, Gewebe u. dgl.)
vor den Augen der Besucher entstehen Hessen. Neben vielem Interessanten und
Hübschen gab es hier auch manche Geschmacklosigkeiten, so Wiedergaben von
Teilen des Dogenpalastes in Venedig, des Palazzo Vecchio in Florenz, die bei
der selbstverständlichen Verkleinerung der Masse und der Unechtheit des Materials
unschön wirkten. — Den zweiten Teil der Ausstellung bildete eine in einem
besonderen, würdigen Gebäude untergebrachte Sammlung von Volkstrachten,
Handarbeiten, Geräten und anderen volkskundlichen Gegenständen, die wegen der
Fülle des aus ganz Italien zusammengebrachten Materials und dessen wissen-
schaftlicher Anordnung einen vorzüglichen Eindruck machte und sehr interessant
und lehrreich war. Besonders reichlich waren die Gruppen der volkstümlichen
Drucke, Flugblätter usw. sowie der Amulette beschickt.
Den Kern dieser Sammlungen bildete das von Dr. Lamberta Loria am
20. September 1906 in Florenz begründete Museo di Etnografia Italiana.
Dieser Gelehrte, der mit unermüdlichem Fleisse und selbstloser, unerschütterlicher
Begeisterung für die Belebung der volkskundlichen Studien in Italien tätig ge-
wesen ist, wurde im Jahre 1855 zu Alexandria in Ägypten geboren, von wo sich
sein Vater bald nach Pisa begab. Hier genoss L. seine Ausbildung, die 1881 mit
der Erwerbung der Doktorwürde ihren Abschluss fand. Ursprünglich Mathematiker,
Kleine Mitteilungen.
207
wandte er sich allmählich der Völkerkunde zu und machte mehrere grosse wissen-
schaftliche Reisen, 1883 nach Lappland, Russland, dem Kaukasus und Turkestan,
1886 nach Indien, 1889 und 1891—1898 nach Neu-Guinea, von wo er bemerkens-
werte zoologische, ethnographische und kraniologische Sammlungen heimbrachte,
1905 nach Erythrea. Auf dieser letzten Auslandsreise reifte in ihm der Entschluss,
sich für den Rest seines Lebens der Ethnographie seines Heimatlandes zu widmen,
wofür er in einem seiner Reisebegleiter, Aldobrandino Mocchi, einen von gleichen
Plänen erfüllten Mitarbeiter fand. Mocchi hatte sich bereits im Laufe der Zeit
eine kleine Sammlung volkskundlicher Gegenstände angelegt, die den Grundstock
des bald darauf von Loria begründeten Museums bildete. Dieser befand sich
selbst in einer finanziell günstigen Lage, so dass er seine ganze Zeit und einen
grossen Teil seiner Mittel dem neuen Unternehmen widmen konnte, ausserdem
gewann er in dem Grafen Bastogi einen hochherzigen Förderer seiner Sache, der
ihm die pekuniäre Sicherung des neuen Museums gewährleistete. Dieses wurde
in Florenz in Privaträumen untergebracht und umfasste schon ein Jahr nach
seiner Begründung etwa 2000 Gegenstände, die von Loria und Mocchi gründlich
katalogisiert waren.
Im Jahre 1908 Hessen unverschuldete finanzielle Verluste des Grafen Bastogi
den Fortbestand des Museums ernstlich gefährdet erscheinen. Da eröffnete sich
eine neue, glänzende Aussicht für Lorias Pläne, indem er von dem offiziellen
Komitee zur Vorbereitung der Jubiläumsveranstaltungen in Rom den Auftrag
erhielt, seine Museumssammlungen 1911 auf der Mostra Etnografica auszustellen,
und zu deren Vervollständigung mit reichlichen Geldmitteln versehen wurde. Er
begann nun eine rastlose Tätigkeit, reiste in ganz Italien umher, um zu sammeln,
und vor allem, um sammelnde Mitarbeiter in allen Volksschichten zu gewinnen.
Ein besonders tätiger Helfer bei diesen Vorbereitungen war ihm sein Freund
Prof. Francesco Baidassero ni. Um das durch ihn neu erweckte Interesse an
volkskundlicher Sammel- und Forschungstätigkeit dauernd wachzuhalten und ihm
einen literarischen Mittelpunkt zu geben, gründete Loria am 1. Juli 1910 die
Gesellschaft für italienische Volkskunde, Società di Etnografia Italiana
deren Vorsitz er übernahm und deren Organ, die Zeitschrift 'Lares', von der
später noch ausführlicher berichtet werden soll, er herausgab.
Lorias vorbereitende Tätigkeit war von bestem Erfolge gewesen. Der Katalog
der Volkskunde-Ausstellung (Bergamo, Istituto Italiano di Arti Grafiche 1911),
verfassi zum grössten Teil von Baldasseroni und erschienen leider erst eine Woche
vor Schluss der Ausstellung (s. Lares 1, 1 S. 103 f.), umfasst gegen 40000 Gegenstände.
Vom 19. bis 24. Oktober 1911 tagte in Rom der erste Kongress für
italienische Volkskunde unter Lorias Leitung. Die Verhandlungen sind unter
dem Titel 'Atti del primo Congresso di Etnografia Italiana' als stattlicher Band
erschienen (Perugia, Unione Tipogr. Coop. 1912). Da es unmöglich ist, an dieser
Stelle über jeden Vortrag ausführlicher zu berichten, so seien nur die Haupt-
themata und -vortragenden genannt: Es berichteten H. Schuchardt über 'Sachen
und Wörter' (der Vortrag wurde in Abwesenheit des Verfassers von Baldasseroni
verlesen), A. de Gubernatis über die Geschichte in der Ethnologie, C. Puini über
Trauerbräuche, R. Corso über Hochzeitsbräuche, A. Baragiola über das Bauern-
haus, G. Bellucci über Amulette, F. Novati über volkstümliche Drucke, A. Niceforo
über Sondersprachen und ähnliches, A. Andriulli über die albanesischen Siedlungen
in Italien u. a. m.
Loria hegte die nicht unbegründete Hoffnung, dass die mit so grosser Mühe
zusammengebrachte Sammlung auch nach dem Schluss der Ausstellung erhalten
208
Boehm:
bleiben, vomStaate übernommen und zu einem Nationalmuseum für italienische
Volkskunde ausgestaltet werden würde; in der Schlusssitzung des Kongresses am
24. Oktober wurde eine dahingehende Entschliessung einstimmig angenommen und
der Vorstand beauftragt, dem Unterrichtsministerium davon Mitteilung zu macben.
Dieselbe Sitzung brachte eine auch für weitere Kreise interessante Besprechung
der Frage, nach welchen Grundsätzen das zukünftige Nationalmuseum gestaltet
werden solle, ob die Gegenstände nach stofflichen oder nach geographischen
Gruppen angeordnet werden sollten. Beide Standpunkte wurden von ihren Ver-
tretern lebhaft verteidigt, Baldasseroni trat sehr energisch für die Aufstellung nach
Materien ein, während das geographische Prinzip besonders von Prof. Pigorini
empfohlen wurde, in dessen Sinne auch schliesslich eine Tagesordnung beschlossen
wurde.
Die Bemühungen Lorias schienen dem Ziele nahe, und schon teilte er seinen
Freunden mit, dass bald, mit finanzieller Unterstützung der Stadtverwaltung von
Rom, das neue Museum in der Hauptstadt, voraussichtlich in der Valle Giulia,
erstehen werde. Da riss ihn am 4. April 1912 der Tod mitten aus seiner Tätigkeit
heraus, zur tiefsten Betrübnis der ihm nahestehenden Forscher und aller für die
Volkskunde Italiens Interessierten. Die Società, deren Vorsitz nach Lorias Tod
an Prof. Francesco No vati überging, sieht jetzt ihre vornehmste Aufgabe darin,
den Plan ihres Begründers zu verwirklichen. Wie mir Herr Dr. Giovanni Ferri,
der Schriftführer der Gesellschaft, mitzuteilen die Freundlichkeit hatte (am
2. März d. J.), sind die Aussichten auf Erfolg zurzeit nicht ungünstig, indem der
Staat zunächst die provisorische Aufbewahrung der Sammlungen Lorias, die im
Palazzo delle Belle Arti in Valle Giulia untergebracht worden sind, übernommen
hat. Herrn Dr. Ferri danke ich an dieser Stelle für diese und andere freundliche
Auskünfte aufs verbindlichste.
Hoffen wir, dass die Bemühungen der Società, die auch unserem Vereine
alsbald nach ihrer Begründung als dauerndes Mitglied beigetreten ist, bald zum
Erfolge führen. Italien bietet bei der Mannigfaltigkeit seiner Bewohner in Mund-
art, Sitte, Tracht usw. ein so unendliches reiches Gebiet für die Forschung, dass
die Errichtung eines grossen Museums in Rom als eines Zentralpunktes der ge-
samten volkskundlichen Forscher- und Sammeltätigkeit, nicht nur in Italien sondern
allenthalben nur mit der grössten Sympathie begrüsst werden kann.
Unter den Namen der Männer, die hier als die Hauptträger der neuen volks-
kundlichen Bewegung in Italien genannt wurden, wird man vielleicht den des
Altmeisters der italienischen Volkskunde, Giuseppe Pitrès, mit Verwunderung
vermisst haben. Sind doch die Verdienste dieses Gelehrten um die italienische
Volkskunde so hoch, dass es in jeder Beziehung zu bedauern wäre, wenn er dem
von Loria begonnenen Werke gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstände.
Zum Glücke ist dies keineswegs der Fall, wenn auch traurige Umstände eine
aktive Beteiligung Pitrès unmöglich machen. Loria, der mit Pitrè nahe befreundet
war, bat ihn, für das erste Heft der Lares um eine Besprechung des Buches von
R. Pettazzoni über die primitive Religion in Sardinien, da er der Ansicht war,
dass 'die Erstlingsnummer einer Zeitschrift, die die Volkskunde unseres Volkes
behandelt, irgend einen Beitrag von Giuseppe Pitrè enthalten müsse' (Lares 1, 1
S. 8). Leider erklärte sich Pitrè in einem wehmütigen Brief an Loria für ausser-
stande, diese Bitte zu erfüllen. Er stehe, so schreibt er, noch immer unter dem
niederdrückenden Eindruck des unsäglichen Unglücksschlages, der ihn getroffen
[der Tod seines Sohnes], und lebe nur noch, um den Wunsch seines angebeteten
Sohnes, die Vollendung der 'Biblioteca delle tradizioni popolari siciliane', zu
Kleine Mitteilungen.
209
erfüllen. Für Zeitschriften zu schreiben fühle er sich geistig und physisch unfähig.
An dem Kongresse nahm er aus denselben Gründen nicht teil, wenn sich auch
sein Name auf dem 'Elenco degli inscritti al Congresso' befindet. Auf ein herz-
liches und seine Verdienste hervorhebendes Begrüssungstelegramm von der Er-
öffnungssitzung antwortete Pitrè ebenso herzlich und wünschte dem 'weisen und
patriotischen Werk' Lorias besten Erfolg. Dass diese "Wünsche des verehrungs-
würdigen Meisters die neue Bewegung begleiten, darf man gewiss als ein glück-
liches Omen betrachten.
Eines der Hauptverdienste Pitres um die italienische Volkskunde war die
Herausgabe des 'Archivio per lo studio delle tradizioni popolari'. Leider hat
diese Zeitschrift, wohl aus den oben von Pitrè selbst bezeichneten Gründen, mit
dem 2. Hefte des 24. Bandes, das im Frühjahr 1910 ausgegeben wurde, ihr Er-
scheinen eingestellt, was jeder, der sich mit der italienischen Volkskunde be-
schäftigt, tief bedauern wird. Die Aufgabe, ein ganz Italien umfassendes Organ
volkskundlicher Wissenschaft zu bieten, hat nun die Società di Etnografia Italiana
mit der Zeitschrift 'Lares' übernommen, deren erster stattlicher und schön
ausgestatteter Band im Jahre 1912 erschien (267 S., bei E. Loescher & Co.
[W. Regenberg] in Rom). Vom 2. Bande liegt mir das erste, nach Lorias Tod
von Prof. Francesco No vati herausgegebene Heft vor, das zweite dürfte nach
einer Nachricht von Herrn Dr. Ferri auch schon erschienen sein, ist mir aber
noch nicht zugegangen. — Den Namen der Laren, der altitalischen Haus- und
Flurgottheiten, wählte man, einer Anregung Novatis folgend, im Hinblick auf das
Ziel der neuen Zeitschrift, die Ursprünge und Entwicklungen der Überlieferungen
und Bräuche und des äusseren Lebens des italienischen Volkes zu erforschen.
Sie, die das Leben der Vorfahren von der Wiege bis zum Grabe begleiteten und
verehrt wurden, wo nur eine menschliche Ansiedlung sich erhob, sollen auch auf
dem Wege der heutigen Erforschung des Volkslebens in allen seinen Äusserungen
schützend und segnend voranschweben.
Auch in bezug auf die Lares verbietet es sich, im Rahmen dieser kurzen
Mitteilungen auf die einzelnen Aufsätze näher einzugehen. Der 1. Band wird
durch einen programmatischen Artikel von Loria eingeleitet, in dem er zunächst
von der Entstehung der Società und der Ausstellung spricht und der Hoffnung
Ausdruck gibt, dass das Nationalmuseum bald errichtet werde. Dann erläutert er
den Begriff der Etnografia Italiana als einer Wissenschaft, die sowohl die geistige
wie die materielle Kultur des italienischen Volkes umfasse; das letztgenannte
Gebiet sei bis jetzt ziemlich vernachlässigt, jedenfalls nicht genügend in
organischem Zusammenhang mit dem ersten, dem der 'Folkloristen', betrachtet
worden. Die Behauptung, dass es die hier definierte Wissenschaft bis jetzt in
Italien überhaupt nicht gegeben habe, klingt zwar kühn, ist aber ohne Zweifel
schwer zu bestreiten, da es eben an einer Zentralorganisation gefehlt hat, die die
Ergebnisse der verschiedenen Wissensgebiete, die ein einzelner kaum noch zu
umfassen vermag, sammelte und durch eine Zeitschrift wie durch Kongresse u. dgl.
einen Austausch der Meinungen und Resultate ermöglichte. Pitrès Archivio war
fast ausschliesslich der Folklore im engeren Sinne gewidmet; Pitrè selbst be-
zeichnet bekanntlich seine Wissenschaft als Demopsicologia und versteht darunter
das Studium des moralischen und materiellen Lebens der zivilisierten, nicht-
zivilisierten und wilden Völker, zieht also die Grenzen ausserordentlich weit. —
Es folgt eine Übersicht über die Verhandlungen des Kongresses von Mocchi, eine
Abhàndlung von Baldasseroni über die Frage der Anordnung in dem zukünftigen
Museum, in der er seinen oben gekennzeichneten Standpunkt — Aufstellung nach
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 2.
14
210
Michel, Hahn:
Materien — verteidigt. Dann eine Reihe von Aufsätzen, deren Titel hier folgen:
A. Baragiola, Una leggenda di Formazza; R. Pettazzoni, Sopravvivenze del rombo
in Italia; L. Salvatorelli, Andrew Lang; G. Nicasi, Le credenze religiose delle
popolazioni dell'Alta Valle del Tevere; G. A. di Cesarò, Il valore occulto di
superstizioni ecc.; A. Solmi, Sulla interpretazione dei riti nuziali; A. Baragiola,
A proposito di una pubblicazione di Ewald Paul; A. Balladoro, Una leggenda
della morte; L.Loria, L'Etnografia strumento di politica interna e coloniale. Den
Schluss machen Bücherbesprechungen, bibliographische Notizen, Anfragen und
Antworten. — Das erste Heft des zweiten Bandes bringt zunächst einen Nachruf
auf Loria von Baldasseroni mit zwei Porträts des Verstorbenen, dann Abhandlungen
von P. Novati, La raccolta di stampe popolari italiane della biblioteca di Pr. Reina;
A. Levi, Contributi della Società di Etnografìa Italiana allo studio del diritto e
della coscienza giuridica popolare; G. B. de Gasperi, Appunti sulle abitazioni
temporanee della Majella. Es folgen einige kurze Mitteilungen, Besprechungen usw.,
wie im ersten Bande.
Der Bezugspreis der Zeitschrift (jährlich 16 Bogen mit 16 Tafeln) beträgt für
das Ausland 17 Lire; einzelne Hefte werden für 7 Lire abgegeben.
Der erste Band ist mit einer schönen Wiedergabe der Larenstatuette aus dei-
Ambrosiana geschmückt und trägt als Motto das uralte 'Enos Lares iuvate!', die
Bitte um Segen und Gedeihen. Dass diese Bitte in Erfüllung gehe und die von
Loria mit soviel Liebe ins Leben gerufene und geförderte Bewegung weitere
Portschritte mache und schöne Früchte trage, ist gewiss der Wunsch aller volks-
kundlich Interessierten und Tätigen.
Berlin-Pankow. Fritz Boehm.
Biicheranzeigen.
Friedrich Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des
deutschen Lehnworts. I. Teil. Die Zeit bis zur Einführung des Christen-
tums. Dritte gänzlich umgearbeitete und stark vermehrte Auflage.
Halle, Waisenhaus 1913. XL, 268 S. 8°. 4,60 Mk.
Dass dies vortreffliche Werk, auf das ich in dieser Zeitschrift schon mehrfach
empfehlend hingewiesen habe (oben 21, 431 f. 23, 208 f.), nach verhältnismässig
kurzer Zeit in 3. Auflage erscheinen kann, dazu darf man den Verfasser, die
Verlagsbuchhandlung, aber auch das Publikum aufrichtig beglückwünschen. Der
vorliegende 1. Band ist gegen die 2. Auflage, die 1905 erschien, um ungefähr das
Doppelte gewachsen. Seiler hat sich die Arbeit nicht leicht gemacht und ist den
Forschungen des letzten Jahrzehnts mit grosser Gewissenhaftigkeit gefolgt:
namentlich die Arbeiten von Schräder, Hoops, Hirt, Meringer, Cramer, Feist und
zuletzt noch Kauffmanns 'Deutsche Altertumskunde' haben ihm zahlreiche An-
regungen geboten und wichtiges Material vermittelt. Vermisst habe ich die
Heranziehung des lehrreichen und scharfsinnigen Buches von Gradmann: 'Der
Getreidebau im deutschen und römischen Altertum1 (Jena 1909). Sehr erweitert,
Bücheranzeigen.
211
zum Teil neu geschrieben wurden die Kapitel über Obstzucht und Gartenbau,
Jagd und Fischfang, Handwerk, Hauswirtschaft und Körperpflege. Überall geht
Wortforschung mit Sachforschung Hand in Hand; das Urteil ist vorsichtig und
unbefangen, die Darstellung schlicht und prunklos. Seinen Standpunkt den Fremd-
wörtern gegenüber hat der Vf. mit Recht festgehalten; es fällt ihm nicht schwer,
die stumpfen Argumente seiner Gegner zu widerlegen. Der blinde Chauvinismus,
der sich zur Zeit bei dem gesteigerten Nationalgefühl auch in die Wissenschaft
eindrängt, wird von Seiler kühl zurückgewiesen. „Die Aneignung der römischen
Zivilisation ist es, die unserem Volke Bestand und Dauer verliehen hat" (S. 255).
„Wir müssen zugestehen, mag es uns auch leid sein, dass es eine originelle
deutsche Kultur nicht gegeben hat und nicht geben konnte, dass wir, was wir ge-
worden sind, andern, früher als wir entwickelten Völkern verdanken" (S. 256).
Leipzig. Hermann Michel.
Konrad Hörmann, Herdengeläute und seine Bestandteile. Hessische Blätter
für Volkskunde Bd. XII Heft 1—2. Leipzig, B. G. Teubner 1913. 99 S.
Der Verfasser hatte schon früher über ein eigenartiges Gerät, den Schellen-
bogen, an dem die Kuhglocke hängt, gearbeitet, das, seit wir anfangen, auch
das deutsche Volk und seine Geräte, Trachten, Wohnung, Gebräuche usw. als
einen Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung zu betrachten, die Aufmerksam-
keit der Forscher erregt hatte. Nun hat ihn der Erfolg seiner damaligen Arbeiten
veranlasst, der Musik unserer Herden, ihrer Verbreitung und Bedeutung diese
schöne eingehende und mit einer Anzahl interessanter Bilder auf 13 Tafeln ge-
schmückte Arbeit zu widmen, zu der wir uns und den Verfasser beglückwünschen
können. Als ein eigenartiges aber doch nicht unwichtiges Ergebnis ist dabei
festzustellen, dass eigentlich nur die germanische Welt Anspruch auf das richtig
abgestimmte Herdengeläute hat. Wir begegnen freilich schon auf altägyptischen
Darstellungen Rindern, besonders auch Ochsen, zu deren reichem Schmuck Gebilde
gehören, die unseren Glocken verzweifelt ähnlich sehen, aber auch wenn wir in
Afrika heute noch oft Glocken, und zwar ganz kunstgerechte, vom afrikanischen
Eisenschmied mit seiner altbewährten Kunst hergestellte, lautklingende Glocken
vorfinden, so haben wir hier doch das, was wir unter dem deutschen Ausdruck
Geläut verstehen, keineswegs anzunehmen. Es handelt sich hier vielmehr einmal
um einen Schmuck, und das ist wohl auch die Hauptabsicht bei dem ägyptischen
Behang, andererseits handelt es sich um ein klingendes Instrument, das ja auch
dem Schmuck dienen kann, ähnlich wie die afrikanischen Glockenspeere oder die
zahlreichen Glocken und Schellen, die der Afrikaner in seinen Schmuck, be-
sonders in seinen Tanzschmuck einzieht, endlich ist auch noch an die Glocke
als Amulett zu denken.
Natürlich ist aber die Glocke nicht nur ein Schmuckgerät mit musikalischer
Nebenbedeutung, sondern es kommt auch in Frage, dass der Klang der Schelle
oder Glocke das Auffinden des Tiers in unübersichtlichem Gelände bedeutend
erleichtern kann, und in dieser Bedeutung kommt es wirklich auch an der ersten
beglaubigten Stelle vor. Hier handelt es sich um ein Leittier, das durch seine
Schelle das Auffinden der ganzen Herde erleichtern soll. Solche für den Menschen
wie für die übrigen Tiere der Herde nützlichen und wichtigen Leitschellen finden
wir ausserordentlich weit verbreitet, bei den Kamelkarawanen Asiens, wie bei den
Maultierzügen des romanischen Amerikas. Das ist aber natürlich etwas ziemlich
14*
212
Hahn, Feist:
anderes als das in sich melodisch abgestimmte Geläut unserer Rinderherden, das
in den Harzer Sommerfrischen vielfach der Kuhherde den Scherznamen der Orts-
kapelle eingetragen hat. Hier handelt es sich um ein echtes Erzeugnis des ger-
manischen Volksgeistes, das, wenn es, wie es sein sollte, mit richtigem Musiksinn
zusammengestellt ist, entschieden ein reizvolles, den Genuss erhöhendes Stück der
Landschaft bildet.
H. ist auch auf die schwierige und auch technisch wichtige Einteilung der
Rollen, Schellen und ihre sonstige Ausgestaltung eingegangen und kommt dabei
zu interessanten Schlüssen. Für die Volkskunde wäre es vielleicht zu empfehlen,
dass irgend ein musikalischer Sachverständiger, der Naturgefühl und Liebe zu
den Tieren verbindet, sich einmal der Stimmung der Glocken annimmt und für
die Harmonie unseres Herdengeläutes sorgt, soweit es noch vorhanden ist oder
mit der neuen Richtung gegen zuviel Stallfütterung wieder auftritt. Volkskundlich,
besonders aber im Interesse der Wohlfahrtspflege ist mir ein sehr bezeichnender
Umstand aufgefallen, der uns zugleich als Muster dafür gelten kann, mit welch
naiver und doch sachlich zweckentsprechender Klugheit unser Volk mitunter seine
Gebräuche ausgestaltet: Die erste literarische Erwähnung der Schelle ist, wie
gesagt, eine Stelle, in der eine empfindliche Schädigung des Nachbarn zugleich
mit der Entwendung eines vielleicht beneideten Geräts beim Diebstahl der Schelle
des Leittiers zusammengeht. Hirten sind vielfach Jungvolk, und Jugend hat keine
Tugend.
Gleichwohl war das gegenseitige Entwenden der Viehglocken, wenn es zum
Sport wurde, doch sicher oft mit ärgerlichen Störungen des Viehtriebs verknüpft.
Da war es denn eine nützliche und einfache Einrichtung, wenn mit dem Amt des
Hirten auch die Beschaffung des Geläuts verbunden wurde und so eine feste
Kaste, die ein grosses Gebiet in einem engeren Verbände unter ihrer Obhut hatte,
das Eigentum an diesem gefährdeten Besitz in wenigen festen Händen vereinigte.
Für die Volkskunde sehr wesentlich ist dann noch die Rolle, welche die
Viehglocken in dem Gebiet des schwäbischen und bayerischen Stammes in weiterem
Sinne in jenen jetzt überall nur in Überlebsein und in zersprengten und dem Volke
trotz aller Wichtigkeit, ja Heiligkeit selbst unverständlichen Resten erhaltenen
Bräuchen spielen, die in dem Berchtenlaufen, in den Fastnachts-und Frühlings-
bräuchen, dem Glöcklerlaufen usw. erhalten sind und bei denen die Herden-
glocken als Teile der herkömmlichen Kostüme Schmuck und musikalische Begleitung
hergeben müssen.
Weil die romanische Welt das Herdengeläute in unserem Sinne nicht gekannt
hat, ist es natürlich ganz ausgeschlossen, dass, wie kurze Zeit eine jetzt wohl
schon überwundene Richtung behaupten wollte, hier Reste vorliegen sollten, die
auf ursprünglich römische Gebräuche zurückgingen, es wird sich vielmehr wirklich,
wie die ältere Zeit das angenommen hatte, um Reste einer echt germanischen
Acker- und Fruchtbarkeits-Religion gehandelt haben. Es ist jedenfalls sehr zu
hoffen, dass Th. von der Goltz in seiner 'Geschichte der Deutschen Landwirt-
schaft' (Berlin 1902—03) als der letzte behauptet hat, vor den Römern könne
von deutscher Landwirtschaft nicht die Rede sein. Die vorgeschichtlichen Funde
widerlegen eine solche Behauptung auf das allerschärfste. Und diese Arbeit
beweist ja auch, wie in der Herdenwirtschaft das germanische Volk schon in
ältester Zeit weit von Rom abführende Wege gewandert war. Dem Verfasser der
gründlichen, fleissigen und vielfach so anregenden Arbeit ist jedenfalls eine baldige
Vollendung des noch ausstehenden Teils von Herzen zu wünschen.
Berlin. Eduard Hahn.
Bücheranzeigen.
213
Richard Thurnwald, Forschungen auf den Salomoinseln und dem Bismarck-
Archipel. I. Lieder und Sagen aus Buin. III. Volk, Staat und Wirt-
schaft. Mit Unterstützung der Baessler-Stiftung herausgegeben im Auf-
trage der Generalverwaltung der kgl. Museen zu Berlin. Anhang zu
Bandi: Die Musik auf den Salomo-Inseln von E. M. Hornbostel.
Band I mit 14 Tafeln, 3 Karten uud 42 Notenbeispielen; Band III mit
1 Lichtdrucktafel und 70 Stammtafeln. Berlin, Dietrich Reimer (Ernst
Yohsen) 1913. XX, 538 S., VIII, 92 S. 32 und 18 Mk.
Nach der Veröffentlichimg von verschiedenen Einzelaufsätzen in ethnologischen,
rechtswissenschaftlichen und kolonialen Zeitschriften über die Ergebnisse seiner
Forschungsreisen in der Südsee während der Jahre 1906—1909 gibt uns Vf. in dem
I. Bande des vorliegenden, musterhaft ausgestatteten Werkes nunmehr eine grosse
Sammlung von Liedern und Sagen aus Buin, dem südöstlichen Ende der Insel
Bugainville. Sie ist eingeteilt in I. Männerlieder, a) Politische Lieder (in weitestem
Sinne), b) Freundschaftslieder, c) das Verhältnis zum anderen Geschlecht.
II. Frauenlieder, a) zur Jünglingsweihe, b) gelegentlich der Heirat, c) Liebes-
lieder, d) Schmählieder. III. Sagen, a) Tod und Krankheit, b) kosmische und
atmosphärische Erscheinungen, c) die Erscheinungen des Erdbildes, d) Pflanzen
und Tiere, e) Kultur- und Heilbringersagen, f) Vorbedeutungen, Verbote, Zauber.
Im ganzen werden 139 Stücke mitgeteilt. Der Anhang über die Musik ist auf
dem Material des Phonogramm-Archivs des psychologischen Instituts der Universität
Berlin aufgebaut und umfasst ausser einer Beschreibung der Musikinstrumente
und Melodien nebst 42 Notenbeispielen auch eine kurze musikwissenschaftliche und
ethnologische Betrachtung.
Die Lieder werden im Originaltext mit Interlinearversion und einer freien
Übersetzung mitgeteilt, und zu jedem wird eine Erläuterung über Herkunft, Ver-
anlassung, Inhalt usw. des Liedes gegeben. Die Entstehung und Abfassung der
Lieder kann manchen Wink für den Literaturforscher abgeben, der dem Ursprung
unseres Volksgesangs in älterer und neuerer Zeit nachgehen will. Ich weise auf
das Abfassen eines Liedes im Auftrage eines Bestellers, auf das Zusammenwirken
mehrerer Autoren, auf die Anspielungen mannigfacher Art u. dgl. mehr hin.
Wenn die Lieder die Beziehungen von Mensch zu Mensch darstellen, so
geben die Sagen diejenigen zur Natur wieder. Hier werden nur in vier Fällen
die Urtexte geboten, für die übrigen Sagen schien dem Vf. die Übersetzung zu
genügen. Doch fügt er den einzelnen Sagen seine Bemerkungen bei.
Auf die Mitteilung einzelner Stücke oder auch nur den Hinweis auf ihren
Inhalt muss ich hier verzichten; die Auswahl könnte nur rein willkürlich sein.
Nur auf einen Punkt möchte ich aufmerksam machen: die Belehrung, die Sprach-
forscher aus den Beobachtungen und Mitteilungen des Vfs. über die abweichenden
Sprachformen der älteren und jüngeren Generation in den Liedern und Sagen
ziehen können. Die Mühe, die ihre Aufzeichnung den Vf. kostete, kann jemand
nachfühlen, der nur einmal versucht hat, primitive Menschen (selbst Europäer)
auch nur zur Mitteilung einzelner Wörter ihrer Sprache zu veranlassen.
Der 3. Band bringt das soziologische Material, für dessen Verarbeitung Vf.
durch vorhergehende vergleichende Studien geschult war. Den Hauptinhalt bilden
70 Stammtafeln, denen die Erläuterungen aus buchtechnischen Gründen voran-
gestellt sind. Sie gliedern sich in I. Lebensabschnitte, a) Pubertät, b) Heirat,
214
Feist:
c) Tod; II. Wirtschaft und Staat; III. Begebenheiten; IV. Statistik zu den Stamm-
tafeln. — Auch bei diesem Band muss ich es mir leider versagen, auf die hoch-
interessanten Einzelheiten einzugehen (Heiratsformen, Totenverbrennung und Be-
stattung, Kampfesweise im Krieg, Strafen usw.), die eine Fundgrube für den
Folkloristen bilden.
Ausführliche Register erleichtern bei beiden Bänden die Auffindung der be-
handelten Materien.
Berlin. Sigmund Feist.
William Thalbitzer, The Ammassalik Eskimo. Contributions to tlie
Ethnology of the East Greenland Natives. Part I. (Meddelelser om Gren-
land, vol. XXXIX.) Published at the Expense of the Carlsberg Fund.
Copenhagen, Bianco Lund 1914. XIX, 755 S. Lex. 398 Abbildungen.
1 Karte.
Alle Kolonien besitzenden Völker betrachten es als dringende Aufgabe, von
dem schwindenden kulturellen Eigenbesitz der primitiven Völker durch Sammlungen
und Publikationen der Nachwelt wenigstens das noch jetzt Vorhandene zu retten.
Denn es gibt keine Gegend, wohin die europäische Kultur nicht unheilbringend
einzieht, und die Folge ihres Vordringens ist die Vernichtung der Eigenart der
mit ihr in Berührung kommenden Völker und leider auch nicht selten der Unter-
gang ganzer Rassen. Wenn die in vorliegendem Werk behandelten Eskimos auch
eine Sonderstellung einnehmen, was ihren kulturellen Besitz angeht, so sind doch
durch die Tätigkeit der Missionen ihre religiösen Vorstellungen und überlieferten
Gebräuche im Schwinden begriffen, und deren Sammlung ist daher ein höchst ver-
dienstliches Unternehmen. Die Eskimokultur nämlich ist durch ihre unübertreff-
liche Anpassung an die klimatischen Verhältnisse gegen den europäischen Einfluss
geschützt; ja, es müssen sich sogar die Europäer ihr unterwerfen (in Kleidung,
Wohnung, Bootsbau usw.).
Thalbitzer hat in seinem Werk die Ergebnisse dreier dänischer Expeditionen
verarbeitet: 1. die des Kapitäns Holm, des Entdeckers der Ammassalik-Eskimo
(1883—1885), 2. die des Kapitäns Aindrup (1898 — 1900) und 3. seine eigene
(1905—1906). Holm hatte über seine ethnographischen Ergebnisse bereits in dem
Werke: 'Den 0stgr0nlandiske Expedition (1888—1889)' berichtet, und der Inhalt
dieses Buches ist in Thalbitzers Publikation ebenso wie Amdrups ethnographische
Sammlung verarbeitet und ergänzt worden. Ausserdem hat Holm seine Mithilfe
bei der Abfassung und Fertigstellung des vorliegenden Buches geboten. Die
englische Übersetzung wurde von den Herren G. Grove und zum kleineren Teil
von II. M. Kyle angefertigt.
Das Buch zerfällt in 7 Hauptteile: 1. Ethnologische Skizze der Ammassalik-
Eskimos von G. Holm, 2. Beiträge zur Anthropologie der Ostgrönländer von Sören
Hansen, 3. Listen der Einwohner der Ostküste von Grönland aus dem Jahre 1884.
von Joh. Hansen, 4. der ostgrönländische Dialekt, 5. Legenden und Erzählungen
von Ammassalik von G. Holm, 6. Anmerkungen dazu von H. Rink, 7. ethno-
graphische Sammlungen aus Ostgrönland, beschrieben von W. Thalbitzer.
Uber den Inhalt des Werkes eingehend zu berichten ist bei seinem Umfang
und dem für die Anzeige zur Verfügung stehenden Raum nicht möglich. Ich
Bücheranzeigen.
215
kann nur einige besonders bemerkenswerte Punkte hervorheben. Die anthropo-
logischen Messungen waren nur an den Lebenden möglich, da die Ammassalilc
die Gewohnheit haben, ihre Toten in das Meer zu werfen! Der kälteste Monat
ist Februar mit einer Durchschnittstemperatur von —10,8 °C, der wärmste der
Juli mit + 6,2°C. Einmal während eines Föhnsturms wurden 25,20 C im Juli
notiert; andererseits als niedrigste Temperatur — 30,7 ° C im Februar. Abrupte
Temperaturschwankungen sind nichts Seltenes. 61 mal im Jahre wurde Nordlicht
beobachtet. Das Treibeis verschwindet Anfang bis Ende August von der Küste,
die bis in den November eisfrei bleibt. Ausser Weidengestrüpp und Zwergbirken
gibt es keine Bäume auf der Insel; dagegen gibt es im Frühjahr ziemlich viel
Heidekraut und Moosarten, auch sonstige Pflanzen (Beerenarten), wenn der Schnee
geschmolzen ist.
Der Name Ammassalik (Angmagsalik) wird von den Eingeborenen aus
einem abergläubischen Grunde nicht mehr gebraucht. Der Fjord heisst jetzt
Kulusuk. Sie selbst nennen sich inik oder täk 'Mensch'. Sie sind mittelgross,
schlank, schwarzhaarig. Die Männer schneiden ihr Haar so wenig wie die Frauen;
das der ersteren ist indes länger, auch haben sie gut entwickelte Bärte. Bei
Neugeborenen findet sich der sog. Mongolenfleck. Die Frauen sind nahezu alle
tatuiert, die Männer seltener.
Die Winterwohnung wird aus Rasen und Steinen auf abschüssigem Boden
nahe dem Meere erbaut; Fenster und Eingangsweg liegen nach dem Meer, die
Wände liegen zum Teil unter der Erde. Das Haus ist einräumig, 24 bis 25 Fuss
lang und 12 bis 16 Fuss breit, je nach der Zahl der zusammenwohnenden Familien.
Die grösste Höhe ist 6V2 Fuss. Das Firstdach ruht auf Pfosten. Zum Schlafen
erhält jede Familie einen entsprechenden Raum auf der im hinteren Teil des
Hauses befindlichen erhöhten Plattform. Feuer wird durch Drehen von Hölzern
erzeugt.
Da oft mehrere Familien und Generationen ein Haus teilen, so ist es nötig,
dass das soziale Leben durch eine autoritative Persönlichkeit und bestimmte
Satzungen geregelt wird. Wenn man die Sommerzelte bezieht, lebt nur die
Grossfamilie zusammen. Familienbande sind bedingt durch Blutsverwandtschaft;
die Heirat ist infolgedessen kein sehr festes Band, zumal solange noch keine
Kinder da sind. Wenn eine Frau schwanger ist, muss sie ihre Speisen selbst
kochen und so noch zwei Monate nach der Geburt. Männer mit zwei Ehefrauen
kommen vor, was erklärlich ist, wenn man den Prozentsatz der Frauen (114) zu
den Männern (100) im Auge behält. Diebstahl und Mord sind nicht ungewöhnlich
und werden oft zugegeben; sie bleiben häufig straflos.
Aus dem Glauben der Ammassaliks ist hervorzuheben, dass der Mensch ihrer
Ansicht nach aus drei Teilen besteht: Körper, Seele und Name. Dass man dem
Namen eine Sonderexistenz beilegt, ist für die vergleichende ethnologische Forschung
von Bedeutung. Die Seele wird körperlich gedacht, von der Grösse eines Finger-
glieds, einer Hand, eines Sperlings. Ein Mensch kann auch verschiedene Seelen
haben, die in den Körperteilen ihren Sitz haben. Auch den Namen stellt man
sich körperlich vor, er ist so gross wie der Mensch. Ein Ammassalik scheut sich,
seinen eigenen Namen auszusprechen. In ihrem Geisterglauben, ihrem Amulett-
und Zauberwesen usw. stehen sie auf der Stufe sehr primitiver Völker.
Die vorangehenden Bemerkungen sind einzelne aus dem ersten Teil des Werkes
entnommene Züge. Es würde den Rahmen einer Anzeige weit überschreiten,
wenn ich die übrigen Teile in der gleichen Weise berücksichtigen wollte. Ich
erwähne daher aus ihrem reichen Inhalt nur noch einzelne Punkte: Das Wort-
216
Feist, Gebhardt:
Verzeichnis des Ammassalik-Dialekts auf zehn Seiten (*213—223) gibt den Vor-
stellungsinhalt des Eskimostammes übersichtlich wieder. Charakteristisch darin
ist z. B., dass drei verschiedene Wörter für Eis vorhanden sind, die 'Landeis',
'junges Eis' und 'kalbendes Eis' bedeuten. Eine ganze Menge Ausdrücke sind
auch für die Winde vorhanden. Die im VI. Teil enthaltenen Sagen der Ammassalik-
Eskimos sind von G. Holm mit Hilfe eines Dolmetschers (Johann Petersen) aus
dem Munde der Erzähler aufgezeichnet worden. Die Stoffe spiegeln naturgemäss die
Lebensbedingungen der Eskimos wieder; sie drehen sich hauptsächlich um Jagd-
erlebnisse; aber auch Mondsagen und schaurige Erzählungen, wie das irrtümliche
Verspeisen eigener Verwandten, fehlen nicht.
Den Hauptinhalt des Werkes bildet die eingehende Schilderung der ethno-
graphischen Sammlungen durch W. Thalbitzer (S. 399—753). Ein auch nur
einigermassen vollständiger Bericht über diesen Teil des Werkes würde ein kleines
Buch werden. Ich kann also nur auf das Original verweisen. Ausser der Be-
schreibung der Objekte enthält Thalbitzers Beitrag auch geschichtliche Reminiszenzen
der Eskimos über ihre eigene Vergangenheit und ihr erstes Zusammentreffen mit
Europäern. Eine genaue Karte des ámmassalik-Gebietes ist dem Werke bei-
gegeben, das als eine Musterleistung bezeichnet werden darf und eine reiche
Quelle der Belehrung für den Ethnographen bilden wird.
Berlin. Sigmund Feist.
Conrad Müller, Altgermanische Meeresherrschaft. Gotha, F. A. Perthes
1914. XII, 487 S. 8°. Mit 13 Bildtafeln und 2 Karten [sowie einer
Umschlagszeichnung]. Geh. 10, geb. 11,50 Mk.
Angeregt durch die Erfolge, die das neugeeinte Deutsche Reich zur See er-
rungen hat, unternimmt es der Verfasser, alles quellenmässig zusammenzustellen,
was wir von den Seefahrten germanischer Völker bis ums Jahr 1200 und von der
Gründung von Staaten an den von ihnen befahrenen Küsten wissen, mit Einschluss
der Geschichte des altrussischen Warägerstaates und derjenigen des erst auf dem
Umweg über die französische Normandie gegründeten Normannenstaats in Unter-
italien und der Vorentdeckung Amerikas durch die von Grönland aus hinüber-
gekommenen Isländer. Bildet den Beschluss des Buches ein Abschnitt über See-
heldentum in der altdeutschen, angelsächsischen, kirchlichen und altnordischen
Dichtung, so wird es eingeleitet durch drei sozusagen vorgeschichtliche Ab-
schnitte, von denen der 1. die Urzeit, vorgeschichtliche Funde, Einfluss des Nord-
meeres auf die Germanen in anthropogeographischer Hinsicht, der III. die ge-
schichtlichen Anfänge, wie z. B. die Reisen des Pytheas, den altgermanischen
Bootsbau und den alten Bernsteinhandel, der für uns wichtigste zweite 'See-
mythische Niederschläge' behandelt. Hier bespricht Müller nicht nur die nieder-
rheinischen Inschriften mit dem Namen der Nehalennia, nicht nur die Zeugnisse
des altisländischen Schrifttums für Verehrung Odins, Thors, der Frigg und Freyja
durch Seefahrende und den Bericht des Tacitus über das Nerthus-Eiland der
Ingwäonen, sondern auch alles, was ältere und spätere Überlieferung und junger
Seemannsglaube uns über Schiffsbestattungen, Tierdämonie1), Meerriesen, See-Elben
1) Die auf Tafel Y abgebildeten gespenstischen Wale sind übrigens nicht, wie man
nach den unvollständigen Ursprungsbezeichnungen glauben könnte, zum ersten Male bei
K. v. Gesner zu sehen, sondern schon bei Olaus Magnus, Historia de gentibus Septen-
trionalibus, Rom 1555.
Bücheranzeigen. — Notizen.
217
und Klabautermann, über Wunderschiffe und Schiffsbeseelungen wissen und ahnen
lassen. Es versteht sich von selbst, dass der Verfasser eines so reichhaltigen
Werkes nicht bei allen Punkten auf die Quellen zurückgehen kann, wo er ent-
gegenstehende Ansichten anderer bekämpft, sondern sich vielfach auf eigene und
fremde Vorarbeiten stützen muss, die vollständig in der Bibliographie am Schlüsse
nachgewiesen sind. Aus dieser ersieht man, dass ihm leider einige, wenn auch
im ganzen wenig wichtige Arbeiten entgangen sind, und sie gibt auch die Er-
klärung dafür, dass seine Quellenzitate, teilweise aus recht veralteten Ausgaben
entnommen, oft recht wenig gleichmässig gestaltet sind, z. B. was die Wiedergabe
der Namen oder die Schreibung des fremdsprachlichen Textes anlangt. Auch die
Gestaltung des deutschen Textes ist nicht immer so glatt wie zu wünschen wäre
(Satzungetüme, regelmässig wie statt als beim Komparativ).
Doch wir wollen darüber und über gelegentliche kleine Missverständnisse
der Quellen nicht mit dem Verfasser rechten, der uns ein so lehrreiches und
für alle Kreise der Gebildeten verständliches und belehrendes Buch beschert hat,
dessen Lesbarkeit dadurch besonders erhöht ist, dass die gelehrten Hinweise ohne
Unterbrechung des Textes am Schlüsse vereinigt sind.
Mit gerechtem Stolze sehen wir an uns vorüberziehen, was unsere und unserer
nächsten Stammesverwandten Vorfahren zur See geleistet und errungen haben, und
mit Wehmut stellen wir uns vor, was sie hätten erringen und vor allem erhalten
können, wenn die vielen planlos verzettelten Einzelunternehmungen nach einheit-
lichen Zielen und unter einheitlicher Führung wären unternommen worden.
Erlangen. August Gebhardt.
Notizen.
A. Abt, Die volkskundliche Literatur des Jahres 1911. Ein Wegweiser, im Auf-
trage der Hessischen Vereinigung für Volkskunde und mit Unterstützung der dem Ver-
band deutscher Vereine für Volkskunde angehörenden Vereine herausgegeben. Leipzig
und Berlin, B. G. Teubner 1913. VI, 134 S. 8°. Geh. 5 Mk. — Das Wiedererscheinen
der Zeitschriftenschau der Hessischen Blätter für Volkskunde in veränderter Gestalt nach
sechsjähriger Pause ist sicher von allen Freunden der Volkskunde mit grosser Be-
friedigung begrüsst worden. Ist es doch heute kaum noch möglich, ohne einen solchen
Wegweiser durch das unübersehbare Gebiet der Veröffentlichungen an das erwünschte
Ziel zu gelangen. Daher danken wir dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern für die
geleistete Arbeit, die bei 2259 Nummern gewiss nicht klein war. Verschiedene Mängel
dieses ersten Bandes, den der Verf. selbst mehr als Muster und Probe denn als ab-
gerundetes Werk bezeichnet, werden hoffentlich in den folgenden Jahrgängen abgestellt
werden. Dass auf der Marburger Verbandstagung beschlossen wurde, künftig die Ab-
teilungen 'Mundarten' und 'Indogermanisch' auf das volkskundlich Wertvolle zu be-
schränken (s. oben 23, 441), ist sehr erfreulich. Vielleicht lässt sich auch in den Notizen
über nichtdeutsche Volkskunde grössere Beschränkung üben; hier Vollständigkeit erzielen
wollen, hiesse ja doch den gegebenen Kähmen sprengen. Die auf diese Weise gemachten
Ersparnisse an Arbeit und Raum müssten der Anlegung eines Sachregisters zugute
kommen, dessen Fehlen der grösste Mangel des Buches ist. Auch die Liste der exzerpierten
Zeitschriften ist noch ergänzungsbedürftig, so fehlen 'Unser Egerland' und 'Schweizer
Archiv für Volkskunde'. Bei nr. 1426 (Storck, Totenspruch) fehlt die Ergänzung von
Roediger, oben 21, 281. [F. B.]
P. Bahlmann, Ruhrtal-Sagen von der rheinisch-westfälischen Grenze. Münster,
F. Coppenrath 1913. 62 S. 8°. 0,60 Mk. — Da die mündliche Überlieferung an Sagen
218
Notizen.
nichts mehr hergab, musste B. sich darauf beschränken, die Literatur yon Cäsarius von
Heisterbach bis auf Müller von Königswinter und H. Kämpchen auszuziehen und den
Ertrag zu buchen. [J. B.]
0. Bockel, Psychologie der Yolksdichtung. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig
und Berlin, B. G. Teubner 1918. YI, 419 S. 8°. Geh. 7 Mk., gebd. 8 Mk. — Wir freuen uns,
das stoffreiche und anregende Buch in Neuauflage vorliegen zu sehen. Der Grundcharakter
ist der gleiche geblieben, so dass die Ausführungen Reuschels zur ersten Auflage (oben 17,
116ff.) grösstenteils auch für die zweite gelten, z. B. geht der Yerf. auch hier nicht auf die
Umgestaltungen von Kunstliedern im Volksmunde um, aus denen man für die Psychologie
des Volksliedes soviel lernen kann. Auch B.s Anschauung vom Optimismus des Volks-
liedes ist die gleiche geblieben. Mehrere Einzelbemerkungen Reuschels sind berück-
sichtigt worden, so der Hinweis auf 0. Weisers Aufsatz über die Umschreibung des Be-
griffes 'niemals' (S. 198). Bei der Behandlung der Spottlieder vermisst man die Zitierung
von A. Kellers Buch über die Handwerker im Volkshumor (Leipzig 1912). Zum Kutschke-
lied (S. 318f.) ist die Mitteilung oben 22, 288 nachzutragen. Über die Zukunft des Volks-
gesanges kann man vielleicht heute bei dem nicht gering anzuschlagenden Einfluss der
Wandervogel-und ähnlicher Bewegungen, dem Wiederaufkommen des Lauten- und Gitarren-
spieles noch hoffnungsvoller denken, als der Vf. (S. 403ff.; 406). Wir wünschen dem
Buche, aus dem soviel ehrliche Liebe zum Volke und zur Natur spricht, auch künftig
eine recht weite Verbreitung. [F. B.]
P. Borebar dt, Bibliographie de l'Angola. Brüssel und Leipzig, Misch & Thron
[1918]. IV, 61 S. 8°. 3 Fr. — Diese äusserst reichhaltige Bibliographie der portugiesischen
Kolonie in Südwestafrika bildet das zweite Heft der unten näher beschriebenen biblio-
graphischen Monographieen des Solvay-Institutes (s. die Notiz Steinmetz). Die Abteilung
'Anthrophologie et ethnographie' (S. 42—44) wird auch für die vergleichende Volkskunde
als wertvolles Hilfsmittel begrüsst werden. [F. B.]
R. Braun, Handwerk hat goldenen Boden (Jungdeutsche Bücherei Bd. 7). Langen-
salza, J. Beltz 1914. VIII, 150 S. gr. 8°. Gebd. 3 Mk. — Im Auftrage des Arbeits-
ausschusses für Jugendpflege im Regierungsbezirk Merseburg gibt E. H. Bethge diese
Sammlung volkstümlicher Jugendbücher heraus, deren jüngste Erscheinung hier vorliegt.
Die Bände sind sehr hübsch ausgestattet, enthalten viele Bilder auf Kunstdruckpapier und
erscheinen zu dem Einheitspreise von 3 Mk. Bd. 1—4 und 6 sind geschichtlichen Inhalts,
während der vorliegende und der unten angezeigte fünfte von Müller-Rüdersdorf einzelne
Stände und Lebensformen unseres Volkes zum Gegenstande haben. Aus der deutschen
Literatur von Hans Sachs bis Dehmel sind hier Stücke ausgewählt, die die Entwicklung
des Handwerks behandeln, sein Lob singen und allerlei Ernstes und Heiteres aus dem
Handwerkerleben schildern. Dass hierzu viel volkskundliches Material verwendet wird, ist
selbstverständlich; neben hierher gehörigen Auszügen aus der Literatur finden wir auch
Volkslieder, Sprüche u. dgl. Das geschickt zusammengestellte Buch ist wohl geeignet,
die Freude am Handwerk und die Achtung vor dem Handwerk zu erhöhen und zu ver-
breiten. Sehr brauchbar ist es auch für die Zwecke des Schul- und Fortbildungsunter-
richtes sowie für volkstümliche Vorträge und Unterhaltungsabende; dasselbe gilt für den
von Müller-Rüdersdorf herausgegebenen Band. [F. B.]
E. Fehrle, Segen und Zauber aus Baden (Sonderabdruck aus 'Badische Heimat,
Zeitschrift für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Heimat- und Denkmalschutz'.
Karlsruhe, G. Braun. [1914] 1. Jahrg. 1. Heft). Fehrle bespricht nach einer kurzen Einleitung
über das Wesen des Aberglaubens drei handschriftliche Rezepte aus badischen Orten. Das
erste enthält ein aus mehreren pflanzlichen und anderen Stoffen bestehendes Mittel gegen
die 'bösen Leute, damit sie dem Vieh keinen Schaden thun können', das zweite einen
Segen gegen Augenkrankheit, das dritte einen solchen gegen das 'Nachtwesen'. Die
einzelnen Bestandteile und Anweisungen werden erläutert und mit Parallelen aus der
Antike und älterer deutscher Zeit belegt. Den Schluss bildet eine Aufforderung an die
Leser dieser neuen Zeitschrift, sich an der vom Verbände deutscher Vereine für Volks-
kunde veranstalteten Sammlung der deutschen Segen- und Beschwörungsformeln zu be-
teiligen. [F. B.]
Notizen.
219
P. Graffunder, Nachtrag zu den Sagen der Mark Brandenburg (Programm des
Kgl. Prinz-Heinrich - Gy^mnasiums zu Berlin-Schöneberg 1912). 4°. 30 S. — Die kleine
Arbeit bringt zehn aus dem Yolksmunde aufgezeichnete brandenburgische Sagen, teils be-
kannte in neuer Form, teils ungedruckte. Es sind: 1. Der Förster Bärens (Spuren dieser
Sage aus dem Blumental bei Strausberg); 2. Die schwarze Dame aus den Müggelbergen;
3. Die Prinzessin von den Bauener Steinen; 4. Die weisse Frau vom Trebuser Fliess
(Flammen umtanzen hier den Hügel, den die weisse Frau bewohnt); 5. Der Schneider von
Petersdorf (schwankhaft): 6. Die untergegangene Stadt im Scharmützelsee; 7. Der Krebs
an der Kette im Waschbanksee; 8. Das Hufeisen an der Marienkirche zu Frankfurt a. 0.;
9. Der Rabe mit dem Ring (Fürstenwalde); 10. Die Wettfahrt mit dem Teufel (Rauener
Berge). Allen Sagen folgen ausführliche sagenvergleichende Anmerkungen, voll weiter
Umschau und waghalsigem Kombinationsdrang, beherrscht von dem Streben, in möglichst
ferne Vorzeit hinabzudringen. [H. Lohre.]
G. Hegi, Aus den Schweizerlanden. Naturhistorisch-geographische Plaudereien.
Zürich, Orell Fiissli [1914]. 128 S. 8°. Mit 32 Abbildungen. Geh. 2 Mk., gebd. 3 Mk. —
Der sechste von den neun Aufsätzen, die das hübsch ausgestattete Büchlein enthält,
schildert Züge aus dem Volksleben des obersten Tösstales (Kt. Zürich) nach persönlichen
Erinnerungen des Verfassers, u. a. das 'Bächteln' am 2. Januar, bei welcher Gelegenheit
wieder einmal von einer 'deutsch-heidnischen Göttin Berchta' die Rede ist, der sogar ein
männliches 'Götterwesen' Berchthold beigegeben wird, das 'mit Wuotan identisch' sein
soll. Ferner Knabenumzüge und allerlei andere Festbräuche, Hochzeits- und Totensitten,
Brand- und Blutsegen u. a. Manche Angaben ergänzen Hoffmann-Krayers Darstellung
der Schweizer Feste und Bräuche (s. oben 23, 213). Den Schluss bilden Nachrichten
über Volksdichter und hervorragende Männer des Tösstales. Hingewiesen sei auch auf
den ersten Artikel 'Der Schweizerische Nationalpark' (im Ofenpassgebiet). [F. B.]
B. Kübler, Antinoupolis, aus dem alten Städteleben. Leipzig, A. Deichert (W. Scholl)
1914. Mit Titelbild. 46 S. 8°. 1 Mk. — Das auf einen Vortrag zurückgehende, geschmackvoll
ausgestattete Büchlein des Erlanger Rechtslehrers schildert in gemeinverständlicher Fassung
die Gründung, Lage, Verfassung, Entwicklung, Bauart usw. der Stadt Antinoupolis, die
Kaiser Hadrian zur Erinnerung an den Tod seines Lieblings Antinous am Nil errichtete.
Grundlage der Darstellung sind vorwiegend die an Ort und Stelle gefundenen Papyri,
die zwar hier weniger zahlreich vorliegen als für Hermupolis, Oxyrhynchos und Arsinoë,
aber doch die Zeichnung eines recht lebendigen Bildes ermöglichen. Auch für den volks-
kundlich Interessierten, der meist allmählich gewordenen, uralten Sitten und Einrichtungen
gegenübersteht, wird die hier gebotene flotte Schilderung einer künstlichen, mit Para-
graphen vom Tage des ersten Spatenstichs an überreich gesegneten Stadtkultur eine an-
genehme und lehrreiche Lektüre bilden. [F. B.]
IL Marzell, Volksbotanik 1905—1908 (Sonderabdruck aus'Just, Botanischer Jahres-
bericht' 39 [für das Jahr 1911] 1. Abteilung). Berlin 1913. — Eine umfassende Übersicht
der in dem oben genannten Zeitraum erschienenen Werke und Zeitschriftenartikel über
die Pflanzen im Aberglauben, in Sage, im Volksbrauch und Volkssitte, volkstümliche
Pflanzennamen: berücksichtigt sind in erster Linie die Länder deutscher Zunge. Das
106 Nummern aufweisende Verzeichnis macht nach des Verfassers Angabe keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, dürfte aber wohl nur wenige Lücken haben; so möchten wir hinzu-
fügen: J. Bolte, Der Nussbaum zu Benevent, oben 19, 312—314, und 0. Schell, Der
Donnerbesen in Natur, Kunst und Volksglauben, oben 19, 429—432. Sehr dankenswert
sind die den wichtigeren Erscheinungen beigegebenen kurzen Inhaltsangaben und Hin-
weise auf Rezensionen. — Derselbe, Der Nussbaum im deutschen Volksglauben (Sonder-
abdruck aus 'Naturwissenschaftliche Wochenschrift' N. F. 12 Nr. 45 S. 713f.). — Der Verf.
weist nach, dass der Nussbaum trotz seiner fremden Herkunft (vielleicht gerade des-
wegen?) in unserem Volksglauben eine ziemlich bedeutende Stellung einnimmt. Vielfach
werden ihm allerlei schädliche Wirkungen zugeschrieben, doch schützt sein Holz auch vor
Blitzschlag, seine Blätter, Früchte usw. werden in der Volksmedizin verwendet, in Rede-
wendungen und Rätseln kommt er häufig vor. — Derselbe, Zur Volksbotanik des
Fichtelgebirges in alter und neuer Zeit (Sonderabdruck aus 'Heimatbilder aus Ober-
220
Notizen.
franken' 2, 2). — Aus einem 1716 anonym in Leipzig erschienenen Bucli 'Ausführliche
Beschreibung des Fichtel-Berges', als dessen "Verfasser Marzell den Wunsiedeler Bürger-
meister Joh. Chr. Pachelbl (1642—1726) festgestellt hat, werden zahlreiche Angaben über
die Verwendung von allerlei Pflanzen in Volksmedizin und Aberglauben mitgeteilt und
Entsprechungen aus anderen Quellen beigebracht. Pachelbls Buch ist, wie der Vf.
bemerkt, auch sonst eine reichhaltige und bisher fast unbenutzte Quelle für Volksbräuche
u. dgl. Den Schluss machen Mitteilungen über Pflanzenaberglauben heutiger Zeit, die
Frl. D. Zernott auf Anregung des Verf. in der Gegend um Gefrees (Bez.-Amt Berneck)
gesammelt hat. [P. B.]
W. Müller-Rüdersdorf, Der Erde goldner Segen. Ein Preis deutscher Landwelt
und deutschen Bauerntums (Jungdeutsche Bücherei Bd. 5). Langensalza, J. Beltz 1914.
VIII, 171 S. gr. 8°. Gebd. 3 Mk. — Wie in dem oben angezeigten Buch von R. Braun
der Handwerker, so ist hier der Bauer und seine Tätigkeit der Gegenstand der aus
deutscher Prosa und Poesie zusammengestellten Darstellung. Auch hier finden wir viele
Beiträge aus volkskundlichem Gebiete, Wetterregeln, Hausinschriften, Dorfneckereien,
ländliche Feste usw. Für schnelleres Zurechtfinden müssten bei etwaiger Neuauflage im
Inhaltsverzeichnis neben die einzelnen Stücke die Namen der Verfasser gesetzt werden,
wie das in der Braunschen Sammlung der Fall ist. Im übrigen gilt auch für diesen
Band des verdienstvollen Unternehmens das dort Gesagte. [F. B.]
W. Pessler, Hausgeographie der Wilster Marsch, Forschungen zur deutschen Landes-
und Volkskunde 20, 401 ff. — In der Wilstermarsch gehen zwei Bauernhaustypen neben-
einander her. Der eine, 'Barghus', ist friesisch, der andere, 'Husmannshus', ist sächsisch.
Trotzdem kommen keine Übergangsformen vor. Äusserlich haben beide Typen sich an-
geglichen durch Betonung der Querrichtung des Wohnendes vermittels Seitenflügel mit
niedrigerem eigenen First. Das Sachsenhaus ist ferner durch die Abart mit Durchgangs-
diele vertreten, wobei eine Angleichung auch an den Grundriss des Friesenhauses entsteht.
Bei vorwiegendem Ackerbau ist Neigung zum altsächsischen Haustypus, bei vorwiegender
Weidewirtschaft Bevorzugung des friesischen festgestellt! [K. Brunner.]
S. R. Steinmetz, Essai d'une Bibliographie systématique de l'Ethnologie jusqu'à
l'année 1911 (Monographies bibliographiques publiées par l'Intermédiaire Sociologique,
Nr. I). Brüssel und Leipzig, Misch & Thron [1913] IV, 196 S. 8 o. 7 Fr. — Das Institut
de Sociologie Solvay in Brüssel beabsichtigt eine Reihe von bibliographischen Einzelschriften
herauszugeben, denen von Spezialforschern im Bereich der Soziologie zu privatem Gebrauch
angelegte Literatursammlungen zugrunde gelegt werden sollen. Dem Grundsatze folgend,
dass die Ethnologie im vergleichenden theoretischen Studium der Naturvölker ihre Aufgabe hat
im Gegensatz zu der reinen Beschreibung der Ethnographie, hat der Verf. 'systematische Dar-
stellungen bestimmter Gegenstände, die ein ganzes Volk oder sogar eine Völkergruppe betreffen,
ausgeschlossen, wenn die reine Darstellung die Absicht schien und nicht die theoretische
Verwertung'. Selbstverständlich sind diese Grenzen fliessend, und so wird man in dem
Buche manches vergebens suchen und manches wider Erwarten finden, je nach der per-
sönlichen Auffassung. So ist mir z. B. unklar, weshalb Seligmann, Der böse Blick, auf-
geführt wird, dagegen Elworthy, The Evil Eye (1895), und Valletta, La Jettatura (1882),
fehlen. Auch konnte wohl, um nur noch einige Beispiele hinzuzufügen, de Gubernatis,
Zoological Mythology und Mythologie des Plantes aufgenommen werden, ebenso Dieterichs
Mutter Erde, Böttichers Baumkult, Mannhardts Korndämonen und Roggenwolf; Hehn,
Kulturpflanzen und Haustiere, beschränkt sich doch ebenfalls nicht auf reine Beschreibung.
Der Begriff der 'Naturvölker' wird auch nicht immer strenge innegehalten, wie z. B. die
Aufnahme von Hopf, Orakeltiere, oder Giraud-Teulon, La mère chez certains peuples de
l'antiquité, zeigt. Zu Sartoris Aufsatze über die Totenmünze (Archiv f. Relw. 1899) ist
desselben Verfassers Artikel über Ersatzmitgaben an Tote hinzuzufügen (ebda. 1900). Sehr
vermisst man ein Sachregister; zwar stehen zwischen den Verfassernamen des Registers
einige sachliche Stichworte; diese genügen jedoch keineswegs, ebensowenig wie das ziemlich
ausführliche Inhaltsverzeichnis. Immerhin ist diese umfangreiche Bibliographie sicher
dazu angetan, ein dankenswertes Hilfsmittel auch für die volkskundliche Forschung zu
werden. [F. B.]
Notizen. — Brunner: Protokolle.
221
C. H. Stratz, Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst. 3. und
4. Tausend. Berlin, J. Springer 1913. Mit 252 Textfiguren. X, 322 S. 8 °. Gebd. 12 Mk. —
Das überaus interessante und prachtvoll ausgestattete Buch ist zum überwiegenden Teile
der naturwissenschaftlichen Kunstbetrachtung .gewidmet, doch ist ein kurzer Hinweis
darauf auch an dieser Stelle gerechfertigt, da die Ausführungen des Verf. über primitive
und vorgeschichtliche Kunst mit den beigegebenen Abbildungen auch, den Volkskundler
interessieren dürften. Auch das sehr eingehende 2. Kapitel 'Der natürliche und künst-
lerische Kanon des Menschen' bietet für typologische Untersuchungen auf volkskundlichem
Gebiete ein zuverlässiges Hilfsmittel. [P. B.]
Die Historie van Christoffel Wagen aer, Discipel van D. Johannes Faustus, naar
den Utrechtschen Druck van Reynder Wylicx uit het Jaar 1597 uitgegeven door Josef
Fritz. Leiden, E. J. Brill 1913. 246 S. 8° (Nederlandsche Volksboeken opnieuw uit-
gegeven vanwege de Maatschappij der nederlandsche Letterkunde te Leiden 12). — 1593,
sechs Jahre nachdem das Volksbuch vom Doktor Faust zu Frankfurt herausgekommen
war, erschien ein als zweiter Teil dieser Historie bezeichnetes Büchlein, das die wunder-
baren Schicksale seines Famulus Christoph Wagner behandelt. Wagner greift, nachdem
er Fausts hinterlassenes Vermögen verzehrt hat, zur Zauberei, schliesst mit dem Teufel
Auerhan einen Pakt und durchlebt eine Reihe ähnlicher Abenteuer wie Faust, lässt sich
auch nach Lappland und Amerika führen und nimmt endlich das gleiche klägliche Ende
wie sein Meister. Von dieser in Abdrücken, Bearbeitungen und Dramatisierungen bis ins
19. Jahrhundert fortlebenden Nachahmung der Fausthistorie hat Fritz, ein Schüler Minors,
1910 eine kritische Ausgabe veranstaltet. Jetzt legt er uns auch die niederländische
Übersetzung, die 1597 bei Reynder Wylicx zu Utrecht erschien, in einem sorgfältigen
Neudrucke vor, dem er Worterklärungen unter dem Texte und Untersuchungen über die
späteren Ausgaben und das Verhältnis zur deutschen Vorlage beigefügt hat. Der Über-
setzer meidet alle gelehrten oder für seine niederländischen Leser schwerer verständlichen
Anspielungen und kürzt so seine Vorlage fast um 1/12. Sein sich von aller konfessionellen
Polemik ängstlich fernhaltendes Volksbuch ward wiederholt gedruckt und um 1730 durch
einen eifrigen Katholiken, wohl einen Antwerpener Franziskaner, umgearbeitet, der die
Reisekapitel durch Einführung bekannterer Lokalitäten ersetzt und seinem Hass gegen
die Hugenotten in La Rochelle Ausdruck verleiht. Auch für diese Bearbeitung hat Fritz
umsichtig die benutzten Quellen nachgewiesen und eine Anzahl von Proben abgedruckt.
[J. B.]
A. Wirth, Tod und Grab in der schottisch-englichen Volksballade, eine Studie zum
Volkslied. Progr. Bernburg 1914 (nr. 982). 48 S. 4 o. — Eine sorgsame Durchmusterung
von Childs grosser Sammlung englischer Balladen auf folgende Motive hin: Todes-
ursachen, Vorzeichen, Scheintod, Tod und Trauer, Geisterleben, Grab, Rache. [J. B.]
Aus den
Sitziiügs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 27. Februar 1914. Der Vorsitzende, Hr. Geh. Reg.-Rat Prof.
Dr. Roediger, widmete den verstorbenen langjährigen Vereinsmitgliedern, Prof.
Dr. Joh. Franke, Bonn, und Prof. Dr. Paul Bartels, Königsberg i. Pr., Worte
ehrenden Gedächtnisses. Hr. Prediger und Schuldirigent A. Levy sprach über
altisraelitische Volks- und Familienfeste. Zum Verständnis einer Dichtung ist
Kenntnis ihrer Umwelt notwendig. Das gilt auch für die zahlreichen poetischen
Teilç der Bibel. In den Schriften des Alten Testamentes lernt man die Israeliten
222
Brunner:
nur sozusagen im Staatskleide kennen. Die Art, wie Volksfeste gefeiert wurden,
gibt ein besseres Bild von der Volksseele. Die uralten israelitischen Volksfeste
wurden später durch die 'Halacha' religionsgesetzlich festgelegt. Die religiösen
Feste nahmen auch oft den Namen der Volksfeste an. Bei dem zum späteren
Versöhnungsfeste gewordenen echten alten Volksfeste trug man nur geliehene
Kleider, damit Arm und Reich sich durcheinander mischen sollten und Standes-
unterschiede das allgemeine Fest nicht störten. Schon zur Zeit der Richter fand
in Siloh zur Erinnerung an Jephtas Tochter ein Jungfrauenfest statt. In die Nähe
der vorgeschriebenen Kultusfeste traten andere Volksfeste und wurden deshalb
mit ihnen verschmolzen. Im Herbst fand ein Wasseropfer mit nächtlichem Lichter-
glanz zur Verehrung der Quelle Siloah statt. Aber auch im Frühling wurde ein
nächtliches Fest gefeiert. Reife Gerste wurde feierlich geschnitten und so die
Ernte eingeleitet. Beide Feste waren echte Volksfeste ohne Standesunterschiede,
welche sich an religiöse Festgebote nur anlehnten. Da bei der fortschreitenden
Güterzerschlagung das Korn um die Ernte- und Saatzeit knapp wurde, so sparte
man und säete mit Tränen, wie es in der Bibel heisst. Die Erstlingsopfer der
Ernte wurden auf Wallfahrten nach Jerusalem gebracht, und am Ende der Ernte
feierte man ein ausgelassenes allgemeines Volksfest am letzten Tage des Hütten-
festes, bei dem der Ruf 'Hosianna = Hilf doch' erklang. Das Purimfest, das
Fest der Zweige, ist der jüdische Fasching, ein Frühlingsfest, verbunden mit Hin-
richtung einer Hamanfigur, ähnlich unserm Winter- oder Tod-Austreiben. Auch
Familienfeste wurden durch Teilnahme aller ohne Standes unterschiede zu Volks-
festen, wie bei dem Festzuge mit dem acht Tage alten Knaben zum Tempel.
Ebenso nahm jedermann an den Hochzeitsfeiern teil, da es für allgemein mensch-
liche Pflicht galt, Brautleute zu erfreuen. Der Bräutigam wurde als König, kurz
als Salomo, bezeichnet. Als Symbol friedlichen Beisammenseins wurde ein Hahn
und eine Henne vor dem Brautpaare in das Ehegemach eingelassen. Während
sieben Tagen wurde in Tanz und Spiel die Hochzeit gefeiert. Ausschreitungen
waren selten. Die Tänze wurden von Männern ausgeführt, wozu die Frauen
musizierten. Diese Schilderungen jüdischer Volksfeste stammen aus einer Zeit,
in der das Volk bereits ein politisches Scheinleben zu führen gezwungen worden
war. Im Anschlüsse an diesen Vortrag legte der Unterzeichnete eine Anzahl
jüdischer Kultusgeräte aus der Sammlung des Hrn. Schlachthofsdirektor Werner
in Stolp vor. Hr. Direktor Dr. Minden wies auf seine Besprechung über die
Thorah-Wimpel (oben 3, 205) hin. Hr. Levy bemerkte noch, dass die bei der
Sabbatfeier gewöhnlich gebrauchten Psom- oder Gewürzbüchsen aus Silberfiligran
gearbeitet zu sein pflegen. Die Tinte, mit welcher die Thorahrollen und die
Gebetsriemen nur mit Gänsefedern beschrieben werden, ist von bestimmter und
vorgeschriebener Zusammensetzung. Auf eine Anfrage über die Herkunft der als
Schild Davids bezeichneten Figur des Hexagramms erwiderte er, dass sie aus dem
13. Jahrhundert zuerst bekannt sei.
Freitag1, den 27. März 1914. Der Vorsitzende, Geh. Rat Prof. Dr. Roediger,
wies auf den vom Verbände deutscher Vereine für Volkskunde versandten 'Aufruf
zur Sammlung der deutschen Segen- und Beschwörungsformeln' hin und forderte
die Mitglieder des Vereins zur Mitarbeit auf. Abdrücke des Aufrufes sind noch
vorhanden. Er legte ferner ein neu erschienenes Buch von Prof. Dr. E. Samter:
Die Religion der Griechen vor (aus Teubners Sammlung 'Aus Natur und
Geisteswelt'). Hr. Prof. Rob. Mielke sprach mit Vorführung zahlreicher Licht-
bilder über die Entstehung unserer Dorfformen. Die Gründe für die Gestaltung
der Dorfformen liegen in den Wirtschaftsweisen. Die Einzelhöfe an der Weser
Protokolle.
223
und in Priesland z. B. deuten auf alte Viehwirtschaft hin. Mit dem Überwiegen
des Ackerbaues stellte sich die Notwendigkeit einer bestimmten Grösse des Areals
heraus. Schon zu Caesars Zeit war bei den Germanen Hufenverteilung vorhanden.
Die nordische Grosshufe ist wahrscheinlich auch in Deutschland, z. ß. in den
Wesermarschen, in Braunschweig, Thüringen usw. in Geltung gewesen. Die
Königs- oder Marschenhufe taucht in der östlichen Kolonisation auf. Dagegen
haben die Weiler im Westen römische Flureinteilung in rechteckiger Form. In
Schonen und Seeland sind zwei alte Dorfformen, By oder Haufendorf und Torp
oder Rundlingsdorf, zu unterscheiden. Eine weitere Dorfform des Nordens war
das Fortadorf mit 8 bis 12 Haupthöfen, in Kreuzform angelegt. Eine spätere, im
13. Jahrhundert in Schweden und Norwegen beendete Regulierung der bereits
unter König Erich planmässig angelegten Dörfer geht auf die Sonnenlage zurück,
wodurch das Strassendorf entstand. In Deutschland sind die alten Verhältnisse
unklarer. Das Strassendorf ist bei uns das Normaldorf. Die ehemals als slawisch
angesehenen Runddörfer sind oft nur Angerdörfer und können nicht als völkisch
bedingt angesehen werden. Ihnen ist die 8-Zahl der Gehöfte eigentümlich. Der
nordische Rundling hat sich in Holstein, Lübeck und Mecklenburg-Strelitz erhalten.
Jünger als die Rundlinge sind die Rietze, welche man immer den Slawen
zuschreibt. Es sind Strassendörfer ohne Ackerflur, und sie treten nur in ehemals
slawischem Kolonialgebiete auf. In der an den Vortrag sich anschliessenden Be-
sprechung erörterte Hr. F. Tr eie hei seine Auffassung des Achterzug-Pfluges, der
nach Mielke einer bezeugten Bespannung mit 8 Ochsen bedurfte, als eines Pfluges
mit hintereinander gehenden Zugtieren. Ferner erklärte er die vom Redner
erwähnte, Swinslag genannte, bestimmte Art der Hufenverteilung als Weide auf
der Stoppel. Derselbe sprach dann über die Bedeutung und den Ursprung seines
Familiennamens. Er führte aus, dass im Alemannischen 'treichlen' soviel bedeute
wie eine Glocke anschlagen. Die Glocke heisst Treichle. Daher trägt eine
Familie dieses Namens in dem durch Viehzucht hervorragenden Allgäu eine
Glocke im Wappen. Bei dem schweizerischen volkstümlichen Umzüge des sog.
Klausens am St. Nikolaustage, einem alten Pruchtbarkeitsritus, werden von den
Burschen Glocken, Treichlen, benutzt.
Freitag, den 24. April 1914. Der Vorsitzende, Hr. Geh. Rat Roediger,
legte ein eben erschienenes Buch von Elisabeth Lemke: Asphodelos und anderes
aus Natur und Volkskunde, I. (Allenstein 1914) vor. Der Unterzeichnete
sprach über das schlesische Bauernhaus unter Vorführung von 21 Lichtbildern.
Der Vortrag ist oben 23, 337ff. abgedruckt. Dann hielt Elr. Professor Guth-
knecht einen Vortrag über die Tracht der Germanen, unter Vorlegung zahlreicher
eigenhändiger Skizzen nach antiken Vorlagen. Er wies darauf hin, dass die
Zeugnisse der alten Schriftsteller, besonders des Caesar und Tacitus, die einzigen
und im grossen und ganzen auch zuverlässigen Quellen für die Kenntnis der
primitiven Volkstracht der Germanen seien. Zwischen Galliern und Germanen
habe kein bedeutenderer Unterschied in der Tracht bestanden. In dem von
Caesar erwähnten 'reno' erblickte er einen Pelzumhang von Skapulierform und
verwarf die Ableitung des Namens vom Rentier. In den prähistorischen Funden
sehen wir Gürtel, Fibeln und Haken bereits eine grosse Rolle spielen, so dass
Schlüsse auf einen grossen Reichtum in der Tracht berechtigt erscheinen. Auch
zeigt der Schnitt der Frauentracht des Nordens in der älteren Bronzezeit bereits
eine hohe Entwicklung, nicht minder die spätere Männerhose, wie wir sie z. B.
aus dem Thorsberger Moorfunde (3. bis 4. Jahrh. n. Chr.) kennen lernen. Wenn
trotzdem zur römischen Kaiserzeit am Rhein noch nackte Germanen lebten, so
224
Brunner: Protokolle. — Berichtigung'.
muss man annehmen, dass die nördlichen Germanen schon früher eine höhere
Kulturstufe erreichten als die westlichen. Immerhin ist bei Tacitus bereits gegen-
über Caesars Angaben ein gewisser Kulturfortschritt in der germanischen Tracht
zu erkennen. In der Frauentracht ist das kurze Kleid urwüchsiger als das lange.
Die Marc Aurelssäule zeigt bereits einen gewissen Kleiderluxus der Markomannen.
Freitag, den 22. Mai 1914. Der Vorsitzende, Hr. Geheimrat Hoediger,
legte die ersten Nummern einer yon "Wolfgang Schultz unter Mitwirkung anderer
namhafter Gelehrten neu herausgegebenen Monatsschrift für vergleichende Mythen-
forschung'Mitra'vor. Hr. Rittergutsbesitzer Fr. Treichel machte unter Vorlegung
von Abbildungen Mitteilung von eigentümlich in Menschenform gestalteten Bienen-
stöcken aus Höfel in Schlesien, die unter dem Namen 'Apostelbienenstöcke' bekannt
sind und einem in slawischen Gebieten öfter auftretenden Typus angehören.
Näheres darüber wird eins der nächsten Hefte dieser Zeitschrift bringen. Hr.
Direktor Dr. Minden zeigte eine volkstümliche Stickerei, Darstellung der männ-
lichen und weiblichen Hochzeitstracht aus Nuoro in Sardinien, welche er der
Kgl. Sammlung für deutsche Volkskunde überwies. Dann hielt Hr. Dr. Robert
Pelissier einen durch Lichtbilder und phonographische Darbietungen erläuterten
Vortrag über seine Reisen zu den finnisch-ugrischen Völkerschaften Russlands,
insbesondere den Wotjaken, Permjaken, Syrjänen und Mordwinen. Unter ihnen
lebt zerstreut der mohammedanische Stamm der Tataren, welcher sich auch in
kultureller Beziehung von den finnisch-ugrischen Bevölkerungen unterscheidet und
von der russischen Regierung privilegiert wird. Der Vortrag soll ausführlich
später in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden.
Berlin. Karl Brunner.
Berichtigung.
Von befreundeter Seite werde ich darauf aufmerksam gemacht, dass mir bei
der Besprechung der so verdienstlichen Arbeit über den 'Mönch Felix' von
Dr. Erich Mai (im vorigen Heft dieser Zeitschrift S. 102) ein Versehen mit unter-
gelaufen ist. Erich Mai hat auch die Anregung zu seinen ergebnisreichen
Forschungen durch Herrn Geheimrat Dr. Max Roediger erhalten. Ich bedaure
meine unrichtige Angabe und gebe die Worte wieder, die Mai seinerzeit seiner
Dissertation vorausschickte: „Bevor ich die folgende Einleitung eröffne, kann ich
nicht umhin, der reichen und nie verdrossenen Förderung zu gedenken, die mir
dabei durch Herrn Professor Dr. Max Roediger hierselbst zuteil geworden. Nicht
nur, dass er die erste Anregung zu einer kritischen Ausgabe des Felixgedichtes
gegeben, er hat mir im Verein mit dem inzwischen verstorbenen Herrn Geheimen
Regierungsrat Professor Dr. Weinhold auch die Handschriften zugänglich gemacht,
mich mit Nachweisen unterstützt, mich mehr als drei Jahre hindurch kritisch be-
raten. Ich sage ihm, Otfrieds Wort vom zuhtâri guato billig erneuernd, meinen
herzlichen Dank."
Gross-Lichterfelde. Fritz Behrend.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
Von Alfred Martin.
(Vgl. S. 113-134.)
Die Tanzkrankheit vor 1518.
Betrachten wir die Tanzkranldieit vor der Strassburger Epidemie
zeitlich rückwärtsschreitend, so stossen wir zunächst in Zürich auf Tänzer
in der Kirche und in der Vorhalle der Kirche.
Nach den Rats- und Richtbüchern sagt 1452 ein Hans Schiltknecht
vor Gericht aus: „Es habe sich gefügt, daß ein armer Mensch an St. Vits
Tag uf dem Helmhaus [in der Vorhalle der Wasserkirche] habe getanzet;
also sei er auch da gestanden, und habe zugesehen, da habe der arme
Mann ihn angerufen, daß er ihm in seinen Nöthen zu Hülfe käme, also
habe er ihm durch Gottes und seiner lieben Mutter Willen in seinen
Nöthen geholfen, und da er also mit ihm getanzet, haben vier Gesellen
seiner gespottet" *).
In den Rats- und Richtbüchern findet sich beim Jahr 1418 [oder 1428,
siehe später] die Stelle: Heini Murer sagt vor Gericht, 'daß es sich gefügt,
daß er in der Wasserkilchen stund und den armen Frowen zulugte, die
da tanzeten; da käme Heini Harnischmacher und wollte den Frowen eine
Wite [Weite, Raum] machen, daß der Luft zu ihnen ginge, und stieß
die Leute hinter sich"2).
Salomon Vögelin, der die Stellen mitteilt, setzt den Vorgang ins Jahr 1418,
später bezieht er sich auf die Rats- und Richtbücher von 1418 und 1419. In
den Us te ri sehen Manuskripten der Stadtbibliothek Zürich (Msc. U 55) fand ich
die Angabe 1428. Auf meine Anfrage teilte mir das Züricher Staatsarchiv mit,
dass sich in Bd. VI, 204 (wo die Stelle S. 137 steht) Jahre und Jahresbruchstücke
der Rats- und Richtbücher von 1418, 1419, 1428 I und II finden, der Passus
zwischen 1428 und 1418 steht und eher zu 1428 indie 1. Jahreshälfte zu gehören
1) Salomon Vögelin, Gesch. der Wasserkirclie in Zürich. Zürich 1848 (Neujahrsblatt
lisg. v. d. Stadtbibliothek in Zürich auf das Jahr 1847 — 48).
2) Ebenda.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3. 15
226
Martin :
scheint. Vögelin hatte, wie oben S. 114 erwähnt, in der Annahme, die Strass-
burger Epidemie habe 1418 stattgefunden, gemeint, die Tänzer seien von Strass-
burg über Zabern nach Zürich gelangt.
Die Wasserkirch e galt vor der Reformation — die sie gerade des-
wegen schloss — als heiligste Kirche der Stadt. Sie war die älteste
Kapelle und galt als Reichsboden. Dort hatten die heiligen Märtyrer
Felix und Regula an der später vielbenutzten heiligen Heilquelle ihr
Leben gefristet und waren gefangen worden. Die alte Kirche hatte fünf
Altäre1), vielleicht war einer dem hl. Veit geweiht, denn ohne Grund
wurde am Yeitstage dort nicht getanzt.
Im vorhergehenden Jahrhundert finden wir eine grosse Epidemie in
Köln, Aachen, Utrecht, Mastricht, Lüttich, Tongern und Metz, die sich in
benachbarte Gebiete ausbreitete. Die Tänzer zogen von einem Ort zum
andern.
Eine Kölner Chronik sagt vom Jahre 1374: „In dem seluen iair stonde eyn
groisse kranckheit vp vnder den mynschen, ind was doch niet vili me gesyen dese
selue kranckheit vur off nae ind quam van natuerlichen Ursachen as die meyster
schrijuen, ind noemen Sij maniam, dat is raserie off unsynnicheit. Ind vili lude
beyde man ind frauwen junck ind alt hadden die kranckheit. Ind gyngen vyss
[aus] huyss ind hoff, dat deden ouch junge meyde, die verliessen yr alderen,
vrunde ind maege ind lantschaff. Disse vurß mynschen zo etzlichen tzijden as
Sij die kranckheit anstiesse, so hadden Sij eyn wonderlich bewegung yrre lychamen.
Sij gauen vyss kryschende vnd grusame stymme, ind mit den wurpen Sij sich
haestlich up die erden, vnd gyngen liggen up yren rugge, ind beyde man ind
vrauwen moist men vmb yren buych ind vmp lenden gurdelen vnd kneuelen mit
twelen [Tüchern] vnd mit starcken breyden benden, asso stijff vnd harte als men
mochte.
Item asso gegurt mit den twelen dantzten Sij in kyrchen ind in clusen ind vp
allen gewijeden Steden. As Sij dantzten, so sprangen Sij allit vp ind rieffen: Here
sent Johan, so so, vrisch ind vro, here sent Johan.
Item die ghene die die kranckheit hadden wurden gemeynlichen gesunt bynnen
Y V. dagen. Zom lesten geschiede vili bouerie vnd droch dae mit. Eyn deyll
naemen sich an, dat Sij kranck weren, vp dat Sij mochten gelt dae durch bedelen.
Die anderen vinsden sich kranck, vp dat Sij mochten vnkuyschheit bedrijuen mit
den vrauwen. jnd gyngen durch alle lant ind dreuen vili bouerie. Doch zo lesten
brach idt vyss ind wurden verdreuen vyss den landen. Die selue dentzer quamen
ouch zo Coellen tusschen [zwischen] tzwen vnser lieuven frauwen missen Assumptio-
ns ind Natiuitatis."
(Die Chronica van der hilliger Stat van Coellen, Coellen 1499, Bl. 277 — Die
Chroniken der deutschen Städte 14, 715. 1877. Abdruck bei Hecker-Hirsch S. 189,
Anhang IV)2).
Es trat in Köln, wie in Strassburg, der Tanz als Krankheit auf.
Auffallend war die kreischende und grausame Stimme der Kranken und,
1) Salomon Vögelin a. a. 0.
2) J. F. C. Hecker, Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, hsg. v. A. Hirsch.
Berlin 1865.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
227
was dem Berichterstatter am meisten in die Angen fiel, die Bewegung ihrer
Körper. Schreiend warfen sie sich auf die Erde und 'gingen liegend auf
dem Rücken'. Der Arzt weiss, dass die Verrenkungen auf dem Breughelschen
Bilde (oben S. 132) und das Hin- und Herwerfen der auf dem Rücken
Liegenden mit plötzlichen sprenkelartigen Krümmungen der Wirbelsäule,
auch des ganzen Körpers, nur verschiedene Ausdrücke desselben hysterischen
Krankseins sind. "Wenn sie tanzten, hatten sie den Bauch mit breiten
Gurten oder Tüchern umwunden, die durch Knebel straff angezogen waren.
So tanzten sie in Kirchen, Klausen und auf allen geweihten Stätten, wie
wir aus dem Yorhergehenden wissen, sicherlich zu Heilzwecken, und
beim Aufspringen feuerten sie sich in einem Tanzliede (das in früheren
Zeiten die Instrumentalmusik vertrat) unter Anrufung ihres Krankheits-
patrons an: Here sentJohan, so so, vrisch ind vro, here sent Johan. Wie
in Strassburg, gab's zuletzt Betrüger unter ihnen, und das enge Zusammen-
leben wurde auch von Lüstlingen ausgenutzt. Da vertrieb man sie, die
wahrhaft Kranken waren gewöhnlich in Y Y [?] Tagen gesund geworden.
Dieser einfache Bericht weicht in der Schilderung der Krankheit und
Krankheitsheilung von solchen der späteren Zeit nicht wesentlich ab.
Dass die Leute den Heiltanz vollführten, ist nicht zu bezweifeln, ja es
scheint der Tanz selbst anfänglich nur zu Heilzwecken vorgenommen zu
sein und die Krankheit, die man damit heilen wollte, in der abnormen
Stimme, dem Zubodenwerfen "und den konvulsivischen Bewegungen be-
standen zu haben; denn das vollführten sie, 'als sie die Krankheit
anstieß', dann erst Hessen sie sich gürten1) und tanzten an geweihten
Stätten, wo sie meist geheilt wurden. Diese bis dahin unbekannte
Krankheit nannten die Meister (der Arznei) Manie, das ist Raserei und
Unsinnigkeit. Erst später kamen, wie der Chronikenschreiber meint,
Betrüger und anderes Gesindel hinzu, sicherlich aber auch geistig-
Minderwertige, die mit dem Tanz angesteckt wurden und nun als Tanz-
kranke tanzten.
Ein zweiter zeitgenössischer deutscher Bericht steht in der Limburger
Chronik (angefangen 1347):
„An. 13472) zu mittem Sommer da erhub sich ein wunderlich ding auf Erd-
reich, vnd sonderlich in Teutschen landen, auf dem Rein vnd auf der Mosel, also
daß leut anhüben zu dantzen vnd zu rasen, vnd stunden je zwey gen ein, vnd
dantzeten auf einer stett einen halben tag, vnd in dem Dantz da fielen Sie etwan
1) Trithemius schreibt, allerdings erst im 16. Jahrhundert: Zuerst auf die Erde
fallend schäumten sie, danach aufstehend tanzten sie bis zur Entkrättung, wenn sie
nicht durch ein sehr starkes Band von anderen zusammengeschnürt wurden (nisi fortissima
ligatura per alios stringerentur). (Chronicon Spanheimense. Frankf. 1601.) Dabei möchte
ich daran erinnern, dass meines Wissens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine
Heilmethode der Epilepsie im Zusammenschnüren einzelner Glieder bestand, vielleicht
geht sie auf einen alten Volksbrauch zurück.
*2) Druck- oder Schreibfehler für 1374. Die Stelle steht nach 1873 und vor 1375.
15*
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Martin :
dick [oft] nider, vnd liesen sich mit fïissen tretten auf jhren leib. Davon Damen
sie sich an, daß sie genesen weren, vnd liefen von einer Statt zu der anderen,
vnd von einer Kirchen zu der anderen, vnd hüben gelt auf von den leuten, wo es
jhnen mocht gewerden. Vnd wurd des dings also viel, daß man zu Cöln in der
Statt mehr dann fünffhundert Dentzer fand. Vnd fand man, daß es ein Ketzerey
was, vnd geschach umb gelts willen, daß jhr ein theil Frauw vnd Man in vn-
keuschheit mochten kommen vnd die volnbringen. Vnd fand man da zu Cöln
mehr dann hundert Frauwen vnd Dienstmägd, die nit ehrliche menner hatten. Die
wurden alle in der Dentzerey kindertragend, vnd wann daß Sie Dantzeten, so
bunden vnd knebelten sie sich hart vmb den leib, daß Sie desto geringer weren.
Hierauf sprachen ein theils Meister, sonderlich der Guten Artzt, daß ein theil wurden
dantzend, die von heiser Natur weren, vnd von andern gebrechlichen natürlichen
sachen. Dann deren was wenig, denen das geschach. Die Meister von der
heiligen Schrift die beschworen der Dentzer ein theils, die meinten daß Sie be-
sessen weren von dem bösen Geist. Also nam es ein betrogen end, vnd werete
wol Sechzehen wochen in dissen Landen oder in der maaß. Auch nahmen die
! vorgenante Dentzer Man vnd Frauwen sich an. daß Sie kein rot sehen möchten.
Vnd war ein eitel teuscherey vnd ist verbotschaft gewest an Xystum [Christum]
nach meinem beduncken"*).
(Auch bei Hecker-Hirsch a. a. 0. abgedruckt, aber nach der Ausgabe von
C. D. Vogel. Marburg 1828).
Hier treten die Kranken von vornherein als Tänzer auf — es wird
auch ihre Tanzart angegeben, sie 'stunden je zwey gen ein' — und tanzten
oft bis zum Umsinken, liessen sich dann mit Füssen treten und glaubten
sich nun geheilt. Es war also in der Hauptsache die Heilart, die wir
vornehmlich von Strassburg und Basel her kennen. Auch vom Tanz in
den Kirchen spricht der Bericht. Das Umgürten des Bauches geschah
nach ihm nur, um in der Schwangerschaft dünner zu erscheinen und sie
zu verdecken (vgl. oben S. 125 f. den Bericht Schenks von Grafenberg).
Der Chronist hält die meisten Tänzer für Betrüger, wenige für wirklich
Kranke, von denen die guten Ärzte sagten, dass sie heisser Natur wären
(siehe oben S. 118 diese Angabe auch bei der Strassburger Epidemie)
und andere Gebrechen hätten. Im Gegensatz zu den Ärzten — und an-
scheinend auch zum Chronisten — nahmen die Geistlichen Besessenheit
an und beschworen sie.
Ganz anders lauten die Berichte niederländischer Geistlicher. Sie
áchildern die Kranken, durch ihre Brille gesehen, nur als Besessene, und
als solche wurden diese von ihnen dort auch behandelt, besonders wo das
durch die Plage verbitterte Volk der Geistlichkeit gefährlich zu werden
anfing. Die Berichte sind kulturgeschichtlich besonders interessant, weil
sie zeigen, welche Macht die Suggestion hat. Die Kranken glaubten
schliesslich selbst, dass sie von Teufeln besessen seien, und die Geist-
lichen holten Aussagen aus ihnen heraus, die sie wünschten und die ihnen
1) Die Limburger Chronik des Johannes, nach J. Fr. Fausts Fasti Limpurgenses hsg.
von K. liossel (Wiesbaden 1860) S. 56. (Neue Ausgabe in, den Monumenta Germaniae,
Deutsche Chroniken 4, 1.)
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
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angenehm waren. Selbst die in religiöse Schwärmerei Verfallenen wurden
als Besessene betrachtet und mitbeschworen. Jedenfalls trat die seelische
Erkrankung hier weit mehr als sonst hervor und war in ihren Äusserungen
zumeist durch die Geistlichkeit beeinflusst.
Ausführlich erzählt ein gleichzeitiger Niederländer: „Am 16. Julius
(1374) kam eine sonderbare Art besessener Menschen aus den obern deutschen
Ländern nach Aachen, von da nach Utrecht und endlich gegen den September
nach Lüttich. Halb nackend, mit Kränzen um die Köpfe, führten diese Besessenen
beiderlei Geschlechts auf den Strassen, selbst in den Kirchen und Häusern ohne
alle Scham ihre Tänze auf, indem sie in ihrem Gesänge nie gehörte Namen der
Teufel ausriefen. Nach dem vollendeten Tanze quälten die Teufel sie mit den
heftigsten Brustschmerzen, so dass sie mit schrecklicher Stimme schrieen, sie
stürben, wenn man sie nicht mit Binden um den Leib zusammenschnürte. Vom
September bis zum Oktober wuchs ihre Sekte zu vielen Tausenden an. Aus
Deutschland strömten täglich neue Tänzer herbei, und zu Lüttich wurden viele,
die noch an Leib und Seele gesund waren, plötzlich von den Teufeln ergriffen
und verbanden sich mit den Tänzern. Kluge Leute wussten keinen anderen Grund
der Entstehung dieser teuflischen Sekte anzugeben, als die herrschende Unwissen-
heit in Glaubenssachen und in den Geboten Gottes. Viele aus dem Volke warfen
aber die Schuld auf die Priester, die im Konkubinat lebten, durch welche also
jene Leute nicht recht getauft worden wären. — In der Kreuzkirche zu Lüttich
fing an der Kirchweihe der Träger des Rauchfasses an, sein Fass wunderlich zu
schwenken, zu springen und unverständlich zu singen. Als darauf ein Priester
verlangte, er solle das Vaterunser beten, wollte er nicht, und als er den Glauben
beten sollte, sagte er: Ich glaube an den Teufel. Da legte der Priester ihm die
Stola um und las den Exorzismus der Kirche; alsbald verliess ihn der Teufe],
und er betete das Vaterunser und den Glauben mit grosser Andacht. ■— Um das
Fest aller Heiligen versammelte sich in dem Flecken Herstal bei Lüttich eine
Menge Tänzer, Männer und Weiber, und beschlossen nach Lüttich zu gehen und
daselbst die Prälaten und die ganze Geistlichkeit umzubringen. Aber als sie nach
Lüttich kamen und durch fromme Leute vor die Geistlichen geführt wurden, taten
sie diesen nichts, ja sie liessen sogar von ihnen sich heilen und ihre Teufel aus-
treiben. — Einige wurden in eine Kapelle des St. Lambertsklosters vor den
Priester Doct. Ludwig Loves gebracht, welcher ihnen eine geweihte Stola umhing
und das Evangelium in principio erat verbum vorlas. Dasselbe Experiment
machte dieser Priester mit zehn Tänzern nacheinander, immer mit dem glücklichen
Erfolge der Heilung. Dadurch kam er in solchen Ruf, dass man ihm von allen
Seiten dergleichen Kranke brachte, damit er sie den Teufeln entrisse. Auch in
andern Kirchen trieben andere Geistliche die Tanzteufel aus. Zur Beschwörungs-
formel bediente man sich gewöhnlich des Anfangs des Johanneischen Evangeliums,
doch auch anderer Evangelien, vorzüglich solcher, in welchen die Heilung Besessener
durch Christus erzählt wird. — Eine andere Art der Heilung geschah durch Auf-
legung oder Vorzeigung der Hostie, durch Eingiessen von Weihwasser, durch Be-
rühren des Mundes mit einem priesterlichen Finger, durch Anblasen usw. unter
Hersagung von mancherlei Formeln. — Viele Geistliche erzählten, ein Teufel habe
vor seiner Austreibung gestanden, dass sie jetzt freilich nur gemeine Leute be-
sässen, sie würden aber auch in den Körper der Reichen und Mächtigen ein-
gekehrt sein und durch diese den ganzen Klerus aus Lüttich vertrieben haben,
wenn derselbe nicht jetzt sie zwänge, sich hinwegzuheben. — Zu Aachen tauchte
230
Martin :
der Priester Simon ein Mädchen, dessen Teufel keiner Beschwörung anderer
weichen wollte, bis an den Mund in Weihwasser. Der Dämon wohnte nach seiner
eigenen Aussage seit zwei Jahren in dem Mädchen und hatte sich, wenn dieses
kommunizierte, in die Spitze der Zehen verkrochen. Er wurde genötigt aus-
zufahren und von dannen zu weichen, obgleich er sich erbot, das Amt eines Burg-
wärters zu übernehmen und zur Probe wie auf einer Trompete blies. Da einige
Tage nach seiner Austreibung in dem Carlsbade (wo er ebenfalls nicht hausen
sollte) mehrere Menschen ertranken, glaubte man, das habe er bewirkt, und schloss
das Bad für immer. — Einen andern Teufel vertrieb derselbe Priester durch Gebet
und Pasten. — Nachdem durch diese und andere geistliche Mittel die Sekte der
Tänzer, welche in Jahres Prist sehr überhand genommen hatte, allmählich ver-
mindert war, wurden zwar noch drei bis vier Jahr lang manche Leute von solchen
Tanzteufeln heimgesucht, aber diese wichen sehr leicht den Beschwörungen der
Geistlichen. Der Klerus von Lüttich kam zu jener Zeit in einen guten Geruch.
(Radulphi de Rivo, Decani Tongrensis (f 1403) Gesta Pontificum Leodiensium,
in Jo. de Arckel Cap. IX.; Chapeavilli Auetores qui gesta Pontificum Leod.
scripserunt, III, 19 ss. Übersetzung von Förstemann)1).
In vielem stimmt der nachfolgende Bericht mit obigem überein:
„Im Jahr 1374 unter bischöflicher Regierung des ehrwürdigen Herrn Johannsen
von Arckel, Bischofs zu Lüttich, im Monat Julio, am Morgen des Pests der
Apostelteilung sind gesehen worden Tänzer am Reihen, die hernach auf Mastricht,
Lüttich, Tongern und andere Orte dieser Lande im Herb-Monat (September)
kommen sein. Diese teufelische Pest hat an gemelten und benachbarten Orten
Mann- und Weibspersonen, vornehmlich aber die Armen und Leute von schlechtem
Ruf zu aller grossen Schrecken anfahen zu plagen, wenig aber von Geistlichen
und Reichen. Sie trugen Kränze auf den Köpfen, um den Leib und Nabel bunden
sie sich mit einem Tischtuch und eim Bakel, da sie dann nach dem Tanzen hinfielen
und heftig gemartert, und damit sie nicht zerborsten, wurden sie mit den Füssen
getreten, und bunden sich mit dem Bakel in das Tischtuch ganz harte, und
Hessen sich mit der Faust stossen. Etliche schrien, sie scheuten sich vor Schnäbeln
an den Schuhen, dahero dieselben zu Lüttich verboten wurden. Sie nahmen mit
ihren Tanzen die Kirchen ein und nahmen an der Zahl vom Herbst-Monat bis in
Oktober sehr zu. Es wurden überall Umgänge, Litaneien und besondere Messen
gehalten. Zu Lüttich fing ein Schuljunge zum heiligen Kreuz am Abend der
Kirchweih mit dem Rauchfass an zu spielen und nach der Yesperzeit heftig zu
tanzen. Als er von vielen ermahnt wurde, ein Vaterunser zu beten, wollt er nicht,
desgleichen den Glauben, hat er gesagt: Ich glaube an den Teufel. Als der
Kaplan solches gesehen, hat er sich seinen Habit langen lassen und beschworen
mit der Taufsformel, da hat er alsbald gesagt: Siehe, der Schüler weicht mit dem
kurzen Rocke und den Schnabelschuhen. Da sagt jener: Sprich das Vaterunser
und den Glauben! Da hat er beides gesprochen und ist vollkömmlich zu recht
wieder worden. Bei dem Harstalle sind des Morgens vor Allerheiligen ihrer viel
zusammen kommen und beratschlagten, dass sie zugleich kommen und alle Dom-
herrn, Priester und Geistliche zu Lüttich niedermachen wollten. Ein Domherr
Simon im Kloster zu Lüttich in der Kapell zur seligen Jungfrauen hat sich in
Gott gestärket und einem eine Leiter auf den Hals geworfen und das Evangelium:
1) E. G. Förstemann, Versuch einer Gesch. der christl. Geisslergesellschaften. Stäudlin
und Tzschirners Archiv für alte und neue Kirchengeschichte, 3. Bd. Leipzig 1817.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
231
'im Anfang war das Wort' über ihn gesprochen, und ist davon wieder befreiet, und
wegen solchen Wunderwerks die Glocke alsbald geleutet worden. Zu St. Bar-
tholomei zu Lüttich hat in Beisein vieler Leute der Satan einem Beschwörer ge-
antwortet: Ich will gern ausfahren. Warte, sagt der Geistliche, ich will mit dir
reden. Und nachdem er etliche andere kurieret gehabt, hat er zu ihm gesagt:
Nun rede leibhaftig und antworte mir! Da hat der Satan allein geantwortet:
Unser waren zwo, allein mein Gesell, der schlimmer ist als ich, ist vor mir aus-
gefahren; ich habe soviel erleiden müssen in diesem Leibe, wenn ich drauss wäre,
wollte ich nimmermehr in einen Christenleib fahren. Da hat ihn der Geistliche
gefragt: Warum bist du in die Leiber dieser Menschen gefahren? Er geantwortet:
Die Geistlichen und die Priester sprechen so schöne Wort und soviel Gebete, dass
wir in ihre Leiber nicht fahren können. Wenn man noch fünf oder vier Wochen
gewartet hätte, so wären wir in der Reichen Leiber gefahren und darnach in der
Fürsten, und über die hätten wir die Geistlichen niedergeworfen. Dieses haben
daselbst ihrer viel gehört und hernach erzählt. Diese Pest hat in einem Jahre
ziemlich überhandgenommen, hernach aber in drei oder vier Jahren gänzlich auf-
gehört."
(Jo. Pistoni Rerum familiarumque Belgicarum Chronicon magnum. Francof.
1654. fol.' p. 319. De chorisantibus. Abdruck bei Hecker-Hirsch 1865 S. 187 und
bei Schilter S. 1085; die obige deutsche Übersetzung bei Schilter S. 1086Í.)1).
Petrus de Herentals bringt ein Gedicht, das man von jenem Tanz hatte.
Darin heisst es unter anderem, dass das Volk tanzte und beiderlei Geschlecht
mit Freuden rief 'Frisch, Friskes', dass es den Sohn der Maria und den geöffneten
Himmel sah, kein Rot und niemanden weinen sehen mochte. Peter von Herental
selbst sagt: „In der Zeit, nämlich im Jahre 1375, kam von Aachen aus Teilen
Deutschlands (Alamanniae) eine wunderbare Sekte von Männern und Frauen und
zog hinauf bis nach Hennegau (Hanonia) oder Frankreich; ihre Lebensart war
folgende: Die Menschen beiderlei Geschlechts wurden von einem bösen Geist
geplagt, so dass sie in Häusern, auf den Strassen und in den Kirchen, einander
an den Händen haltend, tanzten und in die Höhe sprangen und gewisse Geister-
namen ausriefen, nämlich Friskes und ähnliche; sie hatten bei dieser Art Tanz
weder volles Bewusstsein noch Schamgefühl angesichts des dabei stehenden Volkes.
Und am Ende dieses Tanzes wurden sie in der Brustgegend so sehr gequält, dass
sie, wenn sie nicht durch leinene Tücher von ihren Freunden mitten um den
Leib zusammengeschnürt wurden, gleichsam rasend riefen, dass sie stürben. Diese
aber in Lüttich wurden durch Beschwörungen, die man aus der Zahl derjenigen
nahm, die im Katechismus vor der Taufe geschehen, von dem Dämonen befreit,
und die Geheilten sagten, dass es ihnen geschienen hätte, als ob sie sich zur Zeit
des Tanzes in einem Fluss von Blut befänden, und deswegen wären sie in die
Höhe gesprungen. Das Volk aber in Lüttich sagte, diese Plage sei dem Volke
deshalb zugestossen, weil es schlecht getauft sei, besonders von Priestern, welche
sich Konkubinen hielten. Und deswegen hatte das gemeine Volk sich vor-
genommen, gegen die Priester aufzustehen, sie zu töten und ihnen ihre Güter zu
nehmen, wenn nicht Gott in den vorhingenannten Beschwörungen für ein Mittel
gesorgt hätte. Nachdem dies geschehen war, hörte die Volkswut auf, so dass
die Geistlichkeit noch viel mehr vom Volke geehrt wurde."
1) Älteste teutsche Chronicke von Jacob v. Königshoven, hsg. v. D. Johann Schiltern.
Strassburg 1698 (vgl. oben S. 114 Anm. 1).
a
fi
232 Martin :
(Petri de Herentals, Prioris Floreffìensis Vita Gregorii XL., in Stephan.
Baluzzii Vitae Paparum Avenionensium. T. I. Paris 1693. 4°. p. 483. Abdruck bei
Hecker-Hirsch 1865 S. 186 f. Übersetzung aus dem Lateinischen.)
Förstemann führt noch an, dass in der Kirche zu Aachen manche bis zur
Höhe des Altars sprangen, dass zuweilen ein Tänzer oder eine Tänzerin auf die
Schultern eines andern trat und vorgab, Wunderdinge in dem offenen Himmel zu
sehen, dass durch die Beschwörungen der Geistlichen an verschiedenen Orten
gegen 3000 Tänzer geheilt worden sein sollen. (Die Literatur ist summarisch
angegeben)1). Nach einer Quelle bei Hecker a. a. 0. tanzten in Metz 1100 Personen.
Die Tänzer werden einfach Tänzer genannt, eine alte belgische Chronik
nennt sie die dansers: 'Anno MCCCLXXIV_gingen die dansers'2). Zum
ersten Male finde ich bei Trithemius3) (geb. fé42 zu Trittenheim a. d. Mosel,
gest. in Würzburg)4) den Namen Johannistanz. In seinem Bericht
sagt er 'chorea S. Johannis', in der Uberschrift 'Chorisatio S. Joannis
dicta S. Yeits ïantz'. Spangenberg6) schreibt 1591: 'man nante es S.Veits
Tantz'.
Dass die Zeitgenossen dem Tanz keinen Namen gaben, fällt auf.
Dass es sich um den Johannistanz handelt, darüber ist kein Zweifel. Auch
beim Strassburger Veitstanz kommt in keinem der zeitgenössischen
Berichte der Name Veitstanz vor, und ich vermute, dass man sich scheute,
den Namen auszusprechen oder niederzuschreiben. In der Epidemie von
1493 wird allerdings die Krankheit als etwas bis dahin vollkommen Un-
bekanntes geschildert. Den Chronikenschreibern mag sie und ihre Heil-
weise unbekannt gewesen sein (man beachte, dass man die Worte 'frisch
und froh' des Tanzliedes als Geisternamen deutete), das Volk hat sicher
im hl. Johannes seinen Krankheitspatron gesehen, wie später an einzelnen
Orten noch, und es ist falsch, wenn Förstemann6) sagt, die Krankheit
sei Johannistanz genannt worden, weil man die Kranken mit dem Anfang
des Johannisevangeliums beschwor.
Ich kann mich auch Wicke7) nicht anschliessen, nach dem in der
Epidemie von 1374 die Urheber des Tanzes nur eine religiöse Zeremonie
zur Abhilfe von allerlei Nöten beabsichtigten und dann weiter mit den
später Ergriffenen an einer wahnsinnigen Tanzwut ohne Plan und Zweck
litten. Dass ein Plan und Zweck da war, nämlich durch den Tanz,
namentlich in Kirchen, unter Anrufung des hl. Johannes geheilt zu werden,
1) Stäudlin und Tzschirners Archiv 3.
2) Antonius Matthaeus, Veteris aevi Analecta sea Vetera monumenta hactenus nonduin
visa. Editio secunda, Tom. I. Hagae-Comitum 1738.
3) Trithemii Chronicon Spanheimense. Frankfurt 1601.
4) Allg Deutsche Biographie 38. Leipzig 1894.
5) C. Spangenberg, Adels-Spiegel. Schmalkalden 1591.
G) Stäudlin und Tzschirners Archiv 3.
7) E. C. Wicke, Versuch einer Monographie des grossen Veitstanzes und der un-
willkürlichen Muskelbewegung. Leipzig 1844.
i
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
233
wissen wir (Wicke will dies erst für Tänzer nach der Strassburger
Epidemie gelten lassen), und die Urheber beabsichtigten nicht Abhilfe
von allerlei Nöten, sondern yon ihrer Krankheit, mag sie im Tanz
selbst bestanden haben oder (nach der Kölner Chronik) in hysterischen
Konvulsionen. Ein Unterschied zwischen der Epidemie von 1394 und den
späteren Tänzen besteht also hierin nicht.
Wicke versteht unter dem Tanz, mit dem Abhilfe von allerlei Nöten
beabsichtigt wurde, den Sprung durchs Johannisfeuer, durch den man dem
Volksglauben nach Krankheiten auf ein Jahr abhielt, und mit ihm nehmen
Hecker-Hirsch a. a. 0. und Häser1) (der übrigens die falsche Jahreszahl
1395 angibt) an, dass die wilde Feier des Johannistages (ein bis dahin
unschädlicher Brauch, der, wie viele andere, nur den Aberglauben unter-
halten hatte) im Jahre 1374 die Krankheit zum Ausbruch gebracht habe
(Hecker), die Tänzer also von dieser Feier weg als Tanzkranke ins Land
zogen. Die Gemüter der Menschen sollen infolge von allerlei Ereignissen
jener Zeit besonders empfänglich gewesen sein: grosse Überschwemmungen
des Rheins und Mains, trostlose wirtschaftliche Verhältnisse im westlichen
und südlichen Deutschland durch unablässige Fehden der Burgherren,
Willkürherrschaft, bei vielen das Bewusstsein begangener Greuel während
der Pest (Hecker), das über den Kaiser verhängte Interdikt, durch das
die Kirchen geschlossen [!], das geistliche Amt aufgehoben waren, nicht
Absolution noch Sakrament und Segensspruch den Sterbenden zuteil
wurde (Häser).
Nur wird nirgends das Johannisfeuer erwähnt, und schwere Schicksals-
schläge zeitigten andere Gesellschaften als die Tänzer.
