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Globus.
Nu strick
Zeitschrift für Länder- und Bölkerkililbc.
Herausgegeben von
Karl Andrer.
Neunter Band.
Verlag des
Hildburghansen.
Bibliographischen
1866.
Instituts.
Inhaltsverzeichnis
Europa.
Seite
Deutschland, Oesterreich, Schweiz
Holland.
Ein deutsches Schiffervolk. Von
einem Mecklenburger. I. II.
III........ 55 86 341
Eine Fahrt von Elbing nach den:
Seebad Kahlberg.....186
Aus dem nordwestdeutschen Flach-
lande. Vou Fr. Ewald. I.
II......... 266 305
Slavisches aus der sächsischen Lausitz 224
Ein Urwald in Thüringen. (Der
Wurzelberg.) (Mit 1 Jllustr.) . 242
Neue Funde in den Pfahlbauten
im Torfmoore von Robenhausen 191
Metallisches Quecksilber in Lintorf
bei Ratingen.......288
Bevölkerung Wiens am 1. Dezember
1864. !........224
Das Almthal und der Almsee. Von
Dr. Fr.Brinkmann. I. II. 116 145
Reutte und Ehrenberg in Tyrol . 64
Pernhardts Großglockner-Panorama 128
Höhe des Großglockner .... 256
Erdöl in Galizien......32
Zur Geschichte des Weinbaues in
Ungarn.........364
Das Erdbeben im Vispthale 1855.
Von Prof. Otto Speyer. . 59
Die Diamantenmühlen in Amster-
dam..........320
Seite
Großbritannien und Irland.
Der Handelsverkehr Großbritan-
niens und Irlands 1864 ... 32
Die Abgaben von Rauch - und
Schnupftabak in Großbritannien 32
Baumwollenausfuhr aus Großbri-
tannien ......... 64
Baumwolleneinfuhr in Großbri-
tannien.........384
Großbritanniens Mineralerzeugnisse
1864 ......... 96
Die Waffenfabrikation in Vinning-
ham..........160
Volksmenge der zehu größten Städte
in Großbritannien.....128
Vegetation in Eornwallis ... 96
Die irische Nationalität .... 96
Annahme der Dampfschifffahrt in
England........320
Vieheinfuhr nach England . . . 320
Verkehr in England.....352
Frankreich und Spanien.
lieber die Feuersteine in Pressigny
le Grand......'. . 93
Die Heimat der Wohlgerüche . . 256
Zur Statistik der französischen Co-
lonien.........384
Leben und Treiben der Zigeuner
in Spanien. (Mit 6 Jllnstr.) .
46
Seite
Ein Ausflug iu die Schneegebirge
von Grauada. (Mit 1 Jllustr.) 120
Ein altphönicisches Bergwerk in
Spanien entdeckt.....236
Aus dem Volksleben in Südspauien.
(Mit 11 Jllustr.) I. II. . 289 321
Türkei nnd Griechenland.
Iu der Herzegowina und Monte-
negro. Von A. Leist. (Mit 3
Jllnstr.).........80
Reisebild aus der Walachei. Von
Will). Hausmann. I. II. 151 180
Eine Hochzeit auf der Metropolis
in Bucharest. Von W. Haus-
manu.........369
Steinkohlen in der Türkei . . . 160
Der Bergbau Griechenlands in alter
und neuer Zeit 26
Altgriechen und moderne Hellenen 352
Rußland.
Die ostrussische Eisenbahn zwischen
Europa und Sibirien von Perm
nach Tjumen.......215
Die große Messe zu Rostow am Don 220
Der' Handel Rußlands im Jahre
1864 ......... 288
Allerlei Volks - Aberglauben in
Bessarabien. Von 'E. v. Ger-
stenb erg........331
Wanderlust der Großrussen . . . 384
Asien.
Vorderasien. Persien. Arabien.
Heilquellen und Bäder im Orient. 61
Gebrauch der Roseu im Orient 95
^llüge im nördlichen Kleinasien.
v. Dürrfeld ... 216
5^. Wanderung in Bithynien.
(Mit 4 Jllustr.) . ..... 353
Jagd m Persien......95
Eduard Polaks Charakteristik des
Volks in Persien.....182
Die Schiiten in Persien . . . . 285
Ein Besuch im Feilertempel bei
Baku am Kaspischen Meere. (Mit
1 Jllustr.)........367
Ein Muttergottesbild auf den Rlli-
uen des babylonischen Thurmes 256
Der beste Kaffee Arabiens ... 30
Der Stamm der Selabah im In-
nern Arabiens . . . - ■ 160
Aus Guarmani's Reise ini nörd-
lichen Arabien......247
Ostindien.
Die Eisenbahnen in Ostindien .
Große Hitze in Ostindien . .
31
128
W j'tJRRRaiKa-
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VI
■
I
l
Ii
Ii
Seite
Die Schanars und die Palmyra-
Palme in Ostindien .... 184
Mädchenhandel in Indien . . . 286
Fortschritt in den Kassiabergen . 286
Menschenopfer in Indien . . . 286
Verwüstung der Tempelgrotten von
Elesanta........286
Capitän Grant in Ostindien . . 349
Wittwenverbrennung ...... 349
Hinterindien und Ostasien.
Die Märchen über den Thron des
Königs Vikramäditya. Von Emil
Schlagintweit. I. II. . 240 273
Erforschung Centralasiens . . . 349
Der Ongkor-Wat in Kambodscha 286
Die Diamantengruben auf Borueo.
Von Hugo v. Strantz ... 114
Seite
Bienenzucht auf Borneo. Von Hugo
v. Strantz.......375
Schifffahrt der Europäer an der
chinesischen Küste.....63
Der Seeraub in den chinesischen
Gewässern...... 318 349
Der erste Leuchtthurm in den chine-
fischen Gewässern.....318
Deutsche Seefahrt iu Ostasien . . 256
Die Eingebornen von Formosa . 94
Sibirien und Jnnerasien.
Eine Zeitung in Nikolajewsk am
Amur . '........192
Der Weg von Urga nach dem Onon
in Ostsibirien .......192
Von Urga im Lande der Kalkas-
Seite
Mongolen bis Katharinenburg im
Ural. (Mit 6 Jllustr.) ... 257
Aus Hermann Vambery's Reise in
Mittelasien. (Mit 10 Jllustr.)
I. II. III...... 9 33 65
Die russische Provinz Turkestan in
Eentralasien.......126
Bemerkungen über das Hochthal von
Kaschmir........144
Das Vordringen der Russen in
Eentralasien.......298
Die Lage von Bonga, der katho-
tischen Missions-Station in Ti-
bet. Von E. Schlagintweit 171
Der Welttelegravh durch Nord-
amerika und Sibirien. (Mit 2
Jllustr.)........362
Die Kalmükken. Von A. Bastian.
(Mit 1 Jllustr.)......379
I
Afrika.
Die französische Eivilisation und
die Araber in Algerien . . . 317
Sind dieNyam-Nyam geschwänzte
Menschen?........28
Der Nilschlamm......30
Samuel Bakers Reise zum Luta
Nzige.........191
Theodoros, Kaiser von Abyssinien.
(Mit 2 Jllustr.) .... 31 269
Aus Wilhelm Lejeans Reise von
Chartum über Sennar bis zum
Tana-See in Abyssinien. (Mit
5 Jllustr.)........333
Die Gefangenen Eameron, Stern:c.
in Abyssinien. Gifford Palgrave
in Aegypten. Dr. Beke in Mas-
sawa..........
Fortschritt der Arbeiten am Suez-
Kanal. (Mit 1 Porträt) . .
Schilderungen aus dem äquatoria-
leu Westafrika. (Mit 23 Jllustr.)
I. II. III. . . . . 160 193
Näheres über du Ehaillu's verun-
glückte Reise in Westafrika . .
Kannibalismus im Nigerdelta. .
Negeraufstand am Gambia . . .
Unruhen in Sierra Leona
349
366
225
315
349
349
349
Unruhen am Senegal.....317
Die Victoria-Katarakten in Sam-
best......... .
Bnnjan, eine neue Ruiuenstadt in
Südostafrika.......125
Die mißlungene ostafrikanische Er-
pedüion des Barons K. von der
Decken.........
Die Ermordung des Lieut. Stroyan
durch die Somali bei Berbera .
Der Krieg zwischen den holländi-
schen Bauern der Oranjefluß-
Republik und den eingebornen
Bafutos...... . .
Pelly, über die Comoro-Inseln
94
348
372
1^9
93
Amerika.
Nordamerika. Die vereinigten Staaten.
Verbrechen in Nordamerika ... 31
Neger und Weiße in Nordcarolina 126
Die Bevölkerung Connecticuts . . 127
Anzeichen des Rassenkampfes in
Nordamerika.......153
Judenbekehrungen in Amerika . . 158
Gold im Staate Minnesota . . 255
Die Prairien Nordamerikas . . 255
Der neue Staat Colorado iu Nord-
amerika.........284
Deutsche Arbeiter in den südlichen
Vereinsstaaten......287
Religiöse Begeisterung der Neger
in Louisiana.......287
Zustände in St. Louis .... 288
Abschlachtung von Indianern in
■ Nordamerika.......158
Die Zahl der Indianer in Nord-
amerika.........223
1900 Hochverräther in Knoxville . 318
Verpflegung der freigelassenen Ne-
ger . . . . '.....318
Städtische Abgaben in Nenyork . 319
Ausländische Bevölkerung in Nord-
amerika.............319
Sterblichkeit der befreiten Neger in
Nordamerika......."319
Tie Postverbinduug zwischen Mis-
sonn und dem Großen Oeean . 350
Sabbatanarianismns in Boston . 319
Ein Begräbniß der Mikmak-Jn-
dianer in Neuschottland . . . 319
Die Wälder Canada's .... 31
Petroleum in Californien und Ca-
nada..........222
Die Vanconver Insel vor der
Nordwestküste Amerikas . 63 95
Die Aeadier in den englischen Co-
lonien Nordamerika's .... 351
Mexico. Westindische Inseln.
Betrachtungen über die Zustände
in Mexico. Von Karl Andree 39
Karl v. Gagerns Charakteristik
der Indianer in Mexico . . . 71
Eine neue Ruinenstadt in Mexico 125
Nene Ausgrabungen in Mexico . 192
Die Räuber-Guerillas in Mexico 251
Schwannnsischerei auf den Bahama-
Bänken .........
Die Bermudas-Inseln . . . .
Witterung in der Havana . . .
Der Negeraufstand auf Jamaika .
95
127
192
212
Allgemeiner Ruin und Verwilde-
rüng auf den Kleinen Antillen . 253
Der Eara'lbenkönig Stephan Cannt
auf der westindischen Insel Do-
minie«, Anno 1865 ..... 287
Ostindische Kulis in Westindien . 349
Mittel - nnd Südamerika.
Die Landenge von Panama und
der Darien-Kanal.....94
Der Transitweg dnrch Nicaragua . 383
Handel von Venezuela .... 128
Vou Bremen nach Caraeeas uud
der deutschen Niederlassung Tovar
in Venezuela. Von Wilh. Kies-
selb ach........ . 276
Ueber den negro - europäischen Dia-
lekt in Surinam und Cnra?ao . 94
El Dorado. Vou W. Stricker.
(Mit 1 Jllustr.) . . . ...... 22
Zur Hydrographie der brasiliani-
schen Provinz Matto Grosso. Von
K. v. Koseritz. I. II- . 313 338
Die Wasser- und Schifffahrtsver-
bindnngen im Stromgebiete des
Amazonas........313
Agassiz auf dem Amazonenstrome 159
287 317 351
■
Seite
Juan Tirado's Reise von Napo am
obern Amazonas über das Hoch-
qebirge nach Gnayaquil in
Ecuador ........317
Die Küstenregion der Republik Bo-
livia..........31
Ein Begräbuißplatz in der Wüste
von Ätacama.......95
Zustände in Paraguay .... 157
Aus der Republik Paraguay. (Mit
3 Jllustr.) 309
Die Deutschen am La Plata . . 223
Fortschritt am La Plata . . 255 351
Die Weizenausfuhr aus Buenos
Ayres.........338
Seite
Fortschritt in Chile.....159
Das südamerikanische Rindfleisch . 192
Südamerikanischer Fleischertract . 319
Das Petroleum in der argentini-
scheu Provinz Jujuy .... 255
Die spanische Erforfchungsreife in
Südamerika.......382
Ethnographische Schilderungen aus
dem Gebiete des Amazonenstroms.
(Mit 13 Jllustr.) III. IV. . 97 129
Dampfschifffahrt auf dem Amazo-
zoueustrome . . . . . . . 287
Weinbau in der Provinz Rio grande 128
Telegraphenlinie in Rio grande . 159
Diamanten in Bahia.....128
Y1I
Seite
Die Befcknfsung des Pnrns dnrch
Chandleß . . ... . . . 159
Die Dampfschissfahrt zwischen Bra-
silien und Nordamerika ... 159
Die Stadt Porto Alegre in der bra-
silianischen Provinz Rio Grande
do Sul. Vou K. v. Koseritz 172
Die brasilianische Provinz Grau
Para. Vou K. v. Koseritz . 204
Kasfeehaudel in Sautos in der bra-
silianischen Provinz S. Paulo . 287
Einwanderung aus Nordamerika in
Brasilien........383
Heber die walliser Colouie in Pa-
tagonien........383
Die Erpedition zur Aufsuchung
von Leichhardts Spuren 30 62 159
316 350
Das Denkmal für die australischen
Eutdeckuugsreisenden Burke und
Wills.........63
Entdeckuugsreiseudc in Westaustra-
lieu von deu Eingebornen er-
mordet .........160
Dr. Ludwig Beckers Grabstätte . 192
Das Alerandralaud . 63 318 350
Camdeu Harbour......63
Volksmenge im anstralischenBictoria 63
D i
Die Nordpolerpedition .... 93
Gegen ein offenes Meer an: Nord-
pol..........190
Australien.
Petroleum in Südanstralien . . 63
Australische Notizen . . . 159 318
Dürre in Australien . - - 159 318
Tabakspflauzuugen in Australien . 159
Zuckerbau in Queensland . , . 159
Freihandel und Schutzzölle iir Au-
stralieu.........159
Getreide aus Chile in Neusüdwales 159
Die Ansiedlung am Cap - - 159
Gold in Australien . 63 318 350
Ein Weißer unter den Eingebornen
vou Queensland......350
Silbergruben in Südaustralien . 350
t P o l a r l ä n d
Bericht der schwedischen Ersor-
schuugsexpcdition über Spitz-
bergen.........192
Aus dem Nordterritorium 63 313 350
Glas- und Porzellansabrikation in
Australien........318
Aussterben der Eingebornen in
Australien........318
Chinesische Begräbnisse in Australien 318
Die Maoris und die Engländer ans
Neuseeland (Mit 5 Jllustr.) . . 1
Feindseligkeit der Hauhaus . . . 350
Versteinerter Boges......350
Eine Hexe auf Neuseeland . . . 350
Von den Chatham-Jnseln im Stil-
len Weltmeere......350
t r.
Dr. Hayes über die Erreichung des
Nordpols......' . . 316
Seefahrten nach Spitzbergen . . 329
Allgemeines und Verschiedenes.
Alterthnmer des Menschengeschlechts.
Ethnologisches und Anthropologisches.
Zur Kunde der Alterthümer des
Menschengeschlechts. I. . . . 15
Einige Bemerkungen über das Stein-
Zeitalter. (Mit 29 Jllustr.) . . 15
Menschen zur Zeit der Gletscher-
Periode . . ......20
Ealait ans einem keltischen Grabe 62
Alte Steindenkmäler. (Mit4Jllnstr.) 89
lieber das Broncezeitalter ... 93
lieber die Feuersteine in Pressigny
le Grand ....... 93
*lC.Ue Junde in den Pfahlbauten
^a!n .^vl'fmoore von Robenhanfen 191
sT <L. ^cev ^er die Zeitdauer
^>^Weltalter ^ 265
" Bon ^lcrung der Hieroglyphen.
«£»'■, ®. SSevS. (Mit
J'iuHt.) I. ij..... 209 237
Merkwürdigkeiten ans der Sprach-
künde ........29
Mar Müllers Vorlesungen über die
Wissenschaft der Sprache ... 29
Das Eidsteddfod......32
Das Gebiet der romanischen Spra-
che». Von Rudolf Rost . . 122
Das Verhälluiß des romanischen
zum germanischen Elemente im
Englischen. Von Rud. Rost . 376
Die indoeuropäischen Sprachen.
Vou Rud. Rost. I. II. 280 301
Der Volksmund in Deutschland
sonst und jetzt......221
Dr. C. F. Riecke's Wegweiser im
deutschen Vaterland fürs Volk
und feine Lehrer......221
Die Verbreitung der Bibel in ver-
schiedenen Sprachen .... 245
lieber Darwins Hypothese ... 43
Die Wichtigkeit des Rasseuelements
in der Geschichte...... 135
Leben und Treiben der Zigeuner.
(Mit 6 Jllustr.) 46
Abstammung und Sprache der Zi-
genner. Von Prof. A. B o ltz. 50 75
Rassenoermischung in Amerika. . 381
Verschiedenes.
Der Golfstrom nnd seine Beden-
tung für den Verkehr und die
klimatische Ausgleichung. Von
Dr. H. Birnbaum. I. II. 176 206
Die Erhebuugeu und Senkungen
der festen Erdrinde in Nordeuropa
und Nordasieu. Von Dr. Heinr.
Birnbaum.......344
Ebbe und Flut. Von Pros. A.
Kayser. (1 Karte.) I. II. 107 140
Geographisches aus den VerHand-
lüngen der „British Association" 92
I. W. Draper über die Zukuust
Amerika's .......Hl
■p—'tfBHgHBWBa
VIII
Scitc
A. Valestrini's Projekt für dm
europäisch - amerikanischen Tele-
grapheu ........ 127
Die Dampfschifffahrt im Stillen
Weltmeere........139
Sind noch einige Gefährten Sir-
John Franklins am Leben? . .157
Italien, in einer lettischen Geogra-
phie geschildert ...... 224
Mmnie von einer afrikanischen
Guano-Insel ......256
Zur Statistik der Dampfschifffahrt.
Seite
Deutschland. England. Frank-
reich.........
Haifische im Canal.....
Charakter des italien. Brigandaceio
Surrogat der Gatta pertscha .
Steinkohlen und Sonnenwärme
Der Papvrus der Alteu . . .
Die Quecksilberproduktion der Erde
Die Produktion der Edelmetalle
Die Krankheit der Seidenraupen
Eine englische Stimme über die
Emanzipation der Neger . . .
352
383
384
128
2-49
254
256
320
320
254
Seite
Wie hoch ein Nankee die Deutschen
taxirt.........127
Ein Anglobrasilianer über die deut-
scheu Arbeiter......223
Südamerikanischer Fleisch extra ct . 320
Nordamerikanische Poesie . . . 255
Proben deutscher Prosa in Nord-
amerika .........319
Heinrich Barths Würdigung durch
einen französischen Gelehrten . 359
Zarathnstra und Ormnzd ... 32
P e r s o n a l - N a ch r i ch 11 n.
Agassi;, Pros, in Brasilien 159 287
Barth, Dr. H. ^ .... 188
Becker, Di-. X. f in Australien
Beke, Dr........316
Cameron, Missionär.....
Ehaillu, du, P......222
317
351
359
192
349
349
315
Decken, von der, K. f. 222 348 384
Goldwyer, W. H.......160
Grant, Eapitän.......349
Harding, I. R........160
Leichhardt - Erpedition 30 62 159 316
Lesfeps, v. (Mit Porträt.) . . . 366
Livingstone, Ch...... 286 3J5
Murray, Dr. in Australien . 159 316
Palgrave, Gifford......349
Panter, R. F........160
Rohlfs, Gerhard......253
Stern, Missionär......349
Tirado, Juan.......317
Völkner, K. S, f auf Neuseeland 7
Die Maoris und die Englander ans Neuseeland.
Das Raubsystem der Engländer. — Civilisatiou durch Kanonen und Consiscationen. — Verfahren des neuseeländischen Par-
laments. ^— Die innere Colonialpolitik. — Der Häuptling Thompson. — Abfall der Maoris vom Christenthum; der nene Glaube
des Pai Marire und seine Satzungen. — Ein Europäerkopf als Symbol und Vermittler mit Jehovah. — Ermordung des deutschen
Missionärs Völkner dnrch die Hanhansauatiker. — Charakterschilderung der Maoris.
Auf der schönen Inselgruppe in der Südsee, welche I der Eingebornen abschließen wird. In Neuseeland zeigt
mcut zuweilen als ein „Großbritannien bei den Antipoden" I sich die Selbstsucht und die Barbarei der Engländer in einer
Der Häuptling Heke und seine Frau. (Nach einer Zeichnung von Bayard)
einen^Pro/o^' E?mtcu 111 ir seit Jahren Schritt vor Schritt geradezu grauenhaften Weise. Wir sagten vor länger als
Globus VTm' üm Ende mit der Ausrottung einem Jahre (Globus VII, S. 150), die Geschichte der
Die Maoris und die Engländer auf Neuseeland.
sogenannten Colonisation Neuseelands sei „eine Geschichte
nnüberbotener Niederträchtigkeit und der scheußlichsten In-
famien; nie sei das gemeinste Räubersystem unter dem
Deckmantel der Civilisatiou so schmachvoll und banditen-
mäßig, so osseu und frech zur Schau getragen worden, wie
von den Briten auf Neuseeland".
Seitdem ist dem Parlament in London ein Blaubuch
vorgelegt worden, aus welchem sich ergibt, daß jene Be-
Zeichnungen uicht etwa übertrieben sind. Die Thatsachen
schreien zum Himmel, und wenn man an der Themse gesagt
hat, daß Britannia vollauf Ursache habe, wegen der neu-
seeläudischeu Barbareien „ihr Haupt zu verhüllen und in
Sack und Asche zu trauern", so ist auch das ganz richtig.
Aber wozu nützen die Redensarten und die Klagen, wenn
das System fortdauert? Und im Wesentlichen wird man
an demselben festhalten, wenn man es auch iu weniger
harten Formen zur Geltung bringt. Die Confiseation,
der Landraub, hat gleich nach Anbeginn der Be-
siedlnng begonnen, bis auf deu heutigen Tag
fortgedauert und kann erst enden, wenn alles
Land der gesammten Inselgruppe sich in der
Gewalt der Pakehas (so werden die Europäer von den
Maoris bezeichnet) befindet.
Der ganze Verlauf der Eolonialgeschichte zeigt, daß
die Eingebornen, die Maoris, den besten Willen gehabt
und bethätigt haben, mit den Engländern in Frieden zu
leben. Von allen Zerwürfnissen, welche zwischen beiden
entstanden sind, tragen lediglich die weißen Leute alle Schuld
allein; sie verübten Gewalttaten, sahen in den alten Be-
sitzern des Landes unberechtigte „Wilde", brachten Brannt-
wein, Syphilis, Blattern und andere böse Krankheiten;
sie schwindelten den Maoris den Grund und Boden ver-
möge betrügerischen Tauschhandels ab, oder nahmen große
Strecken ohne Weiteres in Besitz. Sobald dann die zur
Verzweiflung gebrachten Menschen zu den Waffen griffen
und Repressalien übten, führte man Krieg gegeu sie, in
welchem immer viele „Wilde" das Leben lassen mußten.
Die Civilisation der Flinten und Kanonen blieb an? Ende
allemal siegreich, und eine Strecke Landes nach der andern
gelangte durch Friedensschlüsse in den Besitz der Pakehas.