Die Gei ssler, die Büssersekten waren, zogen im Pestjahr 1349 als reuige
Sünder von Ort zu Ort, hielten mit Kreuzfahnen und Kerzen Prozessionen, geisselten
sich in den Kirchen und sangen unter anderm: „Nun recket auf euwere hend,
Daß Gott das grosse sterben wend." So berichtet die Limburger Chronik2). Das
klingt doch anders als das Tanzlied der Kölner Johannistänzer, die aus Egoismus
zur Abwendung ihrer Krankheit und durchaus nicht als zerknirschte Sünder die
Kirchen betraten und dort tanzten. Deswegen kann ich die besonderen Be-
ziehungen der Tanzwut zu den Geisslerfahrten, die Häser a. a. 0. annimmt,
nicht einsehen. Sie haben nur äussere Berührungspunkte, das Umherziehen, den
Besuch der Kirchen, die Verfolgung durch die Geistlichkeit (die Geissler nahmen
nach der Limburger Chronik den Papst und die Kirche nicht zu Hülf und zu
Rat; weil sie auf eigene Faust Buße thaten, verfolgte man sie). Die Geissler
waren Büsser, keine Kranken. Man henkte auch manche von ihnen3), die Tanz-
kranken nicht. Wenn Borsch ohne Quelle (und nach ihm Häser) angibt, hie und
da seien die Tänzer als Ketzer zum Feuertode verurteilt worden4), so hat er wohl
an die Geissler gedacht.
1) H. Häser, Lehrbuch der Gesch. der Medizin3, B. Bd. Jena 1882.
2) Limburger Chronik des Johannes, hsg. v. K. Rossel 1860 S. 19,
3) Ebenda S. 18.
4) Häser a. a. 0.
234
Martin:
Mit den Nöten des 14. Jahrhunderts bringt man gern die Entstehung der
Echternacher Springprozession (vgl. oben S. 129f.) in Verbindung.
Hirsch führt neuere Berichterstatter an; nach dem einen soll die Prozession
zum Andenken an die Tanzwut des Jahres 1374 gefeiert werden, ein anderer
will den Ursprung auf eine Luxemburg 1376 verheerende Pest zurück-
führen. „Jedenfalls also", sagt Hirsch selbst, „datiert dieses Fest aus
jener Zeit, in welcher der Veitstanz eben dort seine erste allgemeinere
Verbreiterung erlangt hatte." Häser legt die Entstehung ins Luxemburger
Pestjahr 1376. Das sind alles nicht stichhaltige Vermutungen.
Ich möchte zunächst auf die Springprozession zu Prüm, einem
Echternach benachbarten Abteistädtchen, eingehen. Reiners1) macht auf
den 'Veitstanz' aufmerksam, der nach der Chronik des Chapelain von
Metz am Johannistag 1374 stattfand, und dass gerade um diese Zeit die
Prümer Springprozession entstanden sein soll. Der Priiiner Chronist
Heinrich Brandt, der 1628 schrieb, sage ausdrücklich, dass unter dein
dortigen Abte Heinrich von Schöenecken (gest. 1342 [!]) die Prümer
Prozession, die mit der Echternacher denselben Charakter und Verlauf
hatte, aufgekommen sei. Er sage ferner, es sei ausgemachte Sache, dass
die Andachtsübung von einer öffentlichen Drangsal ihren Ursprung ge-
nommen und dass die Bewohner sie angestellt, um diese Zuchtrute Gottes
abzuwenden.
Ist die Prozession unter einem 1342 gestorbenen Abt aufgekommen,
so kann sie nicht um die Zeit des Johannistanzes von 1374 entstanden
sein. Wir haben es also mit einem schon vor 1342 bestehenden Heil-
und Vorbeugungstanz zu tun. Was Brandt, der ja im 17. Jahrhundert
schrieb, „ferner" sagt, ist trotz der Bestimmtheit, mit der ers tut, reine
Vermutung.
Die Echternacher Springprozession ist nach meiner Meinung noch
älter. Der Abt Thiofried (gest. 1110) berichtet im Leben des heiligen
Willibrord: „Es kommt in der Pfingstwoche nicht nur aus der benach-
barten Gegend, sondern aus der ganzen französischen und deutschen
Provinz, nach ewigem Ritus und gleichsam unauflöslichem, unverletzlichem
und von Geschlecht zu Geschlecht überliefertem Gesetze ein unzähliger
Priester- und Volkszusammenfluss mit Opfergaben und Litaneien unter
grösster Andacht zu den Schwellen des Heiligen wegen der von den
Vätern den Söhnen erzählten Wunder, welche bei der Freude dieser
Feierlichkeit alljährlich sich ereigneten vor dem zur Ehre und zum
Ruhme des heiligen Geistes geweihten Altar." Er bezeugt, dass vor dem
grossen Brande der Basilika im Jahre 1017 die Grabstätte des Heiligen
dermassen mit ex voto geopfertem Wachs und Metall behangen gewesen,
1) A. Reiners, Die Springprozession zu Echternach, Haffners Zeitgemässe Broschüren.
N. F. 5. Frankfurt 1884.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
235
dass zwei Ochsen auf einem Wagen dieselben nicht hätten fortbringen
können.
Reiners a. a. O. bringt hierzu eine wichtige Bemerkung: „Aus dem
öfters von Thiofried angewandten Worte tripudium (terrae-podium) als
heidnischen Dreisprung den Bestand des Springens nachweisen zu wollen,
ist etwas gewagt, wenngleich bei Du Cange das Wort die Bedeutung des
Tanzes hat."
Im Lateinischen ist tripudium der dreischrittige Tanz und tripudiare im Drei-
schritt tanzen, den Dreischritt stampfen1). Mir sind die Worte nur in der all-
gemeinen Bedeutung des Tanzes begegnet. Schenk von Grafenberg redet von
musica et tripudiis2), Musik und Tänzen, und das bei Petrus de Herentals An-
geführte über die Tanzepidemie von 1374 sagt: 'Populus tripudiai nimium sal-
tando' (bei Hecker-Hirsch a. a. 0.), das Volk tanzte durch über die Massen hohes
Springen. Hier kann für tripudium gar nichts anderes als Tanz gesetzt werden,
und wenn trotz der Autorität eines Du Cange Reiners nicht Tanz, sondern podium,
erhöhter Tritt, Schwelle setzt, so beweist das, dass ihm das Wort Tanz (das noch
öfter bei Thiofried in dem Berichte, anscheinend an nicht wiedergegebenen Stellen
vorkommt) unbequem ist.
Setzten wir in den Bericht Thiofrieds statt Schwellen Tänze ein,
so würde es heissen, dass in der Pfingstwoche (also wie heute noch) nach
ewigem Ritus und von Geschlecht zu Geschlecht überliefertem Gesetze
eine Menge zu den Tänzen des Heiligen (also zu den Willibrordstänzen)
zusammenkommt wegen der Wunder, welche bei der Freude dieser Feier-
lichkeit alljährlich sich ereigneten.
Ich halte deshalb Reiners Schluss für falsch, dass die 'völlige historische
Gewissheit' besteht, die Echternacher Springprozession sei anfänglich eine ge-
wöhnliche Dank- oder Bittprozession gewesen, dass zur Zeit von schweren
Kalamitäten, etwa Pest oder Veitstanz, zu gleicher Zeit mit der von Prüm, das
geängstigte Volk als Bussübung das mühevolle Hüpfen und Springen nachgeahmt
und so die Veitstänze, das heilige Peuer [gemeint ist wohl Antoniusfeuer = Kribbel-
krankheit] und der schwarze Tod [Pest] aufgehört habe.
Die Echternacher Springprozession ist nicht nur eine Nachahmung des
Veitstanzes zur Abwehr desselben und anderer Krankheiten gewesen, sie war
schon vor der Epidemie von 1374 der Veitstanz selbst (hier Willibrordstanz
genannt) im Sinne des Bewegungskrankheiten vorbeugenden und heilenden Tanzes,
was er der Hauptsache nach heute noch ist.
Hätten die Tanzkranken von 1374 ihre Heiltänze in den Kirchen
unter Führung der Geistlichen unternommen, so wären sie nicht als vom
Teufel Besessene behandelt worden. Die Echternacher Springprozession
beweist, dass damals die Kirche wenigstens dem Heil- und vorbeugenden
Tanze am Tage eines der Krankheitspatrone nicht feindlich gegenüber-
stand, im Gegenteil ihn pflegte. Erst viel später trat sie gegen diesen
• 1) K. E. Georges, Ausführl. lat.-dt. "Wh.7, 2. Bd. Leipzig 1880.
2) Joannis Schenkii a Grafenberg Observationum medicarum variarum libri VII.
Frankfurt 1665.
236
Martin :
auf — die Echternacher Springprozession war ja auch zeitweise verboten —;
in der 'Cynosura ecclesiastica' vom Jahre 1638 heisst es: „St. Yeitstanz
soll propter concurrentem superstitionem [wegen des sich dabei an-
häufenden Aberglaubens] nicht geduldet werden" *).
Böhme a. a. 0. sieht in dieser Stelle eine Warnung von strengen Sitten-
wächtern gegen Unsittlichkeit, wie sie, unter Bezug auf die Limburger Chronik,
bei Yeitstänzern vorkam. Da Superstitio Aberglaube heisst und Kranksein auf
obrigkeitlichen Befehl nicht zu beseitigen ist, so kann nur der öffentliche Heil-
oder Vorbeugungstanz gemeint sein.
Wie tanzten die Tanzkranken und wie tanzte man beim Heiltanz?
Viele Tanzkranke werden planlos herumgesprungen sein, andere tanzten
die zur Zeit gerade üblichen Tänze, und heute würden wir vielleicht
Walzer oder Tango sehen, aber es wurde leidenschaftlicher und wilder
als sonst getanzt. Cyriacus Spangenberg schreibt 1561 über 'Vnge-
piirliche Tänze' und sagt dazu: „Dann was ist da anders, dann ein
wildes, vngeheuwer, viehisch rennen, lauffen, vnnd durch ein ander zwirbeln,
da sihet man ein sollich vnzüchtig auffwerffen vnd entblössen der Mägdlin,
das einer schwüre, es hätten die vnfläter, so solchen Reyen füren, aller
zucht vnd ehre vergessen, weren taub vnd vnsinnig, vnd tanzten S. Veits
tantz, vnd ist in warheyt auch nicht vil anders"a). In Köln tanzten und
rasten nach der Limburger Chronik 1374 die Leute 'vnd stunden je zwey
gen ein'3). Der Chronist hebt das als etwas Besonderes hervor. Als 1352
der Isaumburger Bischof Johann von Miltitz beim Tanze starb, wurde
ihm nachgesagt, dass er mehr Leichtfertigkeit geübt, als einer solchen
Person wohl ansteht, 'ist der halben am Reyen zwischen zweyen Weibern,
mit denen er zugleich getanzt, vmbgefallen, vnd plötzlich gestorben'4).
Man tanzte sonst wohl nur einer gegen eine, wie man das auf den Bildern
holländischer Bauernmaler sieht.
Beim Heil-und Vorbeugungstanz in und bei den Kapellen scheint
mehr Ordnung gehalten worden zu sein, wenigstens an einzelnen Orten.
Schenk von Grafenberg schreibt, dass man sich zu deutschem Reigen ordnete5).
Die heutige Echternacher Springprozession ist ein alter Tanz, uns so
fremd, dass wir den Tanz nicht mehr heraussehen. In der heutigen
straffen Ordnung ist sie wohl nicht immer ausgeführt worden, dafür
spricht, dass auch mehrere Schritte vor- und rückwärts gesprungen wurden.
Ob man aber, wie Bodinus im 16. Jahrhundert schreibt, das Saitenspiel
dem zügellosen und ungeordneten Springen der Veitstänzer anfangs an-
passte und dann durch schwereren Takt und schwerere Art der Musik
1) P. M. Böhme, Gesch. des Tanzes in Deutschland (Leipzig 1886) 1, 664.
2) 0. Spangenberg, Ehespiegel. Strassburg 1561.
3) Limburger Chronik, hsg. v. Rossel 1860 S. 56.
4) Spangenberg, Ehespiegel 1561.
5) Observ. med. 1665.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
237
die Tänzer zu langsamerem Tanzen bis zur völligen Beruhigung ver-
anlasste1), scheint mir nicht festzustehen. An anderer Stelle spricht er von
einer Raserei mit beständigem Lachen und Springen, die man vom Süden
bis zum Norden antrifft und die die Deutschen Veitstanz nennen. „Er
wird aber geheilt durch Saitenspiel und im Anfang erregten, dann be-
sänftigten Gesang, sei es, dass er die abwesenden Sinne durch Musik
zurückruft, sei es, dass Saitenspiel die Kranken nach Beruhigung des
Geistes heilt, sei es, dass die bösen Geister, welche die Rasenden sehr
oft peinigen, durch die göttliche Harmonie in die Flucht getrieben werden."
Und dann fährt er fort, wie der böse Geist den rasenden Saul nach dem
Lyraspiel verlassen2). Möglich war diese Heilweise, doch scheint mir eher
der Erklärungsversuch eines Gelehrten für das Wie der Musikwirkung
beim Heiltanz vorzuliegen, als eine selbst beobachtete Tatsache. Jeden-
falls wurde da, wo man durch Tanzen bis zum Umsinken den Veitstanz
heilen wollte, allmählich nicht langsamer, sondern immer wilder getanzt,
wie in Italien bei der Tarantella.
Wie die Heiligen Veit, Johannes der Täufer und Willibrord Patrone
der Tanzkranken wurden, darauf will ich nur kurz eingehen, jedenfalls
finden sich in ihren Legenden Anhaltspunkte dafür.
Die meisten Forscher sind geneigt anzunehmen, dass der hl. Veit mit
dem Veitstanz gar nichts zu tun habe, die Ähnlichkeit seines Namens
mit dem des slawischen Hauptgottes Swantewit (= Sankt Vit) soll dazu
geführt haben, dass aus einem Swantewits-Tanz, dem grossen und wilden
Kulttanze am Sonnwendtage auf Rügen dem slawischen Sonnengott zu
Ehren, ein Sankt-Vitstanz wurde.
Demgegenüber steht fest, dass mit Ausnahme einer Tanzsage alle
unsere Nachrichten über Tanzkrankheiten Gebiete betreffen, die nie von
Slawen bewohnt wurden.
Wie weit man den Einfluss des Slawengottes auf das deutsche Volkstum
überschätzen konnte, zeigt eine Stelle bei Böhme3), nach dem alle Johannis-
gebräuche vormals dem Swantewit galten, was ein alter Schriftsteller, erstmals
1718 gedruckt, belegen soll. Die Stelle steht [Ludewig,] Scriptores rerum Germani-
carum, Frankfurt 1718, 2, 508, und es heisst da 'De chorea S. Viti', dass jährlich
am Feste Johannes des Täufers Leute von der Furcht befreit werden, die sie im
ganzen dem Johannistage vorhergehenden Monat gehabt haben. Es wird dann
auf weitere Nachrichten über Swante Wiet bei Bodinus4) verwiesen, der Schreiber
kann also frühestens im 16. Jahrhundert gelebt haben. Der Inhalt ist uns schon
von Schenk von Grafenberg0) und Horstius6) her bekannt, die Einsetzung von
1) J. Bodini Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Amsterdam 1650 (Vor-
rede von 1566).
2) J. Bodini de re publica libri VI. Editio altera. Frankfurt 1591 (Vorrede
von 1584).
' 3) Gesch. d. Tanzes 1886 1,16*2. — 4) De re pubi. 1591. — 5) Observ. med. 1665.
6) Gregor Horstii Observationum medicinalium singularium libri IV. Dim 1625.
238
Martin :
Swante-Wite-Tanz für Veitstanz ist weiter nichts als Spielerei eines Gelehrten.
Wer es ist, konnte ich nicht nachprüfen, da mir das Werk nicht zur Ver-
fügung stand.
Höfler nimmt an, dass man durcli den St.-Johannistanz am Johannis-
tage das Vergicht (Gichter, Epilepsie, Hundswut, Staupe, Konvulsionen)
heilen wollte. Unter St.-Johannesübel versteht er Epilepsie. Die Sonnen-
kultzeit (Johannistag) war von jeher eine Zeit der von Dämonen Be-
sessenen, die man durch Reigentänze im Anblick der Morgensonne ver-
treiben wollte. Das universelle Allheilmittel, die Wärme des Himmel-
Elementes, der die nächtlichen Alp-Wesen (Dunkel-Elben) vertreibenden
Sonne, und das Tageslicht, dessen höchsten Stand man in der Sommer-
sonnenwende feierte (St. Johannis) und das als Einauge Wodans vor-
gestellt wurde, die Sonne war es, der man die von Dämonen besessenen
Unsinnigen im Reigentanze entgegenführte1).
Derartige Kranke finden sich hochgerechnet 10 unter 1000 Menschen.
Soll dieser wenigen Leute wegen eine Hauptfeier des germanischen Heiden-
tums stattgefunden haben? Die Kranken selbst, ihre Angehörigen, tanzten
an jenem Tage, ich glaube, für ihre Zwecke, nicht mit den andern im
feierlich religiösen Tanz des grossen Johannisfestes, sondern gesondert
und in anderer Weise, wie andere durchs Johannisfeuer sprangen, wieder
andere sich 24 Stunden ins Johannisbad setzten, um Krankheiten, namentlich
im kommenden Jahr, zu verhüten. Ihretwegen fand jedenfalls der grosse
Kulttanz nicht statt.
Der Johannis- oder Veitstanz am Tage der Heiligen, mit dem wir es
zu tun haben, entsprang dem Aberglauben, dass Tanzkrankheiten im
weiteren Sinne (also Bewegungskrankheiten, bei Höfler das Vergicht)
durch Tanzen an jenen Tagen zu heilen seien. Ein Kreis abergläubischer
Leute meinte ihn jedes Jahr tanzen zu müssen, sonst würde die Tanz-
krankheit ausbrechen, und geistig Minderwertige spürten schon Wochen
vorher die Anfänge derselben in ihren Gliedern, die dann nicht zum
Ausbruch kam, wenn sie an dem bestimmten Tage tanzten. Manche Tänzer
wollten sich wohl auch gegen das Anfluchen des Veitstanzes wappnen.
All dieses betrifft nur den Heil- und Vorbeugungstanz an den Tagen
der Heiligen; wie der eigentliche grosse Veitstanz entstand, wird hierdurch
nicht erklärt, weil er eben eine Krankheit war, die unabhängig von Ort
und Zeit entstand.
In mehreren Tanz sagen hat man Tanzkrankheiten finden wollen,
selbst in der vom Auszug der Kinder aus Hameln (Wicke)2). Es sind
nur zwei, die ernstlich in Betracht kommen.
1021 tanzten singend zu Kölbigk an der Wipper bei Bernburg in
der Christnacht auf dem Kirchhofe (d. h. bei der Kirche) Bauern, Männer
1) M. Höfler, Das Hirnweh. Am Urquell 1897.
2) E. C. Wicke, Versuch einer Monographie des grossen Veitstanzes. 1844.
Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland.
239
und Frauen, und störten den Gottesdienst. An die Ermahnungen des
Priesters, davon abzustehen, kehrten sie sich nicht, und dieser wünschte
ihnen an, ein ganzes Jahr so weiter zu tanzen und zu singen, und das
geschah. Später zogen die Leute bettelnd als Sieche durchs Land1).
Alles Beiwerk, das in den Berichten den Vorfall zum Wunder stempeln
sollte, habe ich weggelassen. Schon im 12. Jahrhundert kommt also das
Anwünschen der Tanzkrankheit vor, und zwar mit Erfolg.
1277 oder 1278, so melden verschiedene Historiker, deren Zeit- und
Ortsangaben variieren, soll auf der Brücke zu Maestricht, nach andern
auf einer Moselbrücke oder der Brücke zu Utrecht ein Tanz stattgefunden
haben. Die älteste Nachricht gibt Martinus Minorità2). Nach ihm
erzählte man von 200 Tänzern auf der Moselbrücke in Utrecht im
Jahre 1278 (am 17. Juni), die nicht eher aufhören wollten zu tanzen, als
bis ein Priester den Leib Christi zu einem Kranken vorbeitrüge, und zur
Strafe ihres Frevels, als die Brücke brach, alle ertranken3). Schröder
a. a. 0, S. 159 meint: 'cessare nolebant, donec plebanus transiret' wird kaum
richtig sein' und will dafür setzen, dass die Tänzer selbst beim Herannahen
des Priesters mit dem Sakrament nicht aufhören wollten. Ich glaube
doch, dass es richtig ist. Brüssel, Echternach und Lüttich liegen nicht weit
voneinander. Im Text zu dem Brueghelschen Bilde (oben S. 132) wird die
Befreiung von St.-Johannessiechtum auf ein Jahr durch Tanzen über die
Brücke bei Molenbeck erreicht. Es ist vielleicht nicht Zufall, dass die
Echternacher Springprozession auf einer Brücke beginnt. So werden die
200 Tänzer auf der Utrechter Moselbrücke zu ähnlichem Zwecke getanzt
haben, vielleicht seit dem Veitstage und erfolglos, weshalb sie glaubten
weiter tanzen zu müssen, bis ein Priester (zufällig) das Sakrament zu
einem Kranken trüge. Da brach unter der Last der Tänzer zwei Tage
nach dem Veitstag die Brücke ein.
Heute ist der grosse Veitstanz selten. Der Glaube an ihn und an
das Anwünschen ist im Volk verloren gegangen. Damit fiel die Unter-
lage für eine auf Suggestion beruhende Krankheit. Der Heil- und vor-
beugende Veitstanz hat sich in der Echternach er Springprozession er-
halten und dies nur, weil er uns hier nicht mehr als Tanz erscheint und
die Kirche ihn als eine Buss- und Sühneandacht betrachtet.
Bad-Nauheim.
1) Eine ausführliche Bearbeitung des Tanzwunders von Kölbigk hat Edward Schröder
in Brieger und Bess' Zs. f. Kirchengesch. 17. Gotha 1897, gegeben, nach der die Be-
gebenheit tatsächlich stattgefunden hat. Seinen Quellen kann ich noch eine bei Böhme
(_Gesch. d. Tanzes 1, 20) angeführte hinzufügen: Chronica inedita cujusdam Fratris praedi-
catorum. Cod. Einsidl. saec. XIII, cit. apud Schubiger, Musikalische Spicilegien 1876 S. 152
2) Schröder a. a. 0. — 3) Hecker-Hirsch a. a. 0.
240
Lehmann-Nitsche:
Zur Volkskunde Argentiniens.
Yon Robert Lehmann-Nitsche.
I. Yolksrätsel aus dem La Plata-Gebiete.
Ein nun bald 17jähriger Aufenthalt am südamerikanischen Silber-
strome in wissenschaftlicher Stellung bot dem Schreiber dieser Zeilen
Gelegenheit, sich auch mit der Volkskunde dieser für Europa so gänzlich
unbekannten Länder zu beschäftigen. Aber entgegen der Wut mancher
Sammler auf diesem Gebiete, jede Kleinigkeit sofort zu veröffentlichen1),
erschien es rätlicher, mit der Drucklegung zu warten, bis das Material
eine gewisse Vollständigkeit und Abgeschlossenheit erreicht hatte. So
erschienen denn zunächst die Volksrätsel der La Plata-Staaten2), und zwar
als sechster Band der sog. „Biblioteca Centenaria", einer Sammlung sehr
verschiedenartiger "Werke, welche die Universität zu La Plata anlässlich
der hundertjährigen Unabhängigkeitsfeier Argentiniens herausgegeben und
an alle grösseren Bibliotheken der Welt verteilt hat. Aus der Einleitung
sei folgendes entnommen.
Über die Volksrätsel Südamerikas und speziell der La Plata-Gebiete
lässt sich historisch kaum etwas Wichtiges vorbringen. Ende des
18. Jahrhunderts lebte zu Lima in Peru ein gewisser Esteban Ternilla
y Landa, bekannt als „der Rätseldichter" ; vielleicht haben seine poetischen
Ergüsse dieser Art auch das dortige Volksrätsel beeinflusst (wie ähnliches
in Spanien der Fall war) und sind bis zum La Plata gedrungen; nicht
1) Ich habe hier speziell die 'Zeitschrift für argentinische Volkskunde' im Auge, die
zahlreiche auf maugelnder Sprach- und Bücherkenntnis beruhende Fehler enthält. Einige
Beispiele: Band 1, 27: Das Kinderliedchen besteht aus zwei vollkommen unabhängigen
Liedern, die irrtümlicherweise zusammengemengt werden. — S. 8. Der Mate in feinen
Gesellschaftskreisen ist unmöglich; er gilt als Volksgetränk, als nicht vornehm. — 8. 144
ist das Verschen 'Ni papá me quiere, ni mamá me adora' ganz sinnlos; das dort ab-
gedruckte Spanisch (und dementsprechend die Übersetzung) ist ganz unmöglich. — S. 145
muss es heissen: la cartilla se me fué, die Fibel ging mir verloren: es wird angegeben
caretilla; erstens müsste es heissen carretilla, zweitens ist eine derartige Verkleinerungs-
form in Argentinien ungebräuchlich. — Band 2, 181 ist die Sache von den historischen
Uniformen falsch; dieselben wurden wieder neu eingeführt; aber etwas weiterhin findet
sich so ungefähr der Colmo: Der 11. November, der bekannte St. Martinstag, soll
Namenstag des Generals San Martin (der am 25. Februar geboren wurde) und deswegen
ein nationaler (!) Feiertag sein!
2) Lehmann-Nitsche, Folklore Argentino. I. Adivinanzas Rioplatenses. Buenos
Aires 1911. 495 S.
Zur Volkskunde Argentiniens.
241
unmöglich, wenn man daran denkt, dass zur Kolonialzeit die Beziehungen
zwischen den einzelnen Teilen des lateinischen Amerika viel enger waren
als heute. Eine kleine Beeinflussung lässt sich wenigstens bezüglich des
uruguayischen Dichters Francisco Acuña de Figueroa (erste Hälfte des
19. Jahrhunderts) nachweisen.
Sammlungen von Volksrätseln aus Südamerika lagen bisher nicht
vor, erst während und nach dem Drucke meiner Arbeit sind Beiträge aus
Chile, Mexico und Brasilien veröffentlicht worden1). Um so mehr reizte
dieser Umstand, den lustigen Schwärm aus dem Bereiche des Silber-
stromes möglichst vollständig einzufangen, und ich glaube, 95% zusammen-
gebracht zu haben. Das gedruckte Werk enthält 1030 verschiedene
Nummern, dazu 909 Varianten und 166 Dubletten, die aus anderen Pro-
vinzen stammen, also im ganzen 2105 Aufzeichnungen; ferner sind 131
verschiedene Kunsträtsel mit 12 volkstümlichen Varianten des eben ge-
nannten Acuña abgedruckt worden. Rechnet mau dazu die 120 ver-
schiedenen erotischen Rätsel, mit 135 Varianten und 15 Dubletten, welche
an Dr. F. S. Krauss für seine Anthropophyteia eingesandt wurden, so gibt
das alles zusammen über zweitausend und fünfhundert einzelne Auf-
zeichnungen. Was die 1150 verschiedenen anbelangt, so erscheint das
wenig für so gewaltige Länderstrecken; aber man darf nicht vergessen,
dass sie dünn bevölkert sind und dass es sich um ursprünglichen Kolonial-
besitz handelt, der vom spanischen Mutterlande durch drei Jahrhunderte
vernachlässigt wurde, wo die Landessprache selber degenerierte und ver-
armte. Ausserdem ist Argentinien seit etwa fünfzig Jahren durch Ein-
wanderung ethnisch stark verändert worden; z. Z. sind ja mehr als die
Hälfte seiner Bewohner Fremde und Kinder von solchen; diese lernen
zwar in den Schulen die spanische Landessprache, man möchte sagen:
äusserlich; innerlich bleiben sie verarmt.
Als Herkunft der Rätsel ist nur die argentinische Provinz, in der
sie aufgezeichnet oder gehört wurden, angegeben; sonst würde eine Ge-
nauigkeit vorgetäuscht, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist.
Rätsel mit verschiedenen Lösungen stehen unter der gleichen Nummer;
natürlich ist die Auflösung jedesmal angegeben. Auch Rätsel aus Pa-
raguay und die paar aus Uruguay sind miteinbezogen in den Begriff
La Plata-Länder. Ebensowenig sind von den spanischen diejenigen ab-
getrennt, welche in den Indianersprachen Kitshua (argentinische Provinz
Santiago del Estero) und Guaraní (Provinz Corrientes und Republik
_ Paraguay) auftreten, denn es handelt sich entweder um einfache über-
1) Flores, Adivinanzas corrientes en Chile. Revista del Folklore Chileno 2, 135 bis
334; Boas, Notes on Mexican Folk-Lore. Journal of American Folk-Lore 25, 227 — 231;
Carneiro Monteiro, Advinhaçôes. Revista do Instituto Histórico e Geographico Parahybano
2, 285-290.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3. 16
242
Lehmann-Nitsche :
Setzungen oder lim Erzeugnisse zwar indianischen Geistes, die aber durch
alteuropäisches psychisches Ferment zustande gekommen sind1).
Mit der Untersuchung über das sonstige Vorkommen eines Rätsels
war es übel bestellt; es gibt in Argentinien keine einschlägigen Biblio-
theken. Schon in Europa ist es schwierig, hierfür die Literatur, versteckt
und zersplittert, zusammenzubringen; um wieviel mehr in geistigem
Ödland! Ich beschränkte mich daher zum Vergleich auf diejenigen
Länder, von denen verhältnismässig ausgedehnte Materialsammlungen vor-
liegen. Leider sind da nur Mecklenburg, Sizilien, Rumänien und wohl
Kurland zu nennen; Frankreichs Rätselschätze sind seit Rolland nicht
wieder in Buchform gesammelt worden; Spanien, das für hispano-amerika-
nische Vergleiche in erster Linie heranzuziehen ist, besitzt, abgesehen
von kleineren Arbeiten, die ältere Sammlung von Machado y Alvarez,
unter dem Pseudonym Demófilo erschienen; die neuere von A. Rodriguez
Marin war mir seinerzeit unzugänglich, da längst vergriffen und in keiner
argentinischen Bibliothek vorhanden. Aber der Schwerpunkt der Rätsel-
forschung liegt m. E. gar nicht auf der vergleichenden Seite; diese ist
Sache einer späteren Zukunft, wenn erst einmal möglichst viel Material
beisammen ist; dann werden Akademien oder internationale wissen-
schaftliche Verbände in einem einzigen Thesaurus sämtliches veröffent-
lichtes Material neu herausgeben, entweder nach Länder- resp. Sprach-
gruppen oder nach Rätselgruppen geordnet. Letzteres dürfte das Wahr-
scheinlichere sein, und vielleicht bietet die Einteilung der Adivinanzas
Rioplatenses einen Wegweiser dazu. Von diesen konnten trotz allem
ein Drittel als europäischen Ursprungs nachgewiesen werden, und gewiss
trifft das für die Hälfte und mehr zu, wenn sämtliche zurzeit vorhandenen
bibliographischen Quellen hätten benutzt werden können und Spanien, in
neuerer Zeit auch Italien, besser durchforscht sein werden.
In den nachfolgenden Zeilen will ich versuchen, eine Übersicht über
die Systematik der argentinischen Volksrätsel zu geben. Es hat sich aber
herausgestellt, dass jene Einteilung für das Volksrätsel überhaupt gültig
zu sein scheint, und dieser Gedanke soll in folgendem untersucht werden;
nur sind manche Gruppen im spanischen Rätsel viel üppiger entwickelt
als im deutschen usw., und umgekehrt.
Anstoss zur Analyse des aufgespeicherten Materials gab die Studie
von Robert Petsch2), aus der u. a. die Zerlegung in eigentliche und
uneigentliche Rätsel hervorging; in den üblichen Sammlungen war der
Stoff entweder überhaupt nicht oder höchstens nach dem Anfangsbuch-
1) Vgl. über diese Frage: Lehmann-Nitsche, Rätsel aus der Guaraní- und Kitshua-
sprache, Berichte über den 19. Internationalen Amerikanisten-Kongress. Washington 1914
(zurzeit noch nicht erschienen).
2) R. Petsch, Neue Beiträge zur Keöntnis des Volksrätsels. Berlin 1899.
Zur Volkskunde Argentiniens.
243
staben der Auflösungsworte geordnet worden; erst Wossidlo1) versuchte
eine Zusammenfassung. Auch für mich ergab sich nun jene von Petsch
erkannte Zerlegung, allerdings nicht so scharf ausgeprägt, insofern als
die sog. beschreibende Gruppe meiner Einteilung den uneigentlichen
Rätseln nahekommt. Aber alles in allem: die Sprossen unserer Ein-
teilung aufsteigend gelangen wir von den eigentlichen zu den uneigent-
lichen Rätseln.
Um dem Leser Gelegenheit zu geben, das für die argentinischen
Rätsel angewandte System nachzuprüfen, soll es mit Proben der mecklen-
burgischen Sammlung Wossidlos und der lettischen Bielen steins2) belegt
werden, soweit das möglich ist. Es ist durchaus nicht die Aufgabe vor-
liegenden Aufsatzes, andere Materialien heranzuziehen; aus dem Gebotenen
geht hervor, dass unsere Systematik für das Volksrätsel überhaupt gültig
zu sein scheint und je nach den Ländern bald der Einschränkung, bald
der Erweiterung bedarf; bei letzterer handelt es sich aber nur um ein-
fachen weiteren Ausbau der schon vorgezeichneten grossen Hauptgruppen.
Die Hauptsache dürfte die sein, dass es bei den eigentlichen Rätseln
gar nicht auf die Lösung ankommt3); charakteristisch ist für sie vielmehr
der Bau. Erst bei der zehnten Gruppe macht sich die Lösung hin und
wieder bemerkbar und ist direkt bestimmend für die elfte (kryptomorphe)
Gruppe. Auch bei den uneigentlichen Rätseln spielt die Lösung eine
grosse Rolle. Skizzieren wir nun die verschiedenen Gruppen im
einzelnen.
Bei einer grossen Anzahl Rätsel wird uns etwas Wirkliches,
Reelles, vorgeführt, das entweder (I) lebt, oder (II) ein Tier, oder (III)
ein Mensch, oder (IV) eine Pflanze resp. Pflanzenteil oder überhaupt irgend
ein Ding ist, das zu keiner der eben bezeichneten Formen gehört; diese
Realien können auch in mehreren Exemplaren auftreten. Man kann also
alle diese Rätsel zu einer einzigen realistischen Gruppe zusammen-
fassen. Beim Niederschreiben des spanischen Textes der Adivinanzas
Rioplatenses war aber diese Idee dem Schreiber dieses Aufsatzes noch
nicht so klar geworden; dort sind deshalb die eben detaillierten Gruppen I
bis IV als einzelne hingestellt, und als solche sollen sie auch weiterhin
besprochen werden.
Das Ding, um welches es sich in solchen Rätseln also handelt,
bildet das grundlegende, typische Element des Rätsels; es lenkt den
Hörer von der Lösung ab. Es ist deshalb noch ein ergänzendes
Element nötig, welches den Hörer zur Lösung hinlenkt, und dieses
dient dann zur weiteren Unterteilung.
1) Wossidlo (W.), Mecklenburgische Volksüberlieferungen 1. Wismar 1897.
« 2) Bielenstein (B.), 1000 lettische Rätsel. Mitau 1881.
3) Um den Leser Dicht zu verwirren, sind die Lösungen der angeführten Beispiele
fortgelassen, falls das Gegenteil nicht unbedingt nötig war.
16*
244
Lehmaim-Nitsche :
I. In der biomorphen Grruppe wird uns von einem Wesen berichtet,
das allen seinen Eigentümlichkeiten nach ein lebendes ist, ohne dass wir
jedoch wüssten, ob es Tier oder Mensch (oder Pflanze) ist; z. B.: 'Wenn
es nach dem Walde geht, schaut es rückwärts nach Hause; wenn es nach
Hause kommt, schaut es rückwärts zum Walde' (B. 832). Wir hören also
von einem Wesen, das geht, also leben muss. In B. 508: 'Ein Arm von
Holz, Krallen von Eisen' charakterisieren Arm und Krallen das Ding
(nicht etwa die Lösung, die bei der Klassifizierung ja gar nicht in Frage
kommt!) als einen Organismus, der nur eben nicht genauer bezeichnet
ist (was in den folgenden Gruppen der Fall ist). Das gleiche gilt von
B. 328: 'Vorne hat es den Rücken, hinten den Bauch'. In W. 308 sind
die Gelenke, in W. 337 a das Gehen, in W. 230 Kopf und Bauch, in
W. 307 die Rippen, in W. 360 die Beine und das Gehen die typischen
ablenkenden Elemente, wonach das Rätsel in die biomorphe Gruppe gehört.
Die hinlenkenden Elemente derselben sind nicht immer klar aus-
geprägt, und die volkstümlich gewordenen Kunsträtsel erschweren, wenig-
stens für das spanische Sprachgebiet, die Systematik. Immerhin kann
man folgende Abteilungen des hinlenkenden Elementes unterscheiden, die
manchmal kombiniert sind:
1. Allgemeine Angaben über die Lebensweise usw. — Ad.
Riopl. 6: 'In der Höhe lebt es, in der Höhe hält es sich auf usw.'
2. Die verschiedenen Lebensalter. (Sehr zahlreich im spani-
schen Rätsel.) — B. 419: 'Was wird zweimal geboren?' In den A. R.
finden sich Beispiele von Kombination mit Geschlechts- und Farben-
wechsel während des Wachstums, in den beiden hier angezogenen Samm-
lungen hin und wieder auch Beispiele für solchen Wechsel, aber in
anderer Verbindung, z. B. B. 785: 'Schwarz geht's in die Badstube, rot
kommt es heraus' (mit der vierten Abteilung kombiniert).
3. Normale morphologische Elemente. — B. 412: 'Ein kurzer
Körper, ein langer Schwanz'. W. 307, auch W. 230 gehören ebenfalls
hierher.
4. Normale physiologische Elemente. Yon diesen ist nament-
lich die Bewegung, sei es einfache, sei es fortwährende, sei es Hin- und
Herbewegung, beliebt; aber wir finden auch Hören usw. — Beispiele für
Bewegung. B. 41: 'Sich wickelnd und windend geht's hinauf und ver-
knotet sich'. W. 315—316 und 283 behandeln das Gehen und Sehen.
B. 296 ist typisch für hin und her usw.: 'Es steigt den Berg hinauf
und schleppt sich wieder herab'. B. 832 wurde schon zitiert. In B. 148
geht etwas Tag und Nacht, ohne bis an das Ende gelangen zu können. —
Singen und Weinen finden sich bei W. 300a, 301a und 306; Essen
bei B. 93.
5. Normale morphologische und physiologische Elemente in
Kombination. Diese Abteilung ist kompliziert und unscharf; ich zitiere
Zur Volkskunde Argentiniens.
245
aus den A. R. das Rätsel von der Geige: 'Man kratzt mir den Nabel,
und ich sterbe vor Lust'.
6. Abnorme morphologische Elemente. Äusserst interessante
Formen von ganz besonderem Reiz.
Die Abnormität ist von dreierlei Art: a) Der betr. Körperteil ist
aus einem Stoffe gebildet, der ihm nicht zukommt; ich wählte für diese
Unterabteilung die Bezeichnung Teratoplasie. Die Beispiele sind sehr
zahlreich: B. 508 ('Ein Arm von Holz, Krallen von Eisen'), B. 657 ('Die
Zähne von Eisen, der Leib von Holz, der Rücken von Strick'). — Bei
Unterabteilung b) (Heterotopie) sitzt der fragliche Körperteil an einer
Stelle, die einem anderen zukommt: B. 784 ('Es hat die Knochen aus-
wendig, das Fleisch inwendig'), B. 328 ('Vorne hat es den Rücken, hinten
den Bauch'); ebenso W. 200, das Rätsel vom Kohl, der das Herz im
Kopfe hat. — Unterabteilung c) schliesslich (Teratomorphie) umfasst
die Fülle richtiger Monstra, Missbildungen durch fehlende oder durch
exzessive Entwicklung des betr. Körperteils; B. 559 z. B. hat zwar Kopf,
Milch, Schwanz, aber keine Haare, Brüste, Füsse; B. 497 hat zwar zwei
Fusssohlen, aber sechs Schienbeine. W. 424b —e ist das bekannte Rätsel
vom Reiter mit seinem Pferd: 2 Köpfe, 6 Füsse (Beine), 4 Augen; im
übrigen ist das Wesen normal mit 2 Armen und 10 Zehen. Ganz ähnlich
W. 360, eine Variante des vorigen, und W. 327 (ein Wesen ohne Kopf
und Darm usw.), ferner W. 295 (ein Wesen ohne Kopf und Rücken),
W. 175 b (ohne Blut, Leber, Lunge). — Gelegentlich finden sich Kombi-
nationen zwischen a, b und c.
7. Abnorme physiologische Elemente. Ebenfalls sehr bunte
Rätselbilder. Der betr. Körperteil hat entweder eine Funktion, die einem
anderen zukommt (Unterabteilung a) Heterophysiologie) oder die
Funktion, von der die Rede, ist ganz unmöglich, da ja die dazu nötigen
Organe fehlen (b) Teratophysiologie, beides Ausdrücke, die nicht
schön klingen, aber jedenfalls zutreffend sind. — Beispiele für Unter-
abteilung a): W. 243a ist typisch: 'Hinnen frett't, vor schitt't'. Zahl-
reichere Fälle ergaben sich für Unterabteilung b), z. B. ß. 265 ('Was
springt und geht ohne Füsse?'), B. 321 ('Was läuft ohne Füsse?'); W. 362
(Laufen ohne Beine), W. 363 (Fressen ohne Maul), W. 90 (Lasten tragen
ohne Rücken), W. 280 (Auf dem Kopfe gehen).
8. Abnorme morphologische und physiologische Elemente
n Kombination. In den Ad. Riopl. nicht vertreten, wohl aber bei
W. 387 (Drei Beine, Fett fressen, ohne fett zu werden).
Während die bisher betrachteten Fälle der biomorphen Gruppe
Wesen einer einzigen Art, sei es in Einzahl, sei es in Mehrzahlj auf-
führen, man also von Mono- resp. Poly-Biomorphie sprechen kann, machte
ein einziges Rätsel der Ad. Riopl. (Nr. 199) die Aufstellung einer zweiten,
dieser entgegengesetzten Untergruppe nötig; in diesem vereinzelten Falle
246
Lehmann-Nitsch e :
treten zwei verschiedenartige Wesen auf, die mit einander kämpfen und
dadurch als lebende charakterisiert werden; ich nannte diese Untergruppe
alloio-biomorph. Weder bei B. noch bei W. fanden sich Beispiele dafür.
II. Die zoomorphe Gruppe ist ohne weiteres dadurch gekennzeichnet,
dass das ablenkende Element ein Tier ist; in den Ad. Riopl. treten Tiere
ohne weitere Benennung, Haus- und wilde Tiere auf. Die hinlenkenden
Elemente lassen sich in genau der gleichen Weise klassifizieren, wie bei
der biomorphen Gruppe, aber nicht für alle Abteilungen finden sich in
den zwei hier benutzten Sammlungen Beispiele.
1. Allgemeine Angaben über die Lebensweise usw. — B. 565
ist typisch: 'Ein Bär hockt am Feldende'; ebenso B. 245: 'Ein Huhn, das
auf einem Bein hockt', und B. 304: 'Ein Hund im Schneehaufen'; auch
B. 518 gehört hierher: 'Voriges Jahr ist das Ochslein geschlachtet, noch
ist das Maul offen'; sowie B. 243—246, wo eine graublaue Kuh (Ziege)
die Niederung (Boden, Hümpel) leckt (nagt). — In B. 266 erfährt man
nur, dass es sich um ein Tier handeln muss, da das Fell verkauft (der
Kopf gegessen) wird; das Fleisch, heisst es weiter, frisst kein Hund, kein
Wolf. Das letzte Rätsel kann als 'unvollständiger Zoomorphismus' an-
gesprochen werden, im Gegensatz zu den übrigen, wo die Tiere wirklich
genannt werden ('vollständiger Zoomorphismus'). Fälle von unvollständigem
Zoomorphismus kamen in den Ad. Riopl. nicht vor.
'2. Die verschiedenen Lebensalter. Kein typisches Beispiel,
höchstens B. 253: 'Eine Sau gebiert ihre Ferkel'.
3. Normale morphologische Elemente. — Kein Beispiel.
4. Normale physiologische Elemente. Für die Bewegung lässt
sich anführen B. 68, wo ein Marder, B. 69, wo ein Reh springt; für Hin-
und Herbewegung B. 25 und 67, wo eine Wachtel hin und her fliegt;
B. 66, wo der Hecht hin und her schiesst; allerdings sind diese Rätsel
gemischt, denn der zweite Bestandteil gehört in die poikilomorphe Gruppe:
in B. 66 und 69 gefriert die Düna, in B. 25 und 67 der See. Nur B. 68
('Ein Marder springt, die Spuren gefrieren') wäre typisch, falls dieses
Rätsel nicht eine korrumpierte Variante der vorigen igt.
5. Normale morphologische und physiologische Elemente in
Kombination. Es war kein typisches Beispiel bei B. und W. aufzufinden.
6. Abnorme morphologische Elemente. a) Beispiele für
Teratoplasie. B. 13: 'Eine eiserne Stute, ein flächserner Schweif'; ganz
ebenso B. 14 und 15 und W. 266a: 'Isern Pierd mit'n höltern Swanz',
und W. 268: 'Höltern Pierd mit'n isern Stiert'. B. 856 — 858: Hunde
(Hasen, Füchse) mit weissem Blut. — b) Beispiele für Heterotopie.
W. 174, ein Tier (Vogel) mit den Knochen über dem Fleisch; eine
biomorphe Variante dieses Rätsels (B. 784) wurde bereits mitgeteilt. —
c) Beispiele für Teratomorphismus. B. 561 (Öchslein mit neun Häuten),
Zur Volkskunde Argentiniens.
247
B. 596 (Gans mit vier Schnäbeln), B. 828 (Lämmchen mit fünf Füssen),
B. 999 (Bock mit einem Auge). — B. 504 ('Ein Pferd von Hede mit
drei Füssen') ist ein Beispiel von der Kombination a + c.
7. Abnorme physiologische Elemente. Nur Beispiele für b),
Teratophysiologie. B. 374: Ein Hund, dem beim Bellen die Zähne
ausfallen.
8. Abnorme morphologische und physiologische Elemente
in Kombination. B. 959: Ein Yogel, ohne Füsse, Schnabel, Flügel,
verzehrt den Baum, auf dem er sitzt. W. 104 behandelt einen Yogel,
dessen Flügel im Feuer gewachsen sind und der gleich sieben Ochsen
frisst.
Die eben betrachteten Abteilungen sind mono- öder polyzoomorph;
es gibt in den Ad. Riopl. aber auch zwei alloiozoomorphe Fälle, wo im
gleichen Rätsel verschiedene Tiere auftreten; ähnlich ist B. 663: 'Ein
weisses Schäflein im Leibe eines schwarzen Ochsen', oder einfacher
B. 662: 'Ein Schafbock im Leibe eines Ochsen'; ferner B. 279: 'Ein Floh
geht hinein, ein Schwan kommt heraus.'
III. Die anthropomorphe Gruppe braucht keine Erklärung; höchstens,
dass zunächst unvollständiger Anthropomorphismus auftritt, indem das
Rätsel nicht direkt von Menschen spricht, sondern Sachen aufführt, die
nur einem solchen zukommen können. Beispiele dafür sehr zahlreich
bei B., z. B. B. 155 ('Die Füsse von Stein, der Rumpf von Holz, die
Mütze auf dem Haupte von Stroh'; also unvollständiger A. [Mütze!] mit
teratoplastischen hinlenkenden Elementen). B. 228 ('Wer sagt alles aus
ohne Zunge?') und B. 56 ('Es spricht alle Sprachen'); nur der Mensch
spricht. B. 605: 'Er tanzte, er tanzte — bis er sich erhängte'; nur der
Mensch kann eigentlich tanzen. In W. 477 ist von einem Gesichte die
Rede; nur der Mensch hat ein solches im eigentlichen Sinne.
Die Fälle von vollständigem Anthropomorphismus liessen sich,
in Mono- und Polyanthropomorphismus gesondert, bequem abmachen.
Für den Monoanthropomorphismus wurden wieder genau jene
acht Unterabteilungen nachgewiesen, nämlich:
1. Allgemeine Angaben über die Lebensweise, usw. Die
Rätsel sind recht zahlreich, und zunächst finden sich keine besonders auf-
fallenden Merkmale der Lebensweise (Unterabteilung a.). W. 320a, der
Mann, der auf dem Dache sitzt und eine helle Tabakpfeife raucht, ist ein
typisches Beispiel dafür. Auch W. 293 a und 216 a können angezogen
werden, sowie B. 34 ('Ein grosser, langer Mann hockt in der Hütte') und
B. 98 ('Ein klein klein Männchen, der ganzen Welt Richter'). — Einzel-
heiten der Kleidung sind in Unterabteilung b) zusammengefasst; die Bei-
spiele sind massenhaft, man vgl. B. 696 ('Ein Bettler geht des Weges,
Flick auf Flick und kein Nadelstich'); B. 273 ('Ein kleines kleines
248
Lehmann-Nitsche :
Weibchen, hundert Tücher um den Kopf); B. 642 ('Ein Fräulein sitzt in
der Ecke, eine goldene Mütze auf dem Kopfe'); B. 509 (Männchen mit
knöchernem Pelz); B. 128 (Männchen mit grünem Kleid und schwarzem
Gürtelchen); B. 96 (grosse, lange Jungfer mit grüner Schürze). Die
beiden letzten Rätsel sind typische Formen. W. 184, 204a, 204c, 177,
178, 195, 198, 24 mag nachlesen, wer noch mehr schöne Beispiele haben
will. — Für die Unterabteilung c), Schwarze, liess sich nur ein Fall aus
B. nachweisen, B. 113: 'Ein Schwarzer tanzt, ein Schwarzer springt, des
Schwarzen Spur ist nicht zu sehen'. — Unterabteilung d), Tote, fehlt bei
B. und W., dagegen kommt e), der Teufel, vor, und zwar B. 47: 'Der
Teufel steht auf dem Acker, eiserne Schuh an den Füssen'. Wossidlos
Sammlung liefert noch eine Unterabteilung e), Riesen, ich meine W. 512:
'Am Markt steht ein grosser Riese, er schaut weit in die Welt hinaus'.
'2. Die verschiedenen Lebensalter. W. 78: 'Als ich klein
war usw.; als ich gross war usw.; als ich tot war usw.'
3. Normale morphologische Elemente. B. 368 (= 763): 'Ein
klein klein Männchen, Bart in die Höhe' ist kein gutes Beispiel. In
W. 232 ist der Bauch das hinlenkende Element.
4. Normale physiologische Elemente. Bewegung, und zwar
recht ausreichend, macht sich die Frau Bohne bei W. 30, und reden, viel
reden tut der Mann bei W. 318 a.
5. Normale morphologische und physiologische Elemente
in Kombination. Keine guten Beispiele nachzuweisen.
6. Abnorme morphologische Elemente. Beispiele für Tera-
toplasie sind B. 201 (Gesicht von Knochen, Bart von Fleisch); für Hete-
rotopic B. 763 (Mann mit dem Bauch nach hinten), solche für Terato-
morphismus B. 873 (weisses Herz) und W. 110 (zahllose Beine); vgl.
auch W. 109.
7. Abnorme physiologische Elemente. Beispiele für wunder-
same Funktionen bietet W. 388; da wacht ein Mann alle Nacht, ohne
müde zu werden; oder W. 87a, wo ein Weib ohne Füsse und Hände
laufen und schlagen muss.
8. Abnorme morphologische und physiologische Elemente
in Kombination. Keine Beispiele.
B. Die Fälle von Polyanthropomorphismus konnten in folgende
Unterabteilungen zerlegt werden.
1. Die betr. Individuen sind nicht miteinander verwandt.
Die Weiterteilung ist nun sehr einfach, insofern es sich um 2, 3 usw.
Personen handelt. Zwei Personen erscheinen bei B. 187: 'Der Herr trägt
seinen Knecht'; Wossidlos Gesprächsrätsel zwischen Bach und Wiese u. ä.
gehören auch hierher, siehe W. 1 — 6. — Drei Personen werden auf-
gezählt bei B. 204: 'Der Eine sagt: Gott wird den Tag senden, man
wird zu essen bekommen; der Zweite sagt: Gott wird die Nacht senden,
Zur Volkskunde Argentiniens:
249
man wird zu schlafen bekommen; der Dritte: mir gilt der Tag und die
Nacht gleich1. — Vier Personen sind die 'vier Prediger unter einer
Mütze' Bielensteins (Nr. 203). — 'Fünf Nackte bauen ein Haus' (B. 17)
und die fünf Plohjäger Wossidlos (Nr. 28) sind ein auch sonst beliebtes
Rätselbild. — Yiele Personen sind die 32 Gesellchen in einem Ställchen
(W. 42f.), die dreihundert Männer bei B. 680; ohne genauere Angabe der
Zahl: der Herr mit seinen Dienern bei B. 524 und das Regiment Soldaten
bei W. 52.
2. Die betr. Individuen sind miteinander verwandt. Die
Einteilung bezieht sich auf die verschiedenen Verwandtschaftsgrade und
auf die Generationen. Nicht in den Ad. Riopl., wohl aber bei W. 498
bis 499 erscheint ein Ehepaar; bei B. 727—729 und W. 148c Vater und
Sohn, bei B. 190 Mutter und Kinder, bei W. 136 und B. 6 Vater, Mutter
und Kinder, also zwei Generationen; drei Generationen bei W. 411; vier
Generationen in einem Falle der Ad. Riopl. Geschwister erscheinen bei
W. 150c (zwei Brüder), bei B. 242 (fünf Brüder), bei B. 64, 137 und 261
(zwei Schwestern), bei B. 391 (sieben Schwestern), bei B. 537 (Bruder
und Schwester).
IV. Die phytomorplie Gruppe ist verhältnismässig spärlich. Zu un-
vollständigem Phytomorphismus gehören die Fälle, wo das Rätselbild von
Blumen, Früchten, Zweigen u. dgl. spricht, z. B. W. 340 (eine Blume),
W. 31 (eine gelbe Blume), B. 353 (ein Blatt), B. 74 (zwei Bohnen).
Vollständiger Phytomorphismus erscheint bei B. 334 und 644 (Eichbaum),
931 (Espe).
V. In der poikilomorphen Gruppe wurde alles das untergebracht,
was nun noch übrig blieb, also alle die mannigfaltigen Realien, die in
so vielen Rätseln uns beim Lösen in Verzweiflung bringen.
Auch hier liess sich als Untergruppe VA Mono- und Polypoikilo-
morphismus aufstellen, wenn nämlich ein Ding derselben Art, sei es
in einem oder mehreren Exemplaren, auftritt. Die spezielle Einteilung
ist folgende:
1. Allgemeine Angaben usw. über den Gegenstand, den uns
das Rätsel vorsetzt. W. 210, B. 441, 442 schildern ein Haus; B. 354 ein
Brett; B. 465 ein Beil.
2. Das Rätselbild wechselt je nach den Umständen,
Zeiten usw. Die bei W. und B. vorhandenen Fälle sind nicht rein wie
in den Ad. Riopl., wo es z. B. heisst (Nr. 542): 'Am Tage Wurst, nachts
Fahne', denn bei B. 252 (Am Tage Fassband, nachts Schlange) ist die
eine Hälfte des Rätsels zoomorph, bei B. '268 (Im Sommer Tanne, im
Winter Milch) phytomorph.
250
Lehmann-Nitsche :
3. Ein Gegenstand in Wiederholung; die Stellung ist
charakteristisch ('übereinander'). — B. 977: 'Tönnchen auf Tönnchen,
oben Mäuseschmutz'.
Als Untergruppe YB erscheint der Alloiopoikilomorphismus,
d. h. Dinge verschiedener Art, sei es in Einzahl, sei es in Mehrzahl,
spielen ihre Rolle im Rätselbilde. Folgende Abteilungen konnten unter-
schieden werden:
1. Verschiedene Dinge in Aufzählung; die Lösung ist ein
Gegenstand. B. 70: 'Eine rote Flasche, ein weisser Kork' (Himbeere);
B. 212—214 ist das bekannte weitverbreitete Rätsel von der Kuh, das
ich nach der Yariante B. 214 zitiere: 'Zwei Stösser, zwei Schüttler, vier,
die auf der Erde humpeln, ein Neunter, der im Kriege Schutz gibt'; die
zahllosen mecklenburgischen Fassungen sehe man bei W. 165 nach.
2. Yerschiedene Dinge in Aufzählung; die Lösung ist ein
Komplex zusammengehörender Gegenstände. Es werden da zwei,
drei oder vier verschiedene Dinge aufgezählt, z. B. B. 288: 'Ein Katzen-
schwanz, der über ein Meer sich streckt'; B. 20: 'Mit fünf Balken wird
ein Wohnhaus gebaut'. Drei verschiedene Gegenstände figurieren bei
W. 122 (Wanderstab, Erde, Kraut); B. 131 mit Wiese, Schafen und
Hirten passt nicht recht hierher, da zoo- und anthropomorphe Elemente
miteinbezogen sind. Yier verschiedene Gegenstände erscheinen öfters in
den Ad. Riopl., z. B. Nr. 560 (Feld, Samen, Stier, Kalb).
Man kann mit Recht den Yorwurf erheben, auf einmal sei die Lösung
berücksichtigt worden; dann vereinige man einfach Abteilung 1 und 2 zu
einer einzigen; es ist sowieso manchmal schwer, sie auseinander zu
halten.
3. Yerschiedene Dinge in Aufzählung, deren Stellung-
charakteristisch ist. Übereinander, aufeinander sind Tönnchen, Fässer
(B. 392), tote Heringe (B. 77 und 553); ineinander die Dinge bei B. 38
('Ein Nussgesträuch, in dem Nussgesträuch ein Tannenwald, in dem
Tannenwald ein See . . .'), womit der Übergang zu fortgesetzter Teilung
gegeben ist, wie sie charakteristisch ist für das internationale Rätsel
vom Jahr (W. 35) und das ebenfalls häufige vom Menschen, das bei
B. 825 sogar zehn Stufen aufweist: Zwei Pfosten, auf den P. ein Sack,
auf dem S. ein Block, auf dem B. zwei Stangen, auf den St. eine Mühle
von Knochen, auf der M. zwei fliessende Bäche, usf.
4. Yerschiedene Dinge in Tätigkeit. Zwei erscheinen in der
Rätselgruppe von der Katze und dem Fleisch, vom Wildschwein und der
Eichel u. ä., siehe W. 16 und 17, so\^ie B. 258—259; hier sind die beiden
Figuren des Rätsels: Griese und Pummel, Himmelhoch und Ruuchdiert,
Hocker und Gehängtes usw. — Drei und vier Figuren, je nach den
Yarianten, erscheinen in dem bekannten Rätsel vom Einbein, Zweibein,
Dreibein, Yierbein, W. 15.
Zur Volkskunde Argentiniens.
251
VI. Die vergleichende Gruppe ist im spanischen Rätsel sehr ent-
wickelt. Wir erkennen ohne weiteres die vier Bestandteile, aus denen
sich ein typisches Rätsel zusammensetzt: das oder die charakterisierenden
Elemente; das oder die vergleichenden Elemente; die Versicherung, dass
es sich doch nicht darum handelt, was der Vergleich soeben aussagte;
und schliesslich ein oder mehrere beschreibende Elemente. Diese vier
Bestandteile sind durchaus nicht immer gleichmässig ausgebildet, und je
nach dem ergeben sich zahlreiche Abteilungen; z. B. fehlt ein Beispiel
für die einfachste Kombination: ein charakterisierendes Element, ein ver-
gleichendes Element, die entsprechende Versicherang, ein beschreibendes
Element. W. 370a ist nicht ganz typisch, da das beschreibende Element
an erster Stelle steht und das charakterisierende Element ('sieht was1)
ohne den Vergleich nicht bestehen kann. Die für die Ad. Riopl. geltende
Einteilung ist folgende:
1. Ein charakterisierendes Element, ein vergleichendes
Element, die Versicherung. Bei B. und W. kein Beispiel.
2. Ein charakterisierendes Element, ein vergleichendes
Element, ein beschreibendes Element. — W. 225: 'Lütt as 'ne
Muus, bewacht 't ganz Huus'. Ebenso W. 226.
3. Ein charakterisierendes Element, ein vergleichendes
Element, zwei beschreibende Elemente.
4. Ein charakterisierendes Element, ein vergleichendes
Element, drei beschreibende Elemente.
5. Zwei charakterisierende Elemente, ein vergleichendes
Element.
6. Zwei charakterisierende Elemente, eine Versicherung.
Für 3 bis 6 finden sich bei B. und W. keine Beispiele.
7a. Zwei charakterisierende Elemente, zwei vergleichende
Elemente, zwei Versicherungen. — B. 385: 'Es wiehert wie ein
Hengst, ist aber kein Hengst; es tanzt wie eine Jungfer, ist aber keine
Jungfer'. Ebenso B. 751 — 752, 758.
7b. Zwei vergleichende Elemente, zwei Versicherungen.
Kein Beispiel.
7c. Zwei charakterisierende Elemente, zwei Versiehe,
rungen. — W. 369: 'Witt is't |wie ein Ei] un keen Ei is't, Bläder hett't
[wie ein Baum] un keen Boom is't'. Die fehlenden vergleichenden Ele-
mente sind in eckigen Klammern zugefügt.
7d. Zwei charakterisierende Elemente, zwei vergleichende
Elemente. B. 706: 'Es wiehert wie eine Stute und tanzt wie eine Jungfer1
(Lösung: die Elster; die Lösung des unter 7a mitgeteilten Rätsels ist das
auf den Tisch geworfene Silbergeld!). Ebenso B. 595 und 843.
8a. Zwei charakterisierende Elemente, zwei Versiche-
rungen, zwei beschreibende Elemente. Kein Beispiel bei B. und W.
■252
Lehmann-Nitsche:
8b. Zwei charakterisierende Elemente, zwei vergleichende
Elemente, zwei beschreibende Elemente. Kein Beispiel bei B.
und W.
9. Drei charakterisierende Elemente, drei Versicherungen.
Kein Beispiel bei B. und W. Dagegen finden sich hier Typen, welche
in den Ad. Riopl. nicht vertreten sind und die am besten jetzt ohne be-
sondere Numerierung aufgeführt werden:
Das vollständige Modell (drei charakterisierende Elemente, drei ver-
gleichende Elemente, drei Yersicherungen) ist öfters vertreten, z. B. B. 606,
B. 753, B. 755 und W. 218 e ; das letztere lautet: 'Grün wie Gras und
doch kein Gras, weiss wie Schnee und doch kein Schnee, töppel a'sn
Höhning und doch keen Höhning'. Bei W. 370b ist die stets gleich-
lautende Versicherung nur einmal abgegeben.
Drei charakterisierende Elemente nebst den entsprechenden drei Ver-
gleichen finden sich auch öfters, z. B. B. 754, B. 827, B. 964; B. 299
lautet: 'Grün wie Gras, weiss wie Schnee, rot wie Blut'. Bei B. 55 ist
noch ein beschreibendes Element zugefügt: 'Es bellt wie ein Hund, brüllt
wie ein Ochse, singt wie eine Nachtigall; so lange es ruft, hat es keinen
Mund'.
Fahren wir nun mit der Einteilung der Ad. Riopl. weiter fort:
10. Vier charakterisierende Elemente, vier Versicherungen.
Bei B. und W. nicht vertreten.
11. Vier charakterisierende Elemente, vier vergleichende
Elemente. W. 217b (grün wie Gras, weiss wie Schnee, rot wie Blut,
schwarz wie Teer) gehört hierher, obwohl es mit reimergänzendem Bei-
werk und einem Schlussrahmen verziert ist.
Fünf charakterisierende Elemente mit den dazu gehörenden fünf Ver-
gleichen finden sich nicht in den Ad. Riopl., wohl aber bei B. 707:
'Gefleckt wie ein Specht, weiss wie ein Schwan, schwarz wie ein Rabe,
wiehert wie ein Pferd, tanzt wie eine Jungfer'.
VII. Die beschreibende Gruppe liefert zahlreiche Beispiele, aus
denen sich ohne weiteres ihre Form ergibt. Unterschieden wurden
Rätsel mit:
1. Zwei Eigenschaften, z. B. B. 544: 'Oben glatt, unten durch-
furcht'. Ebenso B. 247, B. 475—476 (= W. 392), W. 206 a.
2. Drei Eigenschaften, z. B. W. 212a: 'Hoch erhoben, krumm
gebogen, wunderlich erschaffen' (ausserdem Schlussformel); bei B. 164
sind drei negative Eigenschaften als charakteristisch aufgeführt: 'Ein
Mensch ist's nicht, ein Gespenst ist's nicht, mit der Hand fassen kann
man es nicht'.
3. Viele Eigenschaften; man suche W. 440, W. 414, W. 205,
W. 171a, W. 393 selber auf; in B. 710 erscheinen vier Eigenschaften:
Zur Volkskunde Argentiniens.
253
'Es tanzt polnisch, spricht französisch und ist halb weiss, halb schwarz';
in B. 333 eine ganze Menge: 'Dünn ist's und lang, mit rundem Kopfe,
dem Menschen zur Qual, dem Diebe zum Schrecken'.
4. Eigenschaften, je nach den Umständen wechselnd, zeigen
eine ganze Anzahl Eätsel, z. B. B. 310: 'Nachts reich, Tages arm'; Tag
und Nacht bestimmen auch die Eigenschaften bei B. 165 und 816, ebenso
bei W. 95; die vier Jahreszeiten bei W. 343; auf dem Dache und unten
bei W. 334 und 335; auf dem Tische und unten bei B. 421. In den
Ad. Riopl. fanden sich als bestimmende Umstände Feld — Haus bzw. Oben —
Unten besonders häufig.
VIII. Die erzählende Gruppe gehört nicht mehr zu den eigent-
lichen Rätseln. Charakteristisch für sie ist die vorhergehende Geschichte,
in welche das Rätsel eingehüllt wird; hierher gehören die sog. Hals-
lösungsrätsel, z. B. W. 980.
XI. Die arithmetische Gruppe leitet weiter zu den uneigentlichen
Rätseln.
1. Wirkliche Rechenaufgaben finden sich gelegentlich, z. B. bei
W. 898 — 900; der Text ist zu lang zum Wiederabdruck.
2. Scherzhafte Rechnerei entspricht eher dem Charakter des
Rätsels, z. B. W. 879, W. 465; W. 878 lautet: 'Wat is swerer, 'n pund
Peddern oder 'n pund Bli ? '
X. Die Yerwandtschaftsgruppe steht der vorhergehenden innerlich
nahe.
1. Verwandtschaft im allgemeinen wird öfters behandelt, z.B.
bei W. 982: 'Seine Mutter ist meine Mutter ihr einziges Kind'; s. a.
W. 983.
2. Seinesgleichen ist im spanischen Rätsel behandelt (Der Bauer
sieht's fortwährend, der liebe Gott (Papst) nie, der König selten, u. dgl.);
man erkennt gleichzeitig, wie für die uneigentlichen Rätsel die Lösung
immer mehr und mehr von Wichtigkeit wird.
3. Verwandtschaft mit Verteilung von Gegenständen streift
schon stark an die eigentliche Scherzfrage; W. 901 und W. 902 sind
einschlägige Beispiele; das letzte der beiden Rätsel handelt von den zwei
Vätern und zwei Söhnen, die drei Hasen schössen, und jede der ge-
nannten Personen trug einen ganzen nach Hause.
XI. Die kryptomorphe Gruppe wurde so bezeichnet, weil das
Lösungswort teilweise oder ganz im Rätsel versteckt ist; der Reichtum
an Formen im spanischen Rätsel ist sehr gross und veranlasste eine
detaillierte Klassifizierung, während in Mecklenburg und Kurland die
Beispiele äusserst spärlich sind.
254
Lehmaim-lSIitsche :
Im unvollständigen Kryptomorphisraus ist ein Teil des Lösungs-
wortes im Rätsel enthalten, sei es als ein, sei es als zwei Worte des-
selben.
Im vollständigen Kryptomorphismus ist das ganze Lösungswort
versteckt, und zwar:
1. Als Teil eines Buchstabens (Punkt auf dem i).
2. Als ganzer Buchstabe: W. 470—474 und W. 838: 'Wat steit
in de Midd von Woren?' (Lösung: De r).
3. Als Teil eines Wortes, das im Rätsel vorkommt.
4. Als ein ganzes Wort, das im Rätsel vorkommt. Dieses Wort
hat doppelte Bedeutung oder nicht; in letztem Falle wird direkt die
Lösung mitgenannt, um den Hörer zu verblüffen, was auch gelingt, z. B.
Ad. Riopl. 757: 'Spitzen vorne, Augen hinten; die Schere ist's, dumm du
bist, wenn du die Lösung nicht kannst finden'; die Lösung ist tatsächlich
die Schere. Bei W. fanden sich nur Beispiele für jene erste Art, wo das
versteckte Wort zweierlei bedeutet, z. B. W. 951—961; W. 907a lautet:
'Is wech, blifft wech, un ward alldag bruukt' (Der Weg).
5. Als ein ganzes Wort, das im Rätsel vorkommt, und Teil eines
anderen, mag dieser Teil nun unmittelbar vorhergehen, unmittelbar folgen
oder getrennt sein.
6. Als zwei ganze Worte, die im Rätsel vorkommen; sie folgen
entweder aufeinander oder sind voneinander getrennt.
7. Als drei ganze Worte, die im Rätsel vorkommen.
Für keine dieser Unterabteilungen fanden sich bei B. oder W. Bei-
spiele.
XII. Die homonyme Gruppe ist von der Lösung ebenfalls be-
einflusst. Zwei Typen liessen sich unterscheiden:
1. Die Lösung ist ein homonymes Wort, das Rätsel be-
schäftigt sich mit beiden Bedeutungen desselben. W. 905—906
sind wenige Beispiele aus Mecklenburg für diese im Spanischen zahlreiche
Form, ebenso W. 522, das bekannte Rätsel vom Wacholder: 'Der Ge-
liebte lag und schlief, die Geliebte kam und rief, und das Wort womit
sie rief, so hiess der Busch, an dem er schlief'.
2. Eine oder mehrere Eigentümlichkeiten des Lösungs-
wortes sind durch homonyme Yerben charakterisiert. Als
Beispiel finde ich höchstens W. 922: 'Vier Mann spälen de ganze Nacht
un keener verliert wat' ('Dat sünd Muskanten').
XIII. Die Scherzgruppe wurde in den Ad. Riopl. nicht weiter
analysiert und das nicht übermässig zahlreiche Material nach äusserlichen
Gesichtspunkten angeordnet. Für eine Einteilung nach inneren Motiven,
Zur Volkskunde Argentiniens.
255
wie sie Petsch skizzierend versuchte, erschien der Stoff nicht ausreichend;
vielleicht entschliesst sich einmal Petsch zu einer übersichtlichen Dar-
stellung der Scherzrätsel. Ich sehe daher ab, auch nur eins der häufigen
Beispiele, namentlich aus der Mecklenburgischen Sammlung, hier anzugeben.
XIV. Die doktrinäre Gruppe gehört kaum noch zum Rätsel; es
handelt sich um vielfach schulmeisterliche Examensfragen, die der Hörer
entweder beantworten kann oder nicht. Sie lassen sich als zoologische,
botanische, geschichtliche Fragen leicht gruppieren; zu den ersteren gehört
z. B. Nr. 976 der Ad. Riopl.: 'Welcher Yogel legt das grösste Ei?' Jedes
Schulkind wird dabei den Strauss nennen. Eine vierte Abteilung, all-
gemeine Sentenzen, sind durch B. 142 vertreten: 'Was läuft schneller als
der Wind?' Es sind des Menschen Gedanken.
XY. Als künstliche Gruppe wurden Charaden, Logogriphe und
Akrosticha zusammengefasst, die im spanischen Sprachgebiet gewiss zum
Teil volkstümlich geworden sind, offenbar nicht in Mecklenburg und
Kurland.
XYI. Die erotische Gruppe wurde, wie gesagt, nicht in den Ad.
Riopl. publiziert, obwohl sie beim Volke, wie bekannt, gar nicht etwa
eine besondere Stellung einnimmt.
Eingeleitet wird sie durch Rätsel, die harmlos sind, während die
Lösung ins sexuelle Gebiet gehört. Nur aus diesem rein formalen Grunde
wurden die betreffenden Rätsel aus den vorhergehenden Gruppen, in die
sie gehören, weggelassen. Die zweite Abteilung sind die mehr oder
weniger obszönen Rätsel mit harmloser Lösung. Drittens kommen dazu
noch Scherzfragen. Mit Petsch bin ich der Meinung, dass Abteilung zwei
und drei eine besondere Gruppe bilden, obwohl auch sie in den vorher
skizzierten Gruppen untergebracht werden können. Wossidlos Sammlung
wimmelt von Beispielen aus Mecklenburg. Man kann die einzelnen Rätsel
leicht nach dem Gegenstand der Anspielung im speziellen klassifizieren.
'Se acabó el cuento' heisst es hier zu Lande, wenn jemand seine
Geschichte zu Ende erzählt hat.
La Plata.
256
Haas:
Eine alte Greifswalder Lokalsage.
Von Alfred Haas.
Vor dem ehemaligen Mühlentor zu Greifswald, zwischen der Wolgaster
und Anklamer Landstrasse, erhob sich im Mittelalter eine der heiligen
Gertrud geweihte Kapelle, die in den Stadtbüchern zum ersten Male im
Jahre 1363 erwähnt wird; sie lag hier, wie wir weiter hören, hinter einem
alten Wirtshause an der Kreuzung des Weges nach Eldena und nach
Koitenhagen, das im Volksmunde den Namen 'Scharfe Schere' führte —
angeblich, weil der Wirt seine Gäste vormals sehr 'übersetzte' (d. i. über-
vorteilte). Die Kapelle, welche 70 Fuss lang und 35 Fuss breit war,
hatte an der Westseite einen viereckigen Turm, der auf dem Lubinschen
Stadtbilde von Greifswald aus den Jahren 1610—1618 westlich von dem
St. Georgshospital sichtbar ist. Auf dem Hochaltar der Kapelle stand
das Bild der heiligen Gertrud, „in farbiger, vergoldeter Plastik in Holz
ausgeführt, in der einen Hand einen Palmenzweig, eine Lilie oder einen
Krummstab, in der anderen das Modell eines Spitales tragend"; dem Bild
gegenüber war auf einer Empore ein Orgelwerk aufgestellt. Neben der
Kapelle lag im Süden eine Herberge und in der Nähe noch ein Küster-
haus und ein Katen, und alle diese Gebäude waren umgeben von einem
zu der Kapelle gehörigen Friedhofe, der sich bis in die Nähe der An-
klamer Landstrasse erstreckte. Der Friedhof war wieder von einer
massiven, durch Strebepfeiler gestützten Steinmauer umschlossen.
In unmittelbarer Nähe der St. Gertrudkapelle stand ferner eine Wind-
mühle, welche in den Stadtbüchern seit 1385 als molendinum venti extra
valvam Molendinorum proximum ecclesie beate Gertrudis erwähnt wird.
Ob sie ursprünglich zum Besitztum der Kapelle gehört hat oder freies
Eigentum der Müller gewesen ist, ist nicht überliefert. Im Jahre 1447
ging die Mühle in den Besitz des Grauen Klosters über. Nichtsdesto-
weniger hiess sie nach wie vor wegen ihrer Lage in der Nähe der Kapelle
die St.-Gertrudsmiihle.
Im Verlaufe des Dreissigjährigen Krieges, und zwar im Jahre 1631,
wurde die Kapelle mit ihren Nebengebäuden und die steinerne Ring-
mauer und ebenso die Windmühle gänzlich zerstört. Doch wurde später
das Küsterhaus und der Katen auf dem Friedhofe wieder aufgebaut. Die
Mühle aber ward nicht wiederhergestellt; ihre Trümmerstätte wird aber
noch 1739 als 'Mühlenberg mit Lehmgruben' in den städtischen Akten
angeführt. (Nach Pyl, Greifswalder Kirchen 3, 1301 ff. und A.V.Balthasar,
Jus eccles. past. 2, 1.)
Eine alte Greifswalder Lokalsage.
So etwa sind die Örtlichkeiten beschaffen, an die eine über 400 Jahre
alte Greifswalder Lokalsage, nämlich die Sage von dem Wettlauf um
das Opfergeld und von der gegen den Wind laufenden Mühle,
anknüpft. Dass die Sage tatsächlich so alt ist und nicht erst, wie Pyl
a. a. O. S. 1305 f. vermutet, zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges ent-
standen ist, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass die älteste
Fassung, in welcher die Sage überliefert ist, aus dem Reformationszeitalter
stammt. Die Sage liegt uns aber auch noch in zahlreichen anderen
Quellenschriften des 16., 17. und 18. Jahrhunderts vor; denn sie gehörte
zu den Stadtmerkwürdigkeiten von Greifswald; jeder Fremde, der dorthin
kam, musste die Geschichte gehört und ihre Ortlichkeit -besichtigt haben.
Daher findet sich die Sage auch in zahlreichen älteren Reisewerken, die
die Stadt Greifswald beschreiben, erwähnt. Ein Dutzend dieser älteren
Schriftwerke ist bereits bei A. von Balthasar a. a. O. S. 12 zusammen-
gestellt; ihre Zahl ist aber noch weit grösser; mir sind aus der älteren
Zeit noch sieben weitere Werke und aus der Zeit nach Balthasar noch
sechs neuere Werke bekannt geworden, welche die Sage enthalten.
I. Die früheste Aufzeichnung der Sage1) findet sich bei Thomas
Kantzow in dessen erster hochdeutscher Bearbeitung der Chronik von
Pommern (ed. Gaebel 2, 260f. = ed. Böhmer S. 289f.) und lautet:
Es ist auch ein seltzam Dinck zum Gripswalde, das ich umb des willen mus
anzeigen: Es ist eine Capelle vor der Stat, St Gerdruden geheissen; dazu ist,
wie es pflegt, von den Burgern ein Furstender (Vorsteher) gewest, welcher ein
mal, do es da Kirchwey gewest, das Opffer auffgenhomen hat. Und do das Folck
alle wegk wahr und des Opffers ein gutter Hauffe wahr, solle er es auff das Altar
gelegt haben und St. Gerdruden Bilde haben genhomen und es hinten in die
Capelle gesetzt und zu ime gesagt, er wolte mit ime wettlawffen, wer ersten zum
Altar kheme, das derselbig solte das Opffer haben; und hat angehaben zu lauffen.
So ist ime das Bilde zuuor gekhomen und auff dem Altar gestanden, ehe ehr hin-
gekhomen. So hab er sich aus Geitze desselbigen nichts entsatzt und hat auch
den ersten Bescheid nicht halten wollen und das Bilde noch einmal hingepracht
und mit ime gelauffen, da es ime abermal zuuorgekhomen. Das hab er nicht
thun wollen und das Bild zum dritten Mal hingepracht. Do sey das Bild still
gestanden und hat nicht wollen lauffen, und ist der Furstender ersten zum Altar
gekhomen und hab das Opffer hingenhomen, als hette ers mit guttem Fug ge-
wunnen; und in kurtzen Tagen sol er darnach gestorben sein und auff' St. Ger-
druden Kirchhoff begraben sein worden.
So solle ine der bose Geist in der Nacht aus dem Grabe geholet und von
dem Kirchhofe weggefhuret haben, welchs ein Moller von der nehisten ^Vintmulen
gesehen und des Morgens angezeigt hat. So hat man noch gesehen, wie der
Totte an die Capellenthur gegriffen, das er sich vor dem bösen Geiste aufhalten
wolte, und wie der bose Geist darnach mit ime den Kirchhoff entlanges ge-
Ì) [Doch vgl. J. Agricola, 750 Sprüchwörtter 1558 (zuerst 1529) nr. 326 'Er hat mit
S. Gerdrut ein Wettlauff gethan' (in Sachsen); dazu Wesselski, Bebels Schwanke 1907 1,142
und Wauder, Deutsches Sprichwörterlexikon 1, 1576.]
Zeitselir. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3. 17
258
Haas :
sprangen und das Gras versengt und tieffe Fusstapffen in die Erde getretten.
Das sey nhu so geschehen oder nicht, pleib in seinen Weërden. Aber das ist
noch diessen hewtigen Tag, das man solliche Fusstapffen sieht und das auch kein
Gras darinne wechst, und seint in so vielen Jaren die Loecher nicht zu-
gewachssen.
Wir finden hier bereits fast alle wesentlichen Züge der Sage vor:
den dreimaligen Wettlauf um das Opfergeld, die Nichtbeteiligung des
Bildes beim dritten Laufen, die Entführung des verstorbenen Vorstehers
durch den Teufel, die Spuren an der Kapellentür und die von keiner
Grasnarbe bedeckten Fusstapfen auf dem Friedhofe; auch zu der Mühle
ist eine, wenn auch rein äusserliche Beziehung vorhanden, indem der
Müller der Entführung zuschaut und am anderen Morgen Anzeige darüber
erstattet. Dagegen findet sich noch nicht der Zug, dass der Vorsteher
vom Teufel auf die Windmühlenflügel gebunden und vermittelst derselben
linksum herumgeschwungen wird, worauf die Mühle die Eigentümlichkeit
behielt, gegen den Wind zu laufen.
IL Aus dem Ende des 16. Jahrhunderts liegen mir zwei Berichte
vor. Der erste von beiden stammt von dem fahrenden Schüler Michael
Franck, der in den Jahren 1585—1592 von Frankfurt a. 0. aus nach
Wien, Dänemark, durch die sächsischen Länder und nach Italien reiste,
und auf dieser Reise im Mai 1590 auch nach Greifswald kam. Über
seinen dortigen Aufenthalt berichtet er u. a. (Bait. Stud. 30, 77) wie folgt:
Wie man von Ancolam in die Stadt (Grippeswalde) ziehet, da stehet ein
kleines Kirchlein auf einem Berge für der Stadt, darinnen sich diese denkwürdige
Historien zugetragen hat: in dieser Kirchen siehet man im Dache ein Loch hin-
durch, welches, weil man es schon vielmahl versucht, nicht zudecken kan, durch
welches Loch der Teufel einen gottlosen Menschen soll hindurch und hinaus ge-
führet haben und seinen Braten geholet haben. Waß dieß für ein gottloser
Mensch ist gewesen, daran Gott ein solch schreckliches Exempel statuirei, kan
man wohl erachten, daß er ein vermessener, gottloser Mensch, der Gott und sein
Wort verachtet und dem bösen Feinde sich gäntzlich ergeben haben muß. An
den Mauern neben dem Dache werden auch noch die Krallen gesehen, die er
zum Gedächtniß hinter ihnen verlassen, die er gerizzet haben soll, als er ihn
hinweggeführet. Behüte Gott für solcher Auffarth!
In diesem Bericht fehlt der Wettlauf; es ist vielmehr nur von einem
gottlosen Menschen die Rede, den der Teufel holt. Beachtenswert ist
dabei, dass der Gottlose durch das Kirchendach entführt wird und dass
das dadurch entstandene Loch sich seitdem nicht mehr zudecken lässt.
Dieses unverdeckbare Loch im Kirchendach ist dem Berichterstatter
offenbar die Hauptsache gewesen, und es ist wohl nicht zu bezweifeln,
dass er das Loch mit eigenen Augen gesehen hat. Das Loch war aber
offenbar ein aus katholischer Zeit stammender Abzugskanal für Kerzen-
qualm und Weihrauchduft, wie solche Dachöffnungen auch an anderen
Kirchen ehemals nicht nur vorhanden gewesen sind, sondern auch zu
Eine alte Greifswalder Lokalsage.
259
ähnlichen Sagenbildungen Anlass gegeben haben. So findet sich im
Deckengewölbe der St. Stephanskirche zu Gartz a. O. ein runder Deckel,
angeblich ein Scheffel, der dort eingemauert sein soll zur Erinnerung
daran, dass einmal ein Bauer mit einem falschen Getreidemass betroffen
wurde (Pom. ATkde. 3, 163). In der Sakristei der St. Marienkirche zu
Stargard i. Pom. befindet sich an dem Deckengewölbe ein Loch, welches
der Sage nach nicht zugemauert werden kann, nachdem der Teufel einst
einen gottlosen Pastor durch dieses Loch entführt und zur Hölle hinab-
geholt hat (Pom. Ykde. 5, 99). Vgl. auch noch Liebrecht, Zur Volks-
kunde S. 426.
III. Im Jahre 1593 verfasste der Greifswalder Rektor Lukas
Takke eine allerdings erst im Jahre 1607 gehaltene Rede De Urbe
Pomeranorum Gryphiswaldensi, die uns im Auszug erhalten ist (Dähnert,
Pom. Bibl. 2, 219 und 7. Jahresber. der Geogr. Ges. zu Greifswald
S. 142ff.). Darin heisst es u. a. :
Gertrudis fanum nunc pene collapsum antiquo ablati quondam a Diabolo
cuiusdam illius fani Provisoris seu Diaconi, fraudulenter cum Divae Gertrudis
imagine sive statua propter certam aliquam pecuniae summam cursu certantis,
miraculo apud exteras etiam gentes hue usque claret.
Also auch hier ist das antiquum miraculum des betrügerischen Wett-
laufes und der Entführung durch den Teufel. Neu ist, dass der Entführte
möglicherweise ein Geistlicher (Diaconus) gewesen sein soll. Auch ist
bemerkenswert, dass Takke die Bekanntschaft der Sage apud exteras
etiam gentes ausdrücklich hervorhebt, wobei man nicht sowohl an das
Ausland, als vielmehr an nichtpommersehe deutsche Volksstämme zu
denken hat.
IY. Wesentliche Abweichungen von den bisherigen Fassungen der
Sage bringt die folgende Quelle, Zacharias Rivander (Bachmann), der
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelebt und die zu Magde-
burg 1602 veröffentlichte 'Festchronika' verfasst hat. Da mir die Original-
quelle nicht zugänglich ist, zitiere ich nach dem Abdruck bei Jahn, Yolks-
sagen Nr. 334. Dort heisst es:
Zu Gribßwalde, im Lande zu Pommern, saget man bestendig vnd fürwar,
stieg ein Dieb in die Kirche, darinnen stand ein Bild Nikolai, vnd im Gottes-
kasten solt viel Geld verschlossen liegen. Der Dieb sprach: „Herr Nikolae, ist
das Geld mein oder dein? Wir wollen darumb in die Wette lauffen; kömpstu
ehe und schneller zum Geldstock denn ich, so sey das Geld dein, sonst sol es
mein sein!" Nikolae das Bild lieff vnd kam zum ersten an die Geldstat. Sie
lieffen beyde noch einmal vnd zum dritten mal; Sankt Nikiaus vberwand vnd
vberlieff den Dieb. Der Dieb sprach: „Mein Nickel, du hast das Geld ge-
wonnen, du kanst es aber nicht vorzehren, denn du bist Holtz; ich wil dauon
einen guten Muth haben vnnd es mit guten Gesellen vorschlemmen." Dieser
Mensch ist nach wenig tagen gestorben; seinen todten Leib führet der Teuffei
17*
260
Haas:
wider aus dem Grabe in die Kirche, warff jn des Nachts auff eine Windmüle vor
der Stadt; von derselben sagt man, sie solle vnrecht vmbgehen vnd linck mahlen.
Diss Teuffelisch Gespenst sei war oder anders, so hab ichs doch warlich gelesen.
Hier haben wir an Stelle des Kirchenvorstehers einen Dieb, an Stelle
der St. Gertrud den St. Nikolaus und an Stelle des Opfergeldes das im
Gotteskasten verschlossene Geld. Beim Wettlauf läuft das Bild auch das
dritte Mal mit. Neu ist die Absicht des Diebes, das Geld mit guten
Gesellen zu verbringen, und neu ist vor allem die Einführung, der linksum
gehenden Windmühle bei der Bestrafung des Diebes. Yon den Fuss-
tapfen und den Spuren am Gebäude findet sich nichts. Auf die Wendung
am Schluss: „Es sei wahr oder falsch, so habe ich es doch wahrlich
gelesen", lege ich kein besonderes Gewicht; sie macht den Eindruck, als
ob sie formelhaft ist; auch oben bei Kantzow findet sich eine ähnliche
Wendung, und weiter unten kehrt sie bei Mikrälius nochmals wieder.
Ob Rivander der erste gewesen ist, der an Stelle der St. Gertrud
den St. Nikolaus eingesetzt hat, kann ich nicht sagen; jedenfalls findet
sich der St. Nikolaus nach A. von Balthasar auch noch in der Fassung
der Sage bei dem gleichaltrigen Michel Sachse, Alphab. hist, oder Christi.
Zeitvertreiber, 4. Theil S. 383. Die Bestrafung auf der linksum gehenden
Mühle findet sich auch bei Mich. Heberer, Aegyptiaca servitus, Heidel-
berg o. J. (1610) und darnach bei Matth. Merian, Topogr. Electoratus
Brandenburgici et Ducatus Pomeraniae (Franckfurt 1652) S. 65. [Bei
H. Sachs, Fabeln 5, 165 nr. 707 würfelt ein Landsknecht mit S. Nielas.]
V. Eine kurz zusammengedrängte Darstellung der Sage gibt Job.
Mikrälius, Altes Pommerland (Stettin 1640) 6, 573.
Was sich bey der Capelle S. Gerdrut vor der Stadt / so jetzund mit Wällen
zur Vestung verschüttet ist / vnd vorhin grosse Wallfahrten gehabt hat / mit einem
Provisorn zugetragen / den wegen böser Verwaltung des Opffer Geldes / darumb
er mit dem Marienbilde in die Wette gelauffen / der böse Feind aus dem Grabe
geholet / vnd daß Graß versenget / vnd tiefte Fußstapffen in die Erde getreten / die
noch da gestanden / vnd mit Grase niemaln bewachsen sind / biß die gantze
Kirche vnnd Kirchhoff verschüttet ist / davon ist zu jederzeit von den Bürgern
viele sagens gewesen / vnd ein alt geschriebenes Chronicon gedencket dessen auch:
Drumb habe Ich es nicht wollen verbey gehen: Ein jeder halte davon / was er wolle.
Das von Mikrälius angezogene handschriftliche Chronicon ist ver-
mutlich Th. Kantzows Chronik von Pommern, doch mag Mikrälius auch
aus der mündlichen Uberlieferung geschöpft haben; jedenfalls berichtet
er zuerst (und nach ihm nur noch Merian) von den Wallfahrten, die in
katholischer Zeit zur St. Gertrudkapelle unternommen worden sind. Das
von ihm angeführte 'Marienbild' findet sich in keiner anderen Quelle
wieder (ausser bei dem fast wörtlich mit ihm übereinstimmenden Merian)
und beruht vermutlich auf einer Flüchtigkeit oder einem Versehen (etwa
statt 'Heiligenbild' oder ähnlich).
Eine alte Greifswalder Lokalsage.
261
VI. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts finden wir die Sage in zwei
topographischen Werken, nämlich bei Martin Zeiller, Descriptio
Regnorum Sv. Imp. (mir nur aus A. von Balthasar bekannt) und bei
M eri an. Der letztere schöpft die Sage nach seiner eigenen Angabe aus
Joh. Mikrälius und Mich. Heberer.
Es folgt Johannes Prätorius, der die Sage in seinen Anthro-
podemus Plutonicus d. i. eine Neue Weltbeschreibung etc., 1 (Magdeburg
1666) S. '200 f. aufgenommen hat. Es ist die Fassung mit dem St. Nikolaus
und der links umlaufenden Mühle, wie sie sich bei Rivander und Heberer
findet. Aus Prätorius haben die Brüder Grimm (Deutsche Sagen Nr. 133)
den ersten Teil der Sage geschöpft, während der zweite Teil von Jakob
Grimm aus Mikrälius nachgetragen ist.
In den Schluss des 17. und den Anfang des 18. Jahrhunderts gehören
vier Fassungen der Sage, die ich nur aus A. von Balthasars Zitat kenne:
Melchior Eppen, Gerechte Strafe und Rache Gottes wider die Prediger-
und Schul-Feinde, S. 185 (der Verfasser war ein geborener Greifswalder
und starb gegen Ende des 17. Jahrhunderts als Pastor in Wolgast);
Caspar Schneider, Gründlicher und genau durchsuchter Oder-Strohm,
S. 360 (der Verfasser starb 1720 als Bürgermeister in Dommitsch); Joh.
Heinrich Hävecker, Christerbauliche Abend - Gespräche, S. 83 (der
Verfasser war Pastor und hat 1640—1722 gelebt); Georg Michael
Pfefferkorn, Pleißnische Ehrenkränze oder Leichenreden, (1701) S. 308
(der Verfasser hat von 1646 — 1732 gelebt).
VU. Aus dem Jahre 1736 erhalten wir sodann eine mannigfach ab-
weichende Fassung der Sage durch den Bürgermeister von Plathe
Amandus Carl Vanselow in seinem wenig bekannten 'Versuch zu
einem Promptuario exemplorum Pomeraniae oder Vorrath von allerhand
merckwürdigen Geschichten, so sich in Pommern.....zugetragen',
Iste Sammlung, Franckfurt a. O. 1736, S. 205ff. Als Quelle gibt der
Verfasser den „gewesenen Fürstl. Eisenachischen Cantzler Georg. Mundus
von Rodach in Tract, de Muner. Honor, et Oner., L. 9 cap. 30 S. 404"
an. Die Sage geht hier unter der Überschrift 'Die bestrafften Kirchen-
Räuber' und lautet so:
Es ist ausserhalb der Stadt Greiffswalde, auf einem Kirchhoffe mit Mauren
umgeben, eine feine Kirche, darinn noch jederzeit geprediget wird, und werden
zu Zeiten, wie es auch an andern Orthen gebräuchlich, vornehme Leuthe darinn
begraben. Nun hat sichs zugetragen, dass in dieser Stadt ein vornehmer Mann
redlichen Ansehens, deme man wegen seiner vermeinten Redlichkeit das Ein-
kommen des Allmosen und der Spitale vertrauet und anbefohlen, A. 1438 ver-
storben,. den man auch in dieser Kirche begraben. Dieweil er sich aber wieder-
rechtlich mit den Allmosen bereichert, dasselbe bestohlen und also nicht die
Menschen, sondern Gott betrogen, hat der allmächtige Gott aus gerechtem Urtheil
dein Teuffei verhänget und zugelassen, daß er diesen heyligen Dieb aus dem
Grabe genommen, zu der Kirchen hinaus über den Kirchhoff — darauff er etliche
262
Haas:
Fusstapffen hinterlassen — auff eine Wind-Mühle, negst dabey, getragen und auff
den Flügeln durch sein Gespenst wieder Wind herum geführet, der nachmals mit
dem todten Leichnam verschwunden ist, daß niemand wissen kan, wo einig Haar
von ihm hinkommen sey.
Damit aber dieser schrecklichen Historie nicht vergessen werden könne, so
läufft durch den Willen Gottes, allen Menschen zur Warnung, die gedachte Wind-
Mühle noch heutiges Tages wieder Wind, da doch andre Wind-Mühlen, so aller-
negst auf 20 Schritt darbey stehen, mit dem ordentlichen Winde ihren rechten
Lauff haben und behalten.
Auff solche augenscheinliche Straffe und erschrecklich Urtheil Gottes ist die
gantze Stadt bestürtzet worden, und hat E. E. Rath zum Gedächtniß dieser un-
erhörten Geschichte an der Kirchen nebst der Kirchen-Thüren, daraus die Wunder
geschehen, einen Stein an der Wand ausserhalb, darauff die gantze Geschichte in
alter Sächsischer oder Pommerscher Sprache eingehauen, auffrichten lassen, allen
Christen-Menschen zur Warnung und Exempel. Welches Gedächtniß ich mit
Schrecken und Verwunderung angesehen, denn die Wind-Mühle noch auff diesen
Tag wieder Wind läufft. So sind die Fuß-Tapffen auff dem Kirch-Höffe gemacht,
nicht eben zu machen oder auszufüllen, sondern fallen stetigs ohngefehr eines
Werck-Schuhes tieff wieder ein, damit sie immerzu mögen gesehen werden. Über
diesen Augen-Schein gibt ferner die bey der Kirch-Thür zuvor gemeldete steinerne
Platten schrifftlichen und ausführlichen Bericht jedermänniglich in- und aus-
ländischen zu sehen und zu lesen.
In diesem Bericht ist die Kirche nicht näher bezeichnet, was auf-
fallen muss, da der Berichterstatter an Ort und Stelle gewesen sein will.
Es fehlt ferner der Wettlauf. Neu ist dagegen die Nachricht von dem
neben der Kirchentür aufgerichteten Stein und von dem im Jahre 1438
erfolgten Tode des unredlichen Vorstehers. Nach Pyl (a. a. O. S. 1309)
hatten immer je zwei Provisoren das Vermögen der St. Gertrudkapelle
zu verwalten; als solche fungierten von 1382—1432 Dietrich Schlutow
und Nikolaus Witte I., 1472 Bernhard Wildeshusen und Nikolaus Witte II.,
1486 Hans Buweman und Augustin Kronort usw. Die Namen der Provi-
soren von 1438 sind nicht überliefert. Was die Bestattung auf dem
St. Gertrudenkirchhof betrifft, so wurden hier ursprünglich nur die in der
Herberge verstorbenen heimatlosen Wanderer, zugleich aber auch die an
gefährlichen Epidemien Gestorbenen begraben; in der Folge jedoch, als
die Reformation den Kultus und die Bestimmung der Kapelle wesentlich
veränderte, ging der Friedhof als Eigentum an das Graue Kloster über
und diente seitdem zur Bestattung der im Armenhause oder auch sonst
mittellos verstorbenen Personen; daher hiess er auch der Armen-Kirchhof.
Nach dem Dreissigjährigen Kriege verzichtete das Kloster auf den Kirchhof
zugunsten der Stadt, und diese überliess den Platz sodann der Garnison
unter dem Namen 'Soldatenkirchhof' (Pyl a. a. O. S. 1304f.).
VIII. Die nächste Quelle ist 'Herrn Georg von Fürst, eines be-
rühmten Cavaliers aus Schlesien, curieuse Reisen durch Europa, in welcher
allerhand Merkwürdigkeiten zu finden', Sorau 1739, abgedruckt in Monats-
Eine alte Greifswalder Lokalsage.
263
blatt 1909 S. 65ff. Die Reise selbst muss der berühmte Kavalier mehr
als hundert Jahre vor ihrer Drucklegung unternommen haben; denn wenn
er schreibt: „Vor dem Tore fanden wir einen Kirchhof, wobei eine kleine
Kirche steht," und „die Mühle muss noch bis auf diesen Tag wider den
Wind herumgehen," so passt das nur auf die Zeit vor 1631. Der Wett-
lauf fehlt bei Georg von Fürst; das einzig Neue ist, dass die Fusstapfen,
welche tief in die Erde getreten waren, „ziemlich weit voneinander ge-
sehen wurden."
IX. Als letzte Quelle ist der schon mehrfach zitierte A. von Bal-
thasar, lus eccl. past. II S. 11 zu nennen. Er weist zunächst auf „die
alte Legende hin, welche allhier zu Greifswald umbs Jahr 1438 mit einem
Vorsteher, der in der St. Gertrudts Kirche den Kirchen-Kasten bestehlen
wollen, soll paßiret seyn", berichtet sodann den Wettlauf nach Mikrälius
und fährt dann fort:
Die Tradition ist noch dabey, daß der Teufel sich mit dem Leichnam auf
einer nahe dabey befindlichen Mühle gesetzt und daselbst ein groß Geschrey er-
reget habe. Von der Zeit an die Mühle allemahl verkehrt und wider den Wind
gegangen; daß sie auch daher den Nahmen der 'verkehrten Mühle' bekommen.
Es ist diese Geschichte in einem alten deutschen Gedichte vom gedachten Jahre
beschrieben ... Es hat einer, Nahmens Matthias Lajus, von welchem aber nicht
bekannt, wer er gewesen, diese Geschichte sogar in Kupfer stechen lassen und
dieses Kupferstich denen Herzogen in Pommern und dem Magistrat zu Greifswald
dediciret.
X. Das von Balthasar erwähnte deutsche Gedicht vom Jahre 1438
scheint verschollen zu sein. Dagegen ist die Sage in neuerer Zeit wieder
in Verse gebracht worden von Ed. Hellm. Freyberg, Pomm. Sagen in
Balladen und Romanzen (Pasewalk 1836) S. 32—35. Der Dichter hat
dabei die von Kantzow überlieferte Fassung der Sage benutzt. Aus
Freyberg und Mikrälius hat J. D. H. Temme, Die Volkssagen von
Pommern und Rügen (Berlin 1840) Nr. 118 die Greifswalder Sage
geschöpft. Jahn wirft Temme vor, dieser habe die Sage 'ausgeschmückt';
dieser Vorwurf scheint mir aber doch nicht berechtigt zu sein; einige
geringe Ausschmückungen des Sagenstoffes finden sich bei Freyberg, wie
z. B., dass das Bild Tränen geweint habe, und das ist von Temme mit
übernommen worden; dem Dichter aber wird man solche Ausschmückung
wohl kaum verargen dürfen.
Überschauen wir zum Schluss noch einmal die Quellenschriften, in
denen die Greifswalder Sage überliefert ist, so ergeben sich zwei bzw.
drei Gruppen der Überlieferung. Zur ersten Gruppe rechne ich alle die-
jenigen, die den Wettlauf mit dem Gertrudenbilde, die Entführung des
Verstorbenen durch den Teufel, die Hinterlassung der Fusstapfen und
264
Haas: Eine alte Greifswalder Lokalsage.
der Spuren an der Kirche berichten, aber der linksura gehenden Mühle
noch nicht gedenken. Diese Quellen stehen zueinander in folgendem Ab-
hängigkeitsverhältnis :
Erste Gruppe
Meriau v. Balthasar
(1. Teil) (1. Teil)
Grimm
(2. Teil)
Freyberg
Temme
Zur zweiten Gruppe zähle ich diejenigen Quellen, welche von dem
Wettlauf mit dem St. Nikolausbilde und von der Bestrafung auf der
linksum gehenden Mühle berichten:
Zweite Gruppe
Heberer
Gg. von Fürst
Prätorius (?)
Jahn Merian
(2. Teil)
Grimm
(1. Teil)
Zur dritten Gruppe rechne ich alle übrigen Quellenwerke, welche
weitere Einzelheiten berichten, ohne dass wir deren Quelle kennen:
Franck mit der Entführung durch das unverdeckbare Loch im Kirchen-
dach, von Rodach-Yanselow und v. Balthasar mit der Angabe des Jahres 1438,
von Rodach-Yanselow mit der Nachricht von der Aufrichtung des Steines und
endlich v. Balthasar mit der Erwähnung des deutschen Gedichtes.
Stettin.
Kohlbach: Das Zopfgebäck im jüdischen Ritus.
265
Das Zopfgebäck im jüdischen Ritus.
Yon Berthold Kohlbach.
I. Ritus des Brotpaares (Leckem mischne).
„Und es war am sechsten Tage, da wurden zwei Portionen gesammelt,
zwei Omer für je eine Person ...... Sechs Tage dürfet ihr es (das
Manna) sammeln, am siebenten Tage jedoch ist Sabbat; da ist es nicht
vorhanden." (Exodus 16, 22 u. 26.) Diese Verordnung ist die Quelle
des zumal in den jüdischen Häusern des Abendlandes so charakteristischen
Brotpaares in Zopfform bei Sabbat- und Festmählern.
Das Brotpaar in Laibform (Kikkar) und als Zopfgebäck (Barches)
sind Symbole gesonderter Kulturkreise im Judentume. Während ersteres
auch heute noch bei den sogenannten sepharedischen (= fränkischen)1)
Juden im Orient das 'lêchem mischne' der Schrift vertritt, gehört das
Zopfgebäck bei den sog. aschkenasischen (deutschen) Juden zum Weihe-
ritus (Kiddusch) von Sabbat und Festtagen; es ist auch hier keine religiöse
Vorschrift, denn es darf die Benediktion auch über zwei Brödchen (Wasser-
semmeln) gesprochen werden; es ist ein durch Jahrhunderte geweihter
Brauch, an dem zumal die jüdische Frau liebevoll hängt und festhält.
Am Freitagabende oder am Yorabende des Festtages werden auf dem
feierlich gedeckten Tisch auf den Ehrenplatz des Wirtes zwei Gebildbrote
in Zopfform gelegt; eine Serviette oder ein zu diesem Zwecke dienendes
Deckchen verhüllt die 'Barches' bis nach Beendigung des Segensspruches,
welcher den AVeiheritus beschliesst; das eine Brot wird angeschnitten,
das zweite bleibt für die Mittagstafel des Sabbat- oder Feiertages, am
Yersöhnungsfest für das Abendmahl nach dem Fasttage. Die Zeremonie
ist eine höchst dürftige; der Wirt spricht beim Anschneiden: „Gepriesen
seist du Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, der du Brot hervorbringst
aus dem Erdreiche," bricht jedem der Tischgenossen — Männern und
Frauen — einen Bissen ab, den jeder einzelne mit demselben Segens-
spruche begleitet. Ist ein würdiger Gast zugegen, wird auch vor ihn ein
besonderes Brotpaar gelegt. Am Pesachfeste vertritt die Stelle der
'Barches' die ungesäuerte Brotscheibe (Mazzâh); bei dem Abendmahle an
• 1) Franken werden die in den Balkanländern lebenden Juden genannt, weil im Orient
die aus Europa stammenden Juden 'Europäer' (frengi) genannt wurden; in Ungarn heissen
sie auch 'Spagniolen'.
•266
Kohlbach:
den zwei ersten Abenden (Szêder) sind wohl drei solche Brote vorhanden,
doch vertreten sie nicht das 'Lêchem mischne', sondern jedes einzelne hat
eine besondere Verwendung; Symbol des Festes ist bloss eines, über das
ausser dem oben angeführten noch der folgende Segensspruch gesagt wird:
„Gepriesen seist du Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, der uns geheiligt
hat durch seine Gebote und uns den Genuss der Mazzâh verordnet hat" *).
Soweit über die Zeremonie.
Was die Form des Lêchem mischne betrifft, finden wir in den Quellen
keine besonderen Angaben. Der Talmud erwähnt keine besondere Form
für diese Kultbrote. Rabbi Abba tradiert: Am Sabbat ist jeder ver-
pflichtet, zwei Brotlaibe (kikrôth) anzuschneiden, weil es in der Schrift
heisst: lêchem mischne (Brotpaar) Sabbat 117b. Auch der Schulchan
ârûch, der allgemein gültige Ritualkodex des rabbinischen Judentums, gibt
uns keine nähere Aufklärung. Ein kurzes, aus bloss vier Punkten be-
stehendes Kapitel in der Abteilung I (Orach chajjim = Pfad des Lebens),
§ 274, behandelt das Anschneiden des Sabbatbrotes und § 271, 9 wird ge-
fordert, dass das Brot (pasz) auf einem Tischtuche, mit einem Deckchen
(mappa) verhüllt, liege. Man könnte glauben, der Sôhar, das Hauptwerk
aller Mvstik im Judentume, werde sich dieses Ritus bemächtigt haben
*) J O
und ihn verherrlichen. Mit nichten! Der Sôhar gefällt sich in der Aus-
schmückung der drei Sabbatmahlzeiten, d. i. am Freitagabend, am Sabbat-
mittag und Sabbatnachmittag (schalesch-szüdesz im Jargon), welch letztere
in polnisch-orthodoxen Kreisen mit der grössten Observanz gefeiert wird,
da sie als Abschiedsfest des Sabbatkönigs (melavvê d' malkô) aufgefasst
wird und gewöhnlich im Lehrhause in Gegenwart des Rabbis abgehalten
wird2). Ferner spricht er von den im Stiftszelte und später im Heilig-
tume zu Jerusalem aufliegenden 'Schaubroten' (Lêchein happônim),
wünscht, dass jedes einzelne Schaubrot viergestaltig sei, um das Traum-
gesicht des Propheten Ezechiel (1,6) zu symbolisieren. Sonst aberklingt
es ganz nüchtern: „Es ist Pflicht, zwölf Brote auf den Sabbattisch zu
geben, je vier für eine Mahlzeit"3).
Trotz dieser Nüchternheit in den Quellenschriften bildet die Be-
reitung der Barches den besonderen Stolz der gesetzestreuen Jüdin
Mittel- und Nordeuropas; im Orient gilt bei den sepharedischen Juden
1) Auf den Darstellungen des heiligen Abendmahls sehen wir auch bloss ein Brot;
die Form befremde uns nicht; die sepharedischen Juden, so z. B. in Temesvár, backen
die ungesäuerten Brote in Laibform und nennen sie: 'bojûsz'; die Bedeutung des Wortes
konnte ich nicht ermitteln.
2) Vor Jahren sah ich polnisch-orthodoxe Juden in Budapest (Simonyi'sches Haus,
VII. Königsgasse) in der Synagoge nach dem Nachmittagsgottesdienst (Mincha) die dritte
Mahlzeit: Fische und Barches essen. Es wird auch heute dies der Fall sein.
3) Sôhar ed. Lublin 1894, 3, 489. — Ob diese Zahl eingehalten wird, ist mir hier
in Ungarn nicht bekannt.
Das Zopfgebäck im jüdischen Ritus.
267
gewöhnliches Brot als Lêchem mischne (mündliche Angabe des Faelascha-
forschers Faitlovich). Der Grossrabbiner in Saloniki Jakob Me'ir schreibt
mir, dass bei den türkischen Juden das Sabbatbrot keinen besonderen
Namen führe. „Bloss in den Häusern der Vornehmen wird es aus feinem
Mehle bereitet, mit Ei bestrichen und mit Mohn bestreut; weil der Teig
ein besserer ist, gärt er mehr, so dass das Backwerk hohl ist . . . ." Bei
den Juden in Persien heisst es 'challah' (= Fladen, vgl. E. N. Adler,
Jews in many lands, pag. 1.79). Interessant ist, dass auch in slawischen
oder einst slawischen Gegenden das Brotpaar 'challali' heisst, so in
manchen Gegenden Oberungarns (Zempléner Komitat, wo sehr viel
polnische Juden eingewandert sind), in Königsberg und Graudenz, wie
Höf 1er im Archiv für Anthropologie (Neue Folge 4, 130) mitteilt1).
Was nun die Form der Challah und der Barches betrifft, so ist die
Challah oblong, fladenförmig, wie das Opferbrot auf dem Altar in
Jerusalem, das schlechthin als 'Schaubrot' übersetzte lêchem happônim2)
(Exodus 25,30; 35,13; 39,36; in Leviticus 24,5 heissen sie ja challöth)
gewesen sein mochte. Weder challöth, noch uggôth, lêchem usw. deuten auf
die Form, bloss kikkar bedeutet: Laib. Das Zopfgebäck (Barches) hingegen
hat gewöhnlich die längliche Zopfform; bloss an den Sabbat- und Feier-
tagen von Neujahr (Rösch haschânâh) bis zum Feste der Weidenruten
(Hoschâna rabba) hat das Backwerk die Form einer runden Frisur, und
zwar nach der landläufigen Auslegung in jüdischen Kreisen deshalb, damit
die Rundung des Zopfes dem WTunsche die symbolische Fassung gebe:
Möge das neue Jahr so ohne alle Scharten und Ecken sein, wTie die
Kreisform. Ich vermute, es ist eher das Symbol des sich erneuernden
Jahreszyklus, des sich schliessenden Kreises3).
Das Zopfgebäck wird mit Eidotter bestrichen und mit Mohn bestreut;
das erstere geschieht wohl darum, dass das Flechtwerk glänzend, nicht
matt sei; das letztere ist wahrscheinlich nicht jüdischen Ursprungs, da ja
— wie allgemein bekannt ist — der Mohn im griechisch - römischen
Rituale eine grosse Rolle spielt. (Höfler, Das Haaropfer in Teigform,
1) Er liest irrtümlich Kalle (= Braut) und hält es für ein Brautopfer; Kaf ohne
dâgesch wird von den nichtsepharedischen Juden 'ch' gelesen.
2) Eine merkwürdige Darstellung des lêchem happônim sah ich in der Justina-
Kirche zu Padua; auf einem der Chorstühle ist es in Ziegelform geschnitzt; die obere
Fläche zieren drei Augen, die Vorderfläche vier Augen, eine Anlehnung an die pânim
= Gesicht. — Ich vermute darin ein Teigopfer für jeden Stamm und wäre geneigt, es
mit 'Gebildbrot' zu übersetzen. Von Woche zu Woche, am Sabbate musste es Gott vor-
gelegt werden als 'Feueropfer', doch wurde es nicht verbrannt, sondern von den
Priestern genossen. (Vgl. als Hauptstelle Leviticus 24,5—9.)
3) In diesen Festwochen wird das Zopfbrot in Honig getunkt und so genossen; als
Ursache wird angegeben: das neue Jahr werde ein 'glückliches und süsses'. Ich glaube,
der Genuss des Honigs zu Neujahr hängt mit dem chthonischen Kult zusammen, der im
späteren Judentume verschwunden ist. Auffallend ist bloss der Genuss von Lebkuchen
lêkach) bei den polnischen Juden.
268
Kohlbach:
Archiv für Anthropologie a. a. O.). Besonders reich verziert sind die
Barches zu Ehren des Tôrafestes, des jüdischen Faschings (Purim), bei
Hochzeits-, Circumcisions- und Erstgeburtlöse (Pidjôn habbên)-Mahlzeiten;
das Zopfgebäck ziert eine schmale Teigflechte, auf ihr sind Rosetten
und Schneckengewinde aus Teig angebracht; unter der Flechte stilisierte
Hände aus Teig und andere Zieraten.
Bei diesen Gelegenheiten gilt's nicht mehr, das Brotpaar der Bibel zu
vertreten; es wird bloss ein Zopfbrot gebacken.