Wir würden unsere Leser ermüden, wenn wir in die
Einzelnheiten dieser neuseeländischen Fehden näher ein-
gehen wollten; sie tragen alle mehr oder weniger ein und
dasselbe Gepräge. Sie wurden hervorgerufen durch das
System des Landraubes, und das ist auch mit dein jüngsten
Kriege der Fall, welcher jetzt noch fortdauert, nuu aber
(Sommer 1865) uach mehrjähriger Dauer seinem Ende
entgegen zu gehen scheint. Das neuseeländische Ministerium
beantragte im Oktober 1864 beim Gouverneur, man solle
den Maoris in der Provinz Anckland (Nordinsel) eine
Million, und in dem Gebiete von Taranaki und Wanganui
(gleichfalls Nordinsel) 600,000 Acker Landes, zusammen
mehr als 900 englische Quadratmeilen, wegnehmen. Dieses
Ministerium ging aber noch weiter. Als eine Anleihebill
dein Repräsentantenhaus vorgelegt wurde, stellte man
folgenden Plan auf: „Wenn wir alles Land in den
Rcbellendistrikten zusammen rechnen, dann kommen nennt-
halb Millionen Morgen heraus; davon ist etwa die
Hälfte für die Ansiedlung weißer Meuscheu geeignet. So
bekommen wir 4,250,000 Morgen Land; von diesen können
wir 1,250,000 an Kolonisten geben und behalten dann
noch 3 Millionen übrig zum Verkauf, für Reserven und
für loyale Eingeborne, welche etwa nicht geneigt sind, uns
ihre Ländereien zu überlassen. Ungefähr eine halbe Million
können für Straßenbau und Reserve« zurückgestellt werdeu,
1 Million für die loyalen Maoris,.und wir behalten etwa
anderthalb Millionen Morgen zum Verkaufen,
die wir nicht übereilt, souderu langsam und bedächtig an
den Markt bringen müssen; dann werden wir für jeden
Morgen 2 Pfund Sterling erhalten und haben davon eine
Einnahme von 3 Millionen Pfund Sterling," etwa
21,000,000 deutsche Thaler!
Man sieht, woraus diese „innere Eolonialpolitik"
hinauslies. Sie war aber so brutal, daß von Seiten des
londoner Ministeriums darüber eine Mißbilligung aus-
gesprochen wurde. Aergerlich trat dann das neuseeländische
Ministerium ab, ein neues kam au seine Stelle, aber seit-
dem ist Alles in noch größere Verwirrung gerathen, weil
der Gouverneur Grey, der General Cameron und das neue
Ministerium sich über die zu treffenden Maßregeln nicht
einigen können, und die londoner Regierung, welche längst
dieser kostspieligen Kriege müde ist, ihre Truppen zurück-
ziehen will. So lange die Eolonisten sich dieser bedienen
können und England die Kosten zahlt, sind sie kriegslustig;
fortan aber sollen sie die Fehden durch ihre eigenen Milizen
ausfechten. Es fcheiut übrigens, als ob im Sommer 1865
(der auf Neuseeland Winter ist) der Kamps, wie schon
gesagt, allmälig zu Ende gehe, nachdem der Gouverneur
angefangen hat, einzulenken; er will nur eine „theilweise
Confiseation".
Wir finden in der deutschen Zeitung Germania
(Melbourne vom 18. Mai), daß er eine Proklamation
erlassen habe, der zufolge alle Maoris, welche feit dem
1. Januar 1863 feindselig ausgetreten sind, bis zum
1. Juni 1865 die Waffen niederlegen sollen; in diesem
Falle werde man ihnen einen Theil der eonsiseirten
Ländereien zurückgeben. Schon im April 1864, als von
England ans ihm vorgestellt worden war, daß ein System
der Beraubung durchaus verwerflich sei, entgegnete er:
„Die künftige Sicherheit der Eolonisten erfordert, daß ein
beträchtlicher Theil der Ländereien consiscirt und mit enro-
päischen Ansiedlern besetzt werden muß." Er vergaß
aber, oder wollte nicht wissen, daß die Maoris friedlich
waren und keinen weißen Eolonisten bedrohten, wenn man
sie zuvor nicht mißhandelte oder beraubte.
Wir lesen ferner in der obenerwähnten „Germania"
(vom 22. Juni) eine kurze Notiz über den tapfersten Maori-
Häuptling, Thompson. Er hat eine Art von Unter-
werfungsakte eingesandt, eine bedingte Huldigung; ein
anderer mächtiger Häuptling, Rewi, hat sich geneigt
erklärt, „die Engländer nicht weiter zu züchtigen, wenn sie
Zugeständnisse in Betreff der eonsiseirten Ländereien
macheu und dem neuen Glanben der Pai Marire
nicht entgegentreten wollen."
Um diese beiden Punkte dreht sich auf Neuseeland Alles,
und wir wollen versuchen, den interessanten Gegenstand zu
erläutern. Schon vor neun Jahren waren die Maoris der
Mißhandlungen und Beraubungen müde und erhoben sich
in Waffen. Als die sogenannte Königsbewegung aus-
brach und die Eingebornen unter einem unabhängigen
Oberhaupte stehen wollten, kam jener Thompson (Tame-
haua) nach der Stadt Anckland, um seine Vermittlung
anzubieten. Er wurde sehr schnöde behandelt und vom
damaligen Gouverneur nicht einmal empfangen; dann erst
fchloß er sich nebst seinem Stamme, jenem der Waikatos,
der Bewegung an. Aber 1861 fand er sich wieder ein,
um Frieden zn stiften; er hatte die Krieger von einem
Ueberfalle der Stadt Anckland, welche ohne Besatzung war,
zurückgehalten, um seinen guten Willen zu zeigen; doch
man wies ihn auch jetzt barsch ab. Zum Dank für feine
Bemühungen überfielen englische Truppen die Maoridörfer
Die Maoris und die Engländer auf Neuseelands ^
bei Auckland, trieben die Bewohner mitten int Winter fort, Weißen mit einem Trünke Wasser. Da schlug ein eng-
Weiber und Kinder kamen elend um, und seitdem war lischer Soldat auf ihn an und schoß ihn nieder.
Tamehana ein erbitterter Feind. Auch Rewi, Häuptling Oftmals haben die Maorihäuptlinge sich zur Abtretung
von Ngatimaniapoto, erklärte: „er wolle gern Frieden beträchtlicher Länderstrecken erboten, aber die Colonial-
machen und ohne Fehde neben den weißen Leuten leben, behörden fanden allemal den Flächenraum nicht groß genug
könne aber die Waffen nicht niederlegen, wenn er nicht und schoben in diesem „gottlose» Kriege" ihre Soldaten
gewiß sei, daß man ihn nicht wie andere Häuptlinge, denen immer weiter vor.
man das gegebene Wort nicht gehalten, in die Gefangen- Kann es unter solchen Umständen und gegenüber einem
schaft abführen werde." Damals erklärte das neuseelän- solchen Verfahren Wunder nehmen, daß sich in die Maoris
Junge Neuseeländerin aus Taupiri und zwei Mischlinge. (Stach einer Zeichnung von Bayard.)
dische Ministerium: „Landeonsiseationen sind
keineswegs unmoralisch und entsprechen den Sitten
und Anschauungen der Maoris." Man betrachtete die
^ingebornen als ein durchaus rechtloses Volk, das unter-
jocht worden sei. Die Gefangenen sind mit äußerster
Harte behandelt worden. Als einst die Festung (Ver-
schanzung, Pah) Gate von den Engländern angegriffen
^uru, sank Oberst Booth verwundet zu Boden. Der
Maorchäuptling Davis kam heraus und erquickte den
ein grimmiger Haß gegen Alles, was Englisch ist, einge-
fressen hat? Und was sollten sie von einer Religion halten,
als deren Bekenner Menschen vom Schlage der englischen
Colonisten ihnen entgegentreten? Wir begreifen vollkom-
men die durchaus gerechtfertigten Klagen der Missionäre
(Church Missionary Intelligenter, März, Mai, Juli lind
August 1865); Niemand kann in Abrede stellen, daß sie
sich seit länger als einem Menschenalter redliche Mühe
gegebeil haben, das Christeilthum bei den Maoris einzu-
6
Die Maoris und die Engländer auf Neuseelands
bürgern. Sie rühmten sich, und sie thaten es in gutem
Glanben, ihrer „fast wunderbaren" Erfolge; ein Stamm
nach dem andern nahm das Evangelium an, und die Send-
boten waren fest überzeugt, daß dasselbe fest bewurzelt sei.
Freilich, wer die Sache ruhig und vom ethnologischen
Staudpunkte ansah, konnte sich mancher Zweifel uicht
erwehren, und wir unsererseits haben schon 1858 („Das
Erwachen der Südsee", in den geographischen Wände-
rnngen Thl. II, Dresden 1859) unsere Bedenken geäußert.
Nun zeigt sich plötzlich, daß das vermeintlich so ties in das
Gemiith der Maoris eingedrungene Christenthum wie von
einem Wirbelwinde hinweggefegt worden ist und einem
wahnwitzigen, ganz tollen Aberglauben Platz gemacht hat,
der wie ciu Lauffeuer einen Stamm nach dein andern
ergreift und einen handgreiflichen Beweis liefert, daß auch
die Neuseeländer, gleich anderen „Wilden", aus ihrem
frühern Gleichgewicht hiuausgedräugt wordeu sind und ein
neues noch nicht gefunden haben. Sie werden schwerlich
ein solches finden, denn es scheint, als ob auch ihr Unter-
gang besiegelt sei.
Schon vor einem Jahre haben wir (Globus VIII,
S. 149 ff.) einige Mittheilungen über den Aberglauben
des Pal marire, d. h. gut und friedfertig, gegeben.
Seitdem hat dieser „neue Glaube" au Verbreitung nnge-
mein gewonnen. Wir lesen in der „Germania", daß die
Colouialregierung denPa'i marire nötigenfalls mit Waffen-
gewalt unterdrücken wolle. „Die Sekte greift immer mehr
um sich. Die europäischen Ansiedler an der Povertybay
sind von ihnen gezwungen worden, ihre Besitzungen zu ver-
lassen und nach Aucklaud zu flüchten; auch die Ansied-
lnngen am Waikato sind bedroht. Der Pai marire-
Fauatismus verbreitet sich mit großer Schnelligkeit itnb
äußert sich täglich mehr in bitterster Feindschaft
gegen die englische Nation; man macht kein
Hehl daraus, daß mau alle Angehörigen der-
selben aus dem Laude treiben wolle. An der
Povertybay erklärten neulich die Eiugeborueu dem Bischof
Williams, bei ihnen solle der neue Glaube sich nicht fest-
setzen; aber kaum eiue Woche nach dieser Erklärung sind
beinahe drei Viertheile jener Lente zum Pai marire über-
getreten und nun eifrige Anhänger desselben. Bischof
Williams hat sich mit seiner Familie?c. geflüchtet, und fast
alle europäischen Handelsleute und Ansiedler haben die
Ostküste verlassen, weil Leben und Eigenthum dort uicht
mehr sicher sind. In Wangawa haben die Apostel des
neuen Glanbens eine Menge Proselyten gemacht, und sie
sind nun auch in den nördlichen Niederlassungen ange-
kommen."
Die Missionäre gestehen jetzt ein, daß sie ihre früheren
Erfolge bei weitem überschätzt haben. (Chnrch Missionary
Jntelligeneer, August 1865, S. 226.) „Die eingebornen
Christen befanden sich noch in einem schwachen und unreifen
Zustande und unterliegen nun einer schweren Prüfung.
Maoris und Colonisten kamen der Landsrage wegen in
Zwist. Wer der Wahrheit die Ehre geben will, muß
zugestehen, daß man gegen die Eingebornen weder
ehrlich noch billig zu Werke gegangen ist. Dar-
über wurden sie ergrimmt, begannen Krieg und nun
erfahren sie die ganze'Wucht^der britischen Macht. Das
Christenthum ist, weil es nur schwach und oberflächlich
war, gänzlich ans ihnen gewichen, und manche Stämme
sind zu dem alten, blutigen Aberglauben zurückgekehrt, der
uuu einen neuen Namen erhalten hat und zun: Signal
tödtlicher Feindschaft gegen England und das
Christenthum geworden ist. Sie wollen von keinerlei,
was Englisch ist, mehr wissen; sie verschmähen die Religion,
welche sie von den Engländern erhalten haben. Einst
waren sie der englischen Regierung und den Colonisten
zugethan; aber, und das geben die Behörden selber zu, sie
sind die Opfer eines ungerechten Krieges geworden.
Sie überzeugten sich, daß das Christenthum die Engländer
nicht gelehrt hatte, gerecht zu sein, daß Macht für Recht
ausgegeben wurde, und daß man den, welcher sein gutes
Recht behaupten wollte, für einen Rebellen ausgab.
Vou einem solchen Christeuthmue wollten sie ferner nichts
mehr wissen."
„Wir beladen den Eingebornen mit europäischen Sün-
den und Lastern, während er seine eigenen obendrein
behält; dann sagen wir, es sei nichts mit ihm anzufangen
und er müsse ausgerottet werden. Ist dergleichen vor
Gott zu verantworten? Können wir ein Land nicht eoloni-
streu, ohne die Eingebornen zu vertilgen, dann sollen
wir lieber gar nicht eolonisiren, denn solch ein Land kostet
mehr, als es Werth ist."
Dieser Stoßseufzer wird uugehört verhallen und das
Consisciren und Vertilgen seinen Fortgang haben; die
„Civilisation" wird siegen. Das liegt einmal so im Ver-
lauf der Dinge.
Wie entstand der Peil marire Glaube? Im
April 1863 hatte sich der Gouverneur Grey überzeugt, daß
die Colouialbehördeu ganz und gar kein Anrecht hätten
ans die von ihnen consiseirten Ländereien des Bezirkes
Waitara; er beschloß, dieselben den Maoris zurückzugeben.
Dagegen hatten die Eingebornen den Bezirk Tataraimaka,
südlich von Nen-Plymouth, in Besitz, und zwar als ein
Pfand, das sie herausgeben wollten, sobald sie Waikato wie-
der hätten. Die Colonialregiernng aber ließ ohne Weiteres
Tataraimaka in Besitz nehmen, ehe sie die Maoris benach-
richtigt hatte, daß sie Waitara Heransgeben wolle. Die
Eingebornen wehrten sich nnd tödteten in einem Schar-
mützel den Kapitän Lloyd nebst einer Anzahl Soldaten;
das geschah im April 1864.
Seitdem wollten sie nichts mehr vom Christenthnme
wissen. Sie schnitten Lloyds Kopf ab, und dieser ist
nun, seltsamerweise, zum Symbol des neuen Glau-
bens geworden. Ein Maori, Te Uci, trat als Ober-
priester auf und verkündete, daß er vom Engel Gabriel
Offenbarungen erhalten habe. Er ließ, nach alter Landes-
sitte, Lloyds Kopf räuchern uud denselben weit nnd breit
durchs Land tragen. Dieser Kopf, sagte er, sei fortan der
Vermittler, durch welchen man im Verkehr mit Jehova
bleibe. „Dies ist die neue Religion:" — „Die Gläubigen
heißen Pai marire. — Der Engel Gabriel wird sie
mit seinen Legionen vor ihren Feinden schützen. — Die
Jungfrau Maria wird allezeit bei ihnen sein. — Die
Religion, welche England als schriftmäßig lehrt, ist
falsch. —Die Bibel muß gauz und gar verbrannt
werden. — Alle Tage sind in gleicher Weise geheiligt,
nnd der Sabbath der Christen hat durchaus feilte Bedeu-
tung. — Männer und Frauen müssen gemischt durchein-
ander leben, damit die Kinder sich vermehren wie der Sand
an der See. — Die Priester haben übernatürliche Kraft
nnd können ihren Anhängern vollständigen Sieg verleihen,
wenn sie das Wort Hanl recht kräftig aussprechen. —
Das Volk, welches sich zu dieser Religion bekennt, wird in
Kurzem die ganze europäische Bevölkerung aus
Neuseeland vertreiben. Das wird geschehen, sobald
Lloyds Kopf feinen Rundgang durch das ganze Land
gemacht hat. — Die Heerschaaren der Engel harren
auf dieBitteu und Befehle der Priester, um den Maoris
bei der Ausrottung der Europäer Hilfe zu
leisten. Sobald diese vernichtet oder vertrieben worden
Die Maons und die Engländer auf Neuseeland.
sind, werden Männer vom Himmel herab kom-
men, um die Maoris in allen Künsten und
Wissenschaften der Europäer zu unterrichten. —
Den Priestern ist die Macht verliehen, jeden Meiert die
englische Sprache in einer einzigen Unterrichtsstunde zu
lehren, vorausgesetzt, daß gewisse Bedingungen erfüllt
werden, z. B. das Volk sich zu einer bestimmten Zeit bei
einem Flaggenstock versammle, der eine bestimmte Höhe
haben und an dem eine Flagge mit gewissen Farben slat-
tern muß."
Man sieht, wie roh und nngegohren das Ganze
erscheint, und wie wenig Klarheit trotz vieljähriger Ve-
mühungen der Missionäre in die Köpfe dieser vormaligen
Christen gekommen ist. Als sie den Hauptmann Lloyd
erschlagen, hatten, tranken sie dessen Blut. Inder
folgenden Nacht erschien' der Engel Gabriel, gebot
ihnen, das verscharrte Haupt auszugraben, dasselbe zu
räuchern und zu trocknen, damit Lloyds Geist fortan aus
diesem Kopfe spreche. Die Priester versichern, der Kopf
thne Wunder und habe gesprochen; durch ihn sei der neue
Glaube verkündet worden. Das kann möglich sein, denn
unter den Maoris gibt es vortreffliche Bauch-
reduer. Namentlich hat der Kopf geboten, die Silbe
Hau so auszusprechen, wie wenn ein Hintd laut belle.
Sie ist das geheiligte Erkennungs- und Bundeswort; wer
dasselbe oft, sehr laut und recht rasch ausspricht, wird von
keiner feindlichen Waffe getroffen; die Kugeln verwunden
nicht, sondern fliegen in die Luft. Die neuen Bekenner des
Glaubens werden dadurch eingeweiht, daß sie Wasser triu-
keu, iu welches der Kopf Lloyds eingetaucht worden ist.
Dabei leisten sie einen feierlichen Eid, jeden
Weißen ohne Unterschied des Geschlechts zu
vertilgen. Die Verkünder der neuen Lehre stehen unter
ganz besonderm Schutze der Jungfrau Maria, die einst
in Person unter ihnen erscheinen wird.
Das Hanl) au-Bellen bezeichnen sie als Karakia
und sie machen bei demselben gewisse Bewegungen mit den
Händen. Hau hau bedeutet: Auf, aus!
Der wilde Ingrimm muß sich tief iu die Seele der
Maoris eingefressen haben, da sie selbst ihre aufrichtigen
guten Freunde, die Missionäre, nicht verschonen. Diese
waren bisher unangetastet geblieben, aber im März 1865
wurde der lutherische Geistliche Karl Sylvins Völkner
(bei welchem einst Hochstetter eine gastliche Aufnahme
gefunden) von denPa'i marire auf gräßliche Weise ermordet.
Er war, wie so manche andere deutsche Theologen, im Auf-
trage der londoner Missionsgesellschaft in den Dienst der
anglikanischen Kirche getreten und stand seit Jahren der
Mission zu Opotiki vor; diese liegt an der Ostküste
der nördlichen Insel. Vor einiger Zeit hatte er seine
Frau nach der Stadt Anckland gebracht und kam dann mit
dem Missionär Graee, dessen Station zu Tanpa war, nach
Opotiki zurück, au Bord des Schiffes Eclipfe, dessen Kapi-
tau Levy, ein Jude, mit den Eingebornen Handelsver-
bindnngen unterhielt. Die Maoris von Opotiki befanden
sich iu einem sehr aufgeregten Zustande, weil kurz vorher
eine Anzahl Pa'i marires aus Tarauaki angekommen
waren; diese hatten den Kopf eines von ihnen ermordeten
Engländers, Hewitt, bei sich.
Einige wenige Tage genügten, um die Maorichristen
der Mission Opotiki für die neue Lehre zu gewinnen.
Zöllner war noch nicht wieder zurück; trotzdem plünderten
(J0!11 H^ms und versteigerten den Raub am Sonntage
m t ^bath"); einen römisch-katholischen Priester, den
£ II T. "an3e/ hatten sie zur Flucht gezwungen. Als nun
1 1 c lpse bei Opotiki vor Anker ging, wurde sie sofort
mit Beschlag belegt, und die Passagiere brachte man in Ge-
wahrsam. Kapitän Levy blieb durchaus unbehelligt,
weil er kein Christ, sondern ein Jude sei, und die
Hauhaus Werth darauf legen, mit dem auserwählten Volke
Jehovas in Verbindung zu stehen. Die Schiffsladung
wurde ans Land gebracht und vertheilt; das Eigenthum der
Gebrüder Levy blieb aber unangetastet.
Am folgenden Morgen holte man Stricke vom Schiffe,
befestigte dieselben an einem Baume und holte Herrn Volk-
ner herbei. Mehrere hundert Eingeborne waren zugegen.
Die Hauhaus von Taranaki entkleideten ihn; die „Christen"
der Mission standen ruhig dabei und ließen Alles geschehen,
ohne nur eiue Hand zu rühren. Um 2 Uhr Mittags band
man ihm ein Tuch über die Augen, gestattete ihm einige
Minuten zum Beten, uud dann erhob sich ein diabolisches
Schreien und Gelächter. Ein Priester (ein „Tin") Namens
Kereopa, zog den Strick in die Höhe; bald nachher war
Völkner eine Leiche. Sie wurde abgeschnitten und in einen
eingehägten Platz neben der Kirche gebracht; dort schnitt
man den Kopf ab; was dann folgte, ist widerwärtig und
empörend, muß aber erzählt werden, weil es kennzeichnend
erscheint. Die Hauhaus nahmen das Gehirn aus dem
Schädel, rissen die Augen aus und verzehrten beides;
Männer, Weiber und Kinder drängten sich heran, um das
Blut aufzulecken. Der Körper wurde vielfach verstüm-
melt und zuerst den Hunden vorgeworfen; als diefe sich
bissen, warf man ihn in eine Kloake. Graee uud Kapitän
Levy wurden geknebelt, bald aber wieder der Baude eut-
ledigt; sie waren dann bei einer Versammlung in der
römisch-katholischen Kapelle zugegen, wo Völkners abge-
fchuittenes Haupt zur Schau ausgestellt wurde, und die
Fanatiker ihre Ceremonieu abhielten. Am 5. März wurde
Graee freigelassen, und zwar so, daß man ihn von den Eng-
läudern gegeu einen gefangeneu Maorihäuptliug, Hori
Tupaea, auswechselte; an diesem Hauhaupriester war den
Maoris viel gelegen.
Mehrfach haben wir im Globus des ausgezeichneten
Werkes erwähnt, welches Ferdinand von Hochstetter
unter dem einfachen Titel „Neuseeland", Stuttgart
1863, veröffentlicht hat. Unser Landsmann kam während
seines neunmonatlichen Verweilens auf der Nordinsel, auf
welcher das obeu geschilderte Drama spielt, sehr häufig iu
Berührung mit den Maoris. Die meisten, sagt er, sind
in vortrefflichen Missionsschulen und zum Theil in Volks-
schulen, die eingeborne Lehrer und Predigerhaben, erzogen;
sie lesen und schreiben und entwickeln oft stauueuswerthe
Kenntnisse in Geographie und Geschichte. Ackerbau und
Viehzucht sind ihre Hauptbeschäftigung, sie treiben aber
auch Handel und Gewerbe; ein großer Theil der Küsten-
fchifffahrt ist in ihren Händen, und sie sind gewandte und
unerschrockene Seefahrer. „Von der Natur mit iutellee-
tuellen und physischen Kräften reich begabt, von lebhaftem
Naturell, voll frischen und freien Selbstgefühls,
ist sich der Maori seiner Fortschritte in besserer Gesittuug
und Kultur wohl bewußt; allein aus die ganze Höhe
christlich-civilisirten Lebens vermag er sich nicht
zu erheben und in dieser Halbheit geht er zu
Grunde."*)
") Die Unfähigkeit der Maoris, sich zur ganzen Höhe
europäischer Bildung und Gesittung emporzuschwingen, zeigt" sich
wohl in Nichts schlagender als in der Art und Weise, wie sie
sich Zur englischen Sprache verhalten und wie sie das Christen-
thum auffassen. Jene hat bei ihnen noch wenig Eiugaug qesun-
den, und die Engländer sehen sich geuöthigt, die Maorisprache
Aus Hermann Vambei
Hochstetter sagt: „Vom Christenthum haben sie sich nur
die äußere Form angeeignet. An die Stelle ihrer alten
heidnischen Riten und Ceremonien sind jetzt christliche Riten
uud Ceremonien getreten; die biblische Geschichte ist für den
Maori nur eine neue Auflage von Ueberlieferungen, die
er mit seinen alten Ueberlieferungen vertauscht und Wohl
auch vermengt; viele ließen sich taufen, weil sie dadurch
zugleich materielle Vortheile erreichten. Das Christenthum
ist nur äußerliche Satzung, die zur Mode geworden."
Die Neuseeländer sind tapfere und kräftige Leute.
Unsere Illustrationen geben den Typus im Allgemeinen
richtig wieder, nur scheint uns die Frau des Häuptlings
Heke europäisch idealisirt zu sein. Bei dem Kriegstanze
sind manche Gesichter wohl etwas zu breit; wenigstens war
das Gesicht der drei Neuseeländer, welche ich in Europa
gesehen habe, länglicher und glich mehr jenem Heke's. Die
Kriegstänze, die jetzt von den Maoris aufgeführt wer-
den, sind zahm zu nennen im Vergleich zu jenen in der
Kannibalenzeit, welche iudesseu auch noch manchmal nach-
geahmt werden. Die Krieger liefen, 10, 29 ja bis zu 69
Mann hoch, ein paar hundert Schritte; dann vertheilten sie
sich in Gruppeu, deren jede sich niederkauerte. Auf ein
Zeichen des Häuptlings sprangen alle in die Höhe und
zu erlernen. „Vielleicht beweist nichts so sehr die Grenze,
welche die Natur selbst der Civilisationsfähigkeit
der Eingebornen gesetzt hat, als die merkwürdige Er-
scheinung, daß diese, wenn sie auch Englisch verstehen, diese
Sprache' sogar lesen und schreiben können, es doch nimmermehr
zu einer deutlichen englischen Aussprache bringen. Ein Maori
sagte mir einmal ganz richtig: er glaube, die englische Sprache
gehe in sein Ohr, aber er könne sie nicht wieder aus seinem
Munde herausbringen. Wörter und Ausdrücke, welche in die
Maorisprache übergegangen sind, nehmen eine Form au, in
welcher man das Ursprüngliche gar nicht mehr erkennt. Ans
New Zealand machen sie Nuitireni; aus Victoria
Queeu os Englaud wird Wikitoria te Kuini o Jngu-
raugi; aus Goveruor wird Kawaua, aus Aucklaud
wird Akarauo, Gold wird zu Kaura, aus Doktor wird
t e rata und aus Hochstetter machteil sie H o k i t et a." Hoch-
stetter S. 472.
's Reise in Mittelasien. 9
marschirten, bald das rechte, bald das linke Beut empor-
hebend und mit entsprechenden Bewegungen des Ober-
körpers, um plötzlich eine Elle hoch in die Luft zu springen.
Dann ließen sie ein Heulen ertönen, das in Klageseufzer
auslief; dabei sperrten sie deu Mund weit auf, die Nüsteru
wurden aufgeblafeu, die Zunge wurde aus dem Munde
gesteckt und der ganze Körper in solche Bewegung gebracht,
daß kein Muskel ruhig blieb. Zuletzt schlugen sie mit der
Hand, welche keine Waffe hielt, auf die Lenden. Der Feind
floh; die berühmtesten Krieger beider Theile riefen einander
bei Namen, schimpften sich, die Streiter wurden immer
wüthender uud stürmten unter wildem Geheul in die Reihen
der Gegner. Die Sieger trugen alle Verwundeten fort.
Nach dem Kampfe wurden die Todten gekocht uud verzehrt;
nur der, welcher zuerst gefallen war, blieb den Göttern vor-
behalten. Verwundete Feinde wurden unterMißhandlungen
und Qualen getödtet, namentlich den Häuptlingen zersägte
man die Glieder mit Sägeu von Haifischzähnen, goß ihnen
heißes Kauriharz aus den Leib imd kochte sie lebendig.
Das war früher die Kriegführung von Neuseeland. Die
jungen Männer kräftigten ihren Körper durch Leibes-
Übungen, uud das Schwingen am Seil war ein beliebtes
Spiel.
Eine unserer Illustrationen zeigt eine christliche Neu-
seeläuderin aus Tapiri; sie ist uicht mehr tättowirt. Die
beiden Kinder, ihr Neffe uud ihre Nichte, siud Mischlinge,
Kinder eines englischen Vaters und einer Maorimutter.
Uns scheinen die Gesichtszüge etwas zn sehr europäisirt zu
sein. Admiral Mundy sagt iu seinem Werk über Australien
und Neuseeland (II, S. 79): „Die neuseeländischen Misch-
linge haben einen sanften Ausdruck des Gesichts uub des
Blickes, und gleichen mehr den Bewohnern der Freund-
schaftsinselu als deu kriegerischen Maoris."
Wir wollen bemerken, daß seit dem Frühsommer 1865
nicht mehr Anckland Hauptstadt von Neuseeland ist; man
hat deu Sitz der Negierung nach Wellington verlegt;
also an die Cooksstraße. New-Plymouth wurde 1840
gegründet, liegt in einer fruchtbaren malerischen Gegend
iu der Provinz Tarenaki und zählt etwa 4000 Einwohner.
Im Hintergründe erhebt sich der Berg Egmont. A.
Aus Hermann Vambery's Reife in Mittelasien.
M^kapilger.ans dem chinesischen Türkistan. — Vambery als Derwisch- — Der Chan von Chiwa. — Eine barbarische Hirn ich-
....... ^"^Oi'us. — Berittene Kanfmannsfraucn zn Schurachan. — Ein Zug durch die Wüste uach Buchara. —
^ekke-^nrkomaueu. ■— Der Fieberwind Tebbad. — Rettnng ans Lebensgefahr.
Chokand besiegt :md demselben Taschkend abgenommen
haben, diesen Schlüssel zu Centralasien, mit dem.Beherrscher
Bucharas in Krieg gerathen sind. Von Samarkand ging
Vambery nach Süden und Südwesten über Karschi und
Kerki, wo er den Oxus überschritt, durch das Chauat
Männeue, das unter afghanischer Herrschaft steht, und
besuchte Herat, welches als politischer Zankapfel zwischen
Afghanen und Persern und als Knotenpunkt für einen
ausgedehnten Karawanenverkehr von großer Wichtigkeit
erscheint; von dort zog er über Mesched in Chorassan nach
Teheran zurück.
2
tnug. —'Das Wasser des Orus. — Berittene Kausrnannssr
nnanen. — Der Fieberl
Vambery ist ein kühner :md unternehmender Mann;
ganz allein und mit schwachen Hilfsmitteln ist er vom
Bosporus erst nach Teheran in Persien gezogen, hat dann
eine an Gefahren uud Beschwerden reiche Wanderung durch
die turkomanische Wüste uach Chiwa im Süden des Aral-
sees gewagt und ist dann weiter nach Osten hin bis Buchara
und Samarkand gegangen. Er fand Gelegenheit, die Ver-
)a>tnisse von Türkistau genau kennen zu lernen, und seine
.Zungen sind nicht nur sehr ansprechend, sondern,
•rrn-U' glauben, auch getreu. Gerade jetzt haben sie einen
C1 0 'rw ^ert§/ da die Russen, nachdem sie den Chan von
Globus IX. Nr. 1.
Aus Hermann Vambe
Die Reises fällt in das Jahr 1863 und ist überreich
an zum Theil seltsamen Abenteuern gewesen. Wir denken
beim Lesen derselben manchmal an Tausend und eine Nacht
und zuweilen au Marco Polo oder Rauwolf. Vambery
(Bamberger) ist im Jahr 1832 zu Düna Szerdahely aus
der Donauinsel Schutt im presburger Comitate geboren,
lernte früh mehre Sprachen und beschloß dann, in Asten
den Spuren des Magyarischen nachzuforschen. Dieses
gehört zu dein sogenannten altaischen Sprachstamme, aber
noch ist ungewiß, ob zum finnischen oder tatarischen Zweige.
Vambery wollte, wie er sagt, durch praktisches Studium
der lebenden Sprachen den Verwandschaftsgrad zwischen
der magyarischen Sprache und den türkisch-tatarischen
Mündarten genau kennen lernen; das war der Hauptbeweg-
grund seiner Reise nach dem Orient. Nachdem er mehre
Jahre zu Konstantinopel in türkischen Häusern verweilt,
hatte er sich bald in einen Türken umgewandelt.
Im Spätjahr 1862 war er in Pörstens Hauptstadt
Teheran, machte von dort einen Ausflug nach Schiras,
kehrte zurück uud traf dann die Vorbereitungen zu seiner
Reise gegen Osten. Der türkische Gesandte wußte um seinen
Plan; im Hanse desselben traf er manche Mekkapilger und
Derwische aus Türkistau, uud es machte dem Europäer
unendliche Freude, sich mit zerlumpten Tataren zu unter-
halten, weil dadurch feine Sprachstudien gefördert und seine
Kenntnisse vermehrt wurden. Er gab sich für einen Mo-
hammedaner aus und nannte sich Reschid Efendi; der
Ruf sagte von ihm nicht nur, daß er die Derwische freundlich
behandle, sondern selbst insgeheim ein Derwisch sei. Durch
seine Vermittlung erhielten wandernde Pilger Zehrgeld
vom Gesandten, bei welchem er sie einführte. Im März
lernte er vier Pilger kennen, die von Mekka kamen und
auf der Heimreise nach der Kleinen Bncharei, d. h. dem
unter chinesischer Oberherrschaft stehenden Theile von Tür-
kistan begriffen warnt. Die Karawane dieser Männer
bestand aus zwanzig und etlichen Leuten, welche alle aus
Ehokand und Kaschgar stammten. Ihnen schloß Vambery sich
an; schon längst, so sagte er ihnen, sei er von dem Wunsche
durchdrungen, deu Born unverfälscht gebliebener islami-
tischer Tugend git sehen und die Heiligen von Chiwa,
Buchara uud Samarkand zu besuchen. Die Tataren ent-
gegneten: ,,Wir Alle sind bereit, nicht nur deine Freunde,
sondern auch deine Diener zn werden;" die Häupter der
Derwischkarawane nahmen ihn als Reisegefährten auf, und
am 28. März wurde die Wanderung angetreten.
Manche Pilger hatten Manlthiere oder Esel, die Fuß-
gänger trugen ihre Tscharnk, eine zweckmäßige Fußbeklei-
düng für Infanteristen, und hatten geweihte Dattelpalm-
stocke. Ihre Kleider bestanden aus schlechten Lumpen und
waren um die Senden mit einem Stricke befestigt. „Ich
hatte mich in meiner armseligen Bekleidung für einen Bettler
gehalten, doch jetzt, unter diesen Leuten, war ich ein König
in einem Galaanzug.'"
Das Haupt der Karawane, Hadschi Bilal aus Aksn
m der chinesischen Tatarei und Hos-Jmam (Geistlicher)
des chinesisch-muselmännischen Gouverneurs derselben. Pro-
hob die Hände zum Abschiedssegeu empor, und kaum
hatte jeder an seinen Bart gesaßt, um das Amen zu sagen,
in *) Dieselbe erschien zuerst in englischer Sprache: Travels
acr °"^ra^as'a, being tlie account of n journey from Teheran
Casn;8 f'16 r^ul'k°rnan desert on tlie eastern shore of tlie
tlie y"1' '° Bokhara and Samarkand, perforined in
1864 Csv-3Sll'! ^y Arminius Vambery, London, Murrav
beut ist « ^c» ^amts schon früher einige Auszüge. Seil'
erschienen- Csv$li* ^^5, bei B'rockhans, der deutsche Tert
ginalausgal'?-"^^ Mittelasien k." Wir empfehlen diese „Ori-
angelegentlich.
)'s Rc'ise in Mittelasien. 11
als die Fußgänger zum Thor des Karawanseral hinaus-
stürzten itnb den Berittenen mit gewaltigen Schritten vor-
auseilten. Nachher sprachen Alle Verse ans dem Koran
und stimmten Hymnen (Telkine) an, wie es sich für den
Pilger gebührt. Späterhin wurden auch fröhliche Lieder
gesungen und Abenteuer erzählt. Dem Derwisch ans
Ungarn machte diese Unterhaltung viele Freude, weil er so
die Anschauungsweise jener Leute kennen lernte. Von dem
Augenblick an, da er Teheran verließ, befand er sich ganz
im mittelasiatischen Leben.
Die Karawane gelangte unter vielen Mühseligkeiten,
welche sie in der tnrkomanischen Wüste zu bestehen hatte,
nach Chiwa, wo sie vortrefflich aufgenommen wurde.
Vambery hatte, als rechtgläubiger sunnitischer Derwisch,
die Ehre, dem Herrscher des Landes, Seid MeHemmed
Chan Padischahi Eharesm, seine Aufwartung zu machen.
Er erhob die Hände, sprach eine Sure ans dem Koran,
fügte einige Gebete hinzu und schloß mit einem lauten
Amen, wobei er seinen Bart strich. Während der Chan
sich noch den Bart hielt, riefen Alle: „Kabul bolgadj, d. h,
dein Gebet sei erhört." „Ich näherte mich dem Herrscher,
er reichte mir die Hände, und nachdem wir ein Mnsaseha
(den vom Koran vorgeschriebenen Gruß, bei welchem beide
Theile sich die offenen Hände reichen) gemacht, zog ich mich
einige Schritte zurück, und das Ceremoniel war zu Ende."
Dann folgte eine Unterhaltung, und der Herrscher bot dem
Derwisch ein Geschenk an. „Ich entgegnete, daß wir Der-
wische mit solchen irdischen Kleinigkeiten uns nicht abgeben.
Der Res es (heilige Hauch), den mir mein Pir(Ober-
Haupt meines Ordens) mitgegeben, könne mich vier bis fünf
Tage ohne irgend eine Nahrung erhalten, und ich wünschte
weiter gar nichts, als Gott möge Seine Majestät 120
Jahre leben lassen." Ein Angebot von 20 Dukaten lehnte
Vambery ab, verwies aber auf das heilige Gesetz, welches
einen weißen Esel zur Pilgerreise empfiehlt, und einen
solchen bat er sich auch aus. Als er dann durch die Vor-
Höfe und den Bazar nach Hanse ging, wurde er von der
Menge mit Ehrfurcht begrüßt und war seitdem ein viel-
gesuchter Mann. Es ging, sagt er, sehr glänzend mit dem
Geschäfte des Segen- und Hanchfpendens, und er
sammelte für diese „göttliche Waare" gegen 15 Dukaten
Geld.
Ju Chiwa war Vambery Zenge von Auftritten der
grauenvollen Barbarei, wegen welcher jenes Land selbst in
Asien berüchtigt ist. Ein Jasanl (Offizier des Hofhaltes)
führte ihn in einen Vorhof des königlichen Palastes, in
welchem sich etwa 309 Kriegsgefangene schon seit einigen
Tagen befanden. „Sie waren in Lumpen gehüllt, von
Todesfurcht und Hunger gepeinigt und sahen aus, als
kämen sie aus dem Grabe. Man hatte sie in zwei Ab-
theilnngen getheilt, nämlich in solche, die noch nicht das
40. Jahr erreicht hatten und als Sklaven verkauft oder
verschenkt werden sollten, und in solche, welche der Stellung
oder des Alters wegen als Aksakale (Granbärte, Rädels-
führer) angesehen wurden und die vom Chan über sie ver-
hängte Strafe erleiden sollten. Die ersteren wurden je zn
10 bis 15 mit eisernen Halsringen aneinander gekettet und
abgeführt; die letzteren fügten sich geduldig in das über
sie verhängte Urtheil und erschienen wie gebundene Lämmer
in den Händen ihrer Henker. Während mau mehre zum
Galgen oder zum Blocke fortführte, sah ich ganz dicht neben
mir, wie acht Greise sich mit dem Rücken auf die Erde
niederlegten. Man band ihnen Hände und Füße, und der!
Henker stach ihnen der Reihe nach.beide Augen ans, indem
2*
Aus Hermann Vcnnbei
er, auf die Brust eines jeden niederkniend, nach jeder
Operation das von Blut triefende Messer an dein Barte
des geblendeten Greises abwischte. Grauenvoll war die
Scene, als nach der schrecklichen Handlung die Opfer, von
ihren Stricken befreit, mit den Händen herumtappend, auf-
stehen wollten. Manche schlugen mit deu Köpseu anein-
ander und stießen ein dumpfes Gestöhn aus. Die Eriu-
ueruug daran wird mich zittern machen, so lange ich lebe."
Diese Grausamkeit war übrigens Vergeltung eiues
nicht minder barbarischen Aktes, welchen jene Tschandors
an einer ösbegischen (usbekischen) Karawane begangen
hatten. Sie zählte au 2000 Kameele und war auf dem Wege
von Orenburg uach Chiwa überfallen und gänzlich aus-
geplüudert worden. Die Tschaudor-Turkomaueu nahmen
den Leuten auch alle Lebensmittel weg, und so kam es, daß
viele verhungerten, andere erfroren und von 60 nur 8 ihr
Leben retteten. Uebrigens, fagt unser Reisender, sei eine
so haarsträubende Bestrafung von Kriegsgefangenen durch-
aus nicht als Ausnahme zu betrachten. In Chiwa,
überhaupt in ganz Mittelasien, weiß man nicht,
was Grausamkeit ist; dies Verfahren gilt für ganz
natürlich, weil Sitten, Gesetze und Religion damit über-
einstimmen.
„Der gegenwärtige Chan wollte sich den Ruf eiues
Beschützers der Religion verschaffen, und er glaubte sich
denselben zu erwerben, wenn er das kleinste Vergehen
gegen dieselbe mit der größten Härte bestrafte. Es genügte,
einen Blick auf eine tiefverschleierte Dame zu werfen, um
durch Redschm, wie es die Religion befiehlt, hingerichtet
zu werden. Ein Mann, welcher die Ehe gebrochen, wird
gehängt, die Frau nahe am Galgen bis zur Brust iu die
Erde eingegraben und gesteiuigt. Da es iu Chiwa keiue
Steiue gibt, fo gebraucht man harte Erdschollen (Kefek).
Das arme Opfer wird schon beim dritten Wurf ganz mit
Staube bedeckt und der von Blut triefeude Körper gräßlich
entstellt. Erst der Tod endet die Qualen. Der Chan
hatte so großen Religionseifer, daß die Uelemas denselben
kühlen mußten, aber auch jetzt vergeht keiu Tag, an welchem
nicht Jemand von der Audienz des Herrschers durch das
verhäuguißvolle Alib bar in (nehmt ihn mit!) zum Tod
abgeführt wird. Aber trotz aller Rauhheit der Sitten und
aller dieser Seeneu habe ich in Chiwa und seinen Provinzen
in meinem Derwisch - Jncognito die schönsten Tagen meiner
Reise verlebt."
Die Derwische waren von den frommen Leuten in
Chiwa weidlich gepflegt worden. Statt der alten Pelzmützen
trugen sie schneeweiße Turbane, alle Ranzen waren straff,
und selbst der Aermste besaß nun einen Esel. Nambery
seinerseits hatte einen ganzen Esel und ein halbes Kameel
zur Verfügung; auf jenem ritt er, dieses trug seinen Reise-
sack; statt des schwarzen Mehles, welches er früher genossen,
konnte er nun weiße Pogatscha esseu, d. h. iu Schafsfett
gebackeue kleine Kuchen; ja er hatte sogar Reis, Butter
und Zucker. Auch hatte man ihm ein Hemd geschenkt, er
hütete sich aber wohl dasselbe anzulegen, „weil dieser
Luxusartikel mich hätte verweichlichen können, und dies zu
früh gewesen wäre".
So zog die Karawane ab, um nach Buchara zu
suchen. Sie setzte über deu Orns, welcher durch die
'Regengüsse des Frühlings außerordentlich breit war und
"m seinen gelben Wellen und der ziemlich raschen Strö-
mung einen interessanten Anblick darbot. Das Wasser
!' ? ^ eigentlichen Flußbette nicht so gut trinkbar, wie
ln UMI Kanälen und Gräben, wo der Sand sich schon
>'s Reise in Mittelasien. 1'"'
etwas gesetzt hat. Jenes knirscht unter deu Zähnen, als
ob man iu einen Sandkuchen beißt; was aber den süßen
und guten Geschmack anbetrifft, so behauptet man in Tür-
kistan, daß darin kein Fluß auf Erden, selbst nicht der Nil,
„der gesegnete" (Mnbarek) dem Oxus gleichkomme, und
Vambery ist derselben Ansicht.
Am rechten User des Oxns liegt die Stadt Schura
Chan. Sie ist mit einer Erdmauer umgeben, hat nur
wenige Wohnhäuser und besteht zum größten Theil aus
320 Gewölben, die in der Woche zwei Mal geöffnet und
von deu Nomaden und Ansässigen der Umgegend besucht
werden. Iu der Derwischkaserne (Kalenterchane) fand
Vambery mehre fromme Derwische, welche durch den Ge-
nnß des Opiums imb des Beng, der aus Hanf bereitet
wird (nicht wie Vambery irrthümlich fagt aus „Flachs"),
zu Gerippen abgemagert waren und auf dem feuchten
Boden in ihren Zellen umher lagen. Als er sich ihnen
vorstellte, hießen sie ihn willkommen und ließen Brot und
Früchte bringen. Als er dafür Geld geben wollte, lachten
sie ihn aus; sie sagten, mehre von ihnen hätten schon seit
20 Jahren kein Geld in die Hand genommen. Nahrungs-
mittel bekommen sie von den Gläubigen und lassen sie dafür
eine Pfeife Gift rauchen. In Chiwa ist Beng das beliebte
Narcotieum, und viele sind diesem Genuß ergeben, da
Weiu und andere starke Getränke verboten sind und die
Regierung den Genuß derselben mit dem Tode bestraft.
Den Markt fand Vambery mit Menschen angefüllt
und nnr mit Mühe konnte er sich einen Weg durch die
wogende Menge bahnen. „Alles war zu Pferde,
Käufer wie Verkäufer, und äußerst drollig war es
anzusehen, wie die Kirgisenfrauen mit großen Leder-
schlauchen voll Kimis (stark gesäuerter Stuten - oder
Kameelmilch), auf deu Rossen sitzend, die Oessnung des
Schlauches über den Mund des Fordernden hielten, wobei
die Geschicklichkeit von beiden Seiten so groß war, daß
nur selten einige Tropfen nebenbei fielen."
Zwischen Schüret Chan und der Wüste liegt eine etwa
acht Meilen breite fruchtbare Oafe; der Wüstenrand heißt
Akkamifch und hat noch gute Triften, die von Kirgisen
beweidet werden. Die Karawane schlug uuu deu Weg
uach Südosten ein, und die Hitze wurde jetzt, in der ersten
Woche des Juli, immer beschwerlicher. Während eines
Nachtmarsches der Karawane kamen zwei halbnackte Men-
scheu, flehten um einen Bissen Brot und sanken dann zu
Boden. Vambery gab ihnen Brot mit Schasssett, aber sie
vermochten nur wenig zu esseu. Diese Leute waren Fischer
aus Hesaresp, von einer Horde Tekke-Turkomancn ihres
Bootes, ihrer Kleider und Nahrungsmittel beraubt und mit
dem nackten Leben entlassen worden. Die Räuber waren
auf einem Alaman, einem Raubzuge gegen die Kirgisen,
begriffen. Die Schiffer sagten: „Um Gotteswillen fliehet
oder versteckt euch, denn in einigen Stunden müßt ihr ihnen
begegnen, und sie werden euch, trotzdem ihr fromme Pilger
seid, nackt, ohne Thiere und Nahrung hier zurücklassen;
denn diese ungläubigen Tekke sind zu Allein fähig." Der
Anführer der Karawane, welcher früher schon zweimal
beraubt worden war, trat sofort deu Rückweg an und suchte
eine sichere Stelle am Oxus.
Die Reise wurde dann, der Tnrkomanen und der Hitze
wegen, nur bei Nacht fortgesetzt. Am 5. Juli war die
Karawane an einer Station, welche den reizenden Namen
Adamkyrylgan, d. h. der Ort, wo Menschen zn
Grunde gehen, führte. Hier war ein unabsehbares Sand-
meer, das bald, gleich dem vom Sturme gepeitschten Meere,
Zur Kunde der Alterthümer des Menschengeschlechts.
15
hohe Sandwogen, bald wieder, gleich dein vom Zephyr beweg-
ten Spiegel eines stillen Sees, sanfte Wellen bildet. Kein
Vogel in der Luft, kein Wurm oder Käfer auf der Erde ist
sehen; es gibt nur Spuren erloschenen Lebens, die Ge-
beine mngekommener Menschen und Thiere, die jeder Vor-
übergehende gu einem Hansen sammelt, damit sie zum
Wegweiser dienen. Vor den Turkomanen war man dort
sicher; es gibt kein Pferd auf der Welt, das hier nur eiue
Station zurücklegen könnte.