IL. Namen und Ursprung des Zopfgebäckes (Barches).
Barches! Ein sonderbares Wort; es klingt hebräisch, und zwar als
im Jargon verderbter Plural des Wortes: berâcha (= Segen). Es ficht
uns dabei gar nicht an, dass es in manchen Gegenden berches heisst; dem
Jargon können wir ja soviel Sprachverderbnis zuschreiben. Und wir sind
gar bald mit der Etymologie fertig: Barches ist ein Backwerk, bei dessen
Genuss viele Segenssprüche rezitiert werden. Das klingt recht plausibel,
ist aber, wie wir wissen, grundfalsch, da wir beim Anschneiden bloss
einen einzigen Segensspruch hersagen. Ferner spricht auch gegen die
Abstammung des Namens aus dem Hebräischen, dass er bei den Juden
nicht allgemein ist, in den gemeingültigen Codices, wie in der Mischna,
im Talmud, Schulchan âriich usw. nicht vorkommt.
Nun gilt allgemein, dass barches, berchis mit dem deutschen Perchten-
brot identisch ist1). Ich verhalte mich dieser Erklärung gegenüber
skeptisch, weil ich weder um den Königssee, also um Berchtesgaden
herum, noch im Salzburgischen den Namen berchis für Gebildbrote gehört
habe; meinen Zweifel bestärkt Prof. Dr. Schermann, Direktor des königl.
ethnographischen Museums in München, der mir u. a. schreibt: „Obwohl
ich von vornherein an keinen Zusammenhang mit dem Perchtakult glaube,
habe ich eigens noch Frau Prof. Marie Andre e befragt und mir von ihr
bestätigen lassen, dass dieser Kult keinerlei Zopfbackwerke kenne."
Wir haben es hier mit einem Survival, einem Uberrest altjüdischen
Brauches zu tun, der, von griechisch-römischen Juden in germanische
Länder verpflanzt, seinen alten Namen challah verloren hat und für das
Gebildbrot den germanisch-heidnischen, der Göttin Berchta entlehnten
Namen rO'-ß (statt 'bercht' volksetymologisch: berchesz gelesen) ange-
nommen hat.
Die sog. Sephardîm lebten jahrhundertelang auf der pyrenäischen
Halbinsel und im Maghreb inmitten von Muhammedanern, seit der Ver-
1) Vgl. Grünbaum in Ztsch. d. deutschen morgenländ. Gesellschaft 31, 348 und be-
sonders Max Höfler oben 9, 444; 11, 193-201; 12, 88-89; 198-203; 430-432; 13, 391
bis 398; 14, 257—278; 434; 15, 312—321; 16, 65, 76; ferner im Archiv für Anthropologie
a. a. 0. und im Globus 80, 6.
Das Zopfgebäck im jüdischen Ritus.
269
treibung aus Spanien und Portugal (Ende des 15. Jahrhunderts) wieder
zumeist unter Moslimen in der Türkei, Vorderasien und Ägypten. Selbst
die in der Provence und Nordspanien unter Christen lebenden Juden
mussten die einstige Challah als Opfer vergessen haben und sie bloss als
Vertretung des lêchem mischne auffassen, weil ja weder das romanische
Christentum, noch der Islam das Haaropfer als Ersatz für das Frauen-
opfer der Heidenzeit kannten. Anders verhält es sich mit den mittel-
europäischen Juden, den sog. Asehkenâsim; diese lebten schon damals in
den römischen Kolonien, als die meisten germanischen Stämme noch
Heiden waren und die germanischen Frauen der Fruchtbarkeitsgöttin
ihre Zöpfe zum Opfer brachten; dieses Haaropfer ersetzte nach An-
nahme des Christentums das Zopfbrot. Die Jüdin fürchtete auch —
trotz des offiziellen Monotheismus — den Geburtsdämon und brachte
ihm vor der Trauung ihre Zöpfe zum Opfer, was das spätere Judentum
nach Analogie des Kultes der Dea Syriaca als Keuschheitssymbol (zeniûth)
auffasst.
Das Abschneiden des Haares blieb im orthodoxen Judentum bis heute
eine condicio sine qua non der Ehefrau; als Opfer jedoch verlor die
challah ihre Bedeutung, und der Begriff des Haaropfers verband sich mit
dem Brotpaare, das im sog. deutschen Judentume (deutsch-böhmisch-
polnisch-ungarisch) Zopfform hat.
Höchst wahrscheinlich haben wir es bei dieser Übernahme auch mit
Gefühlskundgebungen zu tun, wenn die jüdische Frau mit solcher Liebe
und Geduld ihre 'lieben Barches' geflochten und verziert hat. Was sie
zu Ehren des Sabbat- und Festtages nicht mit ihrer eigenen Frisur tun
konnte, denn sie war ja kurzgeschnitten unter dem 'Haarband'1), das tat
sie mit den Teigzöpfen. Sie machte die schönsten Frisuren; „die aus-
gezeichnetsten Zopfformen stellen die jüdischen Backformen auf. Diese
haben die eigentliche Zopfform — Haar-Zopftypus — am meisten zum
Ausdruck gebracht." (Höfler.)
Als altjüdisches, das Haaropfer ersetzendes Teiggebilde erwähnte ich
die challah, die aber in diesem Sinne bei den unter nicht-germanischen
Völkern lebenden Juden in Vergessenheit geraten ist, doch in der Tradition,
in der Mi sehn a noch fortlebt.
Wegen dreier Vergehungen — so heisst es in der Mischna Sabbat
(Ii, 6 und Sabbat 22a) — sterben die Frauen im Kindbette, weil sie nicht
genau auf die Menstruation, die Challah und das Lichterzünden (am
Freitagabend) achten. Menstruation (nidda) und damit verbundene Vor-
sichtsmassregeln gehören in den Kreis der Heilkunde und der Volks-
1) Das Haarband ist eine den Schädel bedeckende, eng anliegende Haube aus Seide;
gewöhnlich war vorne ein breites braunes Atlas- oder Seidenband mit einer Naht in der
Mitte, einer Nachahmung des in der Mitte gescheitelten Haares.
270
Kohlbach:
medizin. Vom Lichteranzünden sprach ich in Anlehnung an diese Mischila
in meinem Aufsatz 'Feuer und Licht im Judentume' (oben 23, 247ff.).
Challah bedeutet heute im Ritus — abgesehen von der Benennung
für das Brotpaar — eine Abgabe vom Teige auf Grund von Numeri
15, 19 —211). Die jüdische Wirtin wirft den Zipfel der Barches oder vor
der Formung des Teiges ein Stück davon ins Feuer, weil jetzt der
Opferkult aufgehoben ist und keine Priesterkaste da ist, um die vor-
schriftsmässige Abgabe vor Jahve zu verbrennen oder dem kôhên (Priester)
zum Genüsse zu übermitteln. Alle diese Abgaben sind nämlich dem
Laien verboten.
Nun soll die Frau für die Nichtbeachtung dieser Challah-Verordnung
verantwortlich sein, wo doch dieses Gebot eigentlich den Mann betrifft?
Mit nichten! Die Barches, im Hebräischen Challah, nunmehr mit dem
lêchem mischne verschmolzen, sind ein der Göttin der Fruchtbarkeit dar-
gebrachtes Frauenopfer auf Grund des Grundsatzes: in sacris simulata pro
veris accipi und mögen mit dem althebräischen Teräfim-Kult verbunden
sein2).
Die Frau war dem Geburtsdämon etwas schuldig; sie schnitt sich
vor der Trauung die Zöpfe ab, um sich in der schweren Stunde seine
Gnade zu sichern. Wir finden diese Sitte besonders im Kulte der Dea
Syriaca und des Adonis, wie Höfler (Archiv für Anthropologie a. a. O.)
ausführt: „Beim syrischen Adonisfeste mussten die Weiber entweder
ihre Haare abschneiden, oder den Fremden sich preisgeben"; — das
unbezopfte „unter die Haube gebrachte Haupt" war ein Zeichen der
Keuschheit. Auch die Bibel kennt ein Opfer der Kindbetterin, aber erst
nach der Entbindung (Leviticus 12). Dass es ein Sühn e opfer gewesen
ist, erhärtet der Ausdruck: vechipper olèhû ha-kôhên („und es entsühne
sie der Priester" oder wie Nachmâni die Stelle erläutert: er brinsre das
O
Sühnegeld ihrer Seele . . . denn Gott heilt den Körper und bewirkt
Wunder).
Der beleidigte Dämon konnte nicht bloss das Leben der Wöchnerin,
sondern auch das der Kinder gefährden. Die Jüdin war gewohnt, seit
Jahrhunderten sich das Haar abschneiden zu lassen; sie folgte jedoch
nicht dem Beispiele, welches die Griechin ihr gegeben hatte, die sich
1) Das Wort „challah" betrachte ich als Apposition von „arîszôthêchem" : „und es sei,
so ihr esset von der Frucht des Bodens, hebet ab eine Abgabe für Jahve. Das erste
Stück von eurem Challahteige hebet ab . . . (Numeri 15, 19). Ich verstehe unter challah
Kuchen, -wie z. B. Lev. 24, 5 usw. denn 1. war diese Abgabe Pflicht des Mannes; die
Frau konnte sie nur mit seiner Einwilligung bringen. (Schulchan ârûch, Jôrê dea
§ 328 1 u. 2.) — 2. Ist dieser Ritus heute nicht wichtig; selbst Bedienstete können ihn
besorgen (Mose Isseries zweite Note zu § 328, 3), und 3. gilt das Gebot der Challah-Abgabe
nur für Palästina. (Schulchan ârûch, Jôrê dea § 322, 2. und 3.)
2) S. Rubio, Kabbala und Agada in mythologischer, symbolischer und mystischer
Personifikation in der Natur (Wien 1895) S. 32 f.
Das Zopfgebäck im jüdischen Ritus.
271
die Zöpfe vor jeder Entbindung hat neuerdings abschneiden lassen
(Höfler a. a. O. S. 141). Sie übernahm freudig den Opferkult ihrer
germanischen Leidensgefährtin; die Challah verlor ihre einfache Brot-
form, und es wurde aus ihr das Zopfgebäck sowohl für Sabbat- und
Festtage, als auch — was weit wichtiger ist — bei Hochzeiten, Circumcisions-
Feiern und bei dem Lösefest der Erstgeborenen.
Die Mutter bringt jeden Freitagabend — der Freitag ist Yenus ge-
weiht — und an den mit dem Familienleben verbundenen, zumal das
Kind betreifenden Festmählern ihr Opfer dar, bäckt das Zopfgebäck, von
dem sie eine Abgabe ins Feuer geworfen hat. Die Opferfreudigkeit der
Mutter soll Anerkennung finden: Yon den sonst so verschlossenen Re-
dakteuren und Glossatoren der jüdischen Ritualcodices wird ein ganz un-
gewohnter Ton angeschlagen. Dort, wo wir es am wenigsten erwarteten,
zu den Paragraphen über das Anschneiden des Brotpaares (Schulchan-
ârûch: Orach-chajim § 274) bemerkt Abraham Gumbinner: „Es schickt
sich, der Mutter am Freitagabend die Hand zu küssen".
Die Jüdin von heute ahnt kaum, warum sie 'Barches' bäckt und
weshalb sie diese bis nach der Einsegnung des Sabbats (Kiddusch) ver-
hüllt. Eben derselbe Abraham Gumbinner bemerkt zu Orach-chajim
§ 180: „Das Brot muss während des Kiddusch verhüllt werden, damit
es sich nicht schäme". Was ist dies anderes, als die Personifizierung
des Gebildbrotes ? Wie man das kurzgeschnittene Haar der keusch-
frommen Grossmutter nicht sehen durfte, so verhüllten auch ihre
'lichtigen barchesl' ihre Zöpfe.
Im Alltagsleben verliert ja selbst das Heiligste die Weihe; was die
Opfernde selbst, weil's ihr zur Gewohnheit wurde, unbewusst verrichtet,
das fühlte noch der Poet, der lange in der Provinz unter dem Yolke
gelebt hat:
Frau Judiths Rabenhaare sind Gold und Güter wert,
Still weinend mit den Händen sie durch die Flechten fährt,
Dann greift sie nach der Scheere, ein rascher, scharfer Schnitt —
„Sie priesen meine Locken — sieh hier, ich schnitt sie ab, ....
O künde mir, du Frommer, du Mann mit Seherblick:
Wächst nie heran ein Kind mir als höchstes Mutterglück ?"
Josef Kiss, Judith Simon1).
Budapest.
1) Josef Kiss (sprich: Kisch). — Aus dem Ungarischen übersetzt von Ladislaus
Neugebauer in Maximilian Berns Deklamatorium (Reclam, Leipzig) S. 219.
272
Schoof:
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
Von Wilhelm Sclioof.
1. Hungerberg, Hoiiigberg und ähnliches.
In der Gemarkung Schweinheim (Unterfranken) sprudelt an einem
Hügel unterhalb eines Heiligenbildes ein Brünnlein hervor, dessen Quelle
sich lange Jahre nicht mehr gezeigt hat und daher im Yolksmunde das
Hungerbrünnchen genannt wird. Eine halbe Stunde mainaufwärts,
oberhalb Obernau, befindet sich ein trockener Graben, welcher der
Hungergraben genannt wird. Wenn aus dem Gebüsch des Grabens eine
Quelle hervorbricht, so deutet das nach einem alten Volksglauben auf ein
Hungerjahr. Im Jahre 1816 ist die Quelle zum letztenmal geflossen. Da
kostete das Laib Brot einen Gulden1).
Ahnliches berichtet B ir linger, Yolkstümliches aus Schwaben (Frei-
burg 1861) 1, 141 ff., 249 u. ö. über etwa 20 Hungerbrunnen in Schwaben2).
So bricht der Hungerbrunnen zwischen Altheim und Heldenfingen nur bei
anhaltendem Regenwetter oder nach nassen, milden Wintern hervor. Sein
Erscheinen gilt als ein günstiges Zeichen für die Fruchtbarkeit des Landes.
Der Hungerbrunnen bei Friedingen befindet sich auf der Gemarkungs-
grenze gegen Upflamör am Fusse eines Berges unter einer Eiche und
steht als Yerkündiger von Teuerung und Hungersnot bei den Anwohnern
in grossem Ansehen. Solche Sagen finden sich in allen Gegenden
Deutschlands verbreitet. Als Beispiel für Hessen mag das Hungertal im
Burgwald dienen, eine nordöstlich vom Christenberg gelegene, sich nach
Münchhausen zu erstreckende Bergschlucht. Dieses Tal bringt dieVolks-
sage mit der Eroberung der alten heidnischen Kesterburg (dem heutigen
Christenberg) in Verbindung, weil hier während der Belagerung eine be-
drängte Christenschar verhungert sei. In der Neuzeit wird das Hungertal
mit den Notzuständen im Dreissigjährigen oder im Siebenjährigen Krieg
in Beziehung gebracht, als die Bewohner der umliegenden Ortschaften in
dieses Tal geflüchtet und dort verhungert seien3).
1) Der Sagenschatz des Bayernlandes, 1. Unterfranken (Würzburg 1877) S. 55. —
2) Vgl. auch Grimm, Myth.3 1, 557; Sagen nr. 105; Runge, Quellkult S. 10; Schambach-
Müller, Niedersächs. Sagen S. 59 u. a. m. — 3) Kolbe, Der Christenberg im Burgwald
(Marburg 1895) S. 23.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
273
Da, wie man sieht, die letzten Bedrängnisse und geschichtlichen
Ereignisse die früheren im Gedächtnis zurückdrängen, so wurde der
Name einem neueren Ereignis zuliebe oft abermals umgedeutet, auf
das der lautliche Gleichklang hindeutete. So wird der Hungerberg bei
Münsingen auch Hunnenberg genannt, weil auf ihm einst Attila gelagert
haben soll1). Vgl. hierzu Schade, Altdeutsches Wörterbuch 1, 429:
'Heune, Hunne, auch Unger; Hunnenlant, auch Ungerlant1.
Es ist nun interessant zu sehen, wie die zugrunde liegenden laut-
lichen Bestandteile dieser sehr zahlreichen Flurnamen von der sagenhaften
Umdeutung des Yolkes so überwuchert worden sind, dass vielfach selbst die
Sprachgelehrten sich mit der nächstliegenden volksetymologischen Deutung
zufrieden gaben, ohne irgendwie auf den Ursprung des Wortes ein-
zugehen.
So sagt Müller2) bei der Erklärung des Namens Hungerborn:
„Hungerborne sind Quellen, die vermöge einer Eigentümlichkeit ihres
Grundwasserstandes in sehr trocknen (Hunger-)Jahren stärker als ge-
wöhnlich fliessen". Eine ähnliche Erklärung geben Miedel3): „Hunger
von Orten, die bei der Dürre austrocknen : Hungerau, Hungerbach,
Hungerberg, Hungerbrunnen", Wieris4): „Hungerborn, Bezeichnung für
eine Quelle, die im Sommer versiegt" und Beck6): „der Hungerberg,
jedenfalls wegen des unfruchtbaren Bodens; schliesslich mag auch an
Hungen, d. i. abgestandene Bäume gedacht werden". Buck") kommt
des Rätsels Lösung näher, wenn er die „zahllosen Hungerbrunnen und
Hungerbäche" als solche deutet, die nur in Hungerjahren (nassen Jahr-
gängen) fliessen, und wenn er vermutet, dass manche wohl auch umge-
deutet sind und früher anders lauteten. Noch näher rückt er der Wahr-
heit, wenn er weiter sagt: „Hunger — in vielen Flurnamen; von einer
alten Gepflogenheit der Hirten, das Yieh zu gewissen Zeiten in einen
umzäunten Ort zusammenzutreiben, den man Stelli oder Hungerplatz
hiess. Angeblich so, weil das Yieh hier nichts zu fressen bekam.
So müssen die vielen Hungerbühle, Hungerbäume usw. verstanden werden.
So verstehen es die Hirten in Oberschwaben jetzt noch. Dazu stimmt
auch, dass die Hungerberge häufig bei den alten Weidegründen liegen".
Diese Darstellung Bucks ist zweifellos richtig bis auf die sprachliche
Deutung. Er übersieht, dass bei dem Wort Hunger eine Volksetymologie
mit hineinspielt, nachdem die ursprüngliche Bedeutung des Wortes dem
Yolksbewusstsein frühzeitig verloren gegangen war. Erschwert wird die
1) Birlinger a. a. 0. 1, 249. — 2) Die Ortsnamen im Regierungsbezirk Trier. Jahres-
bericht der Gesellsch. für nützl. Forsch. 2, 50. — 3) Oberschwäbische Orts- und Flur-
namen (Memmingen, 1906) S. 14. — 4) Die Flurnamen des Herzogtums Braunschweig
{Braunschweig 1910) 1, 38. — 5) Die Ortsnamen des Pegnitztales und des Gräfenberg-
Erlanger Landes (Nürnberg 1909) S. 99. — 6) Oberdeutsches Flurnamenbuch (Stuttgart
1880) S. 119.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3. 18
274
Schoof:
Aufdeckung des alten Sinnes durch die Tatsache, dass der lautliche-
Gleichklang des angedeuteten Wortes zufällig demselben Vorstellungs-
kreis angehört, aus welchem das alte Wort hervorgegangen ist.
Dieses Wort ist ahd. untaron1), mhd. undern, altsächs. undorn, das
in Bayern, Franken, am Rhein, im Westerwald, in Friesland und den
Niederlanden, ferner in Oberhessen, im nördlichen Teil der Grafschaft
Ziegenhain, in der Gegend der untern Schwalm und Eder bis über
Gudensberg hinaus an die Grenze der niederdeutschen Bezirke noch vor-
kommt. Es wird meistens von dem Ruhen und der Ruhestätte des
Schäfers und der Schafe, seltener noch von dem Ruhen des Kuh- und!
Schweinehirten gebraucht2). Im übertragenen Sinn bezeichnet es dann
auch die Zeit8), vornehmlich von 11—4 Uhr, d. h. die Zeit zwischen
Mittag- und Yesperbrot, während welcher Hirte und Herdenvieh der
Mittagsruhe pflegt, auf der sogenannten Unnerstatt4), Ungerstatt oder
Hungerstatt oder dem Hungerplatz, der meist im Freien unter uralten,
schattigen Bäumen (den Hungerbäumen oder Honigbäumen) sich befindet,
aber auch eingezäunt sein kann. Endlich bezeichnet der substantivische
Infinitiv auch den Dünger oder den Mist, den das Vieh (vornehmlich
Schafe) zur Zeit seiner Mittagsruhe auf dem Hungerplatz zurücklässt
(im Gegensatz zum Perrich, dem bei der Nachtruhe zurückbleibenden
Mist). Da in der rheinfränkischen Mundart nd vielfach in ng, aber auch:
infolge von Assimilation in nn übergeht, so finden sich in der hessischen
Mundart Bildungen wie unnern, ünnern, onnern neben ungern und ongern,
in der Hersfelder bis zur Fuldaer Gegend unter abermaliger Angleichung
des r an das n auch Bildungen wie onnen (vgl. hersfeldisch: dä onnen
= um 4 Uhr) und unnen. Als dann bei zunehmendem Ackerbau und
der festen Besiedelung der Gegend die Erinnerung an die alte ger-
manische Weidewirtschaft in ihren Einzelheiten dem Volksbewusstsein
mehr und mehr entschwand, versuchte man, dem alten unverstandenen,
Namen einen neuen Inhalt zu geben, ihn sinnvoll wieder zu beleben,
und so wurde unter Mithilfe der Volksetymologie aus einer Ungerstatt
eine Hungerstatt, aus einem Unner- oder Unnergrund ein Hinnergrund,
hochdeutsch Hühnergrund, ja vielfach sogar durch Missverständnis oder
1) Schade, Altd. Wb. 2, 1052. Die Behauptung Schades, dass das Wort im eigent-
lichen Hessen nicht vorkommt, ist nicht richtig. Vgl. ferner Hess. Bl. f. Yolksk. 11, 112;
Yilmar, Idiot. S. 423; Pfister, Nachtr. S. 307f.; Crecelius, Oberhess. Wb. S. 842; Kehrein,
Volksspr. u. Volkssitte in Nassau S. 417; Schmidt, Westerw. Idiot. S. 128; Schmeller,
Bayr. Wb. 1, 87 u. a. m. — 2) So findet sich 1574 aus der Wetterau bezeugt: 'dass sie
daselbst auf dem Bein undt Anwendt geundert und ir Kesebrot gessen' (Landau,
Einige sprachliche Beiträge, Ztschr. f. hess. Gesch. 6, 215). — 3) Daher noch vielfach
Idiotismen wie Unnerskirch (Nachmittagsgottesdienst), Unnernbrod (Vieruhrbrod), Unnern-
trunk (Bier, welches dem Personal nachmittags zum Vesperbrot gereicht wird) u. ä. Vgl.
Vilmar a. a. O. S. 423. — 4) So findet sich im Kellerwald eine Oberurfer und eine Dens-
berger Unnerstatt (Vilmar a. a. O. S. 423), bei Langenschwalbach eine Gemarkung öwwe
der unner (Crecelius a. a. 0. S. 842), bei Obergrenzebach eine Ungerstatt usw.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
275
bewusste Verdrehung von Katasterlandmessern Hintergrund, wobei die
Komposition Hinner als mundartliche Form für hinter aufgefasst wurde.
Wie weit hier die volkstümliche und amtliche Umdeutung manchmal
geht, dafür einige Beispiele. Ganz einsam an der alten Heeresstrasse
von Mainz nach Limburg an der Lahn steht an der Nordseite der
Libbacher Haide die Hüner- oder Hünenkirche, in deren Nähe der
Hüner- oder Hunenberg ist. 1525 wird sie die Kirche unserer lieben
Frauen zum Honerberg, später die Hühnerkirche am Hühnerberg genannt1),
während das Volk dafür richtig Hoinjerberg, Hoinjerkirche spricht. Da
die westerwäldische Volkssprache statt hühner hoiner gebraucht, glaubten die
Landmesser eine hochdeutsche Übersetzung zu geben, indem sie die
Namen als Hühnerberg oder Hühnerkirche auf die Karten übertrugen.
In der Gemarkung Sandlofs, Grafschaft Schlitz, befindet sich ein Flur-
name, der im Volksmund Hengerspitz, in den Katastern Hühnerspitz
lautet2). Obwohl mir urkundliche Belege nicht zur Hand sind, steckt
darin, wie es den Anschein hat, eine ältere Form Unner- bzw. Hunger-
spitz8), d. h. Acker in einer Landspitze oder auf einem spitz zulaufenden
Berge, auf welchem sich ehemals die Gemeindehute befand, wo das
Herdenvieh seine Unnerstatt hatte. Es liegt hier volkstümliche und
amtliche Umdeutung vor, indem das Volk mit Hungerspitz nichts an-
fangen konnte und daraus Hengerspitz, d. i. Hinterspitze machte, weil
die Äcker zufällig hinter dem Kirchhof lagen, und indem der Land-
messer wiederum Henger als mundartliche "Wiedergabe für neuhochd.
'Hühner' auffasste. So wurde hier eine Zufälligkeit, nämlich die ört-
liche Lage der Flur, als Einschlag benutzt und damit der Name in einen
ganz anderen Vorstellungskreis hineingebracht, auf den vielleicht der
lautliche Gleichklang (hunger und henger) nicht ohne Einfluss war.
Der lautliche Gleichklang gewisser Worte spielt bei der Umdeutung
überhaupt eine nicht geringe Rolle. Hungk bedeutet in der hessischen
Mundart soviel wie Honig. Ein Acker, auf dem früher vor der Urbar-
machung das Gemeindevieh 'unnerte' oder 'ungerte', d. h. Mittagsrast
hielt, heisst in der Gemarkung Bernshausen, Grafschaft Schlitz4), im
Volksmund Hunkaker, im Messbuch von 1584 aber Honigacker. Hunk-
acker aber lautet, wo nd nicht zu ng wird, Hundacker5), Hunenacker,
Hünenacker, Hüneracker u. ä. in. Wie aus dem Schindberg der Ur-
kunden, dem Schengbärk der Mundart ein 'Schernberg', so wurde hieraus
ein 'Honigacker'. So erklären sich zahlreiche Flurnamen in Hessen
sowohl wie in Nassau, z. B. Honigberg, Honigfeld, Honigbaum (d. h. der
1) Kehrein a. a. 0. S. 217 u. 300. — 2) Hotz, Die Flurnamen der Grafschaft Schlitz
S. 38. — 3) Zu 'spitz' vgl. Buck a. a. 0. S. 264. Es findet sich u. a. in dem Namen der
Kircfispitze bei Marburg, 1625 zu der spitzen kirchen. — 4) Hotz a. a. O. S. 13. — 5) Vgl.
dazu meine Abhandlung über den Namen 'Hundsrück' in 'Hessenland' 1912 S. 347ff.;
Hess. Bl. f. Volksk. 9, 225ff.; Zs. f. rhein.-westf. Volksk. 11, 93ff.
18*
276
Schoof:
alte schattige Baum, unter welchem das Gemeindevieh 'unterte'), Honig-
born, Honigrück, Honigstück, Honigwies, Honigheck, Honiggewann usw.,
welche nach dem Glauben des Volkes (nomen est omen!) sich durch be-
sondere Fruchtbarkeit auszeichnen. Es ist jedoch noch eine zweite Er-
klärung möglich. Neben Hungerberg, Hunenberg u. ä. findet sich eine
volkstümliche Bildung Hungerich1), Hunich, Hünich2), aus älterem Hunger-
(ber)ich, Hun(enber)ich, Hün(enber)ich entstanden, so dass Honigwiese aus
Hünichwiese umgedeutet und die Wiese am Hungerberg bedeuten würde.
Wie aus dem Undern- bzw. Unnernberg ein Undersberg (z. B. der
Undersberg bei Salzburg, der im 16. Jahrhundert noch Underberg, auch
Wunderberg3) heisst), Hungerberg, Hühnerberg und Honigberg werden
konnte, so wurde- aus älterem Hungersteinau (Kr. Schlüchtern) Hinter-
steinau, aus Hungerwiesen, Hungerberg, Hungerbach offiziell Hinter-
wiesen, Hinterberg, Hinterbach (zwischen Hainzell und Schletzenhausen),
aus Hungerliede (bei Niederschmalkalden)4) offiziell Hinterliede, aus
Hungerbuche (zwischen Sickels und Johannesberg, Kr. Fulda) offiziell
Hinterbuche usw. Ähnlich auch Hintergrund (östlich yon Licherode)
und Hinterberg im Lohner Holz (südöstlich davon jetzt entsprechend ein
Yorderberg).
Weiter geht die Umgestaltung von Hungerberg zu Hummelberg, wie
Buck a. a. O. S. 118 bestätigt, indem er sagt: „Doch kenne ich mehrere
Hummelberge, die ^früher anders hiessen, einer z. B. 1490 Hungerberg".
So dürften vielleicht auch die ebenda angeführten Namen Hummelweide
aus Hungerweide, [in der] Hummelsklingen (klinge = Graben, Schlucht)
aus Hungersklingen umgedeutet sein. Ob bei der Umdeutung das
schwäbische Wort Hummel, das soviel wie 'Zuchtstier' bedeutet, und die
Erinnerung an ehemalige Rinderweiden mitgewirkt hat, oder ob das Wort
Hummel = Biene mit hineinspielt und damit nur ein weiteres Glied in
der Kette der Entwicklung von Hungerberg und Honigberg5) 'zu Hummel-
berg gegeben ist, wie dies bei den nassauischen Flurnamen6) in der
Hummel, Hummelweg, Hummelwies, Hummelkeller, Hommelstruth der
Fall zu sein scheint7), lässt sich ohne urkundliche Belege nicht ohne
weiteres entscheiden. Nur soviel steht fest, dass auch hier die Entwick-
lung noch nicht halt gemacht hat, sondern dass diese Namen zuweilen eine
nochmalige Umdeutung amtlicherseits erfahren haben. So findet sich
neben dem volkstümlichen Flurnamen uffr Hummelslieden in der Ge-
markung Schlitz8) 1521 urkundlich uffr Homanslieden, ebenso neben
1) Z. B. Hungrigwolf, Hunnigstock, Hunnigwies (Kehrein a. a. O. S. 464). — 2) Z. B.
das Hiinich bei Treischfeld. — 3) Ygl. Grimm, Myth. 3 1,536; Schmeller, Bayr. Wtb. 1, 116.
4) Dsgl. am Nordabhang des Hunsrücks bei Eschwege. — 5) Vgl. der Honig 1366,
Flurname iu Ulm (Buck a. a. 0. S. 114) u. ä. — 6) Kehrein a. a. 0. S. 461/62. —
7) Ahnlich in Hessen in der Hummeln 1551, Gemarkung Veckerhagen (Gieselwerdersches
Saalbuch von 1551), die Hummelskuppe bei Rückers, Kr. Hünfeld, der Hummelskopf bei
Diethershan, Kr. Hünfeld usw. — 8) Hots a. a. O. S. 5.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
277
Humelsgrond 1521 Homansgrundt, während ein Kataster von 1584 in der
Hömels Heyde aufführt, dem die volkstümliche Form in der Hummels-
heide entsprechen dürfte.
Zu den bewussten oder willkürlichen Umgestaltungen von altem
Sprachgut zählt auch die vermeintliche Übertragung ins Hoch-
deutsche. Sie gehört in das Kapitel der offiziellen oder, wie
Wundt1) sagt, der gelehrten Umdeutung. Hierher gehören Namen
wie Unterfeld, Unterndorf (bei Betziesdorf), Unternstadt (bei Bracht),
das Unterfeld (bei Niederwalgern), der Unterkopf (bei Oberwalgern),
Unternberg (bei Winnen), der Untergrund (bei Gehau), der
Unterteich (bei Wasenberg), die Unterau (bei Gungelshausen) usw.
Vgl. Kehrein a. a. O. 3, 586. So wird die urkundlich bezeugte Form in
der Underaw (1584) irn Schlitzer Volksmund an den Begriff 'unter' an-
gelehnt und dementsprechend zu Engerau, in der Katastersprache zu
'Vorderau'. Ähnlich wird ein altes Unterfeld, d. h. ein Feld, wo das
Gemeindevieh in alter Zeit zu 'untern' pflegte, zu einem 'Unterfeld' (im
Gegensatz zu einem 'Oberfeld'), ja sogar zu einem 'Niederfeld' (z. B. bei
Hümme).. Vielleicht dürften auch Flurnamen wie Ruhborn (z. B. im
Lohner Holz), Ruhbach (bei Ebsdorf), Ruhlaub2) (z. B. bei Oberbeisheim),
Ruhleib (z. B. im Forst Elberberg-Ziegenhagen) und Ruhstatt (öfter) sowie
Ruhstattsgehege sich als 'hochdeutsche' Verballhornisierungen entpuppen.
Ursprünglich hat sich die Bezeichnung noch erhalten in 'das alte Under',
Wald bei Schönbach, und im Untern, Gemarkung bei Ebsdorf, während
sie in Namen wie das Unterstefeld (bei Steina, Caldern, Cölbe), auf der
Unterstebach (bei Lohra), das Unterstebruch (bei Wollmar) superlativische
und in Namen wie der Ungernzeif (bei Sachsenhausen, Kr. Ziegenhain)
und die Ungerbornswiesen (bei Wiera) dialektische Färbung ange-
nommen hat.
In allen diesen Fällen ist die ursprüngliche Bedeutung dem Volks-
bewusstsein verloren gegangen. Altes, nicht mehr verstandenes Sprachgut
ist infolge von Lautvermengung oder äusserer, oft rein zufälliger Ein-
wirkung an neue Begriffe, die entweder demselben oder einem ganz
anderen Vorstellungskreis entspringen, angelehnt und umgedeutet worden,
teils unbewusst (volkstümliche Auffassung), teils bewusst (gelehrte Auf-
fassung). Auf die volkstümliche Umgestaltung hat bei der schier uner-
schöpflichen Phantasie des Volkes auch die Sage einen nicht geringen
Einfluss. Denn diese ist nach Regell3) nichts anderes als ein poetischer
Versuch, den abgestorbenen Namen sinnvoll wieder zu beleben und 'nur
1) Völkerpsychologie l1, 573 ff. — 2) Nach Vesper, Der Kreis Homberg (Marburg
1908) S. 117, ein kronenreicher Baum, unter dem die Herden ausruhten, oder eine baum-
schattige Trift. — 3) Paul Begell, Etymologische Sagen aus dem Riesengebirge
(Germanist. Abhandl. Heft XII. Beiträge zur Volkskunde, Festschrift für Karl Weinhold.
Breslau 1896).
278
Schoof:
selten ist dabei die Dichtung rein aus dem Namen herausgesponnen, viel-
mehr sind meist geschichtliche Erinnerungen, die um die Ortlichkeit
schweben, als Einschlag benutzt'. So erklären sich sowohl die am Ein-
gang mitgeteilten Sagen über die zahllosen Hungerbrunnen und
Hungerbäche, die sich überall in ähnlicher Weise wiederfinden, als
auch die sogenannten Hünen- oder Riesensagen (Hünenburg, Hüftenring,
Hünstein, Hünengräber), zuweilen mit Anlehnung an geschichtliche Er-
innerungen (Hunnenberg, Hunnenburg neben Hungerberg und Hunger-
burg). Ygl. dazu oben S. 273 das über den Hungerberg bei Münsingen
Gesagte. Die Entwicklung von Hungerberg zu Hunnenberg wurde, wie
auch schon oben angedeutet, durch die Auffassung von der Identität der
Hunnen und Ungarn, des Hunnenlands und Ungarnlands begünstigt,
während die Entwicklung von Hühnerkirche zu Hünenkirche1), Hühner-
graben zu Hünengrab(en), Hühnerberg zu Hünenberg und Hunnenberg
sich leicht ergab. Ygl. J. Hoops, 'Hunnen und Hünen' (Germanist. Ab-
handlungen, Hermann Paul dargebracht, Strassb. 1902 S. 178 ff.). Vielfach
berühren sich auch die mit Hünen — Hunnen — zusammengesetzten
Namen mit solchen wie Hundsbach,Hundswinkel, Hundsrück,Hundsburg u.a.
So ist nach Kolbe2) der Name der Hundsburg im Burgwald aus Hünen-
burg entstanden, und am Abhang des Berges, auf dem die Burg stand,
befinden sich noch heute Hünengräber. Nach einer Volkssage hätten
dort einst Riesen gewohnt, welche in die Täler herabgekommen wären und
den Ackerleuten die Pflugscharen zerbrochen hätten. Die Hünen oder Riesen
aber sind nach der Volksauffassung identisch mit den Heiden, und so
spielt hierein zugleich der Kampf zwischen Christentum und Heidentum.
Der Name hat aber ebensowenig wie der der Hünenburg bei Spangen-
berg (1540 Hueneburg), Felsberg und Melsungen3) und der Hunnenburg
bei Niederbeisheim und bei Rossberg mit den Hünen oder Hunnen, wie
Arnold und Kehrein4) annehmen möchten, etwas zu tun, wie überhaupt
das Heranziehen von germanischer Sage und Mythologie5) zur Erklärung
von Orts- und Flurnamen nach dem heutigen Stand der Namenforschung
als ein methodischer Fehlgriff angesehen werden muss, der nur irreführt
und niemals zu dem innersten Kern der ursprünglichen Namensform hin-
zuleiten imstande ist. Ich habe mich dazu an anderer Stelle bereits
geäussert8) und hoffe darauf in anderm Zusammenhang noch näher ein-
zugehen.
Wenn wir das Gesagte noch einmal zusammenfassen, so ergeben sich
an der Hand der gesammelten Belege7) folgende Schichten:
1) Kehrein a. a. 0. S. 300. — 2) Der Christenberg im Burgwald (Marburg 1895) S. 17.
B) Arnold, Ansiedlungen und Wanderungen S. 477. — 4) A. a. O. S. 297, 300, 464 u. ö.
5) Ygl. dazu Kehrein a. a. 0. S. 298. — 6,) Ztsch. für den deutschen Unterricht 1912,
S. 904 ff. 7) Nach der kurhessischen Generalstabskarte in 40 Blättern 1:50000 (hrsg.
yom Bureau des kurf. hess. Generalstabes 1840 — 1855) und nach einer handschriftlichen
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde. 279
1. Die ursprüngliche Namensform ist, zuweilen in dialektischer
Färbung, erhalten geblieben. Beispiele: Unerhecke (nö. von Welkers,
Kr. Fulda), Undernstatt (bei Oberurf und bei Densberg im Kellerwald).
2. Die ursprüngliche Namensform ist lautlich und begrifflich an neu-
hochdeutsch 'unter' angelehnt: Understätte (bei Dagobertshausen, Kr. Mel-
sungen, nahe an der Beise), Unterfeld, in der Nähe ein Mittelfeld (zwischen
Dagobertshausen und Malsfeld), desgl. zwischen Friedlos und Reilos,
Kr. Hersfeld, südlich von Fritzlar, nördlich von Wanfried, bei Gittersdorf,
Kr. Hersfeld (dicht dabei ein Weinberg, d. h. Weideberg), bei Holzhausen
(Reinhardswald), das untere Feld bei Edelzell (in der Nähe ein Mittel-
feld), Unterau bei Heinebach (Kr. Rotenburg) und Dankmarshausen (dicht
dabei ein Weinberg)1), nördlicher Teil der Au, während der südliche jetzt
Oberau heisst, Unterberg und Unterbeerberg, nördlich von Brotterode.
Beweis für die Angleichung an 'unter1 bilden Dialektübertragungen wie
Engerau u. a.
3. Es findet willkürliche Übertragung in den synonymen Wortschatz
von nhd. 'unter' statt: Niederfeld (bei Hümme), Yorderau (Grafschaft
Schlitz).
4. Es findet sinngemässe Übersetzung des ursprünglichen Ausdrucks
in den entsprechenden neuhochdeutschen Ausdruck statt: Ruhestatt, Ruhe-
born, Ruhlaub, Ruhleib.
5. Es findet Neuschöpfung statt infolge von Wortvermengung und
Ideenassoziation:
a) Underberg > Wunderberg2) (bei Salzburg),
b) mundartlich Ungerberg > Hungerberg (z. B. bei Niederaula, bei
Wabern und öfters im Kreis Hünfeld), vgl. auch die Hungerburg über
Innsbruck, analog Hungertal (z. B. bei Todenhausen und bei Münchhausen,
Kr. Marburg), Hungergraben (z. B. bei Halsdorf, Kr. Kirchhain), Hunger-
born und Hungersborn (bei Sielen, Kr. Hofgeismar, bei Ehlen, Kr. Wolf-
hagen3), bei Frankershausen am Meissner), Hungerbach (bei Sielen,
Kr. Hofgeismar), Hungerstück (bei Unterstoppel, Kr. Hünfeld), Hunger-
rain und Hungerhecke (bei Grossentaft, Kr. Hünfeld), vielleicht auch
Hungershausen < Hungershusen 1275 (Wüstung bei Kleinalmerode, vgl.
am Hungershäuser Berg) und mhd. hungebluome, das Kehrein a. a. 0.
S. 464 nicht erklären kann.
c) mundartlich Ungerburg > Ungarburg und, infolge der vermeint-
lichen Identität von Ungarland und Hunnenland, :> Hunnenburg, Hunen-
Sammlung: Flur- und Waldnamen der Kreise Frankenberg, Kirchhain, Marburg, Ziegen-
hain, gesammelt durch die Ortsvorsteher auf Veranlassung von Edgar Mühlhause etwa
1861/62 (Marburger Staatsarchiv). — 1) Vgl. hierzu die Bemerkung Bucks a. a. 0. S. 119,
wonach die Hungerberge häufig bei den alten Weidegründen liegen. — 2) Vgl. dazu die
analogen Umbildungen Venusberg < Weinberg d. h. Weidenberg, z. B. am Altvater, der
mehrere 'Weinberge' hat, Simonsberg < Senneberg, hohe* Sonne < hohe Senne usw.;
unten S. 281 f. — 3) Gegenüber auf der Südseite des Sommerbergs ein Silberborn.
280
Schoof:
burg, Hünenburg, z. B. Hunnenburg und Hunnenburgsfeld mit altem
römischen Kastell bei Butzbach, Hunnenburg, Wiesen bei Mardorf (Kreis
Kirchhain), Huneburg bei Wasungen, Hunnentriesch (zwischen Körnbach
und Leimbach, Kr. Hünfeld), Hünenburg (zwischen Eiterhagen und Röhren-
furth, Kr. Melsungen), Hünenstein mit Honiggraben (bei Obermelsungen),
Hünstein mit Hünhof und Hüntränke bei Gladenbach1), ferner zwischen
Frankenau und Löhlbach, Hünberg mit Hünborn, Hünstrasse und Hünich
zwischen Grossentaft und Soisdorf, Kr. Hünfeld usw.
d) Hunnenbach > Hundebach, indem 'Hunde' als vermeintliche hoch-
deutsche Übersetzung von Hunne angesehen wurde, z. B. Hundebach in
de;r Bunstruth, Hundekoppe, Wiese bei Löhlbach, Kr. Frankenberg,
Hundewiesen, am rechten Ufer der Fulda, Connefeld gegenüber, Hunde-
berg bei Oberrosphe, Kr. Marburg, Hundsbrunnen nw. von Kissingen,
auf dem Hundsbusch bei Grossseelheim, Kr. Kirchhain, Hundsbrücke,
Waldort am Heiligenberg, Hundsberg bei Burghasungen, Hundsfeld bei
Hammelburg usw. Es findet hier Berührung mit den aus hunt 'Hundschaft,
Unterabteilung eines Gaues' gebildeten Namen statt.
e) Hünenberg, Hünenburg > Hühnerberg und Hühnerburg, wahr-
scheinlich infolge willkürlicher Umdeutung, vielleicht auch mit begriff-
licher Nebenassoziation infolge volkstümlicher und amtlicher Umdeutung
zugleich, wofür die grosse Zahl von Belegen spricht. Beispiele: Hühner-
berg (südlich von Mecklar, im Habichtswald, bei Sontra, bei Hergers-
hausen, zwischen Rothenkirchen und Burghaun, zwischen Landefeld und
Metzebach, bei Melnau), Hühnerkopf2) (zwischen Hausen und Ersrode,
Kr. Rotenburg, im Forst Wildeck, zwischen Langenbieber und Dipperz,
zwischen Ronshausen und Machtlos, Kr. Rotenburg), Hünerburg (westlich
von Beuern, Kr. Melsungen), Hühnerküppel (östlich von Fulda), Hühner-
feld (östlich von Lutterberg, Kr. Kassel), Hühnerbalz3) (westlich von
Züschen, Kr. Fritzlar, bei Frankenau, Kr. Frankenberg [aufm Hühnerbalz],
nördlich von • Holzheim, Kr. Hersfeld), Hühnerdreck (bei Amöneburg),
die Hühnerecker (bei Röllshausen, Kr. Ziegenhain), Hühnerbachstal (bei
Josbach, Kr. Kirchhain), Hühnerhecke (bei Frankenau), Hühner Hütte4)
(zwischen Bottendorf und Bringhausen, Kr. Frankenberg), Hühnergrund
(zwischen Allmershausen und Hof Hälgans, Kr. Hersfeld), Hühnerkirche usw.
f) Hünberg > Huhnberg, wohl infolge willkürlicher Umbildung.
Beispiele: das Huhnloch (bei Sindersfeld), wobei loch im Sinne von lucus
'Wald' steht, der Huhnscheid (bei Ellershausen, Kr. Frankenberg), die
1) Ygl. Bork, Streifzüge durch den Kreis Biedenkopf (Marb. 1884) S. 49. — 2) Auch
Hühnerkropf (z. B. hei Thalau). — 3) Ygl. dazu meine Abhandlung über den Namen
Hundsrück (Hessenland, 1912, S. 383 u. 384). Als Grundbedeutung des Flurnamens Pfalz
ist 'Pfahlburg, Pfahlbezirk', mlat. palantium anzunehmen, nicht, wie die herrschende An-
nahme vielfach ist, lat. palatijim. Vgl. auch Kluge, Etymol. Wtb. (Strassb. 1883) S. 251. —
4) Hütte hier wahrscheinlich umgedeutet aus Hute wie in Hüttenbach, Hüttental, Hütten-
grund u. a.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
281
Huhnsmühle (ebenda), der Huhnspfad (bei Frankenau) usw. Es findet
sich hier vielfach Lautvermengung mit germanisch hiin 'hoch'.
6. Es findet falsche Dialektübertragung infolge von missverstandener
Auffassung des mundartlichen Ausdrucks statt:
a) Hühner, mundartlich Hiner, wird zu hochdeutsch Hinter, wahr-
scheinlich durch offizielle Umgestaltung, vielfach auch infolge begrifflicher
Nebenwirkung: Auch Hunger, mundartlich honger, hat durch Anklang an
mundartliches henger (= hinter) Anteil an dieser Umdeutung, wie Hunger-
steinau > Hintersteinau beweist. Beispiele: Hintergrund (öfter), Hinter-
berg1) (im Lohner Holz bei Fritzlar), Hinterfeld (bei Wolfhagen), Hinter-
bach, auch Hinternbach (bei Bauerbach, Kr. Marburg, bei Lohra),
Hinderhain (bei Bellnhausen, Kr. Marburg), Hinterloh (bei Heskem, Kreis
Marburg), Hinterwiese (bei Itzenhain, Kr. Ziegenhain), Hinterbergswiese
(bei Zella, Kr. Ziegenhain), der Hintersprung (bei Todenhausen, Kreis
Marburg), Hinterliede (am Nordabhang vom Hunsrück bei Eschwege),
Hinternest (südlich von Steckeishausen), das Hinterscheid (bei Roda,
Kr. Frankenberg) usw.
b) Mundartliches Hungk = Honig gibt Anlass zu der Umdeutung
von Hungkacker in Honigacker. Der Volksglaube von der Fruchtbarkeit
des Bodens im Gegensatz zu dem höher gelegenen Hungeracker mit un-
fruchtbarem Boden erleichtert solche Umbildungen. Beispiele: Honigberg
(bei Eschwege, Connefeld, bei Wipperode2), Kr. Eschwege), Honigbreite3)
(im Solling), Honigbach bei Rosental, Honigacker (bei Burgholz, Kreis
Kirchhain, und bei Bürgel, Kr. Marburg), Honigweg4) (östlich von Peters-
berg, Kr. Fulda), Honigholz (zwischen Balhorn und Sand, Kr. Wolfhagen),
der Honigbeerengarten (bei Allendorf, Kr. Kirchhain), Honiggrund (bei
Rosental), Honigwiesengrund5) (bei Elnhausen, Kr. Marburg) usw.
Vgl. unten den Nachtrag S. 319.
2. Weinberg, Winterberg, Venusberg.
Wie Arnold in seinem Werke 'Ansiedlungen und Wanderungen
Deutscher Stämme' (Marburg 1881) ausführt, waren die Germanen beim
Eintritt in die Geschichte noch viel mehr ein Jäger- und Hirtenvolk als
ein ackerbautreibender Stamm. Bis der Ackerbau vorwiegend ihre Lebens-
beschäftigung wurde, hat es noch Jahrhunderte gedauert, wahrscheinlich
bis zu den Klöster- und Städtegründungen, die einen gesteigerten Acker-
bau nicht bloss verlangten, sondern zugleich auch lohnender und leichter
1) Südlich davon ein Vorderberg, ähnlich wie dem Hungeracker ein Honigacker,
dem Winterberg ein Sommerberg, dem Hungerborn ein Silber- oder Goldborn, dem Höllen-
grund ein Himmelreich gegenüber zu liegen pflegt. — 2) Dicht dabei eine Feldflur der
Weinberg. — 3) Vgl. dazu Hunger breite. — 4) Dicht dabei Gemarkung die Hutweide. —
5) ufi' dem Honigbaum (Rachelshäuser Saalbuch von 1551).
282
Schoof:
gestalteten. Arnold nimmt an, dass die alte Weidewirtschaft bis zum
Ende des 5. Jahrhunderts fortgedauert hat: eine überwiegend nomadische
Viehzucht mit ausgedehnten Weidegründen, eine Weidewirtschaft, bei
welcher an erster Stelle die Schweine, an zweiter die Pferde, an dritter
die Rinder und Schafe kamen.
Dass die Weideplätze — Bergeshänge wie Talgründe — in grosser
Zahl und über weite Gebiete verbreitet gewesen sein müssen, darauf lässt
die reiche Synonymik für den Begriff 'Weide' und für die damit in engem
Zusammenhang stehenden Bezeichnungen schliessen, die uns ein Stück
Kulturgeschichte erschliesst und, teilweise bis zur Unkenntlichkeit ent-
stellt, noch heute in den Flurnamen fortlebt.
Als die Weidegründe mit der veränderten Kultur und der fort-
schreitenden Besiedelung immer mehr beschränkt wurden und dem Acker-
bau Platz machen mussten, begannen damit auch die Namen, welche altes
Weidegut bezeichneten, mehr und mehr zu schwinden und den folgenden,
in neuen Kulturverhältnissen aufgewachsenen Generationen unverständlich
zu werden. Die Folge davon war, dass die Erinnerung an die frühere
Verwertung des Bodens im Volke erlosch, und dass die Namen, welche
noch daran hafteten als Zeugen einer früheren Kulturperiode, dem Volke
unverständlich wurden, weil sie keinen Sinn ergaben, der zu der Nutzung
des Bodens passte. Daher fielen diese Namen meist volksetymologischen
Umdeutungen zum Opfer, indem das unverständlich gewordene Wort infolge
von Laut- und Begriffsassoziation an ähnliche Begriffe und Worte ange-
lehnt wurde, die nach der volkstümlichen Auffassung in einen äusseren,
oft rein zufälligen Zusammenhang mit der Örtlichkeit gebracht werden
konnten. So finden sich Anlehnungen des alten, der lebendigen Volks-
sprache entfremdeten Namens an die Tierwelt, an mythologische Gestalten,
Sagen, geschichtliche Legenden, neuere Kulturverhältnisse, Eechtsleben usw.
Nicht selten ist ein Name mehrfach umgedeutet worden (ältere und
neuere Schicht), und zwar besonders dann, wenn Ereignisse eintraten,
welche die Volksphantasie so stark beschäftigten, dass sie ihren Nieder-
schlag in Namen fanden, die bisher ähnlich klangen wie die aus dem
Vorstellungskreis des Volkes.
Es darf daher als eine grundlegende Regel der Flurnamenforschung
angesehen werden, dass Örtlichkeiten, welche nach rein äusseren, zu-
fälligen Merkmalen benannt sind, in der Regel aus einer älteren Namens-
schicht umgedeutet worden sind und dass der Namenforscher nicht ohne
weiteres den Sinn, den das naive Sprachempfinden des Laien mit einem
Namen verbindet, als massgebend für die Deutung eines Namens ansehen
darf.
Ein interessantes Beispiel hierfür bietet uns das ahd. win, winne, got.
vinja, pascuum, Weide, Weideplatz. Wir können hier folgende Schichten
der Umdeutung wahrnehmen:
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
283
1. Die ursprüngliche Form blieb erhalten.
2. Es trat Lautvermengung mit ahd. win 'Wein' und ahd. weida
'Weideplatz, Futterplatz' ein.
3. Es trat Yermengung (lautlich und begrifflich) mit ahd. wint'Wind'
und ahd. wintar 'Winter' ein.
4. Es fand dialektische Angleichung statt (Wenge, Winge),
5. Es fand Dialektübertragung' ins Hochdeutsche statt (Wenigen).
6. Es fand Angleichung (begrifflich und lautlich) an ahd. wentan
'umwenden, roden' statt.
7. Es fand Angleichung an ahd. swendan bzw. firswenden 'ver-
schwinden machen, vertilgen, ausrotten' (exstirpare) statt.
8. Es fand Umdeutung aus einem ganz andern Yorstellungskreis statt:
a) unter dem Einfluss von örtlichen Nebenumständen,
b) unter dem Einfluss von geschichtlichen Legenden,
c) unter dem Einfluss von Sage und Mythologie.
Die ursprüngliche Form winne mit der sinnverwandten Form wunna
findet sich in Hessen1) erhalten in Namen wie die Winne, Heide am
Wald bei Viesebeck im Amt Wolfhagen, ebenso Hof bei Schmalkalden,
Winnen, Dorf bei Marburg, ebenda die Winnerhöh, Winnerod, Dorf bei
Grünberg, die Winnewiese beim Winnenhof im Fuldischen, fast ganz im
Wald, die Winneliete, abhängiges Feld beim Hof Winnen nächst Herren-
breitungen, Winneberg, Winnebach usw.; in Nassau2): Winnhöll, Winn-
auerberg, Winning; in Thüringen3): die Wonne, Wiesenland nach Ohrdruf
hin, das von der Wonne, einem Zufluss der Ohra, durchflössen wird, die
Wunn, Wiesen in der Flur Wechmar (Amtsgerichtsbezirk Ohrdruf), 1641
uf der Wonne, der Winneweg; in Oberdeutschland, wo nach Buck, Obd.
Flurnamenbuch (Stuttg. 1880) S. 305 wunn unzähligemal in Urkunden
vorkommt, ist Himmelwune (1250) Name eines Klosters. Zu Winne neben
Wonne vgl. Senne ('Rinderweide', mhd. senidi) neben Sonne, z. B. Hohe
Sonne (in Thüringen), Sonneberg, Sonneborn, Sonnenthal usw. Auch das
Winnefeld im Teutoburger Walde gehört hierher.
Während die unveränderte Form sich noch verhältnismässig selten
findet — denn nur da erhielt sich in der Regel der Name, wo die Lage den
Anbau entweder gar nicht oder erst spät vorteilhaft erscheinen liess — sind
die Umdeutungen äusserst zahlreich, besonders, wenn wir noch die Fälle
hinzunehmen, deren Aufhellung zunächst zweifelhaft bleiben muss. Hierher
gehören die Umdeutungen von ahd. win zu win'Wein', während der kurze
ahd. Selbstlauter sich als kurzes i hätte erhalten müssen (wie in Winne-
berg). Hier ist es, zumal in Gegenden, die von alters her durch den Wein-
bau berühmt gewesen sind, nicht immer mehr sicher zu ergründen, welche
1) Arnold a. a. O. S. 539. — 2) Kehrein, Volkssprache und Volkssitte 3; 624. —
•3) Gerbing, Die Flurnamen des Herzogtums Gotha, S. 218 u. 250.
284
Schoof:
Bedeutung früher der Boden, der heute mit Weinberg bezeichnet wird,
gehabt haben wird. Denn auch in rauhem Klima, das sich wenig zum
Weinbau eignete, ist, wie geschichtlich nachgewiesen werden kann, zu-
weilen WTeinbau getrieben worden, u. a. z. B. im Fuldatal (vgl. die
Strassenbezeichnung am Weinberg in Kassel und Hersfeld) und im oberen
Lahntal (z. B. der Weinberg bei Marburg). Solche Namen, die ziemlich
sicher auf die Weidezucht zurückgehen, sind in Hessen: der Weinbusch,
Heide auf der Höhe des Meissner, nahe dabei der Weinkeller, das Wein-
feld am Wald bei Zimmersrode, der Weingraben am sog. Hanrödchen bei
Eltmannshausen, ehedem, wie Arnold annimmt, sicherlich Wald und Weide,
ferner bei Frohnhausen, der Weingarten bei Treisbach, Anzefahr, die
Weinäcker (d. h. die Flächen, die früher als Weidetrift, später als Äcker
dienten) bei Kirchheim, Lohra, Kopperhausen, die Weinwiesen beiRosen-
tal, die Weineiche bei Wollmar, am Weinberg, Feld bei Frankenau, bei
Niederweimar, der Weinsberg bei Wollmar, im Weinberger Grund bei
Speckswinkel, der Weimarberg1) bei Schmalkalden, der Weimarkopf1) bei
Cölbe im Lahnwald, die Weinerswiesen1) und die Weinergarten1) bei
Rüdigheim, das Weinbergsfeld bei Halgenhausen, ferner bei Schorbach
und bei Bockendorf, der Weingrund bei Haarhausen, ferner bei Hof
Wüstefeld, die Weindelle, Wiesen im Wald unter dem Knüll, gegen
1400 Fuss hoch im Efzetal, der Weingärtner bei Wetter (vielleicht ent-
stellt aus Weingartenberg), der Weidemersbodenkopf bei Wollmar (wohl
aus Weidenbergsbodenkopf), der Weinersgrund, Feld und Wiese bei Hof
Ellingerode (wohl aus Weinbergsgrund infolge von Dissimilation), ebenso
das Weineroth, Feld bei Schwarzenborn am Knüll, die Weinstrasse (öfters
in Hessen und Thüringen), die Triebgasse zur Weide, ähnlich wie Yieh-
weg, Kuhweg, Rennweg oder Rennstieg, Königsweg2) u. a. m.
Yon hier aus geht die Uindeutung von win zu win und Weinberg
weiter zu Weiberberg, Weberberg u. ä. durch Assimilation des n an b
und des g an b und meist durch tautologische Bildung, z. B. in Hessen:
die Weiberwand, Wald bei Dodenhausen (Kr. Frankenberg), dasWeibers-
grundfeld bei Moischeid, am Webersberg bei Oberjossa, der Weibern-
acker bei Cappel (Kr. Marburg); in Nassau3): Weiber, ma. Weiwer, aufm
Weibern, Weibrich, ma. Weiwerch, Weiberbirken, Weibergärten, Weiber-
rain, Weiberwies, Weibersberg, Weibertswies, Weibelwies usw., doch scheint
bei den beiden letzten Namen noch ein drittes Wort vorausgesetzt zu
werden. Vgl. den Flurnamen Waibel bei Caldern (Kr. Marburg). Weiter
findet sich in Nassau: Weberseich, Weberskopf, Weberswies, Weber-
1) Über Weimar, Cyriaxweimar, Weimartal, Weimarswiesen usw. habe ich in dem
lieitrag zur Deutung des Namens Marburg (Hessenland 1914, S. 102ff.) gehandelt. Vgl.,
auch Arnold a. a. O. S. 537/38, dessen Deutung jedoch nicht mehr haltbar ist. — 2) Ygl.
meine Abhandlung über den Namen Altkönig in Ztsch. f. d. dtsch. Unterricht 1914, S. 499ff..
— 3) Kehrein a. a. 0. 3, 600 ; 594.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
285
heck, Weberrain. Es ist möglich, dass sich an solche Weiberberge allerlei
Sagen von wilden Weibern und Hexen anknüpfen, wie ja auch die zahl-
reichen Hexenberge und Hexentanzplätze auf Umdeutungen alter, miss-
verstandener Flur- und W aldnamen zurückgehen, wie ich demnächst nach-
weisen werde.
Aber die Umdeutung alter Namen wie Weinberg ist, scheint es, damit
noch nicht erschöpft. Es kommen noch Dialektübertragungen hinzu. Da
die Mundart den intervokalischen Guttural von schd. Wagen meist elidiert,
also Waan, Wään u. ä. spricht, entstand bei ortsfremden Leuten Ver-
wechslung mit dem mundartlichen Ausdruck für Wein. So erklären
sich vermutlich in Hessen Namen wie der Wagenberg, Wald bei Neu-
stadt, das Wagenackersfeld bei Yiermünden, die Wagnershöh (< Weinershöh,
Weinbergshöh) bei Somplar; in Nassau: Wagenberg, Wagenkehr, Wagen-
lück, Wagnerwies, Wagnershahn (= Weinbergshagen), Goldwagen usw. Ygl.
auch Buck a.a.O. S. 291: Wagenbreche, Wagenlucke, Wagenhard. So er-
klärt sich auch die wiederholt aufgestellte Hypothese Weinstrasse = Wagen-
strasse, d. h. die Strasse, auf welcher die (Wein)fuhrwerke ihren Weg
hatten. Das schliesst nicht aus, dass Weinstrassen, welche später beliebte
Yerkehrsstrassen wurden, ursprünglich als Triebwege für das Weidevieh
angelegt worden sind. Ähnliche Bedeutungsübertragungen finden sich
in der Flurnamengebung öfters (vgl. Richplatz zu Richtplatz, Gerichts-
platz u. a. m.).
Die Umdeutung von altem win zu Wein wurde sehr begünstigt durch
das sinnverwandte ahd. weida 'Bodenfläche zum Beweiden mit Yieh', das
später an die Stelle des immer seltener werdenden Wortes Winne trat
und es heute ganz ersetzt hat. In Flurnamen findet es sich verhältnis-
mässig selten, in Hessen: auf dem Weidenstrauch, Wald bei Lohra,
die Weidenschiesser bei Ebsdorf, zum Weiden vor dem Weidenküppel
bei Frankenau, der Weideacker bei Dilschhausen, der Weidenberg bei
Rotenburg usw. Aus Weidenberg konnte durch Elision im Volks-
mund auch Weinberg werden, und so mag bei der Umdeutung Win-
berg—Weinberg auch der Anklang an WTeidenberg mitgewirkt haben,
d. h. begriffliche und lautliche Assoziation zugleich. Es konnte zudem
auch der Fall eintreten, dass als Weideberge alte Weinberge benutzt
wurden, auf denen sich der Weinbau nicht lohnte, und umgekehrt konnten
■ehemalige Weideberge später als Weinberge urbar gemacht werden. Es
wirkten also hier eine Reihe von Faktoren mit, die uns die grosse Zahl
von 'Weinbergen1 begreiflich machen.
Da bei dem allmählichen Übergang von der germanischen Weidewirt-
schaft zum Ackerbau und zur Rodung der Feldmark zuerst das frucht-
bare, £ii den Flussläufen gelegene Flachland, erst später das abhängig ge-
legene Feld und zuletzt erst, als die Besiedelung immer dichter wurde,
das nach dem Walde zu gelegene, weniger ergiebige Land auf den Höhen
286
Schoof:
in Anspruch genommen wurde, so dienten die auf den Berghalden nahe
dem Walde gelegenen, meist rauhem Winde ausgesetzten Triescher und
Bergwiesen zahlreichen Yiehherden als Weideplatz. Als dann auch diese
Weidehänge gerodet und in Äcker verwandelt werden mussten, ging den
nachfolgenden Generationen die Erinnerung an die frühere Verwertung
des Bodens verloren, und die Folge davon war, dass die Bezeichnungen,
die noch am Boden hafteten, unverständlich und den neueren Kultur-
verhältnissen entsprechend umgestaltet wurden. So wurde aus einem Win-
berg, der keinen Sinn mehr ergab, ein Windberg gedeutet, weil der Acker
infolge seiner den Winden ausgesetzten Lage dürftigen Boden hatte.
Diese Umdeutung zu wind, ventus, wurde noch dadurch unterstützt, dass
eine Weiterbildung winithi, winidi neben win, winne bestand (vgl. unten
Windenberg, Windeberg), und von hier aus ging die Umdeutung noch
weiter zu Winter, ohne Zweifel, um damit anzudeuten, dass solche Ge-
markungsteile in rauher, unfruchtbarer Gegend lagen, wo der Ertrag kaum
die aufgewandte Mühe lohnte und die Abgaben nur schwer oder gar nicht
aufzubringen waren, wie denn auch die meisten auf solchen Plätzen ent-
standenen Siedlungen später wieder eingegangen sind. Wir haben es hier
zweifellos mit einer volkstümlichen, nicht mit einer gelehrten Umdeutung
zu tun. Die Erinnerung an die eigentliche begriffliche Beziehung war dem
Yolksbewusstsein entschwunden, an deren Stelle trat eine neue Hauptvor-
stellung, die sich auch auf die Erwerbstätigkeit des Yolkes bezog, aber
sich aus dem Anbau des Landes, als der späteren Erwerbsquelle des Yolkes,
ergab. Es wurde also hier, um mit Wundt (Völkerpsychologie, Bd. 1 'Die
Sprache') zu reden, eine dem Gegenstand adäquate Vorstellung geweckt.
Auf diese Weise erklären sich hessische Flurnamen wie die Windbetten,
Windfell1) bei Bernsdorf (Kr. Marburg), Windfall1) bei Bracht, die lange
Winde bei Gruben, die Windmühle bei Anzefahr (in der Nähe der Wein-
garten), das Wündefeld bei Ransbach, das Winterfeld (öfters), Winter-
berg, öfters, u. a. Dorf im Sauerland, ein Berg (616 Meter) im Kellerwald
und im Vogelsberg, Wintertal, Wintersgrund bei Löhlbach und Viermünden,
der Wintersbach bei Rörshain, das Winterstück bei Bürgeln (in derselben
Gemarkung das Winzefeld), die Winterwiese bei Schönstadt, die Winter-
seite2), öfters, meist gegenüber einer Sommerseite, die von der Morgen-
sonne bestrahlt • wird, der Winterstrauch, Wald bei Rauschenberg, die
Winterecke, das Winterrück bei Rotenburg, die Winterliete bei Alten-
hasungen, der Winterscheid, Wald bei dem gleichnamigen Dorfe, Winter-
liede, Winteracker, Grafschaft Schlitz3), Winterbaum4) ebendort (vgl. dazu
die ähnliche Bedeutungsentwicklung von Hungerbaum), Winterkasten, Berg
(322 Meter) bei Hoheneiche und Rücken des Habichtswaldes, jetzt ver-
1) Wahrscheinlich entstellt aus Windfeld. — 2) seite — Lage, Erstreckung. Nach
Kehrein 3, 553 gibt es im Nassauischen auch eine Windseite. — 3) Hotz, Die Flurnamen
der Grafschaft Schlitz, S. 60 u. ö. — 4) In einem Schlitzer Messbuch von 1584.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
287
drängt durch den Namen Karlsberg. Ähnlich in Nassau1): Windbach, Wind-
busch, Windeck, Windfeld, Windhahn, Windlück, Windmauer, Windmühl,
Windrain, Windscheid, Windseit, Winterort, Winterbach, Winterbaum,
Winterbirnbaum (wahrscheinlich entstellt aus Winterbergbaum), Winterhof,
Winterloch usw.; in Thüringen2): Winterbach, Winterstein usw. Nach
Buck a. a. O. S. 203 ist Winterhalde = Nordhalde, kalte, von der Sonne
abgewendete Lage. (Schon im 9. Jahrhundert beliebte Differenzierung.)
Ausserdem findet sich die Umdeutung in einigen hessischen Ortsnamen:
Windecken aus älterem Wunnecken (1277), Winterscheid3) (1265 Winter-
seeith) bei Treysa und Wüstung daselbst, auf der Nordseite der Wasser-
scheide zwischen Lahn und Fulda, Winterbüren, Hof bei Immenhausen
(1143 Winthereburen, 1160 Wintirburen, 1163 Winterburen) nach Arnold
S. 365 von der Lage an der Nordseite des Berges, Windefeld, Wüstung
bei Gieselwerder. Vgl. auch den rheinischen Ortsnamen Königswinter
und dazu meine Abhandlung über Altkönig a. a. O. S. 499, ferner Ober-
winter, Wintrich an der Mosel usw.
Nach einer im Rheinfränkischen weitverbreiteten Regel wird nd in
der Mitte und am Ende eines Wortes zu ng (Linde zu Leng, Linden-
bach zu Lingelbach). So findet sich statt Hundruck in Urkunden auch
Hungruck und ebenso statt Winnebach, Windebach, Wendebach (zu
winidi) dialektisch Wingebach, Wengebach. Die mundartliche Form
geht zuweilen in die Schrift- oder Kanzleisprache über, und so er-
klären sich die hessischen Flurnamen das Wengefeld bei Hüttenrode (in
der gleichen Gemarkung der Winterberg) und bei Sarnau, die Wengeis-
eiche bei Loshausen (in der gleichen Gemarkung das Wendelsfeld), der
Wengebach bei Unterhaun (mit dem Hof Wendebach), der Wengeberg
oder Wendeberg, heute Wehneberg4) bei Hersfeld, der Wengeberg
bei Melsungen usw. Ygl. auch nassauisch5) Wenge, Wenche, Wenggarten,
Wengewis, Wenk usw.; thüringisch6): Wingethal, ma. Wingedöal, am
Wengenbach, am Wendenberg, ma. offn Wengenbärge, im Wlndebach,
ma. Wingbach, Wingenbach, über den Wingenberg (1641) usw.
Da neben Windeberg, WTendeberg auch WTindelsberg, Wendelberg7).
Wendelsfeld vorkommt, wahrscheinlich aus älterem Windenberg infolge
von Dissimilation und mit personalem Genetiv-s aus falscher Analogie,
so bildeten sich unter dialektischem Einfluss auch Formen wie die Winkel-
wiesen, z. B. Gemarkung Rosental, zum Winkeln, Gemarkung Mardorf (in
1) Kehrein a. a. O. S. 624. — 2) Gerbing a. a. 0. S. 326; 344 u. ö. — 3) Winter-
scheid bedeutet also eine Grenzscheide, einer Höhe entlanglaufend, die früher als Weide-
platz gedient hatte und erst spät, infolge der hohen Lage, zum Anbau bestimmt wurde. —
4) In einer Hersf. Urk. v. 1422 auch Silberberg genannt, mit dem Zusatz 'sonst Wende-
berg genannt', etwa 1200 der Windiberch, 1182 Windeberg, 1317, 1428,1435 Wendeberg. —
5) Kehrein S. 604. — 6) Gerbing S. 25; 35; 46; 323 u. ö. — 7) Auch Wenelsberg findet
sich, z. B. in der Gemarkung Althattendorf.
288
Schoof:
der gleichen Gemarkung der Windelsberg), der Winkelsgrund Gemarkung
Schiffelbach, der Winkel Gemarkung Cyriaxweimar (vgl. dazu den Orts-
namen Weimar aus älterem* Win-mark) und Gemarkung Ockershausen
(in derselben Gemarkung die Weinstrasse und die Weimersche Koppe);
ebenso nassauisch1): auf den Winkeln, Winkelchen, Dachswinkel, Kräh-
winkel, Schäferswinkel, Scheisswinkel (vgl. Winterscheid), Todtenwinkel,
Winkelau, Winkelbäume (vgl. Winterbaum), Winkelberg, Winkelgarten,
Winkelheck, Winkelstrut, Winkelweg, WTinkelwies, Winkelsberg, Winkels-
graben, Winkelsrain, W'inkfeld, Winkerfeld usw.; thüringisch2): der End-
winkel, 1400 in dem Entenwynkel, Flur Sonneborn, im Windebach oder
Winkelbach, Flur Sundhausen, ma. der Wingebach, 1372 in dem Winden-
bach, 1641 uf den Wingenbach, in der Winkelbache, ja sogar ein Wing-
ferborn, 1477 der Windeborn; oberdeutsch3): Hungerwinkel*) (760), Farnu-
winkel (804), Rosswinkel, Hasenwinkel (auch in Hessen öfters als Flur-
namen vorkommend), Hirschwinkel, Krähwinkel5) (vgl. hessisch Specks-
winkel) u. a. m. Nach Buck a. a. O. ist Winkel ein uraltes Grundwort.
In den Bestimmungswörtern stecken gleichfalls uralte Volksetymologien.
Da nun dialektisch wing, weng s. v. a. Schriftdeutsch 'wenig' be-
deutet, fassten die Kartographen oder Katasterbeamten die Form
Wingerode als Wenigenrode d. h. kleine, dürftige Rodung6) (vgl.
ahd. wênag 'bejammernswert, elend, dürftig', Weigand, Dtsch. Wb. 5
S. 1241) auf und übersetzten so nach ihrem Gutdünken die Namen
vielfach ins Hochdeutsche. So wurde aus Winnebruch, Gemarkung
Rauschenberg, durch Vermittlung der dialektischen Form Wingebruch, ein
Wenigenbruch, aus Winderode Wincherode (wie Windenbach zu Winchen-
bach), und dieses wird heute hartnäckig als Wenigenrode erklärt, trotzdem die
dicht dabei liegende Flur der Wintergrund deutlich auf winne, 'Weide',
hinweist. Ebenso wird Wenigenrode bei Romrod (14. und 15. Jahrhun-
dert Wenigenrode, Wenigerode, Wingerode) und Wüstung bei Lichtenau
i(1457 Wenyngenrade) von Arnold S. 450 als Kleinrode gedeutet, und die
Wüstung Wenigenrode, Arorburg von Amöneburg, bereits im 13. Jahrhun-
dert mit parvum Castrum übersetzt. Ygl. auch Wenigenhain (1254 Win-
jenhain), Wüstung bei Bernhausen. Es soll nicht geleugnet werden
dass einige mit Wenig- zusammengesetzte Ortsnamen tatsächlich ihre
Namen dem Begriff parvus 'klein, unbedeutend' verdanken, wie es z. B.
bei dem Namen der Wenigenburg bei Amöneburg der Fall sein kann.
Da aber andererseits Wenig auch den Begriff 'dürftig, elend, unbedeutend
in sich schliesst und die hierher gehörigen Ortsnamen erst spät bezeugt
und fast sämtlich wieder eingegangen sind, ist die Wahrscheinlichkeit
1) Kehrein S. 624. — 2) Gerbing S. 25; 163. — 3) Buck S. 302. — 4) Vgl. dazu den
ersten Teil dieses Aufsatzes. — 5) Nach Buck 1060 als Chrauwinchil bezeugt. — 6) So
z.B. 1361: das wenge grindel neben das grosse grindel (Wenck, Hess. Urkundenbuch 3).
/
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde. 289
noch grösser, dass wir es mit ähnlichen Umdeutungen wie bei Winneberg,
Windeberg zu Winterberg zu tun haben, weil sie in rauher, unwirtlicher
Gegend an Stellen, die früher als Weidegut gedient hatten, gegründet
waren, wo der Ertrag des Bodens kaum die Mühe des Anbaues verlohnte.
Es wurde also hier wie bei Winterberg und ähnlichen Umbildungen
(vgl. z. B. Hundsacker, Hungeracker) durch die Umdeutung Wingberg,
Wingerode eine dem Gegenstand adäquate Vorstellung mit Beziehung auf
die Ertragsfähigkeit des Bodens geweckt, nur mit dem Unterschied, dass
Wenigenberg (das dann vielleicht noch weiter zu Wenigenburg umgebildet
wurde unter dem Einfluss der nahegelegenen Amöneburg) eine gelehrte
oder amtliche Umdeutung (Dialektübertragung), keine volkstümliche ist,
wahrscheinlich durch gelehrte Schreiber aus den Klöstern veranlasst.
Eine ebenfalls dem Gegenstand adäquate Vorstellung wird durch die
Anlehnung an ahd. wentan, mhd. wenden 'umwenden, umkehren' im
Sinne von 'roden' erzeugt. Dazu kam noch Vermengung mit ahd. wentî f.,
mhd. wende f. 'Grenze, Himmelsgegend' und ahd. giwant 'Flur, Feld-
fläche', mhd. wende 'Ackerstreifen, schmales Feld'1). Auch hier finden
sich dialektische Bildungen wie Wengeberg, Wengebach, Wengefeld, die
sich nahe mit den oben erwähnten an 'wenig' angeglichenen Benennungen
berühren, neben Wendebach, WTendeberg, Wenderoth, Wendefeld auch
Wendelberg, Wendelbach u. dgl.
Schwieriger sind die Fälle nachzuweisen, in welchen Angleichung an
ahd. swendan bzw. spätahd. firswenden 'schwinden machen' und 'ver-
schwinden machen, vertilgen, vernichten' stattgefunden hat. Es wird durch
diese Anlehnung eine ganz ähnliche Vorstellung hervorgerufen wie durch
die Anlehnung an ahd. wentan mit der gemeinsamen Grundbedeutung 'aus-
tilgen, roden, urbar machen'. Die Umdeutung findet sich sowohl in Namen, in
welchen das alte winid Grundwort, wie auch in Namen, in welchen winid
Bestimmungswort ist: Brauerschwend bei Alsfeld (1273 Brunwartis-
geschwende), Ertzschwinden, Wüstung bei Schmalkalden (16. Jahrhundert),
Rüdenschwinden bei Fladungen, Hauptschwenda, ma. Heedschweng,
am Knüll: 1317 Eizingeswinden, 1371 Eytzichiswende, Eizichiswinden,
Heintz Schwende 1419, Heidtschwenge 1530, Hietz Schwenda, Hirtz
Schwenda etwa 1600, Heiweswenge 1647, Heischwedt 1747, Hauptschwende
etwa 1780. Arnold S. 572 befindet sich daher im Irrtum, wenn er diese
Namen direkt von swandjan, swendan ableitet und vermutet, dass die
Orte von Hersfelder Mönchen, die aus Schwaben stammten, angelegt
worden seien, weil das Wort swendan besonders in Schwaben und der
Schweiz häufig vorkomme. Während die lautliche Angleichung an
1) Müller, Die Ortsnamen im Reg.-Bez. Trier (Jahresb. der Gresellsch. f. nützl.
Fursch. 1909) S. 45 und Buck S. 292; vgl. auch Anwand, Anwander = Ackerstreifen, der
auf den Nachbar oder einen Feldweg stösst, öde bleibt oder nach dem Ackern um-
gegraben wird (ebd.).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3. iq
290
Schoof:
'schwenden' sich ungezwungen aus dem Genetiv-s des Bestimmungswortes,
durch Silbenvertauschung ergibt (vgl. Gotz-wende zu Got-swende, Eiziches-
winden zu Eiziche-swinden, Brunwartis-wende zu Brunwarti-swende und
von da zu Brunwartisgeschwende)1), ist die lautliche Angleichung bei den
Namen, in welchen 'schwenden' das Bestimmungswort ist, durch falsche
Analogiewirkung unter dem Einfluss begrifflicher Nebenwirkung (schwen-
den im Sinne von 'roden') zu erklären: Schwengeberg in der Nähe-
von Nidenstein, Sch wengenberg, am Wald zwischen Dankerode und
Stolzhausen, Schwengelberg im Wald oberhalb Asbach bei Schmalkalden,
Schwingelfeld am Wald bei Beckers unweit Hünfeld und Schwingelhecke
ebendort oberhalb des Schwingelfelds, Schwantfeld bei Harmutsachsen, die
Schwant, Waldort bei Hasselbach im Amt Lichtenau usw.
Die letzte Gruppe von Umdeutungen entstammt einem ganz anderen
Vorstellungskreise. Es werden nicht dem Gegenstand adäquate, sondern
zufällige Nebenbegriffe erzeugt, die mit der Hauptvorstellung nur zufällig
oder vorübergehend in irgendeine Beziehung gebracht werden können.
Solche Nebenvorstellungen können geweckt werden durch örtliche Ver-
hältnisse: ahd. giwant 'Flur, Feldfläche bestimmter Richtung, Acker-
komplex, der dieselbe Länge oder Richtung hat', das bei der Umdeutung
von Winne(berg) zu WTende(berg) mitwirkte, war nicht ohne Einfluss bei
der Anlehnung von Winne, Winde, Wende2) zu Wand, Gewand, Wange-,
Wanne-, Wandel-, Wander- u. ä., wobei ausserdem noch ahd. wane, campus,
'Feld, Ebene', wanne 'sanft gewölbte Anhöhe' und wand 'Grenze, Flur'
lautlich und begrifflich ineinander gingen. Solche Umdeutungen, durch
Vermengung mit einem oder mehreren dieser Wörter entstanden, sind
z. B. die Wand, Wald bei Sarnau (in der Nähe die Gemarkungsteile das
Wengel und das Wengefeld), die Weiberwand (aus Weinberg-, Winberg
— wand, also tautologisch), Wald bei Dodenhausen, Kr. Frankenberg, die
Zimerswand, Ziemerswand (vielleicht aus Ziegenbergswand), Kührasenwand,,
das Wändchen, die Walmeröder Wand, die Steinwand, die Schäferwand, die
Herfaerwand usw. Bei allen diesen ist die Erinnerung au ehemalige
Huteplätze oder spätere Rodungen längst erloschen, es ist nur der zufällige
Nebenbegrift 'Abhang, steil wie eine Wand abfallende Berglehne' erhalten
geblieben und an die Stelle der einstigen Hauptvorstellung getreten. Ganz
ähnlich vollzieht sich der Vorgang bei den Flurnamen in der Wann(e)„
auf der Wanne, z. B. bei Niederwetter, Ockershausen, Speckswinkel, Wehrda
(Kr. Marburg), Wannenfeld, Wannkopf (z. B. bei Marburg) usw. Auch,
hier keine Spur mehr von der einstigen Grundbedeutung, die Umdeutung.
1) Vgl. dazu die ähnlichen Bildungen Angespann (neben Anspann), Ungedanken,
Gedankenspiel, Ungewitter (neben Wetterhöh, Wetterau) usw. — 2) Meist in der Kollektiv-
form: das Gewende (z.B. bei Willershausen, Roda), die Gewendswiesen (z.B. bei Betzies-
dorf), das Gewengsfeld (z. B. bei Heimbach), aber auch das Wengefeld, das Wengel (z. B,.
bei Sarnau) u. ä. m.
Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
291
schreitet über den Begriff 'sanft gewölbte Anhöhe' weiter zn dem Be-
griff 'wannenartige Vertiefung, Schlucht' (ganz ähnlich wie bei Kessels-
graben, Kesselsgrund). Weitere Umdeutungen, durch zufällige örtliche
oder persönliche Nebenumstände hervorgerufen, finden sich wahrscheinlich
in den Flurnamen Wangenroth bei Immichenhain (in der gleichen Ge-
markung die Wann und die Wannäcker), auf fetten Boden schliessen
lassend, Wanderhecke bei Ebsdorf, Wandelwiese (öfters), Wandeläcker,
Wandelbach, Wandelgut, Wandelberg usw. Bei Wanderhecke hat dial,
waanern 'gespenstisch drohen, geisterhaft umhergehen'1), also irgendeine
zufällige Gespenstersage, bestimmend mitgewirkt, bei Wandelwiese die
gelegentliche Tatsache, dass zwei Besitzer abwechselnd, etwa ein um das
andere Jahr, die Nutzniessung hatten.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Umdeutung von altem winid
zu Winde, Windel (berg), Winkel (wiese), über die bereits oben das Nähere
gesagt worden ist. Auch hier wirkten örtliche Nebenumstände, Lage in
einer winkelförmigen Gegend, die z. B. durch zwei in einem Winkel auf-
einanderstossende Berge gebildet werden konnte, bestimmend auf die Um-
deutung ein. Vgl. Winkelacker, Reh-, Hasen-, Speckswinkel usw.
Ausser örtlichen und persönlichen Nebenumständen wirken auch ge-
schichtliche oder mythologische Legenden auf die Namensumdeutung ein,
und zwar oft so bestimmt, dass selbst die wissenschaftliche Namenforschung
sich bis zum heutigen Tage noch oft genug durch solche Märchen täuschen
lässt und über der schimmernden Hülle den eigentlichen Kern viel-
fach übersieht. So muss die Persönlichkeit Karls des Grossen immer
wieder dazu herhalten, um die Sachsen oder Wenden massenhaft in Be-
ziehung zu Ortsnamen zu bringen, die man bisher nicht hat deuten können,
obwohl diese Volksstämme in den seltensten Fällen etwas mit der Ent-
stehung solcher Orte zu tun haben. Mit Recht betont schon Arnold S. 538,
dass angesiedelte Wenden unmöglich den zahlreichen Berg-, Bach-, Feld-
und Waldnamen, die an den Namen dieses Volksstammes anklingen, noch
in so später Zeit und so oft den Namen gegeben haben können. Selbst
seine Annahme, dass dies nur in einzelnen Fällen geschehen sein mag,
muss mit Vorsicht und gelindem Zweifel hingenommen werden, solange
nicht geschichtliche Beweise in jedem einzelnen Fall vorhanden sind. So soll
angeblich auch der Wendeberg bei Hersfeld, heute meist Wehneberg ge-
nannt, einer Kolonie von Wenden seinen Namen verdanken, während er 1182
als Windeberg, etwa 1200 als Windiberch in fine civitatis Hersfeldensis
und erst im 14. und 15. Jahrhundert als Wendeberg urkundlich bezeugt
wird und nach seiner Lage und seinen Bodenverhältcissen deutlich auf
seine ehemalige Bestimmung als Weideberg hinweist, ganz abgesehen
davon, dass die Namen der in der Nähe liegenden Gemarkungen allein
1) Vgl. Vilmar, Idiotikon von Kurhessen S. 72 f.
19*
292
Schoof: Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde.
schon die Vermutung bestätigen. So heisst die entgegengesetzte Seite
des Bergrückens nach Rohrbach hin noch heute gleichfalls Wenneberg,
was auf gemeinsame Hute der um den Wehneberg gelegenen Ortschaften
schliessen lässt.
Nicht besser steht es mit den Umdeutungen, die durch mythologische
oder, in der Zeit des Christentums, durch kirchliche Gestalten (Heilige)
hervorgerufen wurden. Auch hier ist die Wissenschaft bei der Namens-
erklärung vielfach noch im Rückstand und zu wenig geneigt, der
Sache auf den Grund zu gehen. So stand bis 1881 in der Flur Loshausen
eine Eiche, die die Wendelseiche, ma. Wengelseech, hiess, weil an ihrer
Stelle früher eine Kapelle des St. Wendel stand, welche zur Zeit der
Reformation noch benutzt worden sein soll. Die 1572 urkundlich bezeugten
Namen derselben Gemarkung Wendelsberg, das Wendelsberger Feld, lassen
es jedoch im Zusammenhang mit den obigen Ausführungen als wahrschein-
lich gelten, dass die Kapelle erst in Anlehnung an den Wendelsberg, der
irrtümlich als ein Berg des St. Wendel aufgefasst wurde, dem Schutzheiligen
Wendel geweiht wurde. Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen
Marien- und Johannisbergen, die ähnlichen Umdeutungen ihre Namen
verdanken.
So wenig wie das Hollental (Höllental) am Meissner ursprüng-
lich etwas mit der mythologischen Frau Holle oder die Donareiche
bei Geismar mit Donar zu tun hat, ebensowenig hat der Yenusberg am
Altvater1) mit der Göttin der Liebe etwas zu schaffen, sondern ist ein
uralter Weidenberg, genau so wie der Underberg bei Salzburg, der im
16. Jahrhundert zu einem Wunderberg gestempelt wurde, an welchen sich
dann ähnliche mythische Legenden knüpften wie an den Hörselberg in
Thüringen, den Brocken im Harz, den Meissner in Hessen, den Altkönig
im Taunus usw. Näheres in meinen Ausführungen über Yolksetymologie
und Sagenbildung.
So haben wir an der Hand des altdeutschen Wortes winne ein
reiches Stück Kulturgeschichte kennen gelernt, einen interessanten Blick
in die germanische Volksseele tun können. Hier offenbart sich uns Volks-
kunde wie ein reichlich sprudelnder, nie versiegender Quell.
Hersfeld.
(Fortsetzung folgt.)
1) Vgl. auch Buck S. 287: Venusmühle, beim Volk Venismiihle, Venusberg bei
Essendorf, früher Venersberg, desgl. bei Eyb (Ansbach), früher Veniberg und Veuibuck.
Keine einzige Urkunde deutet nach Buck auf Venus, sondern diese Formen sind sämtlich
Kanzleistubenerfindungen. Vgl. Grimm, Myth.3 1,524; 536; 548.
Müller: Kleine Mitteilungen.
293
Kleine Mitteilungen.
Zur Geschichte des Aberglaubens in der Obergrafschaft
Katzenelnbogen.
Im achten Band der Zeitschrift für Kulturgeschichte S. 287—324 hat Prof.
D. Dr. Wilhelm D^ehl einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er an der Hand der
hessischen Kirchenvisitationsakteh von 1628 schildert, in welchem Umfang der
Aberglaube in dem damaligen hessischen Gebiet, der Ober- und Niedergrafschaft
Katzenelnbogen geherrscht hat. Auf Grund eines hochinteressanten authentischen
Materials zeigte sich, dass die abergläubischen Bräuche und Sitten in den süd-
lichen und nördlichen Teilen des landgräflich hessischen Territoriums in ganz
verschiedenem Grad verbreitet waren. Während die südlichen Teile nur ver-
einzelte Fälle darboten, so in den Orten Rossdorf, Gundernhausen, Pfungstadt,
Hahn u. a., hatten verschiedene Orte der Niedergrafschaft eine geradezu unheim-
liche Zahl von Zauberern und Segensprechern aufzuweisen. Diehl sagt am Schlüsse
seiner Abhandlung: „Fassen wir alles zusammen, so werden wir behaupten
dürfen, dass die Visitationsakten von 1628 für ein Gebiet, dessen Aberglaube noch
verhältnismässig wenig erforscht ist, wertvolle Beiträge darbieten und dass es
dringend zu wünschen ist, dass die noch vorhandenen Reste zum Zweck einer
Vergleichung von sonst und jetzt gesammelt werden möchten."
Die nachstehenden Zeilen wollen eine Ergänzung der von Diehl angedeuteten
Lücke beibringen, indem sie über die Tätigkeit einer Kräuterfrau und Segen-
sprecherin aus dem kleinen Dorfe Malchen an der Bergstrasse berichten, die
wegen ihres 'teuffelischen segens und warsagens, auch artzens' 1612, also 16 Jahre
vor Entstehung der von Diehl bearbeiteten Kirchenvisitationsakten, mit den Be-
hörden in Konflikt geraten ist.
Die Persönlichkeit, um die es sich bei den hier zu schildernden Vorkomm-
nissen handelt, Margareta, Witwe von Wennig Bergsträßer zu Malchen,
ist eine 'alte fast abgelebte fraue', wie die Akten von ihr sagen, deren gesamte,
viele Jahre lang geübte Zauberei, so sehr sie auch zu missbilligen war, wohl
kaum jemandem etwas geschadet oder genützt haben dürfte. Gleichwohl war es
auf die Dauer nicht angängig, dass man dem Treiben der Alten stillschweigend
zusah. Nachdem schon ein Jahr früher einmal in einer Diebstahlssache straf-
gerichtlich gegen sie vorgegangen worden war, sollte es 1612 zu einer neuen
Untersuchung gegen sie kommen. Kaum aber hatte der landgräflich hessische
Keller Anthonius Saarbrück zu Zwingenberg a. d. B. das letzte Wort gegen die
weise Frau von Malchen ausgesprochen und ihr das ärgerliche Treiben ernstlich
verboten, da kam es nur wenige Tage später zu einem erneuten Zwischenfall.
An dieser Stelle nun setzen die im Gr. Haus- und Staatsarchiv zu Darmstadt ver-
wahrten Untersuchungsakten, denen wir uns möglichst eng anschliessen werden,
ein. Den Beginn macht ein Bericht, den der Keller Ant. Saarbrück am 24. Juli
294
Müller:
1612 an seine vorgesetzte Behörde, die Regierung zu Darmstadt erstattete. Dieses
Schreiben, das sich auf eine Reihe von Zeugenaussagen über die jüngste Tätigkeit
der Margareta Bergsträßer stützt, hat folgenden Wortlaut:
„Auf fürstlicher hessischer cantzley zu Darmbstatt bevelch habe ich anheut
von dem hessischen Schultheißen zue Malchen Ewald Geyern entgegen Margrethen,
Wennig Bergstroßers wittiben daselbsten, ihres ietzigen thuns und wandels halben
bericht eingenommen: Derselbige zeigt an, nachdem am nehern montag den 20.
dießes ich gedachte Margrethen ihrer bißhero viel jar lang verübten teuffelischen
segens und warsagens, auch artzens halben zu rede gesetzt und sich deßen
gentzlichen zu enthalten verbotten, so habe sie deßen ungeachtet am nehern mitt-
wochen den 22. dießes sich deßelben wieder undernommen und einem mann vom
Hain bey Pfungstatt mit einem pferde bey sich gehabt, Wennig Weicker
genant, deme sie rath seiner schwachen mutter halben mitgetheilet. Wie aber
solches fürgangen, wieße er nicht. Doch habe der pfarrherr zu Nider Berbach
sie uff solchen tag, als er geprediget in beysein des Schultheißen und Hans
Franckens des seniors fürgefordert und examinirt, was gedachter mann vom
Hain mit dem pferd bey ihr zu thun gehabt, ob sie ihme rath ertheilet. Habe
sie daruff geandworttet, es were wol solcher mann bey ihr geweßen, sie hette
ihnen aber zum pfarrherr nacher Bickenbach gewießen. Als aber der pfarr-
herr zu Niederberbach sie des verbotts, so der Keller zu Zwingenbergk ihr sich
solcher sachen gentzlich zu müßigen, angelegt, erinnert und ernstlichen zu wißen
begert, ob sie ermeltem mann vom Hain ichtwas gerathen und was er ihr in einem
Körblein, so er gebracht, gegeben, habe sie gesagt, sie hette ihme etzliche
kreuter, als rosamarin, isop und maioran zu nehmen und einen tranck
daraus zu sieden und denselben trincken zu laßen geheißen, darfür er ihr
ein virtheil eyer auß dem Körblein gegeben hette. Ob nun aber auch segen
und andere ungebührliche mittel sie hierzu gebraucht, darvon habe sie nichts ge-
stehen wollen. Welches alles auch Hans Franck zu Malchen berichtet und darbey
auch dießes angezeiget, wie sie dabevor sich des urin besichtigen s gebraucht
und vorm jähr ungefehr, als er bey Hanß Reißman zu Malchen eine neue egen
zur korn saat entlehnet, seye ihme dieselbig gestolen worden und endlichen an
tag kommen, das ermelte Margretha dieselb in ihrem stubenofen zu esche
verbrendt habe, derowegen sie auch vorm jar uf der centh zu Zwingenbergk ge-
strafft worden, warzu und welchem ende sie solch eschen gebraucht habe, wird
sie am besten wißen. Sonsten könten sie nicht wißen, ob sie auch mit andern
verbottenen dingen als zaubereyen und dergleichen unthaten umbgehe, sintemaln
solche thaten in geheim verübt werden.
Doch habe er Hans Franck und Erbaldt Luckhaupt, welcher ob specificirten
bericht auch durchaus erholet, dabevor von ihrem eygenen mann Wennigen
Bergstroßer gehöret, daß er selbsten gesagt, sein fraw könte zaubern etc. Ob
nun solchem also, das könten sie für ihre person nicht wissen.
Ferner sagten sie, es hette auch newlicher zeit Peter Lehn rathsperson
allhier zu Zwingenbergk bey gedachter Margreth seiner lamigkeit halben
raths gefragt, was sie aber ihme gerathen, das wissen sie nicht. Hierauff hab
'ich ermelten Peter Lehn so baldt vor mich erfordert und deßwegen zu rede
gesetzt. Zeigt an, er were in ein lamigkeit gerathen und ihme von Michel Spießen
zu Wallersteden, welcher gleicher weis einer lamigkeit halben gedachte Margreth
umb hulff und rath ersucht gehabt und ihme geholffen, gerathen, das er ihr ein
stück von seinem leib schicken solte, würde sie ihme beholffen sein. Darauff
habe er ihr sein hempt, so er acht tag lang an seinem leib gehabt durch seinen
b
Kleine Mitteilungen.
295
söhn geschickt, welches sie genommen und damit uf beseits gangen. Was aber
sie damit gethan, habe sein söhn nicht vermercken können. Seye aber bald
wieder zu seinem söhn kommen und gesagt, es komme solche lamigkeit yon
einem trunck, den er gethan hero und hette ihme etzliche kreuterv als isop,
salvei, hirtzzungen und roßmarin gegeben, die er gesotten und ge-
truncken, auch damit seine lame beine gewaschen. Habe ihr ein gulden ge-
geben, aber ihnen nichts geholffen.
Deßgleichen sagt er, were hiebevor Jacob Reußen allhier dienstbub, Jörg
genandt, welcher an seinem gantzen leib krafftloß geweßen, bey obgedachter
Margreth geweßen und ihme verhelffen laßen, welchen ich gleicher gestalt er-
fordert und derentwegen befragt, sagt, er were ungefehr vorm vierthel jar an
seinem leib, an armen und füßen gantz krafftloß geweßen. Sey er zu gemelter
frawen gehn Malchen gangen und ihme helffen laßen. Hette sie ihnen an seinem
leib von dem kopff an biß zun füßen mit ihren henden angetastet und
etzliche wortt heimlichen über ihn gemurmelt, auch drey eyer und
pulver in dreyen kleinen döttergen zugestelt, die er des morgens
geßen und daruff die krafft seines leibs wieder bekommen, also daß er
innerhalb acht tagen wieder arbeiten können. Habe ihr hierfür einen halben
guldten gegeben.
So ist auch Wennig Weicker vom Hain bey Pfungstatt fürgefordert
und deshalben, das er am mittwochen den 22. julij zu Malchen bey des Berg-
strößers wittiben geweßen und rath gesucht, zu rede gesetzt worden. Zeigt an,
es hetten die leuth, welche er nicht nahmhaftig machen können, seiner mutter,
welche umb die brüst großen schmertzen gehabt, gerathen, sie sollte ihr
hembd von ihrem leib gedachter wittiben schicken, würde sie die Schwachheit
erkennen und ihr wieder verhelffen. Da habe seine mutter ihnen dahin gehn
Malchen geschickt und er der frawen seiner mutter gelegenheit angedeutet und
das hembd zugestelt. Sie hette aber daruff gesagt, er sollte gehn Bickenbach
zum pfarrherrn gehen und ihme verhelffen laßen, doch endlichen das hembd ge-
nohmmen, in ihr stuben allein gangen und über ein kleine weyl wieder-
kommen und die schwacheit angezeigt, auch ihme in dreyen döttergen
pulver gegeben und gesagt, sein mutter soltte es in dreyen eyern in-
nehmen, so werde es beßer mit ihr werden. Habe ihr darfur weitter nichts, dann
ein vierthel eyer verehrt und seiner mutter das pulver bracht, so sie ein-
genommen und mit ihr beßer worden.
Hans Krichbaum von Oberberbach ist der trohewortt halben, welche Leonhard
Franck außgegoßen haben solle, verhöret worden. Zeigt an, er habe Madern
Roßens fraw, so mit seiner hausfrawen geschwistern kinder seyen, zu mehrmalen
gewarnet, von ihrem bößen wandel abzustehen und des Leonhard Franckens
müßig zu gehen, denn er offtmals gesehen, das sie beide, wann ettwan eines oder
das ander im feld geweßen, einander nachgegangen und zusammen kommen. Sie
hette aber ihme gantz betrohenlichen ins gesicht gesagt, wenn er sein maul nicht
halten würde, solte Leonhard Franck ihme seinen kopif zerschlagen und ein wehr
in leib stoßen, wie denn zween schäfers buben gehört haben, das sie solches dem
Leonharden befohlen hette. Daruff er es dem Leonharden fürgerückt, habe er
gestanden, das es die Schmidtin ihme befohlen habe, aber von ihme seyen
sonderlichen keine drohewortt, so viel ihme wissend, gehört worden."
Das Antwortschreiben der Darmstädter Regierung, das auf diesen Bericht
hin erging, war auf das entschiedenste bestrebt, dem Treiben der Margareta
Bergsträßer ein Ende zu machen. Die Verfügung, in welcher die sofortige per-
296
Müller:
sönliche Vernehmung der Missetäterin, ihre gleichzeitige Verhaftung und Haus-
suchung angeordnet wird, lautet folgendermassen:
„Ehrbar guter freundt, wir haben ewer schreiben neben dem uberschickten
Walbronnischen register entpfangen, verlesen, dieweilen den darob vernommen
das, obwohl uf unsern euch zugeschickten befelch ihr Wennig Bergstroßer wittiben
zu Malchen sich des segensprechens, wahrsagens und verbottenen ubernatürlichen
artzneyens sich gentzlich zu enthalten ernstlich undersagt, sie dem auch also
nach zu kommen versprochen, das sie sich doch solcher verbottener eure
gleichsamb den andern tag nach entpfangenem verbott wieder unter-
fangen. AVan den solchs Gottes gebott und der darin wohlbegründten Kirchen-
ordtnung zue wieder und pillich gestrafft wirdt, so befehlen in namen u. g. f. und
hern L. Ludwigs zu Hessen etc. wir euch vor uns g. gesinnende, das ihr ge-
dachte wittib demnehisten vor euch kommen lasset und von ihr, wie lang
sie solche verbottene euren gebraucht und wehme sie darmit geholffen, wehr auch
recht und hülffe bey ihr gesucht, erkundiget und sie dar uff drey tag lang in
die betzencammer hinsetzet. Inmittelst in ihrer behausung vleissige
nachsuchung thut, ob ihr etwas von verdechtigen materien oder ander anzeige
finden moget und uns darvon berichtet. Soll daruff fernere gepuerliche verordtnung
vorgenommen werden und wir seindt euch mit günstigem willen wohl gewogen.
Datum Darmbstadt den 26. julij anno 1612.
Canzler und rhäte doselbst."
Sofort nach dem Empfang dieser Verfügung ging der Keller an ihre Aus-
führung. Bei der am 1. August 1612 vorgenommenen Haussuchung fanden sich
in einem Schränklein und einer Truhe in der Stube der inzwischen verhafteten
Angeschuldigten folgende Stücke vor:
„1. Ein stein gleich wie ein donneraxt, so in der mitt ein rund loch hat, ist
grawlicht, vorn gleich wie ein schneidig axt und hinden stumpf.
2. In dreyen lädelein viel pulver aus gekreudig gestoßen und darbey etzliche
kleine düttergen voll pulver.
3. Etzlich gekreudig in einem glaß und in einem duch.
4. Ein gestreiffte ohi haut.
5. Viel kleine kotturffen und gläßer, darinnen etzliche verdechtige getränck
und urin, darfur man es angesehen, geweßen.
6. Zwen häfen, darin auch verdechtig geschmir geweßen, etzlich weiß hunds-
treck salva reverentia zu meldten."
Ausserdem enthielt das Schränklein und die Truhe noch eine grosse Anzahl
von Geldstücken aller Sorten, vom Goldgulden bis zum halben Batzen herab, die,
nachdem man sie gezählt hatte, den ansehnlichen Betrag von 129 Gulden
18 Albus ergaben. Das Geld wurde von den amtierenden Personen „in zwen
seckein und einer sewblaßen verpitschirt, auch weil es abwesend der verhafften
wittiben in ihrem haus nicht wol verwarth geweßen, zur kellnerey Zwingenberg
gebracht und biß uf fernem bevelch reponirt."
Am gleichen Tage fand auch die verantwortliche Vernehmung der
Margareta Bergsträßer statt. Hierbei wurde folgendes zu Protokoll genommen:
„Erstlichen sagt sie, sie hette ihre artzneykunst von ihrem mann selig erlernet
und gehe sonsten mit nichts anders umb, als mit kreutern. Wolte auch hierbey
anfangs nicht gestehen, das sie mit segen umbgehe, biß zuletzt, daß sie deßen
ernstlichen erinnert, das sie auch segnerey gebrauchet, eingestanden und
bißweylen dießen segen gebrauchet:
Kleine Mitteilungen.
297
'Du liegest allhier
Und weißest nicht was du bist,
Drum helffe dir
Gott und der heilige Christ.
Im nahmen Gottes, des vatters, des sohnes und des heiligen geistes.'
Das andre ist sie befragt worden, ob sie auch auf ersuchung der leuth in
erkennung der Schwachheiten, ettwan christallen, glaß, stein oder ettwas anders
gebrauchet. Hat sie hiervon nichts gestehen wollen. Dargegen sie befragt
worden, warzu dann sie den stein, so einer donneraxt gleich seye und ihr
fürgetzeigt worden, gebrauchet hette. Antwortet sie, solcher stein were ein donner-
axt, wiße nicht wer das loch darin gemacht. Ihr mann hette denselben zu den
pferdten, so böße schleuch gehabt, gebrauchet und die böße schleuche damit
bestrichen. Wie denn auch sie zu den weibern, so böße brüst gehabt, solchen
stein, damit sie die brüst creutzweis mit sprechung:
'Im nahmen Gottes des vatters, des sohns und des h. geistes'
in gleichem zu den pferdten an bößen schleuchen gebrauchet habe.
Das dritte, das pulver in dreyen underschiedlichen lädelein seye aus barb-
winckelkraut, peterwurtz und dann einem schmalen kraut, so sie jetztmal nicht
benennen wollen. Und sagt, dasselbe habe ein roth blümlein und trage schottergen,
stehe und wachße im newen wege zu Malchen hinder ihrem hauß, und gebe sie
solch pulver, denen sie ihr urin, salva reverentia zu schreyben, besehe und
unden ufm boden trübe, als wie hefen befinde, in dreyen kleinen düttergen
in dreyen eyern ein.
So sagt sie vors dritte, das die wurtzel, so sie in einem ledlin gehabt und
ihrem bericht nach peterwurtz sein solle, den leuthen so das fieber hetten,
ohne segensprechen (quod non creditur) anhenge und dieselbe jars im maio
grabe.
Ferner und zum vierten sagt sie, daß das kreutig, so in einem glaß geweßen,
wildtblumen wehren, und brauche sie dieselbe den leuthen, denen ein h ande
oder fuß verstaucht were, lege sie in warmer may butter auf.
So mache sie zum fünften ein schmaltz aus den rothen Schnecken, nehme
dieselben und henge sie in ein tuch an die sonn, so dreuffe das schmaltz herab
in ein undergesetztes gefeß, welches schmaltz sie zur lämigkeit gebrauche.
Das geschmier das sechste in zweyen häfen, sey oly drauß von dem nußoly,
darmit schmier sie die wunden an menschen und viehe, wann die fliegen
solche wunden, sonderlich an vieh beschmeißen, damit keine maden darauß er-
wachßen mögen.
Das obgemelte pulver, sagt sie, gebe sie auch den jungen schwachen
kindern in einem dottgen zu dreyen malen in dem breylein ein und werden
darvon gesundt.
Ist vors siebende eingestendig, das zu vielen mahlen die leuth ihr die urin
zu besichten und daraus die Schwachheit zu erkennen gebracht hetten, wie denn
in ihrem hauß viel kutturfen und andere gläßer befunden und in fünff under-
schiedlichen gläßern noch urin vorhanden geweßen, welche ihr fürgestellt und zu
wißen begert worden, wer ihr solch wasser zugebracht hette. Hat sie anfangs
niemanden kennen wollen, biß zuletzt, da sie ernstlichen hierzu ermahnet worden,
nach benennthe angetzeigt: Als erstlichen berichtet sie das in einem glaß das
wasser ist gar schwartz, des spitalmeisters zu Hoffheim, Wilhelmen
298
Müller:
Buchen geweßen und ihr ungefehr vor 2 oder 3 monaten durch ein frawe seinet-
wegen gebracht worden sey. Habe ihme daruff gemeltes pulver in dreyen
dottergen, dieselbe in dreyen eyern einzunehmen geschickt und darbey einen
tranck von 3 roßmarein, 3 majoran und drey ysopen stücken in einer echtmas
wein zu sieden und zu trincken zugerichtet, welcher dranck durch alle glieder
des menschen gehe und helffe.
So were der urin in einem andern glaß von dem Wülckern zu Diepurgk
ihr zugeschickt, deme sie gleicherweiß wie negst gesagt verholffen. Yon uberigen
urinien in den andern gläßern hat sie nicht berichten wollen, von weme sie ihr
gebracht seyen, mit furwendung, es sey ihr vergeßen.
Zum achten hat sie auch under andern salva reverentia zu melden in ihren
artzneyen weißen hundstreck gebrauchet, darmit sie die schwache kinder
uf fewer kolen bereuche.
Wie wol nun furs neunde sie in abreden sein wollen, das ihr die leuth, so in
ihren Schwachheiten bey ihr rath gesucht, einige stück oder hempt von
ihrem leib, daran die Schwachheit zu erkennen gebracht hetten, so ist doch
sie deßen so baldt durch Peter Lehn, Bürgern und des Raths zu Zwingenbergk,
welcher sie auch seiner lämigkeit halber, darmit er noch behafft ist, raths befragt
hat, ubertzeuget, sagt es ihr in faciem, das er von Michel Spießen zu Wallersteden,
so gleicherweis lahm geweßen, berichtet worden, er habe ihr sein hempt von
seinem leib geschickt, welches sie angenommen und darob die Schwachheit
erkandt, auch ihme daruff geholfen. Als hette er, Peter, ihr gleichfalls sein hembd
durch seinen söhn geschickt und damit allein uf beseits gangen. Was sie aber
darmit gethan, hette sein söhn nicht vermercken können. Sie denn daruff zu
seinem söhn gesagt, er hette einen trunck in wein gethan, dahero die lämigkeit
kommen und es were ihm besser geweßen, er hette darfür wasser getruncken
gehabt. Hette aber sonsten nicht berichten wollen, von weme oder woher ihme
solcher trunck were beygehalten worden. Auff solchen ihren bericht were er
selbsten zum zweyten mal bey ihr zu Malchen geweßen und ihres raths gepflogen.
Habe ihme darauff selbst gesagt, es seye ihme solche lämigkeit durch einen trunck
herkommen und ihme drey dottergen obberurtes pulvers, solche in dreyen eyern
des morgens früe inzunehmen gegeben und darbey einen tranck von ysopen,
salbey, hirtzzungen und roßmarein in wein zu sieden und zu trincken bevohlen.
Aber es habe ihnen nichts geholffen. Welches alles sie auff solche antzeige
nicht verneinen können, sondern eingestehen müßen. .
Ebenmeßig hat Jacob Reußen dienstbub am 24 julij jüngsthin, so sie
raths befragt, berichtet, daß sie ihnen an seinem gantzen leib betastet und
heimlichen darbey etzliche worth, so er nicht verstehen können über ihnen
hero gemurmelt habe.
Deßgleichen berichtet auch Balthasar Werckli ein meurer zu Zwingenbergk,
das er uniengsten von wegen seines bruders Christian Wercklies haus-
frawen, welche im haupt jrr und fast sinnloß geweßen, sie raths gesucht
hette. Habe ihme daruff vielbemeltes pulvers drey dottergen voll inzunehmen ge-
geben und ihme darfur ein halben fl. zu lohn abgeheischen. Habe ihr seines
behalts umb 3 batzen verehret.
So hat auch ihr Peter Krapp der bawbecker zu Zwingenbergk ins angesicht
gesagt, daß sie vor IY2 jare uf sein erfordern zu ihme naher Zwingenbergk
kommen und ihme seine schwacheiten, so er im leib gehabt mit Zurichtung
eines drancks von dreyen roßmarin, dreyen jsopen, dreyen quendlin und dreyen
Kleine Mitteilungen.
299
majoranstücken und denen Zustellungen des pulvers obberürts in dreyen dottergen
und einem dötgen voll geweihets saltz geholffen.
Und obgleich sie zuvorhin, ob sie andern mehr zu Zwingenbergk verholfen
habe, befragt geweßen und nichts bekennen noch berichten wollen, jedoch ist sie
auff solch beschehene confrontation dießes alles eingestendig geweßen.
Die ohlhaut, so in ihrem hauß befunden, belangend, sagt sie ihr mann hette
darauß hoßenbendell machen wollen. Ob nun aber dießes also war sey, wird
dißmals an seinen orth gestellet.
Als sie auch zum uberfluß befragt worden, zu was ende sie die hembder
der schwachen leuth gebrauche, hat sie daruff nichts sagen wollen, allein
daß sie gestanden, die leuthe hettens ihr gebracht, welche aber sie nicht wie der
schinied zu Obern Berbach, deme die leuthe auch kleider in ihren kranckheiten
brächten und von ihme nicht wiedergegeben würden, behielte, sondern den leuthen
wieder zustellete. Darob denn unschwer und leichtlich abzunehmen, daß sie über
solche hembder auch ihr unchristliche segen oder andere verbottene mittel ge-
brauchen thut, nicht zweivelnde, da sie deßwegen mit mehrerem ernst befragt
werden solte, sie endtlichen die beschaffenheit werde antzeigen müßen.