Diese Wüste ist breit, hat kein Wasser, uud seder Rei-
sende hielt selbst beim Schlafen seine Schläuche fest um-
armt. Trotz der sengenden Sonnenhitze mußte man Tage-
Märsche von 5 bis 6 Stunden machen; je eher man aus
dein Sand herauskam, desto weniger brauchte man den
gefährlichen Tebbad zn fürchten. Das Wort ist persisch
und bedeutet Fieberwind. Durch die Qualen des San-
des und der Hitze erkrankten mehre Kameele und starben;
eiuige Leute ermatteten und mußten auf den Kameelen
festgebunden werden; sie lallten immer: „Wasser, Wasser!"
aber selbst ihre besten Freunde versagten den lebenspenden-
den Trunk, uud einer der Durstigen starb. „Ich war
zugegen-, als er seinen Geist anfgab; die Zunge war
schwarz, der Gaumen grauweiß; die Züge waren nicht sehr
entstellt, nur die Lippeu zusammengeschrumpft. Es ist
schrecklich anzusehen, wie der Vater vor dem Sohne, der
Bruder vor dem Bruder das Wasser versteckt, deun jeder
Tropfen ist Lebe»., und bei den Qualen des Durstes gibt
es feine Aufopferung und keinen Edelniuth, wie doch soust
wohl bei anderen Lebensgefahren."
Am vierten Tage des Zuges iu der Sandwüste, 8. Juti,
hatte Vambery iu feiner Ledertasche mir noch ungefähr
<» Gläser Wasser, von welchen er, trotz des quälenden
Durstes, immer sehr wenige Tropfen genoß. Als er zu
seinem Schrecken sah, daß seine Zunge schwarz zu werdeu
anfing, trank er die Hälfte des noch übrigen Wassers auf
einmal. Dadurch glaubte er sich retten zu können. Aber
am Morgen des fünften Tages verspürte er heftigen
Kopfschmerz, und als endlich um Mittag das Chalata-
gebirge iu Sicht kam, fühlte er, wie seine Kräfte langsam
schwanden.
Jetzt wurde derSaud weniger tief und die „feste Ebene"
war nahe. Schon späheten Aller Augen nach einer Heerde,
als der Karawaubaschi auf eiue Staubwolke hinwies,
die immer näher kam. Die Reifenden stiegen eilig von
ihren Thieren ab, und diese wußten schon, daß der Tebbad
heranbrauste. Unter lauten: Brüllen legten sich die Kameele
nieder, streckten den langen Hals auf deu Boden und such-
ten deu Kops int Sande zu verbergen. Die Reisenden
kauerten sich hinter ihnen zn Boden; der. Wind fuhr mit
dumpfem Getöse über sie hin und wars eine zwei Finger
dicke Sandschicht ans sie, deren erste Körner wie ein Funken-
regen brannten. „Nur sechs Meilen tiefer in der Wüste
brauchten wir dm Tebbad anzutreffen, uud wir wäre»
Alle umgekommen. Von der Fieber und Erbrechen 'ver-
ursachenden Wirkung des Windes habe ich wenig bemerken
können; nur die Lnft wurde schwerer und drückender als
zuvor."
Gegen Abend gelangte die Karawane an einige Brunnen,
deren Wasser aber nur für das Vieh genießbar war; doch
man durfte nun auf Rettung hoffen. Für Vambery war
es auch dazu die allerhöchste Zeit. Er konnte nicht allein
vom Kameel absteigen und man legte ihn auf die Erde;
sein Inneres brannte wie Höllenfeuer, und der heftige Kopf-
schmerz hatte ihn in eine Art von Betäubung versetzt. Er
glaubte, der letzte Abend seines Lebens sei gekommen. Als
er am Ii). Jnli Morgens erwachte, befand er sich in einer
Lehmhütte und sah sich von einigen schwarzbärtigen Leuten,
welche ihn mit Milch erquickten, umringt. Es waren per-
sische Sklaven, die sich 10 Meilen weit von Buchara zur
Bewachung der Schafe in der Wüste befanden. Diese
armen Verbannten, welche doch Schiiten waren, hatten so
viel Edelmuth, ihren Erzfeinden, den sunnitischen Pilgern,
Wasser zu gebeu.
Jetzt war alles Ungemach überstanden. Die Pilger
erreichten bald nachher die Station Chodscha-Oban, wo sie
das Grab eines Heiligen besuchten, befanden sich am 11. Jnli
an einem See voll füßen Wassers, uud uuu lag die Wüste
hinter ihnen. Sie waren an der Grenze des eigentlichen
Buchara, nnd zwei Tage später zogeu sie iu die gleichnamige
Stadt ein.
Zur Kunde der Alterthümer des Menschengeschlechts.
i.
a. Einige Bemerkungen über das Stein-
z eitalter.
Wer kann sagen, wieviele Jahrtausende verflossen sind,
bevor die Menschen lernten und sich darauf verstanden, die
Metalle zu bearbeiten und aus denselben Geräthe zu ver-
fertigen? Ohne Zweifel ist diese Fertigkeit oder Kunst
^'f sehr vielen Punkten des Erdballs uud zu sehr verschie-
i. cncn Zeiten ganz selbstständig nnd unabhängig ins Leben
und die Bewohner Altamerika's, vom Obern
fi-fC>-r10 uack Peru, haben die Bearbeitung des Kupfers
uicht vou Europäern oder Asiaten gelernt. Der
^ Eisens fällt in eine spätere Zeit als jener des
a Un° derBronce, aber in den jüngeren Epochen hat
mau Werkzenge ans beiden Metallen neben einander und
dazu noch Geräthe ans Steinen benutzt. Die sogenannten
drei Zeitalter des Steins, der Bronce und des Eisens
greifen in einander über.
Aber in den ältesten, namentlich anch in den vorge-
schichtlichen Zeiteil hatte man nnr Geräthe ans Stein oder
Thierknochen. Das Steinzeitalter ist zugleich das Kindes-
zeitalter des Menschengeschlechts, und Alles deutet darauf
hin, daß es von ungemein langer Dauer gewesen sei. Bei
einzelnen wilden Völkern dauert dasselbe bis heute noch
fort; es giebt Inseln in der Südsee, deren Bewohner noch
in unserm Jahrhundert Metalle, welche ja auf ihren Eilan-
den fehlen, gar nicht kannten.
Die Naturforscher und Archäologen (— wir haben jetzt
16 Zur Kunde der Alterthür
die Grundlagen für eine Archäologie des Menschen-
geschlechts gewonnen, von welcher die Gelehrten selbst
des vorigen Jahrhunderts noch keine Ahnung hatten —)
nehmen für das Steinzeitalter zwei Perioden an: die
ältere, in welcher die aus den Gruben genommenen Steine
nur einfach bearbeitet wurden, und die jüngere der
polirten Steine. Oder man bezeichnet diese Perioden als
die a r ch ä o l i t h i s ch e ans der Diluvialzeit, und die u e o -
lithifche, die spätere Steinzeit, in welcher die Oerath-
schasten bereits auf eine gewisse Art von Kunstfertigkeit
hindeuten, die Formen mannichfacher auftreten und schon
eine Politur der Geräthschasteu eintritt.
Steingeräthschaften kommen in allen Erdtheilen in ganz
ungeheurer Menge vor. Lubbock*) weist nach, daß allein
im Museum zu Kopenhagen nicht weniger als 8798 Stein-
und Knochengeräthschaften vorhanden sind, darunter z. B.
1079 Fcuersteinärte und Keile, 285 Breitmeißel, 270
Hohlmeißel, 365 Spitzmeißel, 33 spitze Hohlmeißel, 250
Dolche, 656 Lanzenspitzen, 171 Pfeilspitzen, 205 halb-
mondförmige Geräthe, 756 Aexte mit Löchern und
Hammeräxte, 300 Feuerfteiuplatteu und 480 Gegenstände
verschiedener Art. Zu diesen 4840 Stücken kommen noch
3678 rohe Steinwerkzeuge, die man in den Küchenabfällen
gefunden hat, 171 Gerätschaften aus Knochen und der-
gleichen aus deu Küchenabfälleu 109. Zählt man noch
die Dnplieate und die zerbrochenen Stücke hinzu, so kom-
meu zwischen 11,000 und 12,000 Exemplare heraus.
Außerdem sind Wohl mehr als 20,000 Steingeräthschaften
in Privatbesitz, nicht blos in Dänemark, sondern auch in
Schleswig und Holstein; Stockholm hat an 16,000, Du-
blin mehrere 1000 Exemplare.^')
Die ältesten Zeiten, die ersten Stadien der Menschen
weisen, wie schon gesagt, nur Steingeräthe auf; iu einer
uueudlich viel jüngeren Epoche sind dergleichen immer noch
in Gebrauch neben Werkzeugen :e. aus Erz und Eisen.
Das Gewiunen der Metalle muß für jene Leute, die fo
unvollkommene Instrumente hatten, sehr mühsam gewesen
sein; sie wußten nichts von dem Verfahren, durch welches
jetzt die Erze mit verhältnißmäßig leichter Mühe zu Tage
gefördert werden; Straßen und Wege kannte man nicht,
und der Transport war schwierig. Broneegeräthe müssen
theuer gewesen sein; sie waren zumeist nur im Besitze der
Wohlhabeudeu. Batenian hat in England 37 Erdhügel
(wir wollen fortan den Ausdruck Tumuli für dieselben
gebrauchen) untersucht; in allen sand er Bronce, aber in 29
derselben auch steinerne Geräthe. Bekanntlich war bei den
Azteken in Mexiko die Bronce im Gebrauch, daueben be-
nutzten sie aber auch den Obsidian und verfertigten Werk-
zeuge aus diesem Steiue selbst dauu noch, als sie schon
eiserne Geräthe kannte».
Die Ansichten, welche in Abrede stellen wollten, daß
eine specisische Steinperiode vorhanden gewesen sei, sind
durch überzeugeude Gründe vollkommen beseitigt worden.
Diese ergeben sich ans unserer gegenwärtigen Kunde der
alten Tumuli oder Begräbuißhügel, der Pfahlbauten, der
Kjökkeumöddings iu Dänemark :e. und der Knochenhöhlen.
Dazu kommen noch manche andere Denkmäler, z. B. alte
*) Prehistoric times, as illustrated by aneient remains
and tlie manners and customs of modern savages; by John
Lubbock. London 1865, S. 10.
Wir erhalten so eben dnrch die Güte des Verfassers ein
inhaltreiches Buch, auf das wir gelegentlich zurückkonnnen wer-
den: „Das Steinalter der Ostseeprovinzen Liv-, Est-
und Kurland und einiger angrenzenden Landstriche, von C. Gre-
wingk, Dorpat 1865. Es bildet Nr. 4 der Schriften der ge-
lehrten estnischen Gesellschaft. Wir danken auf diesem Wege
für die Zusendung. A.
r des Menschengeschlechts.
Festungswerke, Uferdeiche, Hüttenkreise, Eloghanns,
Weems, Pictenhäuserzc. Doch vou diesen letzteren gehören
viele einer späteren Zeit an, und es ist noch nicht ermittelt
worden, welche vou ihnen in das Steinalter zu verlegen sind.
Man benutzte sehr verschiedene Steinarten, wenn sie
nur hart und zäh genug für Werkzeuge erschienen; im du-
bliuer Muserun sieht man z. B. Meißel aus Feldspath, die
fast fo scharf sind wie Feuersteine; sodann aus Basalt, aus
Schiefer, und ans Porphyr mit Hornblende. In Europa ist
jedoch der Feuerstein am meisten benutzt worden; der-
selbe hat auf die EntWickelung der Eivilisatiou einen nicht
unbedeutenden Einfluß geübt. Die Wilden schätzen ihn,
weil er hart ist und leicht sich spalten läßt. Wer sich auf
das letztere einigermaßen versteht, kann einen Feuerstein-
block in eine Menge sehr verschiedener Formen zerlegen.
Der Schlag mit einem abgerundeten Hammer auf die glatte
Oberfläche eines Feuersteins verursacht einen conoidischen,
einen afterkegelförmigen Bruch, deffeu Größe zumeist von
der Gestalt des Hammers abhängt. Die Oberfläche des
Bruchs setzt sich nach unten durch deu Steiu fort iu einer
divergirenden Richtung (also auseinanderlaufend) und
umfaßt einen Kegel, dessen Spitze sich an den Punkten
befindet, auf welche der Schlag des Hammers gefallen ist;
dieser Kegel kann dann aus der Masse herausgebrochen wer-
den. Derartige Feuersteiukegel sehen wir artet; jetzt sehr häufig
an unseren Landstraßen, wenn dieWege ausgebessert werden.
Schlägt man nicht auf eine platte Fläche, sondern auf
die Ecke eiues mehr oder weniger viereckigen Feuersteins,
so ist der Bruch anfangs halbconoidal oder doch annähernd
so; weiterhin aber wird er flach und setzt sich in dieser Rich-
tuug wohl 10 Zoll weit fort. So bildet er eine dem
Schwertblatt ähnliche Figur mit einem dreieckigen Quer-
durchschnitt. Ein vollkommenes Feuersteinblatt wird
immer am Ende, auf der flachen Seite, einen größern oder
kleinern knollenartigen Auswuchs, wenn man fo sagen darf,
haben. Nachdem die vier Ecken oder Winkel eines Feuer-
steinqnadrats in solcher Weise abgeblättert oder abgesprengt
worden sind, können die acht neuen Ecken in ähnlicher Weise
behandelt werden, und so weiter fort.
Unsere Figuren (Fig.l—4) zeigen einenBlock oder Kern
und die von demselben abgesprengten Blätter; das nritt-
lere von den dreien ist durch Arbeit zugespitzt worden. Eiue
andere Figur (Fig. 5) zeigt eiu pfeilförmiges Blatt aus
Irland, au welchem das dicke Ende abgesprengt worden ist,
offenbar um eiuen Stiel oder eine Handhabe daran zu be-
festigen. Die Figuren 6—9 sind kleine Feuersteinblätter
aus Dänemark; man findet dergleichen überall, wo die alten
Bewohner Feuerstein oder Obsidian hatten. Die Figur zur
Linken zeigt, daß hier schon eiu anderes Blatt von demsel-
beu Block abgespreugt worden ist; an den beiden mittleren
siud die Spitzen abgebrochen. Manchmal, obwohl nicht
oft, wird ein breites Blatt in der Weise abgenommen, daß
dasselbe über zwei andere Blätter über- oder hiuausgretst,
und dauu ist die Figur fünfeckig.
Zum Herstellen solcher Blätter ist eiue gewisse Fertig-
keit erforderlich, auch muß eiu passender Stein ausgewählt
werden. Die Feuersteiublätter, so einfach sie auch erschei-
uen, sind allemal M e u s ch e u w e rk. Wer solche herstellen
will, muß den Stein festhalten und eiue tüchtige Kraft durch
Druck oder Schlag anwenden, dieselbe wenigstens drei bis
viermal wiederholen und zwar in ziemlich derselben Rich-
tnng. Als Naturspiel kann dergleichen nur höchst selten
und ausnahmsweise vorkommen. Wo wir also Feuer-
steiublätter antreffen, haben wir zugleich
sichere Spuren von Menschen.
Die Blätter haben eine scharfe Seite und können als
Zur Kunde der Merthümer des Menschengeschlechts. 1 7
Messer gebraucht werden. Man hat sie auch schon oftmals ^ Sägeu, Ahleu oder Pfeilspitzen verfertigt; wie das auch
als solche bezeichnet, nennt sie aber Wohl besser ganz schlicht- ' heutzutage noch bei manchen wilden Völkern geschieht.
18 Zur Kunde der Alterthür
Lnbbock besitzt ein solches aus schönem Weißen Feuerstein
von 13 Zoll Länge, 1V2 Zoll Dicke und 37a Zoll Breite.
Die Aexte auf der Jusel Seeland haben zumeist senkrechte
Seiten, bei den jütländifchen dagegen sind sie gewöhnlich
ausgeschweift, und das letztere gilt durchschnittlich auch in
anderen westeuropäischen Ländern. Doch haben jene in der
Schweiz, die viel kleiner sind als die dänischen, wieder per-
pendiknläre Seiten. Wir geben die Abbildung einer ge-
wohnlichen dänischen Axt (Fig. 19 n. 11).
Zuweilen sind diese Aexte oder Keile in Dänemark
polirt, aber gewöhnlich sind sie rauh, während das erstere
i>n übrigen Nordwestenropa häufig vorkommt. Sie wur-
den au hölzerneu Griffen, Handhaben, Stielen befestigt;
dafür zeugen nicht blos manche Spuren, sondern auch einige
Exemplare, an denen die Stiele noch vorhanden sind. Unsere
Figur (Fig. 12) zeigt ein solches, das vor einigen Jahren in
Irland, in der Grafschaft Monaghan, aufgefunden wurde;
der Stiel war 13 Zoll lang und von Fichtenholz; Stiele
von Horn sind in den Pfahlbauten der Schweiz gefunden
worden. Noch jetzt haben manche Wilden keine besseren
Geräthe. Die Leute der Vorzeit konnten mit so unvoll-
kommenen Aexten und mit Hülfe des Feuers große Bäume
fällen und Kähne verfertigen. Die Pfähle in den Schwei-
zerseen sind, so weit das Steinzeitalter in Betracht kommt,
mit solchen Aexten bearbeitet worden; das sieht man an
den noch vorhandenen EinHieben deutlich genug. In den
dänischen Torfmooren hat man Bäume gefunden, welche
die Spuren der Steinaxt und zugleich des Feuers deutlich
erkennen lassen; in zwei Fällen lagen sogar neben den
Bäumen noch die Aexte.
Diese Aexte wurden auch als Kriegswaffeu gebraucht,
und man hat sie häufig in Häuptlingsgräbern zusammen
mit Dolchen aus Brouce gefunden. Im Jahre 1899
wurden die Steine von einem großen Cairn, dein vermeint-
liehen Grabmal eines alten Königs Aldus Mae Goldus,
hinweggeräumt; die Arbeiter stießen dabei auf einen stei-
nernen Sarg von sehr roher Arbeit, hoben den Deckel ab
und fanden das Geripp eines Mannes von ungewöhnlicher
Große. Man sah, daß der eine Arm vom Schulterblatt
abgetrennt war und zwar durch einen Hieb mit einer stei-
nernen Axt, von welcher noch Bruchstücke im Knochen vor-
Händen waren. Diese Axt in dem Cairn von Kircndbright-
shire war von Grünstein, der in dieser Gegend Schottlands
nicht vorkommt. Neben jenem Gerippe fand man auch
eine Feuersteinkugel von 3 Zoll Durchmesser, die vollkom-
men rund itni> sehr hübsch polirt war, sodann noch eine
Pfeilspitze, gleichfalls aus Feuerstein, — aber von Metall-
gegenständen war nichts vorhanden.
Steinäxte mit Schastlöch ern wurden nicht aus
Feuersteinen verfertigt, weil die Beschaffenheit der letzteren
dazu nicht geeignet ist; in Kopenhagen sind aber zwei solche
Aexte, bei welchen man natürliche Löcher, die im Feuer-
stein vorhanden waren, für den Stiel benutzt hat. Ob
Aexte mit Schaftlöcheru den: eigentlichen Steinalter ange-
hören, ist ungewiß, weil man sie gewöhnlich in Gräbern
der Broncezeit findet. Die Befestigung des Schaftes in
einem Loche ist vielleicht überhaupt erst aufgekommen, nach-
dein man Nietalle kannte.
Die sogenanntenS chrap er oderKra tz e r sind länglich
und an einem Ende abgerundet; dieses letztere ist durch eine
Reihe von Schlägen abgeschrägt worden (Fig. 13). Die eine
Seite ist flach, die andere mehr oder weniger eonvex; manch-
mal hat solch ein Schraper einen kurzen Stiel und gleicht
dann eiuem Löffel. Sie kommen in Dänemark, Frank-
reich, England, der Schweiz und auch sonst noch vor, sind
von 1 bis 4 Zoll laug lind 'A bis 2 Zoll breit. Die
t des Menschengeschlechts.
Schraper, welcher sich noch jetzt die Eskimos bedienen, sind
in ihrer Gestalt genau so wie jene aus dem Steinalter.
Die kleinen dreieckigen Aexte sind für die
Kjökkeumöddiugs kennzeichnend, an der einen Seite
flach, anf der andern eonvex, in roher Weise annähernd
dreieckig oder auch viereckig, und die scharfe Seite befindet
sich am breiten Ende; sie sind 27- bis 572 Zoll lang, 172
bis 27o Zoll breit und niemals abgeschliffen. Steenstrup
läßt unentschieden, ob diese eigenthümlicheu Werkzeuge
überhaupt als Aexte benutzt worden seien; er ist geneigt, sie
für Gewichte an Fischleinen zu halten; dergleichen kommen
in ähnlicher Weise noch jetzt bei den Eskimos vor. Es
leuchtet allerdings ein, daß manche von diesen „Aexten"
niemals zum Schneiden oder Behauen tauglich gewesen
sind. Uebrigens gleichen die Steinbeile der Neuseeländer
und mancher Insulaner der Südsee genau denen, welche
für die Kjökkenmöddings kennzeichnend sind, nur daß bei
erstereu die Schneide polirt erscheint.
Die Meißel gleichen den dänischen Aexten, haben
gerade Seiten wie diese, sind aber schmäler, und ihre Ober-
fläche ist fast immer glatt gerieben. Manche sind an der
einen Seite ein wenig ausgehöhlt. Die sogenannten
Ahlen oder Pfrieme sind längliche Stücken Feuerstein,
welche durch wiederholtes BeHämmern zugespitzt wurden;
sie sind nicht sehr scharf, aber stark.
Lanzenspitzen kommen in sehr verschiedener Größe
und Gestalt vor; einige sind von den Pfeilspitzen kaum zu
unterscheiden, andere dagegen viel größer; manche so roh,
daß man zweifeln kann, ob sie überhaupt fertig gearbeitet
wurden, und andere fo vollendet, daß sie für Kunstwerke
gelten können. Sehr schöne Exemplare hat man auf der
dänischen Insel Möen gefunden. Auch die Dolche siud
manchmal wahre Meisterwerke und liefern den Beweis,
wie geschickt man den Feuerstein zn bearbeiten wußte. Sie
gleichen den Dolchen aus Metall so genau iu ihrer Gestalt,
daß manche Altertumsforscher geneigt waren, sie für Nach-
ahmungen von Broncedolchen zu halten und als nicht in
das Steinalter gehörend zu betrachten. Aber dagegen
sprechen die Fuudörter; die Hypothese ist nicht haltbar.
Eine andere Art Feuersteinwaffe kommt in Dänemark
häufig vor, hat einen Handgriff wie die Dolche, läuft aber
nicht gleich diesen in einer Blattspitze aus, sondern hat eine
andere Art von Spitze, die man, wenn sie abgebrochen war,
wie jene am Dolche zuspitzen konnte. Merkwürdig ist,
daß beide Arten an den Seiten eingekerbt erscheinen.
Wurf- oder Schleudersteine kommen in zwei
Arten vor. Die eine besteht aus rohen Stücken Feuerstein,
welche durch einige Hammerschläge die erforderliche Gestalt
bekommen haben. Steenstrup meint, daß manche derselben
als Steinbeschwerer für Netze gedient haben; andere müssen
aber doch als Wurfsteine, als Waffe benutzt worden sein,
denn man hat sie in Torfmooren gefunden. Die zweite
Art besteht aus runden, abgeplatteten Feuersteinscheiben,
und manche derselben sind vortrefflich gearbeitet.
Die Tillhuggersteens der nordischen Alterthnms-
forscher haben eine ovale oder eierförmige Gestalt und sind
auf einer Seite oder auch auf beiden eingebogen oder aus-
gehöhlt. Mau weiß noch nicht, wozu dieselben eigentlich
verwandt worden sind; man meint, daß sie zwischen Finger
und Daumen gehalten und als Hammer oder Schnitzer ge-
braucht wurden. Aber die Vertiefung ist bald beträcht-
Itcher, bald geringer, und manchmal der Stein völlig durch-
löchert; deshalb meinen einige, es handle sich hier um
Riugsteine für Netze oder kleine Hammerköpfe.
Pfeilspitzen kommen in verschiedenen Arten vor.
Die dreieckigen haben ost an jeder Seite eine Kerbe für die
Steinaxt mit Schaftloch- Steinaxt in Dänemark.
Waffen aus dem Steinzeitalter.
Schlenderstein. Hohlmeißel.
Zur Kunde der Altnthümer des Menschengeschlechts.
Vier Pfeilspitzen-
Feuersteinblock.
Tillhnggersteen.
Lanzenspitze.
Dolch aus Feuerstein.
Meißel.
Steinaxt in Irland.
Steinaxt in Irland.
r
20 Zur Kunde der Alterthi'm
Schnur, durch welche die Spitze am Schafte befestigt wurde.
Andere sind an der Basis ausgehöhlt oder eingezackt;
wieder andere haben eine Verlängerung, die in den Schaft
gesteckt wurde; bei vielen finden wir am untern Theil eine
doppelte hufeisenförmige Aushöhlung, und noch andere sind
blätterförmig. Die ächten Pfeilspitzen sind gewöhnlich
einen Zoll lang; oft gehen sie in die Gestalt eines Wurf-
speeres oder einer Speerspitze über.
Andere Feuersteingeräthe, z. B. Hämmer, Sägen,
Harpunen k. übergehen wir für jetzt.
Die Menschen des Steinzeitalters haben aber auch
Knochen, Hörn er und Geweihe vou Thieren zur An-
fertigung von Werkzeugen verwandt, namentlich jene vom
Hirsch, weil diese sehr hart sind. Sehr häufig kommen der
Pfriem, die Ahle und lange meißelsörmige Geräthe vor,
deren Verwendung wir nicht kennen, sodann zugespitzte
Rippenknochen, die wahrscheinlich an Fischnetzen befestigt
oder auch beim Verfertigen von Töpfergeschirr gebraucht
wurden. Harpunen, Pfeil- und Speerspitzen von
Knochen siud gleichfalls nicht selten; durchbohrte Zähne
scheinen als Amulete getragen worden zu sein.
Man findet die oben beschriebeneu Steingeräthe häufig
nahe der Oberfläche des Bodens, und viele sind beim Pslü-
geu oder anderen Feldarbeiten zu Tage gekommen. Was
aus diese Art zum Vorschein gelangte, hat verhältnißmäßig
einen nur geringen wissenschaftlichen Werth; nur weuu wir
diese Gegenstände in größerer Menge und besonders wenn
wir sie mit anderen Ueberresten zusammenfinden, werfen
sie Licht ans die Sitten, Gebräuche und die Lebensweise der
Menschen des Steinalters.
Schon oben ist die Bedeutung der Tumuli, der Pfahl-
bauten und der Muschelhügel erwähnt worden; hier müssen
wir ein Wort auch über die Küstenfunde sagen.
In Dänemark hat man rohe Feuersteine in großer
Meuge an Stellen gefunden, welche auf der frühern Küsten-
linie liegen, die das Meer vor alten Zeiten bespülte; gegen-
wärtig ist dieselbe eine andere. Man bezeichnet diese
Gegenstände als „Ky stfund en". Seit dem Steinzeit-
alter hat in Iütland der Boden sich gehoben oder das Meer
ist zurückgetreten, denn manche Küstensnnde liegen nun auf
trockenein Gelände. Die Küste ist sehr flach und die Er-
Hebung, so gering sie auch erscheint, hat doch in manchen
Fällen genügt, sie weit voll der gegenwärtigen Wasserlinie
hinwegzurücken. Andere Küstenfunde dagegen liegen nie-
driger, z.B. jener beim Eisenbahnhose zn Korsöer, der nur
bei Ebbe zum Vorschein kommt, während manche stets mit
Wasser bedeckt sind. Man nimmt wohl mit Recht verschie-
deue Klassen von Küstenfunden an. Auf Anholt rührt ein
folcher offenbar von einer Werkstätte her, in welcher Feuer-
steingeräthe verfertigt wurden; man erkennt das noch ans
den Abfällen und weil mehr als 60 Feuersteinkerne oder
Klumpen noch an Ort und Stelle liegen; — hier war, wie
wir sagen würden, eine Fabrik. Aber die noch jetzt unter
Wasser befindlichen Küstenfunde müssen auch iu alteu Tageu
unter demselben gelegen haben. Von Seewohnungen und
Pfahlbauten finden wir in Dänemark keine Spur; man
dars also wohl annehmen, daß wir hier die Stellen haben,
wohin die Fischer ihre Netze schleppten. Dergleichen 9,^
schieht auch heute noch. Es ist erklärlich, daß manche
Werkzeuge, die beim Fischen Verwendung finden, namentlich
die Steine, welche a4s Netzbeschwerer dienten, verloren
gingen, und die Gegenstände, die bei den Küstensunden zu
Tage kommen, gehören gerade in diese Klasse. Es find
unregelmäßige abgesprengte Feuersteine, Netzbeschwerer,
Wnrssteine, Platten, Schraper, Ahlen und Aerte, und man
hat dergleichen in fast allen Küstensunden zu Tage gesör-
er des Menschengeschlechts.
dert, von den einzelnen Gegenständen hier mehr und dort
welliger. Steenstrup und Lubbock sammelten unweit von
Fröelund bei Korsöer in Zeit voll nnr einer Stunde:
141 Platten, 84 Gewichtsteine, 5 Aerte, 1 Schraper und
etwa 159 abgesplitterte Feuersteine (Chips); bei Aarhuus
in Iütland fand Lubbock in dritthalb Stnnden: 76 Gewicht-
steine, 40 Platten, 39 Schraper, 17 Ahlen und eine große
Menge Chips.
In den seichten uud geschützten Buchten Dänemarks
ist gewöhnlich ruhiges Wasser, und dort hat sich in vielen
Fällen über die Feuersteingeräthe eine sie schützende Sand-
decke gelagert. Das war der Fall bei beit eben erwähnten
Küstenfunden; der eine wurde bei der AbWässerung des
Landes, der andere beim Bahnbau bloßgelegt. Zuweilen
treibt die Strömung den leichtern Sand weg, läßt aber die
Steine, weil sie schwerer sind, liegen; in manchen Fällen
sind aber diese ganz ungestört geblieben und dann gewöhnlich
in solcher Menge vorhanden, daß man sie an ihrer Farbe
schon ans der Ferne erkennt. Auch au deu englischen
Küsten kommen dieselben dann und wann vor; solch ein
„Flintsind" liegt z. B. bei Reigate.
b. Menschen zur Zeit der Gletscherperiode.
Wir werden oftmals Gelegenheit finden, auf das Stein-
zeitalter zurückzukommen und auch die Broneeperiode zu schil-
dern. Heute wollen wir einen andern Gegenstand berühren,
das Vorkommen des Menschen schon in der Gletscherperiode.
Die Erörterungen, welche darüber Ch. Martins, Pro-
sessor der Geologie iu Montpellier, angegeben hat, sind im
Wesentlichen die nachstehenden (Bulletin de la societe an-
thropologique II. S. 631 ff.).
Die Schwemmgebilde (das Diluvium) finden wir nicht
als eine ununterbrochene und gleichförmige Lage auf der
Erdoberfläche; jedes Diluvium verdankt vielmehr seine
Entstehung einem benachbarten Gebirge oder einer Gebirgs-
kette, und je höher dieselben sind, um so beträchtlicher ist
dasselbe an Ausdehnung wie an Mächtigkeit; am Süd ab-
hänge der Alpen liegen Schwemingebilde von 600 bis 900
Fuß hoch. Das Gestein des Diluviums besteht aus Bruch-
stücken vom Gesteine des Gebirges, welche durch Diluvial-
strömnngen herabgeschwemmt wurden. Wir wissen nicht,
wodurch die letzteren veranlaßt worden sind.
Lange Zeit nach der Diluvialperiode war die Gl et-
scher zeit vorhanden. Die Gletscher, welche sich auf den
Gebirgen gebildet hatten, waren allmälig in die Thäler
und Ebenen hinabgerückt und bedeckten ausgedehnte Land-
strecken, die jetzt völlig frei von Eis sind.
Gletscher bilden sich dnrch Anhäufungen des Schnees
auf den Gebirgen. Jede nene Schneelage drückt auf die
früheren, welche sich verdichten und in harte, eisähnliche
Massen verwandeln. Die Gesammtmasse wird immer
schwerer itnb gleitet ein den Abhängen des Gebirges lang-,
sam aber unablässig iu die Thäler hinab. Genaue Beob-
achtungen haben ergeben, daß manche Gletscher im Jahre 200
bis 250 Fuß vorrücken. Aber der Gletscher dehnt sich
nicht immer in demselben Verhältniß aus; manchmal scheint
er stehen zu bleiben oder auch kleiner zu werden. Die
niedrigeren Theile schmelzen im Sommer weg. All den
Grenzeil des Gletschers zeigen sich zwei entgegengesetzte
Erscheinungen: jene des Anwachsens und Fortschreitens
und die der Verminderung. Beide Erscheinungen halten
vielfach einander das Gleichgewicht, und dann erscheint der
Gletscher als stationär. Jene in den Pyrenäen zum Bei-
Zur Kunde der Alterthür
spiel scheinen unbeweglich zn sein und doch gehen sie ab-
wärts gleich den anderen; in der Schweiz dagegen rücken
mehre Gletscher alljährlich vor. In anderen Gegenden sind
sie zurückgewichen, und wir kennen manche, die Wechsels-
weise vor- und zurückrücken.
Manche Gebirge, z. B. der Jura und die Vogefen, sind
in vorhistorischen Zeiten mit Gletschern bedeckt gewesen;
dafür sind unverkennbare Spuren vorhanden. Damals
war die Gletscherperiode, welche iu zwei Epocheu zerfällt.
Während der einen dehnten sich die Gletscher aus, während
der andern wichen sie wieder zurück und gewannen die
Grenzen, welche sie heute einnehmen.
Vermöge des Studiums der heutigen Gletscher ist es
den Geologen möglich geworden, die Geschichte der Gletscher-
Periode ins Klare zu stellen.-
Die Oberfläche der Gletscher ist bedeckt mit allerlei
Getrümmer von Erde, Kiesel - und anderen Steinen, zum
Theil gewaltigeu Blöcken, welche sich von dem anliegenden
Gebirge abgelöst haben. Der Gletscher allein füllt nicht
ganz und gar eiu Thal aus; er erhebt sich vom Boden aus
bis zu einer manchmal sehr beträchtlichen Höhe, aber seine
Oberfläche liegt nicht selten tief unterhalb des Gipfels der
Berge, welche das Thal einschließen. Von diesen Höhen
nun stürzen sehr oft Erd - und Steinmassen hinab. Durch
die Winterkälte wird das Gestein gespalten, im Sommer
dringt das Schneewasser in die Lücken ein, gefriert während
der kalten Monate und bildet dann Keile, durch welche die
Felsen auseinandergesprengt werden. Sodann reißt das
Sommerwasser eine Menge von Erde und Steinen ab
und führt dieselben nach unten; Alles, was von oben herab-
kommt, fällt auf die Gletscher oder in deren Nähe nieder
und bildet auf jeder Seite des Thales eine Art von Rand-
einfafsung, eiue Moräne.
Wir gehen ans die Moränen nicht näher ein, weil der
Gegenstand jüngst im Globus (VIII, S. 32G) eingehend
erörtert worden ist. Das unregelmäßige Getrümmer, aus
welchem die Moränen bestehen, wird als erratisches
Getrümmer bezeichnet, weil es duuch die Gletscher fortge-
führt wird und manchmal weite Strecken zurückgelegt hat.
Die Blöcke uud die kleineren Steine, welche während der
Wanderung keine Abreibung erfahren, haben ihre nnregel-
mäßige Gestalt und ihre scharfen Ecken behalten tutd unter-
scheiden sich dadurch von den gerollten und rundlichen
Steinen der Schwemmgebilde.
Unter den Trümmern, welche durch Gletscher fortge-
führt worden sind, findet man Steine von allen Größen
uud namentlich auch die sogenannten Fündlinge oder
e r r a t i s ch e n B l ö ck e, die zum Theil eine ganz ungeheure
Größe haben und völlig verschieden von den Gesteinarten
sind, welche der Gegend augehöreu, wo wir diese herge-
wanderten Blöcke finden.
Wir finden nun Moränen und erratische Blöcke auch
in Gegeuden, wo wir für die historischen Zeiten gar keine
Gletscher nachweisen können, und durch sie haben wir den
Beweis, daß vor unserer jetzigen geologischen Periode eine
Epoche vorhanden gewesen ist, in welcher die Gletscher einen
großen Theil der heutigen gemäßigten Zone bedeckt haben.
Dafür zeugen insbesondere diese erratischen Blöcke, denn
ans ihrer geologischen Beschaffenheit ergiebt sich, daß sie
Ee?teinsarten von Gebirgen angehören, die manchmal viele
jade weit entfernt liegen. Wir finden sie auf der Ober-
un^r des.Bodens, über der jüngsten Formation desselben,
batt' ^ ftnd ste erst, nachdem dieser letztere sich gebildet
um-Prt r$cfa9ei"t worden. Auch beweist ihre eckige und
©eftalt, daß sie nicht herbeigerollt sind. Die
aunaime, dcch sie durch Meuscheuhand an Ort und Stelle
er des Menschengeschlechts, 21
gebracht worden seien, wird durch ihren gewaltigen Umfang
und ihr ungeheures Gewicht ausgeschlossen. Sie haben
aus Gletschern gelegen, die an Ort und Stelle geschmolzen
sind, oder auf schwimmenden Eisschollen und Eisbergen,
welche durch Strömungen in wärmere Gegenden getrieben
wurden und zerschmolzen.
Wir wissen uud können mit Sicherheit nachweisen, daß
einst die Gletscher der Alpen einerseits bis ins Rhonethal,
andererseits bis in die Ebenen von Piemont und der Lom-
bardei gereicht haben; in der Umgegend von Turin liegen
Blöcke, die vom Moni Eenis gekommen sind. Die henti-
gen Gletscher sind Ueberreste von alten Gletschern, die früher
weit und breit die Gegend überlagert haben.
Die Gletscherzeit ist jünger als die des Diluviums,
und die Gletscher hatten eine sehr weite geographische
Ausdehnung. Wir haben in Deutschland erratische Blöcke,
die ans den Alpen Skandinaviens stammen.
Nun fragt sich, ob iu der GletscherzeitMeu-
scheu g e l e b t h a b e n? Man hat daran gezweifelt, wenig-
stens in Bezug auf die Gegenden, welche mit Gletschern
bedeckt waren, und weil man sich den Grad der damals
herrschenden Kälte als übertrieben vorstellte. Aber Men-
schen leben in Sibirien, wo die Kälte manchmal — 40° E.
erreicht, und es ist ja nicht ein ungemein hoher Kältegrad,
welcher die Gletscher erzeugt, sondern der Schnee, und zwar
hei verhältnißmäßig gemäßigter Kälte, uud weun der Som-
mer nicht so lang und nicht so warm ist, um den Schnee
völlig auszubauen. In der Schweiz z. B. brauchte die
mittlere S o in m e r temperatnr nur um 5 Grad C. niedriger
zu werden, uud dann würden vielleicht nach 100,990 Jah-
ren, — aber was sind 199,090 Jahre in der Geologie? —
die Gletscher das ganze Land begraben. Ganz gewiß
hat der Mensch während der Gletscherperiode in
unserenjetztgemäßigtenGegendenlebenkö n n e n;
lebt er doch jetzt in Ehamonny ganz in der Nähe der
Gletscher, welche immer weiter vorrücken. Im nördlichen
Norwegen, in Lappmarken, liegen Dörfer an der Ansmün-
dnng von Thälern, die völlig mit Eis ausgefüllt sind.
Ganz Schweden war einst mit Eis bedeckt; dort ist
das Gestein überall abgerieben und gerieft, und außerdem
wissen wir, daß sich in neueren Zeiten der Boden dieses
Landes allmälig gehoben hat, sodann, daß dieser geolo-
gische Prozeß noch jetzt fortdauert. Auch Senkungen
werden stattgefunden haben, wir wissen aber nicht, wie oft
und wie lange. Während derselben bildete das Land den
Meeresboden; es war mit einer Sandlage bedeckt, und auf
dieser hatten sich viele Muschelbänke abgelagert. Dann
legten sich schwimmende Eismassen, welche sich von den
Gletschern aus dem Festlande abgelöst hatten, auf deu
seichten Stelleu fest und ließeu beim Zerschmelzen die erra-
tischen Blöcke auf die Muschelbänke niederfallen. Während
der nächsten Periode der Erhebung tauchten dann diese
Blöcke allmälig aus dem Meere hervor, nach ihnen die
Muschelbänke, dann die Sandbänke und zuletzt der Ur-
bodeu.
Solche erratische Blöcke sind in unzähliger Menge vor-
Händen und bilden an mehren Stellen wahre Hügel, die
man im Laud als Osars bezeichnet. Bei Upsala ist ein
ganzes Schloß auf einem folchen Osar erbaut worden.
Man findet an den Osars, von unten nach oben, zuerst den
Urboden, dann eine Lage Sand, nachher ein Muschellager
und erratische Blöcke.
Als der Kanal von Stockholm nach Gothen-
bürg gegraben wurde, mußte man einen dieser
Osars durchstechen, uud mau fand unter ihm,
22
W, Stricker
Et Dorado.
in der tiefsten Lage, im Urboden, unterhalb
der Sandlage, Steine, welche einen Heerd bil-
deten, und in der Mitte dieses Heerdes lagen
Holzkohlen.
Es erleidet keinen Zweifel, daß diese Kohle von einein
auf dem Heerd angezündeten Feuer herrührt und von den-
kenden, intelligenten Wesen zu einem bestimmten Zweck an-
gemacht worden war. Es lebten also Menschen da,
wo jetzt Schweden ist, und sie lebten vor der allgemeinen
Senkung des Bodens, welche gleichzeitig mit der Ausdehnung
der Gletscher war, oder vielleicht früher als diese letztere ein-
trat. Jene Menschen wohnten ans dem festen Lande; all-
mälig ist der Boden, auf welchem sie hanseten, unter dem
Wasser des Baltischen Meeres verschwunden, die See hat
eine dicke Sandschicht niedergeschlagen, und über diesem
Sande hat sich eine Muschelbank gebildet. Die schwimmen-
den Eismasseu kamen, brachten erratische Blöcke mit, und
diese fielen, als das Eis zerschmolz, aus deu Gruud des
Meeres. Nachher kam eiue Periode der Erhebung, und
während derselben stieg der Osar allmälig aus dem Wasser
empor. Das Alles ist uicht plötzlich geschehen, sondern
nach und nach, und die Zeit, welche dazu erforderlich war,
läßt sich gar nicht berechnen. So rückt sich für Schwe-
den das Dafein des Menschen in ein so hohes
Alterthum hinauf, daß wir fast davor erschrecken,
wenn wir diese Zeit mit unseren kurzen geschichtlichen
Perioden vergleichen.
Die anthropologische und geologische Zeitrechnung ist
von ganz anderer Art, als die geschichtliche Chronologie.
D e r M e n s ch hat schon in der Dilnvialzeit gelebt,
er war auch während der Gletscherperiode vor-
Händen. A»
El Do
Von Wilhe
Etwa fünfzig Jahre bevor die Entdeckung der neuen
Welt die Kenntnisse der europäischen Menschheit räumlich
so sehr erweiterte, hatten die flüchtigen Griechen nach der
Einnahme Constantinopels dnrch die Türken (1453) dein
Abendland eine nicht weniger wunderbare Zeit, die des
elassischen Alterthums, erschlossen. Indien, das den Alten
das Land der Wunder war, glanbte man auf anderem Wege
aufgefunden, und, nicht weniger als die Sncht nach Gold,
spornten die Sageu von den kopflosen, einfüßigen Menschen
des Herodot, von den streitbaren, allein lebenden Amazonen
des Cnrtius die wundersüchtigen Abenteurer zu immer
weiterem Vordringen in den Eontinent Südamerikas an.
Denn es wurde ihnen nicht so leicht gemacht, wie ihren Ge-
fährten in Mexiko und Peru, in den massenhaften Besitz
edler Metalle zu gelangen. Gleich einer Luftspiegelung
wich die Residenz des Goldmannes (el Dorado) immer
weiter vor ihnen zurück, je tiefer sie ins Festland eindrangen,
und sie empfanden tantalische Qualen, welche der immer
von Neuem auftauchende Besitz einzelner kleiner Gold-
geräthe bei den Eingebornen nicht ermatten ließ. Denn
die Indianer, denen noch zu Humboldts Zeiteu (Reisen
in die Aequiuoetialgegeudeu des neuen Eoutiueuts II, 294)
der Sinn für Wahrheit völlig fremd war, welche aber mit
merkwürdigem Scharfblick errathen, was der fragende
Fremde zu hören wünscht, hatten nicht so bald begriffen,
was die herrschende Leidenschaft der furchtbaren Fremdlinge
sei, als sie das leichte Mittel erkannten, dieselben ans ihrem
Gebiete zu entfernen, indem sie die Quelle des bei ihnen
vorgefundenen Goldes immer weiter ius Innere verlegten.
Suggestivfragen von Seiten der Europäer mögen eben so
wohl die Sage von der großen und prachtvollen Stadt
Mano a au einem ausgedehnteu Binnensee (nur de aguas
blanciis) hervorgerufen haben, wie sie bewirkten, daß die
streitbaren Caribeuweiber, welche hie und da ihren Männern
im Kampfe gegen die Landungen der Spanier beistanden,
zu regelrechten Amazonen mit allen einzelnen Zügen der
griechischen Sage sich umbildeten. Auf den letztern Punkt,
den wir vielleicht ein andermal behandeln, können wir an
r a d o.
tt Stricker.
dieser Stelle nicht näher eingehen; dagegen wollen wir die
Züge zur Entdeckung des Dorado, an welchen die Deut-
schen so bedeutenden Autheil nahmen, bis zu dem Zeitpunkt
verfolgen, wo es einem deutschen Forscher von der entgegen-
gesetzten Seite gelang, den Punkt des Dorado zu erreichen,
dessen Beschaffenheit freilich in Nichts der sagenhaften
Prachtstadt Manoa glich.
Der Name El Dorado ist eigentlich nicht der Name der
Stadt, sondern der des daselbst wohnenden Königs, eines
einäugigen Jndiers, dxr mit Gold bedeckt ist, und kommt
zuerst 1536 vor. Der Goldmann wurde zuerst in den
Anden von Neu-Granada gesucht und wanderte allmälig
300 Stnnden weit östlich. G. F. de Oviedo (1478 bis
1557) meldet in einem Briefe an den Cardinal Bembo,
Gonzalo Pizarro habe einen großen Fürsten anfgefncht,
„der in diesen Gegenden sehr berühmt und allezeit mit
Goldstaub bedeckt ist, so daß er vom Kopf bis zu deu Füßen
einer von einem trefflichen Goldschmied gearbeiteten Gold-
figur gleicht. Der Goldstaub wird jedeu Morgen ihm von
seinen mit langen Blaserohren versehenen Kammerherren
auf die Haut geblafeu und vermittelst eines wohlriechenden
Harzes auf deu Leib befestigt; weil jedoch diese Art Klei-
duug ihn am Schlafe hindern würde, so wäscht sich der
Fürst jeden Abend und läßt sich am Morgen neu vergolden."
— In den Thälern von Guayana, wo die Bemalung des
Leibes statt der Tättowirung angewandt wird, bestreichen
die Eingebornen sich mit Schildkrötenfett und kleben hier-
auf metallglänzende, entweder silberweiße oder knpferrothe
Glimmerblättchen aus die Haut. Davou ist schon im Jahre
1594 die Rede. Vielleicht ist aus dieser Sitte die Sage
von dem Goldmann entstanden.
Die ersten Entdeckungszüge der Spanier nach dem
Goldlaude wurden von Osten her unternommen. Diego
de Ortaz, von Kaiser Karl V. mit dem Lande zwischen
Venezuela und Brasilien beliehen, begann seinen Ent-
decknngszng von der Mündung des Maranon. Dort sah
er in den Händen der Landeseingebornen häufig große
grüne Steine, die er für Smaragde hielt, die aber wahr-
W, Stricker:
scheinlich Goldspath waren. Die Indianer gaben ihm die
Versicherung, er würde, wenn er noch einige Tage strom-
aufwärts führe, ein großes Felsstück von grünem Steine
finden. Allein ehe er noch diesen großen Smaragd erreicht
hatte, machte ein Schiffbruch allen weiteren Entdeckungen
ein Eude. Mit Mühe vermochten die Spanier sich auf
Zwei kleineren Fahrzeugen zu retten und durch den raschen
Strom längs der Küste hin nach Paria zu gelangen. Weil
diese Stadt der Ausmündung des Orinoco sehr nahe gelegen
ist, so faßte Ortaz den Entschluß, eine Unternehmung auf
diesem großen Flusse zu versuchen. Er überwand die
Klippen am Ausflüsse des Meta, wurde aber durch die
Wasserfälle von Tabaje am weiter« Vordringen verhindert.