Wie sie dann auch anderer mehr sachen halben, so nicht weniger verdacht
zaubereyen uf sich haben, in specie befragt worden und nemblichen, ob nicht war,
daß sie vorm jar ein newe egen ufm feld, so Hans Reißman zu Malchen zu-
gehörig geweßen, diebisch entfrembdet und in ihrem ofen zu eschen
verbrandt hette. Hat sie es, ohngeachtet deßwegen uf der centh ihr 5 Pfund
heller ihrem selbst berichten nach zur straff erkanndt, nicht, daß sie es gethan,
gestendig sein wollen, sondern wendet vor. es seye ihr mit solcher straff unrecht
geschehen, da doch deßen sie niehmals könn überwießen werden.
So ist sie auch vermöge des gemeinen geschreyes der zaubereyen
offendtlichen im verdacht, wie sie dann sich solte haben hören laßen,
da man mit ihr also werde fortfahren, so weren auch andere mehr zu Malchen
und zu Zwingenbergk, die auch vort müsten.
Entzlichen ist sie auch befragt worden, ob sie nicht einen guthen vorrath
an gel dt hette und daßelbe, wo nicht alles, jedoch das mehrer theil von denen
leuthen, so sie in ihren Schwachheiten raths ersucht, verehrt worden were. Hat
sie geandtwortet, sie wüste nicht, wie viel sie daheim in ihrer arcken hette. eins
theyls hetten ihr die leuthe verehrt und sie wol gehalten, auch ihr vetter der
marckmeister zu Darmbstatt ihr newlich 12 fl. in sechs dutten gegeben, sowie ge-
dachter ihr vetter ihr auch umb 100 fl., so sie ihme geliehen und dabevor nach
ihres mans todt ihr zu theyl worden weren, schuldig.
Fernere verdechtige umbstende hat dißfals von ihr nicht erkundiget werden
mögen."
Folgenden Tags, am 2. August 1612, sandte der Keller Anthonius Saarbrück
die Protokolle an die fürstliche Regierung nach Darmstadt. In seinem Regleit-
schreiben gibt er seiner persönlichen Ansicht über die Angelegenheit ausführ-
lichen Ausdruck, und diesen Bemerkungen entnehmen wir noch folgendes:
„Was nun gegen ihr ferner für zu nehmen sein mochte, daß stehe bey Ewern
Gestrengen, Ernvesten und Großgünstigen, hochvernünftigem bedencken und ist
zwar meines erachtens dieser frawen verbrech nicht allein nicht gering, sondern
.auch sehr verdächtig anderer mehr hoch straffbarlicher sachen, wie uß ihrem
bekentnis unschwer abzunehmen und in der verhoer ab ihrer persohn geberden,
reden und antwort, besonderlich deren verbrendten egen halben beschehener
Verneinung vermerckt worden ist. Und dieweil sie eine alte und fast ab-
300
Müller :
gelebte frane ist, so wehre nötig, waß gegen sie ferner in einem oder ander
wege furzunehmen, daß es fürderlich beschehen möchte. Es ist gestern ihr
vetter der marckmeister zu Darmbstad allhier bej mir gewesen und begeret,
ihnen zu ihr zu laßen, zu hören, was ihr gelegenheit sein möge. Ich habs aber
noch zur zeit bedenckens gehabt, den aditum zu willigen, sondern zuvorderst die
eingenohmene gelegenheit E. G. H. und G. zu schreiben wollen. Ohne ist auch
nicht, so viel ich bißhero gehöret, daß sie fast von jederman deren
zeubereien verdächtig gehalten würdt und da derhalben wider sie eine in-
quisition angestellet und etzliche uß der gemeinde zu Malchen, auch hiesgen ort
derwegen verhöret werden sollen, mochte vielleicht der verdacht verificirt
werden und andere mehr ins spiel gerathen. Wie sie dann sich solte haben ver-
nehmen laßen, da man mit ihr also procediren werde, so müsten auch andere
mehr vort. Alß aber ich dieses ihr furgehalten, hatte sie es nicht gestehen wollen.
Gedachter marckmeister hat sich erbotten vor sie burgeschaft zu
leisten und sie zu sich in sein hauß zu nehmen und aufsieht zu haben, damit
sie sich inskünftig fernem artzens, segens und dergleichen gentzlich enthalten
solte. Stehet also dießes wohl zu bedencken. Und da sie dies mais der haften uf be-
melte bürgschaft wider erlaßen werden solte, so konde man ihr ihres Verbrechens
halben von dem inventirten gelt, welches sie durch solch ihr unzimbliches artzen
lind segen erobert, wohl eine zimbliche summe abnehmen und dem fisco
heimweyßen, doch E. G. E. H. und G. hiermit nichts vorgeschrieben.
So bin ich auch vor dem pfarhern zu Niderbernbach vor geweßen, berichtet,
daß Madern Roß zu Oberbernbach deme gleichfals sein lange zeit ver-
übtes artzen und segen bey Vermeidung hoher straffe verbotten worden, seither
sich deß artzens und segens widerumb undernohmmen und also solchen gesellen
fast unmeglichen ist, siefo deßen gentzlich zu enthalten. Stehet also zu bedencken,
ob nicht auch solcher gestalt gegen ihme mit gefenglicher Verhaftung und nach-
suchung in seinem hauß verfharen werden solten. Erwarten hierauf E. G. H.
und G. großgünstigen bevelchs.
Sonsten werde ich auch berichtet, daß gedachtes Maderns fraue und Leonhard
Franck zu Oberbernbach, so itzo flüchtig seind, mit einander zu Eychen bey
Gernßheim sich verhalten soin und da deme also, konden sie der ends wohl nider-
geworffen und auf begeren gegen einen reverß versehentlich in unseres gnädigen
fürsten und herrn haft gebracht werden."
"Was die Darmstädter Regierung auf diese Vorschläge geantwortet hat, ist
dem Wortlaut nach nicht bekannt. Soviel steht aber fest, daß Margareta Berg-
sträßer spätestens am 10. August 1612 nach ordnungsmässig geleisteter Bürgschaft
aus dem Gefängnis entlassen und nach ihrem Heimatsort Malchen zurückgebracht
worden ist.
Hiermit sind wir am Schluss der Akten angekommen, soweit sich deren
Inhalt auf Margareta Bergsträßer bezieht. Wir stehen nun vor der Frage, welches
das Ergebnis der Untersuchung war, die ja für die Angeschuldigte glimpflich
genug verlaufen ist. Wenn wir die Zeugenaussagen, das teilweise Geständnis und
das Ergebnis der Haussuchung noch einmal an uns vorüberziehen lassen, so läßt
sich ein ziemlich sicheres Bild gewinnen, wieweit der Vorwurf von dem „teuffelischen
segen und warsagen, auch artzen" gegen Margareta Bergsträßer begründet war.
Zunächst ist gleichsam als Milderungsgrund hervorzuheben, dass das Treiben der
Malchener Kräuterfrau durchaus nicht als isolierte Erscheinung dasteht, sondern
dass die Untersuchung zum mindesten den Verdacht ähnlicher Handlungen noch
auf verschiedene andere Personen geworfen hat. Von ihrem eigenen Manne hat
Kleine Mitteilungen.
301
Margareta Bergsträßer die Arzneikunst und den Gebrauch der Donneraxt erlernt.
Möglich also, dass das Ehepaar dereinst gemeinsam praktiziert hatte. Auf ganz
ähnliche Art wie sie, kurierte auch Madern Roß, der Schmied aus Ober-Beerbach.
Freilich hat sich jener bei seiner lichtscheuen Tätigkeit mit dem Besehen der
Leibwäsche und der Kleidungsstücke seiner Patienten allein nicht begnügen können,
sondern die vertrauensvoll übergebenen Stücke einfach für seine Zwecke zurück-
behalten, wodurch er seine Anhänger nicht nur auf feine Art betrogen, sondern
auch noch fremdes Eigentum in grober Weise unterschlagen hat. Als Wennig
Weicker vom Hain, dem heutigen Hahn bei Pfungstadt, wegen seiner kranken
Mutter zu Margareta Bergsträßer kam, will sie ihn zum Pfarrer nach Bickenbach
geschickt haben. Dass der dortige Pfarrer der abergläubisch gesinnten Patientin als
Jünger Christi helfen sollte, ist nur schwer zu glauben. Er stand offenbar ebenfalls
im Geruch der Zauberei.
Die Tätigkeit der Margareta Bergsträßer setzt sich aus einer grösseren Reihe
einzelner Gepflogenheiten zusammen. Sieht man von dem ihr wohl nur fälschlich
zur Last gelegten Kristallensehen und dem nicht bewiesenen Gebrauch der Aalhaut
ab, so bleibt im wesentlichen noch folgendes Bild ihres abergläubischen Treibens
übrig. Neben dem Segensprechen („Du liegest allhier" usw.) erscheint sie des
Gebrauchs der Donneraxt bei Pferdekrankheiten und brustleidenden Frauen über-
führt. Kräuter hat sie nicht nur als Pulver, sondern auch zu Tränken und bei
Abwaschungen verwenden lassen. Erwiesen ist das Besehen von Wäschestücken,
ferner von Urin, so bei dem Spitalmeister Wilhelm Buchen zu Hofheim (heute
Philippshospital bei Goddelau) und einem Patienten von Dieburg. Was den
Gebrauch der Peterwurz bei Fieber betrifft, so gestand sie, dass sie dieses Gewächs
den Leuten „ohne segensprechen anhenge und dieselbe jars im majo grabe."
Wildblumen hat sie verordnet, wenn jemand die Hand oder den Fuss verstaucht
hatte, und zwar legte sie dieselben „in warmer maibutter" auf. „Schmaltz aus
den rothen Schnecken" sollte bei Lahmheit helfen und Öl bei Fliegenstichen be-
wirken, dass weder bei Mensch noch Vieh Maden entstünden. Endlich hat sie
„weißen hundstreck gebrauchet, darmit sie die schwache kinder uf fewer kolen
bereuche." Wichtig ist, dass Margareta Bergsträßer ihr Tun möglichst geheim
hielt und den Segen niemals in Gegenwart eines Zeugen hersagte, es sei denn
so, dass die Worte nicht verstanden werden konnten.
Es sind im ganzen acht Einzelfälle, deren Margareta Bergsträßer als überführt
anzusehen ist:
1. Die Mutter Wennig Weickers aus Hain (Hahn) bei Pfungstadt, an Brust-
schmerzen und Schwäche leidend, hatte ihr Hemd geschickt. Margareta Berg-
sträßer gebrauchte daraufhin den Segen, verordnete Pulver und empfing für ihre
Tätigkeit ein Viertel Eier. Der Zustand der Kranken hat sich angeblich gebessert.
2. Michel Spieß zu Wallerstädten (Kreis Gross-Gerau) hat Margareta Berg-
sträßer wegen Lahmheit um Rat befragt. Sie hat ihm geholfen, nachdem er ihr
sein Hemd geschickt. Befriedigt von diesem Erfolg hat Michel Spieß den Peter
Lehn aus Zwingenberg, der mit demselben Leiden behaftet war, zu der Malchener
weisen Frau gesandt.
3. Peter Lehn, Bürger und Ratsperson aus Zwingenberg, liess Margareta
Bergsträßer erst durch seinen Sohn konsultieren und kam dann persönlich. Nachdem
der Segen über das Hemd gesprochen war, musste der Patient den Kräutertrank
und das Pulver einnehmen und seine lahmen Beine abwaschen. Die Kur hat
nichts geholfen. Peter Lehn hat seine Lahmheit behalten, und der dafür ent-
richtete Gulden war zum Fenster hinausgeworfen.
302
Müller, Hellwig:
4. Dienstbub Jörg bei Jacob Reußen in Zwingenberg war am ganzen Leib,
an Armen und Füssen kraftlos. Diesen Kranken hat Margareta Bergsträßer an
seinem Leib von Kopf bis zu Füssen betastet., etliche Worte heimlich über ihn
gemurmelt, die der Patient nicht verstehen konnte und ihm Pulver verordnet. Die
Kur kostete V2 A- und hat dem Kranken geholfen.
5. Bei Wilhelm Buchen, Spitalmeister zu Hofheim, der an Schwachheit litt,
hat Margareta Bergsträßer den Urin besichtigt, der ihr durch eine Frau überbracht
worden war. Ob das verordnete Pulver und der Trank Erfolg hatten, wird nicht
berichtet.
6. Bei Wiilcker von Dieburg, an Schwachheit leidend, hat Margareta Bergsträßer
den Urin besichtigt. Resultat unbekannt.
7. Die Frau Christian Wercklis zu Zwingenberg war „im haupt irr und fast
sinnlos". In diesem Fall wurde Pulver verordnet und dafür x¡2 fi. gefordert.
Ergebnis der Kur unbekannt.
8. Endlich ist Peter Krapp, dem Baubecker zu Zwingenberg, wegen seiner
Schwachheit im Leib der übliche Trank verordnet worden. Auch hier fehlen
Einzelheiten und Angaben über die Wirkung.
Die eben hervorgehobenen acht Einzelfälle zeigen deutlich, dass Margareta
Bergsträßer bei leichteren Krankheiten entweder nur den Trank, 'welcher durch
alle Glieder des Menschen gehe und helfe', oder nur ihr Pulver, bei schwereren
Leiden dagegen beide Mittel zugleich anzuwenden pflegte. Es ist nicht un-
interessant, etwas näher auf die Zusammensetzung dieser Medikamente einzugehen.
Bezüglich des Pulvers erklärte Margareta Bergsträßer selbst, dass sie Patienten,
deren Urin trüb sei, ein Gemisch 'in dreyen kleinen düttergen in dreyen eyern'
eingebe, das aus 'barbwinckelkraut, peterwurtz und dann einem schmalen kraut'
bestehe, das sie aber nicht nannte, sondern nur nach einigen Merkmalen beschrieb.
Dem Dienstbub Jörg hat sie 'drey eyer und pulver in dreyen kleinen döttergen
zugestelt, die er des morgens geßen' und ähnlich lauten die Verordnungen bei
andern Kranken. Was den Trank anbetrifft, so wurde Wennig Weicker empfohlen
etliche Kräuter, nämlich Rosmarin, Ysop und Majoran zu nehmen, einen Trank daraus
zu sieden und ihn seiner Mutter zum Trinken zu geben. Ähnlich sollte Peter Lehn ver-
fahren, der auf ihren Rat Ysop, Salbei, Hirtszungen [= Hirschzungen, Scolopendrium
off., s. H. Marzell, Die Tiere in dt. Pflanzennamen 1913, S. 39] und Rosmarin
gesotten und getrunken, auch seine lahmen Beine damit gewaschen, ja selbst noch
das Pulver, aber alles ohne Erfolg, eingenommen hat. Die gleichzeitige Anwendung
des Pulvers und des Trankes wurde endlich auch bei Peter Krapp zu Zwingen-
berg und dem Hofheimer Spitalmeister verschrieben. Dem ersteren hat sie durch
'Zurichtung eines drancks von dreyen roßmarin, dreyen jsopen, dreyen quendlin
und dreyen majoranstücken' sowie durch Pulver 'in dreyen döttergen und einem
dötgen voll geweihets saltz' geholfen. Letzterer aber bekam 'ein pulver in dreyen
döttergen, dieselbe in dreyen eyern einzunehmen' geschickt, dazu 'einen tranck
von 3 roßmarein, 3 majoran und 3 ysopen stücken in einer echtmas wein zu
sieden und zu trincken zugerichtet'.
Als Ergebnis des gesamten Untersuchungsmaterials darf man sagen, dass
Margareta Bergsträßer, wie dies auch sonst regelmässig der Fall war, Spezialistin
für nur wenige, ganz besonders geartete Krankheiten gewesen ist. Nur ein ein-
ziges Vorkommnis, der angebliche Diebstahl der Egge, fällt ausserhalb des ge-
wonnenen Rahmens. Hans Frank zu Malchen hatte von Hans Reißen (Reißman)
daselbst eine neue Egge zur Kornsaat entlehnt. Nachdem diese aber dem Ent-
leiher abhanden gekommen war, kam Margareta Bergsträßer in den Verdacht, das
Kleine Mitteilungen.
303
Gerät gestohlen und in ihrem Stubenofen zu Asche verbrannt zu haben. Schon
1611 ist die Beschuldigte deswegen auf der Zent zu Zwingenberg mit 5 Pfund
Heller bestraft worden. Nach wie vor hat sie diese Tat in Abrede gestellt, mit
der festen Behauptung, dass sie zu Unrecht bestraft worden sei und niemals eines
solchen Delikts überführt werden könne. Möglich also, dass in diesem Punkt
eine ungerechtfertigte Verurteilung untergelaufen war. Wie dem aber auch sein
mag, so erscheint das sonstige Beweismaterial schwer belastend für Margareta
Bergsträßer. Wenn sie gleichwohl wegen ihres Tun und Treibens gelind davon
gekommen ist, so hatte sie diese Behandlung wohl in erster Linie dem ver-
ständigen Verhalten der landgräflich hessischen Regierung zu danken. Denn
wenngleich nicht immer, so hat man sich dort zur Zeit der Hexenverbrennungen
doch im ganzen weiser Zurückhaltung beflissen und nach Möglichkeit verhindert,
dass — um ein naheliegendes Bild zu gebrauchen — die Flammen der Scheiter-
haufen benachbarter Territorien auf das landgräfliche Gebiet überschlugen. Auch
der vorstehende Fall bestätigt diese weise Politik, die solche abergläubische Ver-
irrungen des menschlichen Denkens lieber mit Nachsicht ertrug, als sie mittels
gewaltsamer Schreckensmassregeln, die für alle Zeiten einen unauslöschlichen
Makel zurückgelassen hätten, auszutilgen.
Darmstadt.
Wilhelm Müller.
Misshandlung eines Hexenmeisters.
Der Hexenglaube war Anlass einer Misshandlung, welche am 6. April 1909
ihre Sühne vor dem Schöffengericht Saarburg fand. Es handelt sich um das
Strafverfahren gegen Susanna und Katharina Peters. Für die liebenswürdige
Übersendung der Akten D. 25/09 bin ich dem Herrn Vorsitzenden des Schöffen-
gerichts zu besonderem Danke verpflichtet.
Das Schöffengericht verurteilte die Angeklagten wegen Beleidigung zu je
10 Mk. Geldstrafe und wegen gefährlicher Körperverletzung zu je 14 Tagen Ge-
fängnis, sprach sie dagegen von der Anklage der Bedrohung frei.
Der Sachverhalt ergibt sich aus den folgenden Urteilsgründen:
Am 21. Februar d. J. kam die Angeklagte Katharina Peters in die Wohnung
des Zeugen Meyer und forderte ihn auf, am nächsten Tage zu ihnen nach Serrig
zu kommen, um ihnen ein Stück Vieh abzukaufen. Als Meyer am nächsten Tage
in die Wohnung des Vaters der Angeklagten kam, traf er nur diese beiden An-
geklagten an; ihr Vater war nach ihrer Angabe im AVeinberg beschäftigt. Da sie
erklärten, das Handelsgeschäft könne auch ohne den Vater geschlossen werden,
folgte Meyer den Angeklagten auf deren Aufforderung in den Viehstall. Er fragte,
was mit dem dort befindlichen, sehr schlecht aussehenden Vieh geschehen sei,
worauf die Katharina Peters mit einer Heugabel, die mitangeklagte Susanna Peters
mit einer Mistgabel auf ihn losgingen, indem beide schrien, er und sein Sohn
habe das Vieh behext. Sie schlugen und stachen auf den Zeugen los, der sich
nur mit Mühe durch Vorhalten des Armes vor dem Angriff schützen konnte.
Beide Angeklagte hieben und stachen mehrmals in den Arm. Der Arm schwoll
kurz darauf so an, dass Meyer, der sich nach der Tat in ein Wirtshaus begeben
hatte, den Arm nicht in die Tasche stecken konnte, um seine Geldbörse heraus-
zuholen. Die Stiche waren ungefährlich, jedoch dauerte es 14 Tage, bis sie ge-
heilt waren. Meyer erhielt auch noch Schläge auf den Kopf, die jedoch durch
die Kopfbedeckung abgeschwächt wurden. Die Katharina Peters rief ihrer
*
c
304
Hellwig, Höfler:
Schwester Susanna zu: „Stech' ihn tot!" Letztere rief: „Wenn der Vater da
wäre, würde er ihn totschiessen." Erst als der Zeuge Meyer in die Tasche
griff und drohte, mit einem Revolver zu schiessen, liessen die Angeklagten von ihm ab.
Dieser Sachverhalt ist durch das glaubwürdige, eidliche Zeugnis der Zeugen
Meyer und Wagner sowie das Attest des praktischen Arztes Dr. Cetto als er-
wiesen erachtet worden.
Die Behauptung, Meyer habe das Vieh verhext, d. h. einen nach Ansicht der
Angeklagten möglichen, absichtlichen, übernatürlichen Einfluss auf dasselbe zum
Nachteil seiner Gesundheit ausgeübt, enthält eine Beleidigung. Der erforderliche
Strafantrag ist gestellt. Die bei der Körperverletzung benutzten Werkzeuge sind
in der Art ihrer Anwendung gefährlich im Sinne des § 223a St. G. B.
Von der Anklage der Bedrohung waren beide Angeklagte freizusprechen,
da hierfür Belastendes sich aus der Hauptverhandlung nicht ergeben hat.
Die Unbescholtenheit der Angeklagten, ihre offenbare geistige Minderwertig-
keit, sowie der Umstand, dass sie wohl tatsächlich an die Möglichkeit des Hexens
glaubten, hatten es angemessen erscheinen lassen, ihnen bei der gefährlichen
Körperverletzung mildernde Umstände zuzubilligen. Jedoch habe sich das Gericht
im Hinblick auf die Verschlagenheit, mit der sie den Verletzten zwecks Aus-
führung der Tat in den Stall zu locken verstanden hatten, und unter Berücksichti-
gung der Erheblichkeit der Verletzungen nicht in der Lage gesehen, auf eine
Geldstrafe zu erkennen. Aus denselben Erwägungen, welche für die Zubilligung
mildernder Umstände massgebend gewesen seien, wäre auch bezüglich der Be-
leidigung eine geringe Geldstrafe angemessen gewesen.
Gegen dieses Urteil legte der Amtsanwalt Berufung ein, weil ihm das Straf-
mass zu niedrig war. Die zweite Strafkammer zu Trier wies durch Urteil vom
18. Juni 1909 (2 N 56/09) die Berufung des Amtsanwaltes zurück. In den sehr
knappen Urteilsgründen wurde lediglich ausgeführt, dass die tatsächlichen Fest-
stellungen und die rechtliche Würdigung durch das Schöffengericht vollkommen
zutreffend seien und dass auch das Strafmass aus den von dem Schöffengericht
angeführten Gründen angemessen erscheint.
Hervorgehoben mag werden, dass auch vor der Strafkammer Susanna Peters
immer noch in Abrede stellte, den Meyer geschlagen zu haben, während Katharina
Peters jetzt wenigstens zugab, ihn einmal mit dem Stock der Heugabel auf den
Arm geschlagen zu haben.
Das Urteil der Strafkammer wurde rechtskräftig. Beide Verurteilten reichten
nunmehr ein Gnadengesuch ein, in welchem sie um Erlass der Strafe baten.
Dieses von dem Gemeindevorsteher und dem Pfarrer befürwortete Gnadengesuch
führte schliesslich dazu, dass durch Allerhöchsten Erlass dem Antrage des Justiz-
ministers entsprechend die erkannte 14tägige Gefängnisstrafe in eine Geldstrafe
von 30 Mk. umgewandelt wurde.
Mit dem Vorsitzenden des Schöffengerichtes, welcher seinerzeit es ausdrück-
lich abgelehnt hatte, die bedingte Begnadigung der Angeklagten zu empfehlen,
bin auch ich der Meinung, dass es besser gewesen wäre, wenn dem Gnadengesuch
nicht entsprochen worden wäre.
Es ist allerdings richtig und auch von mir wiederholt betont worden, dass
der Hexenglaube bei der Beurteilung von Straftaten, welche von Abergläubischen
gegen angebliche Hexen und Hexenmeister begangen werden, in hohem Grade als
strafmildernd in Betracht gezogen werden muss. In vorliegendem Falle war aber
nicht nur zu berücksichtigen, dass sich die Angeklagten einer objektiv recht
erheblichen gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht hatten, auf welche
Kleine Mitteilungen.
305
das Gesetz, wenn nicht gerade infolge des Hexenglaubens der Angeklagten
ihnen mildernde Umstände zugebilligt worden wären, eine zweimonatliche
Gefängnisstrafe als Mindeststrafe androht, sondern dass auch nach der sub-
jektiven Seite hin das Verhalten der Angeklagten keineswegs als besonders
milde zu beurteilen erscheint: sie haben nicht nur in hinterlistiger Weise den
Meyer in den Stall gelockt und ihn dort hinterrücks überfallen, sie haben nicht
nur dabei Äusserungen getan, aus welchen man annehmen kann, dass sie ihn
am liebsten totgeschlagen hätten, sondern sie haben auch von Anfang an die
Tat in frecher "Weise vollkommen in Abrede gestellt und sich sogar nicht ge-
scheut, den von ihnen hinterlistig Überfallenen in niederträchtiger Weise zu be-
schuldigen, er habe sich die — in Wirklichkeit von ihnen beigebrachten — er-
heblichen Verletzungen selbst beigebracht, um sie zu Unrecht zu beschuldigen und
hineinzulegen. Auch in ihrem Gnadengesuch suchen sie das Verhalten des Meyer,
welcher nach der Angabe des Schöffenrichters ein durchaus anständiger, an-
gesehener Mann ist, als betrügerisch und verwerflich hinzustellen und behaupten
im direkten Gegensatz zu den klaren Ergebnissen der Beweisaufnahme in I. und
II. Instanz, Meyer habe sich des Hausfriedensbruches schuldig gemacht, indem er
auf ihre Aufforderung hin den Stall nicht verlassen habe, während er in Wirk-
lichkeit doch von ihnen in den Stall hineingelockt war und sich mit Mühe nur
durch die Flucht ihren Misshandlungen hatte entziehen können. Bei dieser Sach-
lage wäre es meines Erachtens viel eher angebracht gewesen, gegen die beiden
Angeklagten noch nachträglich weitere Anklage wegen Verleumdung und wissent-
lich falscher Anschuldigung zu erheben, als ihnen die selbst bei Berücksichtigung
aller mildernden Umstände noch eher zu geringe als zu hohe Strafe von zwei
Wochen Gefängnis in eine Geldstrafe von 30 Mk. umzuwandeln.
Berlin-Friedenau. Alfred Hellwig.
Gebäcke und Gebildbrote.
(Pollweck und Osterwolf.)
(Mit 18 Abbildungen.)
In jüngster Zeit werden verschiedene Versuche gemacht, die Gebäckformen
auch auf romanischem Sprachgebiete in den Kreis volkskundlicher Forschung zu
ziehen; zwei solche Arbeiten liegen gegenwärtig vor1). Über eine derselben wollen
wir uns hier äussern, die andere einer späteren Besprechung vorbehaltend.
Die Pernmatologie, die Lehre von den Gebildbroten, greift Célos auf, um an
der Hand von einigen Hotel- oder Bäckerladenbroten aus Venedig, bzw. aus deren
Formen deren symbolischen Hintergrund zu erforschen, wobei der Wunsch leicht
Vater des Gedankens werden kann.
1) Georges Célos (Paris), Le pain brié en Vénétie. Ouvrage contenant 26 figures
dessinées par l'auteur d'après les documents originaux. Paris, Jouve et Cie. 1912.
119 S. 2 Fr. — Karl Bauer (Elberfeld), Gebäckbezeichnungen im Gallo-Romanischen.
Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde bei der philos. Fakultät der Grossherzog].
Hess. Ludwigs-Universität zu Giessen (Darmstadt 1913).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3. 20
306
Höfler:
Wir haben schon in unserer Abhandlung 1903 'Volkstümliche Gebäckformen'
(Archiv f. Anthropologie, Neue Folge 3, 310) uns über die Grundlagen zur Pemmato-
logie ausgesprochen und darin folgende Prämissen aufgestellt: a) eine möglichst
1 2 3
6a 6b
Abb. 1. Pain phallique aus Caen im Profil. — Abb. 2. Ausgerollte Form aus Caen. —
Abb. 3. Pain phallique aus Caen. — Abb. 4. Pain phallique mit vier Phallen. — Abb. 5.
Pain phallique mit zwei Phallen. — Abb. 6a und 6b. Pain phallique aus Caen,
grosse Materialsammlung; b) Darstellung des volkskundlichen Bodens, auf dem
das Gebildbrot volksüblich ist, d. h. Rücksicht auf Ort, Zeit, Yolksbrauch, Volks-
namen, Kulturzustan'd, Geschichte. Solange man z. B. bei der Deutung der volks-
üblichen 'Bretzel' nur die (Ring- oder Rad-) Form berücksichtigte, waren Fehl-
Kleine Mitteilungen.
307
Schlüsse sehr nabeliegend; so geht es auch C. mit den von ihm als satyrischer
oder tierischer Penis aufgefassten 'Volutes', die wir unter 'Schneckengebäck'
(oben 13, 391) als Teile des Hakenkreuzes deuteten, und zwar auf Grund obiger
Abb. 7—8. Italienisches Brot. — Abb. 9—11. Brot aus Caen. — Abb. 12—13. Brot aus
Paris. — Abb. 14. Osterwolf oder Pollweck. — Abb. 15. Längsseite von Abb. 14. —
Abb. 16—18. Maisbrot aus Malcesine am Gardasee (nach Prof. ß. Andree).
Voraussetzungen. Wie ein Bäcker (auch in der Antike) dazu kommen sollte, den
ganz aussergewöhnlichen, volutenartigen, fast pathologischen Satyren-Phallus, den
wir nur aus ganz wenigen Vasen- und Obeliskenbildern kennen, zum Vorwurf
eines Volute-Gebäckes zu machen, ist unfassbar. Bei solchen Gebäcksymbolen
hält sich doch das Volk sehr, fast zu sehr an das Reale, Normale und Her-
20*
308
Höfler:
gebrachte, durch die Tradition Geheiligte. Das Schneckengebäck (Volute) knüpft
sich vor allem an die Neujahrszeit an und hat seine formelle Parallele in dem
Hakenkreuz (Schmuck und Apotropaion, Glückwunschzeichen, auch Schicksals-
zeichen), das mit der sexuellen Fruchtbarkeit keinen direkten, formellen Zusammen-
hang hatte, noch hat.
Leider kümmern sich die Franzosen zu wenig um deutsche Arbeiten, die schon
längst ihnen vorauseilen. In der Zeitschrift'Pro Alesia' (2, 210, oben 19, 243)) steht
z. B. eine Abhandlung 'Le pain d'Alesia'; in dieser gelingt es dem Verfasser, ohne die
eigentliche reale Form dieses Brotes überhaupt sichergestellt zu haben, das er nur
aus der Literatur kennt, dasselbe in formelle Verbindung zu bringen: a) mit dem
englischen Hot-Cross-Bun, b) dem Agapebrote der ersten Christen, c) dem kel-
tischen Sonnenrade, d) dem Mondhorn, e) der Krone, f) dem Hakenkreuze, g) den
sizilianischen mylloi (Spaltgebäcke) — diese Vielseitigkeit eines einzigen Lokal-
gebäckes in Alesia übertrifft alles Dagewesene; überhaupt besteht für den An-
fänger in der Pemmatologie die Neigung, aus wenigen und ganz lokalen Varietäten
zu weitgehende Folgerungen zu ziehen. Man weiss, wie launenhaft die Gebild-
brote der Italiener sind, die in ihre, der Knusprigkeit zuliebe gemachten viel-
fachen Einkerbungen auch lustige und luftige Schnörkelbildungen der ver-
schiedensten Art bringen; eine Volute (Schneckenwindung) auf einem italienischen
Gebildbrote gibt aber doch nicht gleich die Berechtigung, an einen 'gâteau
phallique en volute' oder an eine 'forme de galette phallique' zu denken, bloss
weil ein Venetianer Hotelbäcker eine solche Form kombinierte und ohne allen.
Zusammenhang mit irgendeinem lokalen, die sexuale Fruchtbarkeit betonenden
Hintergrund, der an gewissen Kultorten, wo solche Gebäcke nachweisbar, seit
langer Zeit schon üblich waren, leicht gegeben wäre, z. B. an Wallfahrtsorten,
Badeorten mit römisch-heidnischer Tradition usw. Unser Schlangenbrot, das aus
altrömischen Heiltempelorten (Bäder) stammen dürfte, kann verschiedene'Formen
annehmen; aber hierbei ein 'pain phallique' (wie Célos p. 73 fig. 22) anzunehmen,
kann nur derjenige versuchen, der wenig oder keine Schlangenbrote gesehen hat
oder der jedes Gebäck nur durch die Pballusbrille anschaut; ja sogar die mexi-
kanische Phallusform wird als ein Beweis herbeigeholt.
Der Güte des Herrn C., mit dem Ref. sich auch schon brieflich ausgesprochen
hatte, verdanken wir vorstehende Photographien von 'pains phalliques' aus Caen
(Normandie) und Paris. Dass hier in diesen Formen (Abb. 1—6b) eine Phallusform
den Urtypus gebildet haben kann, erscheint als möglich, wenn wir die Formen
schematisch aneinanderreihen (Abb. 7—15). Ist dieser zwei- bis vierfach phallische
Typus richtig, dann haben wir auch eine Erklärung für ein bisher nicht genügend
gedeutetes deutsches Gebildbrot (Abb. 14, 15), welches im Schwarzwald 'Pollweck'
heisst und in Stralsund 'Osterwolf'. Die Parallelen 13 und 14 sprechen für Ge-
meinsamkeit des Urtypus. Die Priorität der Deutung solcher Gebildbrote als
phallischer Gebilde gehört übrigens dann dem mir freundschaftlich so nahe ver-
trauten Professor Andree, welcher mir unterm 3. Juli 1909 schrieb:
„Nach Gebildbroten haben wir uns in Gedanken an Sie fleissig umgesehen..
Nur in Malcesine am Garda-See .glaube ich phallisch geformtes Maisbrot gesehen
zu haben. Es war regelmässig so gestaltet (Fig. 16, 17, 18). Näheres konnte
ich nicht erfahren. Dieses Brot findet sich auch weiter in Oberitalien (schmeckt
gut), aber die Formen wechseln da etwas."
Demnach hätten wir also ein aus Italien ursprünglich stammendes (die vielen
Variationen sprechen für längere Tradition daselbst) phallisches Gebildbrot, das
nach Paris und in die Normandie (Caen) gelangte. Wenn es im Schwarzwald.
Kleine Mitteilungen.
309
'PolLweck' heisst, so will dieser Name nur sagen, class es aus Pollmehl hergestellt
wurde und im Volksbrauche den einheimischen (ebenfalls phallischen) 'Wecken'
ersetzte; wie es aber in den Schwarzwald kam, das ist wohl kaum mehr fest-
zustellen, vermutlich durch den Fremdenverkehr in Baden-Baden.
In unserer Abhandlung 'Der Wecken' in K. Vollmöllers Festschrift (Erlangen,
F. Junge 1908) haben wir diesen Pollweck unter Abb. 73 abgebildet (die anderen
'Pollweck'-Abbildungen 63 usw. stellen auch Wecken und Spaltgebäcke dar, weil
sie aus gröberem Pollenmehl [== erster Mehllauf] hergestellt werden; also ähn-
lich wie 'pain brié' und 'brioche'1) nur vom gebrechlichen Mürbteige).
Der Name 'Osterwolf' in Stralsund verlangt eine Wiederholung unserer
Deutung, die wir schon in unserem Aufsatz 'Ostergebäcke' (Zeitschrift für österr.
Volkskunde, Supplement-Heft 4 zu Band 12 S. 58 Abb. 40, 43, 45, 47) aufgestellt
hatten.
Wir hielten damals dafür, dass Osterwolf nur der Name sei für verschieden-
artig geformte Osterbrote, die dem Osterwolf, d. h. dem Korn- oder Vegetations-
Geiste (Saatwolf) gehörten; auch wenn die Deutung von C. nun sich bestätigt, was
höchst wahrscheinlich ist, dann widerspräche auch die phallische Brotform dieser
Deutung nicht, weil Fruchtbarkeitssymbole auch als Opfergaben an den Korngeist
figurieren können; damals allerdings (1906) waren die zweifachen bzw. vier-
fachen Brotreihen noch nicht als phallisch gedeutet; C. verdient hier die
Priorität.
Da nun die launenhaft variierenden italienischen Formen heute nur ein Alltags-
brot ohne weiteren gegenwärtigen volkskundlichen Hintergrund sind, so könnte
vielleicht gerade der deutsche Osterwolf einen solchen bieten.
1451 ist der 'wulff van den bekkern' eine österliche Spende oder Deputat an
den Zollkontrolleur des Greifswalder Rates (s. Ostergebäcke S. 58). 1558 ist 'ein
grot wolff torn nien Jare' eine Neujahrsabgabe in Stralsund; damit ist der Oster-
wolf oder Wolf ein Neujahrsgebäck oder eine Spende, die dem Roggenwolf früher
vielleicht unter anderer Form gegeben wurde und dann unter diesem Namen
'Wolf' auf Neujahr (Ostern ist ein kirchliches Neujahr) in besserer importierter
Form und Art zum Deputatgeschenk (Präbende) sich umwandelte. Das Volk
blieb bei dieser pflichtgemässen Abgabe unter dem hergebrachten Namen, auch
wenn die Form sich geändert hatte.
Diese Erklärung ist gewiss richtiger als die absurde Deutung Fenrirs oder Höllen-
wolf (!) u. a.
Da nun auch in der Normandie (Caen) dieses Gebildbrot sich findet und
gerade wieder in der Normandie der 'Loup vert', 'un énorme pain bénit à plusieurs
étages' (Mannhardt, Wald- u. Feldk. 2, 315) allerdings in der Sommer-Sonnen-
wendzeit sich erhielt, so haben wir wohl das Recht Loup vert und Osterwolf als
volkskundlich gleichwertig zu betrachten, d. h. als ein Korngeist-Opfer oder
Deputat an den Empfängersubstitut.
Erst durch den volkskundlichen Hintergrund erhalten die Gebildbrote die
richtige Wertschätzung. Herrn Dr. Célos sei hier bester Dank für Überlassung
der Photographien ausgesprochen.
1) Körting, Latein-roman. Wörterbuch8 (1907) S. 187 Nr. 1573 stellt franz. brier und
brioche zum Stamm brik und erklärt brioche als einen Kuchen, dessen zäher Teig tüchtig
geschlagen wurde, Schlagkuchen; also die Teigart, nicht die Form wird damit benannt.
Bad Tölz. Max Höfler.
310
Philipp, Frankel:
Beigaben unter Rainsteinen.
Bei meinen Forschungen über die Flurnamen des Erzgebirges fand ich vor
etlichen Jahren in einem das Amt Schlettau betreffenden Schriftstück des Kgl.
Hauptstaatsarchivs Dresden (Loc. 34208, Grünhain Nr. 4) über eine Berainung
vom Jahre 1764 die Angabe, man habe unter jeden Rainstein 'Kohlen, Glaß
und Eyer Schaalen geleget', sie 'auch sonst mit denen gewöhnlichen Zeichen
verwahret'. Kürzlich stiess ich in Akten des Amtsgerichts Crimmitschau auf ein.
paar weitere Belege für den alten Brauch, Rainsteine durch solche 'Zeugen' zu
sichern. Bei einer 'Versteinung' in der Döbitz1) im Jahre 1673 wurden die
Steine 'mit Zeugen 3 Kieselsteinen, Kohlen vnd Glas' gesetzt. Fast genau
so lauten zwei Einträge vom gleichen Jahre über zwei Berainungen im Dorfe
Wahlen2); der eine besagt: 'Notandum. Alle vorher beschriebene Steine haben
zu Zeugen, drey Kieselsteinel, Kohlen und Glaß' der andere '3 Kiesel
Steine, Kohlen vnd Glaß'. Dagegen hat man 1701 bei einer Berainung auf
Crimmitschauer Flur 'den Ersten Lagstein mit zweyen Kleinen Küselsteinen zu
deßen Zeugen sezen laßen . . . Welche Steine alle [neun] zusammen gleich wie der
erste, mit zweyen Beygelegten Küsel Steinen Bemerckt zu befinden'. Als Beigaben
erscheinen also in der Crimmitschauer Gegend 1673 drei Kieselsteine, Kohlen
und Glas, 1701 nur noch zwei Kieselsteine, bei Schlettau im Erzgebirge 1764
wieder drei 'Zeugen', nur sind hier die Kieselsteine durch Eierschalen ersetzt.
Was ist das Ursprüngliche?
Jakob Grimms Deutsche Rechtsaltertümer4 2, 72 bieten nur zwei Belege,
überdies den einen ohne Ortsangabe, den anderen ohne Jahreszahl. Ich bin
daher auf die Quellen zurückgegangen. Die erste Stelle betrifft eine Grenzirrung
v. J. 1535 zwischen Allendorf3) einerseits und Holzhausen4) und Leidenhoven
andererseits und lautet: „Und soll ein jeder stein Ehlen hoch boben erden
gesatzt und mit Kreutzer boben auch unden in der Erd gehauen seyn, auch bei
einem jeglichen drei kleine Stein und Kohlen gethan und gelegt, auch wie
Margsteins Recht und Gewohnheit ist, gesetzt .... werden"5). Der zweite
Beleg stammt aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts6) und betrifft Rügen:
„Thut ein Part vp Steine, Böhme, Graven, dat idt Scheiden sin schölen, . . . men
moth Kahlen, Glaß edder sammelde Steine vnder dem Scheidelsteine, an
dem Böhme Tekenn, vnd vnder dem Graven settede Steine befinden". In Hessen
wie auf Rügen genügten also damals zwei 'Zeugen', in jedem Falle werden
Kohlen (natürlich Holzkohlen) unter den Stein gelegt. Ich frage wieder: Was ist
das Ursprüngliche, ein Zeuge, zwei oder drei? Hatten die Beigaben irgendwelche
symbolische Bedeutung? Wozu dreierlei, wo doch ein Zeuge, meinetwegen
Glasscherben, genügt, eine Grenzveränderung nachzuweisen, nämlich dann nach-
zuweisen, wenn der Frevler den alten Brauch nicht kennt, den Rainstein also
ohne die Beigaben aushebt und versetzt. Dass man sich gelegentlich, wie 1701
1) Ehemals Vorwerk zum Rittergut Schweinsburg, südlich der Stadt Crimmitschau,
links der Pleisse; der Name 'Deebsgut' erinnert noch daran.
2) Unmittelbar südlich Cr., rechts der Pleisse, seit 1891 in die Stadt einverleibt.
3) An der Lumda, nordöstlich Giessen.
4) Beide südöstlich Marburg (Hessen-Nassau).
5) Carl Georg von Zangen, Beiträge zum Deutschen Recht 1 (1788), 215.
6) M. von Normanns, Wendisch-rügianischer Landgebrauch (nach dem Vorwort
etwa 1529/46 verfasst), 1777 S. 193.
Kleine Mitteilungen.
311
in Crimmitschau, auf eine Art Beigaben beschränkt hat, das bestätigt mir ein
Jurist meiner Bekanntschaft, der um 1880 bei einem Grenzstreit zweier Nachbarn
in Connewitz südl. Leipzig als Referendar der Aushebung eines Rainsteins bei-
wohnte: damals wurde unter dem Steine nur ein Häufchen Glasscherben gefunden.
Ehe sich auf die oben hingeworfenen Fragen eine befriedigende Antwort
ergibt, wird es noch mancher Beobachtungen im einzelnen bedürfen. Wenn diese
Zeilen dazu anregen, so ist ihr Zweck erfüllt.
Dresden. Oskar Philipp.
Jungfrauen Versteigerung im oberen Nahetal.
Seltsam berührt auf deutschem Boden, überhaupt bei einem Kulturvolk, heut-
zutage das Portleben (oder Neuauftreten) einer Sitte, wie man sie sonst nur bei
un- oder halbzivilisierten Stämmen antreffen mag, in Europa wohl höchstens in
entlegenen slawischen oder romanischen Landschaften. Wenigstens finde ich für
diese Sitte, die Versteigerung junger Mädchen, bei ihrem äusserst ge-
diegenen neuesten Darsteller und Erklärer, Albert Becker1), innerhalb seines
reichhaltigen Parallelenvorrats (auf den hier einfach verwiesen sei) keinen Beleg,
der einen allgemeinen, internationalen Grundsatz unterlegte. Zu den von Becker ge-
sammelten und gruppierten Beispielen aus der Pfalz, dem Rheinland usw., die er
literarisch - poetisch treffend durch Herodot, Logau, Schumann-Horn ('Der Rose
Pilgerfahrt') stützt, füge ich ein neues aus der südlichen Rheinprovinz, also
gerade aus dem bei Becker besonders ins Auge gefassten Grenzgebiete jener
Sitte. In dem dicht bei dem berühmten Badeort Kreuznach gelegenen Dörf-
chen Rüdesheim werden in der Woche vor dem Kirchweihtag die jugendlichen
Tänzerinnen regelrecht öffentlich versteigert. Am festgesetzten Tage versammeln
sich die Dorfschönen in dem Tanzlokal, wo die Kirmesburschen ihrer harren.
Ist die ganze tanzlustige Jugend des Dorfes beisammen, so tritt ein Ausrufer vor
und verliest die Namen aller anwesenden Mädchen. Jeder Bursche bietet nun
in heissem Wettbewerb auf diejenige Maid, die er sich für die Kirmestage als
Tänzerin wünscht. Die Angebote sind gar verschieden, Schönheit, Jugend und
Fertigkeit in der edlen Tanzkunst fallen vornehmlich ins Gewicht. Bei manchem
schlauen Burschen ist indes auch das Vermögen der Jungfrau für sein Gebot in
erster Linie ausschlaggebend. Denn nicht selten entwickelt sich, wie ja auch
sonst öfters, aus den gemeinsam verlebten Kirmesstunden ein Bund fürs Leben.
Über die Versteigerung vom Mai 1914 entnehme ich einem verlässlichen Zeitungs-
bericht folgende Angaben: „Diesmal wurden einzelne Tänzerinnen schon für
den gewiss billigen Preis von *20 Pfg. erstanden. Einzelne besonders zugkräftige
'Nummern' kamen aber auch auf 4—6 Mk. zu stehen, da sich jetzt auch in
wachsender Zahl die Kurgäste des durch seine Radiumfunde bekannten Badeortes
Kreuznach des Scherzes halber zu den seltsamen Veranstaltungen einfinden und
wohl auch mitbieten."
Ludwigshafen a. Rh. Ludwig Fränkel.
1) Frauenrechtliches in Brauch und Sitte. Ein Beitrag zur vergleichenden Volks-
kunde (Kaiserslautern, H. Kayser 1914) S. 9—13 und Anm. 4—7. — [Vgl. oben 17, 97.
233. 18, 101 'Mailehen'.]
312
Anderson:
Tschuwaschische Sagen vom Igel als liatgeber.
Vor kurzem hat Géza Róheim in dieser Zeitschrift (23, 407—409) im Anschluss
an Dähnhardt (Natursagen 1, 42f.; 127—132; 338; 3, 8f.; 488f.; 4, 269) sechs
Fassungen der Sage vom Igel als Ratgeber veröffentlicht, darunter auch zwei
tschuwaschische.
In der überaus reichhaltigen Sammlung handschriftlicher Materialien zur
tschuwaschischen Volkskunde, welche sich im Besitze des Herrn Mag. theol.
N. V. Nikólskij in Kasan befindet1), kommt die betreffende Sage nicht weniger
als fünfmal vor. Mit gütiger Erlaubnis des Sammlers veröffentliche ich hier sämt-
liche Passungen in vollständiger Übersetzung.
In zwei Fassungen bezieht sich der Ratschlag des Igels aufs Pflügen.
1. Bd. 65, 420. Gouv. Kasan, Kreis Civiisk, Wolost feibylga, Dorf Jus-
kasy. Zeit der Aufzeichnung: 1911. Gewährsmann: der Bauèr Iván Grigórjev
Rázumov. Originaltext in tschuwaschischer Sprache.
„Darüber, wie der Igel (die Menschen) pflügen gelehrt hat, habe ich folgendes
gehört. Gott verfertigte den Pflug und stellte ihn auf; der Pflug war ganz von
Eisen. Alle Tiere versammelten sich. Der Igel kam erst nach den anderen.
Als er durch die Tür trat, fiel er hin, und die übrigen Tiere lachten. Der Igel
ärgerte sich, ging hinaus und entfernte sich, indem er mäkär-mäkär machte2).
Gott sagte: „Geht hin und hört, was er spricht." Der Igel sprach: „Sie lachen,
haben aber den Pflug ganz aus Eisen gemacht: wer kann damit arbeiten? Man
muss ihn aus Holz machen, nur die Pflugschar muss man aus Eisen machen"."
Die zweite Fassung besteht leider nur aus wenigen Worten:
2. Bd. 1, 231. Gouv. Kasan, Kreis Jádrin, Wolost ÍSumátovo, Dorf Jur-
mikékina. Zeit der Aufzeichnung: Sommer 1904. Gewährsmann: der Zögling des
Kasaner geistlichen Seminars Iván Dmítrijevic Nikitin. Originaltext in tschu-
waschischer Sprache.
„. . . . Ich habe gehört, dass der Igel den Menschen pflügen gelehrt hat."
In der dritten und vierten Fassung ist vom Pflügen nicht die Rede, dagegen
hat sich die Igelsage hier mit einer in Russland auch sonst sehr verbreiteten Er-
zählung verbunden — mit dem legendenartigen Schwank vom Soldaten, der den
Tod überlistete und einsperrte3).
3. Bd. 100, 47—50. Gouv. Samara, Kreis Bugulmá, Wolost Tiríiásevo,
Kirchdorf Jemélkino. Zeit der Aufzeichnung: August 1913. Gewährsmann: der
Volksschullehrer Nikífor Solencóv. Originaltext in russischer Sprache.
1) Antti Aarne, Übersicht der Märchenliteratur, Hamina 1914 (= FF Communi-
cations Nr. 14), S. 62f. — Vgl. auch W. Anderson, Die Meleagrossage bei den Tschu-
waschen, Philologus 73, 159 f.
2) Tonmalerei.
3) Vgl. z.B. A. N. A fanásjev, Naródnyja rússkija legéndy, Moskau 1859, S. 53—71
Nr. 16 4Der Soldat und der Tod' und dazu Anni. S. 154—162. Tschuwaschisch: Nikolskij
Bd. 3, 475—477; Bd. 7, 511; Bd. 78, 525 (die Sonne findet den Esrél); Bd. 90, 246f. (die
Sonne weiss es nicht, der Mond findet ihn); Bd. 96, 141 -149 (ein Frosch sagt, wo Esrél
begraben liegt); Bd. 102, 136-138. — Vgl. auch Bd. 3, 649-651: der Tod wird vom Sol-
daten nur betrogen (muss neun Jahre lang statt Menschen Eichen nagen), aber nicht ein-
gesperrt. Auch in meiner eigenen handschriftlichen tschuwaschischen Märchensammlung
(4.» Erzählungen, in meinem Auftrage von dem Seminaristen Vasílij Petróv im Gouv. Ka-
san, Kreis Jádrin aufgezeichnet) findet sich der betreffende Schwank: S. 86—89 Nr. 24
(verbunden mit den Märchentypen Aarne Nr. 330 und 332).
Kleine Mitteilungen.
313
„Warum jetzt auch junge Menschen sterben, ohne das Greisen-
alter erreicht zu haben. Die Tschuwaschen erzählen, dass früher alle
Menschen erst in hohem Alter zu sterben pflegten. Der Todesengel Esrél1) (der
nach ihrer Vorstellung die Gestalt eines menschlichen Gerippes mit einer Sense2)
hat) liess alle jungen Menschen in Ruhe, bis sie ein bestimmtes Alter erreicht
hatten. Dann, wenn die Greise sich der Zeit ihres Todes näherten, teilte Esrél
ihnen mit, wann ihre Stande schlagen werde, damit sie sich dazu vorbereiteten. Es
war einmal ein alter Tschuwasche. Die Zeit seines Todes kam heran. Esrél
teilte ihm mit, wann er sterben werde. Der Greis war noch rüstig und hatte
keine Lust zu sterben. Er war klug und schlau. Er machte sich einen Sarg mit
einem Schloss daran. Als Esrél zu ihm kam, um seine Seele zu holen, da sagte
er zu ihm: „Esrél, sieh dir den Sarg ordentlich an, ob er für mich passt." Hier-
auf sagte er: „Lege dich in den Sarg, zeige mir, wie ich mich hineinlegen soll."
Als Esrél in den Sarg gekrochen war, schlug der Greis den Deckel zu und schloss
den Sarg ab, dann legte er eiserne Reifen herum und trug ihn auf den Kirchhof.
Dort vergrub er den Sarg, kehrte nach Hause zurück und begann ruhig weiter-
zuleben. Seit jener Zeit hörten die Greise auf zu sterben. Sie lebten bis ins
höchste Alter hinein, verloren ihre letzten Kräfte, starben aber nicht. Und es kam
eine Zeit, wo es mehr sabbelnde Greise gab, als junge Menschen. Man musste
die Greise pflegen, und man musste arbeiten, um Nahrung herbeizuschaffen. Es
wurde unmöglich zu leben. Da versammelten sich alle Menschen und fingen an
zu beratschlagen, was man tun solle. Sie beschlossen, den Esrél irgendwo
wieder aufzufinden und zu befreien, damit er wieder die Menschen töte. Aber
niemand konnte sagen, wo sich Esrél befand. Man rief alle Tiere und Yögel zu-
sammen und begann sie auszufragen, aber auch von ihnen sagte niemand etwas
Bestimmtes. Alle waren in Verlegenheit. Man untersuchte, ob alle Tiere und
Vögel da seien. Es erwies sich, dass der Igel in der Versammlung fehlte. Man
schickte nach ihm. Die Abgesandten brachten den Igel. In der Versammlung
begannen einige Tiere und Vögel über ihn zu lachen, indem sie sprachen: „Kann
denn der Igel irgendwas wissen?" Als man ihn jedoch über den Esrél fragte,
da sagte er, er selbst habe ihn nicht gesehen, wohl aber wahrscheinlich der Mond.
Man fragte den Mond. Der sprach: „Ja, ich habe den Esrél gesehen. Ein Greis
hat ihn um Mitternacht auf dem Kirchhof begraben." Die Menschen gruben den
Esrél aus und sagten: „Esrél, komm hervor und töte jetzt sowohl die Alten als
auch die Jungen, denn der Menschen sind sehr viele geworden." Deshalb sterben
jetzt nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen."
4. Bd. 101, 82—85. Gouv. Kasan, Kreis Svijázsk, Wolost Ivánovskoje,
Dorf Mályja Memi. Zeit der Aufzeichnung: 1913. Gewährsmann: der Bauer Po-
likárp Fokejev. Originaltext in tschuwaschischer Sprache.
„Warum die Schwalbe einen gegabelten Schwanz hat. Vorzeiten
hatten alle Lebewesen der Welt von Esrél zu leiden. Was ihm einfiel, das tat
er; er achtete nicht, ob jemand jung oder alt war: er tötete alle. Da versammelten
sich einmal die Menschen und hielten Rat, wie sie diesen Esrél verderben sollten.
Sie beschlossen den Esrél zu fangen, in ein Fass zu stecken, Reifen herumzulegen
und das Fass ins Meer zu werfen. Bei einer günstigen Gelegenheit fingen sie
wirklich diesen Esrél, steckten ihn, wie beschlossen war, in ein Fass und warfen
1) D. h. Asraël: die Tschuwaschen (sowohl Christen als Heiden) haben den Namen
von den muhammedanischen Tataren entlehnt.
2) Russischer Einfiuss.
314
Anderson, Stückrath:
es ins Meer. Das Fass wurde von den Wellen fortgetrieben. Als Esrél einge-
sperrt war, waren alle Menschen und übrigen Lebewesen zufrieden [?]x). Niemand
fürchtete sich vor dem Tode, denn es gab keinen Tod ausser Esrél. So verging
viel Zeit. Die Greise alterten, wurden hinfällig und lagen da, ohne herumgehen
zu können. So litten alle Lebewesen auf Erden. Niemanden erreichte der Tod.
Da sprachen die Menschen: „Es wäre besser, zu sterben, als in diesem Elend und
in dieser Hinfälligkeit zu leben." Man versammelte alle Lebewesen der Erde und
fragte jeden, der da kam: „Hast du nicht Esréls Fass gesehen?" Niemand wusste,
wo es sich befand. Da fing man an nachzuzählen, wer gekommen war und wer
nicht. Alle hatten sich versammelt, nur der Igel fehlte. Da schickte man den
Raben aus, um den Igel zu rufen. Der Rabe holte ihn. Der Igel kam, indem
er läkär-läkär machte2). Darüber brachen alle in Gelächter aus. Als sie so
lachten, verwies es ihnen der Igel, indem er umkehrte und sagte: „Ihr wisst es
nicht, und doch lacht ihr mich aus!" Die Schlange ging hinter ihm drein. Sie
wollte ihn fragen und die Sache irgendwie erfahren. In ihrer Schlauheit stellte
sie sich, als ob sie die Partei des Igels ergriffe, und erfuhr es von ihm durch
List. (Sie wollte sich unter den übrigen Lebewesen einen berühmten Namen
machen.) Als nun der Igel der Schlange mitteilte, wo Esrél lag, da belauschte
die Schwalbe ihr Gespräch. Der Igel sagte der Schlange zum Schluss: „Merke
dir, Freund, sag es niemand; man hat mich ausgelacht, deshalb habe ich es ver-
heimlicht." Da schrie die Schwalbe: „Ich weiss, wo Esrél liegt, hört mich an!"
Als die Schlange das vernahm, sagte sie: „Ich will die Schwalbe verschlingen"
und kroch eilends an sie heran. Obwohl sie eilte, konnte sie sie nicht ganz ver-
schlucken, sondern verschlang nur ihre Schwanzspitze. Die Schwalbe flog fort,
indem sie das Mittelstück ihres Schwanzes zurückliess; dann sagte sie: „Esrél liegt
auf einer Insel im Meer. Geht und holt ihn!" Alle Lebewesen lobten die Schwalbe
und schickten nach Esrél. Man zog Esrél aus dem Fasse hervor; seine Seele
hatte ihn beinahe verlassen. Einstimmig sprachen alle zu ihm: „Wie du früher
Alte und Junge schonungslos getötet hast, so soll es auch in Zukunft geschehen."
Mit diesen Worten gaben sie Esrél die Freiheit wieder. Seit jener Zeit schont
Esrél niemand, sondern tötet alle der Reihe nach. Von jener Schwalbe mit dem
gegabelten Schwanz haben auch die übrigen Schwalben eine solche Gestalt be-
kommen."
Der Schluss der vierten Fassung ist aus der Sage von Noah, der Schlange,
der Mücke und der Schwalbe entlehnt: Dähnhardt, Natursagen 1, 281 f.; 332—334;
356f.3) (vgl. 1, 143—145; 2, 126f.; 250—252; 3, 54, 95; 457f.).
In der fünften Fassung fehlt zufälligerweise gerade das Motiv des Ratgebens,
doch hat das in Anbetracht der Ähnlichkeit mit der ersten Róheimschen Fassung
(oben 23, 407) nichts zu bedeuten.
5. Bd. 105, 368—370. Gouv. Samara, Kreis Buguruslán, Wolost und Kirch-
dorf Stáro-Gáúkino. Zeit der Aufzeichnung: 1913. Gewährsmann: der Volks-
schullehrer Nikoláj Bogdánov. Originaltext in tschuwaschischer Sprache.
„Woher der böse Wind im Menschen stammt. Als G'ott den Menschen
erschaffen hatte, brachte er alle Lebewesen zu Adam, damit dieser sie benenne.
1) Im Originaltext ein nicht ganz verständliches Wort: tanaça.
2) Tonmalerei.
3) Tschuwaschisch: Nikolskij Bd. 100, 50—52; verbunden mit der Erzählung, wie
der Teufel den Körper des ersten Menschen beschmutzt (Dähnhardt, Natursagen 1,95 — 110)
Bd. 62, 255.
Kleine Mitteilungen.
315>
Da gab Adam allen Vierfüsslern Namen; hierauf benannte er die fliegenden Vögel;
nur der Igel war nicht erschienen, um einen Namen zu erhalten. Alle warteten
auf ihn und sprachen: „Wie wird wohl der Name dieses Igels lauten?" Nachdem
man lange gewartet hatte, kam jener Igel herbei. Er musste nun zu Adam in
die Stube kommen, um benannt zu werden. Als der Igel durch die Tür trat,
stolperte er und liess einen Wind fahren: „satárt!" Als Adam und die Tiere das
hörten, brachen sie über den Igel in Lachen aus. Der Igel ärgerte sich darüber^
dass er ausgelacht wurde, und sagte: „Weil ihr so über mich gelacht habt, sollt
ihr auch selbst hinfort Wind fahren lassen!" So verwünschte er sie. Darum
müssen seitdem der Mensch und die Tiere bösen Wind von sich geben."
Kasan. Walter Anderson.
Drei Kunstlieder im Yolksmunde1).
I.
v. Döring, Der Abendbesuch.
1. Der Sternlein Heer am Himmel blinkt, 4. Lösch aus des Lämpchens hellen Schein
Mein Liebchen mir am Fenster -winkt; Mir glänzen deine Äugelein,
Ach! Liebchen, sieh! ich komme! Herzliebchen, über alles.
2. Der Mond mir leuchtet auf den Weg, 5. Nicht feuerrot die Wange sei;
Durch Stock und Stein und hohen Steg, Der Liebe heiiger Schwur ist treu,
Zu deiner kleinen Hütte. Ist deiner Unschuld Bürge.
3. Die Arme weiß breit' aus nach mir, 6. Nach einem kurzen halben Jahr
Es schleich' der Riegel an der Thür Sind wir, wills Gott! ein liebes Paar:
Mir aufzumachen, leise. O Himmel! welche Freude!
7. Dann dürfen wir bei Sonnenglanz,
Bei Spiel und Fest und Weihetanz
Uns lieben, sehn und küssen.
Musen-Almanach für 1781, herausgegeben von Voss und Goekingk (Hamburg
bey Carl Ernst Bohn) S. 82 „Der Abendbesuch".
Dieselbe Dichtung im Volksmunde.
1. Der Sterne Heer am Himmel blinkt,
Mein Liebchen mir am Fenster winkt,
Feinsliebchen, sieh, ich komme!
2. Der Mond erleuchtet meinen Weg
Und Stock und Stein und Berg und Steg
Zu deiner kleinen Hütte.
3. Die Arme breit' ich aus nach dir
Und schleich' mich leise an die Tür,
Mach' auf, mach' auf, Feinsliebchen!
4. Nun lösche aus dein Lämpelein,
Denn deiner Äuglein heller Schein
Ist heller als die Sonne.
5. Die Wange braucht nicht rot zu sein,.
Der Liebe Schwur ist immer neu,
Sie ist der Unschuld Bürde. (!)
6. Ach, warte nur ein halbes Jahr,
Dann sind wir schon ein Liebespaar,
O Himmel, welche Freude!
" 1) Vgl. oben 23, 391.
316
Stückrath :
7. Dann dürfen 'wir im Sonnenschein
Uns unsrer treuen Liebe freun
Und immerdar uns küssen!
Mündlich aus Bretthausen im Oberwesterwald 1905.
(Ein ganz ähnlicher Text aus der Liederhandschrift des Studenten Friedrich
Rolle 1846/47 ward von mir in den Hess. Bl. für Volksk. 9, 93 nr. 115 ver-
öffentlicht).
II.
Gottlieb Leon, An Lottchen.
1. Holde Sittsamkeit, 3. Gott! und wie mir da
Wie mir da geschah,
Lieb' und Freundlichkeit
Schmükt mein Lottchen nur;
Ein so hold Gesicht
Hat kein Mädchen nicht
Auf der ganzen Flur.
2. Bey den Erlen hier
Hat der Engel mir
Sanft die Hand gedrükt,
Und so schön und klar,
Als ihr Aug da war,
Hab' ich's nie erblikt.
Könnt' ich sagen das!
Ach, ein süßer Schmerz,
Schlich sich in mein Herz,
Und mein Aug war naß.
4. Nun geh' ich so gern
Bey dem Abendstern
Durch den Erlenhayn,
Und mir ist's so weh,
Wenn ich sie nicht seh':
Soll das Liebe seyn?
Wienerischer Musenalmanach auf das Jahr 1785, herausgegeben von
J. F. Ratschky und A. Blumauer (Wien, bey Rudolph Gräffer) S. 105 „An
Lottchen. 1778." — Über den Vf. (geb. 1757, gest. 1832) vgl. Goedeke, Grundriss 2
6, 533.
Dieselbe Dichtung im Volksmunde.
1. An der Gartentür 2. Mädchen, komm mal raus,
Hat mein Mädchen mir Sieh den Blumenstrauss,
Sanft die Hand gedrückt. Komm und riech' mal dran!
Ei wie ward mir da, Ach, so schön und klar,
Als mir das geschah, Wie dein Auge war,
Als mein Mädchen mir Als du Mädchen mir
Sanft die Hand gedrückt! Sanft die Hand gedrückt.
Aus Elz, Westerwald, vom alten Bürgermeister Schmidt.
Literatur: Baselland, Niederlausitz, Altmark, Thüringen, Aargau
(Volkslieder aus dem Kanton Aargau, gesammelt von Sigmund Grolimund, Basel
1911 nr. 79), Wiedensahl (Busch, Ut ôler Welt; München 1910 S. 131 nr. 10).
III.
Die Zufriedenheit mit dem, was man hat.
1. Seyd fröhlich, genießet die Freuden im Leben,
Genießet sie heiter, Gott hat sie gegeben;
Nicht alle sind Fürsten, nicht alle sind reich,
Wir alle sind Menschen, wir alle sind gleich.
2. Gesund und zufrieden ist Reichthum genug,
Wer immer so denket, der handelt recht klug.
Nicht Reichthum macht glücklich, zufrieden macht reich,
Wir alle sind Menschen, wir alle sind gleich.
Kleine Mitteilungen.
317
3. Laßt Große, laßt Reiche mit Gütern sich sehn,
Sie sind doch nur Menschen, und müssen vergehn.
Was nützt so viel Reichthum, was nützt so viel Geld,
Wenn's Leben sich endet, hört's auf in der Welt.
Fünfte Sammlung zweckmäßiger Lieder zum Singen für Mädchen auf Spazier-
gängen, in Gesellschaften und bei andern frohen Veranlassungen (Mühlhausen 1824)
S. 75 nr. 50. Ohne Angabe des Verfassers.
Dieselbe Dichtung im Volksmunde.
1. Seid munter und fröhlich, ihr Zimmermannsgesellen,
Geniesset das Leben und lasst euch nicht prellen!
Denn nicht Reichtum machet glücklich, die Zufriedenheit und die macht reich,
Und wir alle sein M'ir Brüder, und wir alle sein gleich.
2. Wir haben den Kaiser, den König gesehen,
Sie tragen goldne Kronen und müssen vergehen;
Denn nicht Reichtum machet glücklich, die Zufriedenheit und die macht reich,
Und wir alle sein wir Brüder, und wir alle sein gleich.
3. Zufrieden-, Gesundheit, so muss es uns gehen,
Dann kann uns kein Unglück, kein Leiden geschehen,
Denn nicht Reichtum machet glücklich, die Zufriedenheit und die macht reich,
Und wir alle sein wir Brüder, und wir alle sein gleich.
4. Der Reiche lebt glücklich in seinem Palaste,
Der Arme verschmachtet in seinem Moraste,
Doch nicht Reichtum machet glücklich, die Zufriedenheit und die macht reich,
Und wir alle sein wir Brüder, und wir alle sein gleich.
5. An einem schönen Abend sass ich einsam im Garten
Und ich wollte meinen Herzallerliebsten erwarten,
Und ich spielt auf meiner Harfe, und ich sang auch dazu:
Ei wo bleibst du, mein geliebter Tiroleresbu'?
Mündlich aus Rod a. d. Weil im Taunus 1910.
Literatur: Erk-Böhme, Liederhort 3, 433 nr. 1614, Schlesien (Hoffmann-
Richter, Schlesische Volkslieder, Leipzig 1842 nr. 303; Deutsches Volksgesangbuch
von Hoffmann von Fallersleben, Leipzig 1848 S. 11 nr. 11), Mosel und Saar
(Köhler-Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar nr. 327), Nassau (Wolfram,
Nassauische Volkslieder, Berlin 1894 S. 328 nr. 378), Vogelsberg (Hess. Bl. f.
Volksk. 9, 105 nr. 151; kontaminiert mit E.Elmars „Tief unter der Erd'"). — John
Meier, Kunstlieder im Volksmunde 1906 S. 81 nr. 524 nennt noch Sauter, Volks-
lieder 1811 S. 13.
Biebrich a. Rh. Otto Stückrath.
Zum Schwank vom Zeichendisput.
(Vgl. oben S. 88ff.)
An der angeführten Stelle hatW. Caland eine litauische und eine holländische
Fassung des weitverbreiteten Schwankes gegeben, und Bol te hat die zugehörigen
Literaturangaben beigefügt. Soweit der Unterzeichnete die Quellen übersehen kann,
scheint aus der indischen Literatur noch kein Beleg für den Schwank beige-
bracht zu sein, obwohl Reinhold Köhler auf Grund des gerade in Indien häufigen
Motivs von der Zeichensprache indischen Ursprung vermutete. "Wie so oft, liefert
318
Hertel, Schoof, Boite:
uns die Literatur der Jaina (und zwar die der Svetämbara von Gujarät)1) eine
gute Fassung. Hêmavijaya nämlich berichtet in der 43. Geschichte seines Kathära-
tnäkara, einer wichtigen Erzählungssammlung, die ich bald in deutscher Übersetzung
herauszugeben hoffe, von einem berühmten Gelehrten, der an den Hof des Königs
Bhöja von Dhärä kommt. Von diesem Gelehrten heisst es im Verlauf der Geschichte:
„Eines Tages hatte derselbe Lust, mit des Königs Gelehrten zu disputieren,
und bat den König um die Erlaubnis, es zu tun. Der König sah unter seinen
Gelehrten keinen, der einen Wortstreit mit jenem hätte wagen dürfen, und darum
sagte er heimlich zu seinem Minister: „Spüre irgendeinen Menschen auf, Minister,
dem das Glück hold ist, damit er im Streite mit jenem den Sieg erringe!"
Der Minister liess sichs gesagt sein, und als er in der Stadt umherschlenderte, sah
er einen einäugigen Ölmüller namens Ränika, dem das Öl aus der Ferne zu-
geflogen kam, so dass er es nur in sein Ölfass zu schöpfen brauchte. Da dachte
der Minister: „Dem Mann ist das Glück ganz sicher hold", führte ihn vor den
König und erzählte diesem, welche Bewandtnis es mit dem Müller hatte.
Da sich der Müller die Fähigkeit zutraute, die Disputation zu bestehen, ward
ihm durch himmlische Seidengewänder, Goldschmuck u. dgl. das Aussehen eines
Brahmanen gegeben, und als er in der Hofversammlung stand, trat auch jener
Gelehrte ein mit dem Wunsche, zu disputieren. Er trat Ränika gegenüber und
zeigte ihm einen seiner Finger. Ränika hielt ihm zwei Finger entgegen, worauf
ihm der Gelehrte alle fünf Finger zeigte, die er ausgestreckt aneinander legte.
Darauf zeigte ihm der andere eine Faust, worauf der Gelehrte sagte: „Er hat ge-
wonnen, und ich habe verloren. Er ist ein grosser Gelehrter!" Dann verneigte
■er sich vor ihm und ging nach Hause.
Da den König nun die Neugier plagte, was die beiden wohl miteinander ge-
sprochen hätten, fragte er den Gelehrten: „Wonach hast du ihn denn gefragt, und
was hat er dir geantwortet?" Der Gelehrte erwiderte: „Vernimm! Indem ich ihm
einen Finger zeigte, fragte ich ihn: „Es gibt doch nur eine Seele?" Da zeigte er
mir zwei Finger, um mir zu sagen, dass es zwei Seelen gibt, eine erlöste und
eine noch in der Seelenwanderung begriffene. Nun zeigte ich ihm fünf Finger,
um anzudeuten, dass es in der Welt fünf Elemente gibt. Darauf wies er mir
seine Faust, womit er sagen wollte, dass sie nur vereinigt wirksam sind. Da
nun des Königs Gelehrter jedesmal berichtigte, was ich gesagt hatte, so hat er
mich besiegt. Und weil er meine Gedanken erraten hat, so ist er ein grosser
Gelehrter, dem man Ehre erweisen muss." — Als der Gelehrte so gesprochen hatte,
kehrte er, vom König ehrenvoll entlassen, nach seiner Heimatstadt zurück.
Darauf fragte der König auch Ränika: „Wonach hat dich jener gefragt, und
was hast du ihm geantwortet?" Der Ölmüller sagte: „Majestät! Er zeigte mir
einen Finger, um mir zu sagen: „Das eine Auge, das du noch hast, drücke
ich dir aus." Da zeigte ich ihm zwei Finger, um ihm anzudeuten, dass ich
ihm beide Augen ausdrücken wolle. Darauf zeigte er mir seine flache Hand,
was heissen sollte: „Ich geb' dir eine Schelle, dass du umfällst!" Darauf zeigte
ich ihm meine Faust, um ihm zu sagen: „Ich schlag' dich mit der Faust zu Boden!"
Als der König das gehört hatte, dachte er: „Das Glück muss einem hold sein;
dann hat er überall Erfolg", und überhäufte Ränika mit Ehren."
Döbeln. Johannes Hertel.
1) Auf die grosse Wichtigkeit dieser bisher fast ganz vernachlässigten Literatur hat
Vf. in seinem Aufsatz 'Die Erzählungsliteratur der Jaina' hingewiesen in der Münchener
Zeitschrift 'Geist des Ostens' 1913, S. 178. 247. 313ff.
Kleine Mitteilungen.
319
Nachtrag zu S. 281.
In der Zeitschrift 'Heimatbilder aus Oberfranken' 1. Jahrg. (1913), Heft 2, S. 68 f.,
versucht Frhr. von Guttenberg unter der Überschrift 'Die Hühner- und Hunger-
fluren' eine Erklärung des Bestimmungswortes hunger aus hunter. Hunter sei aus
huntern, hontern, ze den hohon teren 'zu den hohen Bäumen', 'zum Hochwald'
entstanden. Abgesehen davon, dass sich in Hessen eine Reihe von Hungerfluren
nachweisen lässt, die nicht hochgelegen und nicht mit Hochwald bewachsen sind
oder gewesen sind, weist die von Guttenberg S. 73 angezogene Stelle aus einer
Urkunde vom Jahre 1418 'an der hunterleiten gen dem windischen Hawg'
wegen des folgenden 'windischen' deutlich auf die Weidezucht und auf Ableitung
von ahd. untaron, das auch in Oberfranken üblich gewesen sein muss (vgl.
Schmeller, Bayr. Wörterb. 1, 116) und vielleicht noch heute dort volksüblich ist.
Die Schreibung hunterleiten, welche die Mittelstufe in der Umdeutung zu Hunger-
leiten oder Hühnerleiten bildet, beweist, dass die Kanzleien im 15. Jh. das Wort
nicht mehr verstanden.
Hersfeld. Wilhelm Schoof.
Nochmals das Soldatenlied: Hurra, die Schanze vier.
Da das oben 22,286 mitgeteilte treffliche Lied auf die Erstürmung der Düppeler
Schanze nr. 4 vielfach Interesse erregt hat und auch jüngst von F. Lorentzen in
der Kieler Monatsschrift 'Die Heimat' 24,101 nebst einigen andern Stücken aus
Hüdigs Liederbuche1) abgedruckt worden ist, hat Herr Otto Schell in Elberfeld
weitere Nachfrage gehalten, um womöglich den Verfasser zu ermitteln. Dass die
Angabe, der im Liede selber genannte Leutnant Loebbecke habe es gedichtet,
keinen Glauben verdiene, ward schon oben 23,171 ausgesprochen. Unsicher klingt
auch die Meldung der Witwe Jachert, ihr Mann, der Betriebssekretär Gerhard
Jachert (geb. zu Immigrath bei Düsseldorf, gest. 21. Februar 1913 in Elberfeld)
sei der Verfasser; von ihm habe der Leutnant v. Rappard (gefallen 1870 bei
Spichern) sich das Lied aufschreiben lassen und ihm dafür seine Photographie
geschenkt. Tatsache ist allerdings, dass Jachert ab und zu Gedichte für eine
Zeitung lieferte. Ein von ihm öfter rezitiertes Lied begann:
Was steh ich liier auf blankem [?] Wehr,
Was fällt der Schnee so dichte!
Vor mir das grosse, weite Meer,
Vor mir die Schanze von Düppel.
Ein andres: Hier, Kamerad, will ich dir meine Pfeife schenken. Für glaub-
würdig aber hält Herr Schell die bestimmte Versicherung des Kaufmanns Herrn
Eduard Fudickar in Elberfeld, der Landwehrleutnant Bernau habe unser Lied
1864 gedichtet. Dieser stand in der 11. Kompagnie des 53. Regiments und wurde,
wie die von Hauptmann Richter verfasste Regimentsgeschichte berichtet, für sein
tapferes Verhalten vor dem Feinde durch den Roten Adlerorden mit Schwertern
ausgezeichnet.
1) Es sind die Lieder: 'Heute v^ar der grosse Tag', 'Horch, der Kanonendonner
brüllt' und 'Auf Düppels fernen Höhen'.
Berlin. Johannes Bolte.
320
Hüsing :
Zum Rübenzagel.
I. Die Schnitzfigur.
Jedermann, der einmal im schlesischen Riesengebirge gewesen ist, kennt die
zum Verkaufe überall ausgebotenen kleinen Figuren vom Berggeiste des Riesen-
gebirges. Man kauft sie als Andenken, nimmt sie mit, verschenkt sie oder stellt
sie selbst auf ein Wandbrett der eigenen Wohnung, wo sie als unangenehme
Staubfänger bald sehr lästig werden, und wenn sie dann durch Abbrechen einer
Hand, des Stabes oder Hutes mit ihrer Staubkruste recht unansehnlich geworden
sind, wandern sie eines Tages in den Ofen. Man könnte jeden Augenblick einen
Ersatz dafür haben, denn jährlich wandern ja Hunderte und Tausende neu in die
Schaufenster der Läden ein; also ist das Ding wertlos, und Ersatz — will man
gar nicht; man hat an dem Ärger über das staubige, oft noch stark riechende
kleine Ungeheuer genug. Das ist der Grund, weshalb man, wenigstens im
Pamilienbesitze, kaum ein solches Stück antreffen kann, das auch nur zehn Jahre
alt wäre.
Und doch besteht die Gefahr, dass die kleine Figur, die doch immerhin in
eine Reise ins Riesengebirge so viel Farbe hineintrug, von der Bildfläche ver-
schwinde, und mit ihr zweifellos wieder ein Stückchen volkstümlicher Eigenart der
schlesischen Berge.
Ein heftiger Angriff ist vor etwa acht Jahren von der staatlichen Holzschnitz-
schule in Warmbrunn ausgegangen, und zwar von deren Leiter Prof. Walde, der
wenige Jahre darauf starb. Dieser Mann hatte nichts Eiligeres zu tun, als der
schlesischen Holzschnitzerei, die zu heben er berufen worden war, so wirkungsvoll
an den Leib zu gehen, dass sie von nun an wohl sachte hinsterben wird, wenn
überhaupt noch schlesische Schnitzer an der Arbeit sind. Walde verschrieb als
Lehrer an seiner Anstalt Holzbildhauer aus Tirol, der Schweiz und Gott weiss
woher, lauter tüchtige Menschen in ihrem Fache, und eröffnete nun seinen Kriegs-
zug gegen die bodenständige Schnitzerei damit, das er 'neue Rübezahl-Typen' er-
fand, d. h. er setzte das Phantasiebild des Meisters Schwind, der offenbar nie
einen echten Rübenzagel gesehen hatte, in Plastik um. Und nun war es ein
Gnom in braunem Mantel, mit brauner Kapuze, blossen Füssen in Nachtpantoffeln.
Der Gedanke, dass es hier zuerst einmal zu lernen gab, dass er von den 'Wald-
sachenarbeitern' erst hätte lernen müssen, worauf es bei der Figur ankam, die
doch ein völlig fester Typus war, dieser Gedanke kam Walde gar nicht. Die
Schnitzer und die Verkäufer stellten ihm immer wieder vor, dass ja doch niemand
seine Figuren werde kaufen wollen, weil sie eben falsch waren, denn das sehe
doch jeder, dass das gar kein Rübenzagel sei, aber das half nichts. Als wirklich
niemand die neue Puppe kaufen mochte, träumte Walde noch immer von einem
'Massenartikel', und da die Schnitzschule keine genügenden Einnahmen erzielte,
so versuchte er sie in eine förmliche Fabrik umzugestalten. Die alten Schnitzer
hatten bei ihm neues Handwerkszeug und allerhand neue Verfahren kennen gelernt,
hatten als förmliche Fabrikarbeiter nach seinen Mustern gearbeitet. Sie waren
dazu durch Versprechungen bewogen worden, die ihnen nun nicht gehalten wurden,
z. T. ohne Schuld Waldes. Sie wollten, nachdem ihre 'Lehrzeit' um war, nun
wieder als freie Menschen ihr Gewerbe ausüben, aber — da verbot ihnen Walde,
das auszuüben, was sie bei ihm gelernt hatten, denn er hatte sich so verwirt-
schaftet, dass er seiner 'Fabrik' die Konkurrenz vom Leibe halten musste. Die
Schnitzer aber waren dadurch in übelste Lage geraten, dass sie ihren früheren
Auftraggebern nichts mehr hatten liefern können und nun auch keine Aufträge
Kleine Mitteilungen.
321
Mehr bekamen und in ihrem Trotze auch nicht die Hand zum Vergleiche bieten
■wollten.
So traf ich die Verhältnisse an, als ich einen längeren Sommeraufenthalt im
Jahre 1906 dazu benutzte, der Geschichte dieser Schnitzfigur einmal nachzugehen.
Meine Nachfragen in Hirschberger und Warmbrunner Geschäften führten mich
schliesslich übereinstimmend auf eine erste Spur, die sich freilich nicht weit ver-
folgen liess. Man wies mich nach dem Hause Nr. 244 zu Herischdorf, wo der
'Waldsachenarbeiter' Friedrich Wendrich wohnte, der Sohn des 1902 im Alter von
77 Jahren verstorbenen Ehren fried Wendrich, der mir einheitlich als der erste
Schnitzer bezeichnet wurde, der solche Figuren für den Verkauf angefertigt hatte.
Er war, wie ich von seinem Sohne erfuhr, 1824 (oder 1825?) zu Reibnitz geboren
und hatte beim Knochenarbeiter Bergmann 'gelernt'. Im übrigen berichtete Fried-
rich Wendrich, um 1848 herum habe der Buchbinder Liedel aus Warmbrunn eine
solche Figur von der Leipziger Messe heimgebracht. Der Verfertiger war ein
Student, der die Figur verkauft hatte, aus begreiflichen Gründen. Und das brachte
den Buchbinder auf den Gedanken, solche 'Manndl' anfertigen zu lassen, gleichfalls
zum Verkaufe. Die lieferte ihm also Ehrenfried Wendrich, dem bald auch sein
Sohn Friedrich dabei half. Der Hauptkunde war oder wurde das Geschäft von
Zelder in Hirschberg, und für Herrn Zelder hatte auch Friedrich Wendrich die
Figuren weiter gefertigt, bis — die Schnitzschule eröffnet wurde und er sich mit
Zelder überwarf.
Unter diesen Umständen war meine erste Aufgabe, das vorige Einvernehmen
wiederherzustellen, und Herr Zelder jun. ging auch darauf ein, dass ich den
kranken Schnitzer veranlasste, wieder einige 20 Figuren, und zwar diesmal ganz
im alten Stile anzufertigen und dem Geschäfte anzubieten, und daraufhin er-
klärte sich auch Herr Wendrich einverstanden es zu tun, da das ja doch eigent-
lich eine Bestellung bei ihm sei. Wirklich hatte ich dann die Freude, später die
neue Mannschaft bei Zelder vorzufinden; sie haben also beide Wort gehalten, und
so kann ich denn verbürgen, dass damals etwa 20 Exemplare bei Zelder zu kaufen
waren, die wohl auch ihre Käufer und Nachfolger gefunden haben.
Das waren also Figuren im alten Stile. Auch vor Waldes Zeit hatte sich
nämlich die Figur allmählich etwas verändert, verfeinert vor allem, und die vielen
'Nachahmer' waren ebenfalls an ihrem Stile erkennbar; es gab drei Hauptstiltypen,
deren einer aus Agnetendorf kam. Auch in Heiischdorf selbst wurde mir ein
Schnitzer Brucks genannt — ob ich den Namen richtig schreibe, weiss ich nicht.
Man stritt damals allgemein, ob der Holzschnitzer, der die kleinen Tierfigürchen
gefertigt hatte, von denen man heute in den Museen zu Hirschberg, Breslau und
Liegnitz Proben finden kann, Hempel oder Hampel geheissen habe; der Vorname
war Benjamin, er lebte in Warmbrunn.
Auch ich habe mir von Friedrich Wendrich eine Anzahl solcher Figuren an-
fertigen lassen, und unter anderem findet man im Liegnitzer Museum einen solchen
Rübenzagel nebst mehreren von anderer Herkunft, darunter einen böhmischen, der
etwa an einen 'Wallensteiner' erinnert.
Alte 'Originale' besass auch Fr. Wendrich nicht mehr, doch versicherte er
mir, die neu gefertigten seien genau wie die alten, nur seien diese mit Farben
angemalt gewesen, die er nicht mehr bekomme, weil sie giftig seien. Auf meine
Frage, ob es wohl auch vor 1848 solche Figuren gegeben habe, gab mir Herr
Wendrich die Auskunft, soviel er wisse, habe es in den Bauden immer welche
gegeben, kleine und grosse, nur habe man sie vorher nicht verkauft. Herr
-Zelder sen. gab mir die gleiche Auskunft, hatte auch die Liebenswürdigkeit, zu
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 3.
21
322
Hüsing :
veranlassen, dass Herr Prof. Dr. Rosenberg in Hirschberg während meiner An-
wesenheit eine ausserordentliche Zusammenkunft der Vorstandsmitglieder des;
Riesengebirgsyereines ansetzte, bei der ich den Herren berichten konnte, was ich
bisher erfahren hatte, was ich erfahren wollte und welcher Gedanke mich dabei
leitete. Es waren überwiegend ältere Herren; man war einstimmig der Meinung,
die Figur sei schon lange vor 1848 bekannt gewesen, sei aber viel einfacher ge-
wesen und habe keinen Tirolerhut1) gehabt, ja überhaupt keinen Hut, und sei noch
roher und unförmiger gewesen als die Wendtichsche. Aber niemand konnte an-
geben, wo man ein überhaupt älteres Original finden könnjte. Auch wurde ange-
geben, in der Schwarzschlagbaude und in der Zennickerbaude seien früher solche
Figuren gewesen, ich hatte aber den Eindruck, als ob diese Erinnerungen nicht
allzu sicher seien.
Seitdem bin ich nicht mehr ins Riesengebirge gekommen und habe auch
keinerlei Nachrichten mehr erhalten. Es scheint mir geboten, diese Zeilen zu ver-
öffentlichen, damit jemand, der Gelegenheit dazu hat, die Sache weiter verfolgen
kann, ehe sich zu viele Augen schliessen. Ich fürchte sehr, dass schon heute nur
schwer mehr das erkundet werden könnte, was ich damals erfuhr. Für heute will
ich mich damit begnügen, durch das Vorstehende womöglich eine Anregung zu
geben für solche, die etwa längere Zeit im Riesengebirge verweilen können, und
ich füge nur hinzu, in welcher Richtung mir die Frage von Bedeutung scheint^
ohne diesmal näher darauf einzugehen.
Da möchte ich denn zunächst darauf aufmerksam machen, dass, soweit mir
bekannt, die Rübenzagel-Figur etwas einzig Dastehendes ist. Durch Zufall erfuhr
ich später, dass der Reisende (und Sohn vom Hause) einer Fabrik für 'Andenken',
der auch den Rübenzagel vertrieb, mit dieser Figur auch im Harze Geschäfte
machen wollte. Aber man lehnte das dort ab, da man den Rübenzagel nicht
kenne. Endlich erklärte ein findiger Kopf, für den Harz müsse der Herr den
'wilden Mann' machen. Und so erkundigte sich der Herr, wie der aussehe, und
machte nun den wilden Mann für den Harz, — er hat es mir selber erzählt. Tst
dieser wilde Mann dort noch am Leben, dann dürfte er in den ersten Jahren dieses
Jahrhunderts entstanden sein. Mit dem Rübenzagel aber scheint es doch eine
andere Bewandtnis zu haben.
Ich vermute, die Figur ist ursprünglich nichts als ein Alraun-Männchen,,
worauf mir die ganze eigentümlich proportionierte steife Gestalt zu deuten scheint
wie nicht minder der Name Rübenzagel. Ist die Figur heute ihrem Kerne nach
aus Holz, so scheint mir doch ihre Besetzung mit Augen2) und Haaren usw. dar-
auf hinzuweisen, dass ihr Kern früher aus weicherem Stoffe war, in den man die
Zutaten hineinstopfen konnte. Der Glaube an den Rübenzagel scheint ferner
eigentlich nur auf Kräuterklauber — man denke an die späteren Laboranten! —
und Erzsucher beschränkt gewesen zu sein, was wieder für den Alraun spräche..
Trotz der Sage vom Entstehen des Alraunes glaube ich aber nicht, dass das
Wort 'Zagel' hier 'penis' bedeute. Zur Begründung schliesse ich noch die folgen-
den Ausführungen an.
1) Eine Art der Figuren trägt den Zillertaler spitzen, grünen Filzhut.
2) So gerade bei der Form, die den Zillertaler Hut trä^t und einen vom Wendrichschen
stark abweichenden Typus aufweist. Sie wird mir, abgesehen von dem Hute, von ver-
schiedenen älteren Breslauern als der in ihrer Jugend üblichen am nächsten stehend be-
zeichnet; sie ist klein und schlank und erinnert stark an ein Wurzelmännchen.
Kleine Mitteilungen.
323
2. Der Name Riibenzagel.
Immer wieder taucht die Behauptung auf, der oder jener habe im schlesischen
Riesengebirge noch eine volkstümliche Überlieferung vom 'Rübezahl' vorgefunden.
So hat Richard Loe we in dieser Zeitschrift 18, 1—24. 151—160 mehrere Belege bei-
gebracht, die wohl die glaubwürdigsten sind, die bisher veröffentlicht wurden, da
sie sich noch der Form Rübenzäl bedienen. Wo das nicht mehr der Fall ist,
müssen wir die Überlieferung von vornherein als unbeglaubigt ausschalten, denn
das Fehlen des n ohne Ersatz des en durch a ist der bündige Beweis dafür, dass
in irgendeiner Weise literarischer Einfluss tätig war: eine Form 'Rübezäl' ist in
Schlesien vollkommen undenkbar. Die nasa lis son an s gibt in schlesischer
Mundart nur a, nie e! In 25 Jahren ist mir nur eine Ausnahme aufgestossen,
und das ist eine scheinbare: die Formen 'dar Uve, eim Uve, eia Uve, Uvebank,
Üverlhr' und die Mehrzahl 'de Iwe' die Verkleinerungsform 'Iwlä' sind auf eine
Form ohne n, also 'der Ofe' zurückzuführen, neben der auch eine mit n erhalten
ist ('eim Uwä, eiä Uwä, Üwätöp, Uwabanklä')x).
Wo eine Form 'Rübezäl' gebraucht wird, ist die Überlieferung jedenfalls un-
bedingt abzulehnen, denn damit ist die 'literarische1 Beeinflussung, wie sie durch
die Fremden und durch die Schule sich vollzieht, bewiesen, und niemand kann
wissen, wie weit sie geht und ob auch nur eine Spur urwüchsiger Überlieferung
vorliege. Nun meint Loewe (S. 158), dass Leute, die nicht lesen und schreiben
konnten, sich nach denen, die es konnten, gerichtet hätten. Das mag der Fall
sein, und da heute die Zahl der Analphabeten auch im Gebirge sehr gering ist,
könnte es in früherer Zeit stärker gewirkt haben, als wir uns das heute vor-
stellen; die falsche Namenform könnte schon vor 100 Jahren sich so weit verbreitet
haben, dass sie heute schon in Verbindung mit echter Überlieferung auftritt.
Ist das der Pali, dann dürfen wir wohl sagen: wir kommen zu spät.
Aber auch in Fällen, wo der Erzähler noch die Form 'Rübenzäl' oder 'Rüba-
zäl' brauchte, kann ich nicht ohne weiteres auf echte Überlieferung schliessen.
Richard Loewe ist sich über das oben erwähnte schlesische Lautgesetz gar nicht
klar geworden, da er die Vermutung ausspricht (S. 158), das a der Mittelsilbe be-
ruhe wohl auf Angleichung an das ä der letzten Silbe. Nichts von alledem, son-
dern jegliche nasalis sonans wird zu a, mag sie stehen, wo sie wolle. Die Formen
'ihn' und 'ihnen' werden zu n und n(n) verkürzt und geben beide in der Mundart
ein ä. Aus 'einer' (Dat. sg. f.) wird 'arr' (beinahe zweisilbig), und daneben steht
noch die gekürzte Form 'enner'; diese Form verhält sich zu 'Rübenzäl' ('Rübnzäl')
wie 'arr' zu 'Rübäzäf, und auch dieses Verhältnis ist Richard Loewe nicht klar
geworden, ja, er denkt sich offenbar das a erst aus e entstanden und dieses aus
en verschliffen. In Wahrheit ist a die Mundart, en (n) die verschriftdeutschte
Form, e eine widerliche Verballhornung, die Musäus - neben der richtigen Form —
schon bei Prätorius vorfand und die er offenbar bevorzugte, weil sie ihm volks-
tümlicher klang. Eine Form 'Rübezäl' kann aber nicht älter sein, als der Einfluss
von Musäus 1 Der Schlesier hat schon wegen seiner 'Mehrsprachigkeit ein feines
natürliches Gefühl für das ihm selbstverständlich nicht zum Bewusstsein kommende
Gesetz von der Vertretung der nasalis sonans. Mehrsprachig ist er nämlich, weil
er mit seinesgleichen die Mundart, dem Fremden gegenüber aber eine ganze Reihe
von Schattierungen zwischen Schriftsprache und Mundart gebraucht. Dabei geht
1) Ob ein ähnlicher Fall beim Worte für 'Weizen' noch vorliege, kann ich nicht
entscheiden.
21*
324
Hüsing :
die 'schriftsprachliche' Form nicht selten daneben, obgleich sie 'lautgesetzlich' ge-
bildet ist. So entstehen recht interessante Formen. Nicht nur, dass z. B. 'egal' in
'eingal' umgesetzt wird nach Analogie von 'ëfach' zu 'einfach', sondern das Gefühl
für die vollere Form neben der verschliffenen gestaltet auch deutsche Wörter
um. So macht die Mundart aus 'wir' ein bj, aber in dem trotzigen Satze: 'Doas
mach bj, wie bg bër wulln' = 'Das machen wir, wie wir wir wollen', wird
das bg an der betonten Stelle zu ber gedehnt, das man sich etwa von einem Faust-
schlage auf den Tisch begleitet denken mag; 'by wulln' ist 'volumus', soll noch
ein 'nos' dazu gesetzt werden, so tritt noch 'ber' dazwischen. (Eine ähnliche Er-
scheinung kennt ja auch das Bayerische mit seinem 'ös', obgleich die Verkürzung
's' bereits an der Verbalform festsitzt.) Was macht man nun mit einem schlesischen
'schriftsprachlichen' Satze 'es hat's ihn noch'? Das ist aus mundartlichem "s höt's
ä no' verschriftdeutscht, und zwar gesetzmässig, aber — falsch. Nehmen wir vor-
weg, dass das 's' hinter 'höt' ein Schmarotzer ist, einerlei, ob er aus der Frage-
form 'höt's ä nö (= hat es ihrer noch?)' entstanden sei, oder ob das geneti-
vische 'es' auch vor dem Genetive 'ä' noch beibehalten wurde — 'es hat' steht
bekanntlich gleich 'es gibt' — so bleibt doch die falsche Verschriftdeutschung von
'a' in 'ihn' übrig. Sie erklärt sich daraus, dass das 'a' in diesem Falle aus 'ar'
verschliffen ist, während der Sprecher im ä unbewusst die nasalis sonans sucht
und als einzig mögliche schriftdeutsche Form dann ein 'ihn' findet.
Diese Beispiele mögen zeigen, weshalb ich dem schlesischen Gebirgler durch-
aus die Fähigkeit zutraue, ein unsinniges 'Rübezäl' in ein vernunfthaftes 'Rüben-
zäl' oder 'Rübazäl' umzusetzen, auch wenn die Überlieferung dieser Form schon
erloschen war. Und darum kann ich auch im Auftreten solcher Formen keinen
Beweis dafür erblicken, dass noch volkstümliche Überlieferung vorliege.
Was wir hier brauchten, das wäre eine Feststellung, bis in welche Zeit hin-
ein die alte Form 'Rübenzagel' oder 'Rübenzäl' als in Schlesien erhalten nach-
weisbar sein mag. Es reicht aber zu diesem Zwecke nicht aus, dass man Bücher
und Zeitschriften studiert, sondern hier muss sich die dingliche Völkerkunde mit
der gedanklichen verbinden. Man müsste die Reiseandenken sammeln und
prüfen, ob sich auf ihnen der Name Rübenzagel findet. Ich kenne ihn z. B. auf
einem Glase1), das die Aufschrift trägt: 'Gute Freund überal, besonders umb den
Rübenzäl'.
Aus dem Stile solcher Gläser muss die Zeit bestimmbar sein, und ausser
Gläsern wird noch manch anderer Gegenstand in Betracht kommen. Jedenfalls
hat noch lange nach Prätorius in Schlesien die Form Rübenzäl gegolten. Ob noch
bis ins 19. Jahrhundert? Diese Frage dürfte wichtig sein für die Abschätzung, ob
wir im Gebirge noch alte Überlieferung mit richtiger Namenform erwarten können
oder nicht.
Im übrigen muss ich es rühmen, dass Richard Loewe überhaupt Rücksicht auf
die Namenform genommen hat. Es ist der erste Fall, der mir bekanntwird! Selbst
bei Philo vom Walde hatte ich zu verzeichnen, dass er ganz bestimmt alte
Überlieferung gefunden haben wollte und erst stutzig wurde, als ich ihm die Frage
vorlegte, mit welcher Namenform ihm der Berggeist dabei benannt worden sei.
Philo verstand diesen Wink und gab zu, dass das allerdings sehr bedenklich
sei — natürlich hatte sein Gewährsmann die Form des Musäus gebraucht.
Vergeblich habe ich mich bemüht, bei Zacher ein Körnchen Verständnis für
diese Frage zu finden. Er stritt rundweg ab, dass die Etymologie 'Rüben-Schwanz'
1 ) Zur Zeit dem Liegnitzer Museum zur Ausstellung überwiesen.
Kleine Mitteilungen.
325
überhaupt zu beachten sei; 'Zäl, Zagel' sei zwar sicher 'Schwanz', aber Pflanzen-
namen würden damit nicht gebildet, und so habe der Name auch schwerlich etwas
mit 'Rübe' zu tun. Der Hinweis auf den schlesischen Ausdruck 'Katzenzagel' für
Schachtelhalm verfing nicht; ich hatte betont, wie vorzüglich dieser Name die
Pflanze kennzeichne gegenüber der durch Pfarrer Kneipp allgemein verbreiteten
unglücklichen Bezeichnung 'Zinnkraut'; aber Zacher lachte: der Schachtelhalm habe
doch wahrlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Katzenschwanze, und die
Erklärung werde wohl auch falsch sein. Glücklicherweise kam ich auf den Ge-
danken zu fragen, wie denn nach seiner Erinnerung ein Schachtelhalm aussehe,
und ich bekam die Antwort: 'wie ein kleiner Tannenbaum'. Ich erzähle diese
kleine Erfahrung, denn ich habe nachmals gemerkt, wie verbreitet dieses Miss-
verständnis ist: man kennt wohl diese, nicht aber die so völlig abweichende frucht-
tragende Form der Pflanze, die mit ihren dunklen Ringeln in der Tat verblüffend
an den Schwanz der Katze erinnert. An der Richtigkeit dieser Etymologie ist
jedenfalls kein Zweifel möglich!
Aber Katzenzagel ist nicht der einzige Pflanzenname dieser Art. Es gibt
auch einen Mäusezagel. Auf unseren Äckern wächst ein Pflänzchen, das dem
Vergissmeinnicht (Myosotis) so ähnlich sieht, dass man' es auch Ackervergiss-
meinnicht' nennt; und diese Myosotis in kleinerem Massstabe führt in den Lehr-
büchern den Namen 'Mäusezahn', obgleich der botanische Name Myosurus, d. h.
Mäuseschwanz, Mäusezäl lautet. In den schlesischen Vorbergen, z. B. im Bolken-
hainer Kreise, heisst die Pflanze aber noch richtig 'Mäusezäl'! Daraus ist also die
unsinnige Form 'Mäusezahn' zurechtgestümmelt worden von einem gedankenlosen
Lehrbuchverfertiger, der weder Deutsch noch Griechisch konnte. Und wenn es
so weiter geht, dann wird wohl in ein bis zwei Geschlechterfolgen die richtige
Namenform ausgerottet sein, und der Unsinn 'Mäusezahn' hat gesiegt, unsere Schul-
bildung ist um eine Sinnlosigkeit reicher! Sollte es nicht eine sehr dankens-
werte Aufgabe unserer Vereine für Volkskunde sein, bei den zu-
ständigen Behörden dahin zu wirken, dass derartige Verballhor-
nungen unserer Pflanzennamen wieder richtiggestellt werden?
Das Pflänzlein sieht nun auch nicht gerade aus wie ein Mäuseschwanz; die
kleinen blauen Blütchen im Graugrünen wirken aber in einiger Entfernung so aus-
gesprochen grau, dass man begreift, wie die Vorstellung einer Maus sich auf-
drängen konnte, und zwar so, dass man auch den Schwanz zu sehen meint. Es
scheint beinahe, als ob 'Zagel' überhaupt soviel wie Staude bedeuten könnte, doch
werden wir damit vorsichtig sein müssen. Wir haben ja noch einen weiteren
Pflanzennamen, der heute auf '—zahn' endigt und von dem sich vermuten lässt,
dass das ursprünglich ein '—zäl' war. Freilich wird in uns heute die Vorstellung
eines 'Löwenzagels' kaum geweckt, wenn wir das Leontodum Taraxacum an-
sehen, dessen botanischer Name es ausserdem als 'Löwenzahn' bezeichnet. In-
dessen, so sieht ein Löwenzahn nicht aus, und es ist wohl zu schliessen, dass der
Name Leontodum bereits eine Übersetzung aus einer irgendwie verstümmelten
Form darstelle. Ob aus einem deutschen Namen? Bisher habe ich bei den Bo-
tanikern vergebens nachgefragt! Die Antwort lautete stets, damit beschäftige sich
zurzeit kein Botaniker. Vielleicht könnten diese Zeilen dazu beitragen, dass wir
von seiten eines Botanikers doch noch einmal eine Antwort auf diese Frage er-
hielten? Ist nämlich der nicht mehr junge Name Leontodum die Übersetzung
eines noch etwas älteren 'Löwenzahn', das aus nochmals älterem 'Löwenzäl' ver-
dreht-wäre, dann dürfen wir uns entsinnen, dass unsere alten Kräuterbücher den
Löwen goldgelb malen und ihm einen Schweif geben, der den Beschreibungen
326
Philipp, Boite:
gemäss als Quaste gezeichnet ist, auf der sich dann die goldgelbe Farbe so recht
breitmachen kann — mit anderen Worten: so, wie die Blume aussieht, hat man
sich früher tatsächlich den Löwenschwanz vorgestellt! Es dürfte also wohl lohnen,
nachzuprüfen.
Das sind aber nicht die einzigen Bezeichnungen dieser Art, und es ist auf-
fallend, dass gerade in allerlei Literatur, die von unserem Rübenzagel erzählt, auch
die Pflanzennamen Schwalbenzagel (in der Form 'Schwallenzagel'), Rosszäl
und Hundezäl auftauchen, übrigens so, dass daraus kein Schluss auf die gemeinte
Pflanze gezogen werden kann. Leider habe ich mir die Stellen nicht gebucht,
doch sind sie auch kaum von Belang; worauf es ankäme, das wäre, die Namen
in anderem Zusammenhange wiederzufinden, aus dem sich ergäbe, welche Pflanzen
in Betracht kommen. Könnte der Schwalbenzagel etwa der Sauerampfer sein? —
[Weiteres über mit zagel zusammengesetzte Pflanzennamen s. bei H.Marz eli-, Die
Tiere in deutschen Pflanzennamen 1913, S. 54—59. Katzenzagel heissen nach M.
noch andere Pflanzen, z. B. Achillea, Fumaria, Melampyrum und Nepeta.j
Wien. Georg Hüsing.
Biicheranzeigen.
Wilhelm Schoof, Die Schwälmer Mundart. Ein Beitrag zur hessischen Mund-
artenforschung (Sonderdruck aus der Zeitschrift für deutsche Mundarten,
Jahrg. 1913 —1914). Halle a. S , Waisenhaus 1914. 94 S. Geh. 2,40 Mk.
Die vorliegende Schrift, deren Verfasser den Lesern der Zeitschr. für (hoch-)
deutsche Mundarten seit 1905 als rühriger Forscher auf dem Gebiete der hessischen
Mundarten und Ortsnamen bekannt ist (s. auch den Aufsatz oben S. 272 f.), zerfällt
in zwei Hauptteile (S. 11—65 Laut-, S. 66—91 Flexionslehre), die eingerahmt
werden von einer Einleitung und Sprachproben. Der Einleitung nach umfasst die
Schwalm den Teil des Kreises Ziegenhain im Regierungsbezirk Kassel, der von
der Schwalm und deren Zuflüssen durchströmt wird. Zugrunde liegt der Unter-
suchung die Mundart der beiden Dörfer Zella und Loshausen im Mittelpunkt der
'engern' Schwalm, die rund 100 Quadratkilometer und etwa 8000 Einwohner hat.
Zur weitern Schwalm rechnet man eine Reihe Dörfer ringsum, deren Boden, zu-
mal an den Abhängen des Knüllgebirges, minder fruchtbar ist. Je mehr sich diese
Siedlungen von ihrem Mittelpunkt entfernen, desto mehr schwindet die Schwälmer
Eigenart in Tracht und Sprache. Der Hauptverkehr geht nach Niederhessen, be-
sonders Kassel. Ihre kleineren Einkäufe decken die Schwälmer in den Städtchen
Treysa, Ziegenhain und Neukirchen, die südlichen Dörfer in Alsfeld im Gross-
herzogtum Hessen. Gemäss diesen vier Verkehrsgebieten unterscheidet der
Verf. vier Schichten der Mundarten, vertreten durch Loshausen, Florshain, Willings-
hausen und Hauptgeschwenda. Durch die 1908 eröffnete Bahnlinie Treysa—Hers-
feld—Bebra sind die alten Verkehrsgrenzen vielfach verschoben worden, zumal nach
Hersfeld zu. Möchte die geplante Bahn Ziegenhain—Alsfeld das Wesen der
Mundart nicht so stark verwischen, wie Schoof fürchtet! Jedenfalls dürfen wir ihm
aufrichtig dankbar sein, dass er noch rechtzeitig eine so reiche Ernte eingebracht
hat! Weiter handelt die Einleitung vom Einfluss der alten Amts- und Pfarrei-
Bücheranzeigen.
327
grenzen und der Gaugrenze: Die westliche Hälfte des Schwälmer Ländchens ge-
hörte zum Oberlahngau, die östliche zum fränkischen Hessengau. So ist die
Mundart „eine interessante Grenzmundart zwischen Ober- und Niederhessisch . . .
Es überwiegt darin das Oberhessische, welches in den Dörfern der engern Schwalm
ausschliesslich vorherrscht."
Nicht so ergiebig für die Volkskunde wie die Einleitung und die erste Sprach-
probe 'Unsere Kirmes' (S. 91/92) ist naturgemäss der rein sprachliche Teil. Zur
Kennzeichnung der Mundart hebe ich hervor: i (ü) > e, z. B. sleera Schlitten,
heba hüpfen; u > o: sdomp stumpf; hinsichtlich der Diphthongierung der mhd.
i, ü, ü steht die Mundart auf hochdeutscher Stufe, ausgenommen — ich > ich
(strichen > sdrica) — ür bleibt (trurec > druuric), ü > ii in zwei Fällen, z. B.
miurasre > miirar Maurer; mhd. — iuw > auw, z. B. nauw neu. Beim Kon-
sonantismus fällt auf das echt hessische — r — < dental : broora Braten, sngira
schneiden, keral Kittel. Ferner — n + dental > io: gafoioa gefunden; — agen >
ääß: hagen > hää» Hain; germ, p bleibt unverschoben: pets Pfütze, pluk Pflug,
tsaba Zapfen, somp Sumpf. In der Flexionslehre ist sehr anziehend der Abschnitt
über die teils starken, teils schwachen Genitive bei Familiennamen: mit Falgs
Han ere und Falga Hanerc unterscheidet man zwei verschiedene Heinrich Falk;
das Zahlwort zwei hat seine drei Geschlechter bewahrt: tswii jâioa (Jungen), tswoo
keiw (Kühe), tsw§§ kex> (Kinder).
Bei Einzelheiten kann man hie und da andrer Meinung sein. So fällt auf
— neben manchem Druckfehler (§ 9 Oberweiler statt — aula!) z. B. § 94 „hàçusa
(<hie ûzen] mit Funktionsvertauschung vonhaçus"; bei Wörtern wie frääwa freuen
setzt Schoof § 111 ahd. frouwen an, während doch die Nebenform frewen, die er
übrigens sehr wohl kennt (§ 252), viel näher läge. In § 179c muss es heissen
„Wgm. d, p im Inlaut nach Liquiden sowie nach m, n hat sich an diese
assimiliert" statt „im Inlaut sowie m, n nach Liquiden". Innerhalb eines
Paragraphen sind öfters Wörter zweimal angesetzt, auch Widersprüche kommen
vor: wenn es § 118 heisst „ruowa > run", 251 aber „ruowa > rauw", so müsste
wenigstens gesagt sein, dass rauw die häufigere und ältere Form ist. Oft vermisst
man bei seitnern Ausdrücken die Erklärung: dass z. B. § 27 „bätsal < mhd. bezel"
Haube, Mütze bedeutet, ist wohl nur dem Einheimischen selbstverständlich.
Dass ältere Sprachstufen häufig aus Urkunden belegt sind, z. B. der md.
Wechsel u>o seitdem 14. Jahrhundert (S. 28/29), verdient durchaus Anerkennung,
nicht minder die eingestreuten Bauernsprüche, Auszählreime, Kinderliedchen, Flur-
namen, wodurch die Arbeit belebt wird. Alles in allem eine gediegene, von Hin-
gebung an die Sache zeugende Darstellung einer anziehenden Mundart. Möchte
der Verfasser recht bald Musse finden, uns die verheissene Syntax, Wortbildung,
Namenkunde (Familien-, Flurnamen) und das Wörterbuch zu bescheren! Wir sehen
ihrem Erscheinen mit Spannung entgegen.
Dresden. Oskar Philipp.
{¡¿©.org Gräber, Sagen aus Kärnten, gesammelt und herausgegeben. Leipzig,
Th. Weicher 1914. XL, 512 S. gr. 8°. Geb. 5 Mk.
Als 1887 J. Rappold 123 'Sagen aus Kärnten', die er lediglich gedruckten
Quellen entlehnt hatte, zu einem netten Bändchen vereinigte, regte er zur Samm-
lung dessen an, M'as noch als ungehobener Schatz im Munde der Alten und in
328
Boite, Boehm:
Abgeschlossenheit Lebenden ruhe. Dieser Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen;
Prof. Georg Graber in Klagenfurt bietet in dem vorliegenden stattlichen Buche
613 Kärntner Volkssagen, von denen er etwa sechs Siebentel selber zusammen-
gebracht hat. Über die Art seiner Sammeltätigkeit, die Zeit und die Orte seiner
Aufzeichnungen berichtet er S. VIII leider nur summarisch; doch ist die im ganzen
einfache, allzu romantischer Ausschmückung bare Darstellung und die über die
hauptsächlichen Sagenzüge orientierende und auf die neueren wissenschaftlichen
Forschungen verweisende Einleitung zu loben. Unter den in 18 Gruppen ge-
teilten Sagen gewahren wir neben den allgemein verbreiteten Erzählungen von
Wassergeistern, von der wilden Jagd, vergrabenen Schätzen, Geisterspuk, Hexen
und Teufel auch die für das Gebirgsland charakteristischen Bergwerkssagen, die
schatzgrabenden Venediger, die schlafenden Helden, ferner die badischen Leute
(Riesen) und saligen Frauen, Kirchengründungssagen und Legenden. Von ge-
schichtlichen Ereignissen haben sich besonders die Türken- und die Franzosen-
kriege im Gedächtnis fortgepflanzt, auch Margareta Maultasch lebt noch als eia
wildes Mannweib in der Erinnerung des Volkes. — Von einzelnen Sagen hebe
ich aus der reichen Fülle hervor das nur den Wasser- und Waldgeistern bekannte
Geheimnis, was das Kreuz in der Nuss bedeute (nr. 13. 24. 82. 94); ferner nr. 18
der Ahornbaum am Millstätter See (Bolte-Polivka, Anmerkungen zu Grimm
KHM. 1, 272); nr. 37 Selbertân (Polyphem); nr. 54 der Wechselbalg (Grimm, KHM.
nr. 39, 3); nr. 56—57 das Riesenspielzeug (Grimm, DS. nr. 17); nr. 60 Flachses
Qual (Bolte-Polivka 1, 222); nr. 64 St. Julianus (V. Schumann, Nachtbüchlein nr. 14;
Frey, Gartengesellschaft 1896 S. 280); nr. 90 Waldmann und Mensch (Grimm,
KHM. nr. 72); nr. 96 Erdbeeren im Winter (Bolte-Polivka ], 100); nr. 108 der Tote
als Hochzeitsgast (R. Köhler, Kl. Schriften 2, 226); nr. 166—169 der Traum vom
Schatz auf der Brücke (oben 19, 289); nr. 170 die einander mordenden Schatzfinder
(Montanus, Schwankbücher S. 564); nr. 199, 201 das Schlangenkrönlein (Grimm,,
KHM. nr. 105); nr. 208 der Hausgeist und Bär (R. Köhler 1, 72); nr. 228 'Ich
falle' (Bolte-Polivka 1, 30); nr. 237 Lenorensage (E. Schmidt, Charakteristiken.