Ortaz zuerst vernahm die Sage von dem einäugigen
Goldkönig.
Im Jahre 1533 ward Alonzo de Herrera, der Schatz-
meister des Qrtaz'schen Kriegszuges, von dem Statthalter
Geronirno de Ortal zur Fortsetzung der Entdeckung des
Orinoco und des Meta abgeordnet. Er verwandte 13 Mo-
nate auf den Bau flacher Fahrzeuge und auf die uueut-
behrlichen Znrüstuugeu für eine lange Reise. Nur mit
Erstciuuen kann man die Erzählung von diesen kühnen
Unternehmungen lesen, bei denen 3 bis 400 Pferde einge-
schifft wurden, um jedesmal, wo die Reiterei an dem einen
oder dem andern Ufer gebraucht werden konnte, dieselbe zn
landen. Herrera fuhr aus dem Orinoco in den Meta ein
und verfolgte dessen Lauf aufwärts, bis er durch einen ver-
gifteten Pfeil getödtet wurde. Sterbend ernannte er den
Alvaro de Ortaz zu seinem Nachfolger. Dieser brachte
1535 die Reste des Kriegszugs in die Feste von Paria
zurück, nachdem er auch die wenigen Pferde, welche einen
achtzehnmonatlichen Feldzug überlebt, noch verloren hatte.
Schwankende Sagen und Gerüchte von den Reich-.
thümern, welche bei den Völkerschaften, die ain Meta uud
anderen vom östlichen Abhang der Cordilleren von Neu-
Grauada kommenden Zuflüssen des Orinoco wohnten,
gefunden werden sollten, veranlassen, daß von einer andern
Seite her und durch ein anderes Volk die bisher gescheiterten
Entdeckungsreisen nach dem Dorado wieder aufgenommen
wurden.
Kaiser Karl V. hatte nämlich 1528 den Welsern von
Augsburg („Belzaros" der Spanier), welchen er große
Summen (nach verschiedenen Angaben 5 bis 12 Tonnen
Goldes) schuldete, die Küste von Venezuela zwischen dem
10 und 12° nördl. Br. in der Länge von 200 Stunden
zwischen den Vorgebirgen Maearapana uud de la Vela
verpfändet unter folgenden Bedingungen: Sie solleu vier
Schiffe mit 300 Mann uud Lebensmitteln für ein Jahr
aus ihre Kosten ausrüsten, das Land erobern, zwei Nieder-
lassungen und drei Festungen darin anlegen, auch 50 deutsche
Bergleute hinüber befördern. Dagegen machte sich der
Kaiser anheischig, dem Statthalter dieses Landes 200,000
Maravedis (etwa 430 Thlr.), dem Generalkapitän 100,000
Maravedis jährlich für die Dauer ihres Lebens auszusetzen,
die Würde eiues Algnazil mayor (Oberrichters) auf ewige
Zeit ihnen, ihren Erben und Nachfolgern zn ertheilen, eben
den Befehl über die drei Festungen auf ewige Zeiten
mit ' 5,000 Maravedis (etwa 160 Thlr.) Iahresgehalt für
wde. Ferner versprach er deu Titel eiues Statthalters für
immer demjenigen unter ihnen, auch seinen Erben und
^^kommen, deu sie aus ihrer Mitte dazu vorfchlageu
urd-n. Von dem ganzen Gewinn, der an den Kaiser
'l 2 c^cn, würde, solleu sie 4 Prozent haben. Sie solleu
wüi-dnlClUCltme'-cn öon ^cm Saude, welches sie entdecken
die »T ^'genthnm erhalten. Es sei ihnen erlaubt,
na, wenn sie sich nach vorhergegangener Warnung
El Dorado. 23
nicht fügen wollen, zu Sklaven zu macheu, auch können sie
von deu Indianern Sklaven kaufen, wenn sie ein Viertheil
des Kaufpreises dein Kaiser abgeben. Znsolge eines fer-
nertt Vertrags follen die Bevollmächtigten der Welser
4000 Negersklaven nach Indien liefern.
Ambrosius Dalfinger ans Ulm, Geschäftsführer der
Welser am spanischen Hofe, uud Hieronymus Sayler,
die Unterhändler dieses Vertrags, rüsteten drei Schiffe mit
400 Soldaten: Spaniern und Deutschen, und 80 Pferden;
Dalfinger segelte 1528 aus Sevilla ab uud landete glücklich
bei Coro, von deu Indianern Ceriana genannt. Er erbaute
dort auf einem Felsen im Meere eine Stadt, welche er wegen
der Aehnlichkeit der Lage Venezuela (klein Venedig) nannte,
und errichtete daselbst eine deutsche Faetorei, welcher 1541
Heinrich Rainboldt als Geschäftsführer vorstand.
Dalfinger zwang darauf die Indianer am See Mara-
eaibo zur Dienstbarkeit, wandte aber allen seinen Fleiß,
gewiß nicht ohne Härte, auf die Erforschung von Silber-
gruben. Als ihm dieses gelungen war, wagte er einige
Züge gegen die Eingebornen nach dem Jnueru, bald sieg-
reich, bald mit Verlust der Seinigen, er zog, immer nach
edlen Metallen forschend, an den von Westen herströmen-
den Nebenflüssen des Orinoco hinaus bis zu den Andes uud
starb 1532 an den Wunden, welche er in einem Kampfe
mit deu Indianern erhalten hatte, zn Coro. *)
Der Nachfolger Dalfingers in der Statthalterschaft
von Venezuela, ein Deutscher Namens Johann, unbe-
kannten Familiennamens (Jnan Aleman), starb schon 1534,
ohne eilten Entdeckungszug unternommen zu haben; sein
Nachfolger wurde Georg Hohemnt von Speier (Jorge
de Espira), welcher am 18. Okt. 1534 sich zu St. Lucar
in Spauieu einschiffte und am 6. Februar 1535 in Coro
eintraf.
Schon am 13. Mai 1535 trat er mit 300 Mann zu
Fuß, darunter 60 Musketieren uud 20 Armbrustschützen
und 100 Reitern, einen Eutdeckungszug au. Durch die
Berge von Merida gelangte er an die Gestade des Apure
und des Meta und setzte über diese beiden Flüsse unfern
von ihren Quellen, wo sie noch schmal sind. Ueberall fand
er bei deu Indianern goldene Geräthfchaften vor und
erhielt von ihnen Hinweisungen auf eiu Goldlaud. Ju
Fortsetzung seiner Wandernng nach dem Süden gelangte
Georg von Speier endlich an die User des großen Papameua
oder Caqueta- Flusses.
Der Widerstand, welchen er ein ganzes Jahr lang in
der Provinz los Choques gefunden hatte, fetzte 1537 dieser
denkwürdige» Unternehmung ein Ziel. Am 13. August
trat Hohemnt auf einstimmiges Verlangen den Rückzug au.
Er hatte von Coro 550 Meilen zurückgelegt und nur noch
100 Mann zu Fuß und 40 zu Pferde bei sich, darunter
keine 40 Gesunde. 130 Kranke hatte er unterwegs zurück-
gelassen, von denen nur 49 wieder in Coro eintrafen.
Seine eigene Begleituug, als er am 27. Mai 1538 wieder
in Coro eintraf, bestand in III Mann, so daß von den
400 Mann der Erpedition nur etwa 160 heimkehrten.
Es war hauptsächlich der Hunger gewesen, welcher die
Schaar Hohemuts so gelichtet hatte, denn, wie der gleich
näher zu erwähnende Philipp von Hutten, einer der Be-
gleiter Georgs von Speier, berichtet , mußten sie aus Roth
Schlangen, Kröte», Eidechsen, Kräuter uud Wurzeln ver-
zehren; sie weichten uud sotten das Leder der Schilde uud
boten 400 Piaster für eiu gefallenes Pferd, 100 Piaster
*) Das Genauere über diese Forschungs- und Eroberung?-
züge der Deutschen findet mau iu Karl Kluuzlnger: Antheil
der Deutschen an der Entdeckung von Südamerika. Stuttgart
1857. Mit 1 Karte der Expeditionen.
24
Stricker: El Dorado,
für einen Hund, ja etliche sollen „wider die Natnr
Menschenfleisch gegessen haben, indem ein Christ ein Viertel
von einem jungen Kinde mit Kräutern gekocht hat". In
dieser Prüfungszeit mag Wohl Manchem der Werth des
Goldes, welchem sie nachjagten, gering erschienen sein.
Unter diesen Umständen mag es als ein halbes Wunder
erscheinen-, daß überhaupt nur eiu Theil der kühnen Aben-
teurer heimkehrte, und in der That hatte man auch längst
in Coro an ihrer Heimkehr verzweifelt, ihre zurückgelassenen
Effekten verkauft und Georg Hohemnts Stelle anderweitig
besetzt.
Nikolaus Federmann von Ulm, der schon seit dem
Oktober 1529 den Dalfinger begleitet hatte, Stellvertreter
des Georg von Speier, verfolgte 1536, von Macarapana
herkommend, dessen Psad, indem er Gold am Magdalenen-
ström suchte. Ueber die Ebenen des Meta kommend, traf
er 1538 auf den Hochebenen von Neu-Granada mit
Sebastian de Belalea?or, der von Quito kam, und Gonfalo
de Onefada zusammen; alle drei tauschten ihre Erfahrungen
wohl damit zufrieden, daß er ihn zum Ritter schlug und
ihn zum Statthalter von San Domingo ernannte. Im
Jahre 1541 unternahm Hutten mit Barth. Welser dem
Jüngern abermals eine Erforschnngsreise nach dem Innern
von Südamerika. Unter der Führung des schon erwähnten
Pedro de Limpias durchzog er im Gebiet des Orinoeo die
Ebenen der Flüsse Cahauari, Meta und Caguan, und traf
an den Ufern des Guaviare ein, an dessen rechtem Ufer
Hutten Maeatoa fand, die Stadt der Gnaypen. Das
Volk trug Kleider und trieb sorgfältigen Ackerbau; Alles
verkündigte an dieser auf der Ostseite der Anden beinahe
unter dem Aeqnator gelegenen Stelle eine ungewöhnliche
Kultur.
Hutten vernahm, er würde von hier mehr südostwärts
in das Gebiet der großen Nation der Omaguas gelaugeu,
au welche noch hente der Ort San Joaqnin de Omaguas
am nördlichen Ufer des Maranon uuter dem 4° füdl. Br.
in der Provinz Assuay der Republik Ecuador erinnert.
Hutten zog dahin und lieferte ihnen eine Schlacht, in
Manoa (El Dorado). (Nach einer Zeichnung v. I. 1599.)
und Hoffnungen ans, und durch einen Begleiter Feder-
manns, Pedro de Li Pias, wurden Nachrichten vom Dorado
nach Venezuela gebracht. 1538 trat Georg Hohemut einen
nenen Entdeckungszug an; er drang 399 Meilen ins
Innere ein, mußte aber ans Mangel an Lebensmitteln
umkehren und starb eines dunkeln Todes, wahrscheinlich
Ende 1540.
Philipp von Hutten, von den Spaniern Uten, Utre
oder Urre genannt, Sohn Bernhards v. Hutten zu Birken-
feld und der Gertrud von Ebersdorf, genannt Weyhers,
wurde mit dem jungen Grafen Heinrich von Nassau am
kaiserlichen Hofe erzogen und unter die Zahl der Edel-
knaben Karls V. aufgenommen. In seinem 25. Jahre
ging er mit den Schiffen, welche Bartholomäus Welser aus-
gerüstet hatte, nach Amerika, um Venezuela in Besitz zu
nehmen, und begleitete, wie oben erwähnt, den Georg
Hohemut auf seinen Zügen von 1535 bis 1538. Sodann
schiffte er sich nach Europa eiu, um dem Kaiser von den neu
entdeckten Ländern Bericht zu erstatten. Karl V. war so
welcher er Sieger blieb, doch gehört es wohl ebeu so wohl
ins Reich der Märchen, daß die Omaguas auf Llamas
geritten feieu, als daß er mit 39 Begleitern gegen 15,909
Jndier gestritten habe. Auch beschreibt er genau eine
ungemein große Stadt, die er von fern gesehen habe,
wodurch das Märchen vom Dorado nun erst recht in
Schwung kam.
Als einige Jahre hindurch keiue Kunde von Hutten
nach seiner Statthalterschaft gelangte, ernannte der oberste
königliche spanische Gerichtshof von San Domingo den
Juan de Caravazal an Huttens Stelle zum Statthalter.
Dieser unternahm 1545 eine Entdeckungsreise ins Innere
von Südamerika und stieß in der Charwoche des genannten
Jahres ungefähr 100Meilen vonVeneznela auf deu längst
todtgeglanbten Statthalter PH. v. Hutten und seine Begleiter.
Caravazal, der von den neuen reichenGegenden, die Hutten
entdeckt hatte, erfuhr und die Kostbarkeiten sah, welche jener
ihm zeigte, kam mit seinem Gefolge überein, Nachts Hutten
und B. Welser mit ihren wenigen Genossen zu ermorden.
W. Stricker
Nur ein Begleiter entrann diesem Blutbad und brachte die
Nachricht an Philipps Bruder, Moriz, deu Bischof vou
Eichstädt, welcher ebenso wie Barth. Welser der Bater von
Karl V. zwar die Hinrichtung des Raubmörders erlangte,
aber weder das bedeutende Vermögen, noch die höchst wich-
tigen Tagebücher des Ermordeten zurück erhielt.
Der indische Rath schickte Nachfolger, von denen einige
starben, andere wegen schlechter Verwaltung entflohen, bis
dann 1555 ein Urtheil desselben das Königreich Venezuela
den Welsern absprach, nachdem mit dcnBeamten derKöni-
gin Maria, der zweiten Gemahlin Philipps II., langwierige
Streitigkeiten über die Zolleinkünfte und die Grenzen des
Landes vorher gegangen waren. Jndeß ist die kurze Zeit
der Herrschaft der Deutschen in dieser Gegend noch nicht
ganz vergessen. Die Völker des südamerikanischen Fest-
landes haben in allen auf den Bergbau bezüglichen Dingen
ein großes Zutrauen zu deu Deutschen behalten. Ueberall,
wo man A. v. Humboldts Heimatland erfuhr, wurden ihm
Erzstücke vorgewiesen, indem jeder Deutsche in diesen Ge-
genden für einen Bergmann gehalten wird.
Hentern Perez de Qnesada snchte 1539 in dem Gebirge
nordöstlich von Bogota den Sonnentempel auf, wovon
Geronimo deOrtal 1536 au deu Ufern des Meta erzählen
gehört hatte. Der Sonnendienst veranlaßte schwankende
Gerüchte von Tempeln und Götzenbildern aus massivem
Gold, allem auf Bergen wie in der Ebene glaubte mau
sich allezeit weit davou entfernt, weil die Wirklichkeit den
chimärischen Hoffnungen nicht entsprach. Nicht glücklicher
waren Orellana, der 1540 den Amazonenstrom herabfuhr,
Hernan de Qnesada auf seinem zweiten Zuge, bei dem er
1541 die Cordilleren von Cundinamarca überstieg, und
1560 Peter de Ursua, der deu Casuata hinabfuhr, um in
den Amazonenstrom zu gelangen. In Folge dieser vergeb-
lichen Nachforschungen, nach welchen eine Pause von etwa
30 Jahren eintrat, verlegte man den Dorado immer weiter
östlich zwischen die Quellen des Essekebo- und des Branco-
flusses. Dieser Umstand hat den wesentlichsten Einfluß
auf den Zustand der Erdbeschreibung dieser Gegenden
gehabt. Antonio de Berrio überstieg 1591 die Cordilleren
ostwärts von Tuna (in Neugranada) und fuhr auf dem
Cafanare, dein Meta und Oriuoco uach Trinidad.
Im Jahre 1595 rüstete Berrio eine größere Unter-
nehmung von 2000 Mann aus, um deu Ninosa aufwärts
zu fahren und denDorado zu erobern, welchen man damals
anfing, das Land de la Manoa zu nennen. Reiche Land-
eigenthümer verkauften ihre Grundstücke, um an dem
Kreuzzuge Theil zu nehmen, welchem 12 Franziskaner und
10 Weltgeistliche beigeordnet wurden. Ein Abenteurer,
Juan Martin de Albujar, welcher während der Erpedition
des Pedro de Silva 1570 den Cariben vom untern Ori-
noeo iu die Hände geratheu war, eine indianische Frau
geheiratet hatte und selbst fast zum Wilden geworden, dann
aber, nach mehren Jahren vom Heimweh befallen, durch
den Essekebo-Fluß uach der Insel Trinidad gelangt war,
hatte die Phantasie Berrio's erhitzt, so daß man in seinen
Erzählungen kaum unterscheiden kann, was er selbst bei
dein Herabfahren auf dem Orinoeo beobachtet, und was er
ans den Mittheilungen Albnjars geschöpft hat. Berrio
Meß ans deu kleinen goldenen Götzenbildern, welche er am
x lan^ daß stromaufwärts die Bevölkerung zahlreicher
Jv. höher gebildet sei. Wahrscheinlich sind aber jene
ieidJUetL®*'v *u diese öfter überschwemmten, also einen
von 1 pt Zu Wasser darbietenden Gegenden, welche
waren T handeltreibende Caribenstämme bewohnt
fcri brn ß? H""del eingebracht worden, indem das Gold
Globus ix^ Küstenlandes nicht nur zu Amu-
: El Dorado. 25
leten und Schmuckgegenständen verwendet wurde, sondern
auch als Tauschmittel diente. Berrio's Expedition schei-
terte gänzlich; Krankheiten, die Wildheit der Landesein-
gebornen und Mangel an Lebensmitteln setzten dem Zug
der Spanier unüberwindliche Hindernisse entgegen. Mit
Ausnahme von etwa 30, die iin traurigsten Zustande nach
Santa Thomas de Angostura zurück kehrten, waren die
übrigen alle umgekommen. Antonio de Berrio selbst gerieth
in die Gefangenschaft des Sir Walter Raleigh, und fo wur-
den auch diesem die abenteuerlichen Nachrichten Juan de
Albnjars bekannt. Raleigh glaubte an das Vorhanden-
sein des großen Jncareiches, welches die uach dem Tode des
Atahnalpa flüchtigen Peruanerfürstennahe bei den Quellen
des Essekebo-Flusses gegründet haben sollten. Während
er auf der Insel Trinidad verweilte, ließ er durch seine
Begleiter die Mündungen des Orinoeo untersuchen und
flache Schiffe ausrüsten, mit denen er durch die Guarapiche-
Mündung deu Orinoeo etwa 40 Meilen weit hinauf fuhr,
bis Wasserfälle seinem weitern Vordringen ein Ziel setzten.
In seinen Berichten über diese Fahrt paßt er Alles seinen
vorgefaßten Meinungen an. Es findet sich in dem Werke:
„Kurtze Wunderbare Beschreibung Deß Goldreichen König-
reichs Guianae in America, oder neuen Welt, unter der
LineaAequinoetiali gelegen: So newlich Anno 1594. 1595
und 1596. Von dem Wolgebornen Herrn, Herrn Walthero
Ralegh einem Englischen Ritter, besucht worden k., ins
Hochteutsch gebracht Durch Levinum Hulsium. Noribergae,
impensis Levini Hulsii. 1599. 40// folgende Beschreibung
von Manoa, welches gerade unter den Aequator und den
Z20. Längengrad verlegt wird: „Die Hauptstadt des König-
reichs Guiana ist Manoa, so auch El Dorado benannt,
dieß soll die mächtigste und größte Stadt in ganz America
oder wie Jodocus Hondins in seiner neuen Landtafel will,
in der ganzen Welt fein, liegt an dem großen See Parime,
auch Jwaipauoma oder Toponowini oder Rupunuwini
genannt, der 200 Meilen lang und dessen Wasser gesalzen
ist. Darinnen sind viel Inseln und überaus viel indianische
Schifflein, damit allerlei ans den umliegenden Ländern, so
gewaltig goldreich und von allerlei Vieh überflüssig voll
sind, zugeführt wird, denn es ergießen sich viel namhafte
Flüsse in diesen See und entspringen wieder daraus, und
man kann ans dem See in zwanzig Tagen in das Welt-
meev gelangen." Eiue Nachbildung des Holzschnittes,
womit der Künstler durch architektonische Reminiscenzen
aus dem Städtebild Roms und Constantinopels dieser
Schilderung gerecht zu werden versuchte, fügen wir hier bei.
Nach Bancrost (Naturgeschichte Guiana's. 1769)
hat sich auch Walter Raleighs Andenken lange bei den Ein-
gebornen erhalten. „Sie tragen sich mit einer alten Sage
von einem englischen Heerführer, der dreimal bei ihnen
landete und sie aufforderte, in der Feindschaft gegen die
Spanier zu verharren, indem er ihnen versprach, wieder zu
kommen, sich unter ihnen niederzulassen und ihnen Beistand
zu leisten. Man sagt sogar, daß sie noch eine englische
Flagge aufbewahrten, die er ihnen zurückließ, damit sie
seine Landsleute daran erkennen möchten."
Nach so vieleu vergeblichen Versuchen nahm allmälig
der Eifer ab, das Dorado zu suchen. Es wurden nun
weiter keine Unternehmungen durch gemeinfanies Zuthuu
zahlreicher Colonisten veranstaltet; dagegen fanden noch
einzelne Versuche statt. Die Nachrichten, welche durch die
Reisen des deutschen Jesuitenpaters Fritz (1637) über das
Land der Manoasindianer und über die Laguna de Oro
(den Goldsee) verbreitet wurden, trugen bei, die Ausmerk-
samkeit dem Dorado wieder zuzuwenden.
Der Wundarzt Horts mann aus Hildesheim, welcher
4
26 Der Bergbau Gnechenlan
ebenfalls uiu die Mitte des 18. Jahrhunderts nach dem
Dorado forschte, meldet in seinem Tagebuch, daß man im
Jahre 1740 glaubte, aus dem holländischen Guyana durch
die Auffahrt des Rio Efsekebo in den Dorado zu gelangen.
In San Thomas de Angostura legte der Statthalter Don
Manuel Ceatnrion einen großen Eifer für die Aufsin-
dnng des angeblichen Manoa-Sees zn Tage. Ein In-
dianerhänptling kam deu Caroniflnß herab und erhitzte
durch lügenhafte Erzählungen die Einbildungskraft der
spanischen Kolonisten. Er zeigte ihnen am südlichen Him-
mel die magellanischen Wolken, deren weißlicher Glanz
seinem Vorgeben nach der Widerschein von den mitten im
See befindlichen silberhaltigen Felsen sein sollte. Es war
dieß freilich eine sehr dichterische Schilderung von den
Glimmer- und Talkschiefergebirgen seines Landes, welche
nach Schomburgks Beobachtungen die Sonnenstrahlen bis
ans 6 Stunden Entfernung reflectiren. Vergebens snchte
ein Earibenhäuptling dem Statthalter seinen Jrrthnm zu
benehmen; dieser wagte eine ueue Irrfahrt, auf welcher
mehre hundert Personen umkamen. Endlich gelangte
der deutsche Reisende Richard Schombnrgk aus seiner in
den Jahren 1840 bis 44 ausgeführten Erforschuugsreise
von Britisch-Guyaua im Sommer 1843 nach dem Dorado;
er fand statt des 299 Meilen langen Wasserbeckens einen
kleinen Binnensee, der indeß in der Regenzeit beden-
tend größer wird; statt der größten Stadt der Welt ein
ärmliches Jndianerdorf aus Rohrhütten, Pirara genannt.
Schombnrgk fagt darüber (Reisen in Britisch-Guiana.
Leipzig 1847. I. 392): „Noch denke ich mit stillem Ent-
zücken an jenen ersten Morgen in Pirara zurück, als ich
beim Anbruch des Tages aus meiner Hängematte sprang,
und vor das Dorf eilte, um ungestört die weite Savanne
überschauen zu können. Ich stand hier auf einem sagen-
in alter und neuer Zeit.
reichen Boden, zu meinen Füßen das Mar de agnas blancas,
das Mar del Dorado, den See mit goldreichen Ufern und
der goldstrahlenden Stadt Manoa, nach welcher die kühnsten
Abenteurer Spaniens, Portugals und Englands feit dem
16. Jahrhundert ihre Irrfahrten unternahmen, für welche
der große unglückliche Walter Raleigh von 1595 bis 1617
vier Expeditionen antrat, für welche er die Phantasie, fowie
den Ehrgeiz der Königin Elisabeth in so hohem Grade zu
entstammen wußte. Der kleine Binnensee Amucu, dessen
Existenz als ausgedehntes Binnenmeer, in welchem die
großen Ströme Südamerikas: der Essekibo, Orinoco uud
Amazon ihren Quellpunkt haben sollten, schon A. v. Hnm-
boldt am Anfange dieses Jahrhunderts vermöge seines
wahrhaft prophetischen Geistes als bloßes Phantom dar-
stellte, das Spanier, Portugiesen, Engländer und Deutsche
ewig zu fliehen und dennoch ewig anzulocken schien, und
welches dennoch bis anf die neueste Zeit nicht von den Kar-
ten vertrieben werden konnte, lag vor mir. — Vergebens
aber spähte ich nach seinen goldreichen Ufern, nach der gold-
strahlenden Kaiserstadt Manoa; das Auge haftete nur auf
den duukelu Binsen und Riesengräsern, die seine sumpfigen
Ufer und seine unbedeutende Wasserfläche umsäumten."
Unsre Zeit aber wird bei ihren Entdeckungszügen nicht
mehr von der Sucht nach Gold geleitet; ihr ist die Erkennt-
niß aufgegangen, daß nicht Goldbergwerke die Staaten reich
machen, sondern die Wissenschaft, welche die Leuchte höherer
technischer Kultur ist; daß das Gold für Ealiforuieu nur
das Mittel gewesen ist, eine höhere Kultur hervorzurufen,
deren Segnungen dauerndere Quellen des Wohlstandes
eröffnen, als alle Geschiebe edlen Metalles. Von diesem
Standpunkte aus hat der deutsche Forscher auch jede Klage
darüber unterlassen, daß eine holde Fabel mehr aus dem
Buche der Erdkunde ausgestrichen ist.
Der Bergbau Griechenland
Es ist nach dm Auffinden eiserner Gegenstände in
Gräbern kein Zweifel, daß die Alten das dazu uöthige
Eifeu ans in Griechenland häufig und reichlich vorkommen-
den Eisenerzen ausgeschmolzen haben, wo aber und aus
welche Weise dies geschah, darüber geben die alten Schrift-
steller keinen Aufschluß. Aratos nennt die Insel Seriphos
die „eiserne Insel", andere Autoren bezeichnen mit dem-
selben Namen die kleine Insel Polygandra. Es findet sich
anf diesen nnd anderen Eilanden ein für Jahrhunderte ans-
reichender Schatz von Eifeuerzeu. Den großartigsten Bau,
welchen die Hellenen im Gebiete des heutigen Griechenlands
hatten, fand Landerer am Port Megalo Livadi auf Serpho,
wo das Lager etwa 59 Lachter weit längs dem Ausstreichen
bebaut war. Die Arbeiten auf Eiseulager siud gewöhnlich
so, daß hin und wieder am Orte angehauen ist, wo die Erze
zu Tage gehen, da aber Stollenbau nicht gebräuchlich war,
so stürzten die Gruben zusammen uud bieten jetzt nur eiu
Chaos der Verwüstung. Das zu Gute Machen der Erze
fand auf Serpho jedenfalls nicht statt, da sich keine Schlacken
vorfinden, wie es auf der Insel Andres der Fall ist, wo
sich Ruinen von Schmelzöfen finden, die auch durch den
großen Reichthum der Insel an Eisenerzen gerechtfertigt sind.
Die auf der Jufel Keos befindlichen Einlagerungen
in alter und neuer Zeit.
von Glaskopf und Brauneisenstein wurden iiu Alterthume
nicht abgebaut, eben so wurden die silberhaltigen Bleierze
nicht ausgeschmolzen. Jedoch wurde von dieser Insel eine
schöne rothe Farbe ausgeführt, worüber sich noch Geschäfts-
abschlüsse zwischen den Athenern nnd den Lieferanten auf
einer Marmorplatte verzeichnet vorgefunden haben. Am
Hafen Koressos, jetzt Bulkari, faud Landerer bei einer
Nachgrabung kleine Massen rothen Bleioxyds und nament-
lich geschmolzenes Bleioxyd, den sogenannten Molybditis
oder Lithargyritis der Alten. Da nun die auf der Insel
vorhandenen Bleierze nicht bearbeitet wurden, so ist aus
dem Auffinden des Bleisteines nnd der rothen Farbe,
Minium, Miltos der Alten, zu folgern, daß der Bleistein
aus deu gegenüberliegenden laurifcheu Bergwerken nach
Keos (Zea) geschafft und dort in Minium verwandelt wor-
den sei. Die berühmte rothe Farbe, deren Strabo und
Theophrastns gedenken, dürfte also Wohl rothes Bleioxyd
gewesen sein.
Anf der Insel Skopelo finden sich noch bedenkende
Reste von Bergbauten und Schmelzöfen nebst Eisenschlacken.
Die Art der Schmelzung ist nicht zn ermitteln, jedoch deuten
die äußerst massive Bauart der Oefen und ihre zusammen-
geschmolzenen, verglasten Steine daraus hiu, daß der Be-
Der Bergbau Gnechenlai
trieb ein sehr großartiger mit anhaltender starker Feuerung
gewesen sein muß.
Neben dem Marmor ist der Annanth der Insel Enb o ea
Zu erwähnen. Strabo sagt, indem er auf diese Juscl und
besonders die Städte Karystos, Marmarcon und Styra zu
sprechen kommt: „Hier wird ein Stein gefuudeu,
welchen man spinnen und weben kann; es werden
aus ihm allerlei Kleidungsstücke verfertigt, welche man,
wenn sie schmutzig werden, ins Feuer wirft, wo sie durch
die Flamme, eben so wie Leinenzeug durch das Waschen,
gereinigt werden." Wir wissen aus deu Schriften der
Alten, daß sie ihre Todteu iu ein nnverbrennliches Gewebe
von Asbest hüllten, um sie zu verbrennen, damit kein
Stänbchen der thenern Reste verloren ginge. Noch jetzt
findet sich Annanth in den dort vorhandenen Serpentin-
lagern, ohne benutzt zu werden. Von höchstem Interesse
ist auch die Amianthbildnng auf der Jufel Mylos.
Das berühmte griechische Erz und die Menge der
Knnstgegenstände aus Kupfer und Bronce lassen vermuthen,
daß Kupfer im Lande selbst gewesen sei, aber alle bis jetzt
gefundenen Kupfererze sind theils sehr arm, theils eristirt
kaum uoch eiue Spur von den Plätzen, wo sie sich nach
Angabe alter Schriftsteller gefunden haben sollen. Heber
die Stadt Chalkis auf Euboea sagt Strabo: „Ehemals
lind hier sehr ergiebige Kupfergruben und Eisenbergwerke
gewesen, so daß ihres gleichen nirgend angetroffen wurde;
gegenwärtig (also schon zu Strabo's Zeit unter Augustns
und Tiberius!) aber sind sie eingegangen." — Das Kupfer
heißt xuIkos, demnach die Stadt mit dem bedeutendsten
Kupferbergbau Chalkis, von wo Alexander der Große einen
geschickten Grnbenvorsteher, Krates, der die Kupferbauten
betrieben hatte, kommen ließ, um die Entwässerung des
Sees Kopcüs zu bewerkstelligen. Selbst durch Nachgra-
bungeu kouuteu die alteu Kupferbergbauten nicht wieder-
gefunden werden; es hat also allen Anschein, daß sie ans-
gebaut worden sind. Auch bei deu Kupferbergwerken von
Korinth finden sich weder Kupfererze uoch Kupferschlacken,
die aus Ausbringung aus Erzen schließen lassen, so daß es
scheint, als ob das berühmte korinthische Erz dort zu-
sammengeschmolzen und von den Meistern verarbeitet wor-
den sei.
Nach der Analyse der Erze von Waffen und anderen
Gegenständen aus archäologischen Museen besteht das
korinthische Erz aus 78 Kupfer, 18 Ziuk und 4 Zinn.
Da diese Metalle in Griechenland nicht mehr existiren oder
noch nicht aufgefunden wurden, fo müssen sie aus anderen
Ländern gekommen sein.
Die korinthischen Erzgießer, ■/al/.tlq, wußten auch das
Erz zu Härten und zu färben. Paufanias schreibt über eine
in Korinth vorhandene Quelle Peireue oder Quelle des
Pegasus: „Das Wasser der Peireue soll angenehm zu
trinken sein, und das korinthische Erz, wenn es heiß und
glühend ist, von dem Wasser gefärbt werden." Das
Wasser ist noch heute vorhanden, es ist nach der Unter-
suchung ein Agriopfychropotou, eine Akratokrene, die in
16 Unzen nur 2Ya bis 3 Gran feste Bestandtheile enthält,
uuthin konnte sie keine eigenthümlich kupferfärbende, wohl
aber durch das Ablöschen in dem kalten Waffer eine härtende
Wirkung ausüben.
^ Zypern führte in alter Zeit den Namen Aerofa und
nach der Auffindung der dort vorhandenen reichen
toon ^ett Römern Cypro - Cuprum genannt.
0 glbt als Fundort des Knpferrostes und der Kupfer-
>s in alter und neuer Zeit, 27
blüthe Tamassos an; noch heute findet man in diesem
Theile der Insel Spuren von alten Stollen und Berg-
bauten, und freilich nur selten Reste der reichen Kupfererze,
Kupfermalachite und Kupferlebererze. Das Ausschmelzen
geschah in Cypern selbst, worauf die iu der Nähe des
Meeres sich vorfindenden Schlacken hindeuten; über die
Art der Schmelzung enthalten die alten Schriftsteller keine
Angaben. Das Vorkommen von Silber auf Cypern
wird von einigen Schriftstellern erwähnt: „Thessalien hatte
Golderze, Siphnos Gold und Silber, das den Hellenen
benachbarte Epirus Silber, welches auch aus Cypern gefuu-
deu wurde." Gegenwärtig findet man keine bauwürdigen
Kupfererze und kein silberhaltiges Blei auf dieser großen
und schönen Insel.
Das Silber gewannen die Alten aus den silber-
haltigen Bleierzen von Laurium und Troja. Die Hütten-
Produkte mit Ausnahme der Schlacken waren: 1) Chrysitis,
das erste Produkt aus dem Erze, der Bleistein; 2) Argy-
ritis, die bleireichen Schlacken bei der Darstellung des
Bleies aus dem Bleistein; 3) Molybditis oder Lithargyros,
das Produkt aus dem Blei selbst, also die Glätte, welche
wieder zn Blei, Molybdos, auch Kyanos, gefrischt wurde.
Das Blei dieute zu Verzierungen, zum Eingießen und
Befestigen von Eisenstücken, z. B. zwischen Säulenschäften,
zu Gewichten und anderen Gegenständen. Aus dem Blei
wurde das Lithargyrum durch Schmelzen und beim Ab-
treiben des Silbers gewonnen. Alte Oefen finden sich in
einem Stollen des Lanriongebirges nebst vielem Ofenbruch
ans unreinem Zinkoryd bestehend, welches sich bei dem
Abtreibendes Bleies ans zinkhaltigen Bleierzen, wie sie
noch heute in Laurion gefunden werden, verflüchtigt hatte.
Es ist nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln, ob die alten
Griechen das Zink gekannt und verwerthet haben; vielleicht
diente es ihnen zur Darstellung des korinthischen Erzes.
Von Zinnerzen findet sich keine Spur in Griechenland.
Bei Ausgrabung des Theaters des Herodes Atticus eut-
deckte man zwei Zinnmünzen mit Gepräge, die nach der
Ansicht der Archäologen als Eintrittsmarken dienten und
von hohem archäologischen Werthe sind.
Das heutige Griechenland besitzt keine Gold- nnd
Silbererze; aus reichhaltigen Bleierzen könnte nicht nur
mit Gewinn das Blei, sondern auch das Silber ausge-
schmolzen werden, da die Erze alle silberhaltig sind. Solche
Bleierze finden sich in den laurischen Bergwerken und
lieferten zur Zeit des Perikles jährlich tausende Talente
Silber, denen Athen Glanz und Größe verdankte; eben so
auf den Inseln Mylos, Keos und Argentina. Diese Berg-
werke sind gegenwärtig verlassen. In der Nähe der lau-
rischen Silberbergwerke lagern Schlackenmassen, die auf
60 Millionen Centner berechnet sind. Die Griechen haben
dieselben unbenutzt gelassen; eine französische Gesellschaft
hat theils von Privaten, theils von der Regierung die
Schlacken angekauft, um das Blei derselben auszuschmelzen,
welches nach der Berechnung 300,000 Tonnen gleich einer
Summe von 30,000,000 Thalern betragen kann. Es
siud für Schmelzungskosten 12,000,000 Thaler in Abzug
zu bringen, mithin bleibt, im Falle die Resultate mit
den Berechnungen übereinstimmen, ein Reingewinn von
18,000,000 Thaler. Jedenfalls ist dies Unternehmen
eines der großartigsten für Griecheulaud zu nennen; der
Gewinn bleibt allerdings nicht im Lande, wie denn über-
Haupt der Bergbau iu dem heutigen Griechenland kaum des
Erwähnens Werth ist. ' vr. Reich.
28
Sind die Nyam Nyam „geschwänzte Menschen"?
Sind die Nyam Nyam
Diese seltsame Frage taucht immer wieder auf und wird
von ernsten, wissenschaftlich gebildeten Männern bedingnngs-
weise bejaht. Wir wollen über den Gegenstand einige Mit-
Heilungen gebeu.
Ein Italiener, der Marchese Antinori, welcher sich
eifrig mit Ornithologie beschäftigt, streifte mehre Jahre
lang ani obern Weißen Nil umher, drang bis in das Land
am Ke'ilakflusse, durchzog jenes der Fertit und der Djur-
Neger, kam aber nicht bis in das Land der Nyam Nyam
(oder Guiam guiam, auch Makarak genannt). Indessen
zog er bei ihren Nachbarn, den Djur und den Wokil, allerlei
Erkundigungen ein, welche auf Folgendes hinaus laufen.
Sie wohnen nordwestlich vom Aeqnator zwischen dem
3 und 4" nördl. Br., südwestlich vom Weißen Nil an den
Grenzen von Fertit, und sind im Nordwesten von den Dor-
Negern durch den Fluß Bar geschieden. Die drei Familien
dieser Volksgruppe siud die Belanda-, die Banda- und die
„weißen" oder braunen Gniam gniam. Die beiden ersteren
haben Wollhaar und dick aufgeworfene Lippen; sie siud
schwarz; die „weißen" dagegen kupferfarbig (d. h. wohl
röthlichschwarz, nicht schieserschwarz). Männer und
Frauen der erstgenannten Abtheilung gehen uubekleidet bis
aus Lumpen oder Blätter, welche sie um den Unterleib
tragen. Diese übrigens ganz rohen Wilden verstehen sich
auf die Bearbeitung des Kupfers und Eisens, auch aus
jene des Holzes und Elfenbeins. Die zweite Gruppe, jene
der Banda Gniam gniams, wohnt in einem unfruchtbaren
Lande; ein moghrebinischer Elephantenjäger, der bis in ihr
Land vordrang, will sie in halbverhungertem Zustande
getroffen haben. Sie essen Kriechthiere, Ameisen, Heu-
schrecken, Käser, Fledermäuse und machen eifrig Jagd aus
die Affen, welche aus der Aeqnatorialgegend kommen. Das
Fleisch dieser Thiere ist ihre Lieblingsspeise, und daher rührt
vielleicht die oft wiederholte Angabe, daß sie Menschen-
sresser seien. (An und für sich hat das letztere gar nichts
Unwahrscheinliches; wir wissen ja mit der allergrößten
Sicherheit, daß bei manchen afrikanischen Stämmen die
Anthropophagie im Schwange geht.) Der Gesichtsaus-
druck der Banda ist stupid und zugleich wild. „Mau siudet
unter ihnen Individuen, deren Steißbein weniger nach
vorn und mehr nach hinten gekrümmt ist als gewöhnlich.
Diese mit Muskeln und Haut überkleidete Extremität des
Rückgrates bildet einen schwanzartigen Ansatz, der manch-
mal einen Zoll lang wird."
Ich selber, sagt Antinori, habe Gelegenheit gefunden,
einige Individuen dieses Volkes, welche ich bei den Dor
und bei den Elfenbeinhändlern sah, zu prüfen. Ich habe
gesehen, wie sie iu ihrem wilden Instinkte lebendige Fleder-
mause fraßen und Assen verzehrten, die ich geschossen hatte.
Sie brieten dieselben über einem Feuer und verschlangen dann
das Fleisch mit der verkohlten Haut, und dann auch nicht
nur die Eingeweide, sondern auch die Excremente! Darum
will und kann ich aber doch nicht behaupten, daß sie An-
thropophagen seien. Das einzige Individuum, an welchem
ich den Ansatz zu einem Schwänze bemerken konnte, traf
ich im Winter 1851 in Konstantinopel bei einem Sklaven-
Händler, und außer mir ist die Thatsache selber noch von
anderen Personen beobachtet worden. Die Türken und
Araber sind von dem Vorkommen derselben so allgemein
geschwänzte Menschen"?
überzeugt, daß sie ans den Hauptsklavenmärkten sich wohl
hüten, solche Individuen zu kaufen. Die Bandafrauen,
fagt man, seien von so grausamer Art, daß sie, wenn sie
zornig werden, Kinder auffressen, die man ihrer Wartung
anvertraut hat. Dergleichen Angaben haben freilich oft
eine irrthümliche Unterlage. Die knpferfchwarzeu, ins
Röthliche spielenden, „Weißen" Gniam gniam gehören
Wohl schwerlich zu den beiden erwähnten Gruppen uud
stehen auch nicht so niedrig.
In diesen Angaben wollte Simonet, in der pariser
anthropologischen Gesellschaft, einen Verbindnngs- und
Uebergangszng zwischen Thier und Menschen sehen, einen
neuen Beweis, daß man den Menschen nicht von den übrigen
Thieren abscheiden und ganz für sich allein hinstellen könne.
Wer das thne, trage einen Bruch iu den harmonischen Fort-
schritt, welchen die Schöpfung zeigt, und vernichte die klare
Offenbarung der schöpferischen Kraft. Bert entgegnete,
daß das einzige Bekleidungsstück, welches diese Wilden
tragen, wohl zur Annahme eines Schwanzes geführt haben
könne; doch sei auch möglich, daß bei jenem Stamm eine
Verrenkung des Steißbeins nach hinten vorkomme. Ein
Der Schwanz des Nyam Nyam.
wirklich schwanzartiges Anhängsel bei gewissen Jndivi-
dnen oder bei einer Varietät der Menschengattnng würde
an uud für sich gar uichts Außerordentliches darbieten, aber
damit wäre immer noch kein verbindender Uebergang zu den
Affen conftatirt. Die höheren, die anthropomorphen
Affen haben keinen Schwanz; bei ihnen ist der Daumen
weniger vollkommen, als bei manchen niedrigeren Affen-
arten, während der Fuß, dessen Greifkraft (Prehensilität)
beim Menschen nicht vorhanden ist, gerade beim Gorilla
und Tschimpanse den Höhengrad seiner Entwicklung erreicht.
Und da, wo der Menschentypus niedriger wird, bietet er
keine Annäherung zu den Affen dar; man sieht das z. V.
an den wulstigen Lippen der Neger. Die organischen Typen
gehen nicht in einander über, indem sie aber analoge Modi-
sieationen erleiden, verwirklichen sie sich unter anscheinend
gleichen Formen, von denen aber eine genaue Untersuchung
die ursprünglichen und fundamentalen Verschiedenheiten
entdeckt.
Hören wir nun, was der bekannte Reisende Wilhelm
Lejean über den Schwanz der Nyam Nyam schreibt.
„Ich schicke hier", so schrieb er an Eduard Charton in
Paris, „die Zeichnung jenes Schmuckes, welcher zu der
Aus allen
Nabel von geschwänzten Menschen Veranlassung
gegeben hat. Ich habe das Original ganz genau copirt;
es wurde an einem Nyam Nyam gefunden, der (1860) in
einem Streite mit den Elfenbeinhändlern sein Leben verlor.
ist das erste Mal, daß man einen dieser Leute sammt
Appendix bekommen hat. Dieser Schwanz besteht
ans Leder; die auf der Zeichnung angedeuteten kleinen
Linien bestehen aus Stückchen Eisen von 3 Centimeter
Länge; in der Mitte befindet sich ein hohler Wulst. Wir
haben hier einen Schwanz, der in eine Art von Fächer
ausläuft.
Vou Zweifel kann jetzt keine Rede mehr sein, und diese
Lederschwänze der Nyam Nyam haben gar nichts Auf-
fallendes. Aehnliches kommt auch bei nordamerikanischen
Indianern vor, z. B. den Choktaws.
Unter dem Namen der Nyam Nyam begreift man eine
Anzahl verschiedener Völkerschaften, die im östlichen Sudan
wohnen, 15 bis 20 Tagereisen westlich vom Weißen Nil,
im Süden von Dar Für. Sie haben eine monarchische
Regierung, und die Provinzen stehen unter Feudalhäupt-
lingeu. Anthropophagen sind wohl nur die Menschen vom
Stamme der Bindgie.
Am 2. August 1860 habe ich eine von den Sklaven-
rdtheilen. 29
Händlern eingefangene Nyam Nyamfrau gesehen. Sie ist
kupferfarbig wie die Dor und die Fulbe (Peulhs); dagegen
sind die Denka und die Djnr schön schwarz.
In jenen Gegenden finden keine Kreuzungen zwischen
den verschiedenen Rassen statt, und man kann also die
Rothen und die Schwarzen sehr gut unterscheiden; die
Trennungslinie ist leicht zu erkennen. Jene Frau ist etwa
25 Jahr alt, hat einen regelmäßigen Gesichtstypus, der
etwa die Mitte hält zwischen jenem der Gallas und der
Neger; das Auge ist hübsch, die Stirn niedrig, Nase und
Lippen haben die charakteristische Negerform, aber abge-
schwächt. Die ganze Erscheinung ist nicht unangenehm, der
Ausdruck des Gesichts sanft und nicht ohne Intelligenz.
Sie ist unbekleidet bis auf-einen Lederschurz (Rahad);
gewöhnlich hält sie die Arme über die Brust gekreuzt.
Die Sprache ihres Volkes wird von den benachbarten
Stämmen nicht verstanden, doch finden die Handelsleute
Dolmetscher bei den Dor. Zwei Zähne der untern Kinn-
lade waren spitz gefeilt; die Frau trug über den Hand-
und Fußknöcheln und am Halse Stränge von Glasperlen,
niedliche Ohrringe uud drei schwere eiserne Reifen um den
Hals, die hinten mit dem Hammer zusammengeschmiedet
worden siud. Ist das eiue Bijouterie? Das Haar ist
wollig."
Aus allen
Merkwürdigkeiten aus der Sprachkunde.
Mundarten und verschiedene Betonungen. Prof.
Karl Böttger in Dessau, ein eben so gründlicher als vielseitiger
Gelehrter, hat so eben (Leipzig bei Gustav Mayer) eine zweite
Serie von „Mar Müllers Vorlesungen über die Wif-
senschaft der Sprache" erscheinen lassen. Wir werden auf
das ungemein iuhaltreiche Wer? mehrmals zurückkommen uud
wollen heute nur einige Bemerkuugen über das Verhältniß der
Mundarten zu einander hervorheben.
Seit Cooks Zeiten sind von den 10 einfachen Zahlwörtern
in der Sprache von Tahiti nicht weniger als 5 entfernt und
durch neue ersetzt worden. So hieß z. B. 2 früher rua, jetzt
piti; 5 hieß rima, jetzt pae x.
Wenn eine radikale (ifolirende) oda einsilbige Sprache,
wie die chinesische, ansaugt sich zu verändern uud iu von
einander unabhängige Mundarten zn zerbröckeln, dann müssen
die Resultate von denen sehr verschieden sein, welche wir am
Lateinischen, insofern dasselbe sich in die romanischen Mund-
arten zersplittert hat, wahrnehmen. In den Mundarten der
Chinesen scheint Alles, was sie etwa zusammen halten konnte,
rettungslos verloren.