12, 189); nr. 244 Muttertränen (Grimm, KHM. nr. 109); nr. 245—248 Totenmette
(Grimm, KHM. nr. 208); nr. 253 Quittung aus der Hölle (R. Köhler 1,133);.
nr. 258 Tod und Tödin (oben 22, 5613 Gedicht von Tschabuschnigg); nr. 264
die Scheintote (oben 20, 362); nr. 352 Hildegard (Gesta Romanorum c. 249);
nr. 390 Bauer und Teufel (Grimm, KHM. nr. 189; oben 8, 21); nr. 427 das boden-
lose Schaff (H. Sachs, Fabeln ed. Goetze 2, 532. 4, 502); nr. 428—429 der Schmied
von Rumpelbach (Grimm, KHM. nr. 82); nr. 431 Namen erraten (Bolte-Polivka
1, 490); nr. 468 der Teufel in der Kirche (Zs. f. vgl. Litgsch. 11, 249); nr. 537 dei-
Mann im Pflug (Grimm, DS. nr. 537); nr. 585 — 586 Blaubart (Bolte-Polivka 1, 400);
nr. 588 das mutige Mädchen (Bolte-Polivka 1, 373). Dem verdienstlichen Buche-
ist in Kärnten und ausserhalb Kärntens Verbreitung zu wünschen.
Berlin. Johannes Bolte.
Carly Seyfarth, Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens.
Ein Beitrag zur Volkskunde des Königreichs Sachsen. Leipzig,.
W. Heims 1913. XXIII, 318 S. 8°. Geh. 4 Mk., geb. 5 Mk.
Der Stoff dieses äusserst reichhaltigen Buches, welches das Königreich;
Sachsen mit Ausnahme der Lausitz, das angrenzende Sachsen-Altenburg und
Bücheranzeigen.
Reuss j. L. berücksichtigt, ist zum grösseren Teile aus der gedruckten volkskund-
lichen Literatur, besonders der das bezeichnete Gebiet betreffenden, zusammen-
gestellt; ein neun Seiten langes Quellenverzeichnis beweist, wie fleissig der Verf.
gearbeitet hat. Was ältere Schriften anbetrifft, so wurde ausser der Chemnitzer
Rockenphilosophie und Werken des Prätorius das bisher weniger bekannte Buch
von Chr. Lehmann, Historischer Schauplatz derer natürlichen Merkwürdigkeiten
in dem Meissnischen Ober-Ertzgebirge, Leipzig 1699, häufig herangezogen, und
der Verf. hat hiermit offenbar einen guten Griff getan. Die gedruckten Zauber-
und Rezeptbücher mit erdichtetem Druckort und -jähr, die auch in Sachsen im
Umlauf waren und noch sind, werden mit Recht nur selten angeführt, dagegen
hat der Verf. handschriftliche Rezeptsammlungen benutzt, da sie, selbst wenn sie
aus gedruckten Büchern abgeschrieben sind, immerhin unter dem sächsischen
Volke verbreitete Ansichten wiedergeben. — Eine zweite Quelle bilden die ina
Archiv des Vereins für sächsische Volkskunde aufbewahrten Einsendungen und
Sammlungen volksmedizinischen Inhalts, deren Benutzung dem Verf. durch E. Mogk
ermöglicht wurde. Von ihm und K. Weule ging der Anstoss zu der ganzen
Arbeit aus, deren erster Teil auch als Leipziger Dissertation erschienen ist. Um
dies handschriftliche Material zu ergänzen, erliess der Verf. in Zeitschriften und
Zeitungen Sachsens Aufrufe zur Einsendung von Beiträgen, die einen bemerkens-
werten Erfolg hatten (gegen 50 Mitteilungen), wenn man bedenkt, ein wie trauriges
Ergebnis oft ähnliche Aufrufe gehabt haben. Ausserdem stellten ihm Kenner des
behandelten Gebietes umfangreichere Sammlungen an Aufzeichnungen zur Ver-
fügung. — Endlich sammelte der Verfasser einen Teil des Stoffes selbst auf
Wanderungen im sächsischen Mittelgebirge, vor allem auch im Erzgebirge.
Man sieht, dass S. wohl ausgerüstet an seine Arbeit gegangen ist, und die
Art, wie er den gewaltigen Stoff angeordnet und verarbeitet hat, verdient höchste
Anerkennung. Er behandelt zunächst die Anschauungen des Volkes von der Ent-
stehung der Krankheiten (durch Krankheitsdämonen, dämonische Menschen und
als Strafe Gottes), wobei er sich jeder Schablone enthält und die vielen mit-
einander verschlungenen Wurzeln aufzeigt, denen die Volksmeinung entwächst.
Den Hauptteil bildet dann die Erörterung der verschiedenen Heilmethoden durch
gesprochene und geschriebene Worte (hier reiche Zusammenstellungen von Segen,
Sator-, Abracadabra-und ähnlichen Formeln), Handlungen (z. B. Übertragung, Durch-
kriechen, Messen) und Dinge (z. B. Wasser, Teile von Menschen- und Tierkörpern,
Pflanzen). Ein ausführliches Register macht den Schluss. Für jede Angabe ist
in den Fussnoten die genaue Quellenangabe zu finden.
Selbstverständlich ist der größte Teil der mitgeteilten Anschauungen nicht auf
Sachsen beschränkt, aber eben die Heraushebung dieses Einzelgebietes hat es dem
Verf. möglich gemacht, immer aus eigener, genauer Kenntnis der Quellen zu
schöpfen und so etwas wirklich Zuverlässiges zu bieten; die Mängel, die z. B.
dem vielbenutzten Werke von v. Hovorka und Kronfeld anhaften, zeigen ja, wie
selbst bei zwei Verfassern eine ganz einwandfreie Darstellung kaum noch möglich
ist, wenn das behandelte Gebiet zu umfangreich wird. Für keinen Teil Deutsch-
lands dürfte es zurzeit eine so reichhaltige Darstellung der Volksmedizin geben^
wie sie S. für Sachsen geliefert hat, und sein Buch darf man getrost mit unent-
behrlichen Werken, wie z. B. Wuttke-Meyer und neuerdings Sartori, in eine Reihe
stellen.
Berlin-Pankow. Fritz Boehm.
330
jbolte:
Antti Aarne, Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung. Hamina 1913.
IV, 87 S. (F. F. Communications ed. by J. Boite, K. Krohn, A. Olrik,
C. W. v. Sydow nr. 13). — Übersicht der Märchenliteratur. Hamina 1914.
IY, 76 S. (F. F. Communications nr. 14). — Die Tiere auf der Wander-
schaft, eine Märchenstudie. Hamina 1913. Y, 174 S. (F. F. Communi-
cations nr. 11). — Der tiersprachenkundige Mann und seine neugierige
Frau, eine vergleichende Märchenstudie. Hamina 1914. IY, 83 S.
(F. F. Communications nr. 15).
Gern hätte ich an dieser Stelle über alle wichtigeren Erscheinungen der letzten
Jahre auf dem Gebiete der Märchenforschung einen kurzen Bericht erstattet; da
mir jedoch die Musse dazu geraubt ist, möchte ich wenigstens auf einige Schriften
des überaus eifrigen finnischen Forschers Aarne hinweisen, die besonders als Ein-
führung in diese junge Wissenschaft allgemeineres Interesse verdienen. Schon
1910 hat Aarne ein nutzbringendes Verzeichnis sämtlicher ihm bekannter Märchen-
typen in systematischer Anordnung veröffentlicht (s. oben 21,- 181). Jetzt bietet
er Studierenden und Mitforschern einen praktischen Leitfaden dar, der zumeist
aus seinen eigenen Erfahrungen geschöpft ist und nicht bloss gute Kenntnis des
ausgebreiteten Materials dartut, sondern auch eine nüchterne, gesunde Anschauung
der Probleme, die er auf klare und einfache Weise zu formulieren weiss. In knapper
Form bespricht er die hauptsächlichen Theorien über den Ursprung der Märchen,
die arische der Brüder Grimm, die man auch die mythologische nennen könnte,
die indische Benfeys und die anthropologische Tylors und Langs, um sie alle zu
verwerfen und sich der von seinem Lehrer Kaarle Krohn entwickelten Ansicht an-
zuschliessen. Er sucht den Ursprung der Märchen nicht mit den englischen An-
thropologen in der Urzeit, sondern mit Benfey in geschichtlicher Zeit; und während
Adeline Rittershaus ursprünglich nur Einzelmotive annimmt, die später willkürlich
gemischt und zu einem Ganzen verbunden wurden, ist ihm jedes Märchen ursprüng-
lich eine feste Erzählung, die nur einmal an einer bestimmten Stelle und zu einer
bestimmten Zeit entstanden ist. Wenn sich darin Gebräuche und Anschauungen
einer primitiven Kulturstufe finden, so folgt daraus nicht, dass das ganze Märchen
dieser Periode entstammt. Die Märchen sind Dichtungen, hervorgegangen aus der
bewussten Absicht, die Hörer durch diese Spiele der Einbildungskraft zu erheitern.
Sie sind in verschiedenen Gegenden entstanden, nicht nur in Indien, sondern auch
in Nord- und Südeuropa; ihre Herkunft muss durch die Spezialuntersuchung in
jedem einzelnen Falle ermittelt werden. Sehr verschieden ist ihr Alter; so hat,
wie ich einschalten möchte, F. v. d. Ley en in seiner Jubiläumsausgabe der
Grimmschen Kinder- und Hausmärchen (Jena, E. Diederichs 1912) den inter-
essanten Versuch gemacht, die 203 Nummern nach den Jahrhunderten ihrer Ent-
stehung in neun Gruppen zu ordnen. Die neueren Märchen sind zumeist Schwänke.
Die Verbreitung der Märchen geschah bis in die jüngste Vergangenheit weitaus
mehr durch mündliche Überlieferung als durch die Literatur. — Das zweite Kapitel
zählt die psychologischen Ursachen (A. nennt sie mit Olrik 'Gesetze') der Ver-
änderungen von Märchen auf: der Erzähler vergisst einen Zug, schiebt am Anfang
oder Schluss einen verwandten Stoff ein, verbindet verschiedene Märchen zu einem
Ganzen usw. Bei der Vervielfältigung spielt die Dreizahl und die Analogie eine
Rolle, eine Tiergeschichte wird zu einem Menschenabenteuer, ein Märchen wird
zur Ich-Erzählung, es wird in einem andern Lande akklimatisiert, in einer andern
Zeit modernisiert. — Drittens erläutert der Vf. die von Krohn an den in ver-
Büchelanzeigen.
331
schiedenen Gegenden Finnlands aufgezeichneten Versionen der Kalevalalieder und
an den Tiermärchen erprobte historisch-geographische Methode, die auch er in
einer Reihe von Monographien über Märchenstoffe angewandt hat. Die Varianten
werden in eine geographische und, soweit möglich, historische Ordnung gebracht;
die Erzählung wird in Hauptteile und diese in Einzelzüge zerlegt, das ganze
Material für jeden Zug durchmustert und die Urform sowie der Weg des wandern-
den Märchens, der auch für die Völkerpsychologie und die Geschichte der Kultur
von Bedeutung ist, festgestellt. Ältere literarische Fassungen sind natürlich wichtig,
aber doch erst Beweismittel zweiten Ranges, da sie wieder auf mündlichen Er-
zählungen beruhen. Vom Orient nach Europa und umgekehrt führen zwei Wege,
durch Russland und über die Balkanhalbinsel. In Finnland lässt sich das Zu-
sammentreffen zweier Märchenströme, aus Skandinavien und aus Russland, nach-
weisen. — In den letzten beiden Kapiteln gibt A. Winke für die von den jungen
Märchenforschern zu befolgende Technik, schildert die Tätigkeit des internationalen
Bundes 'Folklore Fellows', in dessen Schriften die oben verzeichneten Schriften
erschienen sind, die Krohnsche Anordnung und Bezeichnung der Völker und er-
läutert seine Lehren an ausgewählten Beispielen.
Eine notwendige Ergänzung dieses Leitfadens bildet die 'Übersicht der
Märchenliteratur' des Orients und Occidents, die zwar als Anleitung für
Studierende bestimmt ist, aber auch den Fachgenossen manches Neue bieten wird.
Denn der Vf. gibt keine blosse Bibliographie, sondern eine sorgfältige Auswahl
des Wertvollen, die auf eignem Studium und auf Auskünften berufener Kenner
der verschiedenen Literaturen beruht; er charakterisiert den Inhalt der Sammlungen
und geht auf Streitfragen, wie z. B. auf die über die Quellen des mongolischen
Siddhi-Kür, ein. Natürlich wird hie und da eine Berichtigung oder ein Nachtrag
gemacht werden können; auch darf man an die Anordnung keinen allzu strengen
Massstab anlegen.
Gleichzeitig mit dem Leitfaden hat A. zwei Monographien über bekannte
Märchen erscheinen lassen, die als lebendige Illustration seiner Theorie dienen
können. Für 'die Wanderung der Tiere', von der er mehrere hundert
Varianten, darunter nahezu hundert ungedruckte aus Finnland, zusammengebracht
hat, unterscheidet er eine asiatische und eine europäische Fassung. In jener gehen
ein Ei, ein Skorpion, eine Nadel und ein Mörser auf die Reise, verstecken sich
in einem Hause, quälen nachts die Hausbesitzerin und bringen sie schliesslich ums
Leben; in dieser sind nur Haustiere die Wanderer und ihre Gegner im Wald-
hause Wölfe, die erst in späteren Aufzeichnungen durch Räuber ersetzt werden.
Die Urform stammt jius Süd- oder Ostasien und muss vor dem 12. Jahrhundert
durch mündliche Vermittlung auf dem südlichen Wege nach Europa gekommen
sein, wo sie im lateinischen Epos Ysengrimus, bei H. Sachs und Rollenhagen
Aufnahme fand. Im 19. Jahrhundert ist sie durch Grimms 'Bremer Stadtmusikanten'
bis nach Finnland gedrungen. -— Auch bei dem Märchen von der Tierspräche,
die der Held von einer dankbaren Schlange lernt, und von seiner neugierigen
Frau, die er auf den Rat des Hahnes straft, scheiden sich deutlich eine orientalische
wohl abgerundete Form und eine westliche Fassung, die schon im 13. Jahrhundert
bekannt war, in der aber einige Züge durch fremden Einfluss eine ganz andere
Gestalt bekommen haben. Benfey erklärt die indische Gestalt für die ursprüng-
liche, während W. Klinger (1909) sie aus der altgriechischen Literatur ableiten
will. A. pflichtet der Ansicht Benfeys bei und erklärt sich gegen die Ansicht
v. d. Leyens, der eine allmähliche Entwicklung der indischen Geschichte aus zwei
Motiven, der Kenntnis der Ameisensprache und dem Lachen des Königs, an-
332
Boite, Scheftelowitz, Mielke:
nimmt. 'Soweit wir das Märchen kennen, kennen wir es als eine vollständige
Erzählung oder als ein davon abgetrenntes Bruchstück.'
Berlin. Johannes Bolte.
Micha Josef Bin Gorion, Die Sagen der Juden, gesammelt und bearbeitet..
Bd. II: Die Erzväter. Prankfurt a. M. Riitten & Loening 1914. XVT
446 S. 8°. Geh. 7 Mk , geb. 8,50, 11 und 35 Mk.
Während der erste Band: 'Von der Urzeit' die Sagen zu den ersten neun
Kapiteln der Genesis behandelt (s. oben S. 97), enthält der zweite die Sagen von
der Ausbreitung der Völker nach der Sintflut und von den Erzvätern; sie erstrecken
sich auf die Kapitel 10—28 des ersten Buches Mosis. Die Übersetzung dieses
zweiten Bandes hat vor dem ersten Bande insofern den Vorzug, als sie dem
deutschen Sprachgeiste mehr angepasst ist. Auch in diesem Bande kann der ver-
gleichende Religionsforscher manches interessante Material finden. S. 26 wird
die aus Sêfer Hajjäsär entnommene Sage 'Stern Abrahams' behandelt, gemäss
welcher die Weisen und Wahrsager gleich bei der Geburt Abrahams im Osten
einen eigentümlich grossen Stern gesehen haben, der durch den Himmel lief und
vier Sterne von den vier Himmelsrichtungen verschlang. Über diesen astrologi-
schen Aberglauben, der im Altertum weit verbreitet war, vgl. Scheftelowitz, Arch,
f. Religionswissenschaft 14, 42f.; Voigt, Die Geschichte Jesu und die Astrologie,
Leipzig 1911. — S. 209: 'Der Raub der Tubaistöchter', eine Sage, die ebenfalls
im Sëfer Hajjäsär erzählt wird und zum Teil an Richter c. 21 anklingt, ist eine
Bearbeitung der römischen Sage von dem Raube der Sabinerinnen (Livius 1, 9).
Schon der Umstand, dass die Jünglinge die Mädchen aus der Stadt Sabina
rauben, weist darauf hin. — S. 213: Die griechische Sage von dem Prokrustes-
Bett ist gleichfalls in die altjüdische Literatur eingedrungen. Bereits im Bab.
Talm. Sanhédrin 109b wird sie erwähnt: Die sittenlosen Einwohner der Stadt
Sodom hatten ein Bett, auf das sie jeden Fremden, der in dieser Stadt über-
nachten wollte, hineinlegten. War der Fremde länger als das Bett, so kürzten
sie dessen Blässe, war er aber kürzer als das Bett, so reckten sie seine Glieder
aus und marterten so die Fremden zu Tode. Auf diese Talmudlegende spielt
auch ein von Möse Ben Qalonymus verfasstes Gebet an, das sich im Mahzör des
8. Pesahtages unter Saharit-Gebeten befindet und mit den Worten: 'Mä mö'il
räsä' be'äläw' beginnt. — S. 327: 'Abraham hätte an seinem Halse eine grosse
Perle getragen, und jeder Kranke, der darauf sah, sei alsbald geheilt worden'.
Die Perle galt bei vielen Völkern als Amulett, so bei den alten Indern (Atharva-
reda IV 10, 1 ff.), den Tschi-Negern und den Dajaks (vgl. Scheftelowitz, Schlingen-
und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker 1912, S. 30. 48), bei den
Albaniern, Griechen und Ungarn (vgl. Zachariae, Wiener Ztschr. f. d. Kunde d..
Morgenl. 17, 223f.).
Cöln a. Rh. Isidor Scheftelowitz.
Walther Schulz-Minden, Das Germanische Haus in vorgeschichtlicher Zeit.
Mit 48Textabbildun gen (Mannus-Bibliothek, herausgegeben v. Gr.Kossinna,
Nr. 11). Würzburg, C. Kabitzsch 1913. VIII, 125 S. 8°. 4 Mk. (Sub-
skriptionspreis 3,20 Mk.)
Bücheranzeigen.
333
Seit sich die Ausgrabungstechnik an den Limes-Untersuchungen ausserordent-
lich vervollkommnet hat, war eine systematische Ausdehnung der Hausforschung
in die Vorgeschichte hinein mit Bestimmtheit zu erwarten. Von den zum Teil
älteren skandinavischen Arbeiten abgesehen, haben gerade die letzten zehn Jahre
Ergibnisse gebracht, die dringend einluden, sie mit den ethnographischen
Forschungen in Beziehung zu setzen. Dr. Schulz-Minden hat sich dieser Aufgabe
nr . Hingabe und erfreulichem Erfolge unterzogen, wenn er sich auch aus guten
Gründen auf die germanischen Reste beschränkte. Dass er sich als Schüler
Kossinnas bekennt und die Forschungen dieses vielbefehdeten Archäologen zum
Ausgangspunkt nimmt, wird zwar nicht überall gutgeheissen werden, gibt ihm
aber eine feste geographische Unterlage für seine Untersuchung. Sehr glücklich
ist meines Erachtens die Methode, von den zeitlich jüngsten Formen auszugehen
und das Haus der römischen und der La-Tene-Zeit zuerst zu behandeln. Es wird
dadurch einerseits eine Brücke zu den literarischen Quellen geschlagen, anderer-
seits aber die Möglichkeit gewonnen, die unbestimmten Verhältnisse der älteren
Zeit von festen Richtpunkten aus zu durchleuchten, Der Verfasser kommt auf
diese Weise ungezwungen über die frühe Eisen- und Bronzezeit, die er einheitlich
.zusammenfasst, in die Steinzeit. Auch er gelangt auf dem archäologischen Wege
zu der Annahme eines nordeuropäischen bzw. germanischen Dachhauses, das
kaum noch abzulehnen sein wird. Merkwürdigerweise hat er dabei das vertiefte
Haus unbeachtet gelassen, das nicht nur einzelne Eigentümlichkeiten des späteren
Hauses erklärt und daher nicht ohne Einwirkung auf die spätere Gestaltung des
altnordischen Hauses geblieben sein kann, sondern dessen alte Vorherrschaft im
Norden noch durch Beispiele aus den letzten Jahrhunderten bezeugt ist. Auch
das Fehlen einer gemeingermanischen Bezeichnung für Wand und das spätere Auf-
kommen der vom Verfasser mit Recht herangezogenen Flechtwand bei den Nord-
und Westgermanen (S. 89) dürfte um so mehr mit dem Herauswachsen des ver-
tieften Hauses aus der Erde zusammenhängen, als solche Flechtwände zur Be-
kleidung der Erdwände in Schottland tatsächlich belegt sind (Proceedings of the
Society of Antiquaries of Scotland 1902 S. 75; 1903 S. 36). Die rätselhaften
Steinhäufungen von Biesdorf (1908) sind sicher keine Herdstellen, da sie in der
Regel nur 1 — 2 Meter weit auseinanderliegen. Sehr mit Recht steht Verf. den
Darstellungen der Markussäule in Rom misstrauisch gegenüber, die sich trotz der
Autorität von Domaszewski und Petersen schwerlich als Abbildungen germanischer
Häuser verteidigen lassen. Nicht ganz verständlich ist die Annahme einer Längs-
laube bei dem Hause von Rings (S. 19 und 27), das Verf. richtig als ein Dach-
haus ansieht, bei dessen Breite von 13 Metern einô 4 Meter weit vorgerückte
Längslaube schlechterdings unmöglich ist. So zurückhaltend der Verfasser auch
bei Verwertung der Hausurnen (S. 60) ist, so befremdet doch der aus ihnen ge-
wonnene Schluss auf das gleichzeitige Vorkommen von Rund- und \ iereckbau.
Haben die Urnen vielfach eine runde Gestalt, so ist diese wohl weniger eine
Nachbildung bestimmter Häuser als eine aus der Technik bedingte Anlehnung an
die Topfform. Bis jetzt ist wenigstens in zweifellos germanischen Gebieten das
gleichzeitige Vorkommen beider Haustypen archäologisch noch nicht nachgewiesen,
obwohl es im Westen und auf altgriechischem Boden kaum zu bezweifeln ist.
Diese sachlichen Ergänzungen sollen keine Herabminderung des Buches sein,
das in seiner Anlage und Durchführung eine sehr wertvolle Bereicherung ist.
Berlin-Halensee. Robert Mielke.
334
Notizen.
Notizen.
A. Hellwig, Ritualmord und Blutaberglaube. Minden i. W., J. C. 0. Bruns [1914]..
174 S. 8°. Geb. 2 Mk. — Der durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der kriminellen
Psychologie und Volkskunde bekannte Verfasser gibt zunächst einen Überblick über die
hauptsächlichsten gegen die Juden gerichteten Ritualmordbeschuldigungen und -prozesse
seit dem Jahre 1475 bis zu dem in letzter Zeit viel besprochenen Kiewer Fall im Jahre
1913; darauf weist er aus dem Pentateuch und der jüdischen Ritualliteratur nach, d&äs
einerseits von einer rituellen Verwendung des Menschenblutes nirgends die Rede ist,
andererseits aber die Vorschriften über den Blutgenuss und die Auffassungen vom Wesen
des Blutes als Sitzes der Seele derartige sind, dass aus ihnen abergläubische Vorstellungen
über die Verwendung von Menschenblut wohl erwachsen konnten. In der darauf fol-
genden kriminalpsychologischen Betrachtung der Ritualmordprozesse kommt H. zu dem
Ergebnis, dass die belastenden Zeugenaussagen entweder bewusste Unwahrheiten oder —
und zum grösseren Teile — unbewusste Aussagefälschungen darstellen. Auch die Gut-
achten von Sachverständigen, die für die Existenz des Ritualmordes sprechen, erweisen
sich ihm bei näherer Betrachtung als nicht beweiskräftig, dasselbe gilt für die Ge-
ständnisse. Dass trotz alledem die Ritualmordbeschuldigungen nicht aufhören, liegt, ab-
gesehen von der allgemein verbreiteten Anschauung von der übernatürlichen Kraft des
Blutes, auch an dem Misstrauen, mit dem allgemein fremden Rassen, Andersgläubigen,
Sektierern usw. begegnet wird; wurden doch bekanntlich auch christliche Sekten des
Kindermordes beschuldigt. Das 3. Kapitel ist dem Blutaberglauben im allgemeinen ge-
widmet, dessen allgemeine, auf Christen wie Juden wie Heiden sich erstreckende Ver-
breitung mit vielen Beispielen bewiesen wird und der überall auf der Erde zu Straftaten
und Morden das Motiv gewesen ist; auch bei den Juden ist er zugleich mit vielen anderen
abergläubischen Vorstellungen, die sie zum Teil von anderen Völkern übernommen haben,
nachzuweisen. Der Verf. kommt zu folgendem Endergebnis (S. 156f.): 'Ebensowenig,
wie man daran zweifeln kann, dass ein abergläubischer Christ auch heutigen Tages unter
Umständen noch einen Mord aus Blutaberglauben begehen kann, ebensowenig lässt sich
in Abrede stellen, dass auch ein abergläubischer Jude einen Mord aus Blutaberglauben
verüben kann.' Man darf wohl sagen, dass H.s Buch das Bedeutendste und Reichhaltigste
ist, was bisher über die immer wieder auftauch, nde Ritualmordfrage geschrieben ist.
Stracks Schrift 'Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit (1892. 5.—7. Aufl.
1900\ aus der H. viele seiner Angaben entnommen hat, wird von ihm an Reichhaltigkeit
des Materials bedeutend übertroffen. Neu und wichtig ist besonders die Behandlung der
Frage vom kriminalpsychologischen Standpunkte aus und anerkennenswert die Ruhe und
Unparteilichkeit, mit der der Verf. das heikle Thema behandelt, das so oft der Gegen-
stand hetzerischer und unwissenschaftlicher Schriftstellern gewesen ist. [F. B ]
Th. Imme, Vosskühlers Pitt. Eine Geschichte aus dem Altessener Kinderleben.
Essen, G. D. Baedeker 1914. IV, 65 S. 8°. 0,40 Mk. — Im Rahmen einer einfachen
Erzählung stellt der Verf. allerlei Meinungen, Gebräuche, Sprichwörter, Reime u. dgl.
zusammen, wie sie dereinst das Leben eines Essener Kindes von der Geburt bis zum Ein-
tritt in die Lehre begleiteten. Von wissenschaftlicher Bedeutung ist das Buch nicht, da
geduickte Quellen nicht angegeben werden; von solchen abgesehen, konnte sich der Verf.
der Heihilfe eiuer alten Essenerin erfreuen, er selbst ist kein Essener von Geburt.
Wesentlich Neues wird nicht geboten, immerhin wird das Büchlein in dem kleinen Kreis,
für den es wohl bestimmt ist, mit Interesse gelesen werden. [F. B.]
R. Kleinpaul, Volkspsychologie. Das Seelenleben im Spiegel der Sprache..
Berlin und Leipzig, G. J. Göschen 1914. VII, 211 S. 8°. Geh. 4,60 Mk., geb. 5,50 Mk. —
Der Verf. unterscheidet die 'Volkspsychologie' als Psychologie der durchschnittlichen;
Einzelnen von der Völkerpsychologie als der Lehre vom Denken der Kollektivseele —
eine nötige, aber oft schwer durchzuführende Unterscheidung. Seine eigene Aufgabe
sucht er zu lösen, indem er die Metaphern, zu denen die volkstümliche Vorstellung (.wie
übrigens die gelehrte auch!) notwendig greift, in einer Folge inhaltlicher Gruppen zu-
sammenstellt: 'Das Gemüt und die Schimäre der Gemütsbewegungen', 'Arbeit, die der
Notizen.
335
Seele gegeben wird' u. dgl. Das wäre nun alles schön und gut, wenn die Etymologien
sicherer wären und wenn vor allem der vielbelesene und witzige Verf. seinem Hang zum
Kombinieren und zum Witzeln nicht gar so unbedingt nachgeben wollte. Es macht aber
nicht jedem Vergnügen, Überschriften zu lesen, wie (S. 97): 'Rechter Sinn und Irrsinn.
Der Luftballon, das Delirium, die Verrücktheit. Die Gerechtigkeit'. Schliesslich sollte
doch auch die populärste Darstellung in einem anderen Stil geschrieben sein als eine
Humoreske von Hartleben! [Richard M. Meyer.]
R. Kühnau, Sagen aus Schlesien (mit Einschluss Österreichisch-Schlesiens) ge-
sammelt und hsg. Berlin-Friedenau, H. Eichblatt [1914], XVI, 182 S. 8° mit Abbildungen.
2,50 Mk. (Eichblatts Deutscher Sagenschatz Bd. 4). — Für den schlesischen Band des
nützlichen Eichblattschen Sammelwerkes war Kühnau, der kürzlich ein vierbändiges Corpus,
der schlesischen Sagen vollendet hat (oben 23,210), sicherlich der geeignetste Bearbeiter.
Er hat für weitere Kreise die besten und bezeichnendsten Stücke jenes grossen Werkes
ausgewählt und auch von den dort übergangenen Rübezahlsagen und geschichtlichen
Erzählungen einige hinzugetan. Die Anordnung der 223 Nummern schliesst sich im all-
gemeinen den früheren Bänden an; das Vorwort berichtet über die älteren schlesischen
Sagensammlungen seit Prätorius 'Daemonologia Rubinzalii' (1662). [J. B.]
Elisabeth Lemke, Asphodelos und anderes aus Natur- und Volkskunde, 1. Teil.
Allenstein, Harich 1914. VIII, 219 S. — Die als treffliche Kennerin des Volkstums ihrer
ostpreussischen Heimat bekannte Verfasserin, die seitdem durch ausgedehnte Reispn und
Studien ihren Beobachtungskreis erweiterte, legt uns eine Sammlung ihrer in Zeitschriften
und Zeitungen zerstreuten Aufsätze vor. In diesen Skizzen und Vorträgen geht sie nicht
darauf aus, ihren Gegenstand systematisch und erschöpfend zu behandeln, sie besitzt aber
die nicht gering zu schätzende Gabe, durch Mitteilung persönlicher Eindrücke und Lese-
früchte auch in Fernerstehenden das Interesse an unserer Wissenschaft anzuregen. Und
sollte ein allzu kritisch gestimmter Leser an dem frischen Plaudertone oder dem mit raschen
Übergängen hierhin und dorthin springenden, Wichtiges und Nebensächliches neben-
einander setzenden, obwohl keineswegs geistreichelnden Stile etwas auszusetzen haben, so
wird auch der ernste Forscher hier ausgedehnte Kenntnis, gewissenhafte Quellenzitate
und manche ihm neue und wertvolle Tatsache entdecken. So bietet der erste Aufsatz
über den Asphodelos, aus dessen Wurzeln in Frankreich, Italien und Spanien ein Brannt-
wein (porrazzo, cardillioni, gamon) hergestellt wird, ein hübsches Bild persönlicher
Forschung. Es fulgen Artikel über den Wacholder, die Rose, den Birnbaum, die Pimpinelle,
den Judenbaum (Cercis Siliquastrum), den Kaffee, ferner über einige Tiere: Mäuse und
Ratten, den Raben, die Krähe, die Gans, Frösche und Kröten, den Karpfen, Honig und
Wachs, und endlich über die rote Farbe; einige davon werden den Besuchern unserer
monatlichen Versammlungen das Andenken an dort gehörte Vorträge erneuern. [J. B.]
Quickborn-Bücher, herausgegeben vom Quickborn, Vereinigung von Freunden
der niederdeutschen Sprache und Literatur in Hamburg, e. V. 3. Band: Schnack und
Schnurren von Friedrich Wilhelm Lyra, hsg. v. G. Kuhlmann. 61 S. — 5. Band: Fink-
warder Speeldeel, zwei plattdeutsche Einakter von Gorch Fock und Hinrich Wriede.
65 S. Hamburg, A. Janssen 1913-1914; je 50 Pf. — Lyras 1844 erschienenes Werk
'Plattdeutsche Briefe, Erzählungen und Gedichte' ist nur wenig bekannt geworden, obwohl
es als Fundgrube für Ausdrücke, Wendungen, Sprichwörter wie auch lür volkstümliche
Gebräuche u. dgl. keineswegs zu verachten ist. So ist es erfreulich, dass in dem vor-
liegenden Bändchen dem Publikum eine die wichtigsten Stücke jenes Buch» s enthaltende
Auswahl in lesbarer Form geboten wird. Der Herausgeber hat die lästige Briefform des
Urbildes aufgegeben und das Schriftsystem Lyras, der eine möglichst lautgetreue Wieder-
gabe anstrebte, wesentlich vereinfacht und gut daran getan. Auch so bietet Lyras
Sprache, die Osnabiücker Mundart, wie sie im Anfang des 19. Jahrhunderts gesprochen
wurde, dem etwa nur an Reuter und Groth gewöhnten Laien genug der Schwieri.keiten.
Vielleicht könnte aus diesem Grunde bei einem Neudruck das Wörterverzeichnis erweitert
werden, das jedenfalls lür Fern erstehende zurzeit nicht ausreicht. Doch wird der, der
sich in die Schnurren Lyras hineinliest, sicher reich belohnt werden durch die Fülle des
hier gebotenen urwüchsigen Sprachtums und die humorvolle Darstellungsweise des Ver-
336
Notizen.
fassers, der auch sachlich Tiel Interessantes einflicht. — Das 5. Bändchen enthält einen
Einakter ernsten Inhalts 'Cili Cohrs' von G. Fock und ein heiteres Spiel aus dem Finken-
werderer Dorfleben 'Leege Lüd' von II. Wripde; beide Verfasser sind bereits früher mit
mundartlichen Dichtungen hervorgetreten. Die Absicht des Quickborn-Vereines, mit diesen
beiden Stücken literarisch wertvolle Erzpugnisse für Liebhaberaufführung» n in platt-
deutschen Vereinen zu bieten, ist lobenswert, und in der Tat sind die beiden Einakter
durchaus zu diesem Zwecke geeignet. [P. B.j
P. Sarasin, Über die Aufgaben des Weltnaturschutzes (Denkschrift gelesen an
der Delegiertenversammlung zur Weltnaturschutzkommission in Bern am 18. November 1913).
Basel, Helbing & Lichtenhahn 1914. IV, 62 S. 8°. 2 Mk. — Eine schwere Anklage
erhebt der durch seine hinterindischen Forschungsreisen bekannte Direktor des Basler
ethnographischen Museums. Wenn die Verwüstung der Natur durch rücksichtsloses Töten
-der grossen Tiere weiter ungehemmt vor sich geht, dann wird sich schon die nächste
Generation einer Natur Verarmung gegenübersehen, die nicht ohne Einfluss auf die Kultur
bleiben kann. Sarasin hat über den Umfang dieser verwüstenden Vorgänge Materialien
in der Schrift niedergelegt, die jeden, nicht am wenigsten aber die Regierungen der
Kulturländer, zum Nachdenken bringen sollten. [R. Mielke.J
B. Schmidt, Das sächsische Bauernhaus und seine Dorfgenossen. Dresden, Holze
& Pähl [1914]. IV, 61 S. 89 Zeichnungen. 4°. Geh. 1,50, geb. 2,75 Mk. — Das erste
Heft einer volkstümlichen Schriftenreihe, die unter dem Titel 'Mit offenen Augen' von
dem Dresdener Zeichenlehrerverein herausgegeben wird. Der Zweck ist ein erzieherischer;
es ist daher von einer wissenschaftlichen Darstellnng, die bekanntlich der Verein für
sächsische Volkskunde beabsichtigt, abgesehen. Um so klarer wirken die etwas kräftig
ausgeführten Zeichnungen und der beigegebene Text. [R. Mielke.]
G. Stein hausen, Geschichte der deutschen Kultur. Zweite, neubearbeitete und
vermehrte Auflage. 2. Band. Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut 1913. VIII,
536 S. gr. 8°. 127 Abb. 12 Tafeln in Farbendruck und Kupferätzung. Geb. 10 Mk. —
Der vorliegende Band behandelt die 'nichtpolitische Geschichte' Deutschlands vom
14. Jahrhundert bis zur Gegenwart, neu hinzugekommen ist bei der Neubearbpitung eine
dem Einleitungskapitel des 1. Bandes entsprechende Geschichte der deutschen Landschaft
in dem dargestellten Zeitraum von sechs Jahrhunderten, völlig umgearbeitet wurde unter
anderem der Abschnitt über die künstlerische Entwicklung im 15. und 16. Jahrhundert.
Von besonderem Werte ist das ausführliche, 38 Seiten umfassende Sachregister für das
ganze Werk, das die Fülle des verarbeiteten Stoffes deutlich erkennen lässt. Den oben
23, 433 zum 1. Bande gemachten Bemerkungen über den Wert dieses von tiefer Kenntnis,
feinem Stilgefühl und warmem nationalen Empfinden erfüllten Werkes ist weiteres nicht
hinzuzufügen. [F. B.]
A. v. Weissembach, Quellen zur Geschichte des Mittelalters bis zur Mitte des
13. Jahrhunderts (Quellensammlung zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit,
Bd. 1). Leipzig, K. F. Koehler 1913. XII, 235 S. gr. 8 °. Geb. 5,75 Mk. — Das Buch
ist auch für die Volkskunde nicht ohne Wert durch die bequeme Zusammenstellung der
ältesten kulturgeschichtlichen Nachrichten über die Germanen (Plutarch, Caesar, Tacitus),
Hunnen (Ammianus Marcellinus) und Slawen (Procopius); erwähnt sei ferner Karls d. Gr.
Capitulare de partibus Saxoniae, in dem sich einige Strafbestimmungen gegen den
heidnischen Volksglauben finden. [F. B.]
Mitteilung.
Infolge des Krieges findet die Abgeordnetenversammlung des Ver-
bandes deutscher Vereine für Volkskunde in Lindau nicht statt.
Freiburg i. Br. John Meier.
Abb. 1. Spreewaldstube in der Kgl. Sammlung für deutsche Volkskunde zu Berlin.
Die Entstellung des Berliner Volkstrachtenmuseums,
jetzt Königliche Sammlung für deutsche Volkskunde1).
Von Georg Minden.
(Mit einer Abbildung.)
Nachdem Berlin durch die weltgeschichtlichen Ereignisse des Jahres
1870/71 zur Hauptstadt des Deutschen Reiches erhoben worden war, regte
sich daselbst auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens ein tatkräftiger
Schaffenstrieb. Auch die Museen, welche fast ausnahmslos ihr Entstehen
dem schöpferischen Anstoss der Hohenzollern verdankten, füllten sich mit
neuen Schätzen und wurden zu eng für ihren Inhalt. So wurde für die
'Ethnographische Sammlung' und die 'Nordischen und vaterländischen Alter-
tümer', welche in einigen Sälen des Stülerschen, an der Spree belegenen
Neuen Museums aufgestellt waren, in der Königgrätzer Strasse ein stolzer
Prachtbau errichtet und im Jahre 1887 unter dem Namen 'Museum für
Völkerkunde' eingeweiht.
1) Dieser und die fünf folgenden Aufsätze erscheinen gleichzeitig in den 'Mitteilungen
aus dem Verein der Königlichen Sammlung für deutsche Volkskunde zu Berlin', Bd. 4.
Heft 3.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 4. 22
n
338
Minden:
Schon während der Vorbereitungen zu diesem Bau hatte am 24. Mai 1878
der Vorstand der 'Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte' an die Staatsbehörden den Antrag gerichtet, in diesem
Museum eine besondere Nationale Abteilung für deutsche Trachten
und Geräte einzurichten. Aber diese Anregung blieb damals erfolglos.
Erst im Jahre 1888 trat unter dem Vorsitz Rudolf Virchows ein Komitee
zusammen, um den Plan zu verwirklichen. Sein eifrigster Förderer war
ein aus Stettin nach Berlin versetzter junger Gymnasialoberlehrer Dr. Ulrich
Jahn, welcher sich eingehend mit Volkskunde beschäftigt und ein statt-
liches Buch über die Sas-en seiner Heimat verfasst hatte.
o
Dieses 'Komitee zur Gründung eines Museums für deutsche
Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes' bestand ur-
sprünglich ausser den beiden Genannten aus dem Direktor des Völker-
kundemuseums Professor Dr. Adolf Bastian, dem Sammler märkischer
Sagen Gymnasialdirektor Wilhelm Schwartz, dem Arzt Dr. Max Bartels,
dem Direktor der prähistorischen Sammlungen Dr. Albert Voss, dem ger-
manistischen Ordinarius der Berliner Universität Professor Karl Weinhold,
dem Direktor des Königlichen Zeughauses Professor Hermann Weiss, dem
Landgerichtsrat Hollmann, dem Generalkonsul WTilliam Schönlank, dem
Syndikus des Berliner Pfandbriefamts Dr. Georg Minden, welcher als
juristischer Ratgeber zugezogen wurde, dem Besitzer des Panoptikums
Louis Castan, ferner aus den Herren Franz Goerke, Jean Keller, Alexander
Meyer Cohn, sämtlich aus Berlin, ferner aus dem in Stettin wohnhaften
Gymnasialdirektor Hugo Lemcke.
Das Komitee hielt zahlreiche Sitzungen ab, um darüber zu beraten,
wie die Geldmittel zu beschaffen seien, wie die Öffentlichkeit für den Plan
interessiert werden könne, wie eine passende juristische Form für das
Unternehmen gefunden werden könne usw.
Es war überraschend schnell gelungen, Räume für das zu begründende
Museum zu erhalten. Dem Kultusminister Dr. von Gossler, bei dem jedes
wissenschaftliche Streben geneigtes Gehör und wohlwollende Förderung
fand, stand die Verfügung über das Gebäude der alten Gewerbeakademie
Klosterstrasse 36 zu, in welchem, nachdem diese Akademie in das Poly-
technikum zu Charlottenburg aufgegangen war, das hygienische Museum
untergebracht worden war. In diesem Hause, einem im zweiten Jahrzehnt
des 18. Jahrhunderts für einen Geheimen Staatsrat Friedrich Willielms I.,
Baron von Creutz, entweder von Andreas Schlüter selbst oder von seinem
Schüler Martin Böhme erbauten Palast, welcher einen kostbaren Barock-
saal enthält, wurde dem Komitee eine Anzahl von Erdgeschossräumen
unentgeltlich, aber widerruflich zugewiesen, in denen das neue Museum ein-
gerichtet wurde.
Auch die Sammlungen wurden ausserordentlich schnell zusammen-
gebracht. Ulrich Jahn hatte ein ganz hervorragendes Talent für die Er-
Die Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums.
339
Werbung geeigneter Gegenstände, wenn auch die Mittel, welche er zu
diesem Zwecke anwendete, nicht immer die Billigung der anderen Komitee-
mitglieder finden konnten. Die nötigen Gelder wurden von mehreren
Gönnern vorgeschossen, unter denen der Bankier Alexander Meyer Cohn,
welcher für wissenschaftliche Bestrebungen ein warmes Herz und eine
offene Hand hatte, der freigebigste war.
So konnte schon im Herbst des Jahres 1889 das neue Museum durch
den Minister von Gossler feierlich eröffnet werden.
In dem Aufruf, mit welchem das Komitee sich an das Publikum
wandte, heisst es: „Mehr als irgendein anderes Volk hat das deutsche für
die Erkenntnis seines inneren Wesens getan. Uberall sind Sammlungen
von volkstümlichen Glaubensvorstellungen, Bräuchen und Sitten, von Sagen
und Märchen, Liedern, Sprichwörtern und Rätseln in reicher Fülle er-
schienen ....... Nur die, sagen wir, handgreifliche Volkskunde
ist im Rückstände geblieben. Wie unser Volk denkt und glaubt und
fühlt, spricht und singt und tanzt, das wissen wir. Aber wie die Gegen-
stände ausschauen, welche es geschaffen hat, wie es seine Häuser fügt und
aufbaut, wie es seine Höfe und Dörfer, Güter und Fluren angelegt hat,
wie es in Stube, Küche und Keller wirtschaftet und wie der Hausrat be-
schaffen ist, wie es sich kleidet, in welcher Weise es Viehzucht, Acker-
bau, Jagd und Fischfang betreibt, das ist zum weitaus grössten Teil noch
verborgen. Und doch ist diese handgreifliche Volkskunde, da sie das
treueste Bild des jeweiligen Kulturstandpunktes eines Volkes gewährt,
unerlässlich für Herstellung eines tatsächlichen objektiven Archivs des
Volkstümlichen, aus dem jeder Forscher schöpfen kann..... Was der
deutschen Volkskunde nottut, ist also ein deutsches Volksmuseum."
Es wird in diesem Aufruf die Gründung einer Gesellschaft in Aus-
sicht genommen, welche in Berlin durch ein später vom Staate zu über-
nehmendes Museum „ganz Deutschland in den Eigentümlichkeiten
aller seiner Stämme in möglichster Vollständigkeit vorführ en
soll" und ein Katalog der zu sammelnden Gegenstände nach folgenden
Gruppen aufgestellt: Wohnung, Haushalt und Hausrat, Kleidung, Nahrung,
Kunst und Gewrerbe, Handel und Verkehr, Volksglaube und Brauch.
Rudolf Virchow hatte in einem feinsinnigen Aufsatz in der Garten-
laube (1889 Nr. 20) die Stellung des zu gründenden Museums in folgen-
dem Gedankengang dargelegt: Die Entwicklung der alten Museen sei
begreiflicherweise vorzüglich den bildenden Künsten zugewendet gewesen.
Selbst die Architektur sei gegenüber der Bildhauerei und der Malerei
stark in den Hintergrund gedrängt worden. Sehr langsam und spät sei
das Kunstgewerbe aus seiner Vergessenheit erweckt worden. Wenn in
diesen beiden Arten von Museen klargelegt wurde, wie die Entwicklung
der Kunstfertigkeit und des Kunstverständnisses vor sich gegangen sei, so
seien zwei Umstände hinzugetreten, welche diese Fragen vertieft und
22*
340
Minden:
weit über das Gebiet der eigentlichen Kunst hinaus erweitert
haben. Das seien auf der einen Seite die zunehmende Kenntnis yoii
den Leistungen der Naturvölker und andererseits die Umgestaltung*
der sogenannten Altertumskunde zu einer wirklichen 'Vor-
geschichte', die durch die Entdeckung der Schweizer Pfahlbauten ein-
geleitet worden sei. So habe sich vor die eigentliche Kunstgeschichte
die Geschichte der Arbeit gesetzt. Eine Grenze zwischen beiden gebe
es nicht; niemand könne sagen, wo die Kunst beginne und wo die Arbeit
des täglichen Lebens ende. Die Kunst gehe aus der Arbeit des Tages
hervor, wie die Blüte aus der Knospe. Geschichte und Vorgeschichte
seien nur äusserlich getrennt; innerlich hängen sie untrennbar zusammen.
Die vorgeschichtlichen Uberlieferungen und ethnologischen Begriffe ziehen
sich in das Leben der Kulturvölker hinein. Diese Zusammenhänge zu
finden, solle das neue Museum dienen. Das Museum der Trachten und
Geräte solle die Lücke zwischen den ethnologischen und prähistorischen
Museen einerseits und den historischen Museen andererseits schliessen.
Bei der Eröffnung des Museums in der Klosterstrasse am 27. Oktober
1889 war, wie bemerkt, schon eine stattliche Sammlung zusammengebracht
worden.
Den ersten Bestandteil bildeten die von Ulrich Jahn auf Mönchgut
erworbenen Gegenstände. Es hatte sich auf dieser vom "Weltverkehr ziem-
lich abgeschlossenen langgestreckten Landzunge der Insel Rügen eine viele
altertümliche Gewohnheiten bewahrende Schifferbevölkerung erhalten. Die
schwarzen Röcke der Frauen, die weiten Hosen der Männer, eine grosse
Anzahl schön geschnitzter Mangelhölzer und bemalter Schwingelbretter
zum Flachsbrechen bildeten nebst Modellen für den Fischfang den Kern
der Sammlung. Nächstdem erweckte das besondere Interesse eine ganze
elsässische Stube mit Figuren in echten Anzügen und mit echten
Möbeln. Als Motiv für diese Stube wurde die Brautwerbung eines etwas
täppischen Bauernburschen gewählt. Den Glanzpunkt des Museums aber
bildete eine Spreewälderstube (Abb. 1) mit Figuren: Der Hochzeits-
bitter ladet die Bäuerin zu einer Hochzeit ein, während eine andere Bäuerin
in grossem Staate zu Besuch ist und die alte Grossmutter den Säugling in
der Wiege bewacht. Eine Magd bringt dem Einladenden, der sein Sprüch-
lein aufsagt, ein Glas Bier dar. Die Zeichnung zu dieser Stube war von
dem Maler Professor A. Kretschmer entworfen, der Bau selbst wurde
genau nach den echten Massen vom damaligen Kgl. Bauinspektor Klein-
waechter ausgeführt, der über das fiskalische Gebäude, in dem sich das
Museum befand, die bauliche Aufsicht führte.
Die erwähnten Herren, sowie Professor Dr. W. Joest, Ethnograph
und Weltreisender, ferner der Geheime Sanitätsrat Dr. Grempler in
Breslau, der Landschaftsmaler Professor Eugen Bracht, jetzt Direktor der
Kunstakademie in Dresden, Justizrat Eduard Frentzel in Berlin, Jacob Nord-
Die Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums.
341
heim in Hamburg und verschiedene andere waren inzwischen dem Be-
griindungskomitee beigetreten und hatten sämtlich nach Kräften, teils durch
Mitarbeit, teils durch Hergäbe von Geldmitteln und Gegenständen für das
Museum gewirkt.
Seine Exzellenz der Herr Ministerialdirektor Naumann, damals Vor-
tragender Rat im Kultusministerium, war als Dezernent über das Gebäude
mit dem Komitee in Verbindung getreten und förderte dessen Pläne. Er
nahm auch an den Sitzungen häufig teil.
Von den aus den ersten Anfängen des Museums stammenden Samm-
lungen sei auch eine litauische, von Herrn Franz Goerke, dem späteren
Direktor der Urania und hervorragenden Amateurphotographen, gestiftete
erwähnt.
Die Wachsfiguren, welche mit den Volkstrachten bekleidet waren,
hatte Louis Castan gearbeitet.
Bei der Begründung des Museums lag schon die Absicht vor, dasselbe
später an den Preussischen Staat zu überführen. Als Rechtsformen,
in welchen man diesen Zweck verwirklichen konnte, standen zur Ver-
fügung: Die Aktiengesellschaft, ferner der einfache Personen-
verein, der durch Verleihung des Landesherrn juristische Persönlichkeit
erhalten konnte — in das Vereinsregister 'eingetragene Vereine' gab es
damals noch nicht —, und eine satzungslos zusammengesetzte Gelegen-
heitsgesellschaft. Als Muster schwebte zunächst das Berliner Kunst-
gewerbemuseum vor, das etwa 20 Jahre vorher auf ähnliche Weise durch
den Zusammentritt von Privatpersonen unter dem Protektorat des damaligen
Kronprinzenpaares begründet worden war. Indessen ergab sich bald, dass
jener Gründung in den gewerblich interessierten Kreisen doch stärkere
Hilfsmittel zur Seite standen als unserem 'Volksmuseum'. Ein Brief
Rudolf Virchows vom 5. Mai 1889 gibt über die Grundgedanken des
Komitees Auskunft. Er schreibt: „So grosse Beiträge — wie bei der damals
ebenfalls gegründeten Urania — werden wir unseren Mitgliedern nicht auf-
erlegen können. Wir hatten uns gedacht, dass die eigentlichen Mitglieder
einen mäßigen Jahresbeitrag zu zahlen hätten, dass aber eine Anzahl von
potenten Mitgliedern einen Garantiefonds mit grösseren Einlagen à fonds
perdu bildeten. Letztere bei einer späteren Übergabe an den Staat ganz
oder teilweise zu entschädigen, ihnen auch vielleicht Zinsen und der
laufenden Verwaltung eine Dividende zu sichern und doch nicht das
Museum in ihren Besitz gelangen zu lassen, wäre die eigentliche Aufgabe
des Statutes. Ich bekenne, dass das eine etwas unklare Aufgabe ist; aber
ich zähle auf Ihre Kunst."
Diese Aufgabe war in der Tat nicht leicht und nicht schnell zu lösen.
So kam es denn, dass das Museum längst eröffnet, dass Aufseher und
Personal angestellt war, dass von den Besuchern das — allerdings nicht
sehr reichlich fliessende — Eintrittsgeld erhoben wurde, ohne dass klar
342
Minden :
erkennbar war, wer denn eigentlich der Unternehmer dieser Veranstaltung
wäre. Erst am 27. Januar 1891 wurden die Satzungen beschlossen und
der Verein in der Art konstituiert, dass er aus ordentlichen — 10 Mark
Jahresbeitrag zahlenden — Mitgliedern, immerwährenden Mitgliedern,
welche 250 Mark ein für allemal zahlten, ferner aus korrespondierenden
und Ehrenmitgliedern bestand, und dass an seiner Spitze zwei Kollegien,
ein achtgliedriger Vorstand und ein aus zwölf Personen bestehender Aus-
schuss, standen, welche umschichtig gewählt wurden. Das Verhältnis zum
Preussischen Staat wurde in § 9 in der Art festgelegt, dass der Staat
— solange sich die Sammlungen unentgeltlich in fiskalischen Räumen
befanden — das Recht hatte, die Sammlungen jederzeit zum Selbstkosten-
preise anzukaufen, sowie dass der Regierung vorbehalten blieb, einen
Staatskommissares zur Beaufsichtigung zu ernennen.
Die erste in den Satzungen vorgesehene Generalversammlung wurde
auf den 26. Mai 1895 berufen und ergab als Vorstandsmitglieder: Rudolf
Virchow, 1. Vorsitzender, Voss und Joest, Stellvertreter, Sanitätsrat
Lissauer, Privatdozent Dr. Richard M. Meyer und Fabrikbesitzer Hermann
Sökeland, Schriftführer, Goerke und Alexander Meyer Cohn, Schatzmeister,
und als Ausschussmitglieder Bartels, Bracht, Frentzel, Greinpler, den Maler
Professor August von Heyden, Kleinwaechter, der inzwischen nach Erfurt
versetzt worden war, sowie seine beiden Amtsnachfolger die Bauräte
Küster und Alfred Körner, Dr. Minden, Jacob Nordheim und William
Schönlank. Zum Obmann des Ausschusses wurde Dr. Minden gewählt.
Die Mitgliederzahl des Vereins betrug damals 106.
Die Generalversammlungen folgten sich alljährlich. Die erste Jahres-
bilanz vom 1. April 1892 bis 31. März 1893 balancierte mit 2719,25 Mark;
unter den Einnahmen finden sich 200,10 Mark Jahresbeiträge und 457 Mark
Eintrittsgelder.
Sökeland, der zuerst 3. Schriftführer war und später die erste Schrift-
führerstelle übernahm, unterzog sich gleichzeitig der eigentlichen Ver-
waltung des Museums. Seine Erfahrung in kaufmännischen und gewerb-
lichen Dingen einerseits, seine aus der westfälischen Heimat mitgebrachte
Kenntnis der ländlichen Verhältnisse andererseits, endlich die natürliche
Gabe, alle Dinge mit der Gründlichkeit eines wissenschaftlich veranlagten
Geistes zu bearbeiten, machte ihn für diese Tätigkeit besonders geeignet.
In der ursprünglichen Absicht hatte es gelegen, dass der zu gründende
Verein die Volkskunde auch literarisch bearbeitete. Aber bald zeigte
sich zwischen den naturwissenschaftlich und den philologisch geschulten
Mitgliedern des Komitees eine Kluft, die nicht zu überbrücken war. So
zweigte sich schon im Beginn des Jahres 1891 von dem Gründungskomitee
des Volkstrachtenmuseums der 'Verein für Volkskunde' ab, welcher
unter Leitung von Karl Weinhold die von den Professoren Moritz Lazarus
und H. Steinthal 20 Jahre vorher begründete 'Zeitschrift für Völker-
Die Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums.
343
psychologie' als 'Zeitschrift des Vereins für Volkskunde' übernahm und
bis jetzt fortgesetzt hat. Die beiden Vereine sind durch Personalunion
vielfach verbunden; sie sind aus demselben Geiste entsprossen; ihre Ziele
gehören organisch zusammen, aber dennoch ist es nicht gelungen, sie
zu einem Gesamtgebilde zu vereinigen, obgleich sie sich gegenseitig
unterstützen. Der Museumsverein hat in späteren Jahren auch seinerseits
in zwanglosen Heften einige Aufsätze aus dem Gebiete der Volkskunde
veröffentlicht (s. unten S. 360).
Rudolf Virchow war bis an sein Lebensende für das Volkstrachten-
museum unermüdlich tätig. Er versuchte immer wieder, bessere und
günstiger gelegene Räume vom Staate zu erlangen. Auf seine Ver-
anlassung beehrten die Minister Miquel und Graf Zedlitz-Trützschler im
Jahre 1892 das Museum mit ihrem Besuch und wurden vom gesamten
Komitee umhergeführt. Auch Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich hatte
die Gnade, auf Virchows Bitten im Museum zu erscheinen. Sie zeigte
hier, wie auf so vielen anderen Gebieten, eindringendes Verständnis für
die Dinge und setzte die Komiteemitglieder durch das Gedächtnis in Er-
staunen, mit dem sie sich bei vielen Volkstrachten genau erinnerte, wo
und wann sie dieselben gesehen hatte.
Es sei einem Augenzeugen gestattet, eine kleine Episode aus diesem
Besuche zu erwähnen. Die Räume des Museums sind in bezug auf Er-
wärmung und Beleuchtung wenig günstig bestellt. Der kaiserliche Besuch
fand bei strenger Winterkälte statt. Ihre Majestät bemerkte den rot-
glühenden eisernen Ofen neben einer Wachsfigur und stellte an Virchow
die Frage, ob die Hitze der Figur nicht schade: „Majestät, es ist nicht
alle Tage so gut geheizt wie heute", war die Antwort, die auch auf die
pekuniäre Lage des Museums einiges Licht zu werfen geeignet war.
Ein erheblicher Zuwachs wurde den Sammlungen durch folgenden
Umstand zuteil: Ulrich Jahn, von Natur unruhig und unbeständig ver-
anlagt, hatte den preussischen Schuldienst verlassen und sein Interesse
ausländischen Unternehmungen zugewandt. Nach einer ziemlich miss-
glückten Londoner Ausstellung brachte er für die Weltausstellung in
Chicago im Jahre 1893 mit den Mitteln der Deutschen Bank und der
Nationalbank für Deutschland ansehnliche volkskundliche Sammlungen
zusammen, welche durch eine unter Leitung Bernhard Dernburgs, des
späteren Kolonialministers, stehende 'Deutsch-ethnographische Ausstellung'
dort in einem 'Deutschen Dorf' beim amerikanischen Publikum grosses
Interesse fanden. Diese Sammlungen wurden im Jahre 1894 nach Deutsch-
land zurückgebracht und gelangten nach recht schwierigen und lang-
wierigen Verhandlungen 1898 in das Eigentum des Museums. Obgleich
der grösste Teil dieser Sammlungen eine Schenkung der an dem Chicago-
Unternehmen Beteiligten darstellt — es sei besonders Henry Villards in
Amerika und des Fabrikbesitzers Dr. Friedrich von Heyden in Wiesbaden,
344
Minden :
eines Bruders des Malers, gedacht —, fehlte doch noch zum Erwerb der
Sammlung eine grössere Summe, wegen welcher Vorstand und Ausschuss
mit gutem Erfolge das deutsche Publikum zu einer Beisteuer anging. Es
ward in diesem Aufruf vom März 1897 gesagt, dass der einzige passende
Platz für ein grosses deutsches Volksmuseum, zu welchem in der
Klosterstrasse der Grund gelegt wTorden, die Hauptstadt des
Deut sehen Reiches sei. „Wir haben", heisst es weiter, „im vorigen
Jahre, als wir auf der Gewerbeausstellung einen ganz kleinen Teil unserer
Schätze dem grösseren Publikum ohne besonderes Eintrittsgeld zugänglich
machten, reichlich Gelegenheit gehabt zu sehen, mit welcher Freude
gerade die unteren Volksklassen solche Gegenstände betrachten. Sie
sind gewohnt, dass diese Dinge mit einer gewissen Geringschätzung be-
trachtet werden, und sehen nun mit vieler Dankbarkeit dieselben mit
einer Sorgfalt behandelt, wie man sie früher nur auf die ihrem Verständnis
fernliegenden Kunstgegenstände verwendete. Hängt doch gerade die
Volkskunde mit den grossen Fragen, die unsere Zeit bewegen, in ihrem
innersten Kern zusammen, so wenig dieser Zusammenhang auch äusserlich
hervortritt. Die Erkenntnis dessen, was das Volk denkt und wie es fühlt,
ist der Schlüssel zum Verständnis für die Bedürfnisse der menschlichen
Gemeinwesen."
Es sei bemerkt, dass für die Regelung der Chicago-Angelegenheit
auch der Kommerzienrat Julius Isaac sehr tätigen Anteil genommen hat.
Mit der im oben angeführten Aufruf erwähnten Gewerbeausstellung
hatte es folgende Bewandtnis: Im Jahre 1896 fand in Berlin die grosse
Gewerbeausstellung im Treptower Park statt; eine Beteiligung unseres
Museums an derselben wurde dadurch ermöglicht, dass die in Berlin be-
kannte Patzenhofer Brauerei, deren Direktor der Abgeordnete Fritz Gold-
schmidt war, auf unsere Anregung und unter unserer Leitung ihr Aus-
schankgebäude auf dem Ausstellungsterrain als Spreewaldgehöft nach dem
Modell des Architekten Alfred Klepsch durch den Professor Hoffacker
aufführen Hess und die dazu gehörige Scheune uns zur Aufstellung unserer
oben geschilderten Spreewaldstube zur Verfügung stellte. Der Besuch
war ein ausserordentlich reger. Das 'Volk', dessen Mitglieder nicht allzu
häufig Besucher in der Klosterstrasse waren, hatte hier bequem Gelegen-
heit, ohne Eintrittsgeld einen Begriff vom 'Volksmuseum' zu erhalten.
Da der Bau des Gehöfts, der sich in die Landschaft am Karpfenteich sehr
gut eingliederte, nur provisorisch errichtet war, musste es leider nach
Schluss der Ausstellung wieder abgerissen werden.
Der Museumsverein erhielt Korporationsrechte durch Allerhöchste Ge-
nehmigung vom 3. Mai 1899. Der Anlass, diese zu erbitten, war ein
Legat von 10 000 Mark, das dem Verein von seinem obengenannten Vor-
standsmitglied Professor Dr. Joest hinterlassen wurde und das die Testa-
mentsvollstrecker nur mit landesherrlicher Genehmigung auszahlen wollten.
Die Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums.
345
Auch für die Schenkungen des Gönners und Vorstandsmitglieds Alexander
Meyer Cohn erhielt der Verein die landesherrliche Genehmigung zur An-
nahme. So wurde der ursprüngliche Wunsch, ein juristisch festes Gebilde
zu schaffen, nach zehn Jahren verwirklicht.
Aber noch immer schwebte über dem Verein das Damoklesschwert
der Entziehung seiner Räume. Die Räume in der Klosterstrasse waren
vom Staate, wie bemerkt, zwar ohne Entgelt, aber auf Widerruf dem
Volkstrachtenmuseum zur Verfügung gestellt worden. Im Jahre 1903 nun
wurde dem Vorstand vom Kultusministerium mitgeteilt, dass das Gebäude
voraussichtlich eine anderweitige Bestimmung erhalten würde und dass
•der Museumsverein sich daher nach anderen Räumen umsehen müsse.
Das war ein schwerer Schlag! Rudolf Virchow war am 5. September 1902
verstorben. Noch in seinen letzten Monaten hatte ihn der Gedanke leb-
haft beschäftigt, ob nicht der von Anfang an in Aussicht genommene
Plan der Übernahme des Museums durch den Preussischen Staat verwirk-
licht werden könnte. Nun wandelte sich das, was als eine drohende Ge-
fahr für den Fortbestand des Museums erschienen war, schliesslich zum
Guten.
Unser Museum hatte überall das Interesse für das Sammeln volkstüm-
licher Gegenstände erweckt. In allen Teilen des deutschen Vaterlandes
waren kleinere Ortsmuseen entstanden. Als sich die Nachricht verbreitete,
dass das Museum sein Berliner Unterkommen verlieren sollte, meldeten
sich andere deutsche Städte, um dasselbe aufzunehmen. Besonders aus
Weimar und aus Hamburg lagen ernste und günstige Anerbietungen vor.
Im Kreise des Vorstandes und Ausschusses war für eine Verlegung
Stimmung vorhanden. Aber das hätte der ursprünglichen Idee Abbruch
getan. Der Verein hatte immer auf dem Standpunkt gestanden, dass das
deutsche Volksmuseum nach Berlin gehöre. Man hatte es als ein
nationales und patriotisches Unternehmen, welches einen Überblick über
das gesamte deutsche Volk bieten sollte, begründet und, wie oben er-
wähnt, immer betont, dass es nur in Berlin, in der Hauptstadt des
Deutschen Reiches, seinen Zweck erreichen könne. So war auch früher
die Anregung, das Unternehmen dem Germanischen Museum in Nürnberg
anzugliedern, zurückgewiesen worden.
Und das beharrliche Festhalten an diesem Gedanken führte zum Ziel.
Nach lebhaften Besprechungen wurde vom Vorstande und Ausschuss noch
einmal an das Preussische Kultusministerium das Anerbieten gerichtet,
das Museum unter Verzicht auf jede Entschädigung dem Preussischen
Staate zu übergeben, und durch Reskript des Herrn Kultusministers Studt
vom 28. Oktober 1903 wurde dem Verein, dessen Vorsitz inzwischen
Dr. Max Bartels übernommen hatte, mitgeteilt, dass dieser Antrag ange-
nommen sei. So war denn das ursprünglich gesteckte Ziel erreicht und
die 14jährigen Bestrebungen von Erfolg gekrönt. Das Bestehen des von
346
Minden:
einer Gruppe von Gelehrten, Künstlern und Freunden der Volkskunde
geschaffenen, von einem Privatverein verwalteten und vergrösserten
Museums war nunmehr unter dem Schutze des preussischen Adlers ge-
sichert. Aus dem 'Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse
des Hausgewerbes' war die 'Königliche Sammlung für deutsche Volks-
kunde' geworden. Der Verein, der sein Eigentumsrecht aufgab, bestand
weiter als 'Verein der Sammlung für deutsche Volkskunde'. Der
satzungsmässige Zweck, die Eigentümlichkeiten der Bevölkerung Deutsch-
lands, Trachten, Hausanlagen und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu
sammeln, blieb unverändert. Der umgewandelte Verein sollte der König-
lichen Museumsverwaltung zur Seite stehen und für Vergrösserung der
Sammlung wirken.
Die 25jährige Wiederkehr des Eröffnungstages zu erleben, ist nur
wenigen Mitgliedern des ursprünglichen Komitees vergönnt. Auch unter
den später in den Vorstand und Ausschuss eingetretenen Mitgliedern hat
der Tod eine reiche Ernte gehalten.
Wenn man ein Gewordenes, Fertiges betrachtet, kann man sich nur
schwer vorstellen, welche Arbeit und Mühe, welche Sorgen und Kämpfe
das Werdende mit sich gebracht hat. So ist es auch mit unserem Volks-
trachtenmuseum. Selbst das Archiv und die Protokolle werden wohl nur
ein schwaches Bild geben von der Art, wie die Dinge anfangs betrieben
wurden. Auf den Bänken und Stühlen der Spreewaldstube oder in einem
Kommissionszimmer des Abgeordnetenhauses oder im Panoptikum oder in
irgend einem Restaurant, wohin der in seiner Gastlichkeit unermüdliche
WTilliam Schönlank eingeladen hat, tagt das Komitee und berät über die
Verwaltung. Mit derselben Gründlichkeit, mit der er über die Ergebnisse
von mikroskopischen Untersuchungen und Schädelmessungen berichtete,
erörtert Rudolf Virchow die Fragen der laufenden Verwaltung, ob man
ein Spinde oder einige Drahtgestelle, ein Dutzend Besen und Wischtücher
anschaffen solle. Eugen Bracht berichtet, dass er eigenhändig die Farben
an einer wurmstichigen Truhe aufgefrischt hat. Sökeland schildert, wie
er persönlich den Transport unserer Figuren von der Klosterstrasse nach
dem Treptower Park auf dem Möbelwagen begleitet und sorgfältig be-
wacht habe. Das ganze, aus Männern so verschiedener Berufskreise zu-
sammengesetzte Komitee war von einer wahren Leidenschaft für das
Museum ergriffen. Der Kassenbericht wurde mit grösster Aufmerksamkeit
entgegengenommen. Wenn ein Komiteemitglied bei einem Besuch im
Museum einmal gleichzeitig fünf oder sechs zahlende Besucher angetroffen
hatte, so wurde sofort die Morgenröte einer besseren Zeit verkündet.
Nicht vergessen sei der Kustos Höft, ein emeritierter schleswig-
holsteinischer Schullehrer, wettergebräunt und knorrig wie eine deutsche
Eiche, ein Veteran aus den Freiheitskämpfen der meerumschlungenen
Nordmark. Er hatte sich seine eigene Theorie über germanische Volks-
Die Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums.
U7
künde und Mythologie konstruiert und wich von derselben in der Dis-
kussion nicht einen Schritt zurück.
Der oben erwähnte Plan, dass eine Rückzahlung des aufgebrauchten
Kapitals an die Geldgeber des Museums seitens des Preussischen Staates
zu erwarten sei, ist schon nach kurzer Zeit nicht mehr ernstlich erörtert
worden. Interessant war es zu sehen, wie so viele Männer, die in ihrem
Berufe auf grösste finanzielle Solidität hielten, in bezug auf das Museum
von einem leichtsinnigen Optimismus besessen waren. „Schulden sind ein
gutes Bindemittel, das Komitee zusammenzuhalten," sagte Virchow, und
August von Heyden behauptete, eine Museumsverwaltung, die keine
Schulden mache, habe ihren Beruf verfehlt.
Dass das wissenschaftliche Ziel, welches die Gründung veranlasste,
jetzt schon voll erreicht ist, wird man nicht behaupten können, aber die
Wege zu seiner Erreichung sind doch kenntlich gemacht und geebnet.
Es sei gestattet, noch einige Schlussbemerkungen anzufügen. Die
Absicht der Begründer des Museums war, wie sich aus obigem ergibt,
eine grosszügige. Nicht eine für besondere Liebhabereien und Kuriosi-
täten berechnete Sammlung sollte geschaffen werden, sondern eine streng
wissenschaftliche, die Literatur der Volkskunde ergänzende; sie sollte
einen Überblick über die sozusagen ethnographischen Elemente im
heutigen deutschen Volk gewähren.
Ich möchte dazu auf einige Punkte hier eingehen. Zunächst ist zu
bemerken, dass das 'Volk' aus zwei sich gegenseitig ergänzenden Bestand-
teilen zusammengesetzt ist, dem städtischen und dem ländlichen. Sie
stehen untereinander in engster Beziehung. Die Landbevölkerung gibt
ihren Menschenüberfluss an die Stadt ab, aber auch von der Stadt gehen
die mannigfaltigsten Dinge auf das Land hinaus. Nicht nur Menschen,
auch Ideen, Bücher, technische Fortschritte. Die Sachkenner behaupten
sogar, dass die meisten Volkstrachten ursprünglich städtische Moden ge-
wesen sind, die von den Bauernschneidern nachgemacht und vergröbert,
schliesslich feststehend geworden sind.
Da nun in den Städten, und zwar je grösser sie sind, in desto höherem
Masse, die schnell wechselnde Mode regiert, auf dem Lande der viel tiefer
eingewurzelte Brauch, so ist der ethnographische Einschlag auf dem Lande
viel stärker als in der Stadt. Daher kommt es, dass unser Museum sehr
viel mehr ländliches Material enthält als städtisches, obgleich grundsätz-
lich das letztere nicht ausgeschlossen sein sollte.
Ein anderer Gegensatz, der durch das deutsche Volk geht, ist der
zwischen Nord- und Süddeutschland. Die grosse Ebene, in welcher sich
der Preussische Staat schliesslich aus der Mark Brandenburg entwickelte,
war für die Bewahrung landschaftlicher Eigentümlichkeiten weniger ge-
eignet als das politisch zersplitterte Oberdeutschland, zu dem in diesem
Sinne auch das mittlere, wie das westliche Deutschland zu rechnen ist.
348
Minden: Die Entstehung des Berliner Volkstrachtenmuseums.
So haben sich in den Alpenländern, iin Schwarzwald, auch in Thüringen
und Westfalen Volkssitten und Volkstrachten viel länger erhalten als in
Preussen. Aber unser Museum zeigt, dass auch hier bis vor kurzem die
bunteste Mannigfaltigkeit herrschte. Gerade unser Museum war der
Anlass, dass aus den Truhen der Bauern vieles an den Tag kam, was der
modernisierte Bauer als wertlos gewordenen Hausrat der Altvorderen bei-
seite geworfen oder verpackt hatte. Diese verschwundenen oder ver-
schwindenden Eigentümlichkeiten soll unser Museum aufbewahren.
Auch das kommt noch in Betracht, dass kein Volk aus einer ein-
heitlichen Rasse besteht. Wie in der Vorgeschichte eine Nation aus ver-
schiedenen Stämmen zusammengeschmiedet worden ist, lässt sich nur ver-
muten; die spätere Zusammenfassung verschiedener Rassen zu einem
Gesamtvolke lehrt die Weltgeschichte. Noch in der Gegenwart sind selbst
in eine so einheitliche Nation, wie die deutsche, stammfremde Bestand-
teile eingesprengt, wie die Spreewaldwenden, die Litauer usw. Unser
Museum zeigt diese Volks-Enklaven recht deutlich, weil gerade bei ihnen
sich viel volkstümlich Eigentümliches zu erhalten pflegt.
Die deutsche Nation ist jetzt eine einheitliche; die Einheitlichkeit
macht Fortschritte, die selbst in einer so kurzen Spanne Zeit, wie seit
der Gründung des Museums verfloss, zu spüren sind.
Während im Mittelalter jedem Deutschen sein Stammesrecht in der
Art anhaftete, dass der Franke, der Sachse, der Bayer auch ausserhalb
seiner Stammesgrenze nur nach fränkischem, sächsischem, bayerischem
Gesetz sein Recht nahm, während noch bei der Begründung unseres
Museums Deutschland in verschiedene Privatrechtsgebiete zerfiel, haben
wir seit dem 1. Januar 1900 ein für das ganze Reichsgebiet und alle An-
gehörigen des Deutschen Reiches geltendes Bürgerliches Gesetzbuch. Dass
unsere Literatur ein Gemeingut ist, dass jeder Deutsche auf seinen
Goethe und seinen Schiller stolz ist, dass wir auch von einer deutschen
Kunst und deutschen Wissenschaft sprechen dürfen, bedarf keines Be-
weises. Die allgemeine Dienstpflicht, unter dem Joch der Fremd-
herrschaft in Preussen entstanden, hat zur Einigung aller Deutschen in
hervorragendem Masse beigetragen. Kolonialpolitik und Marine sind dafür
wirksam gewesen, dass auch in fremden Weltteilen das deutsche Volk als
etwas Einheitliches auftritt.
Wenn alle diese und viele andere Faktoren dazu beigetragen haben,
die Unterschiede zwischen Deutschen und Deutschen auszugleichen, so
ist andererseits nicht zu verkennen, wieviel Besonderheiten noch vor-
handen sind.
Unser Museum hat nicht den Zweck, überlebte Eigentümlichkeiten
zu konservieren. Aber die Einheit besteht schliesslich doch aus dem
Zusammenschluss der Besonderheiten, wie die Regenbogenfarben sich zum
weissen Licht zusammenschliessen. Die Besonderheiten in der Einheit
Brunner: Die Entwicklung der Königlichen Sammlung.
349
und die Einheit in den Besonderheiten zu finden, das wird auch in Zu-
kunft die richtige Methode für die Volkskunde sein. Diesem grossen
wissenschaftlichen Zwecke dient das jetzt 'Königliche Sammlung für
deutsche Volkskunde' benannte Museum. Die Grundlagen sind gelegt;
die Ziele werden sich erweitern und vertiefen. Die Volkskunde wird sich
vielleicht in verschiedene Disziplinen spalten; sie wird ihre Aufgaben
präzisieren und umgrenzen. Aber nie möge sie aufhören, sich als ein
Glied der grossen Universitas literarum zu fühlen, die kein höheres
Streben kennt als überall die Wahrheit zu suchen.
Berlin.
Die Entwicklung der Königlichen Sammlung für
deutsche Volkskunde seit dem Jahre 1904.
Von Karl Brunner.
Nachdem im vorhergehenden Aufsatze einer der verdienstvollsten
Mitbegründer des 'Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse
des Hausgewerbes zu Berlin' die Ursprünge dieses vaterländischen Unter-
nehmens nachgewiesen hat, sei es dem derzeitigen Verwalter der Samm-
lung gestattet, auf deren weitere Entwicklung in einem kurzen Uber-
blick einzugehen, die Richtlinien der Verwaltung und die Aufgaben für
die Zukunft darzulegen.
Während anfänglich die Beiträge der Mitglieder des Museumsvereins
und sonstige Einnahmen des Museums nicht ausschliesslich für Neu-
erwerbungen verwendet werden konnten, ist durch seine Übernahme in
Staatsbesitz und -Verwaltung die Möglichkeit gegeben, alle Mittel des
Vereins für Ankäufe und Veröffentlichungen auszunutzen. Im Interesse
der ersteren werden die 'Mitteilungen' in bescheidenen Grenzen gehalten;
etwa jedes Jahr ist ein Heft herausgegeben worden.
Bald nach der Übernahme der Sammlung ins Staatseigentum fand in
den Jahren 1906—1907 eine gründliche Erneuerung der Museums-
räume statt, verbunden mit einer ansehnlichen Erweiterung und Einbau
einer Zentralheizung. Die erforderliche Neuaufstellung der Sammlung
wurde in dem zur Wiedereröffnung fertiggestellten Neudruck des seiner-
zeit von den Herren Prof. Dr. Weinitz und Hoeft bearbeiteten 'Führers'
berücksichtigt1). Nunmehr erscheint dieser Führer nach umfangreichen
Neuaufstellungen wiederum, ausgestattet mit 15 Bildertafeln, welche die
Hauptsammlungsgebiete einigermassen umschreiben.
1) Vgl. aucli 'Mitteilungen' 3, 11-14; Zeitschrift des Yereins für Volkskunde 18,
241—263.
350
Brimner :
Die Vermehrung der Sammlungen ist mit Hilfe des Museumsvereins
und einzelner Gönner seit dieser Zeit rüstig vorgeschritten. Die grössten
Verdienste erwarben sich hier die Mitglieder des Vorstandes und Aus-
schusses, voran der Vorsitzende Hr. Dr. James Simon, Hr. Stadtver-
ordneter H. Sökeland, Frau Marie Andree-Eysn in München, Hr. und
Frau Direktor Dr. Minden, Hr. Prof. Dr. C. Strauch, Hr. Prof. Ad.
Schlabitz, Frl. Julie Schlemm, Frl. Elisabeth Lemke, Frau Prof.
Seier, Hr. Kommerzienrat Hans Schlesinger, Freiherr von Dier-
gardt, Hr. L. Verch, Hr. Prof. Dr. Weinitz, Hr. Hofspediteur O.Licht,
Hr. Prof. Dr. E. Schnippel, Frl. Margarete Lehmann-Filhés, Hr.
Direktor Werner, Hr. Lehrer Brusch, Hr. Prof. Ludwig, Hr. Konser-
vator Ed. Krause, Hr. Lehrer Scharnweber, Hr. Prof. Dr. Ed. Hahn
und Hr. Geh. Kommerzienrat Pintsch. Verdienste besonderer Art er-
warben sich ferner die Herren Prof. Kob. Mielke, Direktor Goerke
und Geh. Baurat Mühlke neben manchen anderen.
Der Museumsverein besteht zurzeit aus 3 Ehrenmitgliedern, 5 immer-
währenden und etwa 100 ordentlichen Mitgliedern.
Aus den Mitgliederbeiträgen konnten im Laufe der letzten zehn Jahre
wieder viele Einzelstücke zur Ergänzung der Sammlungen erworben
werden, aber auch grössere Gruppen und Zusammenstellungen von Gegen-
ständen.
Die hauptsächlichsten grösseren Erwerbungen aus der neueren Zeit
des Museums seit 1904 mögen hier in gedrängter Ubersicht folgen nach
den Kategorien, welche der Sammlung von Anbeginn zugrunde gelegt
wurden.
1. Haus und Wohnung.
Zu den bereits vorhandenen wertvollen Modellen bäuerlicher Häuser
ist durch eine grossartige Stiftung des Hrn. Dr. James Simon eine Reihe
von bisher 13 weiteren Bauernhausmodellen im Massstab 1 : 20 getreten.
Die weitere Vervollständigung dieser lehrreichen und schönen Sammlung
ist in Aussicht genommen, so dass- sich hier die Möglichkeit findet, die
volkstümlichen Bauweisen in ganz Deutschland durch vortreffliches An-
schauungsmaterial kennen zu lernen, ohne weite Reisen unternehmen
zu müssen. Um die Auswahl der nachzubildenden Bauten hat Hr. Prof.
Rob. Mielke seinen früheren grossen Verdiensten um das Museum ein
hervorragendes neues hinzugefügt. Hr. Prof. Ad. Schlabitz stiftete
selbstgemalte Bilder vom Innern einer alten Tiroler Sennhütte und vom
Bauernhofe an der Krems in Oberösterreich.
Zu der bereits in früherer Zeit durch die eifrigen Bemühungen des
damaligen Museumsleiters Hrn. Sökeland gelungenen Erwerbung der
schönen Hindelooper Kammer ist in neuerer Zeit eine weitere friesische
Stubeneinrichtung getreten, die ostfriesische Winterküche, welche wieder
Die Eilt Wickelung der Königlichen Sammlung.
351
der Freigebigkeit des Hrn. Dr. James Simon verdankt wird. Diese
Bauernstube konnte in den erweiterten Museumsräumen in ziemlich be-
friedigender Weise aufgestellt werden, während leider die Hindelooper
Kammer wegen der unzulänglichen Räume noch in ihrem alten Zustande
ohne richtige Beleuchtung verbleiben muss. Erst wenn es möglich sein
wird, diesen kostbaren Besitz in anderen grösseren Räumen mit ent-
sprechender Beleuchtung aufzubauen, wird man seine ganze Originalität
und Schönheit würdigen können.
Zwei weitere ganze Stubeneinrichtungen von besonderer Eigenart sind
durch Mittel des Museumsvereins erworben worden: eine oberösterreichische
und eine schlesische aus dem Hirschberger Tale im Riesengebirge. Die
oberösterreichische ging aus der Sammlung des Hrn. von Preen hervor
und besteht nicht nur aus der kleinen, mit origineller Ausstattung ver-
sehenen Stube, sondern auch aus Küche mit allem Zubehör und sog.
Speis, einem kleinen Vorratsraum, in den sich der Backofen erstreckt.
Die schlesische Stube ist die charakteristische Holzstube des Riesen-
gebirges1) mit einem sehr volkstümlich verzierten Fayenceofen, den der
Yereinsschatzmeister, Hr. Kommerzienrat Hans Schlesinger,- als er-
wünschte Schenkung hinzufügte.
2. Haushalt und Uausrat.
Diese Abteilung wurde durch viele Einzelerwerbungen bereichert,
besonders aber durch die von Hrn. Dr. James Simon gestifteten wert-
vollen Möbel aus Bückeburg. Unter ihnen ragt hervor ein mit über-
reichen Verkröpfungen geschmückter Eiclienschrank und eine riesenhafte
Brauttruhe. Diese und andere Geräte zeigen eine eigenartige kräftige
Bauernkunst. Zu bedauern ist es, dass solche Möbel in Niederdeutschland
schon selten werden, da sie von Händlern vielbegehrte Schmuckstücke für
die 'altdeutschen' oder 'antiken' Wohnungseinrichtungen der Grossstädter
geworden sind.
Einen gut erhaltenen sog. Beilegerofen aus gusseisernen gezierten
Platten stiftete wiederum Hr. Sökeland. Er stammt von der Unterweser.
Dem Museumsverein wird eine andere sehr wirksame und wertvolle
Bereicherung verdankt, die zugleich ein lebendiges Bild alten A olks-
brauches gewährt, das ist der mit einer ganzen Brautausstattung aus dem
Ende des 18. Jahrh. prunkvoll beladene oberbayrische Hochzeits- oder
Kammerwagen2). Diese prächtige Zusammenstellung mit den bunt und
charakteristisch bemalten Möbeln, dem reich mit selbstgesponnenem Flachs
und eigengewebtem Linnen ausgestatteten Schrank, dem hohen Himmel-
bett und sonstigem so mannigfaltigen Zubehör hatte Hr. Prof. Franz Zell
1) Vgl. 'Mitteilungen'4, 71—83; Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 23, 337—349.
2) Vgl. 'Mitteilungen' 3, 107 ff. ; Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 19, 282—286.
352
Brunner:
in München aus Anlass der 1909 in Berlin veranstalteten Yolkskunst-
Ausstellung besorgt, wo dieser Wagen den Mittelpunkt der historischen
Abteilung bildete.
Die grosse Menge altertümlicher Feuererzeugungs- und Be-
leuchtungsgeräte ist jetzt in einer vergleichenden Zusammenstellung
zu übersehen. Sie wurde in neuerer Zeit wesentlich durch die Sammlung
von Preen vermehrt, welche der Museumsverein ankaufte.
3. Kleidung und Schmuck.
Auch diese Gruppe, ursprünglich ja der Schwerpunkt der Sammlungen
des Museums, wurde in neuerer Zeit nicht unbeträchtlich vermehrt, ob-
wohl die älteren Bestände so umfangreich sind, dass sie aus Mangel an
Raum und guten Schränken nur etwa zur Hälfte zur Schau gestellt werden
können.
An ganzen Trachtensammlungen wurden zwei erworben. Eine
aus Hannover und Braunschweig stammende, ausserordentlich wertvolle
und reiche Zusammenstellung, die eine fühlbare Lücke ausfüllte, verdankt
das Museum wiederum dem Hrn. A7orsitzenden des Museumsvereins
Dr. James Simon. Die andere Sammlung, welche von Frau Direktor
Prof. Dr. Sei er zusammengebracht und geschenkt wurde, umfasste
Trachten aus Mönchgut, dem Fläming, Münstertal, Tessin und Gailtal.
Einzelne Trachten und Teile von solchen wurden zur Ergänzung der
Sammlung in sehr grosser Zahl vom Museumsverein erworben oder von
Gönnern geschenkt. Aus einer deutschen Sprachinsel, Gressoney in
Piémont, brachte Hr. Direktor Dr. Minden eine schöne, mit prächtiger
Goldhaube ausgestattete Frauentracht mit heim.
Besondere Hervorhebung verdient jedoch noch eine grosse Sammlung
von Frauenhauben in ausgewählt schönen Stücken, die von Hrn. Dr.
James Simon erworben und dem Museum übergeben wurde. Ihr ge-
hören hervorragend prächtige Stickereien aus Nord- und Süddeutschland
an, und es ist sehr zu bedauern, dass diese bedeutende Schenkung aus
Raummangel nicht mehr im ganzen zur Schau gestellt werden kann.
Zur Ergänzung der schon früher recht ansehnlichen Sammlungen von
Bauern schmuck, die Prof. Mielke in unseren 'Mitteilungen' aus dem
Museum Bd. 1 und 2 zuerst eingehend und grundlegend behandelt hat.,
wurden wiederholt solche aus Westfalen teils vom Museumsverein
erworben, teils von Hrn. Dr. James Simon geschenkt. Grossartiger
noch war aber seine Schenkung einer bedeutenden Sammlung ost-
friesischer Schmucksachen, deren feine Filigranarbeiten zu dem Besten
gehören, was auf diesem Gebiete vorhanden sein dürfte. Hrn. Direktor
Dr. Minden verdanken wir die Erwerbung mehrerer charakteristischer
und vorher in der Sammlung noch nicht vertretener silberner Schmuck-
sachen aus Schlesien mit eigentümlicher Filigranarbeit, die nach Sachsen
Die Entwicklung der Königlichen Sammlung.
353
hinübergreifen und dort als 'Bernstädter Schmuck' bezeichnet werden.
Dem oft bewährten Gönner, Hrn. Dr. James Simon, verdankt das
Museum dann eine grosse Sammlung von Einsteckkämmen und Haar-
spangen von Silber, Schildpatt und Horn aus Nord- und Süddeutschland.
Viele dieser Kämme sind wunderbar reich durch Sägearbeit, Radierung
und Pressung verziert und bildeten in vielen Fällen einen notwendigen
Bestandteil der volkstümlichen Haartracht. Einige schöne Stücke dürften
wohl auch als Meisterstücke gearbeitet worden sein.
4. Nahrung.
Diese Abteilung, welche vor allem die wichtigsten Zweige der
Bauernarbeit, Yieh- und Landwirtschaft, Jagd, Fischfang, Bereitung der
Nahrungsmittel wie Brot und Getränke umfasst, ist wohl hauptsächlich
aus Mangel an Raum für die meist umfangreichen Geräte und Anlagen
noch wenig ausgebaut worden. Immerhin konnte bei der neuesten Auf-
stellung doch ein Versuch gemacht werden, einiges Hierhergehörige zu-
sammenzuordnen. Verschiedene einzelne Stücke wurden in neuerer Zeit
hinzuerworben, so mehrere landwirtschaftliche Geräte, z. B. der eigentüm-
liche Dreschstecken aus Oberösterreich, gestiftet von Hrn. von Preen,
eine kleine Sammlung kunstvoll geschnitzter und bemalter Wetzstein-
behälter für Schnitter, Kumpfe genannt, aus Tirol, die Hr, Dr. James
Simon überwies, Geräte für die Haubergswirtschaft im Rheinlande, Hand-
mühlen verschiedener Art und Stampfen, ferner prächtig verzierte Maul-
tiergeschirre aus Südtirol, Geschenk des Hrn. L. Verch. Aus Sammlungen
der europäisch-ethnologischen Abteilung des Museums für Völkerkunde
sowie aus dem Kunstgewerbemuseum wurden ebenfalls verschiedene ein-
schlägige Geräte übernommen.
5. Kunst und Gewerbe.
Spinnen und Weben sind die wichtigsten Bestandteile der von Frauen
ausgeübten Volkskunst. Schon die älteren Sammlungen waren dem-
Ö
entsprechend reich an Geräten und Erzeugnissen dieses Gebietes. Neuer-
dings wurde eine Sammlung von Spindeln und Spinnrocken aus dem
Nachlasse von Prof. Reuleaux erworben. Viele Einzelstücke wurden
ausserdem besonders von Hrn. Prof. Schlabitz aus Tirol gespendet.
Der grosse Reichtum des Museums an Geräten zur Bearbeitung des
Flachses und zum Spinnen gestattete bei der jüngsten Neuordnung der
Sammlungen eine lehrreiche Zusammenstellung aller dieser Geräte in
ihren hauptsächlichsten und besten Typen. Sehr wertvolle Vorarbeit dazu
wurde seinerzeit von Hrn. Sökeland durch Stiftung der wichtigsten
Geräte aus Niedersachsen und ihre Beschreibung in den Museums-
mitteilungen von 1897 geleistet. Zu den Spinngeräten gesellt sich in der-
selben Zusammenstellung der Webstuhl und was dazu gehört.
Zeitschr. (I.Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 4. 23
354
Brunner:
An Erzeugnissen der volkstümlichen Weberei wurden in neuerer
Zeit besonders Decken und Kissen mit bildmässigen Darstellungen ge-
sammelt, seien es nun die bekannten blau- oder rotweissen Damastgewebe
des 18. Jahrh. aus Mitteldeutschland oder die schleswig-holsteinischen
Beiderwande. Von letzteren, im allgemeinen schon sehr selten gewordenen
Vorhangstoffen schenkte die Berliner anthropologische Gesellschaft
zum 25jährigen Jubiläum der Sammlung vier schöne Stücke.
Eine hervorragende und geradezu monumentale Bereicherung erfuhr
die Sammlung durch die Stiftung eines grossen, über 7 m langen und
über 4 m hohen Altarvorhanges, eines sogen. Hungertuches, aus der
Kirche von Telgte in Westfalen1). Hr. Prof. Dr. C. Strauch überwies
diese aus dem Jahre 1623 stammende wertvolle Netzgrundstickerei dem
Museum als Geschenk und trug auch die bedeutenden Kosten einer gründ-
lichen Erneuerung.
Yon anderen Erzeugnissen der Volkskunst, die ja einzeln in grosser
Zahl den Sammlungen zuflössen, mögen noch mehrere kostbare Schmiede-
arbeiten erwähnt sein, wie ein prächtiger grosser Leuchter, bei Auf-
bahrungen in Ostfriesland benutzt, ferner eiserne Wetterfahnen und kunst-
volle Grabkreuze aus Oberösterreich.
Auch die keramischen Sammlungen, deren Bestand, besonders
aus Schleswig-Holstein, bereits früher recht bedeutend war, konnten nach
und nach so ergänzt werden, dass sie eine einigermassen vollständige
Ubersicht der in Deutschland geübten Bauerntöpferei und volkstümlichen
Fayencerie gewähren2). Einen mit Sinnsprüchen und Figuren bemalten
Kachelfries aus dem Schwarzwalde stiftete Hr. Dr. James Simon.
Schliesslich sei noch hier der durch neuere Uberweisung aus dem
Museum für Völkerkunde vermehrten Sammlung eigenartiger und alter-
tümlicher Musikinstrumente aus Litauen gedacht.
6. Handel und Verkehr.
In diese Gruppe gehört in erster Linie die bedeutend erweiterte
Sammlung von Kerbhölzern, Botenstäben und dergleichen3), welche
trotz der Seltenheit dieser Dinge im allgemeinen wenig Aufwendungen
verursacht hat. Hr. Prof. L. Mussgnug in Nördlingen stiftete eine An-
zahl solcher Kerbhölzer, ferner Hr. Lehrer Brüse h in Frauzburg in
Pommern, und eine ganze Reihe dieser altertümlichen Abrechnungsgeräte
sind der europäischen Sammlung des Museums für Völkerkunde zu ver-
danken. Derselben Quelle entstammt ferner eine grössere Zahl von alten
Holzkalendern4), teils in Buchform, teils in Form von Runenstäben. Auch
1) Vgl. 'Mitteilungen' 3, 185; Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 21, 321.
2) Vgl. 'Mitteilungen' 3, 149; Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 21, 265.
3) Vgl. 'Mitteilungen' 4, 15; Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 22, 337.
4) Vgl. 'Mitteilungen' 3, 75; Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 19, 249.
Die Entwickelung der Königlichen Sammlung.
355
überliess das hiesige Kunstgewerbemuseum einige solche Stücke von be-
sonderem Interesse.
Zu den bereits mit der sogen. Yirchow-Sammlung in das Museum
gelangten Wagen und Schlitten mit reich geschnitzten und bemalten
Lehnbrettern wurde ein weiterer prächtiger Schlitten derselben Art durch
Ankauf aus den Mitteln des Museumsvereins erworben.
Die noch in der Entwickelung begriffene Sammlung von volkstüm-
lichen Korbflechtereien wurde durch Hrn. Prof. Dr. Strauch und
Hrn. Postdirektor Esslinger bereichert. Der von dem letzteren Gönner
zum Museumsjubiläum gestiftete Tragkorb aus der Nürnberger Gegend
weist eine besonders merkwürdige altertümliche Form auf.
Bei passender Gelegenheit konnte auch die Sammlung deutscher
Zunftaltertümer durch Ankäufe wesentlich vergrössert werden, wozu
die Mittel durch eine Geldsammlung zusammengebracht wurden, an der
sich die Mitglieder des Museumsverems hervorragend beteiligten.
Ferner konnten einige Wirtshausschilder der alten ausdrucksvollen
Art aus Bayern und Graz den bereits früher vorhandenen hinzugefügt
werden.
7. Volksglauben und Brauch.
Diese Abteilung, eine der grössten und durch den nahen Zusammen-
hang mit der literarisch gepflegten Yolkskunde überaus wichtig, ist auch
in neuerer Zeit mit besonderer Sorgfalt und in grossem Umfange ver-
mehrt worden. Sie umfasst die Sammlungen, welche sich auf Geburt,
Kindheit, Hochzeit, Tod, Feste des Lebens und des Jahrkreislaufes, den
Kultus und vor allem auf Volksglauben, A^olksmedizin und ähnliches
beziehen.
An erster Stelle sei hier die grosse neapolitanische Weihnachts-
krippe mit echten Figuren aus dem Anfange des 18. Jahrh. erwähnt,
welche S. M. der Kaiser dem Museum zur Aufstellung überwiesen hat.
Dazu kam eine Anzahl holzgeschnitzter Krippenfiguren aus Schlesien
und Tirol, die teils angekauft, teils von Hrn. Hofspediteur 0. Licht ge-
schenkt worden sind.
Eine der grossartigsten Stiftungen der letzten Jahre ist die grosse
Sammlung von Votiven und Weihgaben, welche dem Museum durch
das Ehrenmitglied des Museumsvereins, Frau Prof. Marie Andree geb.
Eysn, als Geschenk überwiesen wurde. Derselben von jeher bewährten
Gönnerin verdanken wir ferner eine interessante Sammlung von Decken-
gehängen aus Bauernstuben, die eine merkwürdige Entwickelung zeigen,
ebenso zahlreiche Amulette und ähnliche Dinge zur Abwehr schädlicher
Geisterwesen, Krankheiten und Unwetter.
Zu den bereits früher in grosser Zahl gesammelten Masken, welche
bei den volkstümlichen Umzügen in der Winter- und Frühlingszeit ge-
23*
356
Brunner:
braucht werden, stiftete Hr. Dr. James Simon fünf Masken eines alten
Nikolaus-Spieles aus dem Enneberg in Tirol. Durch Ankäufe und Stif-
tungen wurden auch die Lärm Werkzeuge, welche denselben Zwecken
wie die Masken dienten, wesentlich vermehrt. Sommertagsruten aus
Liegnitz stiftete Frau Geheimrat Bartels.
Auf den Totenkultus beziehen sich verschiedene sehr bemerkens-
werte neue Zugänge, wie die Totenkronen und Kränze, die zum Andenken
an Verstorbene in den Kirchen aufgehängt wurden, bemalte Schädel, Bei-
gaben einer Wöchnerin aus der Oberlausitz, ferner ein besticktes Bahr-
tuch einer Zunft aus dem Thüringer Walde, gestiftet von Frl. Julie
Schlemm.
Merkwürdig grobe Raufwerkzeuge aus Oberösterreich wurden mit
der Sammlung v. Preen durch Mittel des Museumsvereins erworben.
Eine Sammlung volkstümlicher Puppen stiftete Frl. Elisabeth
Lemke; recht urtümliche Holzspielsachen aus Ostpreussen verdanken
wir Hrn. Prof. Dr. Strauch, und Frau Prof. M. Andree-Eysn liess sich
auch die Vermehrung der zahlreichen Kinderpfeifen in Ton ange-
legen sein.
Die volkstümliche Medizin, das Besegnen, Krankheitsheilung
durch zauberische Massnahmen wie Verschlucken von Steinstaub prä-
historischer Hämmer, Tonstaub von Muttergottesbildern, bedruckten
Zetteln und Teig von Tolltafeln, Verpflöcken von Krankheiten und
manches andere dieser Art konnte durch eine grössere Zahl neu er-
worbener Gegenstände, meist aus Stiftungen herrührend, erläutert werden.
Das Kunstgewerbemuseum zu Berlin überliess uns zwei Gefässe und
Pastillen aus schlesischer sogen, terra sigillata, die im Volksglauben
früherer Jahrhunderte als heilkräftig gegen Vergiftung angesehen wurde.
Allen treuen Mitgliedern des Museumsvereins, allen hochherzigen
Stiftern ist der Dank nicht nur der Verwaltung, sondern des deutschen
Volkes sicher. Denn was mit ihrer Hilfe gesammelt werden konnte, ist
ein jetzt allgemein geschätzter Besitz aus dem Erbe unseres deutschen
Gesamtvolkes, welcher infolge der neuzeitlichen Entwickelungen des Ver-
kehrs, der Arbeitsteilung und ethischen Anschauungen ein für allemal
dahin ist, nachdem er sich von prähistorischen Zeiten an in langsamem
Fortschreiten bis zur Gegenwart im Volksleben behauptet hat. Wohl
finden sich noch immer hier und da Uberreste aus diesem alten Leben,
die sich, wenn auch in veränderten Formen, in das moderne gerettet
haben, und Bestrebungen zur Förderung solcher Übergänge, aber die
völlig veränderten Lebensbedingungen der europäischen Völker machen
es doch wahrscheinlich, dass ihre Zeit um und dass es Aufgabe der
Museen für Volks- und Heimatkunde ist, diese Dinge zur historischen
Die Entwicklung der Königlichen Sammlung.
357
Betrachtung und zum völkervergleichenden Studium aufzubewahren. So
kann aus solchen Sammlungen der höchste Nutzen gezogen und die Yer-
gangenheit mit der Gegenwart und Zukunft verbunden werden.
Wir kommen nunmehr, auf dem Vorgesagten fassend, zur Unter-
suchung der Frage, welches die eigentümlichen Zwecke und Ziele eines
Museums für Yolkskunde sind.
Zunächst liegt es nahe, darauf einzugehen, was unter Yolkskunde
jetzt allgemein verstanden wird, und aus dieser Erklärung die Folgerungen
hinsichtlich der Bestimmung der Museen für Yolkskunde abzuleiten.
Das Arbeitsgebiet der Volkskunde ist die Yolksüberlieferung.
Was an altererbten Sitten und Gebräuchen, Glauben, Sage, Lied, Märchen,
Recht und Sprache von ungeschichtlichen Zeiten an gelebt und sich im
günstigsten Falle bis in die Gegenwart erhalten hat, das zu erforschen ist
die Aufgabe der Volkskunde. Das Volk im Sinne dieses Wortes ist nicht
eine bestimmte soziale Schicht, sondern eben jener Teil jedes Kulturvolkes,
welcher Träger von Volksüberlieferungen war oder ist.
Albrecht Dieterich spricht in einem vortrefflichen Aufsatze über
Wesen und Ziele der Volkskunde1) seine Ansicht darüber so aus: „Volk
ist — die Bezeichnung der Unterschicht der Kulturnationen. — Volks-
kunde ist eben Erforschung und Erkenntnis der 'Unterwelt' der Kultur."
Je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, um so breiter wird diese
Schicht, je näher der durch 'Bildung' der Natur entfremdeten Gegenwart,
um so schmaler wird sie. Als Begründer der wissenschaftlichen deutschen
Yolkskunde wird Jakob Grimm mit Stolz genannt.
Als Träger der Volksüberlieferungen ist in neuerer Zeit besonders
der Bauernstand erkennbar geworden, weil er fern den gleichmachenden
Einflüssen des grossen Verkehrs und der sogen. Bildung der Städte am
vaterländischen Boden fest haftet, an den sich ja viele altüberlieferte
Gebräuche, Glauben, Feste und Sagen knüpfen.
Allen diesen Erscheinungen ist ein gewisser Mangel an Individualität
und eine typische Verbreitung der Form eigentümlich. Sie sind dadurch
charakterisiert als Besitz der Volksseele im Ganzen, nicht Erzeugnisse
Einzelner, wenn auch ihre urprünglich individualistische Formung nicht
bestritten werden soll.
E. Mogk hat in einem Aufsatze über Wesen und Aufgaben der
Volkskunde2) die assoziative Denkweise des Volkes im Gegensatze zur
individuellen und reflektierenden Geistesarbeit als ausschlaggebend für
die Begriffsbestimmung der Volksüberlieferungen bezeichnet. Er sagt
dann„(S. 6): „Die Volkskunde hat zur Aufgabe darzulegen, wie sich die
1) Hessische Blätter für Yolkskunde 1, 176 = A. Dieterich, Kleine Schriften, hsg.
v. R. Wünsch 1911, S. 293.
2) Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 6 (Nov. 1907).
358
Brunner:
Psyche des Volkes äussert: 1. im Wort, 2. im Glauben, 3. in Handlungen,
4. in Werken."
Die wesentlichste Arbeit eines Museums für Yolkskunde wäre dem-
nach wohl durch den vierten Punkt dieses Programmes gekennzeichnet.
Aber es ist doch möglich und wenigstens in den Berliner Sammlungen von
jeher mitangestrebt worden, auch zu den übrigen Aufgaben der im allge-
meinen literarisch gepflegten Yolkskunde Erläuterungen zu geben. Um
aus der Fülle des Stoffes nur ein grosses Beispiel hervorzuheben, dürfte
die reiche Sammlung von Opfergaben, welche wir unserem Ehrenmitgliede
Frau M. Andree verdanken, zur Darstellung des Volksglaubens von aller-
grösster Bedeutung sein.
Vielleicht könnte in Zukunft das Museum für Yolkskunde mit einem
Archiv für phonographisch aufgenommene Proben der schwindenden Volks-
mundarten in Form von Liedern, Sagen und Märchen verbunden werden.
Ausserdem wären kinematographische Aufnahmen von natürlichen Szenen
des Volkslebens und Abbildungen aller Art, selbstverständlich auchkünst-
lerische, von Volkstypen, volkstümlichen Trachten und Geräten in grösserem
Umfange, ferner Modelle dieser Art hier aufzusammeln und bei der Auf-
stellung mit zu verwenden.
Dadurch würde oft auch der von Mogk a. a. O. und von anderen ge-
forderten historischen Vertiefung der Volkskunde gedient und die Ent-
wickelung der Dinge lückenlos nachzuweisen sein, was an den erhaltenen
Gegenständen selbst nicht immer möglich ist. Dass auch die germanistisch-
philologischen Forschungsergebnisse nach dem Muster von Moriz Heyne
für die Sammlungen deutscher Volksaltertümer nutzbar gemacht werden,
ist selbstverständlich, nicht minder wie die aus der Ethnologie gewonnenen
Vergleiche und Erkenntnisse.
Nachdem so der Umfang der Sammlungen eines Museums für Volks-
kunde und ihre wissenschaftlichen Hilfsmittel angedeutet wurden, sei es
gestattet, auch der Frage näherzutreten, ob ein solches Museum lebens-
fähig ist und ob es gerade in Berlin am richtigen Platze steht1).
Wie wir wissen, ist gerade infolge der Gründung des Berliner Museums
für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes vor 25 Jahren
sowohl die Pflege der literarischen Volkskunde in wissenschaftlichen Ver-
einen neu erblüht, als auch eine grosse Zahl von Museen erstanden, welche
sich der Pflege des Volkstümlichen in ihrem Bereiche widmeten. Die
Lebensfähigkeit scheint durch das nun erreichte blühende Jünglingsalter
unseres Museums hinreichend erwiesen. Seine Beliebtheit und sein Besuch
nimmt trotz der abgelegenen Örtlichkeit immer zu und würde noch grösser
sein, wenn durch einen Hörsaal im Hause die Möglichkeit gegeben wäre,
1) Ygl. W.Bode, Denkschrift betr. Erweiterungs- u. Neubauten bei den Kgl. Museen
(Berlin 1907) S. 12.
Die Entwicklung der Königlichen Sammlung.
359
längere Einführungen in die einzelnen Gebiete der Volkskunde zu geben,
an welche sich dann die jetzt leider infolge der engen Räume sehr er-
schwerten Führungen durch die Sammlung anschliessen könnten. Auch
der akademische Unterricht würde sich dann in höherem Masse des Museums
bedienen können als es jetzt möglich ist, und die Fühlung mit dem'Verein
für Volkskunde' könnte dann durch Abhaltung seiner Sitzungen im Museum
sich viel inniger und nützlicher gestalten.
Wie O. Lauffer1) bezüglich der nahe verwandten historischen
Museen bemerkt, dass das grosse Publikum die Befriedigung seiner kultur-
geschichtlichen Interessen und die auf unmittelbarer Anschauung beruhende
Stärkung seines Heimatsgefühls dort findet und dass deshalb die Besucher-
zahl der historischen Museen die der Kunstsammlungen immer bei weitem
übertrifft, so ist zu hoffen, dass bei gleich günstiger Gestaltung der äusseren
Verhältnisse auch das Museum für deutsche Volkskunde im öffentlichen
Interesse immer mehr steigen und seine Lebensfähigkeit mehr und mehr
erweisen wird. Denn die Übersättigung der Grossstädter mit einseitiger
Geistesnahrung drängt sie mit Notwendigkeit auf Gebiete hin, welche zum
Ausgleich Gemütswerte enthalten, wie die Sammlungen von vaterländischen
und heimatlichen Altertümern.
Dass eine Grossstadt wie Berlin, die doch kein eigenes starkes
Volkstum besitzt und auch in der umgebenden Provinz kein solches mehr
aufzuweisen hat, deshalb gerade ein Museum brauche, das der Bevölkerung
und den Fremden einen Begriff deutschen Volkstums geben könne — das
war auch die Meinung der hochverdienten Gründer unseres Museums und
brauchte eigentlich kaum nachträglich bewiesen zu werden.
Die Provinzmuseen sind in dieser Hinsicht in einer viel besseren
Lage; sie haben auch genügenden Museumsstoff und können den in Berlin
aus ihren Bezirken gesammelten gern entbehren. Eine Konkurrenz findet
nicht statt, sondern die Provinzsammlungen beschränken sich auf die Dar-
stellung des Volkstums in ihrer Provinz, während sich das Berliner Museum
von jeher weitere Ziele stecken musste, nämlich eine Übersicht der auf
Volksüberlieferungen beruhenden Erzeugnisse des Volksgeistes in ganz
Deutschland zu geben.
Hiermit sollte eben die noch fehlende sachliche Grundlage geschaffen
werden für das volle Verständnis des tiefsten Lebens des Volkes, das auf
der Überlieferuno- yon Jahrtausenden beruht.
o
Berlin.
1) 'Museumskunde' 1910, S. 38.
/
360 Brunner: Die Entwicklung der Königlichen Sammlung.
Die in den beiden vorstehenden Aufsätzen erwähnten 'Mitteilungen aus
dem Museum für deutsche Volkstrachten' (seit 1905 betitelt: 'Mitteilungen
aus dem Verein der Königlichen Sammlung für deutsche Volkskunde') brachten in
ihren ersten zwei Bänden folgende Abhandlungen:
E. Bracht, Volkstümliches aus dem Hümmling. Bd. 1, Heft 1 (1897) S. 7. — H. Söke-
land. Vorlage hausgewerblicher Gegenstände aus Westfalen. Ebenda S. 19.
0. Scholz, Ländliche Trachten Schlesiens aus dem Anfange dieses Jahrhunderts. Bd. 1,
Heft 2 (1898) S. 49. Uer schlesische Bauernhof in der Gegend von Jauer. Ebenda
S. 56. — H. Sökeland, Westfälische Spinnstube. Ebenda S. 59. Diggens- oder
Degensbriefe (Ehekontrakte) aus Westfalen. Ebenda S. 75.
Julie Schlemm, Zur Volkskunde der Schwalm. Bd. 1, Heft 3 (1898) S. 89. — A. Treichel,
Psaligraphie und Früchtebild. Ebenda S. 118.
A. Vasel, Alte Bauernschüsseln im Braunschweigischen. Bd. 1, Heft 4 (1899) S. 142. —
0. Schwindrazheim, Feld-Einfassungen und Durchlässe in Ost-Holstein.
Ebenda S. 148. — 0. Scholz, Ein schlesischer Lichtenabend. Ebenda S. 155.
H. Worpenberg, Aus dem westfälischen Volks- und Hauserwerbsleben. Bd. 1, Heft 5
(1900) S. 175. — H. Sökeland, Einiges über 'Desemer' (Wiegestöcke). Ebenda
S. 190. Gniedelsteine, Bötzettel und Talisman aus Lenzen a. d. Elbe. Ebenda
S. 202.
E. Bracht, Volkstümliches von den Nordfriesischen Inseln. Bd. 1, Heft 6 (1900) S. 226.—
F. Weinitz, Zur älteren Volkskunde des Grossherzogtums Baden. Ebenda S. 265.
Marie Ejsn, Das Gadelmachen, eine Hausindustrie im Berchtesgadnerlande. Bd. 1,
Heft 7 (1901) S. 289. — R. Mielke, Bauernschmuck. Ebenda S. 296 und Bd. 2,
Heft 1 (1903) S. 25.
E. Lemke, Aus den auf Tod und Begräbnis sich beziehenden Sammlungen des
Museums. Bd. 2, Heft 1 (1903) S. 40. — A. Treichel, Marianne von Zoppot.
Ebenda S. 52.
A. Voss, Verzeichnis von volkskundlichen Sammlungen und Museen in Deutschland und
den Nachbarländern. Bd. 2, HeftS (1905) S. 79.— K. Brunner, Handspinnerei
und volkstümliche Seilergeräte. Ebenda S. 118. — F. Weinitz, Die Kunst auf
dem Lande. Ebenda S. 125.
H. von Preen, Eine Wallfahrtswanderung im oberen Innviertel mit Berücksichtigung der
Löffelopferung. Bd. 2, Heft4 (1906) S. 168. — H. Förster, Die Frauenkopf-
tracht der Vierlande. Ebenda S. 187. — H. Müller-Brauel, Mitteilungen zur
Bardowiker Trachtenkunde. Ebenda S. 201.
Die späteren Hefte erschienen gleichzeitig in der 'Zeitschrift des Vereins für
Volkskunde'.
/
Wernitz: Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst in Dresden. 361
Abb. 1. Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst in Dresden.
Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst
in Dresden.
Von Franz Weinitz.
(Mit drei Abbildungen.)
Auf der zweiten gemeinsamen Tagung für Denkmalspflege und
Heimatschutz, im September des vorigen Jahres in Dresden abgehalten,
hat wohl mancher Teilnehmer, gleich mir, die Gelegenheit wahrgenommen,
das erst vor kurzem eröffnete Landesmuseum für Sächsische Volkskunst
zu besuchen. Ich konnte den Besuch in diesem Frühjahre unter der
freundlichen Führung des Hofrats und Professors 0. Seyffert, des Vor-
sitzenden des Vereins für Sächsische Volkskunde in Dresden, wiederholen
und will nun versuchen, in Kürze eine Schilderung des Hauses und seines
Inhaltes zu geben.
Das Museum befindet sich im Jägerhofe auf der Neustadt, Aster-
strasse 1, hinter dem leider recht unschönen modernen Bau des Finanz-
ministeriums, welcher der Brühischen Terrasse gegenüber sich auf dem
rechten Elbufer erhebt. Der alte Jägerhof war, wie Anlagen dieser Art zu
sein pflegen, ein Durcheinander von Gebäuden und Höfen, von denen ein-
zelne bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückgingen. Manches
wurde später niedergerissen, und neue Bauten (1720—1740) erhoben sich
und veränderten so das ursprüngliche Bild, bis dann nach 1870 — das
Militär, das hier gelegen, bezog seine neuen Kasernen — mit dem
362
Weinitz:
völligen Abbruch begonnen wurde. Auch der künstlerischste Bauteil, ein
Renaissancebau aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, war schon bedroht
und sollte der Spitzhacke ausgeliefert werden, als es dem Einsprüche
verständiger und kunstbegeisterter Männer gelang, das Gebäude zu retten
und für eine Sammlung von Gegenständen sächsischer Volkskunst zur
Verfügung zu stellen. Was Hofrat Seyffert viele Jahre hindurch, immer
im Hinblick auf ein künftiges Museum, mit Eifer und Glück gesammelt,
fand nun ein sicheres, der Allgemeinheit zugängliches Heim. Einem
solchen Eifer fehlte dann auch nicht die Beihilfe des Staates, der Stadt
und vieler Privatpersonen. Die Erkenntnis wurde allgemein, dass mit
diesem Museum für das Studium der Kulturgeschichte des Königreichs
Sachsen die wichtigste Stätte geschaffen sei.
Der Jägerhof (Abb. 1) stellt sich dank der geschickten und ver-
ständigen Erneuerung als ein schmucker Bau dar, der von Nord nach Süd
gerichtet ist und drei Treppentürme auf der Ostseite hat. Ein zierlicher
Renaissancegiebel als südlicher Abschluss erfreut durch seine anmutige
Form das Auge. Die Zahl 1617, oben am Giebel, zeigt an, in welches
Jahr die Vollendung dieses Gebäudes zu setzen ist. Das Erdgeschoss,
wo in alter Zeit die Meute der englischen Doggen untergebracht war,
wird gebildet aus zwei langen, gewölbten, durch Pfeiler voneinander ge-
schiedenen Schiffen, und man bewahrt gern das Bild in der Erinnerung,
das sich einem bietet, wenn man vom Vorräume — der Eingang ist von
der Südseite her — hinunter schaut bis zum entgegengesetzten Ende des
Ostschiffes. Im westlichen Schiffe sind durch Trennungswände zwischen
Pfeiler und Wand einige Räume geschaffen, die zu Stuben eingerichtet
worden sind. Im ersten Stocke befindet sich nur ein einziger Raum, der
frühere Jagdsaal, der die für seinen jetzigen Zweck nötigen Veränderungen
— Einbauten und Stuben — erfahren hat. Das Dachgeschoss, der Boden-
raum, enthält eine reichhaltige Sammlung von Bauernmöbeln, die, nach
der Zeitfolge geordnet, für Studienzwecke zugänglich sind.
Es ist ein frohes, farbiges Bild, das uns hier überall geboten wird.
An der langen Wand unten im Erdgeschoss finden wir Bauernmöbel,
Brot- und Kleiderschränke aus verschiedenen Gegenden, Krüge, Teller,
Holz- und Eisengerät aufgestellt. Gegenüber dieser Wand aber sind drei
Stuben aufgebaut: eine Stube aus der Dresdener Gegend mit vielem
bäuerlichen Zinn und einem festlich gedeckten Tische für eine Tauf-
gesellschaft hergerichtet (Abb. 2); eine Lausitzer Stube mit bemaltem
und geschnitztem Himmelbette (1833), mit Schrank und Kachelofen; eine
kleinbürgerliche Wohnstube mit Sofa und Kaffeetisch, Glasschrank,
gelbem Stückofen, mit Ölbildern und einem Kronleuchter, den eine kunst-
fertige Hand mit Perlenstickereien verziert hat. In den anderen Räumen
hier unten, die nicht 'Stuben' sind, finden wir ausgezeichnete Beispiele
von Truhen, Wiegen, Himmelbetten und anderem Hausrat. Unter den
Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst in Dresden.
363
Töpfer- und Glas waren — darunter sind auch fremde, die in Sachsen
Heimatrecht erworben haben — fallen die schönen, grossen Teller mit
dem sächsischen Kurwappen besonders auf. Dazu kommen zwei Teller-
schränke, der eine aus Wallroda bei Radeberg, der andere aus der
Lausitz (1805). Auch der dörflichen Friedhofskunst, die in der jüngsten
Zeit mit Recht wieder zu Ehren gekommen ist, hat der Schöpfer des
Museums zwei Räume zur Yerfügung gestellt. Natürlich ist die Dresdener
Heidegegend nicht vergessen worden. Ihre Dörfer haben Zinngefässe und
Waldzeichen hergegeben, und auf das fröhliche Jagen im Moritzburger
Forste weisen die Jagdlappen hin. Am Ende der Halle, also nach
Norden hinaus, hat sich der Vorstand des Vereins ein gemütliches
Sitzungszimmer eingerichtet, und somit darf man sicher sein, dass der
gute Geist des Hauses auch auf seine fernere Tätigkeit bestimmend ein-
wirken wird.
Im Obergeschosse, das wir über die Wendeltreppe des letzten
Treppenturmes erreichen, sehen wir Arbeiten aus der jüngsten Zeit aus-
gestellt, die unter dem Einflüsse und der Einwirkung des sächsischen
Heimatschutzes entstanden sind. Das Alte in zweckentsprechender Weise
wieder aufleben zu lassen, ist das Bestreben und Bemühen des Vereins.
Der Erfolg ist ihm, wie man hier sehen kann (Bergmannsleuchter, Spiel-
zeug und anderes mehr), nicht versagt geblieben. Was auf Volks-
belustigungen (Kasperltheater), Sitten und Gebräuche Bezug hat, kommt
hier oben gleichfalls gut zur Schau, und dankbar ist es zu begrüsseu,
dass die Privilegierte Scheibenschützengesellschaft in Dresden zwei grosse
Scheiben (1794 und 1816), das Modell des Vogels auf der Dresdener
Vogelwiese, Originalstücke desselben, Rüstung und Winde aber die
Privilegierte Bogenschützengilde in Dresden gespendet haben. Die
Dresdener Vogelwiese, das Oktoberfest in München und der 'Dom' in
Hamburg, diese drei Volksfeste im wahren Sinne des WTortes sind es, die
— wenn auch etwas verkümmert gegen die früheren Zeiten — den
Massenfrohsinn der unteren deutschen Volksschichten bis in unsere Tage
hinein gerettet haben.
Das Erzgebirge ist erst in jüngster Zeit das Reiseziel auch ferner
wohnender Naturfreunde geworden. Es hat eine alte, bisher wenig be-
achtete Kultur. Die Weihnachtspyramiden und -berge, auch Krippen ge-
nannt, die 'Bergwerke' und so manches andere, das mit der dortigen
Hausindustrie (Klöppelarbeiten), mit dem Bergbau zusammenhängt, wird
uns hier im Museum in auserlesenen Stücken vorgeführt. Und nun die
Volkstrachten: die Altenburger, die evangelischen und katholischen
Wenden, die Bewohner des Meissnischen Hochlandes, die Vogtländer, die
aus der Dresdener Heide, all das Schmucke und Schöne und Gediegene
ihrer Tracht, hier ist es zusammengebracht, hier bietet es dem Besucher
eine, vielleicht unerwartete, Augenweide. Wer im Königreiche viel
366 Wernitz: Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst in Dresden.
herumgekommen, wird manches bekannte und ihm liebe Stück hier
wiederfinden. Reihenschankzeichen grüssen ihn von den Wänden, und
den grossen Königsvogel, den der glückliche Schütze an der Giebelseite
seines Hauses annagelt — ich entsinne mich solcher Siegeszeichen aus
dem Tale unter dem Oybin — kann er hier aus nächster Nähe bestaunen.
Das alles führt uns so recht zu Gemüte, dass jetzt noch wie einst ein
fröhlicher Sinn im Volke lebt und sauren Wochen frohe Feste folgen.
Hier oben warten aber auch noch vier Stuben darauf, dass wir ihnen
Beachtung schenken. Das ist die Vogtländische Hutzen(Spinn)-
stube, die ihrer fünf Besucherinnen harrt. Ein Raum, ausstaffiert mit
Himmelbett, Kleiderschrank, Ofen und der nach ihrem Äusseren so ge-
nannten 'Schürzenuhr'. In der Lausitz er Weberstube herrscht die
Armut, blau ist sie getüncht, am Ofen das Wandtellerbrett. Der alte
Webstuhl dient zum Stoffweben. Sehr reizvoll ist und die Wohlhaben-
heit ihres Besitzers spiegelt wider die Grossschönauer Damast-
web erstub e (Abb. 3). Da drinnen sieht's wohnlich aus, und freundlich
scheint die liebe Sonne hinein. Ein grosser Damastwebstuhl, der bis
1830 im Gebrauch war und jüngst geschickt wiederhergestellt wurde, ein
prächtiger alter Ofen mit blauer Bemalung, die Ofenbank mit der soge-
nannten Hölle, der Tisch in der Ecke mit Krügen, die Bilder an den
Wänden, die kunstvoll bemalte Wiege — alles dieses legt Zeugnis ab
dafür, dass es dem fleissigen und geschickten Damastweber dort im Süd-
ostzipfel des Königreichs ganz gut ging. Die sächsische Wendei, in der
Oberlausitz, tritt uns entgegen in der Wendischen Wochenstube,
deren Bett mit weissen Linnen dicht verhängt ist. An seiner Stirnseite^
gleichsam als Schutz, steht der grosse Kleiderschrank. Der Wandanstrich
ist gelb mit blauer Borte.
Was der Museumsbestand sonst noch an kleinerem Gerät, an Zinn-
krügen und -tellern, Handmühlen, Beleuchtungsgegenständen, Holz-
schnitzereien, Schränken und Truhen besitzt, ist, soweit es nicht im
Bodenräume sich befindet, hier im Obergeschosse an der Fensterseite und
in dem grossen Ausstellungsschranke aufgestellt. Abbildungen alter
Bauernhäuser aus dem Königreiche und seinen Grenzgebieten — durch
Modelle solcher Häuser zeichnet sich ja gerade unsere Berliner Königliche
Sammlung für deutsche Volkskunde aus! — sind auch hier, wie nicht
anders zu erwarten, in guter Auswahl aufgehängt.
Das Landesmuseum für Sächsische Volkskunst hat vor manchen ähn-
lichen Museen vor allem das voraus, dass es in einem Gebäude unter-
gebracht ist, wie es sich ein besseres wohl kaum wünschen konnte.
Welche Freude und welche Genugtuung muss es nicht seinem Schöpfer,
Hofrat Seyffert, bereitet haben, die Gegenstände in diese weiten, lichten
Räume einzuordnen, den Forderungen der Wissenschaft und des Ge-
schmackes entsprechend! Und sollte er nicht jetzt schon, wenn auch
Pessler: Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
367
kaum ein Jahr verflossen, seitdem er seine Sammlang der Allgemeinheit
zugänglich gemacht hat, an sich des Dichterwortes Wahrheit erfahren
haben: „Segen ist der Mühe Preis"?
B erlin.
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
Von Wilhelm Pessler.
Die deutsche Sach-Geographie umfasst räumlich das gesamte
deutsche Sprachgebiet, inhaltlich die gegenständliche Volkskunde, metho-
disch die geographische Verbreitung der volkskundlichen Sachen. Sie ist
also einerseits ein Teil der Sach-Forschung, welche ausser ihr die Sach-
Beschreibung und die Sach-Geschichte enthält, andrerseits ein Teil der
Ethno-Geographie, welche die vier Hauptteile Körper, Geist, Sprache und
Sache des Menschen in ihrer geographischen Verbreitung erforscht.
In die Sach-Geographie gehört das jetzige und ehemalige Besitztum
des Volkes. Eine zeitliche Grenze lässt sich hier eigentlich nicht ziehen;
aus praktischen Gründen werden hingegen die vorgeschichtlichen Funde
von einer eigenen Wissenschaft, der Prähistorie, behandelt und in eigenen
Museen oder Museumsabteilungen gesammelt. Auch eine räumliche
Beschränkung ist schwierig, aus Gründen der Zweckmässigkeit aber an-
zuraten. Wenn auch die Ausgangspunkte mancher Sachwellen ausserhalb
des Deutschtums liegen und andrerseits der deutsche Einfluss weit darüber
hinausgestrahlt hat, so ist das deutsche Sprachgebiet doch als Rahmen für
unsere Forschung festzuhalten. Für einen Teil Deutschlands hat Wolfram
(als Vertreter der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertums-
kunde, Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine 1904) methodisch wichtige Winke gegeben. Er
fordert hier systematische Zusammenstellung der Forschungsergebnisse aus
den Teilen Deutschlands, die nicht unmittelbar dem römischen Herrschafts-
bereich angehörten. Sein Ziel ist die Erkenntnis, „wie sich bei Berührung
zweier Völker die beiderseitigen Kulturen durchdrungen und beeinflusst
haben." Als Mittel empfiehlt er die Zusammenfassung aller Funde aus
dem freien Germanien, die als 'materielle Erinnerung an den römischen
Einflu&s' gelten können. Im Anschluss an diesen Vortrag betonte Höf er
die Notwendigkeit, die nur römisch scheinenden Einflüsse, wie z. B. kel-
tische Urnen und Fibeln, von den echtrömischen scharf zu trennen und
als letztere besonders die Münzen, Bronze-, Silber- und Goldgeräte, Glas-
becher, Statuetten und die echtrömischen Tongefässe ins Auge zu fassen;
368
Pessler :
auch der römische Einfluss auf die Gebräuche sei nicht zu vergessen, z. B.
die Sitte, dem Toten eine Münze beizulegen, die schon im 2. Jahrhundert
im Mansfeldischen bestanden habe, wo ein Brandgrab in Oberwiederstädt
dies ausweise. Später, und zwar schon im 5. Jahrhundert, habe der vom
Rhein ausgehende Einfluss schon fränkischen Charakter angenommen.
Wie auch hier der ethnologische Gesichtspunkt überall der ausschlag-
gebende ist, so wird er auch in der übrigen deutschen Sach-Geographie,
soweit sie spätere Jahrhunderte und die Jetztzeit behandelt, wichtiger sein
als der rein verkehrs-geographische. Mit Recht nennt Otto Lauf fer
(Museumskunde 2, 12) die volkskundlichen Realien „die äusserlich sicht-
baren Beweise für eine grosse Reihe von Kulturwellen, die sich in früherer
Zeit über die betreifende Landschaft ergossen haben"; wenn er sie für um
so wertvoller hält, je typischer sie sind, so ist dem in vollem Masse bei-
zustimmen. Diejenigen Sachen, welche ausser der Yerkehrsbeziehung
auch ein Zeichen von fortgesetzter Lebens- und sogar Blutsgemeinschaft
sind, werden Zeugnisse nicht nur von Sachwellen, sondern auch von
Yolkstumswellen.
Bei der Verbreitung verhalten sich in der Sach-Geographie der
Gegenstand und seine Form zueinander ähnlich wie bei der Sprach-Geo-
graphie das Wort und seine Lautgestaltung: bei beiden haben wir ent-
weder den Gegensatz von Gebieten, wo der Gegenstand oder das Wort
vorhanden ist, und solchen, wo er sich überhaupt nicht findet (z. B. die
friesischen Bettpfannen und das Wort Schreiner), oder den Gegensatz von
Landschaften, wo die Sache und das Wort so geformt ist, und Landschaften,
wo beide anders geformt sind (z. B. das Fenster in seinen vier verschiedenen
Formen und Pipe = Pfeife).
Die Landkarten sind in der zusammenfassenden Sach-Geographie
möglichst in gleichem Massstabe zu zeichnen, damit der Vergleich er-
leichtert wird; es ist zweckdienlich, wenn sie ausser dem Flussnetz recht
viele bekannte Ortschaften als Merkpunkte enthalten.
An Reichhaltigkeit der sachlichen Kultur wird es Deutschland
voraussichtlich mit jedem anderen Volke aufnehmen können, wie ja das
deutsche Volk auch in körperlicher, geistiger und sprachlicher Hinsicht zu
den mannigfaltigsten der Welt gehört. Die Forschung ist um so leichter,
je kleiner das Gebiet eines Arolkes ist; sie ist aber um so wichtiger, von
je grösserer Bedeutung das betreffende Volk für die Weltgeschichte ist.
Die ungeheure Menge von einzelnen Sachen, welche in der Volks-
kunde zu behandeln sind, teilen wir der Ubersicht halber in verschiedene
Gruppen:
1. Die Nahrung.
Verschiedenartig, wie die Landschaft, das Klima und die Bevölkerung
Deutschlands, sind auch seine Esswaren. Gleich das notwendigste Nahrungs-
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie. 369
mittel, das Brot, ist sach-geographisch von grosser Bedeutung, sowohl was
«einen Stoff, wie seine Form anbelangt. Vom Material des Brotes scheint
der Dinkel ethnologisch das wichtigste zu sein; hat man doch sogar die
Grenzen des Gebiets, wo er das Hauptbrotkorn ist, mit den alten Alemannen-
grenzen in Beziehung bringen wollen. Allerdings findet er sich beim
Brotbacken auch weit darüber hinaus als Beimischung zu anderem Ge-
ireide. Die Formen des Brotes sind sowohl beim täglichen Hausbrot Wie
beim Feinbrot und beim Festgebäck verschieden. Yon Formen des Haus-
brotes seien hier die süddeutschen kreisrunden Laibe und länglichen
Kipfe angeführt, das 'Kastenbrot' Norddeutschlands, das Prem- oder
Präbenbrot, in Osnabrück (aus Weizenmehl mit Milch angemengt) in der
Form eines liegenden Zylinders mit zwei Wülsten, der spitz-elliptische
Bauernstuten (aus Boggen) im Osnabriickschen und das gleichgeformte
Weizenkorinthenbrot aus derselben Gegend, die Kastenform des Pumper-
nickels. Die A erbreitung der Salzstangen scheint neueren Datums zu
sein. Ganz auszuscheiden von der Forschung sind die wohlschmeckenden
Salzstangen, die in Lüneburg und Rosslau neuerdings gebacken werden.
Der Vorgang des Yölkermuseums in Bremen, die typischen Formen des
täglichen Gebrauchbrotes vereinigt in einem grossen Schauschranke aus-
zustellen, verdient gewiss Nachahmung. Ein volkstümlich wichtiges Fein -
brot sind die Zwiebäcke, welche in sehr mannigfacher Form vorkommen.
Ich führe hier nur die länglichen, schmalen, beiderseitig ebenen Zwiebäcke
an, die man in Fürstenau (bei Quakenbrück) und Umgegend findet. Nächst
den Zwiebäcken wichtig sind die Kringel (z. B. die Harburger Krengel)
und Brezeln. Bekannt ist der Bremer 'Klaben und der Hildesheimer
Pumpernickel, der etwas ganz anderes ist als der westfälische. Unter dem
Festgebäck hat der Krapfen bereits von berufener Seite Beachtung ge-
funden. Untersuchungen über die Stollen und andere aus besonderem
Anlass gebackene Kuchen und die süddeutschen Fastenbrezen haben sich
anzuschliessen.
Die Kartoffel erscheint in mannigfacher Form auf dem Tische, z. B.
als Kartoffelpuffer, der in Nordwestdeutschland anders gestaltet ist als in
Oberfranken; hierher gehört auch der Pickert aus der Umgegend von
Melle, ein Kartoffelreibekuchen, der dem Puffer ähnlich ist, jedoch ohne
Fett gebacken wird.
Die Suppen sind ebenfalls sehr verschieden. Eine Frage, die hier
z. B. zu lösen wäre, ist die Feststellung der Endgrenze der süssen Suppen
Norddeutschlands.
Die Klösse haben offenbar schon seit langer Zeit im Volksleben eine
grosse Rolle gespielt. So erwähnt Gustav Freytag ihr Vorkommen in
Thüringen und schreibt ihnen beinahe die Bedeutung eines Volkstums-
merkmals zu, wenn er sagt („Die Ahnen" I.Ingo, Kap. 5: In den Wald-
lauben) dann zogen die Vandalen ihre Mienen kraus und summten
Zeitsctar. d, Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 4. 24
370
Pessler:
ein höhnendes Wort, das sie erfunden hatten, weil die Thüringe bei ihren
Mahlzeiten runde Ballen aus Teig von Weizenmehl vor vielem andern
hochachteten." Die 'Thüringer Klösse' siud ja heute noch bekannt genug,
doch bestehen sie jetzt in der Hauptsache, ebenso wie die Oberländer
Klösse Oberfrankens, aus Kartoffeln mit einem Kern von gerösteten Brot-
würfeln. Die in Bayern vorkommenden Leberknödel und Weckklösse
werden sich vielleicht durch geographische Abgrenzung als ethnologisch
wichtig erweisen. Die Bremer Klösse (im alten Herzogtum Bremen) oder
Kehdinger Klösse (Land Kehdingen, eine Elbmarsch im Lande Bremen)
bedürfen, gleich allen andern Klössen, einer fetten Sauce, um geni essbar
zu sein.
Von Mehlspeisen, soweit sie nicht zu den Klössen gehören, sind
die in Alemannien so häufigen 'Spätzle' zu beachten. — Vielleicht erweist
sich auch Hirsebrei und Buchweizenpfannkuchen als wichtig. — Die
süsse Brotauflage ist bekanntlich am Niederrhein das Apfelkraut, sonst
vielfach das Zwetschgenmus; vom Sünteltale erzählte man mir, dass man
dort 'Stipsel' zum Brot geniesse: ein aus Zuckerrüben gekochter Saft, in
den das trockene Brot hineingetunkt 'hineingestippt' wird; die Ostgrenze
dieses Stipselgebiets zwischen Deister und Süntel soll bei der Stadt Münder
liegen. Wieweit die rote Grütze eine Speise der Skandinavier und Nieder-
deutschen ist, wäre noch festzustellen.
Butter und Käse sind nach Zusammensetzung und Form sehr ver-
schieden. Der norddeutschen gesalzenen Butter steht die süddeutsche un-
gesalzene gegenüber. Die grosse Mannigfaltigkeit in Art und Form der
Käse ist zu bekannt, als dass sie hier besonderer Erwähnung bedürfte.
Yon Käsegerichten nenne ich hier den norddeutschen Kochkäse und die
Allgäuer 'Käsespatzen'.
Die grosse Mannigfaltigkeit in der Wurstbereitung in deutschen
Grauen ist bekannt, aber unsres Wissens leider noch nicht Gegenstand
einer Monographie geworden, obwohl die Ergebnisse wahrscheinlich von
grösster Bedeutung sein würden. Hier seien nur zwei Beispiele angeführt,
die ich freundlicher Mitteilung verdanke. Erstens zeigt die Zusammen-
setzung der Blutwurst eine Verschiedenheit zwischen einem nördlichen
und einem südlichen Gebiet; im nördlichen Bezirk wird sie mit Mehl ver-
setzt, im südlichen nicht; die Grenze soll ungefähr von Northeim in Han-
nover bis zur Saalemündung laufen. Zweitens handelt es sich um den
Unterschied zwischen Grützwurst und Weisswurst; bei der ersteren wird
das minderwertige Fleisch mit Gerstengrütze gemischt, bei der letzteren
mit Weissbrot. Die Scheidelinie, welche diese beiden Gebiete trennt,
soll mit der oben genannten Linie Northeim—Saalemündung übereinstimmen..
Auch die Zusammensetzung des Mahls ist nicht überall dieselbe;
z. B. soll in Österreich der Salat nicht zum Saftbraten, sondern nur zum
trocknen Braten genossen werden.
Aufgaben der deutschen Sach-Geograpliie.
371
Unter den volkstümlichen Getränken ist der Deutsche seit alters
besonders dem Bier zugetan. Aus der grossen Anzahl der verschiedenen
Biere (z. B. Berliner Weisse, Leipziger Gose, Braunschweiger Mumme,
Hannoverscher Broyhan, die verschiedenen bayrischen Biere usw.) kommen
für die volkskundliche Sach-Geographie nur diejenigen in Betracht, welche
altes Erbgut bestimmter Volksgemeinschaften sind. Es ist nicht unmög-
lich, dass auch die alten Grenzen zwischen hellem und dunklem Bier von
mehr als verkehrsgeographischer Bedeutung sind.
Für die volkstümlichen Esswaren und Getränke gibt es unseres
Wissens überhaupt noch keine Landkarten; denn von dergleichen
Karten, wie sie die 'Weinkarte von Europa' darstellt, welche die ver-
schiedenen weinproduzierenden Länder und Ortschaften angibt, z. B.
Bomst in der Provinz Posen, welches den jetzigen nördlichsten Weinbau-
ort der Erde darstellt, müssen wir natürlich absehen. Die nächste Auf-
gabe der volkskundlichen Nahrungsmittelforschung ist, das bisher Er-
arbeitete aus der Literatur zusammenzufassen und in Karten darzustellen,
welche allerdings grosse Lücken aufweisen werden. Sodann muss im
grossen Massstabe, sei es durch Aussendung von Volkskundeforschern, sei
es durch Fragebogen, die Verbreitung des Brotes, z. B. die Grenzen des
Schwarzbrotes und der Wurst, sowohl nach Zusammensetzung wie nach
Form, festgelegt werden. Mit dem Beginn der Arbeit darf hier nicht
lange gezögert werden, weil auch auf dem Gebiet der Esswaren die volks-
tümlichen Überlieferungen einer starken Verdrängung und Vermischung
ausgesetzt sind.
2. Die Kleidung.
Anstatt die Behauptung aufzustellen, dass die Hausformen und Volks-
trachten durchaus nicht ethnisch bedingt seien, hätte man sich einesteils
aus den bisher erschienenen Haustypenkarten von den Beziehungen zum
Stammestum überzeugen und andernteils selbst eine Trachtenkarte ent-
werfen sollen, durch welche die zweite Hälfte jener Behauptung bewiesen
wird. Selbstverständlich sind die Faktoren bei Kleidung und Haus
zu mannigfaltig, als dass man sie rein geographisch auf Boden und Klima,
oder rein ethnologisch auf das Volkstum, oder rein kulturgeschichtlich
auf bestimmte Vorbilder höherstehender Volksschichten zurückführen
könnte. Erschwert wird die Forschung dadurch, dass in vielen Bezirken
ältere Zeugnisse fehlen, so dass die Frage nach dem Ursprung der Tracht
sich nicht überall endgültig lösen lässt. Soviel steht fest, dass ein starker
Einfluss der Modeströmungen stattgefunden hat. Ein weiterer Missstand
ist das von Jahr zu Jahr schneller vor sich gehende Verschwinden der
Trachten, wodurch der Trachtenforscher sich genötigt sieht, auf die
nicht immer zuverlässige Auskunft alter Ortsbewohner zurückzugreifen.
Endlich genügen die Trachtensammlungen vieler Museen, so erfreulich
24*
Possler:
sie an sich sind, doch in vielen Punkten nicht den Anforderungen einer
wissenschaftlichen Trachtenkunde, indem bei manchen Trachten nur die
Landschaft und nicht das Dorf, bei anderen nicht die genaue Jahreszahl,
bei weiteren nicht der Anlass des Tragens und der Stand des Trägers
1 ...
angegeben ist; es ist sogar vorgekommen, dass bei einer Reihe von
Mützen, welche mit den zugehörigen Notizen von einem Freunde der
heimischen Volkskunde geschenkt waren, nach einiger Zeit zum Entsetzen
o ? O
des Geschenkgebers die Zettel mit den Notizen von den Mützen entfernt
waren, wodurch dieselben an volkskundlichem Wert ungeheuer eingebüsst
haben. Dass bei der musealen Aufstellung von Trachten keine Trachten-
teile aus verschiedenen Kirchspielen zu einer Trachtenfigur vereinigt
werden dürfen, bevor endgültig feststeht, dass diese Kirchspiele zu ein
und derselben Trachtengruppe gehören, ist selbstverständlich.
Bei der Behandlung ist am besten Tracht und Schmuck zu trennen.
Bei der Tracht empfiehlt es sich, ganze Tracht und Trachtenteile für sich
zu behandeln. Für die wissenschaftliche Forschung scheint es mir wesent-
lich, den grossen Unterschied zwischen Trachten-Art und Trachten-
Gruppe, der unseres Wissens bisher noch nicht genügend hervorgehoben
ist, zu betonen. Beide Begriffe, Trachten-Art sowohl wie Trachten-Gruppe,
gehen auf Verschiedenheit in der Tracht, jedoch äussern sich diese Ver-
schiedenheiten auf grundsätzlich voneinander abweichenden Gebieten:
die Traditeli-Art bezieht sich auf die Mannigfaltigkeit der Tracht, je nach
Konfession, zeitlichem Anlass, Stand, Geschlecht und Alter; die Trachten-
Gruppe umfasst die rein örtlichen Unterschiede.
Als Trachten-Arten können wir also ansehen: nach dem Geschlecht
Männer- und Frauentrachten, nach dem Stande Bauern- und Fischer-
trachten, die z. B. in Blankenese nebeneinander vorkommen sollen, nach
dem Alter Kinder-, Jugend-, Erwachsenen- und Greisentracht, nach dem
zeitlichen Anlass Tracht für die Taufe (Täufling und Paten), die Kon-
firmation, die Hochzeit (Brautleute, Brautführer und Brautjungfern), den
Todesfall (Totenhemd, Trauertrachten in verschiedenen Abstufungen), den
Alltag und den Feiertag (Arbeitsanzug, gewöhnliche Werktagstracht,
Sonntagskirchentracht, Sonntagsausgehtracht, Friihmessentracht, Abend-
mahls- oder Kommunionstracht), nach der Konfession evangelische und
katholische Trachten.
Innerhalb jeder Trachten-Art ist sowohl der Bestand wie die örtliche
Gruppierung festzustellen. Der Bestand der Volkstrachten muss zunächst
überall aufgenommen werden, d. h. es muss festgestellt werden, wo über-
haupt jetzt noch oder nachweislich vor kurzer Zeit volkstümliche Kleidung
getragen wird oder wurde, und zwar ist die Anzahl der männlichen und
weiblichen Träger für früher und jetzt in jedem einzelnen Kirchspiel
testzustellen. Nun gibt es Bezirke, wo die Alltagstracht ganz ausgestorben
ist, die Kirchentracht nur noch von den Frauen getragen wird, wieder
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
373
andere Gegenden, wo nur noch zum Abendmahl eine volkstümliche
Kleidung angelegt wird. Es ist also für die verschiedenen Trachten-
Arten die Anzahl der Träger, d. h. der Bestand, durchaus verschieden.
Infolgedessen muss die Aufnahme des Bestandes für die einzelnen Trachten-
Arten gesondert erfolgen.
DieTrac liten-Gruppe, welche die lokalen Unterschiede umfasst, findet
sich in jeder einzelnen Trachten-Art. Ob sich diese örtliche Gruppierung in
der einen Trachten-Art mit der in der anderen Trachten-Art (z.B. die Grenzen
in der Brauttracht und die in der Männer-Sonntagstracht) deckt, ist bisher
noch nicht festgestellt. Die Volkstrachtenforschung hat also jede einzelne
Trachten-Art in ihrer geographischen Verbreitung für sich ins Auge zu fassen,
das ist eine Auflösung der gesamten 'Pracht in Einzeltrachten, ein Verfahren,
für das die Sprachforschung längst ein entsprechendes Vorbild gegeben hat.
Die kartographische Darstellung ist in der Trachtenforschung
bisher leider noch nicht viel angewandt worden. Uns sind nur die beiden
vortrefflichen Karten von Justi über die Trachten-Gruppen bei Marburg
und die von Holsten-Bremer über den Bestand und den Umfang der
Volkstracht im pommerschen Weizacker bekannt, letztere mit starker
ethnologischer Tendenz. Für die weitere Forschung möchte ich für jede
einzelne Trachten-Art ein besonderes Kartenblatt empfehlen, das oben in
einer Karte den Bestand (auch mit Jahreszahlen des Aussterbens der
Tracht) und in einer Karte darunter die geographische Gruppierung zeigt.
So hat man auf ein und derselben Tafel oben ein Bild von der ehemaligen
und jetzigen Geltung, unten von der landschaftlichen Mannigfaltigkeit.
Vergleichen wir weiterhin nur die oberen Karten auf den verschiedenen
Blättern miteinander, so ergibt sich unmittelbar, welcher zeitliche Anlass,
welches Alter und welche Konfession noch am meisten von städtischer
Kleidung unbeeinflusst geblieben ist. Vergleicht man dagegen die unteren
Karten auf allen Blättern miteinander,, so werden bestimmte Grenzen
wiederkehren und bei Heranziehung von Volkstums-, Territorial-, Kon-
fessions- und Verkehrsgrenzen sich mit einigen von diesen als identisch
erweisen. — Bei beschränktem Platze ist es auch möglich, Bestand und
Gruppierung auf einer Karte darzustellen, indem man ersteren durch
schwarz schraffierten Untergrund, letztere durch farbige Linien angibt.
Eigentlich sollten auch die Trachten-Teile, wie es in der Sprach-
forschung für die einzelnen Laute schon geschehen ist und wie man
es in der Hausforschung für die einzelnen Hausteile plant, sämtlich für
sich behandelt werden. Da aber dieses wissenschaftliche Prinzip wohl
auf .unüberwindliche praktische Hindernisse stossen wird, so wird der
Trachtenforscher, allerdings mit Bedauern, vorläufig nur die wichtigsten
Trachtenstücke als Einzelobjekte iür die kartographische Darstellung
ins Auge fassen können. So würde es z. B. sehr interessieren, genauere
Angaben über die Holzschuhe, die Mützenformen und die Traüerfarben
O '
374
Pessler:
in ihrer Verbreitung zu besitzen. Yon anderen Einzelheiten wären ge-
legentlich die Hüftkissen im Frauenleibchen, die sich bei Marburg finden,
oder die Art der Strumpfbänder in Hessen, welche im Kreise Biedenkopf
mit einem Puschel, in der Schwalm flach mit einer Erbreiterung am
Schluss endigen, zu erwähnen. Es wäre nicht uninteressant, einmal für
einen kleinen Bezirk der geographischen Trachtenforschung ein ganz ge-
naues Schema zugrunde zu legen, damit man sich wenigstens, ehe es zu
spät ist, an einem Punkte in deutschen Gauen, ein vollständig genaues
Bild von Trachten-Verbreitung machen kann. Ich denke mir dieses
folgendermassen: Der Forschung liegt ein grosses Blatt zugrunde, dessen
Spalten ausgefüllt werden müssen. Die 1. Spalte enthält sämtliche Kirch-
spiele der Gegend und hat die Überschrift: Ortschaft; alle übrigen Spalten
haben die Überschrift: Trachtenteile, und zwar z. B. die ersten acht die
Gesamtüberschrift: Rock, die folgenden zehn die Gesamtüberschrift: Taille.
Als Einzelmerkmale des Rockes wären dann folgende in den einzelnen
Spalten zu behandeln: 1. Stoff.. 2. Farbe. 3. Länge (ob lang, halblang,
kurz oder sehr kurz). 4. Form vorn (ob glatt oder etwas angehalten).
5. Form hinten (einmal oder mehrmals gekräust oder mit dichten Falten,
plissiert). 6. Verschluss. 7. Aussenstoss (aus welchem Stoff, von welcher
Farbe, welcher Breite und welchem Muster). 8. Ob allein oder mit
Taille verbunden. Bei der Taille könnte man folgende Kennzeichen ins
Auge fassen: 1. Stoff (wenn von der gleichen Art wie der Rock, so ist
das besonders anzugeben). 2. Farbe. 3. Länge. 4. Form vorn (glatt, in
Falten gezogen, ausgeschnitten, tief ausgeschnitten, Miederform, zu
schnüren, mit langem Schnipp, mit Schnipp vorn und hinten). 5. Form
hinten. 6. Verschluss. 7. Besatz (Vorstoss). 8. Ob mit dem Rock in
eins gearbeitet. 9. Ob Brustlatz dazu getragen. 10. Andere Besonder-
heiten. Es ist gewiss nicht unnütz, diese Einzelheiten in einer besonders
interessanten Trachtengegend zu erforschen, z. B. in der schaumburgischen,
welche trotz ihres geringen Umfanges drei verschiedene Trachtengruppen
aufweist. Innerhalb der östlichen (östlich von Sachsenhagen bis zur
hannoverschen Grenze) gibt es noch Unterschiede hinsichtlich des Aussen-
stosses am Rock, welcher wiederum im östlichen Teile dieser Ostgruppe
schlicht violett, im westlichen Teile dagegen mit Samt gemustert ist.
Der Schmuck des Landvolkes hat nicht den gleichen geographischen
Wert wie die übrige Volkstracht, weil er hinsichtlich seiner Entstehung
lange nicht so lokal gebunden ist. Während bei den Kleidungsstücken
der Verfertiger wenigstens im Kirchspiel, oft auch in der einzelnen Ort-
schaft selbst ansässig ist und Stoff und Muster nur zum Teil von auswärts
bezogen werden, so entsteht selbstverständlich der Schmuck, soweit er
Goldschmiedearbeit ist, nicht in jedem einzelnen Kirchspiel, sondern
innerhalb eines verhältnismässig grossen Bezirkes nur an einem Orte, der
allerdings nicht immer gross ist (z. B. im Hannoverschen: Buxtehude,
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
375
Rotenburg und Visselhövede). Vorläufig wären also die verschiedenen
Goldschmiedewerkstätten mit ihren Zeichen festzustellen und der Umkreis
der von ihnen ausstrahlenden Schmuckstücke, womöglich unter Berück-
sichtigung der Musterbücher, zu kartieren. Sehr wichtig wäre es auch,
bei den einzelnen Goldschmieden nachzufragen, ob sie den bei ihnen
kaufenden Landleuten aus irgend einem Bezirke ganz bestimmte Gegen-
stände anbieten, weil sie in diesem Bezirke üblich seien, und ob etwa die
Käufer bei grösserer Auswahl sich nur auf diejenigen Stücke beschränken,
welche für ihre Gegend typisch sind. Auch bevor noch diese höchst
wichtigen Prägen gelöst sind, ist doch schon soviel sicher, dass der
Bauernschmuck deutlich unterscheidbare örtliche Gruppen bildet, so z. B.
die Schultertuchhalter in Form von Ketten auf beiden Ufern der Elbe,
und zwar in den Yierlanden als die bekannte Brustkette und in der
Winser Elbmarsch als dünne Platten, die durch Kettchen verbunden
sind. Für das alte Herzogtum Bremen geradezu typisch ist die Gürtel-
rosette. Diese Beispiele liessen sich allein aus Niedersachsen leicht ver-
mehren. Es wäre vielleicht nicht unangebracht, vorläufig einmal von ganz
Deutschland eine Schmuckkarte zu entwerfen, an welche die weitere ge-
naue Forschung anknüpfen kann. Auch hier ist es dann späterhin aus
Rücksicht auf Zeit und Geld praktisch, eine besonders lohnende Gegend
als Musterbeispiel herauszugreifen.
3. Der Hausrat.
Die Möbel weisen bekanntlich geographisch sehr verschiedene
Formen auf. Wenn wir sie mit Schwindrazheim in Tische, Sitzmöbel,
Kastenmöbel und Schlafmöbel einteilen, so sind die Tische nach ihrem
Aufbau oder nach ihrer Platte verschieden. Dreibeinige Tische kommen
im westlichen Medersachsen vor, so im Diepholzischen und Osnabrück-
schen. Innerhalb des letzteren ist besonders für das Artland eine Tisch-
form bezeichnend mit kreisrunder Platte, mit einer weiteren kreisrunden
Platte in halber Höhe und drei Beinen, welche vierkantig und schräg
gestellt sind. — Unter den Sitzmöbeln sind die Stuhlformen noch
mannigfaltiger als die Bänke. Hier genügen nicht Angaben wie die,
dass die dreieckige Sitzfläche bei Lengerich und im Münsterlande häufig
sei und eine hohe geschlossene Rückenlehne bei Westerkappeln usw.,
oder dass die trapezförmige Rückenlehne, die mit ihrem schmalen Ende
an den Sitz anstösst, für die Schwalm in Hessen typisch sei, sondern
diese Erscheinungen sind erst einmal entwicklungsgeschichtlich in Zu-
sammenhang mit den grossen Stilperioden, dann geographisch zu er-
forschen. — Die beiden Arten der Kastenmöbel, Truhen und Schränke,
sind beide für die volkskundliche Forschung wichtig. Für die Einteilung
der Truhen genügen Angaben wie 'gotische Truhe' nicht, sondern die
Eigenschaften, besonders hinsichtlich des Aufbaues, sind in der Bezeich-
376
Pessler:
nung noch schärfer hervorzuheben. Yor allem sind die vier Hauptformen
der Truhenfüsse schärfer zu scheiden: 1. Die Beine werden durch die
Verlängerungen der in den Langseiten liegenden senkrechten Eckbretter
gebildet. 2. Die Beine werden durch die Verlängerung der in den
Schmalseiten liegenden senkrechten Eckbretter gebildet. 3. Unter den
Schmalseiten liegt je eine Fussschwelle. 4. Unter jeder Ecke befindet
sich ein Kugelfuss. Es ist nun festzustellen, ob diese vier zeitlich auf-
einanderfolgenden Perioden in der Truhenentwicklung sich auch geo-
graphisch gegeneinander absetzen. Auch die Truhen deckel müssen hin-
sichtlich ihrer Verbreitung genauer berücksichtigt werden; z. B. ist hier
festzustellen, wieweit der sargförmige Deckel, der besonders für die Graf-
schaften Hoya und Diepholz typisch erscheint, in geschlossener Verbreitung
vorkommt. — Die Schlafmöbel, soweit sie nicht als Butze fest mit dem
Hausgefüge verbunden sind, also das Bett und die Wiege, Hessen sich
gewiss auch einmal mit Vorteil behandeln. Bei den Wiegen kann man
hinsichtlich des Aufbaues zwei Hauptformen unterscheiden: 1. solche mit
festem Fussgestell und schwingendem Kasten, 2. solche, wo der Kasten
mit den Füssen fest verbunden ist und das Ganze gemeinsam schwingt.
Bei letzteren unterscheidet man wieder, was die Richtung der Bewegung
anbetrifft, solche, welche längs schwingen und solche, welche quer schwingen.
Beide Formen nebeneinander sah ich in der städtischen Altertums-
sammlung in Marburg. Sie sollen beide aus der Umgebung von Marburg
stammen. In der Schwalm kommt die längsschwingende vor, wie das
hessische Landesmuseum in Kassel beweist. Im Museum in Bückeburg
steht eine Kombinationswiege, welche auf drehbarem Rahmen ruht, so
dass sowohl längs als auch quer gewiegt werden kann. — Unabhängig
von den Konstruktionen und den Formen der Möbel ist das auf ihnen
angebrachte Ornament sowohl nach Technik (auch die Intarsien) wie nach
Motiven zu verfolgen. So ist z. B. festzustellen, wie wTeit die im Osna-
brücker Artlande an der Haase vorkommende Verdoppelung der Hocli-
fiillung mit den spitzen Verkröpfungen an der oberen und der unteren
Schmalseite, die sich dort auf den Zimmervertäfelungen, den Schiebetüren
der Schlafbutzen und den Möbeln finden und für die Gegend bezeichnend
sind, auch in den umliegenden Landschaften in die Volkskunst ein-
gedrungen sind.
In der Einteilung des Hausrats lässt Lau ff er den Möbeln die andere
Wohnungsausstattung, Gerät und Geschirr für Küche und Keller, Ess- und
Trinkgerät, Rauch- und Schnupfgerät, Beleuchtungsgerät und Gerät zum
Spinnen, Weben und Sticken folgen. Die Geräte und Gefässe zur
Aufbewahrung und Bereitung von Speisen und Getränken be-
dürfen dringend einer zusammenfassenden entwicklungsgeschichtlichen wie
geographischen Darstellung, von den Tonwaren an, soweit sie volkstüm-
lich sind (z. B. die typischen Krüge aus Dreihausen, südöstlich von Mar-
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
377
bürg), bis zu den Griitz- und Kornmühlen und der grossen Anzahl von
Backvorrichtungen. — Beim Ess- und Trinkgerät sind die Gefässe
(z. B. die Goseflasclien in Leipzig nebst den hohen Trinkgläsern und die
'Stangen' in Gotha), die Geräte (Löffel, Messer, Gabeln) und die Gegen-
stände, die zur Handhabung und Aufbewahrung von Ess- und Trinkgerät
dienen (z. B. die aus Holzpflöcken kunstvoll zusammengesetzten Schüssel-
untersätze Niedersachsens, der 'Kaffeeschlitten' in Grosslinden bei Giessen,
der ein Umschütteln des Kaffeesatzes verhindern soll, der hängende Löffel-
behälter in Stuhlform in Hessen), für sich zu behandeln.
Das Beleuchtungsgerät möchte ich in solches für die Wohnräume
und solches für die Wirtschaftsräume scheiden. Unter den Stubenleuchten
ist der Trankriisel volkskundlich wichtiger als die Lampe. Neben den
Standkrüseln, welche zum Teil mit einer sinnreichen Stundenskala ver-
sehen sind, gibt es Hängekrüsel. Der Hängekrüsel hängt gewöhnlich
mittels eines senkrecht verstellbaren Krüselhakens mit Zahnschiene an
einem wagrecht beweglichen Krüselarm, auf dem der Krüselhaken noch
durch eine Schnuröse hin- und hergeschoben wird; hierdurch ist es
möglich, innerhalb eines sehr grossen Umkreises die Lichtquelle an jeden
beliebigen Punkt zu bringen. Der Krüselarm ist nun entweder an der
Wand oder an der Decke angebracht. Ersteres ist in Niedersachsen
häufiger. Im Museum in Bückeburg jedoch ist ein Krüselarm an einem
der Stubenbalken befestigt; gleichfalls an der Decke sitzt der Krüselarm
in dem Heidemuseum in Walsrode, einem dorthin gebrachtenBauernhause von
1798, das aus Hartem bei Fallingbostel stammt. In den ausgezeichneten
Bauernstuben des germanischen Museums in Nürnberg findet sich auch
ein Krüselarm, der an der Decke sitzt und zwar, wenn ich mich recht
erinnere, in der oberhessischen Bauernstube. Unter den Leuchten in den
Wirtschaftsräumen spielt im alten Niedersachsen uie Kienluchte eine
Hauptrolle. Es ist dies ein Behälter aus Eisenblech mit brennendem
Kienspan. Hinzu kommt die Kiendarre, ein ähnlicher Behälter zum
Trocknen der Kienspäne. Wahrscheinlich wird die ethno-geographische
Betrachtung der Kienluchten wichtiger sein als die der Laternen.
Das Handarbeitsgerät im weiteren Sinne ist volkskundlich
und ethno-geographisch von verschiedenem Werte. Aus dem Gebiete des
Spinnens sind die beiden zeitlich verschiedenen Formen des Spinnrades,
das breite und das hohe, daraufhin zu erforschen, ob sie sich vielleicht auch
räumlich gruppiert haben, und der Haspel ist auf seinen Umfang und die ver-
schiedenen Arten des Schallzeichens zu untersuchen, welches die Erreichung
der vorgeschriebenen Länge anzeigt (z. B. der Hammer oder der Schnapper).
Yon den Webegeräten ist ausser dem Webstuhl mit Zubehör, der Garn-
winde und dem Spulrad besonders die A'erschiedenheit des Apparates zum
Yorordnen der Fäden nach der Scherleiter (ob feststehende Schertoppen
oder drehbares Schertüg) nach ihrem örtlichen Auftreten zu erforschen.
.378
Fessier:
Die beiden Haiiptformeii der Hecheln, nämlich die kreisrunde und die
rechteckige Anordnung der Hechelzähne, sind vielleicht mehr geographisch
als entwicklungsgeschichtlich geschieden. Eine gute Hilfe ist es jeden-
falls, wenn die Stücke nicht nur genau lokalisiert, sondern auch datiert
sind, wie die runde Anordnung von 1725, die ich in Grossen-Linden bei
Giessen gesehen habe. Ob sich beim Stricken und Nähen volkskund-
lich brauchbare örtliche Verschiedenheiten ergeben, z. B. in den
Stricknadeln, Nadelbüchsen, Nadelkissen und Nähkasten, ist noch nicht
sicher; am ehesten wird dies wohl noch bei den Nähkasten der Fall
sein, wenn z. B. die eigenartige Form des Nähkastens aus dem Alten
Lande, der in dem Vaterländischen Museum in Hannover steht, für diese
Elbmarsch typisch ist. Aus dem Gebiete des Stickens sind die Stick-
mustertücher sach-geographisch offenbar wertvoller als die Stickrahmen.
Es ist sehr nötig, einmal festzustellen, ob die Stickmustertücher nach der
Art des Stiches und nach den Motiveu wirklich, wie man vermutet hat,
geographische Provinzen zeigen.
Unter den Hausrat möchte ich auch ferner noch das Gerät zum
Waschen, Plätten und Fälteln rechnen. Aus dem Gebiete des Waschens
scheinen mir die Mangelhölzer und Mangelbretter zum Glätten der W äsche
sach-geographisch wichtiger zu sein als Waschkessel, Waschtubben, Wasch-
tisch zum Reiben der Wäsche und Waschbrett zum Klopfen derselben.
Von den zum Plätten oder Bügeln dienenden Gegenständen sind die
Gniggelsteine oder Gniedelsteine zum Glätten der Nähte volkskundlich
wichtig, wohl auch noch wertvoller als die Fältelapparate, das Tolleisen
und das Tollbrett mit Rolle.
Zum kleineren Verkehrsgerät gehören die Körbe und Kiepen.
Die landschaftlich verschiedenen Formen der Kiepe oder Köze sind ethno-
logisch sicherlich sehr wichtig und zum Glück schon Gegenstand der
Forschung, leider aber noch nicht auf einer Karte zusammengefasst, was
sich gewiss gelohnt hätte.
Als anderen Hausrat möchte ich noch die Bettwärmer ('Bedpan')
hinzufügen, welche für die Friesengebiete bezeichnend sind. Es ist hier
festzustellen, ob die in den angrenzenden Gebieten vorkommenden Bett-
wärmer Ausstrahlungen der friesischen Kultur sind. Auch hier wird eine
genaue, von Ort zu Ort schreitende Landesaufnahme und die Verwendung
von Landkarten gute Dienste leisten.
Überhaupt ist es zu bedauern, dass das grosse Gebiet des Haus-
rates, für das wir so viele ausgezeichnete Kenner in Deutschland haben,
bisher noch nicht systematisch vom geographischen Standpunkte aus be-
trachtet worden ist; denn einerseits würde dies der Entwicklungsgeschichte
grosse Dienste leisten, andererseits würden die grossen örtlichen
Zusammenhänge, die zweifellos vorhanden sind, dadurch erst zutage
treten.
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
379
4. Die Wohnung.
Der volkstümliche Wohnbau der Deutschen spielt in der Volkskunde-
forschung mit Recht seit langem die Hauptrolle. Die Bedeutung liegt in
folgendem: Uralte Volksüberlieferung ist jetzt noch darin lebendig; mit
der genauen Kenntnis des Hauses ist zugleich die des Lebens der Be-
wohner gegeben; der Hausbau hat sich als völkisch ganz besonders wichtig
erwiesen, weil er, in seiner Form wirtschafts-geographisch begründet, in
seiner V erbreitung zum grossen Teil ethno-geographisch bedingt ist.
Als die nächsten Aufgaben der Haus-Geographie erscheinen mir
folgende: Das Haus als Ganzes ist namentlich östlich der Elbe und
westlich der Maas genau zu kartieren, ebenso in der Schweiz. Neben
dem Grundriss muss die Konstruktion als gleichwertiger Faktor erforscht
werden. So ist z. B. die dreischiffige Anlage des Friesenhauses und
des nördlichen Sachsenhauses auch einmal als Gemeinsamkeit durch eine
Karte festzustellen. Ausser den Hauptunterschieden im Grundriss (z. B.
ob Längsdiele oder Querdiele) muss unbedingt auch einmal die Strassen-
seite des Hauses (ob Giebelhaus oder Traufseitenhaus) kartiert werden.
Am besten verbindet man diese beiden Gesichtspunkte und trägt auf
einer Karte des deutschen Sprachgebiets folgende vier Formen ein:
1. Giebelhaus mit Längsdiele oder Längsflur (z. B. das altsächsische
Haus in den allermeisten Fällen). 2. Giebelhaus mit Querdiele oder
Querflur (z. B. das Wohnhaus des mitteldeutschen Gehöfts). 3. Trauf-
seitenhaus mit Längsdiele (vereinzelt im altsächsischen Gebiet). 4. Trauf-
seitenhaus mit Querdiele (z. B. im südöstlichen Niedersachsen und in
Mitteldeutschland meistens, wenn es zu keiner Gehöftbildung kommt). —
Ferner ist das Haus für die genaue kartographische Fixierung in seine
Einzelräume und Einzelteile zu zerlegen, genau wie die Sprache für
ihre genaue geographische Festlegung in Wörter und in Laute zerteilt
wird. Bei den Einzelräumen ist Wirtschaftsteil und Wohnteil zu scheiden.
In ersterem ist vor allem die Diele und die Raumbenutzung des Lager-
bodens (z. B. wo das Korn, wo das Heu und wo das Bohnenstroh usw.
liegt) in ihrer örtlichen Verschiedenheit festzustellen. Im Wohnteil ist
besonders die Form und Lage der Küche und der Schlafräume zu be-
achten. Hinsichtlich der Einzelteile des Hauses fehlen uns noch durch-
aus Landkarten über die verschiedenen Arten der Herde und Ofen. Diese
werden um so leichter herzustellen sein, je mehr die Museen in dieser
Hinsicht vorgearbeitet haben, wie z. B. in Niedersachsen, wo im Vater-
ländischen Museum in Celle in dieser Hinsicht der deutschen Wissen-
schaft * ein sehr grosser Dienst geleistet ist. Mit vollem Recht sagt
Bernard Müller ('Museumskunde' 6, 87): „Von hervorragendem Interesse
sind die verschiedenen Herdanlagen aus allen Gegenden Nordhannovers,
die im Original bis in die kleinsten Einzelheiten und mit sämtlichem
Zubehör sich hier wieder aufgebaut finden und ergeben, dass dieser
380
Pessler:
Mittelpunkt des Hauses in den verschiedenen Bezirken des Landes sehr
bemerkenswerte Unterschiede zeigt." Ausser den Feuerungsanlagen
kommen als Einzelteile des Hauses im Innern solche Gegenstände in Be-
tracht, welche entweder fest (Yertäfelung, Wandschrank, Decke) oder
lose (Zimmertüren) mit dem Hausgefüge verbunden sind. Die Einzelteile
des Hauses aussen teile ich mit Sehwindrazheim in Wände, Dach und
Offnungen ein. Hier brauchen wir noch Landkarten über die Ausbildung
der Fassaden, über die Dachformen und die verschiedenen Arten der
Firstsicherungen (z. B. Hengelten — hölzerne Dachreiter an der Ostsee-
küste), während wir über die Giebelzierden schon einige Karten besitzen.
Von den Hausöffnungen sind die Türen, bei welchen das Einfahrtstor und
die Türen für Menschen zu trennen sind, offenbar sach-geographisch
nicht so bedeutsam wie die Fenster. Die Beziehungen der Drehfenster
nach aussen zum Sachsentum, der senkrechten Schiebefenster zumFriesentum
sind ja offenbar. Die Drehfenster, welche nach innen schlagen, sind vor-
wiegend hochdeutsch und ostniederdeutsch, die seitlichen Schiebefenster
scheinen vereinzelt überall vorzukommen. Hier hat die Einzelforschung
einzusetzen und Alter, Werden und Vergehen der Form und ihrer
Grenzen festzustellen. Ob sich bei anderen Einzelheiten des Hauses die
sach-geographische Betrachtung lohnt, ist noch nicht zu übersehen; wie z. B.
betreffs der Art der Lichtzufuhr in das vordere Ende der Diele im Sachsen-
hause, wo wir folgende Arten zu unterscheiden haben: entweder durch
das Tor selbst, sei es vorübergehend durch einen oberen offenen Flügel,
sei es bleibend durch ein Fenster oder durch die dem Tor benachbarte
Wand durch kleine Fenster, und zwar hier entweder über dem Tor oder
seitlich von ihm.
5. Andere Hauten.
Die Windmühlen sind noch viel zu weni»' der Gegenstand volks-
ö O
kundlicher Forschung gewesen. Jedem von uns sind schon die beiden in
Deutschland vorkommenden Hauptarten aufgefallen: die deutsche oder die
Bockwindmühle und die holländische oder die Turmwindmühle, die ich
als Drehrumpfmühle und als Drehkopfmühle einander gegenüberstellen
möchte. Bei der ersteren ist der ganze Rumpf nebst dem Flügelwerk
drehbar und ruht auf einem senkrechten festen Ständer, der, wie wir in
Rühlmanns 'Allgemeiner Maschinenlehre' lesen, den Namen Hausbaum
hat und durch ein Schwell- und Strebewerk 'Bock' gestützt wird; diese
älteste Konstruktion der Windmühlen soll aus Deutschland stammen und
die Windmühle überhaupt eine deutsche Erfindung sein. Bei der holländischen
Turmmühle ist nur der Kopf nebst dem Windrade drehbar, während der
ganze Rumpf feststeht und meist aus Ziegelsteinen aufgemauert ist. A er-
breitungsangaben über diese beiden Hauptarten der Windmühlen scheint
es nicht zu geben, geschweige denn eine Landkarte darüber. Sehen wir
Aufgaben der deutschen Sach-Ueographie.
381
4avon ab, class die Windmühlen überhaupt an physiogeographische Faktoren
gebunden sind, so wäre es doch möglich, dass die örtliche Gruppierung
innerhalb des Windmühlengebiets verkehrsgeographische und vielleicht auch
ethno-geographische Momente aufweist. Natürlich kommt für die Forschung
nur der ältere Bestand in Betracht, da wahrscheinlich schon seit längerer
Zeit die holländische Windmühle als die praktischere in das Gebiet der
deutschen Windmühle eingedrungen zu sein scheint. — Auch die kleinen
Windmühlen, welche zum Herausheben des Wassers dienen, die in der
Wilster Marsch so auffallend häufig sind, wären auf ihre Ausbreitung hin
zu verfolgen. — Ob die Wassermühlen irgendwelche sacli-geographisclie
Zusammenhänge erkennen lassen, ist noch fraglich. — Dass der Kirchen-
bau, abgesehen von den Stilperioden, auch landschaftlich zusammenfassbare
Gruppen aufweist, ist bekannt. Gewiss hängt hier einiges, soweit es sich
um Ostdeutschland handelt, mit der Herkunft der deutschen Kolonisten
zusammen. Mit Recht hat Mielke auch auf Giebeleingang und Trauf-
seiteneingang der Kirchen geachtet. Es wäre nicht unnütz, diesen Ge-
danken in grossem Massstabe zu verfolgen. Wenigstens für das italienische
A olkstum soll ein gutes Leitfossil der Campanile sein, der eiuzelstehende
Kirchturm, der nicht nur in Italien und auf den Inseln, sondern auch nach
Südtirol, dem Küstenlande und Dalmatien hinein als Wegweiser jetziger
oder ehemaliger italienischer Nationalität gilt; in Dalmatien soll vor-
dringende slawische Majorität diesem romanischen Wahrzeichen stets durch
-Änderungen ihr Gepräge aufgedrückt haben.
6. Landwirtschaftliches Gerät.
Für die Einteilung und Gruppierung der landwirtschaftlichen Geräte
hat sich Hoffmann-Kray er ein Verdienst erworben ('Museumskunde' 6,
113). Am übersichtlichsten ist die Haupteinteilung in Pflanzenbau, Tier-
zucht, Verkehrsmittel. Als Hauptteile des Pflanzenbaues wiederum nennt
er Acker-, Wiesen-, Gemüse-, Obst- und Weinbau. In jedem dieser vier
Gebiete können wir vier Hauptperioden unterscheiden, nach denen die in
ihnen gebrauchten Geräte übersichtlich anzuordnen sind: 1. Bearbeitung
des Bodens. 2. Pflanzen und Säen. 3. Ernten. 4. Bearbeitung des Ge-
ernteten.
Die grösste ethnologische Bedeutung legt Richard Braungart den
Ackergeräten bei, wenn er seinem Hauptwerk den Titel gibt 'Die Urheimat
der Landwirtschaft aller indogermanischen Völker, an der Geschichte der
Kulturpflanzen und Ackerbaugeräte in Mittel- und Nordeuropa nachgewiesen1
(Heidelberg 1912; vgl. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 23, 94).
Mit Recht erwartet er (S. 3) Aufklärung über die Ethnologie von Alt-
europa von 'ganz genauen kartenmässigen Ermittlungen über die
geographische Verbreitung gewisser typischer Ackergeräte'. Leider gibt
es für das deutsche Sprachgebiet dergleichen Karten noch gar nicht. Be-
382
Pessler
kannt sind mir in Europa nur die beiden Linien über die Verbreitung-
der Sense und des zweispännigen Wagens in Kurland in Bielensteins Atlas
der ethnologischen Geographie des Lettenlandes (Petersburg 1892) auf
Karte 6, deren andere Linien nur Spracherscheinungen behandeln. Es ist
zu wünschen, dass das, was hier ein Deutscher für die Erforschung eines
fremden Volksstammes geleistet hat, in unserer Heimat bald Nachfolge
finden wird, bevor es zu spät ist; denn bei dem starken Umschwung in
der landwirtschaftlichen Betriebsweise ist das Sammeln der alten Formen
in einem Ackerbaumuseum hohe Zeit, die Feststellung ihrer Grenzen
allerdringendste Notwendigkeit.
Was den Ackerbau betrifft, so scheinen von den Geräten zur
Bearbeitung des Bodens die Eggen sach-geographisch besonders wichtig
zu sein, und zwar ist es hier wieder ein Punkt, auf den besonders zu
achten ist, nämlich die Anbringung der für den Anspann bestimmten
Öse am vorderen Querbalken. In Bleckmar in der Lüneburger Heide ist
diese Zugöse auf ein Drittel der Länge angesetzt, während sie im Osna-
brückschen Artlande auf ein Sechstel der Länge hinausgerückt ist. Auch
in Yoio-tholz bei Peine soll die Zugöse sehr weit am Ende des Balkens
O O
sitzen, während sie an einem altertümlichen, vollständig aus Holz bestehen-
den Exemplar, das aus Elze bei Bennemühlen stammt und im Vater-
ländischen Museum von Hannover ausgestellt ist, genau in der Mitte sitzt.
Uberhaupt scheinen Zugrichtung und Bau der Eggen wichtiger zu sein
als das Material, das ursprünglich rein Holz ist und allmählich teilweise
vom Eisen verdrängt wird. — Auch der Unterschied in der Form der
Feldbeete ist wahrscheinlich ethno-geographisch bedingt; für einen Ver-
gleich ist es da selbstverständlich notwendig, nur Gleichartiges nebenein-
ander zu setzen und nicht etwa die Feldform innerhalb eines Weizenfeldes
in Süddeutschland mit der eines Kohlfeldes in Norddeutschland. — Unter
den Erntegeräten haben besonders die Sicheln und Sensen Formen, deren
landschaftliche Verschiedenheit grösser ist als bei den Harken. Für die
Kenntnis der Sensen und Sicheln finden sich ja Beispiele in Menge in
manchen volkskundlichen Museen; doch fehlt eine Karte über die ver-
schiedenen Sensenformen bisher noch durchaus. — Von den Geräten zur
Bearbeitung des Geernteten kämen z. B. Dreschflegel und Kornsiebe
in Betracht. Ihnen schliessen sich die Getreidemasse an. Von diesen ist
der Himten, der zylindrisch ist und in hoher oder flacher Form vorkommt,
anscheinend eine Eigenart von Niedersachsen und seinen Grenzgebieten.
Von der kartographischen Fixierung aller Hohlmasse, Gewichte und Wagen
im deutschen Sprachgebiet verspreche ich mir viel für die deutsche Sach-
Geographie.
Aus der Abteilung Wiesenbau ist hier die Art des Heustapeins zu
erwähnen, in welcher verschiedene Landesteile sehr voneinander abweichen.
Es sei hier nur an die Gubben erinnert, sowie an die zum Trocknen
Aufgaben der deutschen Sach-Geograplrie.
383
des Heus dienenden Gerüste. Diese haben im Allgäu den Namen Heinzen
und bestehen aus einem senkrechten Stock, der wiederholt von zwei wage-
rechten Stäben kreuzweise durchbohrt wird. In Krain heissen sie Harfen
und setzen sich aus zwei senkrechten Pfosten zusammen, welche durch
eine Reihe wagerechter Stäbe verbunden sind.
Für den Obst- und Weinbau hat die sach-geographische Forschung
auch erst einzusetzen. Durch seine grössere Ausdehnung erscheint der
Obstbau wichtiger, durch charakteristischere Gegenstände der Weinbau.
Letzterer umfasst ja in Deutschland räumlich immerhin sehr beschränkte
Gebiete und daher kann die Erforschung seiner Geräte nur über diese
sach-, kultur- und verkehrsgeographische Aufschlüsse geben. Andrerseits
lohnt es sich gerade einmal hier anzufangen, weil die Aufgabe nicht ufer-
los ist. Ausserdem lässt viélleicht gerade das vielfach streifenförmig auf-
tretende Vorkommen der Weingebiete am ehesten Richtungslinien in der
Ausbreitung der Formen der Weinbaugeräte erkennen.
Die Tierzucht können wir für unsere sach-geographische Forschung
in die Zucht von Vieh, Geflügel, Bienen und Fischen einteilen. Bei
der Fischzucht spielt das Netz eine Hauptrolle und mit Recht rückt
Hoffmann-Krayer es in den Vordergrund. Was er an Hauptmerk-
malen angibt, nämlich das Material, die Gesamtforin, die Flechtart, die
Maschenweite, sowie die Flechtwerkzeuge und die Lage- und Zugart werden
sich vermutlich auch in der geographischen Forschung wichtig erweisen.
Über alle diese Einzelerscheinungen sind besondere Karten anzufertigen.
Die sich dort ergebenden Zusammenhänge werden, da sie an die Ver-
breitung der Gewässer gebunden sind, vielleicht zu den dort gegebenen
Verbreitungsfaktoren, nämlich den Talrichtungen und den Wasserscheiden,
in Beziehung treten. Vermutlich werden sich die Seen und die schmaleren
Teile der Meere nicht als trennend, sondern als verbindend und über-
leitend erweisen, wie das z. T. schon für andere ethno-geographische Ge-
biete der Fall ist.
Die Verkehrsmittel teilen wir in solche zu Lande und solche zu
Wasser ein. Zu den ersteren rechnen wir die Schiebe- und Zugkarren,
die Wagen, Kinderwagen und Schlitten. Der Unterschied zwischen den vier-
rädrigen Waçjen und den zweirädrigen grossen Wagenkarren verspricht nach
o O O o
meiner Ansicht, sofern ältere unbeeinflusste Zustände in Betracht kommen,
sach-geographisch sehr wichtige Aufschlüsse. Es ist sehr zu bedauern,
dass eine Karte hierüber noch vollständig fehlt. Auch die Art des Ge-
spanns ist ins Auge zu fassen, und zwar besonders die volkstümliche An-
zahl der Zugtiere, ob ein, zwei oder drei (z. B. die Troika der Russen).
Hier werden wir zu grossen Leitlinien der Volkstums- und Verkehrs-
bewegungen kommen. Nicht zu vergessen sind hier auch die Treibe-
mittel, z. B. Peitsche, Stock und Stachel.
384
Pessler:
7. Volkstümliche Industrie und Handwerk.
Handwerk und Hausfleiss, soweit sie nicht in jedem Haushalt be-
trieben werden, sondern eine Arbeitsteilung voraussetzen, sind, was die
örtlichen Unterschiede der in ihnen verwandten Geräte anbetrifft, noch
nicht Gegenstand eines umfassenden Vergleichs gewesen. Dass hier über-
reicher Stoff vorhanden ist, liegt auf der Hand. Vielleicht empfiehlt es
sich, von den zahlreichen in Betracht kommenden Handwerken (Zimmer-
mann, Tischler, Schlosser und Schmied, Stellmacher, Schlachter, Schneider,
Schuster) eins herauszugreifen und für dessen wichtiges Handwerkszeug
bestimmte Merkpunkte in Deutschland zu untersuchen. Hierdurch ergeben
sich für jedes derselben einige Hauptgebiete, deren genaue Abgrenzung
dann später zu erfolgen hat, indem man die zwischen ihnen liegenden
Grenzzonen genauer untersucht.
8. Die Siedelung.
Von der grossen ethnologischen Bedeutung der Siedelung zu reden,
ist seit den grundlegenden Forschungen von Meitzen und Schlüter
nicht mehr nötig. Dank diesen Porschern sind ja die Hauptgebiete der
Dorfformen und ihre Beziehungen zu den Völkern bekannt; auch haben
sich ihren Landkarten noch manche andere angeschlossen. Als die nächsten
Aufgaben möchte ich die Bearbeitung einzelner politisch geschlossener
Gebiete unter Berücksichtigung auch sämtlicher Nebenformen empfehlen,
wie sie uns Alfred Hennig für das Königreich Sachsen geliefert hat, und
dann Zusammenfassung der Ergebnisse in grossen bunten Karten für den
gesamten deutschen Sprachboden. Wie sehr die Nebenformen neben den
Hauptformen berücksichtigt werden müssen, wenn man ein Bild des Tat-
sächlichen geben will, geht aus der grossen Anzahl von verschiedenen
Ortsformen hervor, die man erhält, wenn man die von den obengenannten
Forschern für Mitteleuropa eingetragenen Dorfformen durch die ausserdem
noch angeführten Formen auf der Hennigschen Karte von Sachsen
und auf der Schliiterschen Karte von Nordostthüringen ergänzt. Nach
der Stärke des Zusammenhangs der verschiedenen Gehöfte innerhalb der
Siedelungen kann man drei Stufen unterscheiden: Streusiedelungen, ge-
lockerte Ortsformen, geschlossene Ortsformen. Zur Streusiedelung
reclinen wir die Einzelhöfe keltischen Ursprungs, die Einzelhöfe andern
Ursprungs, z. B. die durch das Gelände bedingten, und andere Einzel-
siedelungen. Zu den gelockerten Siedelungsformen zählt man die
Reihendörfer, sowohl die mit Marschhufen wie die mit Waldhufen, ferner
das Zweizeilendorf, das Einzeilendorf, die Einreihen-und das Quellreihen-
dorf, dessen Waldhufen meist fächerförmig aufgeteilt sind. Ge-
schlossenere Ortsformen sind einerseits die germanischen Haufen-
oder Gewanndörfer von verschiedenem Grundriss: solche mit rundlichem
Kern, solche ohne erkennbaren rundlichen Kern, Grundriss unregelmässig
Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
385
strahlenförmig, Grundriss geradlinig' rechtwinklig, anderseits das Gassen-
di orf, das echte Strassendorf und das Platzgassendorf als Vorstufe des
Strüssendorfs. Diesen letzteren ist mit den gelockerten Ortsformen des
Reihendorfs die Erstreckung in einer Richtung gemeinsam. Am ge-
schlossensten sind die Runddörfer: der echte Rundling oder das Platz-
dorf sowohl in der Form des Normalrundlings wie des Doppelrundlings,
•der verlängerte Rundling oder die Sackgasse und der zum Gassendorf
umgebaute Rundling oder die Kurzgasse. Die Zuweisung bestimmter
Ortsformen an bestimmte Völker kann im einzelnen erst erfolgen, wenn
alle die aufgeführten Haupt- und Nebensiedelungen für ganz Mitteleuropa
kartographisch genau fixiert sind.
Von anderen Elementen der Siedelung können Strassen, z. B. Moor-
brücken und Knüppeldämme, Burgen und Kastelle, Landwehren und andere
Wälle für die Sach-Geographie älterer Zeit von Bedeutung sein. Hervor-
ragendes Interesse sowohl für die Gegenwart wie für die Vorzeit bean-
spruchen meines Erachtens die Wallhecken oder Knicks, welche be-
kanntlich im Landschaftsbilde Nordwestdeutschlands und Englands
charakteristisch sind. Eine o-enaue Kartieruno- derselben ist um so wich-
O o
tiger, als sie in ihrem Bestände stark vermindert werden. Ein solches
Kartenbild in grossen Umrissen wäre ohne allzugrosse Mühe herzustellen
und würde die von mir vermutete Beziehung von Wallhecken zum alten
Sachsentum ohne weiteres klarlegen.
9. Andere volkstümliche Gegenstände.
Die volkstümliche Überlieferung wird selbstverständlich auch noch in
vielen anderen Beziehungen festgehalten, so bei Sitten und Gebräuchen,
Festen, Spielen, Verkehr und bei den Gegenständen, die mit diesen zu-
sammenhängen. Als Beispiel sei hier nur die Totenbretter-Sitte er-
wähnt, die nicht nur, wie es den Anschein hatte, alt-bajuwarisch ist, son-
dern auch ins Frankengebiet hinübergreift. Die einzige Landkarte über
Totenbretter verdanken wir Frau Andree-Eysn.
Die Spiele und die bei ihnen gebrauchten Sachen sind bislang noch
nicht kartiert. Hier ist es merkwürdig, dass sogar die Spielkarten geo-
graphische Unterschiede zeigen: Die in der Provinz Hannover gebräuch-
lichen französischen Karten treffen im Eichsfelde auf die deutschen Spiel-
karten, und zwar soll, wie man mir gesagt hat, die Grenze zwischen den
Dörfern, deren Bewohner französische Karten gebrauchen, und zwischen
den Dörfern mit deutschen Karten nicht mit der dort verlaufenden Grenze
zwischen den Provinzen Hannover und Sachsen zusammenfallen, sondern
mit der Sprachgrenze zwischen Niederdeutsch und Mitteldeutsch, welche
auf dem Eichsfelde eine Strecke weit südwärts etwas über die Provinzial-
grenze hinausgreift.
Auch die Unterschiede in der Hi lie bille, dem Schlagholz, könnten
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 4. 25
386
Pes8ler: Aufgaben der deutschen Sach-Geographie.
vielleicht geographisch betrachtet werden; einmal scheint sie als eine Art
Musikinstrument bei Hausrichten zu dienen, auf der andern Seite ist sie
das bekannte Lärmsignal.
10. Die sach-geographische Forschuug in ethnologisch besonders
wichtigen Bezirken.
Die Erforschung der volkskundlichen Kealien gewinnt besondere Be-
deutung einerseits in Grenz- und Mischgebieten, einerlei, ob deren ethno-
logische Verhältnisse von vornherein klar sind oder nicht, andererseits in
Volkstumsinseln, die nach Gründungszeit und Ausdehnung genau bekannt
sind, und dieses beides aus ganz verschiedenen Gründen. Die ersteren,
die Grenzzonen, in denen zwei Elemente sich begegnen, sich örtlich
mischen und sich daneben zu neuen Formen vereinigen, beanspruchen
selbstverständlich grosses Interesse; eine wichtige Forderung für die Zu-
kunft scheint mir hier, die sich begegnenden Typen alle beide, jeden für
sich bis tief in das andere Gebiet hinein, zu verfolgen, indem man z. B.
nicht nur den mitteldeutschen Bauelementen im grossen Gebiet des Sachsen-
haustypus, sondern auch dem altsächsischen Baueinfluss nach Mitteldeutsch-
land hinein nachgeht bis dorthin, wo auch nicht mehr das geringste Kenn-
zeichen von ihm zu finden ist. Der Kartographie erwächst durch die
Darstellung dieser Verhältnisse eine besonders dankbare Aufgabe.— Eine
ganz andere Seite der Yolkstumswissenschaft wird durch die Untersuchung
jener Stammeseinschlüsse und -ausschlüsse berührt, welche in neuerer Zeit
durch Übersiedelung entstanden sind, deren Zugehörigkeit zu einem be-
stimmten Volkstum also genau bekannt ist. Hier ist möglichst der ge-
samte sachliche Besitzstand der eingewanderten Bevölkerung im ganzen
Umfang der'Sprachinsel festzustellen und dann sowohl mit dem des um-
wohnenden Stammes wie mit dem in der alten Heimat der Kolonisten
genau zu vergleichen. Wir haben dann in diesem Falle einmal die Ge-
legenheit, auf ethnologische Rückschlüsse von der Sache auf das Volkstum
verzichten zu können und beide Elemente als bekannte miteinander in
Beziehung zu bringen. Vielleicht nimmt sich in dieser Hinsicht die Sach-
forschung einmal folgender Bezirke an: die 1732 gegründeten Kolonien
der Salzburger Protestanten in Ostpreussen; die seit zwei Jahrhunderten
bestehenden Waldenser Kolonien im westlichen Württemberg; die nieder-
deutschen Kolonien in den jütischen Gebieten Nordschleswigs.
11. Die Bedeutung der deutschen Sach-Geographie für die deutschen
Vol kskundemuseen.
Die Erforschung der sachlichen Volkskunde vom geographischen Stand-
punkte aus hat für alle Volkskundemuseen einen doppelten Wert, nämlich
einen wissenschaftlichen und einen praktischen. In rein wissenschaft-
licher Hinsicht gibt die Sach-Geographie erstens räumliche und völkische
v. Preen: Der Oberinnviertler.
387
und damit ursächliche Zusammenhänge, und ferner ein übersichtliches Bild
des Tatbestandes. Beides wird durch Landkarten zum bedeutend schärferen
Ausdruck gebracht, und darin beruht der ungeheure wissenschaftliche Wert
der Landkarte.
Die praktische Bedeutung der Sach-Geographie für die Museen liegt
vorwiegend in zwei Punkten; denn einmal hängt die erschöpfende Aus-
wahl aller typischen Formen für die museale Vorführung in Modellen,
Abbildungen usw. selbstverständlich unmittelbar von dem jeweiligen Stande
der sach-geographischen Forschung ab; andererseits vermitteln die im
Museum ausgehängten geographischen Karten ein besseres Verständnis der
Modelle und sind auch, für sich betrachtet, höchst anziehende Studien-
objekte für den Museumsbesucher.
Hannover.
Der Oberinnviertler.
Von Hugo v. Preen.
(Mit 7 Abbildungen1).)
Dem Besucher der Königlichen Sammlung für deutsche Volkskunde
in Berlin dürfte meine Sammlung aus dem oberen Innviertel nicht un-
bekannt sein. Die dort aufgestellten Gegenstände stammen fast alle aus
einem von Salzach, Inn und Kobernausener Wald eingeschlossenen Stück
Land, im Mittelalter Mattiggau genannt. Ich glaube nicht fehlgegriffen
zu haben, wenn ich über die Charaktereigenschaften der aus bajuwarischen
Bewohnern dieses seit über hundert Jahren unter österreichischer Herr-
schaft bestehenden, vom Weltgetriebe entfernten Landstriches einiges be-
richte und diese Arbeit als erwünschte Ergänzung und gleichsam Illustration
meiner Sammlung betrachte. Es handelt sich hier um ein Völkchen, das
uns schon im Mittelalter durch das Epos 'Meier Helmbrecht' bekannt ist.
Die älteste Fassung spielt in unserer Gegend, und wer sie aufmerksam
gelesen, Land und Leute sich angesehen hat, muss zugeben, dass dies
Volk noch 'genau dasselbe ist mit seinen guten und schlechten Eigen-
schaften, wie es in dem Gedicht uns geschildert wird.
Wenn der Leser für dies Land, seine Bewohner, seine landschaftlichen
lieize, seine kulturelle und geschichtliche Vergangenheit etwas übrig hat,
tut er gut, sich Braunau am Inn als Ausgangspunkt zu seinen Wande-
rungen zu wählen. Um nun von da aus das einem Garten gleichende
1) Die Abbildungen 1, 3, 4, 6 und 7 nach Gemälden des Verfassers, 2 und 5 nach
Photographien.
25*
388
v. Preen:
Mattigtal und die Gregend Inn und Salzach aufwärts bis Burghausen, der
ehemaligen bayerischen Herzogsresidenz, zu durchstreifen, darf man nicht
vor den schlechten Verkehrswegen zurückschrecken und sich nicht voi-
der zum Teil sehr mangelhaften Verpflegung an manchen Orten fürchten.
Braunau am Inn, bekannt durch seine gotische Kirche mit herrlichem
Turm und die Erschiessung des Nürnberger Buchhändlers J. Ph. Palm
1806, ist wie gemacht als Ausgangspunkt für Ausflüge verschiedener Art.
Besonders für Freunde feinerer Naturschönheiten, der Vorgeschichte und
Geschichte sind die Spaziergänge in der nächsten Umgebung sehr emp-
fehlenswert. Gleich nach Verlassen des alten Festungsstädtchens berühren
wir bei meinem Besitztum Osternberg, durch seine grosse Esche bekannt,
prähistorischen Boden. An Forellenweihern entlang gehend erreicht man
bald die frühere karolingische Pfalz, das spätere Augustiner-Stift Rans-
hofen, dessen Sehenswürdigkeiten man vor 2 oder 3 Stunden nicht leicht
erledigen kann. Unweit von dieser alten Kulturstätte nehmen die grossen
Forste Weilhart und Laach ihren Anfang, die uns eine Menge Gräber
aus den verschiedenen Zeitabschnitten und andere Denkmäler aus der
vor- und nachrömischen Zeit bewahrt haben. Nicht nur die Salzach- und
Inngegend, sondern auch das Mattigtal brachte uns namhafte Funde, unter
die in erster Linie der Uttendorfer Goldfund, den ich 1885 einem
Hallstattzeitgrab entnahm, zu rechnen ist.
Das Land steigt ungefähr 3 Stunden stufenförmig an bis zu dem
schwachen Höhenrücken Adenberg, der den Anfang einer bis zu den
Salzburger Vorbergen sich hinziehenden Hügelreihe macht und uns einen
umfassenden Ausblick gerade auf die Gegend gestattet, von der in diesem
Aufsatz die Hede sein soll.
Überall, wohin das Auge schweift, sehen wir üppige Felder, darin wie
Oasen stattliche, von Obstbäumen eingeschlossene Höfe, ab und zu alte
Dorfkirchen mit ihren teils spitzen, teils zwiebeiförmigen Türmen, Gast-
häuser, Kapellen, alte Linden, kleine Täler mit üppigen Wiesen und alten
Eichen, alles begrenzt gegen den Horizont mit Wäldern und Höhenzügen
der Flussläufe Salzach, Inn und Mattig, im Süden überragt von den
markigen Linien der Salzburger Alpen. Am westlichen Abhang des
Adenbergs liegt das Kirchdorf Gilgenberg am Beginne einer kleinen
Schlucht. Den Platz vor der freigelegenen alten Kirche zierf eine alte
Linde, unter der in alten Zeiten Recht gesprochen ward. Unweit davon
gegen Norden im sog. Revier Gilgenberg hat man die Helmbrechtshöfe
und den dazugehörigen im Epos genannten Brunnen zu suchen. Ober-
lehrer M. Schlickinger gebührt das Verdienst, die Lage der Helmbrechts-
höfe richtiggestellt zu haben. Diese Gegend zog mich von jeher an,
nicht nur die Landschaft mit ihrem romantischen Hintergrund, sondern
auch ihre Bewohner, deren urwüchsiges Wesen auf Maler und Volks-
7 o
kundler Eindruck machten. Diese meine Bestrebungen fanden reiche
Der Oberinnviertier.
389
Unterstützung durch den Gasthofbesitzer und Feuerwehrobmann J. Hirsch-
linger, dessen Anregung wir es auch zu verdanken haben, dass im Jahre
1882 die ersten Ausgrabungen hallstattzeitlicher Gräber am Gansfuss unter
meiner Leitung unternommen werden konnten.
Städte und Märkte mit ihren Zerstreuungen üben eine grosse An-
ziehungskraft auf den Landbewohner aus, und es sind hauptsächlich die
Orte Braunau, Obernberg am Inn, Altlieim, Mauerkirchen, Mattighofen und
Ried, die der Bauer gerne mit seinem Besuche beehrt. Salzburg und
Linz gilt hierzulande schon als eine Reise. Diese Orte, so verschieden
sie im Bilde auch wirken, sind doch in ihrer Gesamtanlage dem Muster
Salzburgs nachgebildet, avo welsche Baumeister stets ihren Einfluss geltend
gemacht haben. Der Hauptplatz der Landorte gleicht einer breiten
Strasse, wo die Märkte abgehalten werden. Vom Platze laufen kleine
Gassen mit ländlichen Haustypen aus, die jetzt leider immer mehr ver-
schwinden. Die Häuser, teilweise mit Erkern versehen, sind freundlich
und behaglich, die Fenster mit Blumen geschmückt. Zum Hauptplatz
gehört die Kirche sowie die vielen, in verschiedenen altertümlichen Stil-
arten gebauten Gast- und Bräuhäuser, Kaufgewölbe, Brunnen und andere
öffentliche und private Gebäude. Das Schulgebäude, das noch vor hundert
Jahren in den meisten Dörfern und Märkten aus einem Holzhause länd-
lichen Stils bestand, steht jetzt häufig ausserhalb des Ortes. Seine
nüchterne Bauart schlägt den heimatlichen Bestrebungen der Neuzeit
geradezu ins Gesicht und ist mit dem Bahnhofsgebäude und Neubauten
reich gewordener Bürger auf gleiche Linie zu stellen.
Wenn ich über den Charakter des Oberinnviertiers hier berichte,
muss ich vorausschicken, dass ich hauptsächlich den Bauernstand im Auge
habe, denn gerade bei diesem hat sich Art und Sprache der Yorzeit am
reinsten bewahrt. Der Bauer lebt auf seinem stattlichen Hofe wie ein
König in seiner Residenz. Der Hof, meist im Viereck gebaut, besteht
aus vier einzelnen Gebäuden, dem Wohnhaus, Pferdestall, Kuhstall und
Scheune, die durch hölzerne Tore abgeschlossen sind. Den Hauptplatz
im Hofe nimmt der Misthaufen ein, ein beliebter Sammelplatz der Hühner,
Enten und Schweine. Nicht so gut wie diese hat es der Hofhund, der in
den seltensten Fällen bei Tag seine Freiheit geniesst, erst am Abend nach
Torschluss wird er von seiner Kette befreit. Ausserhalb des Hofvierecks
in unmittelbarer Nähe steht das Austraghaus, bestimmt für die alten in
Ruhe gesetzten Hofbesitzer. Auch sehen wir häufig das Backhaus ausser-
halb und hie und da die Hauskapelle, wenn sie nicht in einer Nische
an der Aussenmauer der Stallung angebracht ist. Yor dem Wohnhause
am rückwärtigen Ausgang unweit des Hausgärtchens ist die grosse Bank,
der Heimgarten genannt, der Versammlungsort der Hausbewohner und der
Nachbarn nach Feierabend. Im Winter spielt sich in der Bauernstube
das ganze häusliche Leben ab; da werden am grossen, gediegenen Bauern-
390
v. Preen:
tisch unter dem Herrgottswinkel die Mahlzeiten eingenommen, die Hand-
arbeiten verrichtet, die Handwerker schlagen in diesem Raum ihre Werk-
statt auf, um für Geschirr, Schuhe und Kleider zu sorgen, und abends
Abb. 1. Männertracht. Eigentum des Deutschen
Schulvereins in Wien.
Abb. 2. Bäuerin mit Riegelhaube
(Trauertracht)*.
Obesíisíerf. fi'äd»!cnivivkT
Ob Inn viertel !<S20
wird geplauscht, gespielt, gesungen und manchmal der Jugend Tanzstunde
erteilt.
Bei meinen häufigen Wanderungen ins Innere des Bezirks habe ich
noch die herrlichen alten Holzbauten, die aus Fachwerk gezimmerten
Scheunen mit den bemoosten Strohdächern, die malerischen Balkone,
Abb. 3. Mädchen in ! Eigentum des Deutschen
, Schulvereins in Wien.
-L anztraeüt.
W
Oberòsterr. Tra.htctibiiäcr
Mattigthal und Umgebung 1850 •
Abb. 4. Burschen- Eigentum des Deutschen
, . Schulvereins in Wien.
tracht,
Der Oberinnviertier.
391
Schrot genannt, die mit ihren gefälligen Formen die Hofseite der Bauten
schmückten, gesehen und alles Zierwerk am Gebäude gezeichnet1).
Damals hatte ich noch vielfach Gelegenheit, die behaglichen Stuben
mit der altertümlichen Ausstattung, dem grossen Stubenofen mit der
'Holl' (warmer Sitz hinter dem Ofen für die Alten) zu bewundern. An
diesen schloss sich der Herd in der sogenannten 'Küchel' an, von wo aus
auch der rückwärts angebaute, aus einem Lehmgewölbe bestehende Back-
ofen geheizt wurde. Alles, was man da an Geräten aus Eisen, Kupfer,
Holz und Ton erblickte, machte den Eindruck grösster Gediegenheit, ge-
paart mit geschmackvoller Formengebung. Ein Blick in die Vorrats-
kammer zeigt uns den Milchwirtschaftsbetrieb, und einer in die schönen,
bemalten Kisten und Truhen in der guten Stube, die sich im oberen
Stock befindet, den Reichtum an selbstgesponnener Leinewand, Kleidungs-
stücken der Besitzer und Schmuck der Bäuerin. Alles war auf lange
Dauer berechnet, die schön ausgenähte lederne Hose, das Prachtstück des
Grossvaters, trug der Enkel noch werktags viele Jahre hindurch, und
dasselbe gilt bei den weiblichen Bewohnern mit ihren Röcken, von denen
die Staatskleider, der seidene Rock, stets ein ganzes Leben aushalten
mussten. Jetzt hat der Bauer kein Geld und wohl auch keine Lust, sich
auf lange Dauer mit Kleidungsstücken zu versehen. Auch hier ist die
Mode, die allmächtige, wenn auch nur dem Bauerngeschmack entsprechend,
die unbedingte Herrscherin, und der Bauer bringt es nicht über sich, hier
gegen den Strom zu schwimmen. Noch in meiner Jugend bestand die
Männertracht aus langem Schossrock mit Silberknöpfen, langer oder kurzer
Lederhose, Sammetweste, breitkrämpigem schwarzen Filzhut mit Quaste,
silberner Uhrkette und silberbeschlagener Pfeife und dem langen Eichen-
stock (Abb. 1). An Sonn- und Feiertagen beim Kirchgang versammelte
sich alt und jung auf dem die Kirche umgebenden, von einer Mauer
eingefriedeten Gottesacker, die Bäuerinnen (Abb. 2) angetan mit der Pelz-
haube, Ohrelhaube genannt, darunter das schwarze, seidene Kopftuch, wie
es jetzt noch getragen wird, häufig auch mit der sogenannten Linzer
Goldhaube, die den Trägerinnen ein stattliches Aussehen gab und prächtig
zu den schillernden Seidenkleidern passte. Die Dirndeln, denefc das
lange, schwarzseidene Kopftuch weit über ihre bunten Kleider reichte
(Abb. 3), standen, die Hände über das Gebetbuch und Taschentuch ge-
faltet, beiseite, hie und da Blicke zu den in Gruppen geordneten Burschen
werfend. Die männliche Jugend in Lederhosen, Rohrstiefeln, kurzen
grellfarbenen Jankern, bunter Weste und kleinem, kecksitzendem Filzhut,
langem Raufstecken, Nelken hinter dem Ohr (Abb. 4), erwiderte die
Zeichensprache der ländlichen Schönen.
1) 140 Nummern Bauernhausverzierungen besitzt von mir die Sammlung des Vereins
Alt-Braunau.
392
v. Preen:
Wenn wir über den Menschenschlag- etwas sagen sollen, so ist das
nicht so einfach, als man am Anfang glaubeil mag. Wir finden hier
grosse blonde, blauäugige Gestalten mit kräftigen, zum Teil gebogenen
Nasen, und daneben wieder gedrungene, dunkle Leute mit braunen Augen
und kleinen Nasen (Abb. 5 — 7). Yon einem durchgängig schönen Menschen-
Abb. 5. Typus eines Mannes in mittleren Jahren.
schlag dürfen wir nicht reden, was natürlich nicht ausschliesst, dass
wirklich schöne und feine Gesichter nicht selten zu finden sind. Vor-
herrschend stossen wir auf sogenannte Langgesichter bei mesokepiialer
Schädelform.
In den zu den Flussläufen gehörenden Gebieten ist der schotterige
Boden vorherrschend, in den höhergelegenen stark lehmig, und schwere
Böden treten an Stelle der sterilen des Flachlandes. In den Tälern finden
Abb. 6. Älterer Bauer.
Abb. 7. Altere Bäuerin.
Der Oberinnviertier.
393
wir dank einigermassen guter Pflege die fruchtbarsten Wiesen. Das
Klima weicht von dem in dem Gebirgsvorland nicht ab; Fröste im Mai
und im Spätherbst sind unbeliebte Gäste. Die Kälte erreicht selten
18° R., und der Schnee bedeckt kaum zwei Monate lang die Erde. An
Fruchtgattungen gedeihen gut: Roggen, Weizen, Hafer, Gerste, Flachs
und Buchweizen, der aber selten mehr gebaut wird. Von Mischfrucht
nennen wir Kartoffel, Kraut und Rüben. Die Obstzucht ist im Verhältnis
zu anderen Ländern zurück, die Äpfel und Birnen werden zu Most und
Dörrobst im Haus verarbeitet, der Rest an den Händler verkauft.
Die grossen Waldkomplexe Weilhart, Laach und Kobernausserforst
sind mit geringen Ausnahmen in Privathänden, nur einzelne Bauern be-
sitzen Stücke in diesen Wäldern, die durch Ablösung der Forstrechte
ihnen zugesprochen wurden, oder bei Yerkauf der ärarischen Wälder in
ihre Hände kamen. Die Jagden sind in erster Linie den Grossgrund-
besitzern eigen, dann den Gemeinden, welch letztere sie an grössere
Jagdherren verpachten oder auch an jagdlustige Bauern oder Private.
Vorherrschend ist die Rindviehzucht, die trotz mangelhafter staat-
licher Hilfe gedeiht, aber noch ganz anders betrieben werden könnte.
Ausserdem finden wir Pferdezucht und Schweine, vereinzelt Schafe; auch
Bienen gehören wie das Kleinvieh zu jeder Hauswirtschaft. Was die
Fischzucht anbelangt, so unterscheiden wir die Fluss-, Bach- und
Weiherfische. Die Flüsse mit den Altwässern liefern Hechte, Huchem
Aschen, Schleie, Barben usw , die Weiher und Bäche schöne Forellen, die
in den herrlichen Wässern prächtig gedeihen.
Am häufigsten treffen wir die Brauereien, Ziegeleien, Mühlen,
Schmieden (im Mattigtal alte Sensengewerke), Ledereien, Maschinen-
reparaturwerke, Torfstiche usw. An grossen Industrien ist gerade unsere
Gegend recht arm, dieser Mangel aber bewahrt den Bewohnern ihre
Eigenart und stört sie nicht in dem Bewusstsein, die Herren im Lande
zu sein.
Der Besitz wird in verschiedene Grössenklassen geteilt. Die Schlösser
verfügen über ein durchschnittliches Flächenmass von 200—400 ha, die
Brauereien und Gutsbesitze 50—100 ha, Bauernhöfe 20—40 ha, Sölden
2—3 ha und Häuseln 1/2 ha. Am häufigsten ist der sogenannte mittlere
Bauer vertreten, der über 15— 20 ha verfügt.
Um nicht weitschweifig zu werden, gebe ich hier nur kurz das wich-
tigste geschichtliche Material, das ich zur Charakteristik der Bewohner
für notwendig halte:
Die ersten Bewohner der Gegend vom 4. Jahrhundert an gehörten zum
norischen Volksstamm, der bis heute noch zum Keltenbereich gerechnet wird.
Im Jahre 15 v. Chr. fielen Norikum und damit auch die Gebiete der Salzach, des
Inns, der Mattig und der Ache an die Römer. Durch nahezu 500 Jahre haben sie
das Land zwischen Inn und Donau beherrscht, Städte und Kolonien gegründet
394
v. Preen:
und das Yolk für römische Sitte und Kultur gewonnen. Von 454 an erscheint
der hl. Severin, und es beginnt unter dem hl. Valentin von Passau aus und unter
dem hl. Rupert von Salzburg aus die Christianisierung eines Teiles unserer
Gegend. Nach 49G erfolgen die Einfälle der Alemannen, Thüringer und Heruler.
Um 488 verlassen die Römer das Land und überlassen es 490 den Ostgoten.
Nach Theoderichs Tode nehmen die Bajuvaren das von letzteren verlassene Land
in Besitz. Im Jahre 743 bekriegen Karlmann und Pipin den Herzog Odilo und
bemächtigen sich des Landes. Zwei Jahre später wird Odilos Sohn Tassilo von
König Karl entthront. Nach den Kämpfen mit den Ungarn erstand das Herzogtum
Bayern wieder, und nun begann mit der Wiederkehr der Ruhe kulturelles Leben.
Zu gleicher Zeit nahmen auch die sogenannten Landadligen zu, die, ursprünglich
freie Bauern, dann fürstliche Dienstmannen wurden. Durch Verleihung der
Gerichtsbarkeit an privilegierte Herren und die Abnahme der Zahl der Freien
verfiel die alte Gauverfassung und es bildeten sich Komitate, die nachmaligen
Landgerichte (1002). — Die Zeit der Reformation ging nicht gerade spurlos an
dem Lande vorüber, hinterliess jedoch keine wesentlichen Eindrücke im Volke.
Während in den Gegenden um Wels und an der Donau die Folgen des Bauern-
aufstandes für Jahrhunderte eine blühende Kultur vernichteten, blieb in unserem
Viertel so ziemlich alles beim alten. Da nur wenige der Ketzerei wegen aus-
wandern mussten, war man hier nicht genötigt, wie im benachbarten Herzogtum
Österreich ob der Enns, Schwaben und Oberpfälzer in den verödeten Landstrecken
anzusiedeln. Die Bevölkerung blieb daher bayrisch, obwohl eine Mischung von
grossem Vorteil für sie gewesen wäre. Im Jahre 1779 trat Bayern das obere
Innviertel an Österreich ab. Leider hatten die unter dem ideal angelegten Kaiser
Josef eingeführten freiheitlichen Einrichtungen keine lange Dauer. Erst 1848
wurden durch die Aufhebung der Untertänigkeitsverhältnisse und der Patrimonial-
gerichtsbarkeit halbwegs bessere Verhältnisse geschaffen. Im Jahre 1853 begann
die Ablösung der Forstrechte, die 1857 beendet ward.
Ehe ich den Hauptteil meiner Abhandlung beginne, führe ich
J. Wimmer an, dessen Worte auch auf den Innviertier Anwendung finden1):
„Das Abgeschlossensein in Einöden verursachte im Laufe der Zeiten den Ein-
druck des Zurückhaltens — Versteckten — Heimlichen, welches sich erst
dann ändert, wenn der Gegenstand des Verkehrs ein etwas bestimmterer
geworden ist. Gerade in diesem Abgesonderten müssen wir den Haupt-
grund seiner Charaktereigenschaften sehen, die ihn von anderen unter-
scheiden." Ehe ich ferner auf unseren Bauern näher eingehe, möchte ich
noch ein Urteil eines Mannes erwähnen, der am Anfang des 19. Jahr-
hunderts in Niederbayern lebte2), einem Volksstamm, zu dem auch unsere
Leute gehören. Wenn auch stark pessimistisch gesehen, mag doch im
grossen und ganzen das Urteil für die damalige Zeit Geltung gehabt
haben, und wir sehen daraus, dass sich im Laufe der Zeit der Charakter
wesentlich bessern konnte. Er gibt als Charakterfehler an: „Furchtsam-
keit, Misstrauen, Falschheit, Ungeselligkeit, abstossendes Wesen, Stolz,
1) J. Wimmer, Die sozialen und volkswirtschaftlichen Zustände im Landgericht
Eggenfelden, Niederbayern, 1862.
2) Töni-Herbertsfelden über die Rottaler in Niederbayern.
Der Oberinnviertier. 395
Prachtliebe, Wollust, Religiosität im Ausserlichen ohne festen Glauben
und ohne Tugend, denen nur die folgenden guten Eigenschaften gegen-
überstanden: Treue, Willigkeit, Friedfertigkeit und Dienstgefälligkeit.
Heutzutage bestätigen manche Ausnahmen doch die Regel des besseren
Gegenteils." Seine guten Eigenschaften sind ja dieselben seiner Stammes-
brüder, der Germanen, die sich durch Ehrlichkeit, Pflichterfüllung, Recht-
lichkeit usw. weit über die anderen Nationen erheben.
Zum Teil noch Nachkommen der freieigenen Leute, sitzen die jetzigen
Hofbesitzer wie Zaunkönige auf ihrem Eigentum, nach wie vor strenge
Hausordnung haltend. Die rohen Sitten vergangener Jahrhunderte und
die ungleiche Rechtsbehandlung früherer Zeiten haben zum grossen Teil
aufgehört, die alles glättende Neuzeit hat auch hier bis in die kleinste
Hütte ihren Einfluss geltend gemacht. Das Verhältnis zwischen Brotherrn
und Dienendem ist ein anderes geworden, ohne aber die alte äussere Form
eingebüsst zu haben. Der Bauer behandelt seine Dienstboten wie Ge-
hilfen. Mit dem 'Drangeid' wird der Dienstvertrag besiegelt, den beide
Teile zu halten für recht finden. Die Bauersleute sorgen, so gut es ihnen
möglich ist, für ihre Ehalten (Dienstboten). Den Befehl führt der Mann,
wenigstens nominell, während der Frau in der Hauswirtschaft die weib-
lichen Mitbewohner zu folgen haben. Die Kinder stehen nach ÄTerlassen
der Schule, insofern sie auf dem Hofe beschäftigt werden, im richtigen
Dienstverhältnis; nur da, w7o der Bauer und die Bäuerin sich sehen lassen,
nehmen die Kinder den Platz bei der Familie ein. Die Wohltätigkeit
spielt eine grosse Rolle, und es werden oft grosse Anforderungen an den
Besitzer von Grund und Boden gestellt, die er auch ohne Murren erfüllt.
Es ist für manchen ein Glück, dass er nicht jeden Kreuzer notiert, den
er für Bettelsammlungen für Abgebrannte, kirchliche Zwecke und was
noch alles an ihn herantritt, ausgibt, es würden ihm, wenn er die Ge-
meinde-, Staats- und Landabgaben dazureclinet, die Haare zu Berge stehen.
Unglücksfälle verschiedener Art, wie es das Geschäft mit sich bringt,
können die Leute nicht niederdrücken, sie sind es gewohnt und helfen
sich mit Humor darüber hinweg. Sehr empfindlich trifft sie der Verlust
irgendwelcher Tiere, und man möchte behaupten, fast mehr als das Ab-
leben der Bäuerin, wenigstens wird dies durch folgenden boshaften Aus-
spruch gekennzeichnet: „Ross verrecken, das gibt Schrecken, Weiber-
sterben kein Verderben." So ernst darf man das aber nicht nehmen;
wenn der Bauer auch bald nach dem Tode seiner Frau wieder an Ersatz
denkt, âo trauert er doch seiner Bäuerin nach und weiss ihre guten Eigen-
schaften hervorzuheben.
Roheit Tieren gegenüber findet man selten, wie das bei den süd-
lichen Völkern, besonders bei den Welschen der Fall ist; sieht man aber
trotzdem beim Viehtrieb derartige Dinge, so sind sie meist von den
396
v. Preen:
städtischen Metzgerknechten ausgeübt worden. — Die bäuerliche Familie
hat in ihren Grundzügen viel Ähnlichkeit mit der fürstlichen, beide hei-
raten aus Nützlichkeitsgründen, selten aus Neigung. Der Bauer, der auf
Festigung, Vermehrung des Besitzes und auf Einfluss sieht, sucht sich
sein Ehegespons aus den Reihen seinesgleichen, übersieht dabei aber
keineswegs die wirtschaftlichen Eigenschaften. Das Sprichwort, nach dein
der Bauer freit, heisst: „Was hat sie, was kann sie?" Gar nicht selten
sind solche Ehen, die, aus Vernunft geschlossen, sehr glückliche geworden.
Für den Bauern ist sein Besitz, die stattliche Hofstatt, das Höchste,,
um das sich alles dreht, und auf einen schönen 'Zügl', d. h. Viehstand,
Wagl und Ross, blank und blitzend aufgeputzt, setzt er seinen Stolz und
protzt überall damit.
'Hat der Bauer voreheliche Kinder, so wird das nicht als Schande
empfunden, er sorgt für diese und nimmt sie des öftern auch an Kindes-
statt an. Die nicht erbberechtigten Geschwister des Bauern dienen an
anderen Orten oder erwerben sich ein kleines Grundstück mit Haus, um
selbständig dazustehen; nur ungern verlassen sie die Heimat, weil sie sich
nirgend wohler als zu Hause fühlen.
Die Nahrung der Bewohner kann man nicht gerade schlecht nennen,
sie ist auch nicht besonders üppig. Der Hauptwert wird auf Fett gelegt,
und zwar auf gutes Fett, auch sieht man darauf, dass es an der Menge
der einzelnen Gerichte nicht fehlt. Am Morgen um 6 Uhr gibt es ein-
gekochte Suppen, das Mittagessen um 11 Uhr besteht aus Speck oder
Fleischknödeln in der Suppe, dazu kommt Sauerkraut, als Getränk Most.
Um 3 Uhr, die sogenannte Brotzeit, je nach der Jahreszeit, Brot mit
Rettichen, Salat, Rahnen, Topfenkäse und Most dazu. Abends um 6 Uhr
liebt man sehr im Rohr gebackene Nudeln, 'Buchteln', mit Milch oder
Dörrobst, auch an manchen Orten Kartoffeln, die überhaupt eine Haupt-
nahrung bilden. Zu allen Gerichten liegt das schwarze, gute, stark ge-
säuerte Bauernbrot auf dem Tisch. An Sonn- und Feiertagen spielt die
Kaffeesuppe mit viel Frankkaifee zum Frühstück eine Hauptrolle, während
mittags Braten oder Geräuchertes und Gebackenes, die landesüblichen
Kücheln, auf den Tisch kommen. An den sogenannten Heiligen Zeiten
schwelgt die Bevölkerung in den verschiedenen Arten von Schmalz-
gebackenem, bestehend aus Hollerstrauben, Brennesselstrauben, Hini-
bafösen, Griessschnitten usw., zudem erhalten sie Bier, welches ihnen auch
beim Heuen, Ernten und Dreschen gewährt wird.
Zum Schluss noch einiges über die Sitzordnung der Hausbewohner
bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Den äussersten Platz am Tisch, vom
Herrgottswinkel aus nach rechts, nimmt der Bauer ein, links au ihn, zum
Herrgottswinkel zu, reihen sich die Knechte an, und links auf der einen
treien Bank die Mägde, von denen eine so sitzt, dass sie leicht, ohne jemand
zu belästigen, ihren Sitz verlassen kann, um die Speisen aufzutragen.
Der Oberinnviertier.
397
Am Herd hantiert die Bäuerin, sie isst nur in den seltensten Fällen mit
i\m Tisch, weil sie am Ofen zu schaffen hat, und verzehrt ihr Mahl auf
der Ofenbank. Erhält der Bauer Besuch, so bekommt dieser das, was
gerade im Hause ist, aufgetragen, wobei Most oder Flaschenbier nicht
fehlen dürfen. Die Bauersleute sitzen abseits und warten darauf, dass sie
•der Gast einlädt mitzuhalten. Wenn ein Gast, sei er wer er sei, das an-
gebotene Essen ablehnt, so gilt das als Beleidigung.
Was über Kindererziehung zu sagen ist, besonders über die Be-
handlung der Säuglinge, gehört nicht zu dem Erfreulichen; denn hier ist
die sogenannte Gute alte Zeit mit all ihrem schädlichen Aberglauben und
ihrer Unwissenheit noch in ihrem Recht. Nur selten glückt es dem
menschenfreundlichen Arzt, eine vernünftige Art der Kin derb eh an dlun g
durchzuführen. Ist ein Kind von Natur nicht aussergewöhnlich kräftig
veranlagt, so erliegt es der törichten Behandlimgsweise. Die Gevatterin
tröstet dann die Mutter mit den Worten: „Es hat es jetzt gut, es ist ein
Engerl geworden". Schon sehr früh sehen die Eltern darauf, dass die
Kinder in der Hauswirtschaft sich beschäftigen, sie wachsen frisch auf
und werden nicht wie die Stadtkinder der Reichen unter einen Glassturz
gestellt, sie lernen sich in jeder Lage richtig benehmen und schützen sich
selbst vor Gefahr. Dann wird die Volksschule im Dorfe besucht, die
heutzutage viel leistet, aber von den Eltern nicht, wie sie es verdient,
geschätzt wird. Der Lehrer, dem durch die übermenschenfreundlichen
Vorschriften die Hände gebunden sind, hat mit den unbotmässigen
Schülern, denen das Lernen und Folgen im Gegensatz zu dem freien
Leben auf dem Hofe nur zu schwer fällt, oft seine liebe Not. Mit den
Dirndeln ist der Lehrer viel zufriedener, sie fassen schneller auf, lernen
schneller als die Burschen, und er. braucht nicht so viel von den Eltern
Versäumtes nachzuholen. Über die Wahl des Berufes wird nicht viel
nachgedacht, der Älteste übernimmt nach der Übergabe den Hof, und die
anderen Geschwister treten entweder zu Hause oder sonstwo in den Dienst.
Ist einer vom Geistlichen ausersehen, wegen seines 'guten Kopfs7 zu
studieren, so hat die Familie nichts dagegen, wenn er 'geistlich wird',
-denn es bringt ja immerhin den Eltern Ehre und Ansehen. Besonders
lieb ist es der Mutter, die in ihrem geistlichen Herrn Sohn einen Für-
sprecher im Himmel hat.
Auf Familienfeste wird viel gehalten, als da sind Taufen, Firmung,
Hochzeiten, Primizen und zu guter Letzt auch die Beerdigungen. Der prak-
tische Egoismus der Bauern hat sich auch diese, Taufe, Kommunion und
Firmung zunutze gemacht, indem er streng darauf sieht, dass zu Paten
nur vermögende und einflussreiche Persönlichkeiten gewählt werden. Bei
Hochzeiten entfaltet sich der ganze Stolz der Bauernfamilie, und hier wie
auch bei den Beerdigungen wird auf grossen Zuspruch gesehen, da hier-
nach das Ansehen der Familie in der Öffentlichkeit beurteilt wird. Be-
398
v. Preen:
sonders bei Beerdigungen lässt sich der Bauer durch seinesgleichen nicht
gerne in den Schatten stellen und ist sehr unangenehm berührt, wenn
die Kosten geringer gestellt werden, als bei den anderen Bauern mit
gleichem Besitz. Sein Standesbewusstsein zeigt sich also hier auch wieder
in protziger Art.
Naht bei den Alten der Zeitpunkt des Abtretens vom Hof, so be-
merkt das der erbberechtigte Sohn schon früher, als es den Alten lieb ist,
denn nur ungern geben sie die Zügel der Regierung aus den Händen.
Tritt aber der Fall ein, so sorgt schon das ruhebedürftige Ehepaar, ehe
es das 'Zuhaus1 oder eine im benachbarten Markt gemietete Wohnung
bezieht, für einen reichlichen 'Austrag', den der Nachfolger zu leisten
hat. Der Bauer denkt in diesen heiklen Angelegenheiten seinen Kindern
gegenüber sehr praktisch, fast egoistisch, und es ist nicht zu verwundern,
wenn sich beim Ableben der Eltern in den Leidenskelch der Trauer auch
etwas Freude mischt.
Die Arbeit bei uns hat ein wesentlich anderes Gesicht als bei
manchen anderen deutschen Stämmen. Hier spielt die körperliche Arbeit
eine grössere Rolle als die geistige, es liegt dies zum Teil auch in der
Beschaffenheit des ländlichen Betriebs. Der Bauer wäre sehr geneigt, in
dem Trott weiterzumachen, den seine Vorfahren angeschlagen, wenn nicht
der 'verdammte Fortschritt' wäre, der ihn am Ende doch zwingt mitzu-
tun, denn so dumm ist der Bauer nicht, einen Vorteil, den neue Er-
rungenschaften bringen, zu verkennen und nicht bei sich einzuführen.
Hier gilt auch wieder der Spruch: „Wenn der Bauer nicht muss, rührt er
weder Hand noch Fuss." Seine Taglöhner und Bediensteten sind fleissig
und sehen im allgemeinen auf die Förderung der Hauswirtschaft, sie freuen
sich mit ihm auf das glückliche Einbringen der Ernten und trauern mit
ihm bei Misswachs und anderen Unglücksfällen. Die geistige Schwer-
fälligkeit und das Sichgehenlassen bringt es aber mit sich, dass der Herr
nicht nur für sich, sondern auch für die Dienenden denken muss. Wenn
der Bauer seine Befehle gegeben, kann er sicher sein, dass sie pünktlich
ausgeführt werden und braucht nicht wie ein Sklavenhalter hinter ihnen
mit der Knute zu stehen. Für ein ernstes Wort oder eine Rüge ist der
Dienende empfänglich, das ewige Schimpfen, Poltern oder gar spöttische
Behandlung verträgt er nicht, ein Verweis in Scherzesform tut öfter
Wunder. Trotz dieser guten Eigenschaften ist unser Landvolk kein Ar-
beitervolk im wahren Sinne des Worts, wie Slawen und Welsche. Feinde
der intensiven Bewirtschaftung der Güter sind die vielen Feiertage und
was in ihrem Gefolge ist; von diesen haben nur die Gastwirtschaften einen
Nutzen, wohin die Leute ihr Geld tragen, statt es auf Zinsen anzulegen.
Ein Ökonom, der von anderen Gegenden her intensiven Wirtschaftsbetrieb
gewöhnt ist, wird noch nicht in der Lage sein, mit den hiesigen Kräften
Erspriessliches zu leisten.
Der Oberinnviertier.
399
Im Handel ist der Bauer zum grossen Teil sehr vorsichtig, ja fast
ängstlich, denn er weiss genau, dass der, welcher den Schaden hat, fin-
den Spott nicht zu sorgen braucht. Dagegen lacht er sich aber auch ins
Fäustchen, wenn er einem als überschlau geltenden Händler ein Schnipp-
chen geschlagen und sich dessen im Wirtshause rühmen darf. Im allge-
meinen ist er ehrlich, der Handschlag oder das Drangeid, mit welchem
er den Kauf abschliesst, ist für ihn bindend. Ein sehr schöner Zug, zu-
gleich ein echt deutscher, im Charakter des Bauern ist das Festhalten am
gegebenen Wort. Hat er einen anständigen Abnehmer seiner Erzeugnisse,
so kann dieser sicher sein, dass ihm niemand, auch wenn er mehr bieten
würde, zuvorkommt. Man hält auch ganz nach altem Brauch viel auf
Gegenseitigkeit. Der Bauer lässt sich nur etwas schenken, wenn er in
der Lage ist, sich in gleicher Weise erkenntlich zu zeigen. Im Handel
gilt dasselbe ungeschriebene Gesetz der Gegenseitigkeit, das strenge ge-
handhabt wird. In den Städten und Märkten tritt die Gegenseitigkeit in
übertriebenem Masse in die Erscheinung unter dem Titel 'Kundentrinken',
das vielfach jetzt lästig empfunden wird. Die Wirte und Bräuer, zu den
angesehenen Leuten gehörig, spielen auf dem Lande eine grosse Rolle.
Im Wirtshause wird der Handel geschlossen und der Wirt, häufig auch
Bräuer, mit seiner grossen Personal- und Sachkenntnis, tritt als Vermittler
auf. Da die Wirte auf den Besuch der Bevölkerung angewiesen sind,
gehören sie keiner der politischen Parteien an, sie denken für sich meist
freiheitlich, machen aber im öffentlichen Leben keinen Gebrauch davon.
Sie kennen fast alle Besucher der Gegend, besonders die Stänkerer, und
mit sicherem Takt wissen sie Konflikte zu verhüten oder die Streitenden
auf neutrales Gebiet zu verweisen. Sie haben nicht nur der Jugend,
sondern auch manchmal den ernsthaften Männern, die bei starkem Bier-
genuss handgemein zu werden drohen, zu wehren. Derartige Feindselig-
keiten werden von der Bevölkerung nie ernst genommen, werden bald
ausgeglichen, und die Streitenden sind nach der Mensur wieder die besten
Freunde. Das Nichtnachtragen ist überhaupt eine gute Eigenschaft, selbst
dem Wirte nimmt der einmal von ihm an die Luft Gesetzte diese Tat
nicht übel. Den Müllern und Bäckern wird eine eigene Moral zuge-
schrieben, von der oft scherzweise im Gasthaus in Anwesenheit der oben-
genannten die Rede ist, es kommt aber nie vor, dass man diese Vertreter
eines einträglichen Berufes, vor 100 Jahren 'unehrliche Leute' genannt,
für wahrhafte Spitzbuben hält.
Den Behörden gegenüber ist der Bauer misstrauisch, eine Eigenschaft^
deren Entstehung noch in der alten Leibeigenschaft zu suchen ist; er hält
die Behörden noch vielfach für bestechlich, merkt aber nicht, dass in den
deutschen Ländern Österreichs die Bestechlichkeit vollständig aufgehört
hat. Kommt der Bauer ins Amt, ist er ziemlich kleinlaut; hat er eiuen
ungünstigen Bescheid erhalten, getraut er sich erst im Wirtshaus oder zu
400
v. Preen:
Hause zu schimpfen. Er hat keine Ahnung vom Staatswesen und vom
amtlichen Getriebe, ist auch nie über derartiges aufgeklärt worden. Durch
diese Unwissenheit ist er gewissenlosen Menschen rein ausgeliefert.
Übrigens findet er stets Hilfe bei gewandten Leuten, deren es jetzt doch
mehrere in jedem Orte gibt. Er hat ein sehr feines Gefühl für natür-
liches Recht, auch hat er Geschick, Beamte, mit denen er in Verkehr tritt,
richtig einzuschätzen. Ist er überzeugt von dem Wohlwollen des Beamten,
so trägt er ihm volles Vertrauen entgegen und lässt sich darin nicht
wankend machen. Wenn der Beamte diese Stimmung richtig zu würdigen
weiss, kann er oft nur mit ein paar verständigen Worten und Zureden
das erreichen, wozu ein anderer Berge von Akten verfassen muss. Durch
Gepolter und Unnachsichtigkeit, unangebrachte Strenge (Sekkatur) richtet
niemand beim Volk etwas aus. Zum Prozessieren ist er sehr geneigt,
und es genügt ihm oft eine Kleinigkeit, um einen Rechtsstreit vom Zaun
zu brechen. Diese Prozesswut hat schon manchen von Haus und Hof
gebracht. Zum Glück nimmt diese Krankheit in neuerer Zeit sehr ab,
das beweist das Schwinden der Advokaten auf dem Lande. Unangenehm
ist dem Bauer der Gang zum Gericht, er erledigt am liebsten kleine
Streitigkeiten, Beleidigungen ohne gerichtliche Klage. Auch sucht er sich
vor jeder Zeugenaussage, besonders vor einem abzulegenden Eide zu
drücken, weil es seinem Wesen widerspricht, durch etwaige ungünstige
Aussagen seinem Nebenmenschen zu schaden. Leider muss ich aber hier
gestehen, dass Meineide nicht zu den grossen Seltenheiten gehören.
Der Landarzt, der von den Gemeinden Beihilfen erhält, geniesst im
Verhältnis zu früheren Zeiten grosses Ansehen, kommt im Range gleich
hinter dem Pfarrer, ist auch in vielen Fällen der Vertraute eines grossen
Teils der Bevölkerung und wirkt, wo er hinkommt, segensreich. Es
kommt aber trotzdem noch vor, dass Kranke Wallfahrten unternehmen
oder durch Haus- und Zaubermittel, die sogenannte Pfuscher oder An-
wender verabreichen, sich behandeln lassen. Erst wenn dadurch nichts
-erreicht wird, findet der Kranke den Weg zum Arzt, den er als letzten
Rettungsanker betrachtet. In vielen Fällen ist es aber schon zu spät,
und wenn der Arzt nichts mehr machen kann, dann heisst es gleich: „er
kann nichts"; glückt aber eine Kur, hat er für alle Zeiten Oberwasser.
Die Tierärzte, besonders die staatlichen, sind selten zu haben, da sie als
Sanitätsbehörde fast nur im Auftrage des Staates ihren Beruf ausüben
und viele Zeit mit Bureauarbeiten verbringen müssen. Sie werden durch
geprüfte Kurschmiede ersetzt, die jetzt die Pfuscher mehr und mehr ver-
drängen. Übrigens darf man sich unter dem Worte Pfuscher keine un-
geschickten Menschen vorstellen; es sind meist Leute mit Anlagen, Er-
fahrung und guter Beurteilungsgabe, denen nur die wissenschaftliche Aus-
bildung fehlt; sie bedienen sich auf Wunsch der althergebrachten Zauber-
formeln, ohne welche sie beim Volke nicht durchdringen. Wir wollen
Der Oberinnviertier.
401
aber deshalb keinen Stein auf diese Eigenart des Volkes werfen, wieder-
holt sich ja ganz dasselbe bei den höheren Ständen. Uber die gesund-
heitlichen Verhältnisse ist nicht viel Günstiges zu berichten, man steht
Neuerungen sehr skeptisch gegenüber und gibt nicht viel auf die
heilende Wirkung der Reinlichkeit, des Lichtes und der Luft. Ein Arzt,
der nicht Massen von Medizin verschreibt, wird nicht für voll genommen.
Die Gemeindegesetzgebung aus dem vorigen Jahrhundert räumt
den Gemeinden viel mehr Rechte ein, als denen im Deutschen Reiche. Die
Intelligenz unserer Bevölkerung ist aber nicht so hoch, um sich einer so
ausnehmend liberalen Verfassung würdig zu erweisen, es entstehen daher
eine Menge Missstände, die zu verhindern die Staatsbehörde keine Macht-
befugnisse besitzt. Üble Folgen zeigen sich hauptsächlich auf gesundheit-
lichem Gebiet, wo ein Zusammenarbeiten der Gemeinden mit dem Staat
völlig ausgeschlossen ist; ein weiterer Übelstand sind die schlechten
Strassen. Wir sehen leider, dass der Bauer auf gute Wege keinen
grossen Wert legt; er hat noch nicht einsehen gelernt, dass gute Wege
Pferde und Wagen schonen, und tröstet sich damit, wenn man ihm dies
vorhält: „Der Wagner und der Schmied müssen auch leben."
Bei der Bürgermeisterwahl werden verschiedene Gesichtspunkte ins
Auge gefasst. In erster Linie denkt man ans Geld und wählt einen
Kandidaten, von dem man sicher weiss, dass er sich lieber loskauft als
die Wahl annimmt. In zweiter Linie wählen sie — ich will nicht sagen
den Dümmsten in der Gemeinde, aber wenigstens einen gutmütigen
Menschen, der ihnen nicht unbequem wird. Ist's nun damit auch nichts,
so wählen sie einen, von dem sie glauben, dass er die Geschäfte ordent-
lich versieht, aber ohne dem Einzelnen wehe zu tun und die Umlagen
zu erhöhen. Entpuppt er sich jedoch als eine Persönlichkeit, die sich
Achtung verschafft, wird er nach dreijähriger Amtsdauer wieder, und zwar
einstimmig gewählt. Die dreijährige Amtsdauer ist übrigens eine der
vielen ganz verkehrten Einrichtungen, die der Entwicklung gesunder
o-emeindlicher Verhältnisse gerade entgegengesetzt wirkt. Zu Gemeinde-
Schreibern nahm man früher Leute, die ihr Fortkommen in der Welt
nicht finden konnten, zur Gemeinde gehörten und folglich auch erhalten
werden mussten; auf diese Art sparte man wieder einige Groschen.
Dasselbe System galt und gilt noch von den Gemeindedienern und Weg-
machern.
Handelt es sich darum, irgend etwas Gemeinnütziges durchzuführen,
so kommt es sehr darauf an, welche Persönlichkeit der Anreger ist.
Stellt es sich heraus, dass einer bei solcher Unternehmung mehr Nutzen
als andere ziehen würde, finden sich sofort gewissenlose Querköpfe, die
den Neid der Bevölkerung erregen, um einen manchmal für die Gesamt-
heit wertvollen Plan zu Fall zu bringen. Zu spät sieht die Bevölkerung
dann ein, dass man sie genarrt hat, zieht aber trotzdem keine Lehre
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 4. 26
402
v. Preen:
daraus. So ängstlich der Bauer auch ist, lässt er sich doch von Fremden
lediglich durch andauerndes Zureden zu allerlei beschwatzen und zum
Schluss übers Ohr hauen. Unternimmt einer von seinesgleichen irgend
etwas und braucht Beihilfe, so kann er derselben sicher sein, auch wenn
der Erfolg des Unternommenen nicht durchaus sicher ist.
Bei Bränden ist es auffallend, dass eine neugierige Menge die Un-
glücksstätte betrachtet, ohne selbst Hand anzulegen, und gerade gilt das
hauptsächlich von der männlichen Jugend, die sich erst herbeilässt zu
arbeiten, wenn sie von den Gendarmen dazu gezwungen wird. Es ist das
kein schöner Zug der Leute, den ich mir eigentlich nicht recht erklären
kann, denn er passt nicht zu dem sonst hilfsbereiten Wesen des Yolkes.
Der Abgebrannte, meist schlecht versichert (eine Zwangsversicherung für
Brand wie für Hagel gibt es bei uns nicht), ist auf öffentliche Sammlung
und Materialunterstützung der Besitzenden in der Gemeinde angewiesen,
also ganz wie vor Jahrhunderten.
Der Bauer ist ein leidenschaftlicher Jäger von ISiatur aus und sieht
gar nicht ein, dass es ein so grosses Verbrechen sein soll, sich einmal
einen Hasen, ein Reh oder aus dem Forst einen Hirsch zu holen, ohne
vorher zu fragen. Ich habe da oft von den achtbarsten, angesehensten
Grundbesitzern und Jagdpächtern die köstlichsten Jagd- und Wilderer-
geschichten erzählt bekommen, die darin gipfelten, wie sie dem Forst-
personal einen oder den andern Streich gespielt haben. Der Bauer hält
das Wildern ebensowenig wie das Schwärzen für eine Sünde, will aber
durchaus nicht mit den Berufswilddieben, für die kein weidgerechtes
Jagen gilt, in eine Linie gestellt werden. Er hält die Begriffe Wildern
und Wildstehlen streng auseinander.
Die beliebtesten Vergnügungen1), von denen schon hier und da die
Rede war, sind gar mannigfaltige. In früheren Zeiten, vor etwa 40 bis
60 Jahren, genügten die häuslichen Spiele: Mühlfahren, Gesellschaftsspiele,
Werfen mit Hufeisen, Piattelli genannt, Fastnachtsumzüge, Mummenschanz,
Tänze und wie alle diese, dem Volkskundler wohlbekannten Dinge heissen
mögen, vollständig. Dazu kamen noch die Hochzeiten, kirchlichen Feste,
Preiskegeln, Eisschiessen, letzten Märzenbiere und die Umritte und
Fahrten2) an den Tagen Stephani, Georgi, Leonhardi usw. Für Rennen
und Wettfahren hatte der Bauer schon seit Jahrhunderten viel übrig, und
besonders bei diesen darf der Herr seine Dienstboten nicht zurückhalten.
Zu all diesen Unterhaltungen kommen jetzt seit neuerer Zeit noch die
Feste, welche die Feuerwehren, Veteranen, Krieger, die Schützen und die
Sänger veranstalten. Die Fülle von Unterhaltungen, besonders die neu
1) H. v. Preen, Drischlegspiele aus dem oberen Innviertel. Zeitschr. d. Vereins für
Volkskunde 14, 361—376.
2) Gr. Schierghofer, Altbayerns Umritte. München 1914.
Der Oberinnviertier.
403
hinzugetretenen, haben die alten, die Eigenart des Volks charakterisieren-
den Mummereien in den Hintergrund gedrängt.
Der Bursch auf dem Lande, der Schule entwachsen, wendet sich
gleich dem Dienste zu und beginnt seine Laufbahn als sogenannter
Schweinskavalier oder Stallbub, dann steigt er langsam zu den höheren
Würden auf. Die ersten Sprünge, die der Bub macht, bestehen in
Rauchen, 'zu Menschern gehn' und ab und zu Raufen; damit zeigt er der
erstaunten kleinen Welt seiner Heimat an, dass er ein 'Mann' sein will.
Der Bursch kennt auch schon alle landesüblichen Lieder und Trutz-
gesangeln, auch ist ihm das Tanzen, welches er schon in der Bauern-
O o 7
stube während der langen Winterabende gelernt hat, nicht fremd. Mit
ungefähr 16 Jahren wird er in die bäuerliche Verbindung seines Sprengeis,
Zeche genannt, bei den Gebildeten heisst man es Burschenschaft, aufge-
nommen. Nun beginnt das eigentliche Leben, und es ist ihm im Rahmen
der Zeche Gelegenheit gegeben, sich auszutoben, kurz, er kann mit seiner
überschüssigen Kraft machen, was er will. Das Raufen der Burschen
einzeln oder in Zechen spielt die Hauptrolle; sie bedienen sich dabei so-
genannter erlaubter Waffen, als da sind Stuhlbeine, Latten, Stöcke, Steine,
Gläser oder Krüge. Häufig aber wird zu den unerlaubten gegriffen, wie
Messer, Ochsenzenn, Schlagringen, Raufeisen, in der Neuzeit sogar Revolver.
So kampflustig und mutig, oder besser gesagt wütend, sich die meisten
bei Massenkämpfen zeigen, einen widerlichen Eindruck macht das Über-
fallen einzelner durch viele; diese begnügen sich nicht damit, dem Opfer
einen Denkzettel zu geben, sie gehen in ihrer blinden Wut oft so weit,
dass der Geschlagene nicht mehr aufsteht. Wegen Raufhändel eingesperrt
zu werden gilt nicht als schimpflich, aber 'gebandelt' vom Gendarmen
durch Ortschaften geführt zu werden wird sehr schmerzlich empfunden.
Um diesen bittern Gang zu sparen, werden die meisten bei der Festnahme
geständig. Anzuerkennen ist, dass niemand seine Mitschuldigen verrät,
-auch halten die miteinander verfehdeten Zechen, wenn es heisst, einen vor
dem Gerichte reinzuwaschen, fest zusammen.
Hat sich der Bursch ausgetobt, so hört das Liebeln auf, und an seine
Stelle tritt der Schatz. Er rauft seltener, ist verträglicher und nicht mehr
«o rachedurstig wie in der Sturm- und Drangperiode. Beim Militär hält
^r strenge Kameradschaft, schaut auf die Staatskrüppel mit Verachtung
herab, der Korpsgeist wird ausgeprägter, und vor dem Feinde benimmt
er sich musterhaft. Nach seiner Dienstzeit geht er aber heim, und wenn
er sich auch nach den schönen Militärjahren wieder tüchtig plagen muss,
er zieht doch seine Selbständigkeit den drei Sternen bei den Kaiserlichen
vor. Zu Hause wird der Ausgediente gleich Mitglied der verschiedensten
Vereine, wo er das militärisch-kameradschaftliche Wesen bei Festlich-
keiten fortsetzt. Die Militärjahre sind nicht spurlos an ihm vorüber-
gegangen, er hat viel gelernt, viel gesehen und bringt manches Gute heim.
26*
404
v. Preen:
Hat er aber in Wien gedient, so möchte ich am liebsten auf die mitge-
brachten geistigen Errungenschaften verzichten. Mir macht es immer
einen widerlichen Eindruck, wenn ich bei uns die Urlauber und mit ihnen
die andern Burschen die ekelhaften, frivol-sentimentalen Wiener Lieder
singen höre, die gar nicht zu unserer derben, aber natürlichen Bevölkerung
passen. Trotz friedlicher Vereinstätigkeit bleibt er treu seiner Zeche, die
mit einer anderen Zeche seit urdenklichen Zeiten verfehdet ist, auch wenn
der Grund und Anlass zur Fehde schon längst vergessen. Überhaupt sucht
der Bursch als echtes Landeskind alles auf, was Leidenschaft erregt,
geistige Getränke, das nationale Kegelspiel 'Anwandeln' und Pferderennen»
Begreiflich ist daher auch, dass er gerne und hoch spielt. Beim Kegel-
spiel kann man noch seine blauen Wunder sehen, was Spielleidenschaft
zuwege bringt. Dieses einfache Spiel wird zum Glücksspiel umgewandelt,,
und die Guldenzettel, an Stelle der Kreuzer, fliegen nur so herum. In
dieser Leidenschaft geben die Alten den Jungen nichts nach, im Gegenteil
sie treiben es noch ärger als jene. Wie wir aus allem hier Gesagten
sehen, ist das Völkchen sehr vergnügungssüchtig, es wird jede Gelegen-
heit benutzt zum Feiern, und den Schluss bildet regelmässig Rausch^
Liebe und Rauferei. Man könnte aber nicht sagen, dass diese Lebens-
weise der Arbeit einen Eintrag tut, höchstens leidet der Geldbeutel dar-
unter, das Loch in demselben wird wieder verstopft, der Mensch geht mit
der Zeit in sich und wird solid und sparsam. Eigentliche unverbesserliche
Lumpen und Faulenzer gibt es sehr wenige. Auf ein gutes Feiertags-
gewand, ordentliche Wäsche, Uhr mit grossgliedriger Silberkette und
Pferdeanhängsel wird gesehen und jetzt in unserer Zeit auf modernere
Kleidung, grelle Stoffe und rauhen, grünen Filzhut, geputzt mit einem
riesigen Pinsel, Gemsbart genannt. Gelegentlich der Modernisierungswut
im Schwarzwalde äusserte einmal der bekannte Schilderer Hansjakob
folgendes, was auch für uns Geltung hat: „Alles lass ich mir gefallen bei
der ländlichen Jugend, das Trinken, Raufen usw., nur sollen sie nicht das
Billardspielen anfangen."
Die Dirndeln spielen natürlich im bäuerlichen Jungleben eine grosse
Rolle. Gar mancher Streit und mancher Messerstich entsteht auf mittel-
bare Veranlassung des zarten Geschlechts. Das ist ja überall gleich in
der Welt, nur das Wie, d. h. die näheren Umstände, sind etwas anders,
sie haben örtliche Färbung. Eine gründliche Kennerin des Volkscharakters,
Frau S. Scheibl, hat mir einige Beiträge über das Kapitel 'Dirndeln' ge-
geben, die ich hier benutze. Wenn man mit Aufmerksamkeit die blond-
zöpfigen, blauäugigen frischen Köpfe der Schulmädeln betrachtet, hat man
seine helle Freude an dieser echt germanischen Rasse. Verlassen sie
nach Schulschluss das Haus, so beginnt ein fröhliches Scherzen und
Necken unter beiderlei Geschlecht, wobei die Buben, was die Schlagfertig-
keit betrifft, meist den kürzeren ziehen. Aus der Schule entlassen, be-
Der Oberinnviertier.
405
ginnt das Mädchen den Dienst mit der wenig beneidenswerten Stelle eines
'Kucherls', wo es schon Gelegenheit hat, neben der Hauswirtschaft allerlei
Erfahrungen jeder Art fürs spätere Leben zu sammeln. Die Kleine wird
oft gehänselt von jung und alt, sie gibt je nach ihren Geistesgaben
scherzhaft gemeinte, mitunter spitzige, schlagfertige Antworten. Im soge-
nannten Heimgarten, den bäuerlichen Gesellschaftsabenden, lernt das
Kucherl tanzen, und es entwickelt sich auch da schon manche Liebschaft.
Man sieht es nicht gerne, wenn die noch nicht erwachsenen Dirndeln zu
einer öffentlichen Musik gehen, es kann ihnen dann passieren, dass man
ihnen als Zeichen des Unpassenden ein Glas Wasser mit Kieselsteinen
gefüllt auf ihren Platz stellt. Später, wenn das Dirndel erwachsen ist,
in die nächste Rangklasse einer Stallmagd, 'Stallmensch', aufrückt, be-
ginnen schon die Liebschaften, es wird bei ihm gefensterlt, und es ist
stolz auf die Eroberung, die es gemacht. Wenn eine Braut gefragt wird,
ob sie noch Jungfrau sei, antwortet sie stolz: „Da müsst i mi schäme,
wenn mi no kaner gern ghabt hätt!" Auch die Burschen nehmen es
nicht so genau mit der sogenannten Moral, denn es kommt häufig vor,
dass der Bräutigam am Tage vor seiner Hochzeit bei seinem alten Schatz
die Nacht zubringt. Platonische Liebe ist ein unbekanntes Ding, man
weiss nichts Rechtes damit anzufangen. Ziemlich früh ist die Jugend
über alles unterrichtet, man nimmt bei den Unterhaltungen kein Blatt vor
den Mund. Dem Fernerstehenden, der derartige Unterhaltungen nicht
gewohnt ist, fällt die überaus grosse Derbheit auf, die aber mit den Ge-
meinheiten, wie sie in grossen Städten üblich sind, nicht gleichartig ist.
Eitel und abergläubisch sind die Dirndeln durch die Bank. Damit
das schwarzseidene Kopftuch ordentlich fest auf dem Kopfe sitzt, wird
die Nadel, die das Tuch halten soll, durch die Kopfhaut (!) gesteckt. Wei-
das Kopftuch als altmodisch verschmäht, stülpt sich einen einmal modisch
gewesenen Hut mit Federn auf den Kopf und bildet sich weiss Gott was
ein. Es gibt nicht leicht einen komischeren Anblick, als wenn man an
Sonn- und Feiertagen die Dirndeln mit ihren Hüten, noch dazu schief
aufgesetzt, mit den rot erhitzten Gesichtern auf Fahrrädern an sich vorbei-
rasen sieht. Zum Glück kann man sagen, und das verdanken wir unseren
Bestrebungen, dass das Tragen der Kopftücher in den Bezirken Braunau,
Schärding und Ried immer grösseren Umfang annimmt.
Abergläubisch sind unsere Dirndeln noch sehr und bleiben es bis in
ihr hohes Alter. Die Gebräuche in der Thomasnacht, Bleigiessen, Pan-
toffelwerfen, Orakelbefragen und der Glaube an üble Vorbedeutungen
sprechen deutlich dafür. Wenn auch die Sitten auf dem Lande für etwas
lax gehalten werden, so entbehren sie doch nicht der Natürlichkeit.
Sehen wir uns nur einmal ein ländliches Tanzvergnügen an mit seinem
hübschen Landlertanz, da werden wir einen grossen Abstand gegenüber
dem städtischen Gebaren finden und erstaunt sein, mit welchem Anstand
406
v. Preen:
alles vor sich geht. Mit Vorliebe besuchte ich die ländlichen Unter-
haltungen in den Bauernhäusern mit ihrem familiären Charakter und habe
mich stets behaglich bei diesen Leuten gefühlt, die nicht mehr vorstellen
wollen als sie sind. Hier bekam ich einen Begriff vom Gemütsleben und
der vielseitigen Begabung der Leute nicht nur in Musik, sondern auch in
der Dichtkunst. Ich war überrascht über die Gabe des Improvisierens
und über das Liedergedächtnis so mancher. Aufgefallen ist mir das An-
stimmen ernster, ja trauriger Lieder, wenn die Stimmung recht gemütlich
zu nennen war.
Was Speidel, der bekannte feinsinnige Wiener Kritiker, in einem
kleinen Aufsatz über das Mattigtal und seine Bewohner sagte, ist so
treffend, dass ich mich nicht enthalten kann, es hier anzuführen: „Christen
sind es, es ist aber diesem Christentum nicht zu trauen, überall sitzt der
Heide unter der Haut." Der Volkskundler, der'Yon deutscher Sitt' und Art'
[München 1908] von Bronner gelesen hat, versteht, was mit diesen wenigen
Worten gesagt sein soll. In Sitten, Gebräuchen und Volksmedizin entdecken
wir den alten Natur- und Götterkult wieder, der von der Kirche nicht zer-
stört werden konnte. Die Kirche hat mit ihm rechnen müssen, sie hat ihm
nur andere Namen gegeben, um sich einigermassen Geltung zu verschaffen.
Der Charakter der Bewohner konnte nicht umgemodelt werden, es ist
daher der Kirche nur geglückt, ihn sich dienstbar zu machen. Dies ge-
schah durch Einrichtungen, für die sich das Volk empfänglich zeigte, als
da sind Feiertage, Bittgänge, Prozessionen, Wallfahrten, die Gottesdienste
mit ihren Prunkentfaltungen und Kunstgenüssen jeder Art. In früheren
Zeiten bemächtigte sich die Kirche des ganzen Geisteslebens und sorgte
für die mannigfaltigsten Anregungen.
Die Schule, jetzt unabhängig von der Geistlichkeit, bringt neues
Leben ins Volk, indem sie die Einseitigkeit forträumte; der Lehrer ist
nicht mehr im Dienst des Geistlichen, sondern ihm gleichgestellt, und, so-
viel ich bemerkt, ist das Verhältnis zwischen beiden kein schlechtes ge-
worden. Er ist in seiner Gegend eine notwendige Persönlichkeit, liebt
und pflegt die Musik und sorgt auch für die Weiterbildung der Jugend
in praktischen Fächern, kurz, wenn irgend etwas unternommen werden
soll, wozu die Kräfte der Bevölkerung nicht ausreichen, muss er oder der
Herr Pfarrer einspringen. Trotz alledem ist das Lesebedürfnis des
Bauern nicht besonders gross; das ist aber auch begreiflich, wenn man
bedenkt, dass nach schwerer Tagesarbeit die Müdigkeit den Bauern über-
mannt. Wir finden im Bauernhause nur den Kalender (jetzt den von uns
empfohlenen Heimatkalender), die Zeitung des landwirtschaftlichen Vereins,
selten eine politische — solche liegen im Gasthaus aus — oder ein
Legendenbuch, das von den Frauen oder alten Leuten zum Zeitvertreib
gelesen wird. -
Wie schon gesagt ist Religion eine Art Mode, ein geheiligter Brauch,
Der Oberinaviertier.
407
auf dessen Einhaltung die Bevölkerung sieht, um sich das Himmelreich
zu verdienen. Die Gebete werden zu den üblichen Zeiten hergeleiert,
ohne dass der Geist dabei etwas zu tun hat; die Religion mit ihren
Segensmitteln betrachtet der Bauer als eine Melkkuh, die ihm bei guter
Behandlung alles gibt, was er von ihr wünscht.
Trotz aller Vorspiegelungen über Ketzer und Andersgläubige hält der
Bauer diese auch für Menschen; es kommt jetzt doch selten vor, dass ein.
Lutherischer, wie sie hierzulande sagen, als Höllenkandidat betrachtet wird.
Die ganze Natur des Bauern ist tolerant, nur eins beirrt ihn, wenn jemand,
mit dem er verkehren soll, gar nichts glaubt, er sagt dann: „Das ist ein
Eiskalter, der glaubt weder an Gott noch an den Teufel." Der Pietismus,
wie er häufig bei Protestanten und Sektierern gefunden wird, gehört hier
zu den Seltenheiten. Die Betbrüder und Betschwestern stehen in keinem
grossen Ansehen, es sind auch meist Leute, deren Charakter mit ihrer
Frömmigkeit nicht im Einklang steht. Den frömmsten Teil der Be-
völkerung bilden selbstverständlich die Frauen, diese sorgen auch für die
Hausheiligen, schmücken den Herrgottswinkel und kümmern sich um die
üblichen geweihten Hausmittel und Segen. Eine Anzahl von Leuten gibt
es auch, die sich im Wirtshaus ihrer freiheitlichen Gesinnung rühmen, aber
nicht in Anwesenheit des Ortsgeistlichen; sie besuchen gleich den andern
die Kirche und machen sonst alles mit, um keinen Anstoss zu erregen.
Für Politik haben die Leute nicht viel Verständnis, sie wählen ruhig
wie die andern, aus Bequemlichkeit und um sich nicht bei dem frommen
Teil der Familie unbeliebt zu machen. Daher kommt es auch, dass ein
Teil der Abgeordneten nicht mit dem nötigen Ernst die ländlichen Inter-
essen vertritt, sondern lediglich Parteipolitik treibt; denn sie wissen
genau, dass die ländliche Intelligenz keine zu genaue Kritik übt. Wenn
für unsere ländlichen Bezirke eine Menge der notwendigsten Einrichtungen,
die im deutschen Nachbarstaat längst Segen brachten und den allgemeinen
Wohlstand förderten, in unseren Vertretungen nicht einmal zur Sprache
kamen, so darf die Rückständigkeit unserer Länder nicht allein den Ab-
geordneten und dem Staate, sondern auch der Bevölkerung zur Last ge-
legt werden. Der Bauer erweist seinem Seelsorger die gebührenden Ehren,
auch wenn er weiss, dass die Persönlichkeit des Pfarrers manchmal nicht
einwandfrei ist. Die angestammte Würde und der Nimbus, der ihn um-
gibt, übt immer einen eigenen Zauber auf das Volk aus.
Wir sehen, dass die äusseren Verhältnisse vielfach auf die Ausbildung
des Charakters bestimmend wirkten und im Laufe der Zeiten die Eigen-
schaften schärften oder milderten. Die isolierte Lage des Landes und die
nicht häufige Blutmischung der Bewohner hat viel zur Erhaltung des
alten Charakters beigetragen. Die Jahre unter österreichischer Herrschaft
408
v. Preen: Der Oberinnviertier.
sind nicht spurlos vorübergegangen; diese Verwaltung hat mit der der
Nachbarn auf deutschem Gebiet nicht Schritt gehalten, und diesem Um-
stand verdanken wir ein längeres Verbleiben in der Sphäre der 'guten
alten Zeit'. Während durch die Gründung des Deutschen Reiches in den
altbayerischen Landen frisches Leben, strammere Zucht und Pflicht-
erfüllung Eingang fanden, blieben diese Segnungen bei uns aus, und es
geschah wenig in volkserzieherischer Hinsicht. So mancher ehrlich Denkende
hat mir schon in diesen Punkten recht gegeben. Aber mit dem Deutschen
Reiche ist ein Gefühl der Zusammengehörigkeit aller deutschen Stämme
entstanden, das auch bei uns allgemeinen Widerhall fand. — Yon unserem
Volke wäre nur noch zu sagen, dass aus ihm so manche tüchtige Menschen,
Dichter, Musiker, bildende Künstler, Ärzte, Beamte, Militärs und Ge-
lehrte, aber bisher keine ganz hervorragenden Denker, wie sie uns Deutsch-
land geschenkt hat, hervorgegangen sind. Sie alle haben die Heimat nie
vergessen und den Innviertier auch in ihrem Benehmen nie verleugnet.
Zum Schluss lasse ich noch einige volkstümliche Redensarten folgen,
die von der kurzen treffenden Ausdrucks- und Denkweise des Volkes
Zeugnis geben:
1. Beim Lindetfahren (in den Wald) und Indiestadtgehen weiss man nie,
wann man heimkommt.
2. Ich frier um d' Nasen herum, d. h. ich hab kein Geld.
3. Wenn der Vater ein Kran (Krähe) ist, wird der Sohn kein Dachel (Dohle).
4. Wer nicht fortgeht, kommt nicht heim.
5. Wo der Teufel nicht selber hinkommt, schickt er ein altes Weib.
6. Ich wünsch dir ein neues Jahr! Darauf die Erwiderung: Und dir das alte,
es ist schon gezahlt.
7. Wo Geld ist, ist der Herrgott, wo keins, der Teufel.
■8. Zwischen Tag und Nacht ist kein Zaun.
9. Wenn der Himmel einen kleinen (blauen) Flecken kriegt, kriegt der Petrus
•eine Hose.
10. Haben mein Vater und Mutter sterben müssen, wird's uns wohl auch nicht
umbringen müssen.
11. Wie geht's, nichts Neues? Was soll's geben, is eh das Alte das Bessere.
12. Ein Ahnelkind und ein Stubenfarkel sind selten was wordn.
13. Gscheit bleibt gscheit; fällst mit dem Kopf in den Bach, bleiben die Fiisse
trocken.
14. Warme Füss, kalter Kopf, hint offen, langes Leben zu hoffen.
15. A Gewöhnets is a eisern Pfoad (Gewohnheit ist ein eisern Hemd).
16. Wenn der Vogel recht warm sitzt, fliegt er fort.
17. Das Wissen soll man vor dem Essen gelernt haben.
18. Wer viel einweicht (Wäsche), schweibt (wäscht) viel aus.
19. Wo die Scheuertor alleweil offen sind, is nix drin.
20. Das ist ein alter Spruch gewesen: was unter dem Tisch liegt, gehört
dem Besen.
21. Sein tuts was (sagt man bei ganz aussergewohnlichen Ereignissen).
Treichel: Die sogenannten Apostel-Bienenstöcke von Höfel.
409
Gerade zum Schluss gekommen mit dieser Arbeit, höre ich Lärm auf
der Landstrasse vor meinem Hause. Aus heiseren Kehlen tönt der Ruf:
„Hoch Österreich, hoch Deutschland!" an mein Ohr. Ich eile hinunter
und drücke noch allen die Hand, den jungen und älteren Leuten, die zur
Fahne eilen und begeistert in den Kampf gegen einen nichtswürdigen
Feind ziehen.
Osternberg, im August 1914.
Die sogenannten Apostel-Bienenstöcke von Höfel1).
Yon Franz Treichel.
(Mit einer Abbildung.)
Die Imkerei bediente sich als Wohnung für ihre Schützlinge wohl
allgemein der uns bekannten Spitzkörbe, die jetzt mehr und mehr bei
der fortgeschrittenen Bienenzucht den bequemeren Bienenhäusern ge-
wichen sind, welche einen besseren Uberblick und eine leichtere Beobachtung
der Völker gestatten und bei denen auch das Abräuchern der Bienen
fortfällt, wenn man den Honig einheimsen will. Welch ein weiter Schritt
gegen die 'Beuten' unserer Vorfahren, die den Schwärm in einer 'Klotz-
beute' hielten, einem ausgehöhlten Baumstamm, wie ihn sich wilde Bienen-
völker im Walde in Bäumen mit natürlichen Löchern zum Wohnsitz aus-
zuwählen pflegen!
Jedoch so eigenartige Häuser als Bienenstöcke, wie sie unsere Ab-
bildung zeigt, dürften wohl ziemlich selten in der Welt sein. Sie be-
finden sich in Höfel, einem schlesischen Dorfe in der Nähe der Bahn-
station Plagwitz am Bober, gehören dem Gutsbesitzer Hrn. Vogt und
werden von Hrn. Lehrer Werner bewirtschaftet, dem ich meine Angaben
verdanke.
Der übliche Name dieser Bienenhäuser, die menschliche Figuren dar-
stellen, ist nicht zutreffend, denn es sind nicht zwölf an der Zahl, wie
man nach den 12 Aposteln vermuten könnte, sondern 18 Bienenstöcke;
ferner aber ist überhaupt nur ein Apostel unter ihnen.
Diese Kunstwerke von Immenwohnungen sind in langer Reihe in einem
schuppenartigen Bauwerk aufgestellt, das nach der Vorderseite offen ist,
wie jedes Bienenhaus, damit die Tiere ausfliegen können. Die einzelnen
Stöcke sind ungefähr 2 m hoch und haben einen Umfang von etwa 1,50 m.
Die aus Lindenholz geschnitzten Figuren stellen dar: Aaron, Moses, Simeon,
Paulus, Petrus — der einzige Apostel unter ihnen -, Abt, Äbtissin,
1) Nach einem am 24. Mai 1914 im Verein für Volkskunde gehaltenen Vortrage.
410
Treichel: Die sogenannten Apostel-Bienenstöcke von Höfel.
Nonne, Prälat, Mönch, Zwerg, Gutsherr mit Gattin, die eine Doppelfigur
bilden, sodann 4 Bauersfrauen und 2 Nachtwächter. Jede Figur ist mit
einem ihr eigentümlichen Gegenstande ausgestattet.
Auf der Abbildung, angefertigt nach einer Ansichtskarte, die ich Hrn.
Werner verdanke, kann man leider nicht die ganze Reihe überblicken.
Aaron trägt das Mannakrüglein und den blühenden Stab, Moses stützt
die Gesetzestafeln an seinen Körper und hält in seiner Linken die auf-
gerichtete Schlange, neben ihm steht Simeon mit dem Kinde, dann folgen
Paulus und Petrus mit Evangelienbüehern; die zweite Abteilung hinter
Abb. 1.
der Tragestütze zeigt Abt und Prälat mit Krummstab, sowie einen Mönch
mit Rosenkranz und — Bierkrug; es folgt anscheinend noch die Äbtissin,
nicht erkennen dagegen lässt sich die erste Figur, die verdeckt ist; die
folgende Reihe besteht aus den Bauersfrauen mit Kaffeetassen, Fächern,
Wäscherollen u. a. m. Die Nachtwächter tragen einen Spiess, während
dem Zwerge ein Schnapsglas beigegeben ist. Die Schlupfbrettchen und
-löcher für die Bienen sind an den Figuren deutlich zu erkennen; sie
sind in etwas über Kniellöhe angebracht.
Über die Herstellung der Bienenstöcke ist sicheres nicht bekannt.
Die ältesten Figuren wurden wahrscheinlich ums Jahr 1600 geschnitzt,
als das dortige Bauerngut, die sogenannte Scholtisei, im Besitz des
Klosters Naumburg a. Bober war. Einige Figuren sind neuerer Herkunft
Frankel: Kleine Mitteilungen.
411
lind nachweislich im Auftrage des ums Jahr 1800 dort lebenden Bienen-
vaters Ueberschär in Löwenberg geschnitzt worden. Ich nehme an, dass
der Stamm aus 12 Stück bestanden hat und so der Name 'Zwölf-Apostel-
Bienenstöcke' entstanden ist.
Die meisten der Figuren sind nicht ohne Kunstfertigkeit gearbeitet,
wie der Faltenwurf der Gewänder und die Gesichtsbildung zeigt; andere
sind dagegen ziemlich plump ausgefallen, was auf mehrere Hersteller
schliessen lässt.
Einmal drohte dieser seltsamen Gesellschaft Gefahr. Das war im
Jahre 1813, als die Franzosen drei Tage lang in Höfel hausten. Doch
müssen sie wohl Respekt vor den Figuren gehabt haben; denn während
sie an 50 danebenstehende Bienenkörbe Feuer legten, fügten sie den
12 Aposteln kein Leid zu. Leider kann man diese Rücksicht dem Zahn
der Zeit nicht nachsagen, da diese Wahrzeichen dortiger Gegend immer
mehr verfallen. Trotzdem sind sie, wie gesagt, noch im Gebrauch. Die
Erneuerung würde 'eine Stange Gold' kosten, wie mein Gewährsmann
hinzusetzte.
Die Bienenstockfiguren tragen keinerlei Inschriften, die uns irgend-
eine weitere Aufklärung über ihre Entstehung geben könnten. Vergeb-
lich erkundigte ich mich, ob eine besondere Begebenheit den Anlass zu
ihrer Verfertigung gegeben hätte, irgendein Aberglaube sich daran knüpfe
oder Sage und Legende etwas berichteten. Vielleicht verdanken die
Figuren einem frommen Gelöbnis ihre Entstehung, falls nicht etwa die
dargestellten Personen als die Schützer der Bienen anzusprechen sind.
Berlin.
Kleine Mitteilungen.
Der 'Weiberbraten' yon Berghausen bei Speyer.
Ein originelles Fest mit historischem Hintergrund beging nach achtjähriger
Pause zum erstenmal wieder am 9. Mai 1914 die Gemeinde Berghausen bei
Speyer a. Rh.: den sog. 'Weiberbraten'. Welche Bewandtnis es damit hat,
erkennt man aus der Vorgeschichte des eigenartigen Brauches. Laut der Über-
lieferung sollen im Jahre 1706 die 59 Frauen von Berghausen auf ihrem Gange
nach der nahen Stadt Speyer, um dort ihre Milch abzusetzen, in dem 'Gutleut-
hause', einem Spital, — am ehemaligen Gutleuteweg, jetzt Berghäuserstrasse, rechts
zunächst dem Wege nach dem Tafelsbrunnen— den Ausbruch einer Feuersbrunst
bemerkt und dadurch gelöscht haben, dass sie ihre für den Markt bestimmte Milch
auf die Flammen gössen. Aus Dankbarkeit für dieses uneigennützige Eingreifen
bestimmte das Pflegeamt des ehemaligen Gutleut-Almosens, dass den Weibern
412
Frankel:
Berghausens alljährlich am Gedächtnistage dieser Begebenheit, am Montag nach
dem heiligen Dreikönigsfeste, 15 Pfund Kalbfleisch (oder 14 Pfund Rindfleisch)
und 15 Pfund Schweinefleisch, nach anderer Überlieferung ll1^ Pfund Rind-
und 1 6x/2 Pfund Schweinefleisch, nebst Brot (und Wein) verabreicht werden. Seit
•der französischen Herrschaft im Anfange des 19. Jahrhunderts wird diese Spende,
der sogenannte 'Weiberbraten', in Geld geleistet, und zwar bezahlte alljährlich bis
heute das Bürgerhospital Speyer als Rechtsnachfolger des Gutleut-Almosens ans
Bürgermeisteramt Berghausen 4 Gulden 45 Kreuzer (umgerechnet seit 1875 in
S Mk. 14 Pf.). Dieser Betrag langte natürlich nicht im geringsten für das Pestmahl
der ganzen, auch an Ansprüchen gewachsenen Frauenschar Berghausens — daher
zahlt jetzt jede einzelne davon selbst einen bestimmten Beitrag, während die Speyerer
pflichtmässige Spende einen Teil der Musikkosten deckt. Eine Stiftungsurkunde
besteht nicht, wenigstens ist keine bekannt. Erstmals erscheint diese Ausgabe für
die Weiber von Berghausen in der Speyerer Spitalrechnung für das Jahr 1714, und
zwar als gewöhnliche. Das Fehlen bestimmter Anhaltspunkte für den Ursprung
dieser Stiftung ist jedenfalls in dem Verbrennen der bezüglichen Schriftstücke von
1555 bis einschliesslich 1713 (wie auch schon im Dreissigjährigen Krieg) begründet.
Der volksmässigen Tradition widerspricht die urkundlich belegte Tatsache, dass
jenes Gutleuthaus im Jahre 1706 französische Mordbrenner vollständig ein-
äscherten. Erst 1740 gibt ein Speyerer Zins- und Lagerbuch als Ursache der
Spende an, dass, „als vor alters das Gutleuthaus in Brand geraten, derselbe durch
die Weiber zu Berghausen gelöscht worden sein soll." Da hiernach der Anlass
rechtlich kaum sicher galt, so suchte die Spitalverwaltung die finanzielle Last ab-
zuwälzen. Die Gemeinde Berghausen verfocht das Recht ihrer Frauen, gab jedoch
in dem Streit nicht das vererbte Verlangen an, stellte vielmehr fest, „wenn die-
jenigen, so daß Gutleuts-Guts-Aecker in ihrer Gemarkung liegendt ihr Zugvieh
ausspanneten, so hätten sie das recht in ihrer Gemarkung zu weyden, wegen weichen
man ihnen diese Gebühr zu entrichten hätte, wovon sie auch nicht abstunden
sondern sich im widrigen fall an denen fruchten bezahlt machen wollten." Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts verweigerte das Speyerer Bürgerhospital die weitere
Auszahlung; jedoch verfügte die königl. Regierung der Pfalz unter dem 7. Sep-
tember 1821 die fernere Entrichtung. Gymnasiallehrer Dr. Albert Becker in
Zweibrücken, der bedeutendste Fachmann der Rheinpfalz auf dem Gebiete der
Volkskunde, führt1) diesen Brauch auf ein Weiderecht in der Berghausener
Gemarkung zurück, das vom Gutleut-Almosen ausgeübt wurde2). Auf jeden Fall
reicht dieser Brauch jahrhundertelang zurück3).
1) Hessische Blätter für Volkskunde 10,145ff., Nachtrag ebd. 11, 34 in einem Auf-
satze 'Frauenrecht in Brauch und Sitte. Zur Geschichte des Weiberbratens von Berg-
hausen bei Speyer'.
2) Teilweise wörtlich übernommen, aber noch sicherer begründet und in den richtigen
grösseren Zusammenhang gestellt hat Alb. Becker seine bezüglichen Ausführungen und
Auslegungen in sein ungemein ergiebiges fesselndes Büchlein: 'Frauenrechtliches in Brauch
und Sitte. Ein Beitrag zur vergleichenden Volkskunde' (Programm des k. Gymnasiums
Zweibrücken 1913) und seine 'Beiträge zur Heimatkunde der Pfalz' IV (Kaiserslautern
1913), S. 21-23; 63- 64 (Anmerkungen 19—22); 42 - 43 ; 71 f. (Anm. 65); 77 (Martin Greifs
verherrlichendes Gedicht 'Die Frauen von Berghausen' in dessen 'Neuen Liedern und
Mären' (1902) S. 153f., zuerst in der Gartenlaube 1898 Nr. 5, S. 69 — Anhang I). Zur Ent-
stehung solcher Sagen verweist A. Becker auf F. Ohlenschlagers akademische Festrede
'Sage und Forschung' (München 1885) und W. L. Hertslet, Der Treppenwitz der Welt-
geschichte, 6. Auflage von H. F. Helmolt, S. 17 ff.
3) Von dem altherkömmlichen Verlaufe des Festtages berichtet Ludwig Schandein
Kleine Mitteilungen.
Die heurige Feier fand mit allem Pomp statt: sie brachte die ganze kleine
Gemeinde auf die Beine, lockte auch eine grosse Anzahl Schaulustige und Neu-
gierige aus der näheren und weiteren Umgegend herbei. Ein Umzug leitete das
Fest nachmittags 7a2 Uhr ein. Lustige Musik kündigte den herannahenden Aufzug
an. Dann kam stolzen Schritts das „Komitee der Milchfrauen": drei wackere
Frauen mit weissen Schürzen, Blumen im Haar und mit blumengeschmückten
blanken Milchkannen. In ihrer Mitte die Fahne, dabei, von zwei weissgekleideten
Mädchen geführt, ein blumengezierter Wagen, in dem die älteste Frau des Ortes,,
die 83jährige "Witwe Walburg, sass. Dahinter, gleichfalls festlich geschmückt, das
Heer der übrigen Milchfrauen. Unter den flotten Klängen der Kapelle zog der
Zug vor eine Reihe freigebiger Häuser, wo den Frauen in ihre blank geputzten
zinnernen Milchmasse Wein geschenkt wurde. Während die immer zahlreicher
herbeiströmende Weiblichkeit sich daran erquickte, ging das männliche Geschlecht^
das sich darum gruppierte, leer aus — so will es der Brauch; denn es ist eben ein
ausgesprochenes Frauenfest, wie auch A. Becker das Ganze richtig unter das
Frauenrecht rückt. So wurde denn der 'Weiberbraten' selbst, als nach mehr
als zweistündigem Umzug sich die Teilnehmerinnen im 'Pfälzer Hof' zum Fest-
essen versammelten, ohne Männer verzehrt. Freilich, als der Form der Tradition
genügt war, holten die Frauen ihre ehelichen Hälften, die geladenen Honoratioren
und die Freunde des alten volksmässigen Brauches herein — Ledige bleiben auch
da noch ausgeschlossen —, und nun drehte man sich, ganz dem Herkommen ge-
mäss, im Tanze, bis die Sonntagssonne zu den Fenstern hereinlugte. J. Rumpf,,
der in der gelesensten Tageszeitung der Vorderpfalz, dem Ludwigshafener General-
Anzeiger, Nr. 104 vom 5. Mai 1914, im voraus für das Verständnis des merkwürdigen
Brauchs bei der Bevölkerung in einem gut unterrichteten Artikel Stimmung machte,
scheint seiner Fortdauer gewiss: „Dass dieser Pfälzer Brauch, der einzige seiner
Art, nicht verschwindet und das Andenken bei den nachfolgenden Geschlechtern
erhalten bleibt, dafür sorgen die Milchfrauen Berghausens, die, mit Recht stolz auf
die entschlossene und selbstlose Handlung ihrer Vorgängerinnen, das ewige Ge-
dächtnis wahren und gewahrt wissen wollen. Es ist ein besonderes Verdienst
Albert Beckers, den Kern des fortlebenden, sichtlich Jahrhunderte alten Brauchs
herausgeschält und dann unter den grundsätzlichen Gesichtspunkt des 'Frauen-
rechts' gebracht zu haben, innerhalb der Fülle ähnlicher Materialien aus der
Rheinpfalz und den stammes- oder traditionsverwandten Nachbargegenden. Dass
die heutigen aktiv wie passiv Beteiligten von Ursprung und Sinn gar keine oder
höchstens einzelne eine ganz leise Ahnung haben, mag man mit historischer
Nüchternheit aussprechen, sogar bedauern — nach richtiger begründeter Erklärung
zu suchen, erwächst der Forschung daher erst zur Pflicht. Weder August Becker,
der bekannte Erzähler pfälzischer Herkunft, in seinem (1913 für den Pfälzerwald-
verein neu aufgelegten) Buche 'Die Pfalz und die Pfälzer' (S. 152) von 1857 noch
W. H. Riehls berühmtes Buch 'Die Pfälzer' (1898) deuten in ihren kulturhistorischen
Gemälden die Geschichte vom Weiberbraten an."
Ludwigshafen a. Rh. Ludwig Bränkel.
in der Zeitschrift „Bavaria" IV 2 S. 388. Die feststellbaren Daten für die Vergangenheit
bringt J. Rumpf, rDer Weiberbraten zu Berghausen. Nach Akten des Hospitalarchivs zu
Speyer", Speyerer Zeitung 90 (1901) Nr. 115/116, meist Rechnungsbelege. "Vgl. auch
Frankfurter Zeitung vom 24. Mai 1901, 2. Morgenblatt.
414
Schütte:
Braunschweigische Sagenl).
I. Der wilde Jäger.
Wenn es in der Luft 'jif jaf jif jaf" tönte und ich meinen Vater danach fragte,
so sagte er: Dat is de wille Jäger, Junge, den lat man trecken.
(Altvater Bosse in Hötzum.)
Der wilde Jäger fliegt kaum haushoch. Dem alten Lohe in Braunschweig
(vor zehn Jahren etwa verstorben) ist er öfter begegnet. Einmal hat er mit ihm
gesprochen, aber er durfte nicht sagen, was er mit ihm geredet habe, sonst würde
Not und Pestilenz über ihn kommen.
Ein paar Brüder waren einst in einer Herbstnacht auf dem Felde und trugen
die Hürden vor. Da sei, so erzählte der eine, der Jäger Busch über das Feld
gekommen. Es habe sich plötzlich über dem Dorfe Hallendorf ein grosses Hunde-
gebell erhoben und sei immer näher gekommen, bis es über ihnen durch die
Luft gesaust sei. Da habe der Bruder gefragt: „Wer da?" „Jäger Busch" sei
ihm aus der Luft geantwortet. Dieser habe vier Pferde vor seinem Wagen gehabt,
und viele Hunde seien nebenher gelaufen.
II. Der Teufel.
a) Der Teufel heisst meistens Gluhswanz, seltener Langswanz und Draken-
trecker, oft wird er mit dem Vornamen Martin angeredet, Tgl.:
Marten, hast noch ein vergetten,
Hast noch keine Botter eschetten.
Er hat einen schwarzen, rauhen Schwanz, und wer unter den Freimaurern ist, zu
dem kommt er, und er muss sich mit seinem eigenen Blute unterschreiben.
b) Wenn der Gluhschwanz durch die Luft zieht und einen trifft, der nicht unter
Dach und Fach ist, lässt er auf ihn Schmutz herunterfallen. Ist man aber unter
Dach und Fach und ruft ihm 'Halfpart' zu, so gibt er die Hälfte von dem, was er
hat, ab. Als es einmal ein Knecht rief, liess er etwas in den 'Alpaul' (= Jauche-
pfuhl) fallen. Als der Knecht eine Harke geholt und es herausgefischt hatte, war
es eine Pîpwurst. (Wedtlenstedt.)
Manche Leute konnten den Gluhschwanz auf freiem Felde anhalten. Dann
fragten sie ihn, was er auf habe. Er habe Geld geladen, antwortete er. Woher
er das geholt habe? „Aus der königlichen Schatzkammer." „Wo bringst du es
hin?" Auf diese Frage erhielten sie keine Antwort. Dann riefen sie ihm zu
„Marten, half Parten!", und er musste ihnen die Hälfte abgeben. (Hötzum.)
c) Wenn der Gluhschwanz in den Schornstein hineinfuhr und man ein Rad
vom Wagen abnahm und es verkehrt wieder aufsteckte, so konnte er nicht wieder
aus dem Hause heraus, sondern musste erst eine Wand einrennen, um da heraus-
zufahren. (Hötzum.)
Der Teufel hilft buttern2).
Einer Frau in Coppengrave am Hilse gelang das Buttern immer so schnell,
dass man es sich nicht erklären konnte. Eines Tages, als ihr Mädchen buttern
1) Vgl. Yoges, Sagen aus dem Lande Braunschweig, Braunschweig 1895; Schütte,
Braunschweig. Magazin 1898 S. 23 und 1899 S. 111 und 117ff.; ders., oben 11, 838ff.
2) Vgl. Schambach und Müller, Niedersächs. Sagen Nr. 185; Schütte, Braunschweig.
Magazin 1898 S. 23.
Kleine Mitteilungen.
415
musste, sah dies einen dicken Frosch in dem Schmant sitzen. Da schüttete es
ihn aus, nahm den Frosch und warf ihn aus der Tür. Nun musste es immerzu
buttern, weil die Butter nicht werden wollte. Als die Frau erschien, fragte sie,
was es denn gemacht hätte. Da sah sie schon den Höpper hinter der Tür sitzen,
kriegte ihn auf und sagte:
Ach, kumm Charlöttchen
In meinen Smantpöttchen,
Use Mäken ungewetten
Hat dik ut en Botterfatte smetten.
Der betrogene Teufel.
a) Die Pferdejungen neckten den Teufel stets, er konnte ihnen aber nichts
anhaben. Da bat er Gott, er möchte sie ihm in die Hand geben. Der liebe Gott
sagte, er solle sie haben, wenn die Eichen kein Laub mehr trügen. Damit er sie
nun nicht kriegt, hat der Herrgott gefügt, dass die Eichen immer noch trockenes
Laub haben, wenn sie zu grünen anfangen.
b) Ein Förster am Eime hatte sich dem Teufel verschrieben; der gewährte
ihm grossen Anlauf vom Wilde und gab ihm Freikugeln. So ging ihm kein
Schuss fehl, und er lebte herrlich und in Freuden. Es kam aber die Zeit, wo
der Vertrag ablief, bei dessen Abschluss er versprochen hatte, des Teufels zu
sein, nämlich sobald nach zehn Jahren im Walde das Laub abgefallen sei. Der
Teufel stellte sich richtig nach zehn Jahren um Martini ein, um den Förster zu
holen. Der aber machte Ausflüchte und meinte, der Teufel irre sich, denn alle
Blätter seien noch nicht abgefallen. Sie gingen in den Wald, um nachzusehen,
und der Förster behielt Recht: die Dickungen der Eiche und Buche waren noch
nicht entblättert. Der Satan musste abziehen, nahm sich aber vor, zu rechter Zeit
wiederzukommen. Das tat er denn auch um die Osterzeit und wies dem Förster
die nun blattlosen Dickungen. Dieser aber führte den Bösen zu einer Buchen-
heisterpflanzung aus den Vorjahren, an der zu gleicher Zeit grüne und trockene
Blätter zu sehen sind. Die Zeit war also wieder verpasst; der dumme Teufel sah
ein, dass er betrogen war, zog grimmig ab und kam nicht wieder. (Gross-Dahlum,
vom *J* Forstmeister Ziegenmeyer.)
c) Opperstund will kein Minsche mehr an en Düwel glöwen, olinges leit e
sik aberst öfter seihn un hale düssen un jünnen. Et kämm mal abens in
Schummern de Grotendahlsche Foster oppen Räbschen (Dorf Räbke am Eime)
Stiege hendal. Da möte ne Ein, bief bi ne stân un bot ne de Dagestît. De
Foster bot en ok en guen Abend und bief ok stân. Wildessen dat hei den
Frommen en betten hinken sach, as hei ran kämm, kêk e na sinen Fäuten. Da
word e en Përfaut gewahr un nu wußte hei Bescheid: dat moßte de Düwel sîn. Wenn
et ne nu ok en betten isig den Rüggen runder leip, sau harr e doch keine Furcht,
hei was en stämmigen Kerel un namm et mit sessen op.
„Tu", sä de Düwel, „wat drögsten da vor en putzig Dings op diner Schulder?"
„Dat is mine Tabackspipe", sä de Foster un namm sine Flinte in de Hand.
_Hm, rôken möchte ik ok wol emal", meine de Düwel. „Da kannste tan körnen",
antwöre de Foster, un dabi stôk e den Düwel de Mündunge int Mul, „sast ok
glíks Füer hebben". Dorbî treck e en Hânen op un drücke af. De Düwel pruste,
spucke ut un reip: „Fudichkan! Dë Taback is mik tau starke", un dormidde
mak e, dat e weg kämm. (Gross-Dahlum, vom -j- Forstmeister Ziegenmeyer.) —
[Vgl. Bolte-Polivka, Anmerkungen zu den KHM. der Brüder Grimm 2, 5302.]
416
Schütte:
III. Hexen.
Am alten Mai, das ist der zwölfte, ziehen die Hexen nach dem Blocksberge
(Lebenstedt.) — Wer sie hat sehn wollen in der Wolpernacht, hat sich müssen
auf einen Kreuzweg setzen und Kreuzdornen um sich herumlegen, dann haben
sie ihm nichts tun können. (Hötzum.) — Hexen aber, die durch eine Verletzung
blutrünstig werden, können einem nichts anhaben. (Volkmarsdorf.) — Schlägt
man auf die Türschwelle drei Hufnägel in Dreiecksform, dann kann die Hexe
nicht in die Stube (Wedtlenstedt), hängt man ein Pflugrad in den Schweinestall,
so geht sie nicht an die Schweine. (Cremlingen.) — Der Stridde (= Dreifuss
als Untersatz) durfte über Nacht auf dem Herde nicht stehen bleiben, sondern
musste umgestossen werden, dass er auf dem Rücken lag. Sonst kochten die
Hexen auf ihm die Nacht. (Hötzum.)
IV. Weisse Taube als Seele.
In Helmstedt war einem in der Jürgenstrasse wohnenden Bader ein silberner
Löffel weggekommen. Der Verdacht, ihn gestohlen zu haben, fiel auf Melusine,
des Baders Magd. Vergebens beteuerte diese ihre Unschuld; sie wurde ein-
gezogen, gefoltert und zum Tode durch das Schwert verurteilt. Auf einem Hügel
vor dem Südertore am Büddenstedter Wege wurde sie geköpft, und als der Kopf
fiel, schwebte aus dem Rumpfe eine weisse Taube als Zeichen von Melusinen»
Unschuld empor. In der folgenden Nacht sank auf der Richtstätte der Hügel ein,
und es entstand eine tiefe Grube, die als Melusinenkuhle noch heute zu sehen
ist. Nach Jahr und Tag warf der Wind einen alten Birnbaum in des Baders
Garten um; dabei zerfiel ein Elsternnest, und darin fand sich der vermisste Löffel.
V. Werwolf und Löwenbär.
a) Ein Mann, der sich einen Wolfsriemen umschnallte, wurde zum Werwolf
und konnte dann ein ganzes Schaf auffressen. (Hötzum.)
b) In den Wiesen bei Stiege, die man das Füllenbruch nennt, mähten an
einem warmen Sommertage zwei Männer Gras. Den Mittag rasteten sie, assen
und legten sich zum Schlafen nieder. Nach kurzem Schlummer erwachte der
eine, vermisste seinen Gefährten und sah, wie dieser, in einen Wolf verwandelt,
ein in den Wiesen weidendes Füllen beschlich, zerriss und frass. Darauf ver-
wandelte er sich wieder in einen Menschen und kehrte zur Ruhestätte zurück1).
Hier lag der andere entsetzt und stellte sich schlafend. Nach einiger Zeit gingen
beide wieder an die Arbeit. Dem Werwolfe ging sie schlecht von der Hand,
und bald klagte er über Vollheit im Magen. Da konnte sich der andere nicht
enthalten zu sagen: „Wer ein Füllen gefressen hat, muss wohl voll im Leibe
sein." Der Werwolf erwiderte: „Hättest du mir das vor einer Stunde gesagt, so
wäre dein letztes Brot gebacken gewesen." Inzwischen waren nämlich noch
andere Mäher an die Wiesen getreten, die sich dem Werwolfe mit entgegengestellt
hätten. Dieser suchte das Weite, und man hat ihn nicht wieder gesehen.
c) Menschen verwandeln sich durch einen Verwünschungsriemen in Löwen-
bären. Wenn ein Mensch den Riemen umschnallt und dieser nicht wieder auf-
geschlagen wird, so ist der Mensch ein Löwenbär. (Lebenstedt.)
1) Vgl. Voges a. a. 0. Nr. 107; Schambach u. Müller Nr. 198; Harrys, Yolkssagen
Niedersachsens Nr. 24. Grimm, D. Sagen Nr. 214.
Kleine Mitteilungen.
417
VI. Tückeboten.
Die Tückeboten wandten sich stets zu den Betenden. Ein Frachter fuhr
einmal bei dem Schöppenstedter Turme, wo es früher bruchig war, und betete.
Da setzten sich alle Tückeboten auf seinen Wagen, dass er so schwer wurde, dass
sein Pferd kaum weiter konnte. Als sich aber einer gar auf seinen Peitschen-
stock setzte, wusste er nicht ein und aus und rief: Donnerwetter! — und weg waren
sie alle. (Hötzum.)
VII. Nächtlicher Zauber bei Helmstedt.
Der Zimmermeister Koch, ein ruhiger, nüchterner Mann, kehrte eines Abends
spät aus dem Weissen Rosse, seiner vor dem Südertore belegenen Stammkneipe,
zurück, konnte aber das Tor nicht finden. Die ganze Gegend war verwandelt und
ihm unbekannt geworden. Da fiel ihm das einzig in solchem Falle helfende
Mittel ein, er setzte sich zu Boden und zog seine Schuhe um, so dass der rechte
auf den linken Fuss kam. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen; er
fand alles, wie es immer gewesen war, kam durch das Tor und erreichte sein
nahe gelegenes Haus.
VIII. Versunkene Gebäude.
a) Yon der alten Strasse von Delligsen nach Kaierde aus, dem Hofe Mittal
am Ithberge gegenüber, sieht man zwischen der Strasse und dem Röhnberge ein
Wasserloch. Es ist von einer Wiese umgeben, die die Meerwiese genannt wird.
Hier soll eine Kirche versunken sein; die Glocken will man zuweilen im Sommer
noch aus dem Wasser heraus läuten hören.
b) Im Silberhohl im Bodenburger Holze am Hahnenkampe ist ein Schloss
mit einer Prinzessin versunken. (Dorfbeschreibung von Seesen 1757, hand-
schriftlich auf der hiesigen Plankammer.)
IX. Bannung.
a) In einem Hofe in Bortfeld spukte ein Verstorbener. Da holte man einen
Pater, und der bannte den Geist in eine Flasche. Diese nahm er und fuhr mit
einem Knechte, der sich nicht umgucken durfte, nach dem Bruche und begrub die
Flasche unter einer 'Kopheike'. Da ist er nicht wiedergekommen, aber eine Stelle
in dem einen Stalle ist noch bedenklich, da dürfen sie kein Vieh hinstellen, sonst
wird es krank.
b) Hinter der Grasmühle bei Schöningen ist der Kuhteichsberg; dorthin, so
erzählte man vor 60 Jahren, hätten die Mönche immer welche gebannt.
c) Einen bösen Geist, der sich bei Gross-Twülpstedt zeigte, bannte der Pastor
Kemphans, indem er ihn in einen ledernen Sack tat und nach dem Wipperteiche
hinter Wendschott trug.
X. Unruhe im Grabe.
a) Dat Mäken mit der Lüchte.
Einst ging ein Mädchen, das schwanger war, mit seinem Bräutigam von
Bettmar nach Münstedt, traf aber dort nicht ein, sondern wurde in einer Flachs-
rotte ertrunken aufgefunden. Man glaubte, sein Bräutigam habe es ertränkt.
Sieht man nun seit derZeit ein Irrlicht, so heisst es, kdat Mäken mit der Lüchte'
ginge wieder umher.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft i. 27
418
Schütte :
b) Verwünschte Jungfrau.
Am Röhnberge bei Delligsen geht eine Jungfrau mit goldenen Eimern.
c) Die Jungfrau mit silbernen Schlüsseln.
Der Klostergarten von St. Ludgeri bei Helmstedt ist mit einer hohen Mauer
umgeben. An seiner östlichen Seite ist eine Pforte, aus der nachts eine Jungfrau
mit einem Bunde silberner Schlüssel kommt. Sie geht den Weg zum Stroh-
mühlenteiche, wo sie verschwindet. Die Pforte wird unterdessen von einem ver-
zauberten grossen Hunde bewacht.
d) Fräulein mit goldenen Eimern.
Es war einst ein Schloss bei Coppengrave, an dem Strassborn gelegen, der
da fliesst. Jetzt ist es untergegangen, von einem Zauberer verwünscht. Diesen
sollte das junge Fräulein, das einen grossen Lieblingshund hatte, heiraten, mochte
ihn aber nicht. Der Rand des Schlosses ist noch zu sehen; die Stelle ist schon
öfter vollgefahren, doch die Erde verschwindet immer. Alle zehn Jahre erscheint
das Fräulein mit goldenen Eimern und schöpft Wasser. Dann geht der Hund
neben ihm her und bewacht es; vor dem Stege, wo das Wasser fliesst, stellt er
sich auf. Der Zauberer steht vor dem anderen Ende des Steges. Wenn dann
Leute kamen, die nach der Mühle in Brunkensen wollten, konnten sie nicht hin-
über. Einmal kam eine Frau daher, als die zehn Jahre gerade wieder herum waren.
Da sah sie das Fräulein die volle Stunde von 11—12 stehen und den Hund auch;
ein Irrlicht stand aber in dem Kreise, in dem sich das junge Mädchen befand,
kam auf die Frau zu, und es ging immer: „Huck up!" Da rief sie: „Zum Teufel
huck up!", und auf einmal war es so schwer auf ihrer Kiepe, dass sie sie gar
nicht mehr tragen konnte. Als die Stunde vorüber war, wollte sie weg über den
Steg gehen. Da aber ihre Kiepe so schwer war, sagte sie: „Kriuzdonnerwetter,
wat is denn dat up miner Keipen!" Dann wurde sie ordentlich zurückgerissen,
und es huckte etwas ab. Als sie nach Hause kam, erzählte sie es. Ein alter
Mann aber wollte ihr nicht glauben und sagte: „Wenn ik allet glöwe, dat glöwe
ick nich." Sie jedoch erwiderte: „Mik hat et mine Mutter un mine Grossmutter
verteilt, un nu is et mik begegnet." Da sagte er: „Wenn ik in tein Jahren noch
lewe, will ek er ok hen un seihn, ob et wahr is." Als die zehn Jahre herum
waren, ging er nach der Mühle, um sich Roggen schroten zu lassen, und als er
zur Stunde dahin kommt, sieht er das Nämliche: Das junge Mädchen geht mit
den goldenen Eimern dreimal um das Schloss herum, dann kommt der Hund und
steht bei ihr, während sie Wasser schöpft, darauf erscheint auch der Zauberer.
Dem Alten steigen die Haare zu Berge, doch bleibt er stehn; als er sich aber
nach dem Hunde hin bewegt, kriegt er eine Ohrfeige, dass er die Besinnung
verliert. Als er wieder zu sich kommt, sieht er den Hund mit der Jungfrau ver-
schwinden, den Zauberer sah er nicht mehr.
e) Verwünschte Jungfrau1).
Der Berg hinter dem Grünenpläner Kurhause heisst die heilige Au. Dort
soll früher ein Kloster gestanden haben, noch ist ein Nonnenteich da. Einst stand
hinter dem Kurhause eine alte Eiche. Unter dieser hatte sich einmal ein Kind
mit einem Korbe voll Erdbeeren hingesetzt. Da erschien eine Jungfrau und bat
um die Erdbeeren. Das Kind aber lief mit seinem Korbe fort. Da klagte die
1) Vgl. Voges Nr. 17; Schambach u. Müller Nr. 115.
Kleine Mitteilungen.
419
Jungfrau, dass sie nicht erlöst wäre. Nun könnte sie erst erlöst werden, wenn
die jungen Schösslinge der Eiche so dick geworden wären, dass aus dem Holze
eine Wiege gemacht werden könne, und das Kind, das darin gewiegt wäre, heran-
gewachsen sei. Dies erst könne sie erlösen.
f) Fräulein auf der Asse.
Auf der Asse zeigte sich oft ein Fräulein in weissem Kleide mit einem Bunde
Schlüssel. Wenn einer durchging, winkte es. Ein Förster ging auf das Winken
zu, da war das Fräulein, als er dicht bei ihm war, auf einmal verschwunden.
Aber an der Buche, an der es gestanden hatte, fand er einen grossen Sack voll
Turhölter (= Käse) stehen. Er besah ihn und steckte sich eine Tasche voll. Als
er nach Hause kam und den Käse herauskriegen wollte, hatte er lauter Gold-
stücke in der Tasche. Da ging er wieder hin und wollte sich noch Käse holen,
aber da war der Sack verschwunden.
g) Frau ohne Beine.
Eine Frau ohne Beine ging hinter der Försterei bei Grünenplan. Sie trug
weisse Kleider. Wenn man jedoch in ihre Nähe kam, war sie stets ver-
schwunden.
h) Die Darmwäschersche.
Den Steg, der über die Hille geht, die durch Coppengrave hindurch in die
Gleene fliesst, beschreitet nach zehn Uhr abends kein Kind mehr. Hier sitzt
nämlich die Darmwäschersche, und zwar kommt sie alle Vierteljahr an den Steg
der Hille, um die Gedärme ihres Schwiegersohnes, der sie totgeschlagen hat, zu
waschen.
i) Mann ohne Kopf.
In einem Holze hinter Rautheim, der Grashof geheissen, jetzt urbar gemacht,
hörte man abends in der Dämmerung einen Mann ohne Kopf immer 'Hoho1
rufen.
Im Glüsigwalde zwischen Helmstedt und Harbke ging nachts der Jäger
Schickedanz um, trug seinen glühenden Kopf unter dem Arme und erschreckte
die Leute.
k) Der Bölkhans.
Zwischen Gross-Sisbeck und Gross-Twülpstedt war der Kleibusch. In ihm
stand ein steinerner Tisch. An diesem sass oft der Bölkhans (Konring) mit
einer Feder hinter dem Ohr und schrieb. Vielen huckte er auf und rief. „Hollaho,
hierher, hier is de Snee!" (= Grenze) Manchmal rief er sein Hollaho, hoho, hoho
so laut, dass in Papenrode die Fenster klingelten. Nun ward dies auch einem
Pastor erzählt, und dieser wollte die Leute von ihrem Aberglauben abbringen,
von dem, auch sein Kutscher erfüllt war. Er liess diesen also anspannen und
setzte sich in den Wagen. Sein Friedrich musste fahren. Er hatte aber den
Leuten gesagt, der da riefe, wäre nicht Konring, sondern ein Vogel. Als sie
jedoch in die Gegend kamen, wo sich Konring aufzuhalten pflegte, rief dieser auf
einmal in den Kutschwagen hinein. Da erschrak der Pastor und rief: „Friedrich,
wende um, es ist ein böser Geist!"
27*
420
Schütte, Zachariae:
1) Toter kehrt ins Haus zurück.
Ein alter Bauer wollte seine Stelle (Grab) im Hofe haben. Nach seinem
Tode führte aber sein Sohn seinen Wunsch nicht aus, sondern liess den Toten
nach dem Kirchhofe bringen. Als nun eines Tages der Knecht Flachs in die
Rote legen musste, wobei er Strümpfe und Schuh ausgezogen hatte, kam ihm
immer etwas an die Beine. Er fasste zu und schnappte einen langen, dicken
Fisch. Nun dachte er: „Sollst schnell nach Hause laufen und den Fisch hin-
bringen". Als er aber da war, sprang der Fisch weg und sprach: „Nun hast du
mich weit genug gebracht"; er habe sich eine Stelle im Hause gewünscht und
wolle nun nicht wieder heraus. Unter der Treppe sollten sie ihm eine Stelle aus-
mauern und einen Himpten Salz und einen Himpten Asche durcheinandermengen
und ihm geben. Den wolle er dann wieder auseinanderlesen und sich damit die
Zeit vertreiben.
m) Die Pfeife.
Der alte Förster Perl in Coppengrave war gestorben. Zwei Tage nach seinem
Begräbnisse kam die alte Frau Perl mit den Nachbaren auf ihren Mann zu sprechen
und sagte: „Mein Mann hat immer so gern die Pfeife geraucht, und ich habe sie
ihm nicht ins Grab gelegt." Als sie die Nacht darauf zwischen elf und zwölf im
Bette lag, trat unten einer vor das Fenster und rief dreimal: „Dora, Dora, meine
Pfeife!" Sie war darüber so erschrocken, dass sie keinen Laut von sich geben
konnte, dachte aber, sie habe geträumt, und blieb ruhig liegen. Die folgende
Nacht ging es gerade wieder so los. Als sie aufwachte, dachte sie: „Jetzt kannst
du es nicht mehr ertragen", band einen Bindfaden an die Pfeife und liess sie
hinunter. Am andern M.orgen war sie froh, dass sie die Pfeife hingegeben hatte.
Zu ihrem grossen Erstaunen hing sie aber am Wegweiser. Der Tote hatte sie
also nicht mit ins Grab genommen, sondern an den Wegweiser gehängt.
n) Die Nachtmütze.
Einem Bauern in Coppengrave war die Frau gestorben. Sie hatte vor ihrem
Tode ihre Nachtmütze, die man ihr nach dem Tode aufsetzen sollte, in das Ofen-
loch gelegt. Das hatte sie aber ihren Angehörigen zu sagen vergessen, und die
hatten sie daher der Leiche nicht aufgesetzt. Als sie ein paar Wochen tot war,
ging in der Nacht zwischen elf und zwölf dem Mädchen die Kammertür auf, und
die Tote erschien in weissem Kittel. Das Mädchen erschrak und konnte kein
Wort sagen. Als es am Morgen herunterkam, sagte es seinem Herrn, die Frau
sei dagewesen. Er aber erwiderte: „Mädchen, du hast wohl geträumt, weil wir
gestern abend davon gesprochen haben. Wenn sie wieder kommt, frag, was sie
will!" Die Nacht darauf kam sie richtig wieder und stellte sich vor das Bett.
Da fragte das Mädchen: „Fru, wat will se denn?" „Ach", sagte sie, „im Oben-
locke da leit meine Nachtmützen." „Na", sagte das Mädchen, „gat man hen, ik
will se morgen abend vor de Döre legen." Den Abend blieb das Mädchen lange
auf, nahm die Nachtmütze aus dem Ofenloche und legte sie vor die Tür. Am
andern Morgen war sie verschwunden, aber seit der Zeit ist die Frau nicht wieder
ins Haus gekommen.
Braun schweig. Otto Schütte.
(Schluss folgt.)
Kleine Mitteilungen.
421
Rätsel der Königin yon Saba in Indien.
In meiner Abhandlung 'Zur Geschichte vom weisen Haikar' oben 17, 172ff.
habe ich die Rätselfragen und Rätselaufgaben, die dem klugen Mahosadha vom
König Vedeha im Mahäummaggajätaka1) zur Lösung vorgelegt werden, aus diesem
Jätaka ausgezogen und kurz besprochen. Nur die 15. 'Frage', die Sandstrick-
aufgabe2), habe ich a. a. 0. ausführlich behandelt. Indessen beanspruchen
mehrere von den andern Aufgaben ein gleiches, wo nicht grösseres Interesse: so
vor allem das 'salomonische Urteil' in der 5. Aufgabe, das schon so oft mit der
entsprechenden biblischen Erzählung im 1. Buch der Könige verglichen worden
ist3). Hierher gehören ferner einige Aufgaben, die eine mehr oder weniger grosse
Ähnlichkeit mit Rätseln der Königin von Saba aufweisen. Diese Aufgaben
will ich hier etwas ausführlicher besprechen, als es in meiner oben angeführten
Abhandlung geschehen ist, wo ich mich mit Andeutungen begnügen musste.
Zunächst kommt die wohlbekannte und weitverbreitete 8. Aufgabe in Be-
tracht: Mahosadha soll zeigen, welches von den beiden Enden eines Stabes die
Spitze und welches die Wurzel ist. Er löst die Aufgabe in der Weise, dass er
sich ein Gefäss voll Wasser bringen lässt, an der Mitte des Stabes einen Faden
befestigt und an diesem Faden den Stab auf das Wasser hinablässt; das Ende
des Stabes, das zuerst im Wasser versinkt, ist das Wurzelende. Eigentümlich ist
an dieser Lösung, wie ich beiläufig bemerken möchte, dass der Stab in der Mitte
an einen Faden angebunden wird. Dieser Zug findet sich, soweit ich sehe, sonst
nicht in der indischen. oder in der davon abhängigen Literatur, wohl aber in
einigen westlichen Versionen; s. Polivka im Archiv für slavische Philologie 27,617.
Wie ich in meiner Abhandlung oben 17, 174 bereits angedeutet habe, wird
die Stabaufgabe auch unter den Rätseln der Königin von Saba aufgeführt. Erst
jetzt bin ich in der Lage, genauere Angaben zu machen. Die ältesten, übrigens
nicht einmal sonderlich alten jüdischen Quellen für die Rätsel der Königin von
Saba — der Midrasch zu den Sprüchen und das zweite Targum zum Buche
Esther — kennen die Aufgabe allerdings nicht. Dagegen erscheint sie in einer
späten, dem 15. Jh. angehörigen Redaktion der Rätsel, die S. Schechter unter dem
Titel 'The riddles of Solomon in Rabbinic literature Folk-Lore 1, 349—358 her-
ausgegeben und übersetzt hat. Hier lautet das 19. und letzte Rätsel: 'She [the
Queen of Sheba] next ordered the sawn (irunk of a) cedar tree to be brought,
and asked him to point out which (end) the root had been and at which the
branches. He bade her cast it into the water, when one end sank and the other
floated upon the surface of the water. That part which sank was the root, and
that which remained uppermost was the branch end'.
Die beiden folgenden Aufgaben, die Mahosadha löst, haben die Geschlechts-
unterscheidung zum Gegenstand. Im ersten Falle unterscheidet er einen männ-
lichen von einem weiblichen Schädel: 'die Nähte (sibba) am Kopfe eines Mannes
sind gerade, die am Kopfe eines Weibes sind krumm'. Im zweiten Falle erkennt
1) Zum Mahäummaggajätaka vgl. jetzt auch M. Winternitz, Geschichte der indischen
Literatur 2, 1 (1913), S. 111 ff.
2) Zur Sandstrickaufgabe s. auch oben 17, 461 und Folk-Lore 9, 368ff. Die
4. Aufgabe, die Geschichte vom strittigen Garnknäuel, habe ich in der Wiener Zeit-
schrift für die Kunde des Morgenlandes 26, 418ff. ausführlich behandelt und dort gezeigt,
dass die Geschichte auch in den abendländischen Literaturen, bei Étienne de Bourbon,
Johannes Pauli, Hans Sachs und anderen vorkommt.
3) Zuletzt von Richard Garbe, Indien und das Christentum 1914 S. 25ff.
422
Zachariae:
er, welche von zwei Schlangen ein Männchen und welche ein Weibchen ist; die
Schlangenmännchen haben nämlich einen dicken Schwanz, die Weibchen einen
dünnen; bei jenen ist der Kopf dick, bei diesen lang; jene haben grosse, diese
kleine Augen usw. Da liegt es nun nahe, eines der berühmtesten Rätsel der
Königin von Saba zu vergleichen1), ein Rätsel, in dem es sich ebenfalls um Ge-
schlechtsunterscheidung handelt: das 'Kinderrätsel', das oft besprochen worden
ist, ausführlich namentlich von W. Hertz in seiner Abhandlung 'Die Rätsel der
Königin von Saba', Zs. für deutsches Altertum 27, 1—33, mit Zusätzen wieder
abgedruckt in den Gesammelten Abhandlungen von W. Hertz 1905 S. 413—455.
Im Midrasch zu den Sprüchen wird von der Königin gesagt: 'Sie liess Knaben
und Mädchen kommen, alle von gleichem Aussehen, gleicher Grösse und gleicher
Kleidung, und sprach zu Salomo: Sondre mir die Männlichen von den Weib-
lichen!' Ähnlich in anderen Quellen. Mit den verschiedenen Lösungen, die dem
Kinderrätsel zuteil geworden sind, kann ich mich hier nicht befassen2); nur darauf
sei hingewiesen, dass die Schlangenaufgabe des Jätaka ebenfalls in verschiedener
Weise gelöst worden ist (s. Benfey, Kleinere Schriften 3, 174; Schiefner-Ralston,
Tibetan Tales p. 165). Und noch eins. Wenn im Jätaka zwei Aufgaben neben-
einander stehen, die beide die Geschlechtsunterscheidung zum Gegenstande haben,
so tritt uns bei den Rätseln der Königin von Saba eine annähernd gleiche Er-
scheinung entgegen. Nachdem berichtet worden ist, wie Salomo das Kinderrätsel
löste, heisst es in dem vorhin angeführten Targum weiter: 'Die Königin tat aber
noch etwas Ähnliches, indem sie Beschnittne und Unbeschnittne brachte und zu
ihm sprach: Sondre mir die Beschnittnen von den Unbeschnittnen!' (A. Wünsche,
Die Rätselweisheit bei den Hebräern 1883 S. 16 f. ; vgl. Folk-Lore 1, 354. 357).
Wir wenden uns zu der 12. Aufgabe, die Mahosadha lösen muss, zu der
Edelsteinaufgabe. Wie aus dem Kusajätaka (Nr. 531) bekannt ist, hatte einst
Sakka, der Götterkönig, dem Kusa einen wunderbaren Edelstein geschenkt3).
Dieser Edelstein wird als 'an acht4) Stellen krumm' (gebogen, gewunden) be-
zeichnet; mithin war, wie man annehmen muss, die Höhlung des Steines, durch
die ein Faden gezogen war, ebenfalls 'krumm', denn sie folgte naturgemäss den
Windungen des Steins. Nun war der Faden zerrissen (zerbrochen; morsch ge-
worden), und niemand vermochte, den alten Faden aus dem Stein herauszuziehen
1) Mit dem Kinderrätsel hat Friedr. von der Leyen eine andere indische Scharfsinns-
probe in Parallele gesetzt: ein kluger Minister entscheidet, welche von zwei ganz gleichen
Stuten die Mutterstute und welche das Fohlen ist (v. d. Leyen, Das Märchen 1911 S. 94;
Archiv für das Studium der neueren Sprachen 115, 15. 116, 8).
2) Ausser der Abhandlung von Hertz vergleiche man S. Krauss, Byzantinische Zeit-
schrift 11, 12Gf.; M. Gaster, Folk-Lore 1, 133ff.; S. Schechter ebenda S. 356f.; Tractatus
de diversis historiis Romanorum ed. Hertzstein 1893 S. 59 ff.
3) Jätaka 5, 310, 17. 312, 4. Kraft eines wunderbaren Edelsteins, den der Götter-
könig dem siegreichen Kusa um den Hals hängt, wird Kusas Hässlichkeit in göttliche
Schönheit verwandelt: s. R. Köhler, Kl. Schriften 1, 523. 526; Schiefner-Ralston, Tib.
Tales p. 28.
4) Acht ist eine in Indien, zumal bei den Buddhisten, sehr beliebte Zahl; s. oben
15, 77. 17, 189 ff. — Nach der englischen Übersetzung des Jätaka Bd. 6, S. 167 bedeutet
der Ausdruck atthasu thänesu variiko 'an acht Stellen krumm' s. v. a. 'octagonal'. Diese
Ubersetzung kann ich nicht für richtig halten ('achteckig' wäre im Päli: atthamsa, attha-
koiia). Nur unter der Voraussetzung, dass der Stein "und folglich auch das Loch darin
'krumm' waren (man denke an das Gewinde einer Muschel), lässt es sich verstehen, dass
das Herausziehen des alten Fadens und das Einfädeln eines neuen so schwierig war.
Kleine Mitteilungen.
423
und einen neuen einzufädeln. Aber Mahosadha bringt es zustande: ei lässt sich
etwas Honig bringen, beschmiert das Loch in dem Stein an beiden Seiten (am
Ein- und Ausgang) mit Honig, dreht einen "Wollfaden, beschmiert ihn an der
Spitze (an dem einen Ende) gleichfalls mit Honig und schiebt ihn ein Stück in
die eine Öffnung des Steines hinein. Den Stein selbst legt er (mit der anderen
Öffnung zu unterst) an einen Ort, wo Ameisen herauskommen (in einen Ameisen-
haufen). Die Ameisen, von dem Duft des Honigs angezogen, kommen aus
ihrem Loch heraus, kriechen, indem sie den alten Faden verzehren, in den Edel-
stein hinein, fassen den Wollfaden an der mit Honig beschmierten Spitze an und
zerren ihn durch die Öffnung hindurch.
Diese Aufgabe tritt uns, nebst ihrer Lösung, in sehr ähnlicher Passung unter
den Rätselaufgaben entgegen, die die Königin von Saba dem Salomo stellt: aller-
dings nicht in der jüdischen Überlieferung, wohl aber in der arabischen, wo
die Königin den Namen Balqls (oder Bilqïs) führt. Ich gebe die Zeugnisse in
aller Kürze. Meine Quellen sind ausser Hertz, Ges. Abhandlungen S. 420ff. die
Biblischen Legenden der Muselmänner von G. Weil 1845 und die Neuen Beiträge
zur semitischen Sagenkunde von M. Grünbaum 1893.
Die Korankommentatoren Zamaljsarï und (kürzer) Baidäwl erzählen: Balqis
schickte dem Salomo 500 Jünglinge, wie Jungfrauen aussehend, und 500 Jung-
frauen, wie Jünglinge gekleidet, ferner.....ein Kästchen, in dem eine unge-
bohrte Perle sowie ein krummgebohrter Onyx war, und sprach zu einem der
Gesandten: Wenn er ein Prophet ist, so wird er die Jünglinge und Jungfrauen
voneinander unterscheiden, die Perle durchbohren und durch den Edelstein
einen Faden ziehen können. Salomo, vom Engel Gabriel über alles belehrt,
fragte die Gesandten nach dem Kästchen, indem er ihnen zugleich sagte, was es
enthielt. Dann liess er den Holzwurm1) herbeibringen, der die Perle durch-
bohrte, während ein weisser Wurm einen Faden, den er in den Mund ge-
nommen, durch den Onyx hindurchzog. Darauf löste Salomo die erste Aufgabe,
das 'Kinderrätsel' (Grünbaum S. 217f.; vgl. Hertz, Ges. Abhh. S. 423).
Nach der Weltchronik des Tabari2) befragte Salomo mit Bezug auf die un-
gebohrte Perle zuerst die Menschen, dann die Dschinnen und zuletzt die Dä-
monen, auf deren Rat er den Wurm Arada bringen liess, der mit einem
Faden im Munde die Perle durchbohrte und zugleich den Faden hindurchzog
(Grünbaum S. 220. Die Nichterwähnung des krummgebohrten Onyx erklärt
sich, wie Grünbaum bemerkt, aus der Lückenhaftigkeit des Textes. Vgl. Hertz S. 422).
Die einander ähnlichen Jünglinge und Jungfrauen, die zu durchbohrende
Perle und der krummgebohrte Onyx werden auch in den Prophetengeschichten
des al-Kisäi und des Tha'labï erwähnt (Grünbaum S. 220; Hertz S. 422 f.).
Besondere Erwähnung verdient noch die arabische Legende bei Weil S. 260ff.
(im Auszug bei Hertz S. 424). Danach durchbohrte Salomo die undurchlöcherte
Perle mit dem Stein Sämür3), dessen Kenntnis er dem Dämonen Sachr und einem
1) Nach Baidäwi bei Hertz S. 423 nimmt ein Bohrwurin ein Haai und zieht es
durch die Perle; vgl. Tabarï ebenda S. 422.
2) In Bal'amïs persischer Überarbeitung von Tabaris Chronik wild nur ein un-
durchbohrter Rubin erwähnt. 'Salomo hiess seine Diws einen Diamant holen, um
den Rubin damit zu durchbohren' (Hertz S. 420).
3) Dies ist der Stein Schamir, der auch, und zwar gewöhnlich, als Wurm aufge-
fasst wird; s. Steinschneider, Hebräische Bibliographie 18, 59f.; Grünbaum, Neue Beiträge
1893 S. 229f.; Gesammelte Aufsätze 1901 S. 31 ff. 42f.; S. Singer, Zs. f. deutsches Alter-
tum 35, 178. 183 f. (wo weitere Literaturangaben).
424
Zachariae, Boite: Kleine Mitteilungen.
Raben verdankte (Weil S. 236); nur das Einfädeln des Diamanten, dessen
.Öffnung alle möglichen Krümmungen machte, setzte ihn in einige Ver-
legenheit, bis endlich ein Satan einen Wurm brachte, der sich durchwand und
einen seidenen Faden zurückliess. Salomo fragte den Wurm, womit er ihn für
diesen grossen Dienst belohnen könne. Der Wurm erbat sich einen schönen
Fruchtbaum zur Wohnung. Salomo wies ihm den Maulbeerbaum an, der von
dieser Stunde an für alle Zeiten den Seidenwürmern sicheres Obdach und
Nahrung gewährt. —
Es liegt somit in der Salomosage und im Jätaka dieselbe Aufgabe vor: es
soll durch einen krummdurchbohrten Edelstein ein Faden gezogen werden. Auch
die Lösung der Aufgabe wird in fast gleicher Weise, durch kleine Tiere, durch
Würmer oder Insekten, herbeigeführt. Nach der Darstellung bei Weil spinnt ein
Seiden wurm den Faden selbst; er kriecht durch die Öffnung des Steins und
lässt den Faden darin zurück. Im Jätaka werden die Ameisen durch den Duft
des Honigs bewogen, in die Öffnung hineinzukriechen. Dieser Zug ist der
indischen Fassung der Rätselaufgabe eigentümlich.
In der Salomosage wird, ausser dem Ziehen eines Fadens durch eine bereits
vorhandene Öffnung, auch die Durchbohrung eines Steines verlangt und von
einem Holzwurm ausgeführt. Die Vorstellung, dass ein Stein von einem Wurm
(oder Insekt) durchbohrt werden kann, findet sich auch in Indien. Die Höhlungen
in dem heiligen Sälagräma-Stein1) sollen von Würmern (vajrakïta), oder von
Visnu in der Gestalt eines Wurmes gebohrt worden sein.
Halle a. S. Theodor Zachariae.
Aus Hermann Kestners Volksliedersammlung3).
1. Vogel im Käfig.
(Dänisch mit Melodie bei Berggreen, Folkesange og Melodier l3, "200 Nr. 109: 'En eenlig
Fugl udi sit Buur'.)
1. Ein Yöglein in dem Käfig klagt,
Dass Freiheit ihm entrissen.
Was nützt ihm seiner Schwingen Macht,
Die Bande fest umschliessen !
0 war ich frei und könnte wandern,
Anstatt im Kerker hier von Gold
Zu nehmen Brot von andern!
2. So froh und frei flog einst ich aus,
Nun muss ich Knechtschaft leiden.
Ein goldner Kerker ist mein Haus
So eng nach allen Seiten.
Nur meiner Sehnsucht heisse Träume
Ziehn in die weite Welt hinaus
Durch schrankenlose Räume.
Berlin. Johannes Bolte.
1) Literatur über den Sälagräma s. oben 15, 92 f.
2) Über H. Kestners (1810—1890) ungedruckte Sammlungen deutscher und aus-
ländischer Volkslieder vgl. oben 12, 57.
v. der Leven: Bücheranzeigen.
425
Bticheraiizeigeii.
Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Orimm^
neu bearbeitet von Johannes Bolte und Georg Polivka. 1. Band
(Nr. 1—60). Leipzig-, Dieterich (Th. Weicher) 1913. VIII, 556 S. gr. 8°.
Geh. 12 Mk., geb. 14 Mk.
Von den Wissenschaften, die in den letzten Jahrzehnten um Anerkennung
und um Gleichberechtigung mit älteren und bewährteren kämpfen, fordert die
Märchenforschung ein ganz besonderes Mass von Arbeitskraft und Entsagung,
Bescheidenheit und Vorsicht. Das Material kaum einer anderen Wissenschaft ist
so reich, so verstreut über alle Länder und Zeiten, so versteckt in andere Gattungen
der Literatur, so schwankend in seinem Wert und so abhängig von der Art der
Sammler und Erzähler, so wenig gesichert gegen neue Funde und Überraschungen
und so unaufhörlich in- und durcheinandergleitend. Es muss uns wie eine gütige
Fügung erscheinen, dass gerade in Deutschland der Märchenforschung sich Ge-
lehrte zuwandten, die jene Tugenden der unverdrossenen Arbeit und der selbst-
losen Entsagung in vorbildlicher Kraft besassen. Hier seien vor allem Jacob und
Wilhelm Grimm und Reinhold Köhler genannt. Die Anmerkungen der Brüder
Grimm zu ihren Märchen haben nun Johannes Bolte und Georg Polivka erneut,
und sie haben ihr Werk dem Andenken von Reinhold Köhler gewidmet. Der
erste Band des langersehnten Buches liegt nun vor! Wir wollen gleich bemerken,
dass es im besten Geist der Grimm und Köhler gehalten ist, dass es eine Fülle
von Materialien zusammenträgt, die fast die Kraft einzelner zu übersteigen
scheint, und dass, auf lange Zeit hinaus, das ganze Werk ein Schatzhaus bleiben
wird, aus dem die Märchenforschung sich gesicherte Kenntnisse und Erkenntnisse
holen kann.
Bolte und Polivka haben in ihren neuen Anmerkungen das Werk und den
Wortlaut der Brüder Grimm nach Möglichkeit geschont, auch den Abdruck merk-
würdiger abweichender deutscher Fassungen der Märchen wiederholt, ebenso den
Abdruck interessanter Fassungen aus früheren Jahrhunderten. Nicht nur die von
den Brüdern in allen Auflagen aufgenommenen Märchen sind behandelt, auch
solche, die später unterdrückt oder nur auszugsweise wiedergegeben wurden. Die
Zahl der Varianten aus deutschen und fremden Ländern ist natürlich, entsprechend
dem fast unübersehbaren Zuwachs von Märchenaulzeichnungen und Märchen-
sammlungen, den das vergangene Jahrhundert brachte, im Vergleich mit den Hin-
weisen der Brüder Grimm, fast in das Beängstigende gestiegen. Doch wird die
Übersicht' durch eine klare Anordnung und Einteilung überall ermöglicht. Dabei
gehen die Verfasser nicht nur den Parallelen des ganzen Märchens oder seinen
wesentlichen Motivreihen nach, sondern auch einzelne Motive finden ihre eingehende
Behandlung, und diese erstreckt sich, sobald die Materialien vorliegen, bis auf
den fernen Osten, bis auf die primitiven Völker, bis auf das klassische Altertum.
426
v. der Leyen, Boehra:
Alle Wissenschaften, die der Literatur dieser Völker gelten, haben daher ihren
Vorteil von der unvergleichlichen und anspruchslosen Belesenheit unserer Ver-
fasser. Namentlich ist es unschätzbar, dass durch die Mitwirkung Georg Polivkas
die slawischen Materialien in einer noch nie erreichten systematischen Vollständig-
keit beigebracht und verwertet werden. Irgendwelche kleine Nachträge zu liefern,
scheint uns zwecklos und wichtigtuerisch: das Wenige, was man vermisst, bringt
wahrscheinlich der zweite Band, oder die Bearbeiter hatten ihre guten Gründe,
wenn sie aus den ihnen zu Gebote stehenden Hinweisen eine Auswahl trafen.
Absichtlich halten Bolte und Polivka ihren Literaturangaben die mythologischen
Deutungsversuche der Märchen, und damit viele Verwirrung und haltlose Phantasien
fern. Ebenso ist die Zurückhaltung gegenüber den anthropologischen und psycho-
logischen Theorien begreiflich, die uns die meisten Märchenmotive aus dem
Glauben und den Sitten der Urzeit oder aus seelischen Erregungen ableiten. Frei-
lich sind die Ergebnisse hier viel gesicherter, anerkannter und einleuchtender, und
der Referent hätte gern eine Reihe von Hinweisen auf die Bücher von Tylor,
Spencer, Frazer, Andree, Feilberg gefunden, sogar auf Ludwig Laistner, schon
weil dieser jedesmal reichhaltige und beachtenswerte Materialien bringt. Auch
hätten wir gern gesehen, wenn, besonders bei lebhaft umstrittenen Märchen, wie
z. B. bei dem treuen Johannes, dem Teufel mit den drei goldenen Haaren, dem
Brüdermärchen ausführlicher auf die Geschichte der Forschung und auf die Theorie
des Ursprungs eingegangen wäre. Von solchen Verweisen hätte ausser der
Märchenkunde auch die Poetik einen grossen Gewinn gehabt; wird doch die Be-
deutung des Märchens für die Poetik, d. h. für die Wissenschaft vom Ursprung,
den Formen und der Wirkung der Dichtung, immer klarer. So liefern die An-
merkungen denen ein unschätzbares Material, die die Zusammensetzung, Umsetzung,
Zersetzung der Märchen und Märchenmotive, die Veränderungen ihrer literarischen
Formen, die Anpassung an den Geschmack und die Bedürfnisse des Volkes studieren
wollen. Aber auf das erste Werden, die primitiven Anfänge des Märchens, ebenso
auf die Art, auf Alter, Stand, Geschlecht des Erzählers, auf die Gesetze der
Märchenform und auf die Märchenformeln fallen nur wenig Lichter. Die ver-
gleichende Literaturgeschichte muss den Anmerkungen von Bolte und Polivka vor
allem danken, die Forscher, die in dem Märchen namentlich das literarische ins
Volk gewanderte Kunstwerk, das Kunstmärchen im Volksmund sehen. — Dagegen
sind mit vollem Recht die psychoanalytischen Erklärungen der Märchen, die Ar-
beiten der Schule von Freud, übergangen. Das Wenige, was an ihnen viel-
leicht haltbar sein mag, ist uns vorher von anderen Forschern übermittelt worden,
und alle anderen Hypothesen sind vorläufig so unwissend und so unkritisch, so
gewaltsam und willkürlich in der Behandlung und Verwertung des Materials, dass
sie eine Berücksichtigung durch die strenge Wissenschaft noch nicht verdienen.
Gerade nachdem durch die unablässigen Mühen unserer beiden Forscher allen
zukünftigen Gelehrten, die der Verbreitung und der Geschichte der Märchen nach-
gehen, die Arbeit überall erleichtert und oft ganz abgenommen wurde, müssen
wir fordern, dass dies Buch mit derselben Vorsicht und Sorgfalt benutzt wird, mit
der es geschaffen wurde. Namentlich die Hinweise auf die Arbeiten anderer Ge-
lehrter sollten nicht einfach übernommen, sondern jedesmal nachgeschlagen
werden. Man wird darin manche Ergänzungen und Nachweise finden, die Bolte
und Polivka absichtlich nicht im einzelnen verzeichneten. Überhaupt wird es sich
immer empfehlen, die Werke und Studien von Reinhold Köhler, Chauvin, Cosquin,
Gaston Paris, Antti Aarne, Dähnhardt zur Ergänzung zu vergleichen.
Der letzte Band soll ein alphabetisches Verzeichnis der Märchenmotive
Bücheranzeigen.
427
bringen. Im Anschluss daran wären noch andere Übersichten erwünscht, sei es
im dritten Band und von den gleichen Verfassern, sei es von anderen Gelehrten
an anderer Stelle — nachdem diese wahrlich genug Lebenskraft und Lebenszeit
geopfert, um ein Urkundenbuch der Märchenforschung zu schaffen. Wir wünschten
eine Tabelle, aus der hervorgeht, welches Märchen sich mit anderen, und wie und
wie oft es sich mit anderen verflochten oder durchflochten hat, und wie sich in
diesen Verflechtungen die einzelnen Länder ähneln und unterscheiden. Dann
wünschen wir eine Karte zu jedem Märchen, die nach Massgabe unserer Kenntnis
sein geographisches Verbreitungsgebiet und seine Dichtigkeit in den verschiedenen
Ländern und Landschaften darstellt. Vielleicht wären die deutschen Karten von
den Weltkarten zu trennen, und vielleicht sollte, wenn die Daten vorliegen, auch
vermerkt werden, aus welchen Jahrhunderten und wie oft in den Jahrhunderten
das Märchen bezeugt ist. Ein solcher Märchenatlas würde die Beteiligung der
einzelnen Länder an der Märchenerzählung, sowie die gebenden und nehmenden
Mächte im deutschen Märchen sehr anschaulich zeigen. Ebenso würde er der
Auffindung der Zusammenhänge und Wanderungen der einzelnen Varianten und
Motivgruppen — einer sehr verwickelten Aufgabe — gründlich und kräftig vor-
arbeiten.
Wir werden, wenn uns der zweite Band vorliegt, noch einmal auf das ganze
Werk zurückkommen. Diesmal möchten wir nicht ohne vaterländischen Stolz be-
tonen, dass auch in diesem Buch der Zweibund von Deutschland und Österreich
ein Werk geschaffen, das andere Völker so bald nicht nachmachen werden. Auf
der einen Seite ist es ein Zeugnis jenes selbstverleugnenden, unverdrossenen, das
Kleinste nicht übersehenden Gelehrtenfleisses, den wir deutsch nennen dürfen, auf
der anderen Seite ein wundervolles Dokument von Überblick und von Verständnis
für die Märchen der ganzen Welt und ihr Behagen an Spiel und Leben. Die
geistige und friedliche, so stille Welteroberung dieses Buches ist ein seltsames
Vorspiel zu den ungeheuren Kämpfen um die Weltherrschaft, in die Deutschland
nun gedrängt wird; möge sie auch eine glückliche Vorbedeutung sein. Möge der
zweite Band in die Zeit des Friedens fallen, und eindringlicher, als es der erste
nun kann, der Welt zeigen, dass Deutschland ausser politischen und militärischen
auch wissenschaftliche Anrechte auf eine Weltherrschaft besitzt.
München, im Oktober 1914. Friedrich v. der Leyen.
August Hausrath und August Marx, Griechische Märchen. Märchen,
Fabeln, Schwänke und Novellen aus dem klassischen Altertum, ausge-
wählt und übertragen. Mit 23 Tafeln. Jena, E. Diederichs 1913.
1.—3. Tausend. XXII, 363 S. 8°. Geh. 6 Mk., geb. 7,50 Mk.
In der vornehmen und gediegenen Ausstattung, die man bei dem Diederichsschen
Verlage von jeher gewohnt ist, vereinigt dieser mit trefflichen Abbildungen ge-
schmückte Band über hundert ausgewählte Stücke in deutscher L bei Setzung; Marx
übertrug die Abschnitte aus Herodot, Chares und Alian sowie die Erzählung des
Apuleius Von Amor und Psyche, Hausrath das übrige. Das Märchen hat es be-
kanntlich im Altertum zu einer besonderen Literaturgattung nicht gebracht, und es
war gewiss keine geringe Arbeit, aus der Menge der antiken Schriftwerke die
Stücke herauszuheben, die märchenhaften Charakter oder wenigstens märchenhafte
Züge am deutlichsten an sich tragen. Einen besonders breiten Raum nehmen
428
Bo ehm, Schelenz:
natürlich die Tiermärchen und Fabeln ein, von denen ja in den äsopischen Fabeln
und denen des Babrius, Romulus u. a. zahlreiche Stücke hinter der kunstpoetischen
oder rhetorisch gefärbten Form das volkstümliche Urbild mehr oder weniger klar
erkennen lassen. Dazu fügten die Herausgeber Novellen und Schwanke, besonders
aus Herodot, auch solche aus späterer Zeit (Äschines, Lucian, Apuleius), Legenden
und Balladen des Bacchylides, Wundergeschichten aus dem Alexanderroman und
die beiden Glanzstücke aus den Satiren des Petronius, das Gastmahl des Tri-
malchio (z. T. übersetzt) und die Witwe von Ephesus.
Seit Rohdes 'Griechischem Roman' hat sich die Forschung immer lebhafter
mit den hier in Proben gegebenen Literaturzweigen beschäftigt; von neueren Ar-
beiten seien besonders erwähnt Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen
(Leipzig 1906) und Das Märchen von Amor und Psyche (Leipzig 1912). Und ebenso
wie der klassische Philologe beginnt, Olriks 'Gesetze' auch für die Rekonstruktion
antiker Märchen zu verwenden, haben Germanisten, wie Bolte (vgl. oben S. 425) und
von derLeyen (Das Märchen, 1911), auch den Märchen des Altertums ihre Aufmerk-
samkeit zugewendet. Unter diesen Umständen ist die vorliegende Sammlung als ein
überaus erwünschtes Hilfsmittel zu begrüssen, die Kenntnis von dem, was man als
antike Märchen, Schwanke u.dgl. bezeichnen kann, in weiteren, für die Volkskunde
interessierten Kreisen zu verbreiten. Auch der klassische Philologe wird diese
Zusammenstellung des so weit zerstreuten Stoffes dankbar entgegennehmen. Die
Übersetzung der prosaischen Abschnitte liest sich meist sehr glatt, obwohl sie
sich, nach Stichproben zu urteilen, ziemlich eng an den Text hält, von den nötigen
Zusammenziehungen abgesehen; weniger tadellos scheint mir stellenweise die
Wiedergabe der poetischen Stücke, besonders der Abschnitte aus Homer. Aufge-
fallen sind mir einige Milderungen erotischer Stellen in Amor und Psyche;
freilich kann der schillernde Stil des Apuleius überhaupt in einer Übersetzung
nicht wiedergegeben werden. Hinweisen möchte ich bei dieser Gelegenheit auf
einen ausgezeichneten Aufsatz von Richard Helm in den Neuen Jahrbüchern 17,170
(Das 'Märchen' von Amor und Psyche), in dem H. gegenüber der symbolischen
Ausdeutung Reitzensteins m. E. mit grosser Gelehrsamkeit nachweist, dass diese
weltberühmte Erzählung keine allegorische Darstellung eines Mysteriums, auch
nicht, wie andere meinen, die Bearbeitung eines wirklichen Volksmärchens ist,
sondern eine frei erfundene, für die Unterhaltung des Lesers bestimmte Götter-
liebesgeschichte, aufgebaut auf Motiven aus der Sage und Poesie und von einer
Reihe von Märchenzügen durchsetzt. Freilich enthalten auch eben jene Sagen-
motive viel Märchenhaftes. Ferner hat Hausrath im Julihefte derselben Zeitschrift
(N. Jb. 17, 441) interessante Beiträge zur ionischen Novellistik geliefert, die sich
vielfach mit dem in der inhaltreichen Vorrede des vorliegenden Buches Aus-
geführten berühren.
Berlin-Pankow. Fritz Boehm.
August Ackermann, Der Seelenglaube bei Shakespeare. Eine mytho-
logisch-literarwissenschaftliehe Abhandlung. Frauenfeld, Huber & Co.
1914. VI, 151 S. 8°. 2,80 Mk.
Gestützt auf genaue Kenntnis der bisher erschienenen weitschichtigen Arbeiten
über die in den Dramen des grossen Briten zutage tretenden Anschauungen in
bezug auf Seelen- und Geisterglauben, unternimmt es der Verfasser, diesen Glauben
Bücheranzeigen.
429
zusammenhängend von der mythologischen Seite darzustellen. Als wertlos, albern
tut er einen Teil der früheren Arbeiten ab, geistreich oder wenigstens wissen-
schaftlich verwertbar nennt er andere. Ästhetisch-belletristische Darstellungen hat
er ebenso wie antiquarische, die sich auf die Zusammenhänge von Shakespeares
Wissen mit volkstümlichen englischen Überlieferungen beziehen, von seinem
Standpunkt mit Recht, unbenutzt gelassen. Wenn er seine eigenen Wege geht,
weil er die Wege seiner wirklich mythologischen Gesichtspunkten nachspürenden
Vorläufer als von verkehrten Voraussetzungen getragen, veralteten Gewährsmännern
blindlings folgend, ansieht, so kann man das nur loben. Vielleicht tut das der Verf.
auch mit ähnlichen Arbeiten von mir, deren Erscheinen die Kriegsfurie verzögert
hat, ihrer Selbständigkeit wegen. Jene Gelehrten allerdings (z. B. Simrock, der
"absurde' Bell usw.) würden oder werden sich gegen das über sie gefällte harte
Urteil auflehnen. „So viel Schriftsteller, so viel Theorien" über den Animismus,
trotzdem seit Tylors Werk darüber unter den meisten Mythologen fast nur eine
Meinung besteht, meint der Verf. Vielleicht geht der Streit letzten Endes nur um
Worte. Soweit sie die (Menschen-) Seele bedeuten, sprechen sie ursprünglich
(wie ich seinerzeit ebenfalls ganz unabhängig von Vorläufern fand und in meiner
Arbeit über Organtherapie ausführte) von bewegter Luft. Auf geradezu unwill-
kürliche allgemeine Uranschauungen geht zweifellos das Wort der Schöpfungssage
zurück: 'Er blies einen lebendigen Odem ein', und was schliesslich in dem Wort
návxa £ei festgelegt wurde, stützte sich jedenfalls auch auf Naturanschauungen.
Auch der Geist, die Seele (anima, avs^oç) bewegte sich, da sie unsichtbar, un-
fassbar war, gleich der zweifellos menschlich gedachten Gottheit, oder ward von ihr
bewegt wie Luft oder Wind. „Es flog mir an", sagt das Volk noch besonders
von Krankheiten unbekannter (dämonischer) Ursache. Die 'Winds from behind',
die 'Flatus', die sich die Hexen, wieder den christlichen heiligen Geist verhöhnend,
geben, sind für diese Annahmen ebenfalls beweisend. Später hat man erst, meine
ich, gleichlaufend mit Erwägungen des Grauens vor der Dunkelheit, von Geistern
(und von Gespenstern) wiederkehrender (franz. revenant) Verstorbener, von
Schatten, shadow (oxózog [Todes-] Dunkel) und oxw. = Schemen gesprochen.
Wandelbar, wie sie sind, auch weil die Phantasie das Auge des Beschauers ver-
wirrt, spielt ihre Gestalt kaum eine Rolle. Das Seelenwesen 'verwandelt' sich
ganz nach Belieben. Die wichtigste, für den Verfasser vornehmlich in Betracht
kommende Gestalt ist die des Seelenwesens Mensch. Dass solche Annahmen zu
der weiteren der Trennung der Seele vom Träger und der Portdauer nach dessen
Tode führten, ist klar, ebenso die Annahme der Überwanderung auf einen anderen
Träger. Die Anschauungen Shakespeares über die Seele als bewegendes Moment
und als überlebenden Teil des Menschen, seine in der Tat erstaunlich reiche
mythologische Welt dem Leser vor Augen zu führen, ist dein Verfasser, wie zu-
gestanden werden muss, vortrefflich gelungen. Häufig genu» spricht der Dichter
von Luftgeistern. Dass der Name Ariel auf einen 'aerial spirit zurückgeht,
scheint mir doch nicht unbestreitbar. Ich meine, dass dem Namen und der Figur
doch der alttestamentarische Ariel zugrunde liegt» wie er durch Wyclif nordwärts
gekommen ist und zu des Dichters Zeit wohl schon als Wasser- und Luft-Geist
galt. Dass solche Geister den Menschen (ausgenommen besonders begnadeten)
unsichtbar und ausserdem unverwundbar waren, liegt schon an ihrer Luftgestalt.
Dass sie in feuriger Gestalt umgingen, ist eine einfache weitere Folge. Der fröh-
liche Puck wird eingehend gewürdigt. Sollte dieser Gobiin nicht auch sprachlich
mit den Pochgeistern zu tun haben? In dein Kapitel Seelentiere fällt mir die
Schreibung Cowlip auf, die vielleicht auf einem Druckfehler beruht. Es heisst
430
Schelenz:
jedenfalls richtig Cowslip. Was die Stelle: 'Sycorax with age and envy was
grown into a hoop' betrifft, so ist die Deutung geistreich und zeugt für das findige
Auge des Verfassers. Das Alter drückte aber doch nur die Hexe wie einen
Haken zusammen, nicht in die Gestalt eines Wiedehopfs, wie mir als allein
berechtigt eben noch von einem gelehrten Engländer bestätigt wurde. Das inter-
essante Seelentier soll auch ob seiner Seltenheit für England nicht in Frage
kommen. In bezug auf die Metempsychose vermisse ich die Stelle im Antonius,
wo in bezug auf das Krokodil gesagt wird, dass die 'Elements transmigrate'. In
meinem Buch 'Shakespeare und sein Wissen auf den Gebieten der Arznei- und
Volkskunde' brachte ich sie 1, 249. Vielleicht stützen sich die bezüglichen An-
gaben auf Marlowe. l)ass man nur menschenähnlich gestalteten und grossen
Elfen Reigentänzen zutrauen kann, scheint mir nicht unbedingt nötig. Aach
'demy puppets', ja fast mikroskopische Minimus, kann ich mir tanzend denken,
und fairy-rings könnten doch nur sehr kleine Persönchen niedergetreten haben.
Die Hexen salbten sich, wie schön auf einem Bilde von Franns Francken darge-
stellt ist, nicht um sich etwa für den Luftdruck geschmeidig zu machen. Infolge
der Anwendung der narkotischen Salbe traten Halluzinationen ein. Wie im
Traum fühlten sich die Hexen emporgehoben, fliegend. Die Stelle mit dem Sieb
als Fahrzeug ist auch mir rätselhaft. Vielleicht liegt ihr ein Irrtum zugrunde.
Als Hexenarbeit finde ich Wasserschöpfen mit einem Sieb. Direkter Anschluss an
Plutarch, wie man aus verschiedenen Stellen herauslesen kann, ist wohl bei
Shakespeare nicht anzunehmen. Dass vieles von seiner hierher gehörigen Weis-
heit letzten Endes antiken Ursprungs ist, nicht bodenständig oder allgemein ger-
manisch etwa, ist begreiflich. Federn der gerade durch sie unheimlich wirkenden
Eule mussten folgerecht ähnlich gewertet werden. Das Prodigium der verwelken-
den Lorbeerbäume braucht man kaum als antiken Ursprungs zu erklären. Miss-
wachs, allein ein Unglück, kündet ohne weiteres Unglück. Bei den mühsam ein-
geführten und gepflegten Lorbeerbäumen musste das Welken besonders auffallen
und zu Prophezeiungen Anlass geben. Für des Dichters Bekanntsein mit Feuer-
geistern spricht auch, wie ich bemerken möchte, die für mein Wissensgebiet
interessante Stelle mit den Light wenches, übrigens auch der Burning devil. Ich
erwähnte sie in meinem Werk 1, 114. 115. Wenn Imogen um Schutz vor den
'Tempters of the night' betet, so denkt sie zweifellos an den Nachtmar, der den
Mädchen so vorzügliche sexuelle Belehrung zuteil werden lässt, wie an anderer
Stelle gesagt ist. Die Deutung des Namens Mab kann ich unmöglich für be-
rechtigt ansehen. 1557 ist, wie Murray angibt, schon von Mother Mab, old rotten
witch die Rede. Mab als Abkürzung für Mabel war zu Shakespeares Zeiten auch
schon gang und gäbe. Das 'Verheddern' der Haare ist lediglich als Strafe ver-
ärgerter Elfen oder Hexen zu deuten, daher auch der Name Wichtelzopf (polnisch
beiläufig Wieszczyce, gleichzeitig der Name für die wissenden Hexen). Geheilt
wird er mit 'Hexenmehl'. Ich bin der Überzeugung, dass der Dichter auch ohne
den Einfluss von Reginald Scot über alles, was in das Gebiet der 'geheimen
Wissenschaften' gehörte, rationalistisch dachte. Das Hamlet in den Mund gelegte
Wort'We defy augury' ist ein verhältnismässig leicht wiegender Beleg dafür. Wie
der Tag, das Licht der Feind der Nacht und ihrer der Einbildungskraft mit ihren
Geistererscheinungen Vorschub leistenden Ifrnsternis siegreicher Gegner ist, so ist
auch das kleine (Nacht-) Licht ihr Feind. Der durch seine Anwesenheit belästigte
Geist (Wind) bringt es zum Flackern und kündigt sich auf diese Art an: 'the
laper burns ill'. Von Curfew, dem Löschen des Feuers, dem Einbruch der Dunkel-
heit, bis zum ersten Hahnenschrei, dem Anbruch des lichten Tages, der die
Bücheranzeigen. — Notizen.
431
'Dunkelheit zerteilt, die Sonne erwachen und die benommene Vernunft klar ur-
teilen lässt', gehen die Truggestalten der Geister um. — Nur in wenig Punkten
gehe ich mit dem Verf. nicht denselben Weg. Das beeinträchtigt den hohen
Wert seiner Arbeit in keiner Beziehung. Ein Inhaltsverzeichnis hätte ihn m. E.
wesentlich vergrössert, mehr als das Stellenverzeichnis. Die Aufzeichnung der
vom Yerf. benutzten Literatur ist eine willkommene Beigabe. Dass wir gleich-
zeitig, unabhängig voneinander, ähnlichem Ziele zustrebten, kann für die Kenntnis
des grossen Dichters nur von Nutzen sein.
Cassel. Hermann Schelenz.
Notizen.
K. Ahnert Fröhliche Heerfahrt! Heitere Soldatengedichte an Eisenbahnwagen,
gesammelt. 1.—3. Folge. Nürnberg, G. Ahnert. Je 24 S. 16°. 10 Pf. — Wohl jeder
hat seit Ausbruch des Krieges mit Bewegung oder Heiterkeit Proben dieser neuartigen
Form von 'Volksdichtung' gelesen. Die vorliegenden Heftchen bieten nicht weniger als
300 solcher Inschriften, die der Sammler teils selbst aufgezeichnet, teils durch Mitteilungen
erfahren hat. Frömmigkeit, Vaterlandsliebe, grimmer Hohn, vor allem aber ein urwüchsiger
Humor spricht aus ihnen. Eine wirklich ernstgemeinte Roheit ist nirgends zu finden, so
blutrünstig die Scherzverse bisweilen auch klingen. Volkskundlich interessant sind übrigens
die zahlreichen Anklänge an bekannte Lieder, oft begegnen uns auch geradezu Dichter-
stellen. Die kleine Sammlung nimmt in dem Schwall der Kriegsdichtung unserer Tage
nicht die letzte Stelle ein, bringt sie doch ungekünstelte Äusserungen der unmittelbar
Beteiligten. Die Heftchen, denen weitere folgen sollen, werden gewiss auch als Gruss aus
der Heimat unsern Kriegern im Felde Freude machen! [F. B.]
G. Amalfi, Delitti di superstizione. Criminologia folk-lorica (aus: Rivista di diritto
penale e sociologia criminale 15). Pisa 1914. 93 S. — Durch verschiedene Arbeiten sagen-
vergleichender Art ist A., zurzeit Oberstaatsanwalt am Appellationsgericht zu Neapel,
unsern Lesern aus früheren Jahrgängen bekannt; auch die vorliegende Untersuchung der
aus dem Aberglauben hervorgegangenen Verbrechen hangt mit der Volkskunde eng zu-
sammen. Mit ausgebreiteter Literaturkenntnis (leider nicht ohne störende Druckfehler)
schildert der Vf. die Anschauungen des Altertums und des Mittelalters wie die veränderte
Beurteilung der Neuzeit, beleuchtet eine Reihe von Fällen, in denen der Aberglaube den
Schatzgräber zur Opferung eines Kindes, andre zu Giftmord, Diebstahl, Gewalttat oder
Kurpfuscherei verleitete, und tritt für mildere Beurteilung der Leichtgläubigkeit und
schärfere Behandlung der viellach geistig abnormen Hexenmeister und weisen Irauen
ein. [J. B.]
S. Debenedetti, Il Sollazzo e il Saporetto con altre rime di Simone liudenzani
d'Orvieto. Torino, Loescher 1913. XL, 208 S. (Giornale storico della lett. italiana,
supplemento 15). — Il testamento cinico. Torino 1912. 21 S. (Studi cntici^ per nozze
Neri-Gariazzo). — L'orbo che ci vede. Cividale 1912. 12 S. (Miscellanea m onore di
V. Crescini). — Due ballate del Sollazzo di Simone Prudenzani (Atti c e a r. Accademia
di Torino 49, 65—80. 1913). — Einen bisher unbekannten italienischen icliter aus dem
Anfange des 15 Jahrhunderts hat Debenedetti das Glück S^abt zu entdecken, den
Orvietaiier Simone Prudenzani, und hat seine Werke nach un ss. des 15. bis 17. Jahr-
hunderts sorgsam herausgegeben; es sind 1. eine Sammlung von 18 gereimten Novellen,
betitelt 'Liner solatìi', 2 ein Liber Saporecti, der in Sonettform die sechs Altersstufen
des Menschen und den Mundus placitus, blandus, tranquillus und meritorius behandelt,
3. rime varie. Auf diese Werke wie auf das Leben des Dichters wird der Herausgeber
in einer späteren Schrift näher eingehen; vorläufig hat er drei Stücken der für uns be-
sonders interessanten Novellensaminlung stoffgeschichtliche Untersuchungen gewidmet,
nämlich der 10. Novelle 'Violeutia', der 12. 'Symonia' und der 15. 'Pertinacia'. Die eine
432
Notizen.
behandelt die schon in der Çukasaptati auftretende Geschichte der treulosen Frau des
Einäugigen, die ihren Mann durch leckere Speisen blind zu inachen hofft (oben 8, 73.
217. 225; 10,71), die andere das Testament des Hundes (oben 4,428) und die dritte den
Zwiebeldieb (Pauli, Schimpf und Ernst nr. 349). [J. B.]
A. van Gennep, Religions, moeurs et légendes. Essais d'ethnographie et de lin-
guistique (5 e série). Paris, Mercure de France 1914. 218 S. — Auch diese Reihe von
völkerkundlichen Aufsätzen zeigt die anregende, organisatorische Begabung des frucht-
baren Verfassers. Er bespricht die neue Ausgabe von Frazers 'Golden bough', mehrere
Abhandlungen über Totemismus von Frazer, Goldenweiser, Loisy, Thurnwald u. a., sowie Leafs
Buch über Troja, welches die Handelswege, auf denen die von Schliemann gefundenen
Schätze dahin gelangten, festzustellen sucht und in echt englischer Weise die llias zur
Glorifikation eines Handelskrieges herabwürdigt. Ein besondrer Artikel macht Front gegen
den Einiluss der Historiker und der Kuriositätensammler auf die Völkerkunde und verlangt
Monographien über kleine, genau durchforschte Gebiete. Mehr als die Hälfte des Bandes
aber beschäftigt sich mit einigen französischen Vorläufern der Völkerkunde im 18. Jahrh.
wie Montesquien, Rousseau, Voltaire, Boulanger, Dulaure und mit dem schon früher be-
ginnenden Interesse für den Orient. [J. B.]
B. Geyer, Sageuschatz der Stadt Zwickau. Bildschmuck von C. Weissbach.
Zwickau, W. Kretzschmar 1913. 119 S. 8°. 1 Mk. — Unter den 41 Nummern, denen
leider keine Quellenangaben beigefügt sind, befinden sich der sächsische Prinzenraub,
Tetzel, der Speckdieb als Teufel, der Katzenveit. Dagegen passen rir. 4 und 12, Musäus'
Märchen vom geraubten Schleier und eine lange historische Novelle von den Zwickauer
Unruhen im Jahre 1407, wenig zu dem Charakter einer Sagensammlung. [J. B.]
P. Herrmann, Island, das Land und das Volk. (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 461.)
Leipzig, B. G. Teubner 1914. IV, 114 S. 8°. 9 Abb. 1,25 Mk. — Der durch sein um-
fangreiches Werk 'Island in Vergangenheit und Gegenwart' (3 Bde. Leipzig und Torgau
1907—1913; vgl. oben 18, 217f.) bekannte Verfasser gibt hier in dem durch die Eigenart
der Teubnerschen Sammlung gezogenen engen Rahmen einen Überblick über Islands
Lage, Klima, Pflanzen- und Tierwelt, geologische Entstehung, ferner über seine Geschichte,
Staatsverfassung, Bevölkerung, Wirtschafts Verhältnisse, materielle und geistige Kultur.
S. 86—93 finden wir einen Abriss der isländischen Volkskunde (Wohnung, Kleidung,
Sitten, Gebräuche, Aberglaube). Vieles, was hier nur ganz kurz berührt werden konnte,
ist den Lesern dieser Zeitschrift aus den Aufsätzen K. v. Maurers und der im Jahre 1911
verstorbenen Margarete Lehmanu-Filhès, einer besonders begeisterten Verehrerin dieses
merkwürdigen Landes, auch in Einzelheiten bekannt. Wenn auch in den letzten Jahren
verhältnismässig viel über Island geschrieben ist, so sind doch über seine natürlichen
und kulturellen Verhältnisse zum Teil noch so viel falsche Meinungen im Schwange, dass
diese auf bestem statistischen Material beruhende Darstellung mit Freuden zu begrüssen ist.
[F. B.]
J. Klapper, Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und lateinischem
Urtext hsg. Breslau, Marcus 1914. VIII, 474 S. 8°. 14 Mk. (= Wort und Brauch 12).
— Zu seiner 1911 erschienenen Ausgabe lateinischer Exempla oder Predigtmärlein des
Mittelalters (oben 22, 216) liefert K. eine recht ansehnliche Fortsetzung. Von den
211 Nummern, die hier sowohl in deutscher Übertragung als im Originaltext erscheinen,
stammen 164 aus einer Breslauer Hs. des 14. Jahrhunderts, die aus drei um 1250
und 1300 durch deutsche Dominikaner verfassten Sammlungen zusammengestellt ist;
ausser einigen einzelnen Geschichten ist angehängt eine um 1450 geschriebene Sammlung,
welche ein Oisterzienserwerk des 13. Jahrhunderts reproduziert und gleich den Gesta
Romanorum und der Scala celi mit ausführlichen Moralisationen versehen ist. Die Ein-
leitung weist auf die Beziehungen zu Volksschwäuken und Märchen und die starken Um-
bildungen der Stoffe hin. Zu den stoffgeschichtlichen Anmerkungen sei noch nachgetragen :
nr. 23 Augustin am Meere (oben 16,90. 21,337;; nr. 52 Maler und Teufel (v. d. Hagen,
Gesamtabenteuer nr. 76;; nr. 72 Beatrix (oben 15, 129); nr. Ill die Königstochter im
Blumengarten (Zs. f. dt. Alt. 34,18. 36,95); nr. 142 der undankbare Sohu (Grimm, IvHM.
145); nr. 154 der Vogel unter der Schüssel (R. Köhler, Kl. Sehr. 3, 13); nr. 156 der
Notizen.
433
Neidische und der Geizige (Bolte-Polivka, Anm. zu Grimm, KHM. 2,219); nr. 157 drei
Schatzfinder (Chauvin, Bibl. arabe 8, 100); nr. 200 die Rätsel des Teufels (R. Köhler 2, 15).
[J. B.]
E. F. Knuchel, Die Umzüge der Klein-Basler Ehrenzeichen. Ihr Ursprung und
ihre Bedeutung. Im Auftrage der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde zusammen-
gestellt. Basel, Verlag der Schweiz. Gesellschaft 1914. 47 S. 8°. 4 Tafeln. 1,50 Fr. —
Die einer Anregung von Hoffmann-Krayer entsprungene und von diesem mit einer kurzen
Vorrede eingeleitete kleine Schrift will eine quellenmässig genaue Geschichte und Er-
klärung der noch heute in dem auf dem rechten Rheinufer gelegenen Baseler Stadtteil
Klein-Basel abgehaltenen Umzüge der 'Ehrenzeichen' liefern. Der Verf. gibt zunächst
einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der seit dem Ende des 14. Jahr-
hunderts urkundlich feststellbaren Gesellschaften 'Zum Hären, zum Rebhaus und zum
Baum', deren Wappenhalter: Wilder Mann, Löwe und Greif in den Festumzügen durch
Masken dargestellt werden. Es handelte sich bei diesen Vereinigungen ursprünglich nicht
um solche rein beruflicher Art, wie die Zünfte, sondern um losere Verbände von Bürgern,
die durch gemeinsame Lebensbedingungen, Überlieferung und gesellschaftliche Stellung
einander nähergetreten waren; eine Beteiligung am politischen Leben ist mehrfach fest-
zustellen. Seit dem Jahre 1838 werden die Umzüge, die in den vorhergehenden Jahr-
zehnten öfters unterblieben, von den drei Ehrenzeichen gemeinsam regelmässig abgehalten.
Ihren heutigen Verlauf und ihre früheren Formen schildert der Verf. äusserst eingehend,
unterstützt von den vorzüglich gelungenen Tafeln: auch der für jedes Wappentier ver-
schiedene Rhythmus der den Umzug und die Tänze begleitenden Trommelmärsche wird
durch Noten wiedergegeben. Zum Schluss vergleicht K. die verwandten Aufzüge in der
Schweiz und anderen Ländern und kommt schliesslich zu dem Ergebuis: 'Die Umzüge der
drei Ehrengesellschaften sind aus militärischen Musterungen hervorgegangen; hinzuge-
kommen sind Umzug und Tanz der Ehrenzeichen; die uralten Bräuche endlich der Wasser-
taufe und des Brunnenumgangs sind erst später mit dem Umzug- der Gesellschaft zum
Rebhaus in Zusammenhang gebracht worden.' Ob in der Tat in den militärischen
Musterungen der Ursprung dieser Aufzüge zu suchen ist, scheint uns angesichts des
Fehlens älterer Belege sehr zweifelhaft. Immerhin ist die Untersuchung mit grosser Sorg-
falt und Liebe zur Sache geführt und bildet ein wertvolles Stück in der Reihe der von
der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde herausgegebenen Schriften. [F. B.]
D. v. Kralik, Die deutschen Bestandteile der Lex Baiuvariorum (Sonder-Abdruck
aus dem Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. 38. Bd.).
Hannover und Leipzig, Hahn 1913. 132 S. 8°. — Eine durch gründliche Sprach-
kenntnisse, Scharfsinn und Besonnenheit ausgezeichnete Arbeit, die sowohl dem Ver-
ständnis des volkstümlichen deutschen Rechtes wie auch allgemein gebräuchlicher Wörter
und Dinge zugute kommt. [M. Roediger.]
A. Leskien, Eine litauische Totenklage (Das Begräbnis als Hochzeit): Festschrift
für Ernst Windisch, Leipzig, Harrassowitz 1914, S. 5-7. _ Die von Juskevic in seiner
Sammlung litauischer Volkslieder (Kasan 1880—1882) unter Nr. 1190 abgedruckte Klage
einer Mutter um ihre Tochter wird übersetzt und erläutert. [H. Michel ]
H. Mar zeli, Volkstümliche Pflanzennamen aus dem bayrischen Schwaben. Ein
Beitrag zur Volkskunde. S.-A. aus dem 41. Bericht des Naturwissenschaftlichen Vereins
für Schwaben und Neuburg. Augsburg-, M. Seitz 1913. 54 S. 8 . 0,80 Mk. Der un-
ermüdliche Sammler auf dem Gebiete der Volksbotanik bietet in vorliegendem Aufsatze
eine zum grossen Teil auf mündliche Mitteilungen zurückgehende Zusammenstellung der
im bayrischen Schwaben noch gebräuchlichen volkstümlichen 1 fianzennamen. Wertvoll
sind besonders die mit grosser Vorsicht und Zurückhaltung gegebenen Deutungen der
Namen. [F. B.]
E. Mogk, Die geschichtliche und territoriale Entwicklung der deutschen Volkskunde
Archiv für Kulturgeschichte 12, 231 — 270). — Die anschaulich geschriebene, bis 1912
reichende Übersicht beginnt mit dem Jahre 1891, wo Weinhold in Berlin den Verein für
Volkskunde ins Leben rief, und schildert die darauf in fast allen Ländern deutscher Zunge
erwachende Tätigkeit, die zur Gründung von landschaftlichen Gesellschaften und Zeit-
Zeitsehr. d. Vereins f. Volkskunde. 1914. Heft 4.
28
434
Notizen.
Schriften führte. Neben die Sammlungen und Untersuchungen traten bald auch Er-
örterungen über den Begriff der jungen Wissenschaft. Während andre Völker sich mit
der Aufzeichnung der Überlieferungen (Folklore) begnügten, spielte in Deutschland das
psychologische Moment, die Erforschung der Volksseele von Anfang an eine wichtige
Rolle. Gegen Weinholds, von Jiriczek, Hauffen, Wuttke u. a. angenommene Abgrenzung
der Volkskunde erhoben sich Ethnologen, die sie wie Winternitz, Günther, Kaindl als einen
Teil der Völkerkunde betrachteten, und Philologen \sie Dieterich und Voretzsch, die sie
auf das rein geistige Leben des Volkes beschränken wollten. Den zwischen Strack und
Hoffmann-Kray er über den Begriff des Volkes und die assoziativen Denkformen geführten
Streit suchte Mogk 1907 durch Betonung des Gemüts gegenüber dem Verstände zu
schlichten. In den folgenden Jahren traten die Untersuchungen über das Wesen des
Mythus und des Märchens, Arbeiten religionsgeschichtlicher Art, Sammlungen von land-
schaftlichen Sitten und Trachten mehr in den Vordergrund. [J. B.]
A. Nägele, Über Kreuzsteine in Württemberg und ihre Bedeutung. Monumente
und Dokumente zur Kreuzsteinforschung mit besonderer Berücksichtigung Oberschwabens.
S.-A. aus den Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde 1913,.
S. 377 — 426. — Eine zusammenfassende Darstellung der Kreuzsteinforschung nach ihrem
augenblicklichen Stande gab der Verf. oben 22, 253—277. 375—398. In dem allgemeinen
Teil des vorliegenden Aufsatzes sind jene Ausführungen in erweiterter Form und mit
reicherem Bildermaterial wiederholt, während im zweiten Teil eine genaue Beschreibung
von etwa 250 in Schwaben gefundenen Kreuzsteinen folgt und von weiteren 50 wenigstens
der Standort angegeben wird. — Die Steigkreuzfrage wird in letzter Zeit vielfach be-
handelt, wie eine Musterung der Zeitschriftenliteratur zeigt. So bringt z. B. das 1. Heft der
neuen Bayerischen Hefte für Volkskunde, die unter der Schriftleitung von F. v. der Leyen und
F. Spamer vom Bayerischen Verein für Volkskunst und Volkskunde herausgegeben werden,
einen hübsch illustrierten Aufsatz von H. Schnetzer, Vom Steinkreuz zum Marterl. Ferner sei
darauf hingewiesen, dass der oben 22, 398 Anm. 1 verzeichnete Aufsatz von G. Kufahl in
Nr. 12 und 43 der Sonntags-Beilage des Dresdner Anzeigers 1913 fortgesetzt ist. [F. B.]
L. Neubaur, Zur Geschichte und Bibliographie des Volksbuchs von Ahasvérus.
S.-A. aus der Zeitschrift für Bücherfreunde, hsg. v. C. Schüddekopf, N. F. 5 (1913) S. 211
bis 223. — Der durch seine Untersuchungen über die Sage vom Ewigen Juden bekannte
Verf. (s. oben 22, 33 — 54) gibt hier eine kurze Zusammenfassung über die literarische
Tradition der Cartaphilus- und Ahasveruslegende und verficht auch an dieser Stelle
die Entstehung des Volksbuches aus der mittelalterlichen Überlieferung. Dagegen ist be-
kanntlich Ed. König in seiner Schrift 'Ahasver, der ewige Jude, nach seiner ursprüng-
lichen Idee' 1907 und in einem Aufsatze in Teubners Neuen Jahrbüchern 15 (1912), 587
für die Selbständigkeit der Ahasverusgestalt als einer Allegorie des jüdischen Volkes ein-
getreten. Zur Widerlegung dieser Anschauung führt N. Tatsachen an, aus denen hervor-
geht, dass das Verbot des Frankfurter Ahasverusspieles 1708 nicht wegen seines christen-
feindlichen, sondern seines geschmacklosen Tones erfolgte. Ferner weist N. nach, dass
Nicolaus Wagner, der Schleswiger Verleger des Volksbuches von 1602, zur Herausgabe
lediglich durch seine Bekanntschaft mit Paul von Eitzen und geschäftliche Gründe ver-
anlasst wurde. Den Schluss bildet ein bibliographisch genaues Verzeichnis verschiedener
Ausgaben des Volksbuches als Ergänzung der von N. im 'Centralblatt für Bibliotheks-
wesen' 1893, 250 und 1911, 506 veröffentlichten Liste. [F. B.]
G. Pitrè, Voci siciliane di paragone raccolte ed illustrate. Acireale 1914. 20 S.
8° (aus Rivista Sicania 2, nr. 4). — P. gruppiert die in seinen 'Proverbi, motti e
scongiuri' (1910) gesammelten Vergleichungen der sizilischen Volkssprache, die an Zahl
die der anderen Gegenden Italiens weit übertreffen, nach sachlichen Kategorien. Vor-
wiegend dienen sie zur Veranschaulichung menschlicher Körperbeschaffenheit, Charakter-
eigenschaften und Beschäftigungen. Bezeichnend ist, dass in den Vergleichungen manche
Sitte und mancher Vorfall aus vergangener Zeit fortlebt. [J. B.]
J- Pommer, Das Volkslied in Österreich (S.-A. aus der Zeitschrift 'Das deutsche
Volkslied', Jahrg. 16, Heft 7). 11 S. — Der Bericht, den Pommer als Obmann des Ar-
beitsausschusses für das deutsche Volkslied "in der Steiermark über dessen Tätigkeit in den
Notizen.
435
ersten 71/« Jahren seines Bestehens (7. VI. 1905 — 30. IV. 1914) am 10. Mai 1914 in der
fünften Sitzung des Ausschusses zu Graz erstattete. Die knappen statistischen Nachweise
lassen deutlich die gewaltige bisher geleistete Sammler- und Ordnertätigkeit und den er-
freulichen Fortgang des grossen Unternehmens erkennen. Um von den mehr geschäftlichen
Mitteilungen abzusehen (Mitglieder, Arbeitsteilung, Finanzen usw.), heben wir aus den
Nachrichten über das bisherige Ergebnis der Sammeltätigkeit und den Stand der Samm-
lung folgendes hervor: Ende 1913 lagen 121 Einsendungen mit 8855 Einzelstücken vor
Geistliche und weltliche Volkslieder mit und ohne Weise, Schnaderhüpfel, Jodler, Juchezer
und Rufe, Tanzweisen u. a.), die nach einem festen Plan numeriert und eingeordnet
wurden. Rechnet man die bis zum Abschluss des Berichts hinzugekommenen Eingänge
hinzu, so kommt man auf 147 Einsendungen mit 11052 Stücken! Unter den
Sammlern (55 an Zahl) ist der Lehrerstand am zahlreichsten vertreten, doch finden wir
auch Handwerker, Tagelöhner, Bauernburschen und -knechte vertreten. Druckfertig liegt
die 1. Abteilung des Tanzbandes mit 3000 steirischen Weisen vor, auch der Jodlerband
ist dem Abschluss nahe. Die jetzt eifrig betriebene Ausschöpfung der Archive und
Bibliotheken wird einen weiteren Stoffzuwachs ergeben, so dass man bei vorsichtiger
Schätzung für die geplante ministerielle Ausgabe steirischer Volksmusik und Volkspoesie
auf eine Gesamtzahl von über 20 000 Stücken rechnen kann. So wird sich P.s Hoff-
nung erfüllen, dass 'die deutsche Steiermark ihren Platz in der ersten Reihe der an
poetisch-musikalischem Volksgut reichsten Länder des österreichischen Kaiserstaates mit
Ehren behaupten wird'. [P. B.]
W. S. Reymont, Die polnischen Bauern. 4 Bde. Berechtigte Übersetzung aus
dem Polnischen von Jean Paul d'Ardeschah. Jena, E. Diederichs 1912. 1.—3. Tausend.
XXXII, 321. 352. 439. 364 S. 8°. Geh. je 2,50 Mk., geb. je 3,50 Mk. — Unter dem
Titel 'Der Bauernspiegel' soll bei Diederichs eine Reihe von fremden Bauernromanen er-
scheinen, die als Quellen zur zeitgenössischen Völkerkunde gelten können. Das diese
Sammlung eröffnende umfangreiche Werk von Reymont, erschienen vor Russlands Nieder-
lage gegen Japan und der grossen revolutionären Bewegung im Russischen Reich, wird
heute, wo Polen zum Schauplatz der folgenschwersten Ereignisse geworden ist, zweifellos
besonderes Interesse erregen. Wie ein gewaltiges Epos schildert der Roman das Leben
eines polnischen Dorfes im Kreislauf eines Jahres — die vier Bände sind nach den Jahres-
zeiten benannt — bis in die intimsten Einzelheiten, die Taten und Schicksale seiner Be-
wohner, besonders des Dorftyrannen Boryna und seines heissblütigen Weibes, typischer
Vertreter ihres Volkes. Auf die meisterhafte Charakterschilderung, die politische Be-
deutung des Romanes und ähnliches einzugehen, ist hier nicht der Platz, doch darf es
wegen des reichen volkskundlichen Inhalts hier nicht unerwähnt bleiben. Ausdrucksweise,
Tracht, Arbeit, Sitten, Aberglauben, Bräuche, Feste und andere Äusserungen des Volks-
tums werden so ausführlich beschrieben, dass darüber die Handlung des Romans oft ganz
in den Hintergrund tritt; so nimmt die Schilderung der Hochzeit Borynas nicht weniger
als 74 Seiten in Anspruch, da alle Abschnitte des Festes, besonders die Tänze, mit einer
Genauigkeit geschildert werden, die in einem wissenschaftlich-volkskundlichen Aufsatz
kaum grösser sein könnte. So wird jeder volkskundlich Interessierte den Roman trotz
oder vielleicht gerade wegen seiner Längen mit grösster Anteilnahme lesen. Die Über-
setzuno- ist nicht immer tadellos, besonders hässlich liest sich die fast regelmässig ge-
brauchte Umschreibung des Genetivs von Personennamen durch das dem Nominativ nach-
gestellte Possessivuni, z. B. 'er sah in Jagusch ihre himmelblauen Augen. Die Aus-
stattung des Buches ist sehr vornehm, besonders hübsch wirkt die in bäuerlichen Motiven
gehaltene Umschlagszeichnung von A. Gramatyka-Ostrowska. [F. B.]
E. Samter, Die Religion der Griechen. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 1914.
VI 84* S. Mit einem Bilderanhang. Geb. 1,25 Mk. (Aus Natur und Geisteswelt nr 457.)
— Die Anschauungen über das Wesen der griechischen Religion sind selbst bei Gebildeten
oft so rückständig und verkehrt, dass eine allgemeinverständliche und leicht zugängliche
Darstellung dieses für das Verständnis des Altertums wie unserer Zeit so wichtigen Ge-
bietes ein dringendes Erfordernis war. Diese Aufgabe zu übernehmen, war Samter, der
in seinen Schriften durch reiche Kenntnis des antiken Quellenmaterials und vorsichtige
28*
436
Notizen.
Anwendung der vergleichenden Methode so viele Äusserungen antiker Religion erläutert
und geklärt hat, vorzüglich geeignet. Seine Darstellung geht, wie es heutzutage selbst-
verständlich ist, nicht von der in den homerischen Gedichten widergespiegelten religiösen
Anschauungswelt, sondern von der Volksreligion aus und gibt nicht eine Schilderung der
einzelnen traditionellen Göttergestalten, sondern geht den Wurzeln nach, aus denen diese
sich allmählich entwickelten. Die Spuren von Fetischismus und Verehrung tiergestaltiger
Götter werden aufgezeigt, der Kult der Verstorbenen und der chthonischen Gottheiten,
der Glaube an Vorzeichen und Orakel wird geschildert; die beiden eleusinischen Göttinnen
sowie Dionysos und Asklepios sind die einzigen Götterpersönlichkeiten, die behandelt
werden, da ihre Kulte die meisten Beziehungen zum Volksglauben haben. Den zweiten
Teil bildet die Darstellung der Haupttatsachen des Kultes, wie Tempel, Priester, Opfer
und Gebet, ferner Reinigungsgebräuche, häuslicher Kult und Zauberriten. In dem Kapitel
'Religion und Sittlichkeit' gibt S. einen Überblick über die Stellung der grossen Philo-
sophen und Dichter zum Volksglauben, im Schlusskapitel wird die orphische Bewegung
mit ihren weitreichenden Einflüssen geschildert. Das Buch ist in bestem Sinne volks-
tümlich geschrieben, nur der Kenner merkt die Fülle des in diese einfache Darstellung
verarbeiteten Materials. S. hat seine Aufgabe vortrefflich gelöst und sich damit um die
Wissenschaft ein grosses Verdienst erworben. Auch die Freunde deutscher Volkskunde
werden das Buch mit lebhaftem Interesse lesen; S. hat mit Recht nur ganz selten
Analogien angeführt, der aufmerksame Leser wird überall selbst solche finden können.
Ein späterer Band der Sammlung soll die griechische Religion zur Zeit des Hellenismus
zum Thema haben; diese Ergänzung des vorliegenden ist sehr wünschenswert und lässt
hoffentlich nicht lange auf sich warten. [F. B.]
P. Sartori, Sitte und Brauch, 3. Teil: Zeiten und Feste des Jahres. Leipzig,
W. Heims 1914. VII, 354 S. 8o. 4 Mk. (Handbücher zur Volkskunde Bd. 7—8). — Mit
lebhafter Genugtuung begrüssen wir den Schlussband des nutzbringenden Werkes, dessen
Reichhaltigkeit und Zuverlässigkeit wir schon oben 20, 348. 22, 216 rühmen konnten.
Sartori verfolgt hier die an bestimmte Tage des Jahres geknüpften Feste von der Ad-
ventszeit bis Ende November und verzeichnet übersichtlich den Glauben an Vorbedeutun-
gen, die zur Erringung der Fruchtbarkeit und zur Abwehr des Unheils geübten Bräuche
des Landvolkes, deren Mannigfaltigkeit manchen überraschen wird, die Umzüge und Be-
lustigungen, die Regeln über Speisen und Gebäcke, die Spuren des Totenkultes und be-
sonderer Opfer. Manche seltsame Sitte, wie z. B, die in Schlesien auftretende, am Jakobi-
tage einen geputzten Ziegenbock vom Kirchturme zu stürzen, erhält durch eine Fülle
analoger Fälle, die aus angrenzenden und sogar aussereuropäischen Ländern beigebracht
werden, Aufklärung. Der Einfluss, der von der christlichen Kirche ausging, wird ge-
bührend gewürdigt; gegen die früher so beliebte Ableituug vieler Bräuche aus dem ger-
manischen Heidentume übt der Verf. vorsichtige Zurückhaltung; selbst die Ansicht, dass
in vielen Weihnachts- und Neujahrsbräuchen Reste eines ehedem um diese Zeit gefeierten
Totenfestes zu erkennen seien, will er sich nicht zu eigen machen. Yermoloffs stoffreiches
Werk über den landwirtschaftlichen Volkskalendcr (1905) ist, soweit ich sehe, nicht be-
nutzt. Wie in den früheren Bänden stehen unter dem knappgefassten Texte ausgedehnte
Anmerkungen, und ein gutes Literaturverzeichnis folgt. Besonders dankenswert ist das
62 Seiten umfassende Gesamtregister, das die hier aufgespeicherten Schätze aufs bequemste
überblicken lässt. [J. B.]
F. Vogt, Weihnachtsspiele des schlesischen Volkes. Gesammelt und für die Auf-
führung wieder eingerichtet. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 1914. IV, 44 S. 8°.
Steif geh. 1 Mk. — Die Reste der früher in Schlesien verbreiteten Spiele von der Ein-
kehr des Christkindes zu Advent, von der Geburt Christi und vom König Herodes hat der
Verf. bekanntlich in seinem umfassenden Werk 'Die schlesischen Weihnachtsspiele' (1900)
zusammengestellt und die Entwicklung dieser Volksschauspiele vom Mittelalter bis zur
Gegenwart verfolgt. Die an jener Stelle gebotene Wiederherstellung der Texte und Sing-
weisen ist seitdem vielfach zu Aufführungen verwendet worden. Das vorliegende Büch-
lein enthält die drei Spieltexte mit Singweisen und szenarischen Anweisungen und will der
weiteren Neueinführung dieser sinnigen und urwüchsigen Volksschauspiele dienen. [F. B.]
Nachruf. — Brunner: Protokolle.
437
Max Höfler 'If.
Am 8. Dezember d. J. verschied, 67 Jahre alt, nachdem er seit einiger Zeit ge-
kränkelt, in Tölz der älteste Arzt dieses Marktfleckens und des damit verbundenen
Bades Krankenheil, Dr. phil. h. c. Dr. med. Max Höfler, Kgl. bayerischer Hofrat.
Sein Vater war der eigentliche Erschliesser von Krankenheil, und er selbst hat
als dessen Nachfolger durch lange Jahre Tausenden von Kranken seine reichen
Erfahrungen dienstbar gemacht. Seine Landpraxis eröffnete ihm eine genaue
Kenntnis der bäuerlichen Zustände und Anschauungen, denen er namentlich in
bezug auf die Volksmedizin und Festgebräuche nachging. Über Volksmedizin und
Aberglauben in Oberbayern, die volksmedizinische Botanik der Germanen, die
volksmedizinische Organotherapie und ihr Verhältnis zum Kultopfer hat er Bücher
veröffentlicht, daneben dieses Gebiet in Abhandlungen, die in Zeitschriften er-
schienen, gepflegt, noch eifriger aber den Gebäcken und Gebildbroten nachgespürt*
die sich an kirchliche Festtage und Familienfeiern knüpfen. Unsere Zeitschrift,
die Zeitschrift für österreichische Volkskunde und andere enthalten zahlreiche
hierauf zielende Untersuchungen, die, gleich den volksmedizinischen Arbeiten, nie
blosse Sammlungen bringen, sondern stets der Geschichte und dem Ursprung der
Meinungen und Bräuche nachgehen. Als der Münchener Verein für Volkskunst
und Volkskunde seine Zeitschrift begann, eröffnete Höfler sie mit einem Volks-
kalendarium, das eine reiche Zusammenstellung des Glaubens und der Bräuche
bietet, die das Volk mit den einzelnen Tagen verbindet. Unserm Verein hat er
seit seiner Begründung angehört und unsere Zeitschrift vom ersten Band an bis
zum vorliegenden mit Beiträgen bedacht. Um so schmerzlicher empfinden wir den
Verlust dieses hochverdienten Veteranen der wissenschaftlichen Volkskunde, der
auch als Mensch durch seine lautere Gesinnung und liebenswürdige Hilfs-
bereitschaft allen, die ihm je persönlich nahegetreten sind, unvergesslich bleiben
wird.
Berlin. Max Roediger.
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 23. Oktober 1914. Der Vorsitzende, Hr. Geh. Begierungsrat
Prof. Dr. Roediger, widmete den verstorbenen Mitgliedern und Freunden des
Vereins, Frl. Dr. van der Kop, Baurat Prof. Friedrich Müller und Prof. Dr. Richard
M. Meyer herzliche Worte des Gedenkens. An der Kriegsanleihe hat sich der
Verein mit Zeichnung von 2000 M. beteiligt. Der Unterzeichnete legte eine
Anzahl neuer Erwerbungen aus der Kgl. Sammlung für deutsche Volkskunde vor.
Darurfter befanden sich eine oberhessische Zuhfturkunde der Schuster und Löber
(= Lohgerber) aus der ersten Hälfte des 18. Jahrh. mit beigefügten Normalsohlen
aus Holz, wie sie in der Zeitschrift des Ferdinandeums in Innsbruck, Jahrg. 1913,
beschrieben und abgebildet sind. Eine Anzahl Gewebe, Beiderwande aus Schles-
wig-Holstein, weisser Damast, blau-weisses Leinen und bedruckte Stoffe mit volks-
tümlichen Darstellungen, besonders aus der biblischen Geschichte, boten Gelegen-
438
Brunner:
heit zu Vergleichen und historisch-technischen Betrachtungen. Aus dem Kreise
'Volksglauben und Brauch' lag ein merkwürdiges, Tunscheere genanntes volkstüm-
liches Neujahrsgeschenk aus dem Hümmling vor, über welches sich in der Zeit-
schrift 'Niedersachsen' 17, 197 einiges findet. Allerhand Schutzmittel für Mensch
und Vieh, wie die von Marie Andree-Eysn in dem Buche 'Volkskundliches aus
dem bayrisch-österreichischen Alpengebiet' S. 113—114 erwähnten Schratlgaderl,
Trudenkreuze, Salzstein und Salzkirch], sowie ein aus Lippe stammendes eisernes
Kreuzamulett, aus einem Sargnagel geschmiedet, vervollständigten diese kleine
Ausstellung. Der Vorsitzende sprach sodann 'Vom kriegerischen Volkslied':
Man muss zwischen volkstümlichem Lied und Volkslied unterscheiden. Das Volks-
lied ist ein gesungenes, allen Volkskreisen verständliches Lied, während das volks-
tümliche Lied, von bekannten Dichtern herrührend, wohl vom Volke aufgenommen,
aber leicht verändert wird. Der Ausgangspunkt einer historischen Betrachtung
über das deutsche Volkslied ist des Tacitus Bemerkung über den 'barditus' der
Germanen. Über den Inhalt dieser Gesänge ist aber nichts gesagt. Vielleicht
handelte es sich nur um einen Kampfruf, der den Römern furchtbar in die Ohren
klang. Der Zweck des Kampfrufes ist, den Mut der Krieger und ihre Kraft
wirkungsvoll zu äussern. Im 11. Jahrh. heisst dieser Kampfruf das Feldgeschrei-
Daraus entwickelten sich kirchliche Gesänge, die sogen. Leisen (xvqis èUrjoov), wovon
das Reuter sehe 'Läuschen' den letzten Nachklang darstellt. Da die Volkspoesie
in alter Zeit nicht aufgezeichnet wurde, begegnen wir ihr erst im 14. Jahrh.
Eigentümlich ist ihren Liedern die Sprunghaftigkeit. In der Reformationszeit und
im Dreissigjährigen Kriege treten eigentümliche Reimchroniken, Relationen, auf.
Historisch-politische Dichtung ist im 15. Jahrh. in der Schweiz besonders beliebt.
Dem älteren politischen Liede fehlt das Persönliche. Eine umfassende Volkslyrik
entwickelte sich erst mit dem Landsknechtwesen. Solcher Lieder wurden eine
Anzahl verlesen. Liebe zum Soldatenberuf findet sich aber erst seit den vierziger
Jahren des 19. Jahrh., nachdem körperliche Misshandlungen des Soldaten verboten
worden waren. Die Überlegenheit des Soldaten über den Bürger findet im Kriegs-
liede ungeschminkten Ausdruck. Das Trinken spielt im modernen Soldatenliede
keine hervorragende Rolle. Das Leid des Soldatenloses wird in älteren Liedern
oft beklagt. Der verwundete Krieger fand nicht so hilfsbereite Pflege wie heut.
Der arme 'Schwartenhals' des 16. Jahrh. musste oft betteln gehen. In Friedens-
zeiten war das Leben des Soldaten leichter, daher findet die Friedenssehnsucht
(Friedenstaube) im kriegerischen Volksliede warme Worte. Nach hoffentlich
baldigem ehrenvollen Ende des jetzigen Weltkrieges hofft der Redner nicht auf
einen vierzigjährigen, sondern auf Geibels 'Deutschen Frieden'. Hr. Prof. Dr.
Bol te wies anschliessend darauf hin, dass das Bild von der durch den Belagerer
umworbenen Festung sich jetzt wieder häufig in der Kriegspoesie finde. Hr. Ge-
heimrat Dr. Friedlaender gab einige Proben der jetzt üblichen Kriegs- und Sol-
datenlieder und ging näher auf die Entstehung des kleinen Kriegsliederbuches von
1914 ein.
Freitag, den 27. November 1914. Vorsitz Geh. Rat Roediger. Hr. Prof.
Ludwig legte die Nachbildung eines alten Holzschlosses oder Riegels ohne
Schlüssel von einer Stalltür im Ostseebade Horst vor, ferner eine Farbenskizze
dieses Gebäudes und zwei russische gestickte Handtücher aus Ostpreussen. Hr.
F. Treichel zeigte Abbildungen der Mädchentracht von der Kurischen Nehrung u. a.
Es entspann sich daraus eine Erörterung über die eigentümlichen Bootswimpel der
kurischen Fischer, die mit reicher Schnitzerei und Bemalung ausgestattet sind.
Nach Angabe von Frl. Ida Hahn soll die Form oder Farbe der Fahne mit dem
Protokolle.
439
Familienbestande des Besitzers veränderlich sein. Wie Dethlefsen in seinen
Bauernhäusern und Holzkirchen in Ostpreussen S. 30—31 angibt, hat jedes Dorf
seine eigenen Farben, während die Schnitzereien der einzelnen Dörfer in einer
bestimmten Gruppe von Darstellungen sich bewegen. Der Unterzeichnete legte
ein reich beschnitztes Gerät vor von Klammerform, datiert 1782. Es gehört der
Kgl. Sammlung für deutsche Volkskunde und war bisher von unbekannter Be-
stimmung. Durch Vergleich mit einem sogen. Tenakel und Divisorium aus der
hiesigen Buchdruckerei Gebr. Unger konnte festgestellt werden, dass es sich, wie
Hr. Maurer vermutete, um ein Buchdruckergerät handelt, welches zum bequemeren
Festhalten und Lesen von Handschriften früher allgemein benutzt wurde. Frl.
Elisabeth Lemke sprach sodann über die Kichererbse und berichtet selbst wie
folgt über ihren Vortrag: „Nach Erwähnung der Zustände, die auf Sizilien die
sogen. 'Sizilianische Vesper' veranlassten, welche Empörung am Ostermontag
'3U. März) des Jahres 1282 losbrach und alle Franzosen auf der Insel vernichtete
(man erzählt sich, es sollen nur zwei Edelleute übrig geblieben sein), wurde ein-
gehend der Erbse gedacht, die dabei eine grosse Rolle spielte: die Kichererbse,
Cicer arietinum L., deren Name kein Franzose richtig aussprechen konnte. In der
Schriftsprache heisst die Erbse italienisch cece, pl. ceci, in Dialekten ceceri und
-ciceri. Nach Hehn gehörten die Kichererbsen in Italien zur hauptsächlichsten
Mahlzeit der ärmeren Volksklassen, während sie heute diese Rolle in Spanien
spielen, wo sie cicercha und garbanzo heissen. Bei den antiken 'Floralien' wurden
sie unter das Volk ausgestreut, das sie mit Gelächter aufzufangen suchte. Mög-
licherweise stimmt Ciceros Name vom fleissigen Anbau der Erbse, gleichwie die
Familiennamen Lentulus, Fabius, Piso entstanden sind; Cicero brachte, als er
Quästor wurde, den Göttern ein Weihgeschenk, auf dem sein Name Marcus
Tullius und darunter eine Erbse eingegraben waren. In Italien gehören geröstete
Kichererbsen (das in Catania beobachtete Rösten wurde ausführlich geschildert),
oleich Mandeln, Lupinen, Kürbiskernen usw. zum Naschwerk, das 'Zeitvertreib'
"passatempo) genannt wird. Verbreitet ist die Benutzung der gerösteten Kicher-
erbsen zur Vermischung mit Kaffee, was aber wohl sehr oft Geschäftsgeheimnis
bleibt. _ E. Lemke hat aus verschiedenen Gegenden Italiens, auch von Sizilien
und Sardinien, Kichererbsen mitgebracht; aus der ih Neapel erstandenen Aussaat
uab es gute Erfolge. — Es wurden Proben von Kichererbsen und auch getrocknete
Pflanzen vorgelegt; unter den Erbsen befanden sich auch einige, die seinerzeit
Prof Dr. Schweinfurth aus Ägypten gebracht hatte. (Diese wichen in Form,
Grösse und Farbe von allen übrigen ab.) Mit dem an Oxalsäure reichen Kraut
erbeutet man auf Sardinien Fische. — (Geröstete Kichererbsen aus Palermo wurden
zur 'Vernaschung' angeboten, und zum Nachtisch im Restaurant gab es gekochte
Kichererbsen aus verschiedenen Gegenden Italiens. Die Zubereitung hatte Frau
Gehehnrat Friedel gütigst übernommen.)" - Hierzu bemerkte Hr. Dr. F. Boehm,
dass die Etymologie des Beinamens Cicero schwierig und dunkel sei. Auch Geh.
Rat Roediger wies auf etymologische Schwierigkeiten deutscher Wörter wie
Erbse u. a. hin. Wahrscheinlich handle es sich um Lehnwörter aus nicht indo-
oermanischen Sprachen. Ferner kommt noch als erschwerend der Bedeutungs-
wandel der Wörter im Laufe der Zeit hinzu. Hr. Prof. Dr. Ed. Hahn legte eine
lange Eisensichel und eine kurze, unsymmetrisch gestielte Harke aus Südtirol vor,
die°für die Kornernte bestimmt und mit je einer Hand gleichzeitig benutzt werden.
Im Anschlüsse an die Beobachtung, dass die Südtiroler das Sternbild der Plejaden
als Sichel benennen, erörterte der Redner die Beziehungen der Sternenwelt zu
den Geräten des Ackerbaues in den Anschauungen und Bezeichnungen der ver-
440
Brunner: Protokolle. — Berichtigungen.
schiedenen Völker alter und neuer Zeit. Näheres darüber ist in den Verhand-
lungen des Nürnberger Anthropologenkongresses von 1913 und den Verhandlungen
der Berliner anthropologischen Gesellschaft von 1914 enthalten. Bezüglich der
vorgezeigten Sichel bemerkte noch Hr. Geheimrat Friedel, dass solche in der
Mark als Rohrsicheln benutzt worden sind und vielfach im Wasser gefunden
werden.
Berlin. Karl Brunner.
Berichtigungen,
l.
Zu dem oben S. 223 abgedruckten Sitzungsberichte vom 27. März 1914 möchte
ich bemerken, dass ich bei der Besprechung falsch verstanden worden bin und
meine Auffassung, betreffend den 'Achterpflug' nicht lautete, dass acht Ochsen
hintereinander vor den Pflug gespannt wurden, da diese grosse Anzahl schon an
und für sich für einen Pflug zuviel sein dürfte, andererseits auch die Bespannung
eines Pfluges mit acht Zugtieren Schwierigkeiten bietet, sondern dass 'Achter-
pflug', nicht 'Achterzug-Pflug', einen Pflug bezeichnet, welcher aus zwei Teilen,
einem Vorwagen (Vorgelege) und dem eigentlichen Pfluge besteht, d. h. der
Pflug geht 'achtern' = hinter dem Vorwagen, welcher zum Anspannen der Zug-
tiere diente. — Sodann wollte ich ausdrücken, dass der 'Swin slag' (slag
[schwedisch] = Schlag, Art: svin-slag = Schweine-Schlag) dasjenige Feld ist,,
auf dem die Schweine weiden. Schlag ist bei uns noch jetzt die Bezeichnung
der Ackereinteilung.
Berlin. Franz Treichel.
2.
Oben S. 243 Z. 14 von unten ist hinter 'Pflanzenteil oder' einzufügen: (V). —
S. 243 Z. 7 von unten hinter 'bis' heisst es V statt IV.
La Plata. Robert Lehmann-Nitsche.
3.
Oben S. 268 Anm. 1 ist hinter 'Höfler oben 9. 444' einzufügen: wo über
barches gehandelt wird; über Perchtenbrod, Gebildbrote und Barches s. oben
11, 193—201 usw.
Budapest. Berthold Kohlbach.
Register.
441
Register*.
(Die Namen der Mitarbeiter sind kursiv gedruckt.)
Aachen 226. 229f.
Aal 296. 299.
Aarne, A. 109. 330.
Abdontag 12.
Abel 70f.
Abendrot 59.
Abenteuerroman 82f.
Aberglaube 355 f. 405. 431.
Amerika 96. Baden 218.
Blut- 334. Hessen 293—303.
Isergebirge 193 f. krimi-
neller 175—182. 293 - 305.
334. 431. Pflanzen- 1—19.
102. 193f. 294f. Schleswig-
Holstein 55—62. vgl. Gei-
ster, Hexen, Krankheiten,
Teufel, Zauber.
Abortivum 10.
Abraham 332.
Abt, A. 109. 217.
Achtzahl 422.
Ackerbau 382. 393. 439.
Ackermann, A. 428f.
Acuña de Figueroa, F. 241.
Adam 63. 97.
Ägypten 164 f. 211.
Ahasvérus 434.
Ahnert, K. 431.
Albanien 166.
Albertus Magnus 1. 3.
Alchimie 12 f.
d'Alcripe, Ph. 82.
Algier 165.
Älian ] 3.
Airannwurzel 17. 322.
de Alta Silva, J. 101.
Altmai 416.
Amalfi, G. 431.
Amarantini s 9.
Ameisen 26. 30. 423.
Amerika: Aberglaube 96.
Volksrätsel 240 if.
Ammassalik 214t.
Amor und Psyche 428.
Amulett 355. Perlen- 332.
Pflanzen- 13. 17 f.
Anagallis 5.
Andersen, W. Tschuwaschi-
sche Sagen vom Igel als
Katgeber 312—315.
Andrae, A. Hausinschriften
aus Nord- und Mittel-
deutschland 31—47.
Andree, R. 308.
Andree-Eysn,M.268.355f. 385.
Angelica 13.
Angola 218.
Animismus 429.
Anüa, d. hl. 137.
Anthropophyteia 241.
Antinoupolis 219.
Antirrhinum 5 f. 9.
Antonius v. Berry, d. hl. 155.
— v. Padua, d. hl. 140. 151.
Anton Ulrich, Herzog von
Braunschweig 83. 86.
Aphrodisiaca 3f. 5. 7. 13.
Apollonia, d. hl. 136f. 153.
157.
Apostelbienenstöcke 224. 409.
Apuleius 428.
Arabien 163 f. 423.
Argentinien: Yolksrätsel 240
1 bis 255.
Ariel 429.
Armenien 164.
Arromunen 166.
Artemisia 7. 9. 13.
Arzt 400 f.
Asche 62.
Aschermittwoch 59.
Aeschylus 112.
Asphodelus 335.
Asplenium 15.
Assa foetida 61 f.
Aster 18.
Augenleiden s. Krankheiten.
Ausstellung für italienische
Volkskunde 207.
Austrag 389. 398.
Avemaria 136 ff.
Bachmann, Z. 259.
Bäcker 399.
Backhaus 389. -ofen 391.
Baden 218.
Bahlmann, P. 217.
Bahrrecht 80f.
Baldasseroni, F. 207.
Baldrian 9.
Balkanvölker 165 ff.
v. Balthasar, A. 263.
Balqïs 423.
Bannung 417.
Barches 265ff.
Barditus 438.
Bartels, A. 356.
Basel 124f. 433.
Bauerncharakter 389 ff. 435.
-haus s. Haus. -hochzeit
79. 435. -krieg 394. -prak-
tik 12. Polnische — 435.
Bäume belebt 97.
Bayern: Bevölkerung 394.
Umritte 104.
Beamte 399 ff.
Bechstein, L. 100.
Becker, A. 311. 412f.
Becker, K. 110 f.
Behexung 62.
Behrend, F. Aus den Reise-
berichten des Frhrn. A.
v. Mörsperg 77-80. Notiz
102. Berichtigung 224.
Beiderwand 354. 437.
Beifuss 13. 16.
Beil 61.
Beleuchtung 352. 377.
Berghausen 411 f.
Berlin 101. 345. 358 f.
Berührung heilend 229.
Beschwörungen s. Segen.
Besen 61.
Besessene 229.
Besuch: Vorzeichen 55f.
Bett 55. 376. -wärmer 378.
Bibliographie von Angola 21S.
ethnologische 220. volks-
kundliche 109. 217.
Bielenstein, R. 243ff. 382.
Bienenstöcke 224. 409.
Bier 371.
Bin Gorion, M. J. 97. 332.
Bismarck-Archipel 105. 213f.
Blasius, d. hl. 58. 157.
Blau s. Farben.
ßleigiessen 405.
Blitz abgewendet 8 ff.
Blocksberg 416.
Blut 57. -aberglaube 334.
gestillt 137. 150. 155. 157.
tabu 203.
Bock, H. Iff.
Bockel, O. 218.
Boehm, F. 439. Zur Pflege
der Volkskunde in Italien
206—210. Bespr. 96. 328
bis 329. 427-428. Notizen
100-106. 217-221. 334 bis
336. 431-437.
Bölkhans 419.
Boite, J. 108 ff. 160. 425 f. 438.
Zur Wanderung d. Schwank-
stoffe 81—88. Zum Schwank
vom Zeichendisput 90. Vic-
tor Chauvin f 106—107.
Zum Bericht über den Mar-
burger Verbandstag 112.
Nochmals das Soldatenlied:
'Hurra, die Schanze vier'
319. Aus Hermann Kest-
ners Volksliedersammlung
424. Bespr. 327. 330-332
Notizen 100—106. 217. 2^1
335. 481-437.
Bootswimpel 438.
Borchardt, P. 218.
Boersch, Ch. 115.
Botrychium 12.
Brachendistel 19.
442
Register.
Brände 402.
Brandenburg: Sagen 219.
Brandsch, G. Noch ein Vor-
schlag zur lexikalischen An-
ordnung von Volksmelodien
196—199.
Brandt, H. 234.
Branntwein 61.
Brant, Seb. 116. 118. 121.
Brauerei 56.
Braun, R. 218.
Braunau a. Inn 387.
Braungart, R. 381.
Braunschweig: Hausinschrif-
ten 38. Herzog 82 f. Nach-
barreime 91. Sagen 414 bis
420. Tracht 352.
Braut: Schmuck 94f. Vor-
zeichen 55.
Breisgau 126,
Brendicke, H. 101.
Brigitta, d. hl. 157.
Bronner. F. J. 406.
Brot 55 f. 61. 153. 369. 396.
Brücke 129 f. 239.
Brueghel, P. 131 f. 227. 239.
Brunfels, 0. lf.
Brunholdisstuhl 199.
Brunner, K. 222 f. 437 f. 439.
Die Entwickelung der Kgl.
Sammlung für deutsche
Volkskunde seit dem Jahre
1904 349 - 360. Sitzungs-
berichte 108—112.221- 224.
337-440.
Brusch, K. 354.
Brustknochen 57.
Bryonia 17.
Buchdruckerei 439.
Buchweizen 58.
Bückeburg 351.
Bügeln 378.
Buin 213.
Bulgarien 166.
Bürger, G. A. 81 f.
Burggrafenamt 71 f.
Burschenleben 403.
Butter 13. 56. 297. 370. 415.
-milch 57.
Buturas, A. Neugriechische
Spottnamen und Schimpf-
wörter 162 — 175.
Bjzanz 163 ff. 170.
Caland, W Der Schwank vom
Zeichendisput in Litauen
und Holland 88—90.
Camehl, A. W. 103.
Camerarius, Ph. 125.
Carlina 3. 8.
Carstens, H. f Volksglauben
und Volksmeinungen in
Schleswig-Holstein 55 — 62.
Castan, L. 339. 341.
Célos, G. 305 f.
Ch allah 267 ff.
Chauvin, V. 106f.
Chenopodium 8.
Chile: Lied 105.
Cicer arietinum 439.
Cicero 439.
Cichorium 16.
Clara, d. hl. 158.
Cohn, A. Meyer 339. 345.
Cöln a. Rh. 226.
Coutumes 99f.
Cramer, F. 100.
Crispinus Bonifacius 82 f.
Cyathus 11.
Damköhler, E. 83. 85 f.
Dänemark 79 f.
Debenedetti, S. 431.
Deckengehänge 355.
Delphinium 16.
Dialekte s. Mundarten.
Diehl, W. 293.
Dienstantritt 57. 395. -leute
395. 398.
Dieterich, A. 357.
Dinkel 369.
Dioskorides 1. 5. 6. 18.
Dolopathos 101.
v. Domaszewski, A. 201.
Donneraxt 296 f. -würz 8.
Dorant s. Oran t.
Dorfformen 222. 384f.
Doritsch, A. 88.
Dorn 139. 143.
Dost 8 f.
Drache 32 f.
Drangeid 399.
Drayton, M. 81.
Dreikönigstag 57. 109.
Dreizehn 62.
Dreschen 56. 58. 353.
Druiden 17.
Dunkelheit 57.
Duntzenheim 116.
Durchkriechen 61. 201 ff.
Dürrwurz 8.
Ebermann, 0. Le Médecin
des Pauvres 134-162.
Eberraute 13. -würz 3. 8.
Echternach 129ff. 234ff.
Edelstein 422.
Efeu 146.
Egge 294. 299. 382.
Egidius, d. hl. 59.
Eheauffassung 396. -recht99f.
Ehrenzeichen 433.
Ei 57. 59. 148. 295 f. 310.
Eiche 11.
Eid 400.
Eifel 106.
Eisen 56. 97.193. -kraut 16.18.
Elfen 430.
Enchiridion Leos III. 155.
Engelwurz 13.
England: Lied 221.
Ente 59.
Enzian 14.
Epilepsie s. Krankheiten.
Epiphanias 109.
Eppen, M. 261.
Erbse 58. 439.
; Erdbeben 97.
! Erde 55. 97.
I Ernte 194. 382. -fest 224.
Eryngium 4. 19.
Erzgebirge 363.
Eskimo 214 f.
Esrél 313 f.
Essen (Stadt) 334.
Esslinger, C. 355.
Ethnopsychologie 105.
Eule 430.
Eulenspiegel 82.
Eva 66. 70.
Evangelisten 153.
Exempla 432.
Fabel 427.
Faden 56. 422 f.
Fälteln 378.
Familie: bäuerliche 396.
Feste 397.
Farben: blau 16. rot 119.
125 f. 228.
Farnkraut 4f. 12. 15.
Fastenzeit 59.
Fastnacht 199.
Faustsage 221.
Fegen 57.
Fehrle, E. 218.
Feist, S. Bespr. 213-216.
Feldformeu 382.
Fenster 380.
Ferri, G. 208.
Feste: Familien- 397. Neu-
jahr 58. 61. 109. 176 f. 194.
438. Ostern 7. 57ff. 118.
167. Pfingsten 234. Weih-
nachten 56 f. 59. 109. 188
bis 190. 355. 436. vgl. Drei-
königstag, Johannistag,
Karfreitag usw.
Feuererzeugung 352.
Fichtelgebirge 219.
Fieber s. Krankheiten.
Fisch 59. 439. -netz 383.
-zucht 393.
Fischer 57. 438.
Flachs 58.
Flechterei 355. 378.
Fliege 11. 148. 297.
Floralia 439.
Fluchen 193. 417.
Flurnamen s. Namen.
Fock, G. 335.
Fowler, W. Warde 202 f.
Franck, J. 36.
—, M. 258.
-, Seb. 16.
Frankel, L. Auffrischung al-
ter Fastnachtsfeiern in der
Rheinpfalz 199. Jungfrauen-
versteigerung im oberen
Nahetal 311. Der 'Weiber-
braten' von Berghausen bei
Speyer 411—413.
Franken 167. 370.
Frankreich: Gebäcke 306ff.
Volksmedizin 134—162.
Frauen: Recht 412f. Stellung
395.
Frazer, J. G. 201 ff.
Freimaurer 414.
Freitag s. Wochentage.
Register.
443
Fremdwörterfrage 211.
Freyberg, E. H. 263.
Frey tag, G. 3G9.
Friedel, E. 101. 440.
Friedlaender, M. 438.
Friedrich d. Gr. 83.
Friedrich Wilhelm I. 83 f.
Friesland 350.
Fritz, J. 221.
Frosch 415.
Frost 59.
Fachs 26. 28. -schwan z
(Pflanze) 9.
Fuchs, L. 2.
Fulnek 188 f.
Funke am Licht 55.
v. Fürst, G. 262.
Fussspur 193. 258 f.
Gaidoz, H. 205.
Galläpfel 11.
Galluswoche 58.
Gallwespe 11.
Gänsefuss (Pflanze) 8.
Gart der Gesundheit 7. 9.
17.
Gartz a. 0. 259.
Gauchheil 5.
Gebäcke 265ff. 305 ff. 369. 396.
vgl. Brot, Gebildbrote.
Gebärmutter 118. 138 f. 148.
154.
Gebet 417.
Gebhardt, A. (und Oechsler,
E.) Die Windsheimer Hand-
schrift des Liedes 'Von
Sankt Martins Freuden' 47
bis 54. Bespr. 216—217.
Gebildbrote 109. 265-271.
305-309. 440.
Geburt erleichtert 9. 137.141.
144. 149. 269
Geisslersekte 233.
Geisterglauben 428f. -schiff
96. 100. —verscheucht 6 f.
17. 98. 140.
Gemeindeverfassung 401.
van Gennep, A. 201_. 432.
Genoveva, d. hl. 145.
Gentiana 14.
Georg, d. hl. 104. ^
Germanen: Haus 832. bee-
herrschaft216. Tracht 22¿>f.
Gerste 11. 58.
Gertrud, d. hl. 256 ff.
Geschlechtskrankheiten s.
Krankheiten. -Unterschei-
dung 422. _
Gespenst gemisshandelt lo
bis 182. vgl. Geister.
Getreidebau 382.393. -masse
382.
Gewebe s. Weberei. ^
Gewerbeaussteilung 344.
Geyer, B. 432.
Gicht s. Krankheiten.
Gilgenberg 388.
Glasscherben 3i0f.
Glocken 211. 223. 417. -türm
381.
Glückgreifen 109.
Gluhschwanz 414.
Goldwurz 13.
Goerke, F. 340f.
Goslar: Hausinsehriften 38. :
Göttingen: Hausinsehriften ¡
32 f.
Graber, G. 327.
Gräberfunde 368. 388f.
Graf, S. Hianzische Märchen ¡
20-31.
Graffunder, P. 219.
Greifswald: Sage 256 —264.
Grenzsteine 310 f.
Gressoney 352.
Griechenland III. 162-175.
427 f. 435 f.
Grimm, Brüder 108. 425.
Grind s. Krankheiten.
Gross, J. 125.
Gunaris, K. 162.
Guthknecht, G. 223.
v. Guttenberg, Frhr. 319.
Haaropfer 269f.
Haas, A. 100. Eine alte
Greifswalder Lokalsage 256
bis 264.
Hafer 11,
Ilagel 159.
Hahn 98. 222. vgl. Huhn.
Hahn, Ed. 439 f. Bespr. 211
bis 212. Notiz 103.
-, I. 438.
Hakenkreuz 307 f.
v. Halem, G. A. 87.
Hameln: Rattenfänger 78f.
Handwerk 218. 390. 399.
Hannover 36 f. 352.
Harke 57. 59. 439.
Harn 56.
Hartheu 7f.
Haselstrauch 149.
Haeser, H. 113ff. 234.
Haspel 377.
Haube 352. 391.
Hauch 137 ff. 229. 429.
Haus: germanisches332.0ber-
innviertler 389ff. sächsi-
sches 336. 366. schlesisches
223. — Bauern- 103. 223.
332. 350 f. 366. 379ff. 389 ff.
-bau 55. 103. -formen 379ff.
-géographie 220. 379. -in-
schriften 31 f. -kapeile 389.
-urnen 333.
Hausrath, A. 427.
Hautkrankheiten s. Krankh.
Hävecker, H. 261.
Heanzen 20f.
Hechel 378.
Heckenrose 62.
Hecker, J. F. C. 113ff.
Hegi, G. 219.
Heimgarten 389.
Heinrich Julius, Herzog von
Braunschweig 82.
Heisterbach 102.
Helgoland 94f.
Hellwig, A. 334. Misshand-
lung eines Gespenstes 175
bis 182. Misshandlung eines
Hexenmeisters 303—305.
Helm, R. 428.
Hemavijaya 318.
Hemd 57. 294f. 297.
Hennig, A. 384.
Herd 379. 391.
Herdengeläut 211 f.
de Herentals, P. 231.
Hering 61.
Hermaphroditismus 97.
Herodot 111.
Herrgottswinkel 390. 396.
Herrmann, P. 432.
Hertel, J. Zum Schwank vom
Zeichendisput 317—318.
Hertz, W. 422.
Hesiod 111.
Hessen: Aberglaube 293 — 303.
Flurnamen 101.
Heustapel 382f.
Hexagramm 222.
Hexen 24 f. 28. 56f. 303. 416.
429 f. Butter- 56. -meister
303ff. Tiergestalt 98.
v. Heyden, A. 347.
—, F. 343.
Hianzen 20 f.
Hildegard, d. hl. 1.
Hilka, A. 101.
Hillebille 385f.
Himmelsbrief 61. 142.
Himten 382.
Hirsch, A. 113 ff. 234.
Hirschberg i. Schlesien 321 f„
Hirschlinger, J. 389.
Hirschzunge 295.
Historia Septem Sapientium
101.
Historische Lieder 438.
liochzeitsgebräuche: Däne-
mark 79f. jüdische 222.
Hochzeitswagen 351.
Hof 389.
Höfel 409 f.
Höfer, P. 367.
Hoffmann-Krayer, E. 381. 383.
4:33
Höf 1er, M. f 238. 268. 270
437. Ein HelgoländerBraut-
schmuck 94 - 95. Yernas ein
200—201. Gebäcke und Ge-
bildbrote (Pollweck utjd
Osterwolf) 305—309.
Höft, F. 346. 349.
Hohlenstein 117.
Holl 391.
Holland: Schwanke 89f.
Holzbauten 390f.
Holzkalender 354. -
Hondius, J. 133f.
Honig 148. 267. 423.
Honigberg 272 ff.
Hörmann, K. 211 f.
Hornschuch, F. 48.
Horstius, G. 127.
Hòse 62. 391.
Hostie 229.
Hotz, W. 101.
444
Register.
Hubertus, d. hl. 145. 155.
Hufenverteilung 223.
Huhn 149. 222. vgl. Hahn.
Hühnerauge s. Krankheiten.
Hund 59. 418.
Hünengräber 105. 278.
Hungerberg 272 ff. 319.
Hungertuch 854.
Hunnen in Ortsnamen 278.
Hure 9 f.
Hilsing, G. Zum Rübenzagel
320-326.
Hygiene 401.
Hypericum 7.
Igel 94. 312-315.
Hex 10.
Ilg, M. Maltesische Legenden
von der Sibylla 63 — 71.
Imlinsche Familienchronik
119.
Imme, Th. 334.
Immergrün 7.
Imperatoria 13.
Impotenz 13.
Indien 421 f.
Innviertel 387 — 409.
Inschriften: Eisenbahnwagen -
431. Haus- 31 f. Uhr- 104.
Inula 8.
Irrlicht 417.
Isaac, J. 344.
Isergebirge : Aberglaube 193f.
Island 432.
Italien 128. 206-210. 308.
434. 439. vgl. Sizilien.
Jachert, G. 319.
Jagd 402.
Jägerhof in Dresden 361 ff.
Jahn, F. L. 83.
-, U. 338ff. 343.
Jainaliteratur 318.
Jakobus, d. hl. 59. 436.
Jätaka 421 f.
Joch, kaudinisches 201—206.
Johann Albrecht, Herzog von
Mecklenburg 87.
Johannes d. T. 12. 126. 144.
154. 158. 226. 232 f.
Johannisevangelium 229.
-feuer 14.16. 233. -kraut 7.
13.18. -nacht 4.14.16.127.
-tanz 232. 238.
Johanniterorden 77.
Joseph, d. hl. 69.
Joest, W. 344.
Judas Ischarioth 59.
Jude, ewiger 434.
Juden: Aberglauben334. Feste
221. 265 f. Gebäcke 265 ff.
Sagen 97 f. 332. Spottnamen
167 f.
Jungfrau 61. 63 f. 68. 311.
Heilige 137. verwünschte
418.
Juniperus 9.
Jütland 386.
Kaffee 396. 439.
Kain 70 f.
Kaiserin Friedrich 343.
Kalender 101. 354.
Kamm 353.
Kammerwagen 351.
Kampfruf 438.
Kantzow, Th. 257.
Karfreitag 57.
Kärnten 327 f.
Kartenspiel 395.
Kartoffel 58. 369. 396.
Käse 370. 419.
Katze 98. 325.
Katzenelnbogen 293ff.
Kaudinisches Joch 201—206.
Kegelspiel 404.
Kehricht 57.
Keramik s. Töpferei.
Kerbhölzer 354.
Kerner, J. 109.
Kessel 61. -haken 149.
Kichererbse 439.
Kienspan 377.
Kiepe 355. 378.
Kind 55. 334. uneheliches 396.
Kindererziehung 397. -krank-
heiten s. Krankheiten, -rät-
sei 422. -spiel 19. 59.
Kinematograph 358.
Kirchenbau 381.
Klapper, J. 432.
Kleidung s. Tracht.
Kleinasien 163.
Kleinlawel 116.
Kleinpaul, R. 334.
Klette 10 f. 102.
Klösse 369.
Knacken der Möbel 55.
Knicks 385
Knoblauch 7. 18.
Knoop, O. Die kluge Königs-
tochter 191 — 192.
Knortz, K. 96.
Knuchel, E. F. 433.
Kohl 58. 62.
Kohlbach, B. Das Zopfgebäck
im jüd. Ritus 265-271. Be-
richtigung 440.
Kohlen 55. 193. 310f.
Kohler, J. Bespr. 99 -100.
Köhler, R. 425.
Kölbigk 238 f.
Kolonialsprachen 106.
Kongress für italienische
Volkskunde 207.
König, E. 434.
v. Königshoven, J. 113ff.
Kopfschmerzen s. Krankheiten.
Kopftuch 391. 405.
Korb 355. 378.
Korngeist 309.
Korsett 109.
Kosmas und Damian 139.
Kossinna, G. 333.
Kot 296 f.
v. Kralik, D. 433.
Krankheiten: Allgemeines 64.
329. 400. Augen- 16. 65.
141. 144. 158. Brust- 296 f.
Epilepsie 17.118.129 f. 150.
156. 238. vgl. Tanzkrank-
heit. Fieber 138. 148. 158.
Geschlechts-18. Grind 137.
Haut- 145f. 154. 156. Hüh-
nerauge 12. Kinder- 151.
297 f. Kopfweh 143. Läh-
mung 294.297. Leibweh 57f.
138. 150. 153. 157. Ohren-
schmerzen 143. Pest 6. 13.
Pferde- 3.61.142.297. Skor-
but 149. Steine 151. Tanz-
113-134.225-239. Taran-
tismus 128. Tollwut 128.145.
148. 238. Veitstanz s. Tanz-
krankh. Verbrennung 139.
143.154 f. Verrenkung 152ff.
155. 297. Vieh- 14 16.118.
145. 147 ff. 154. 158. 303 ff.
Wassersucht 146. Wildfeuer
139. Wunden 137. 151.157.
Würmer 156. Zahnweh
136 f. 143. 153. 157 f.
Kranz 7. 231.
Kräuterbücher 1—16. -weihe 6 f.
Kreuz 56. 119. 136 ff. 144.
-dorn 137. 416. -steine 434..
-weg 8. 416.
Kriegsdichtung 431. 438.
Krippe 355.
Krokodil 430.
Kröte 118.
Krüsel 377.
Kübler, B. 219.
Kuchel 391.
Kuckuck 59.
Kufahl, G. 434.
Kuh 61.
Kühnau, R. 335.
Kultur, deutsche 210f. 336.
Kundentriuken 399.
Kunstlied s. Lied.
Kurische Nehrung 438.
Kuss 57.
Lacombe, M. 99.
Lähmung s. Krankheiten.
Lampe 55. 377.
Lampros, S. 162.
Landkarten 367 ff. 427.
Landsknechte 438.
La-Plata-Gebiet 240—255.
Lares 207.
Lärmwerkzeuge 356.
Lauffer, O. 359. 368.
Laurentius, d. hl. 143. 157.
Laus 62.
Lausitz 362.
Lazarus, d. hl. 153.
Lebenswasser 24f.
Ledum 8.
Legenden aus Malta 63—71.
Lehmann-Nitsche, R. Zur
Volkskunde Argentiniens, I.
Volksrätsel aus dem La-
Plata-Gebiete240—255. Be-
richtigung 440.
Lehnwort 210 f.
Leibweh s. Krankheiten.
Lein 58.
Leisen 438.
Register.
445
Lemke, E. 109. 335. 356. 439.
Leonhardifahrten 104.
Leontodum 325.
Leskien, A. 433.
Lettische Rätsel 243 ff.
Leviatan 97.
Levy, A. 221.
Lex Baiuvariorum 433.
v. der Leyen, F. 330. Bespr.
425—427.
Licht 57. Vorbedeutungen 55.
430. -mess 58.
Licht, 0. 355.
Liebeszauber s. Aphrodisiaca,
Zauber.
Lied: chilenisch 105. englisch
221. spanisch 105. —
deutsch: Mähren 188—190.
Rheinland 110. Steiermark
434f. historisch 438. Kriegs-
438. Kunst- 315—317. Mar-
tins-47—54. politisch 438.
Soldaten- 319. 438. Weih-
nachts- 188 — 190. Melodien
50. 190. 196-199. — Süd-
see 213.
Lilium 13.
Limburg 227. 233.
Links 18. 62. 417.
Litauen 88 ff. 341. 354. 433.
Loch im Kirchendach 258 f.
Löffel 57.
Lohre, H. Notiz 219.
Loranthus 17.
Lorbeerbaum 430.
Loria, L. 206 f.
Lotto 160.
Loewe, R. 323.
Löwenbär 416. -niaul6. -zahn
325 f.
Ludwig, H. 438.
Luftgeister 429.
Lilien 57.
Lustration 203 ff.
Lüttich 226. 229 f.
Lyra, F. W. 335.
Mab 430.
Mädchenleben 404f.
Mahosadha 421.
Mähren: Weihnachtslied 188
bis 190.
Mai, E. 102. 224.
Majoran 294. 299.
Malta 63 f.
Mandragora 17.
Mangeln 378.
Mannstreu 4.
Märchen : deutsch : Kluge Kö-
nigstochter 191 f. Lebens-
wasser 24f. Zwei Brüder 22.
426. Grimms - 108. 425 ff.
Hianzen 20-31. - grie-
chisch 427 f. slawisch 191 f.
426. Tier- 331. 428. -for-
schung 330ff. 425ff. -lite-
ratur 331. -motive 108 ff.
330 ff. 425 ff.
Margarete, d. hl. 58 f.
Mariae Geburt 7.226. — Him-
melfahrt 6. 8ff. 226. -Mag-
dalenentag 115 f.
Mark Brandenburg 219.
Martinslied 47—54.
Martinus Minorità 239.
Marx, A. 427.
Marzeil, II. 102. 219. 433.
Volkskundliches aus alten
Kräuterbüchern d. 16. Jahr-
hunderts 1—19.
Masken 355.
Mastricht 226. 231. 239.
Matthiasdienstag 199. -nacht
59.
Mattiggau 387 f.
Mattioli, P. A. 2. 6f. lOff. 17.
Mauerraute 15.
Maulbeerbaum 424.
Maurer, H. 439.
Maus 13. 325.
Mecklenburg: Rätsel 243ff.
Médecin des Pauvres 134—162.
Meeresherrschaft, altgerma-
nische 216.
Meerrettich 7.
v. Megenberg, K. 1. 11.
Meier Helmbrecht 387 f.
Meier, J. Mitteilung 336.
Meineid 400.
Meinhof, C. 106.
Meisterwurz 13.
Melken 62.
Melodien s. Lied.
Menghin, 0. Über Tiroler
Bauernhochzeiten und Pri-
mizen (Schluss) 71—76.
Merian, M. 261.
Messer 55. 57.
Metz 226.
Meyer, B. M. f 437. Notiz
334 f.
Michel, II. Bespr. 210 f. No-
tizen 104 f. 133.
Mielice, Ii. 222. 350. 352. 381.
Bespr. 332—333. Notizen
103 f. 336.
Mikraelius, J. 260.
Milchzauber 15. 149.
Militärdienst 403. 433.
v. Miltitz, J. 236.
Minden, G. 222. 224. 352.
Die Entwicklung des Ber-
lin er Volkstrachtenmuseums
337-349.
Mink, J. 103.
Mistel 17.
Mistforke 62.
Mitternacht 57.
Mittwoch s. Wochentage.
Möbel 351. 375ff.
Mocchi, A. 207.
Modelgeer 14.
Modestus, d. hl. 125.
Mogk, E. 357. 433.
Mohn 267.
Mönch Felix 102. 224.
Mönchgut 340.
Mond 58. 193. -raute 12.
Morgenrot 59.
v. Mörsperg, A. 77 f.
Most 396.
Mühle: Formen380. gegen den
Wind laufend 257 ff.
Müller 399.
Müller, B. 379.
—, Conrad 216 f.
—, C-urt, Nachbarreime aus
Obersachsen 90—94. 183
bis 188.
—, W. Zur Geschichte des
Aberglaubens in der Ober-
grafschaft Katzenelnbogen
293-303.
Müller-Rüdersdorf, W. 220.
Acker und Garten im Aber-
glauben des Isergebirges
193-194.
Münchhausens Enteniagd 81
bis 83.
Mund verziehen 55.
Mundarten: neugriechisch 173.
plattdeutsch 335. schlesisch
323—326. Schwälmer 326f.
Museen für deutsche Volks-
kunde 386 f.
Museum für deutsche Volks-
trachten 337—349. — für
italienische Volkskunde
206 ff. — für sächsische
Volkskunst 108. 361—367.
Musikinstrumente 354.
Mussgnug, L. 354.
Myosotis 325.
Myrte 193.
Nabel 138.
Nachbarreime 90-94.183—188.
Nachgeburt 61.
Nachtmar 430.
Nachtmütze 420.
Nagel 193. 200f. 416.
Nägele, A. 434.
Naglfar 100.
Nähen 57. 378.
Nahetal 311.
N ahrungsmittel353.368 ff. 396.
Namen: Flur- 101. 272-292
Orts-272-292. 319. Pflan-
zen- 19. 433. Rübenzagel
323—326. Spott- 162—175.
Naturschutz 336.
Neckereien 90—94. 183—188.
Nestelknüpfen 13.
Netz 383.
Neubaur, L. 434.
Neugriechen 162—175,
Neujahr s. Feste.
Neusüdwales 94.
Nikolaus, d. hl. 259 f.
Nikolskij, N. V. 312.
Nisard, Gh. 160.
Noriker 393.
Novati, F. 208 f.
Novelle: Altertum 427. Mit-
telalter 101.
Nüchternheit 138. 140.
Nudeln 396.
Nussbaum 148. 193. 219.
Oberinnviertel 387—409.
446
Register.
Oberösterreich 359. 353. 387 ff.
Oberschützen 20.
Oechsler, E. (und A. Gebhardt)
Die W einheimer Handschrift
des Liedes'Yon Sankt Mar-
tins Freuden' 47—54.
Ofen 55 f. 351. 391.
Ofenbeck, S. 20f.
Ohnekopf 419.
Ohrenschmerzen s. Krankh.
Öl 119. 137. 297.
Orakel: Ehe-59.405. Ernte-11.
Orant 5 f. 9.
Origanum 8.
Orphiker 112.
Ortsnamen s. Namen.
Ostern s. Feste.
Osternberg 388.
Österreich: Lied 433. vgl.
Tirol usw.
Osterwolf 305 ff.
Ottilia, cl. hl. 16.
Pachelbl, J. C. 220.
Palmenweihe 9 f. 13.
Palmsonntag 9 f.
Pantoffelwerfen 405.
Papyri 219.
Paracelsus, Th. 3.
Paris (Pflanze) 6. 18.
Paten 397.
Paul, d. hl. 137f.
Pelissier, R. 224.
Perchtenbrot 268.
Perle 332.
Persien 164.
Fessier, W. 220. Aufgaben der
deutschen Sach-Geograpbie
367 387.
Pest s. Krankheiten.
Péterwurz 297.
Petrus, d. hl. 16. 59. 137.147.
154. 156 f.
Petsch, R. 242.
Pflanzen 1—19.102. 219. 433.
Pfefferkorn, Gr. M. 261.
Pfeife 55 356 420.
Pferd 3. 61. 100. 142. 297.
Pfingsten s. Feste.
Pflug 223. 312. 416. 440.
Pfuscher 400.
Phallus 306f.
Philipp, O. Zum Bahrrecht
80 81. Beigaben unter
Rainsteinen 310—311. Be-
spr. 326 — 327.
Phönix 27. 29.
Phonograph 358.
Pindar Ulf.
Pitre, G. 103. 208 f. 434.
Plater, F. 124.
Plattein 402.
Plätten 378.
Plejaden 439.
Plinius 1. 3. 5 ff. 13.
Poitou 99 f.
Polen: Bauern 435. Märchen
191 f.
Politische Lieder 438.
Polívka, G. 425f.
Pollvveck 305ff.
Polytrichum 15.
Pommer, J. 196. 434.
Pommersche Sagen 100. 256
bis 264.
Praetorius, J. 18. 261. 324.385.
v. Preen, H. 353. Der Ober-
innviertler 387 — 409.
Primiz 71 — 76.
Prokrustes 332.
Prudenzani, S. 431.
Przygodda, P. 108.
Pteridium 12.
Puck 429.
Puppen 356.
Pustertal 71 f.
(Juickborn-Biicher 335.
Rainsteine 310f.
Ranck, Chr. 103.
Ranshofen 386.
Rätsel: argentinische 240 bis
255. doppeldeutige 194f. in-
dische 421—424. der Kö-
nigin von Saba 421—424.
lettische 243ff. mecklen-
burgische 243ff. schleswig-
holsteinsche 194 f.
Rattenfänger v. Hameln 78f.
Räucherpulver 17.
Raufen 356. 399. 403.
Raupe 159.
Raute 16.
Ravensburg 125.
Rechen 194.
Rechts 62. 417.
Redensarten 104. 408. vgl.
Sprichwörter.
Reformation 394.
Regen 59.
Reid, J. S. 204.
Reimchroniken 438.
Reiners, A. 130. 234 f.
Reinigungsbräuche 201 ff.
Reitzenstein, R. 428.
Relationen 438.
Religion, altgriechische 435.
Rem, W. 114.
Reseda 5.
Reymont, W. S. 435.
Rheinland: Lied 110.
Rheinpt'alz: "Fastnacht 199.
Weiberbraten 411 ff.
Ricliter-Heimbach, A. 100.
Riegel 438.
Riemen 416. -blume 17.
Riespnbett 105. -gebirge
320 ff. -schiff 100.
Rittersporn 16.
Ritualmord 334.
Rivander, Z. 259.
Rochus, d. hl. 142.
Rock 374. 391.
Poediger, M. 108 f. 221 f. 437 f.
Max Höfler f 437. Notiz 433.
Roggen 58.
Bóheim, G. Nachtrag zu den
Tgelsagen 94.
Rolland, E. 135.
Romdahl, A. 131.
Römer in Deutschland 100.393.
Roscher, W. H. 202.
Rose 62.
Rosmarin 294f. 298.
Rot s. Farben.
Roth, F. 114.
Rübe 58.
Rübenzagel 320—326. 335.
Rückwärtszaubern 148. 156.
Rüdesheim 311.
Ruhrtalsagen 217.
Rumänien 166.
Rupert, d. hl. 394.
Russland : Fremdvölker 7. 224.
Ruta 16.
Ruthenen 7.
Saba, Königin 421 ff.
Sabbat s. Juden.
Sabinerinnen, Raub 332.
Sach-Geographie 367—387.
Sachsen: Aberglaube 328.
Bauernhaus 386. Museum
für sächs. Volkskunst 108.
361—367. Nachbarreime 90
bis 94.183 -188. Tracht 363.
Sachsenwald 105.
Sadebaum 10.
Sagen: deutsch: Faust 221.
Flug des Schneiders 82. Rat-
tenfänger 78f. Tanz-238 f.
Wettlauf mit Heiligenbild
256—264. Brandenburg 2L9.
Braunschweig 414— 420.
Kärnten 327. Pommern 100.
256-264. Ruhrtal 217.
Schlesien 320ff. 335. Thü-
ringen 100. Zwickau 432.
— jüdisch 97—99. 332.
Südsee-213. tschuwaschisch
(Igel-) 312-315.
Sagmina 8 ff.
Salbei 295.
Salomo 63ff. 421 f. -inseln
106. 213 ff. -urteil 421.
Salz 55ff. 61. 159.
Salzburg 386. 388. Mönch
von — 47.
Samen 3.
Sammlung für deutsche Volks-
kunde z. B er! in 337 - 360.387.
Samstag s. Sonnabend.
Samter, E. 111. 435f.
Sandstrickaufgabe 421.
Sarasin, P. 336.
Sargnagel 56. 438.
Sartori, P. 436.
Schachtelhalm 325.
Schad (Schadaeus), 0. 116.
Schädel 100.
Schaf 61. 158.
Schanze vier 319.
Schaubrote 267.
Scheftelowitz, I. Bespr. 97
bis 99. 332.
Scheibl, S. 404.
Schelenz, II. Bespr. 428—430.
Schell, 0. 319.
Schellen 211 f.
Register.
447
Schenck v. Grafenberg, J.
125 f. 180.
Schierghofer, G. 104.
Schiessen bei Primizen 72.
Schilter, J. 113 f.
Schimpfwörter 162—175.
Schlabitz, A. 850. 353.
Schlachten 57.
Schlagholz 385f.
Schlange 70. 154f. 314. 322.
Schlegel, R. 104.
Schlemm, J. 356.
Schlesien: Haus 223. 351.
Mundart 323—326. Sagen
335. Weihnachtsspiele 436.
Schleswig-Holstein : Aberglau-
ben 55—62. Rätsel 194f.
Scblickinger, M. 388.
Schlitten 355.
Schlitz, Grafschaft 101.
Schlüssel 418.
Schmidt, B. 336.
Schmied 165. 354.
Schmuck 94f. 352f. 374.
Schnabelschuhe 230.
Schnecken 297. -gebäck307f.
Schneider 59. 82.
Schneider, C. 261.
Schnetzer, H. 434.
Schnitzerei 320—322.
Schoof, W. 326. Beiträge zur
volkstümlichen Namen-
kunde (1 — 2) 272—292.
Nachtrag 319.
Schrank 351.
Schratlgaderl 438.
Schuhe gewechselt 417.
Schule 397. 406.
Schulz-Minden, W. 332.
Schürze 58.
Schütte, 0. Braunschweigis eh e
Sagen 414 — 420.
Schwalbe 108. 313.
Schwalm 104. 326 f.
Schwalm, J. H. 104.
Schwangere 9.
Schwanke 81—90. olí — 318.
427 f.
Schwartenhals 438.
Schwein 59. 155. 193. 416.440.
Schweiz: Aberglauben 10.
Bräuche 219. 433.
Schwelle 10. 57. 61. 416.
Sebenbaum 9.
Seele 98. 416. 428.
Seelenwanderung 430.
Segen 7.134ff. 218. 222. 296f.
Blut- 137 ff. Drei-Frauen-
141. 144. Drei-Königs- 156.
Feuer- 159. Wetter- 159.
Wurm- 156.
Seidenwörm 424.
Seiler, F. 210f.
Seier, C. 352.
Sellerie 18.
Serbien 166.
Seuenbaum 9.
Severin, d. hl. 394.
Seyfarth, C. 328.
Seyffert, 0. 361.
Sganzini, C. 104.
Shakespeare, W. 81. 428 f.
Sibylla 63-71.
Sichel 439.
Sieb 430.
Siebenschläfer 59.
Sieben Weise Meister 101.
Siebenzahl 62.
Silvester s. Neujahr.
Simon, d. hl. 154.
Simon, J. 350 ff.
Sindibad 101.
Singrün 7.
Sittlichkeit 405.
Sitzen 55. 396.
Sitzungsberichte 108—112.
221-224. 437—440.
Sizilien 434. 439.
Skorbut s. Krankheiten.
Slawische Märchen 426.
Società di Etnografia Italiana
207 f.
Sökeland, H. 342. 346. 350f.
353.
Soldatenlied 819. 438.
Solon 111.
Sonnabend s. Wochentage.
Sonne 59.
Sonnenkult 238. -uhr 104.
Sophokles 112.
Spangenberg, C. 236.
Spanisches Lied 105.
Specklin, D. 119.
Speichel 62.
Speidel, L. 406.
Speyer 4L1 f.
Spiel 402. 404. -karten 385.
• -sachen 356. Weihnachts-
436. vgl. Kinderspiel.
Spinne 11. 59. 157.
Spinnerei 57. 353. 377.
Spottnamen 162—175. -reime
90-94. 183-188. ^
Sprechen im Schlaf 55.
Spreewald 344.
Sprichwörter 408. neugrie-
chisch 164f. vgl. Redens-
arten.
Springprozessionen 129ff.284ff.
Stabrätsel 421.
Stall 889.
Stargard i. P. 259.
Stechpalme 10.
Steiermark 435.
Steine: heilige 423f. Rain-
310. vgl. Krankheiten.
Steinmetz, S. R. 220.
Stenzel, A. 105.
Sterkkraut 5f.
Sternbilder 439.
Stickerei 354. 378.
Stillschweigen 61.
Srock im Eisen 201.
Storch 61.
Strassburg i. E. 113 ff.
Strettii, Z). Weihnachtslieder
aus Mähren 188—190.
Stratz, C. H. 221.
Strauch, C. 354ff.
Strick 61.
Stricken 378.
Strumpfband 62. 374.
Stuben: Friesland 350. Ober-
österreich 351. Sachsen
362ff. Schlesien 351. Spree-
wald 337. 344.
Stückrath, 0. Drei Kunstlieder
im Volksmunde 315—317.
Stuhl 375.
Succisa 16.
Südseelieder 213. -sagen 213.
Sumpfporst 8.
Suppen 369. 396.
Swantewit 237 f.
Tabernaemontanus, I. Th. 2. 9.
Tacitus 438.
Takke, L. 259.
Tanz 390. 403. 405f. als Heil-
mittel 120 f. 227. -krankheit
s. Krankheiten, -sagen 238.
Tarantismus s. Krankheiten.
j Tataren 164.
Taube 416. 438.
Teufel: abgewehrt 9. ausge-
trieben 229 f. betrogen 415.
Grossmutter 59. hilft but-
tern 414. und Maria 68f.
Namen 414.
Teufelsabbiss (Pflanze) 16.
Thalbitzer, W. 214.
Theophrast 1. 6.
I Thiofried, Abt 234.
Thomas, d. hl. 149. -nacht
! 405.
Thüringen 100. 369.
Thurnwald, R. 105. 213 f.
Tiermärchen 331. 428. -quä-
lerei 395. -spräche 331. -
Tigillum sororium 201 f.
Tirol 350. 353. 439.
Tisch 375.
Tod: Austreiben 222. über-
listet 312 f. im Volkslied
221. Vorzeichen 55. 61.198.
Toleranz 407.
Tollwut s. Krankheiten.
Tonarten 52.
Tongern 226. 230.
Töpferei 354. 363. 376 f.
Totenbannung 417. -bretter
385. -klage 433. -köpf 61.
-münze 368. -spuk 420. 429.
Tracht: allgemein 347. 352.
371 ff. altgermanisch 223 f.
Innviertier 391. neugrie-
chisch 171 f. sächsisch 363.
— Museum für deutsche
Volkstrachten 327—349.
Tragus s. Bock.
Trankrüsei 377.
Traumseele 98.
Treichel,F. 109.111.223 f. 438.
Die sog. Apostel-Bienen-
stöcke von Höfel 409—411.
Berichtigung 440.
Tripolis 165.
Trithemius, J. 232.
Triumphbogen 72. 201 ff.
Truhe 351. 375 f.
M
448
Register.
Tschuwaschen: Sagen 312 bis
315.
Tückeboten 417.
Tunis 165.
Tunschere 438.
Tür 10. 438.
Türken 168 f. -bund 13.
Überschreiten 61.
Uhr 55. -Umschriften 104.
Ulm 127.
Umritte 104. 402.
Umsehen 417.
Umzüge 355. 402. 433.
Unruhe im Grabe 417 f.
Urban, d. hl. 58.
Urin 291. 296f.
Utrecht 226. 229. 239.
Uttendorf 388.
Valentin, d. hl. 394.
Valeriana 9.
Vanselow, C. 261.
Vaterunser 136 fl'.
•van Veen, S. I). 89.
Veit, d. hl. 58. 113 ff. 225ff,
237 f. Veitstanz s. Krankh.
Venusb erg 281.
VerbanddeutscherVereine für
Volkskunde 108. 112. 222.
336.
Verbena 8. 14. 18.
Verbrennung s. Krankheiten.
Verch, L. 353.
Verein der Sammlung für
deutsche Volkskunde 346ff.
350. —für Volkskunde 342.
vgl. Sitzungsberichte.
Vergleichungen 434.
Vernageln 200f.
Verneiden 15.
Verrenkung s. Krankheiten.
Verrufen 56. 61.
Versteigerung 311.
Verstorbene s. Tote.
Versunkene Gebäude 417.
Vicuña Cifuentes, J. 105.
Viehdienstag 199. -krankheiten
s. Krankh. -zucht 383. 393.
Villards, H. 343.
Vinca 7.
Virchow, R. 338 ff.
Viscum 17.
Vitus s. Veit.
Vögelin, S. 114. 225.
Vogelschiessen 363.
Vogt, F. 436.
Völkerpsychologie 104f.
Volksbotanik s. Pflanzen.
Volksbücher 82. 221. 434.
Volksdichtung 218. vgl. Lied.
Volksglauben s. Abergl.
Volkskunde: argentinische240
bis 255. italienische 206 bis
210. Begriff 339. 347. 357f.
434. Bibliographie 109. 217.
Geschichte 433 f.
Volkskunst s. Schnitzerei, Stik-
kerei, Töpferei, Weberei usw.
Volkslied s. Lied.
Volksmedizin 134—162. vgl.
Krankheiten.
Volksmeinungen s. Abergl.
Volkspsychologie 334.
Volksrätsel s. Rätsel.
Volkssagen s. Sagen.
Volksschauspiele 436.
Vorzeichen: Besuch 55f. 58.
62. Glück 57. Streit 57. Tod
55. 61. 193. Verheiratung
55. 61. Wetter 58 f. 61.
Votivgaben 355.
Wagen 351. 355. 3S3.
Wagenaer, Chr. 221.
Walachei 166.
Walde 320.
vom Walde, Philo 324.
VValdenser 386.
Waldwirtschaft 393.
Wallfahrten 104. 400.
Wallhecken 385.
Walpurgisnacht 16. 416.
Warinbiunn 320.
Waschen 57. 378.
Wasser 148.
Wassersucht s. Krankheiten.
Wattenheim 199.
Weberei 353. 366. 377. 437.
Wegwarte 16.
Weib s. Frau.
Weiberbraten 411—413.
Weichselzopf 430.
Weide 148.
Weihbüschel 7f. -gaben 355.
-nacht s. Feste, -wasser 119.
229
Wein'371. 383.
Weinberg 281.
Wernitz, F. Das Landesmu-
seum für Sächsische Volks-
kunst in Dresden 361—367.
Weise, A. 81.
v. Weissembach, A. 336.
Weltnaturschutz 336.
Wendrich, E. 321.
-, F. 321.
Wermut 7. 9.
Werwolf 416
Westfalen 352.
Wettersegen s. Segen, -zauber
s. Zauber.
Wettlauf 402. mit Heiligen-
bild 256 ff.
Wetzstein 353.
Wicke, E. C. 232f.
Widertonmoos 15.
Wiedehopf 430.
Wiege 376.
Wildhlumen 297.
Wilddieberei 402.
Wilder Jäger 414.
Wildfeuer s. Krankheiten.
Wilhelm II., Kaiser 355.
Willibrord, d, hl. 129f. 234f.
Wilstermarsch 220.
Wimmer, J. 394.
Wimpel 438.
Wind 55. 58f. — lassen 314f.
-mühle 380.
Windsheimer Hs. 47—54.
Winterberg 281.
Wirth, A. 221.
Wirtshaus 399. -schild 355.
Witt, A. Doppeldeutige Volks-
rätsel aus Schleswig-Hol-
stein 194—195.
Witwer 57.
Wochentage: Mittwoch 56.
Freitag 56f. 59. 193. 271.
Sonnabend 56f. Sonntagöl.
Wöchnerin 9.
Wolf 146.
Wolfram, G. 367.
Wossidlo, R. 243ff.
Wrede, A. 106.
Wriede, H. 335.
Wunden s. Krankh. — Christi
140.
Wurm 11. 243. vgl. Krankh.
Wurst 370.
Württemberg 434.
Xanthium 10.
Xenophanes 111.
Ysop 294f. 298.
Zabern 114. 116 f.
Zachariae, Th. Das kaudini-
sche Joch 201—206. Rätsel
der Königin von Saba in
Indien 421 — 424.
Zacher, K. 324f.
Zagel 324f.
Zähne 56.
Zahnweh s. Krankheiten.
Zauber: abgewehrt 146. 159.
Liebes- 3. 5. 7. Milch- 15.
149. Rückwärts- 156. in
Sachsen328. -sprüche 134ff.
218. 400. vgl. Segen. Wet-
ter- 159.
Zaumübe 17.
Zeche 403 f.
Zeichendisput 88—90. 317 bis
318.
Zeiller, M. 261.
Zeitschrift für Kolonialspra-
chen 106.
Zell, F. 351.
Ziege 61. 436.
Zigeuner 165.
Zisterzienser 102.
Zopfgebäck 265-271.
Zunftalrertümer 355. 437.
Zürich 225 f.
Zwickau 432.
Zwölfnächte 57. 62.
Druck von Gebr. Unger in Berlin, Bernburger Strasse 30.
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift auf
Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im Interesse des
Vereins. Kreuzbandsendungen beliebe man an den Herausgeber
Oberlehrer Dr. Fritz Boehm, Berlin-Pankow, Parkstr. 12d, zu richten.
Bücher zur Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
buchhandlung Behrend & Co., Berlin W. 9, Linkstr. 23/4, senden.
Beitrittserklärungen zum Verein nehmen der 1. und 2. Vorsitzende
Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Max Roediger, BerlinW.62, Bayreutherstr. 43,
und Prof. Dr. Johannes Bolte, SO. 26, Elisabethufer 37, sowie der Schatz-
meister Rittergutsbesitzer Franz Treichel, W. 30. Münchenerstr. 33,
entgegen.
Die nächsten Hefte werden u. a. bringen: F. Boehm, Volkskundliches aus der
Humanistenliteratur des 16 und 17. Jahrhunderts; J. Bolte, Bilderbogen des 16. bis
17. Jahrhunderts (Forts.); Deutsehe Märchen aus dem Nachlasse der Brüder Grimm;
A. Buturas, Neugriechische Spottnamen und Schimpfworte; A. Hellwig, Misshand-
lung eines Gespenstes; Eine moderne Sibylle; H. Heuft, Westfälische Hausiiischriften
(Forts.); M. Höfler, Gebäcke und Gebildbrote; B. Ilg;, Maltesische Legenden (Schluss);
B. Kahle, Volkskundliche Nachträge (Forts ); B Kohlbach, Das Zopfgebäck im jüdischen
Ritus; R. Lehmann-Nitsche, Südamerikanische Volksrätsel; E. Lemke, Volkstümliches
aus Sardinien; A. Martin, Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland; 0. Müller, Nach-
barreime aus Obersachsen (Schluss); *'• Roediger, Friedrich der Grosse in Sage, Märchen
und Volkslied: W. Schoof, Beiträge zur volkstümlichen Namenkunde; P. Schullerus,
Glaube und Brauch bei Tod uud Begräbnis der Romanen im Harbachtal (Schluss);
O. Schütte, Braunschweiger Sagen; D. Stratil, Weihnachtslieder aus Mähren; A. We-
binger, Volkslieder aus Oberösterreich: zusammenhängende Berichte über deutsche und
slawische Volkskunde.
Zeitschriftenschau.
Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1913, 3. Nürnberg 1913.
Archiv für Religionswissenschaft, hsg. von R. Wünsch 17, 1—2. Leipzig, Teubner 1911
Bayerische^Hefte für Volkskunde hsg vom Bayerischen Verein für Volkskunst und Volks'
kuude (F. v. d. Leyen und A. Spamer) 1, 1. München, Seyfried & Go 1914
Bayerischer Heimatschutz (früher: Volkskunst und Volkskum^ W u t>
11, 10-12. 12, 1. München. Seyfried & Co. 1913 - 1914. 0n BucJier
Blätter zur bayrischen Volkskunde 2 (Jahrbuch des Vereins für bavr,\rl,A v„iire.i„ ^
Mundartforschung). Würzburg 1913. ' skunde und
Das deutsche Volkslied, Zeitschrift für seine Kenntnis und Pflege untpv dnr
Dr. J. Pommer, H. Fraungruber und K. Krön fuss,° W von dem" TW8" v!°n
Volksgesang-Vereine m Wien 15, 9-10. 16, 1-2. Wien, A.^Hölder 1913-1914
Heimatbilder aus Oberfranken, hsg. von F. Frhrn. v. Guttenhero- p K^iil ' ,
F. Wächter 2, 1. München und Berlin, R Oldenbourg 1914 g' °lb Und
Hessische Blätter für Volkskunde, hsg. von K. Helm 12, 3. Leipzig, Teubner 1913
Korrespondenzblatt des Vereins für siebenbürgische Landeskunde, red. von A. Schüller,,«
37, 1-2. Hermannstadt, W. Krafft 1914. Ulierus
Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburg Landeskunde, hsg. von F Martin r,i ko
Salzburg, Selbstverlag der Gesellschaft 1913. martin, Bd. 53.
Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde, hs°- von Th -,r ^
Breslau, M. Woywod 1913. ë ölebs 15, 2.
Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde, hsg. von E. Moek und TT q*.
6, 4. Dresden, Hansa 1913. " H. Stumme
Nachrichten von der königl Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttinnen nhil^l 1,- *
Klasse 1913, 2. Beiheft. Berlin, Weidmann. «^gen, philol.-histor.
Niederlausitzer Mitteilungen. Zeitschrift der Niederlausitzer Gesellschaft für An«,
logie und Altertumskunde 11, 1—8. 12, 1—4. Guben 1910-1913 Anthiopo-
Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Organ der Schweiz. Gesellschaft für VolKln.n^
hsg. von E. Hoffmann-Krayer undM.Reymond 17,4. 18,1. Basel 1913-1914
Schweizer Volkskunde, Korrespondenzblatt der Schweiz. Gesellschaft für Volkskunde, hsg.
von E. Hoffmann-Krayer 4, 1—2. Basel 1914.
Unser Egerland, Monatsschrift für Volks- und Heimatskunde, hsg. von A. John 18, 1.
Eger 1914.
Zeitschrift für Argentinische Volks- und Landeskunde, hsg. vom Deutschen Lehrerverein
Buenos Aires durch E. L. Schmidt 3, 1. H. Herpig, Buenos Aires (0. Greve,
Berlin NW. 52) 1914.
Zeitschrift für Ethnologie 45, 4—5. Berlin, Behrend & Co. 1913.
Zeitschrift für deutsche Mundarten, hsg. von 0. Heilig und Ph. Lenz 1914, 1.
Berlin, Allg. deutscher Sprachverein.
Zeitschrift für deutsche Philologie 45, 2—3. Stuttgart, Kohlhammer 1913.
Analecta Bollandiana ed. C. de Smedt, F. van Ortroy, H. Delehaye, A. Poncelet,
P. Pee ter s et C. van de Vorst 32, 4. Bruxelles 1913.
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Cesky lid, sborník vënovany studiu lidu ceského, red. C. Zíbrt 23, 2. Prag, F. Simácek
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Chronik der ukrainischen Sevcenko-Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg 1912
Heft 4 nr. 52. Lemberg 1913.
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Keleti Szemle. Kôzlemények az ural-altaji nóp-és nyelvtudomány köieböl, szerk. Kunos J.
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Revue des traditions populaires, recueil mensuel de mythologie, littérature orale, ethno-
graphie traditionnelle et art populaire, red. Paul Sébillot 28, 11—12. 29, 1. Paris,
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Wallonia, archives wallones (dir. 0. Colson) 21, 11-12. 22, 1—2. Liège 1913—1914.
Druck von Gebr. Unger in Berlin, Bernburger Strasse 30.
11. Feb, 1915
to 8.W.
3 O
L.S.
L.S.2 8. 9.2P
31.
t
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J J \ V-r > —
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MOlleP
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Karl Weinhold.
Unter Mitwirkung von Johannes Bolte
herausgegeben
von
Fritz Boehm.