Die Sprache, welche gegenwärtig in Cochinchina gespro-
chen wird, ist ein Dialekt des Chinesischen, wenigstens insoweit
ftts das uormauuische Französisch ein Dialekt des Französischen
war, obgleich es von Sachsen an einem normannischen Hofe gespro-
chen wurde. In früheren Zeiten hat es eine alte Laudessprache iu
Cochinchina gegeben, die annamitische, welche gleichsam das
«achsische jenes Landes darstellt, auf welches das Chinesische,
me in England das Normannische, gepfropft ist. Dieses auf-
gepfropfte Chinesische ist also ein Dialekt des in China gespro-
^enen Chinesischen und mit dem Dialekte von.Canton sehr nahe
^rwandt. Dennoch würden nur wenige chinesische
^/yrten das Chinesische in derSprache Cochin-
; "a s wieder erkennen.
8- einer der wichtigsten Charakterzüge der chine-
niienf^*1^1'0^ (des Dialekts von Nanking, der Manda-
Vokal «„s V jede Silbe in einen reinen oder nasalen
die auf f + dagegen finden wir im CochinchinesischenWörter,
' 1 und p endigen. Wir dürfen uns daher nicht wun-
E r d t h e i l e tt.
bcrn, daß die ältesten Missionare das Annamitische als vom
Chinesischen gänzlich verschieden darstellten. Einer derselben
schreibt: „Als ich nach Cochinchina kam und die Eingebornen,
besonders die Weiber, sprechen hörte, glaubte ich Vogel-
Gezwitscher zu vernehmen uud gab alle Hoffnung auf,
jemals eiue solche Sprache zu erlernen." Alle Wörter sind ein-
silbig, uud die Leute uuterscheideu die Bedeutuug der-
selben nur vermittelst der verschiedenen Accente,
welche sie bei der Aussprache darauf legen.
So bedeutet z. B. die Silbe dar, in Folge ver-
schiedener Betonung, nicht weniger als 23 verfchie-
dene Dinge, so daß die Menschen nie sprechen, ohne
zu singen. —
Diese Schilderung ist, wenn auch etwas übertrieben, doch
in der Hauptsache richtig, da sich in der annamitischen Sprache,
wie in anderen einsilbigen, sechs oder acht musikalische
Accente oder Modulationen vorfinden, durch welche die ver-
schiedeneu Bedeutungen einer und derselben einsilbigen Wurzel
aus einander gehalten werden. Diese Betonungen bilden ein
Element der Sprache, welches wir verloren haben, das aber
während der ältesten Periode der menschlichen Sprache höchst
wichtig, war.
Die chinesische Sprache hat über nicht mehr als unge-
fähr 450 wesentlich verschiedene Silben töne zn verfügen und
drückt mit ihnen zwischen 40 und 50,000 Wörter uud Bedeu-
tilugen aus. Diese Bedeutuugeu werden jetzt durch Zusammen-
setzungen auseinander gehalten, wie in anderen Sprachen durch
Ableitung. Aber auf der radikalen oder isolirenden Stufe
würden Wörter mit mehr als 20 Bedeutungen den
Hörer ganz und gar verwirrt gemacht haben, wenn nicht durch
einige Winke angedeutet worden wäre, was der Sprechende
wirklich mit ihnen zu sagen beabsichtigte.
Solche Winke wurden nun durch verschiedene Be-
tonungen gegebeu. Wir selber haben noch etwas von dieser
musikalischen Fähigkeit in unserm Satzton übrig; wir unter-
scheiden z. B. eine« fragenden Satz von einem behaup-
tenden, indem wir die Stimme erheben.
Verstanden? — Verstanden! — Fort? — Fort! — Wir
sprechen Ja auf sehr verschiedene Weise aus, wenn wir dar-
30
Aus allen <Ndth eilen.
.unter verstehen vielleicht (—ja, das kann wahr sein —) oder
natürlich (—ja, das weiß ich—) oder wirklich (— ja, ist
das wahr? —) oder fürwahr (— ja, ich wills! —) oder
wenn wir es in seiner gewöhnlichen Bedeutung gebrauchen.
Aber im Chinesischen, Annamitischen und eben so im
Siamesischen und Barmanischen finden diese Tonmodulationen
eine viel weiter gehende Anwenduug. Hier ein Beispiel:
Im Annamitischen bedeutet Ba mit schwerem Accent
ausgesprochen eine Dame, einen Ahn;
mit dem scharfen Accent bedeutet es den Günstling eines
Fürsten;
mit halbschwerem Accent bedeutet es etwas Weg-
geworfenes;
mit eiuem schweren Circumflex, etwa als baa ans-
gesprochen, bedeutet es das, was von einer Frucht übrig
bleibt, nachdem diese ausgepreßt worden ist.
gar nicht betont, bedeutet es drei;
mit dem die Stimme erhebenden oder fragenden
Accent bezeichnet es eine Ohrfeige.
So soll denn da, KK, dg., M, wenn die Aussprache glücklich
von statten geht, bedeuten:
„Drei Damen (geben eine) Ohrfeige (dem) Günst-
ling des Fürsten."
In welchem Grade derartige Betonungen in den verschic-
denen Mundarten gewissen Schwankungen ausgesetzt sein müssen,
ist leicht zu begreifen. Obgleich sie durch grammatische Regeln
fest bestimmt sind und ihre Vernachlässigung die absurdesten
Jrrthümer veranlaßt, waren sie doch offenbar anfangs der bloße
Ausdruck individuellen Gefühls und daher viel größerer Ab-
Weichlingen in den einzelnen'Mundarten fähig als die eigent-
lichen sogenannten grammatischen Formen.
Der beste Kaffee Arabiens.
Gifford Palgrave hat seinem lehrreichen Buch über
Centralarabien einige Bemerkungen über den Kaffee einverleibt,
welche mitgeteilt zu werden verdienen. In Europa wird die
edle Bohne vielfach mißhandelt, das Getränk schlecht zubereitet
und selbst in „guten Häusern" oftmals „ein barbarischer Saft"
bereitet. Mau versteht nicht, die geeignete Bohne auszuwählen,
und das Beste kommt ohnehin nicht nach Europa.
Es gibt bekanntlich sehr verschiedene Arten von Kaffee-
bohnen. Der allerbeste, — darüber, sagt Palgrave, wird jeder
wirkliche Kenner einverstanden sein — kommt ans dem arabischen
Jemen; er heißt Mokkakaffee nach dem bekannten Ausfuhr-
hafeu.
Aber wenig, blutwenig, ein Quantum, das kaum bemerk-
bar ist, kommt in die Gegenden, welche westlich von Konstan-
tinopel liegen. Arabien, Syrien und Aegypten verbrauchen
volle zwei Drittel des Mokka- oder Uemen-Kaffees, und das
letzte Drittel gelangt in die Hände von Türken und Armeniern,
die nicht einmal die beste oder reinste Waare bekommen. Denn
bevor dieselbe nach Alerandria, Beyrut, Jaffa und audere Häfeu
zur Weiterausfuhr gelangt, sind die Mokkaballen unterwegs
Bohne für Bohne untersucht werden. Jede einzelne, die hart,
rund , durchsichtig und grünlichbraun, also allein Werth ist ge-
rostet und gestampft zu werden, wird von den Fingern erfah-
rener Leute bet Seite gelegt, und zur Verschiffung uach Europa
^'langt was ubng bleibt, also eine mehr plattes dunklere, oft
ms Weißliche spielende Bohne.
cm D/eses Sortireu geschieht mit Bewußtsein und Methode.
Man hat Abstusungeu schon m Arabien selbst, und Palgrave ist
oftmals Augeuzeuge bei solchem Sortiren gewesen. Man ging
dabei mit der größten Sorgfalt zu Werke.
Der arabische Kaffee hat drei Ervortlinien: über das Rothe
Meer, das Innere Hedfchas und über Kasim; die erstcre führt
nach Aegypten, die zweite nach Syrien, die dritte nach dem
Nedsched und Dschebel Schammar. Von Arabien selbst abge-
sehen, erhalten die beiden erstgenannten Länder die beste Waare,
aber doch auch uur unter der eben betonten Beschränkung, und
über Alexandria und die syrischen Häfen bekommen dann Kon-
stantinopel und der Norden ihren „Mokkakaffee". Dieser ist
aber nur selten echt, außer wenn gute Bekannte und Geschäfts-
freunde sich einmal in der Lage 'sehen, das Allerbeste wirklich
liefern 31t können. Im gewöhnlichen Handelsverkehr findet in
den Magazinen der Küstenstädte fast allemal eine Verfälschung
uud Vermischung statt, und sehr oft ist das, was als echte
Mokkawaare aus den levantinischen Häfen nach Europa ver-
schifft wird, derselben so ähnlich, wie ein aus Brasilholz :c. ver-
fertigter „Wem" dem echten Oportogewächs.
'Die zweitbeste Sorte Kaffee, welche von Manchen dem
Mokka vorgezogen wird, wächst in Abysfinien. Die Beere
ist größer, hat ein etwas auderes Aussehen und ist weniger
erhitzend.' Sie verdient alles Lob und sie wird, wenn einmal
jenes Land der Ekvilisation und der Ordnung gewonnen werden
kann, eine große Zukunft haben.
Mit diesen beiden Sorten ist die Liste des Kasfee's 'ge-
schlössen; „alles Andere ist nur Bohne". In dritter Reihe
steht die Bohne Indiens, und mit ihr kann sich ein kleiner
Theil derjenigen messen, welche im ostarabischen Oman gewon-
neu wird. Diese beiden Sorten sind es, mit welchen alle
Kaffeetrinker von Dafar bis Basra, Bagdad und Mofnl fürlieb
nehmen müssen, also Araber, Perser, Türken, Kurden; sie alle
bekommen kein anderes Getränk. Wer den echten Mokkakaffee
nicht kennt, wird diese indische Bohne ganz leidlich, vielleicht
sogar ganz angenehm finden; Palgrave \ der im Nedsched das
allerbeste Getränk gekostet und zu würdigen gelernt hatte, fand
sie „kaum trinkbar". Die Bohne ist unregelmäßig, schwärzlich,
und ihr fehlt das halbtransparente alabastergleiche Ansehen, wel-
ches der echten?)emensorte eigen ist. Vielleicht kann man durch
sorgfältige Pflege der indischen Bohne eine Qualität geben,
durch welche sie'dem Mokka- oder doch wenigstens dem abyssi-
nifchen Kaffee näher konunt.
In der Meinung aller Orientalen nehmen die amerika-
nischen Kaffeesorten deu niedrigsten Rang ein. Der Java-
kaffee wird von Europäern gelobt. ' Im Nedsched geben
die Araber dem Kaffee oft einen Zusatz von Safran, Gewürz-
nelken und dergl.; sie thnn es, weil sie als Wahhabis keinen
Tabak rauchen dürfen.
Mac Jntyre's Expedition zur Aufsuchung von Lelch-
Hardts Spuren. Nachrichten aus Melbourne vom Ende Juni
melden, daß Mae Jntyre ani Darlingflusse damit beschäftigt
war, seine Karawane zu bilden; er wollte im Juli seine Reise
antreten, und Doctor Murray, der sich bei Howitts Erpe-
dition vortrefflich bewährt hat, wird ihn begleiten. Die Aus-
rüstung ist auf zwei Jahre berechnet; den sechs Weißen haben
sich zwei eingeborne Schwarze angeschlossen. Privatpersonen nnd
einige Colonialregierungen unterstützen das Unternehmen.
r. Der Nilschlamm. In einem Briese Mehedins an Du-
mas findet sich folgende die Anschwellung des Nils betreffende
Stelle, welche diese'Erfcheinung in interessanter Weise dem Leser
vorführt.
„Schon 50 Tage, im April und Mai, wehte der Cham sin,
der Wind der Wüste, über Aegypten; der Sand, den er mit sich
führte, verdunkelte den Himmel und bedeckte die Erde mit einer
leichten Decke, während der in den Flnß fallende Sand durch
seine Schwere zn Boden sank. In der Mitte des Juni trat
Windstille ein, dann begann der Nordwind mit wachsender
Stärke sich zu erheben. ' Er weht fast während des ganzen
Sommers, und es wäre schwierig, ohne ihn in dieser Jahreszeit
in Aegypten zu leben. Sollte diese Windrichtung Ursache der
Regenströme sein, die dann in Sudan und darüber hinaus
fallen? Ich glaube es nicht; immer aber ist es der Fall, daß
vom 1. Juli ' ab der Nil steigt nnd seine Farbe, die bisher
graugrün war, in erdigfahl bis ockergelb ändert. Das An-
schwellen ist unregelmäßig, der Fluß steigt mehr oder weniger
schnell und sinkt dann für kurze Zeit wieder.
Im Gegensatze zu allen Reifenden, welche den Winter zu
einer Stromauffahrt benutzen, schiffte ich mich am 5. Jnli in
Bonlak ein, erreichte deu zweiten Katarakt am 5. August und
kam am 10. September nach Theben, wo ich mich füv einige
Monate niederließ. Ich hatte dort Gelegenheit, die Anschwellung
des Flusses sehr genau zu beobachten und die bedeutenden land-
wirtschaftlichen Resultate dieses Phänomens schätzen zu lernen.
Dort habe ich auch einige Proben des Schlammes gesammelt.
Gegen den 30. September ist die Flut in ihrer größten
Höhe, und das Thal zwischen dem libyschen und arabischen
Bergzuge bietet den Anblick einer unendlichen Meerenge, über-
säet mit zahlreichen Inseln.
Im Oktober zieht das Wasser sich allmälig zurück, und
man sieht die Lage Schlamm auf dem Erdboden. Er bildet
eine mehr oder weniger dicke Kruste, je uach der Beschaffenheit
des Terrains; von der Sonne getrocknet, blättert er sich ab und
erhärtet au seiner der Wärme zugekehrten Seite. Die im Mai
des letzten Jahres von dem Chamsin über die Erde gebreitete
Sanddecke verhindert das Anhaften des Schlammes an dem
Boden des vergangenen Jahres. Ich zählte mehr als 500 dieser
Schlammdecken in ihrer chronologischeil Ordnung, denn — Dank
dem Wesen des Chamsins! der jährlich so regelmäßig sich ein-
stellt wie das Wachsen des Nils, — ich bemerkte wüste Einstürze
Aus allen Erdtheilen.
31
des Flußufers, welches blosgelegt einen merkwürdigen
Durchschnitt deutlich erkennbarer Allnvionsschich-
teu zeigte, in welchen ein jedes Jahr durch so klare Cha-
rattere verzeichnet ist, wie wir das Alter einer Eiche in ihren
Jahresringen erkennen.
Ich sammelte neben dem Schlamme des Erdbodens auch
ohne viele Schwierigkeit von dem Flusse während der Ueber-
lchwemtnung dahingerollte Substanzen, iudem ich in deu stärk-
sten Strom einen Eimer auswarf, der mir aus einer Tiefe von
10 bis 15 Meter Sand heraufbrachte. Nach verschiedenen Wer-
suchen bildet dieser Sand den Boden des Flusses und ist der-
selbe, welcheu der Chamsiu herbeiführt. Auf meiner Barke, wo
lch kein anderes Getränk hatte als das schmutzige Wasser, wel-
ches der Fluß mir bot, filtrirte ich dasselbe, um es trinkbarer
zu machen; es blieb der leichtere Theil des Schlammes zurück,
den man auf der Oberfläche des Nils findet."
Aus Abysfinien. Wir haben früher ausführlich erzählt,
daß König Theodor die Judenmissionäre Stern und Rosenthal
und den englischen Consul Cameron noch immer gefangen hält,
obwohl der englische Consularagent Rassam sich alle Mühe gege-
ben hat, die Befreiung derselben auszuwirken. Theodor'aut-
wortet auf keinen Brief; den neuesten Berichten aus dem Rothen
Meere zufolge (Juli) hat er seine Gefangenen in Magdala zu-
ruckgelassen und einen (nun den dritten) Kriegszug gegeu die
sudabyssinische Provinz Schoa unternommen, wahrscheinlich
gegen die Gallas. Rassam hatte einem Boten 60 Thaler gegc-
ben, um einen Brief an den gefangenen Consul zu überbringen;
dieser Bote wurde aber entdeckt und vor den König geführt, der
sofort befahl, ihm einen Fnß und eine Hand abzuhacken. Als
die Hand vom Arme getrennt worden war, besann sich der
„Kaiser von Aethiopieu" und ließ dem mißhandelten Menschen
1000 Dollars ausbezahlen;— an dieser letztem Angabe möchten
wir aber doch zweifeln.
Die Eisenbahnen in Ostindien. Ueber diese hat ein Herr
Danvers einen lehrreichen Bericht veröffentlicht, aus welchem
wir ersehen, daß das indische Bahnsystem eine immer größere
Ausdehnung gewinnt. Am 1. Januar 1864 waren 2519 Miles
für deu Verkehr eröffnet, 1865 schon 3I86V2 Miles; dazu sind
bis Mitte 1865 noch 218V2 Miles gekommen, so daß Indien
gegenwärtig 3401 Miles im Betriebe hat. Es stellt sich schon
jetzt als ein großer Nachtheil heraus, daß sie zumeist nur ein-
glasig sind, während der Verkehr steigt und ein zweites Geleise
sich als unbedingt nothwendig herausstellt. Für Englaud ist
der Bahnbau in Indien eine wichtige Erwerbsquelle. 1864
wurden in 233 Schiffen 102,318 Tous Bahumaterialieu, im
Werthe vou 1,018,164 Pf. St. nach Indien verschifft; die Fracht
stellte sich auf 164,528 Pf. St. Fast das ganze Kapital für den
Bau der indischen Eisenbahnen ist in England aufgebracht worden;
die Aktien sind in 29,303 Händen, während ganz Indien nur
777 Aktionäre zählt. Die Eingebornen wollen kein Geld an-
legen, das nur 5 Proeeut, obschon von der Regierung gewähr-
leistete Zinsen bringt; sie wollen 30 bis 50 und mehr Procent
machen; das ist so landesüblich, und wird bleiben, bis Indien
eur allgemeines Banksystem erhält; dann wird auch der Acker-
bau eiue gesundere Unterlage erhalten.
Man projektirt jetzt eine Bahn von Bombay durch
Eentraliudien, vermittelst welcher die großeu Linien: East
Jndian, Eastern Bengal, und die Caleutta und Southern Rail-
ways einen centralen Endpunkt in Caleutta gewinnen würden,
^luch andere Linien für Eentraliudien sind entworfen worden.
Im Ganzen beträgt das bisher in den indischen Bahnen ange-
Kapital 54,942,029 Pf. St.; die Nettoeinnahme betrug
1863 die Summe vou 690,834 Pf. St. und 1864 schon 915,077
-PI- St. Während der letztverflossenen 14 Jahre hat die Re-
Gerung an garantirten Zinsen 13,160,500 Pf. St. verausgabt
mo davon etwa 3 Millionen zurück erhalten, so daß eine Schuld
von etwa 10 Millionen bleibt.
dm r ! 9er' der Sold
?5n j'nd. Ein Brief
Sft) lagt: • ' ' - -
ruhen'und wCr ®tcidt laufen unablässig Berichte über Uu-
üben cmßciVvhP!Ätc" ein- Die heimgekehrten^Soldaten ver-
ntfich i_nci ünfng, aber auch das Volk ist der-
masfen verwildert, daß es ans Gewaltthaten und Scheußlichkeiten
nur mit geringem Abschen blickt. So haben jüngst die Soldaten
in Chicago, Jndianopolis, Coucord, St. Louis und manchen
anderen Städten schauderhaften Unfug getrieben, Waarenläden
ausgeraubt, Bürger ermordet und nicht nur das Auseheu der
bürgerlichen Behörden mißachtet, sondern dieselben lahm gelegt.
Im Schatzamte zu Washington sind wieder kolossale Betrügereien
entdeckt worden."
Ueber die Unruhen in Chicago, in welchen die biederen
„Freiheits- und Unionskämpfer" sich hervorthaten, lesen wir in
dem Wochenblatts des deutschen neuyorkerJouruals,
29. Jnli, Folgendes:
Am 21. Juli traten Soldaten vom 9. Jowaregiment in
eine Trinkstube, aus welcher bald darauf Revolverschüsse ertön-
ten. Dann eilten etwa 200 Mann mit Gewehren und Revol-
vern dorthin. Sie erfuhren, daß ein Soldat, der getrunken
hatte, vom Wirth zum Bezahlen aufgefordert wurde. Er gab
dem Wirth einen Schlag ins Gesicht, und dann entstand eine
Rauferei, in welcher der'Soldat wahrscheinlich vou einem seiner
Kameraden erschossen wurde. Nun feuerten die wüthenden Sol-
baten Schüsse in das Hans und drangen hinein, um den Wirth
gefangen zu nehmen uud zu häugeu; er war aber inzwischen
durch Polizeileute nach einem Stätionshause geschafft^ wordeu.
Die Soldaten zerstörten dann das Hans uud rissen dasselbe bis
auf die Mauern nieder. Die blutdürstige Rotte, welcher die
Polizei keinen Widerstand zu leisten wagte, zog dann nach dem
Stationshause uud verlangte die Auslieferung des Wirthes; sie
drohten _ die Polizeimannschaft zu ermorden und auch dieses
Haus niederzureißen, Mit aufgepflanztem Bayonnette und dem
Revolver in der Hand durchsuchteu sie das Haus; der Wirth
war aber schou auf einer Lokomotive aus der Stadt geschafft
worden, Die Polizeileute wnrden mit den Svitzen der Bayon-
nette dnrch das ganze Haus getrieben. Offiziere svielten bei
diesem Unfng eine' Hauptrolle. — Von Bestrafung ist, wie in
allen solchen Fällen, die täglich vorkommen, nie die Rede.
Das deutsche ueuyorker Journal ist ein ehrliches
Blatt, nicht in der Hand von Stellenjägern, einstigen rothen
Demagogen in Deutschland uud uuu im Uankeelande Preß-
lakaien der Aankee's, welche das Pnbliknm im alten Vaterlande
planmäßig belügen und jede Willkürmaßregel der ?)aukeeregie-
rung und die Gewalthaberschaft der verschiedenen Proconsulu
gut heißeu, beschönigen oder vertheidigen. Das neuyorker Journal
ist ein Blatt, das die Sache der (Zivilisation, der Freiheit und
der wahren Humanität vertritt und nicht dein rohen Nigger-
radikalismus verfallen ist, der mit philanthropisch klingenden
Redensarten, durch welche sich schwache Köpfe irre führen lassen,
die Unkultur, die Barbarei fördert und obendrein die armen
Neger der Vernichtung preisgibt.
Wir fügen folgenden Bericht bei:
„Hudson, Staat Neuyork, 26. Juli. Gestern wurde unsere
Stadt durch eine Schaar von Dieben und Raufbolden
heimgesucht, welche mit dem Damvfer von Albany kamen. Sie
verbreiteten sich über die ganze Stadt, trieben die Seilte aus
ihren Wohnuugen, raubten, stahlen und begiugen Brutalitäten
und Verbrechen aller Art, ohne daß man gegen ihr ver-
brecherisches Treiben einschritt. Im Ganzen wurden
nur 6 verhaftet und mit einer leichten Geldbuße belegt."
Folgende Thatsachen sind bezeichnend für die Zustände im
^ Lande der Freiheit": „Robert Brown von Wellsbnrgh,
ist von Wheeling nach Fort Delaware geschickt und zu ein-
jähriger Kerkerhaft verurtheilt worden, weil er Freude über
Lincolns Tod geäußert habe. — Raleigh, Nordcarolina,
15. Juli. General Rüg er hat deu Offizieren der ehemaligen
Südarmee befohlen, ihre conföderirten Knöpfe abzuschneiden.
Wer das nicht thut, dem läßt der Profoßmarschall sie abschnei-
den, und die Misscthäter werden verhaftet.
Die Wälder Canada's lieferten 1863 allein in den Re-
vieren am Ottawa und dessen Nebeuflüsseu 27 Mill. Kubikfuß
Holz; etwa 25,000 Arbeiter waren beschäftigt, um dasselbe zu
fällen uud für den Markt zu bearbeiten.
Die Küstenregion der Republik Bolivia. Dieser Staat
ist bei seiner Abtrennung von Peru in Bezug auf seine Grenze
am Meere entschieden beeinträchtigt werden, denn er hat an der
(Zw nur eiupit ksp* 9rtnSftvi(fi der Ataeamawuste, und sein ein-
am '.vccere entschieden beeinträchtigt weroen, ^ yui uu oer
See nur einen öden Landstrich der Ataeamawnste, und sein ein-
üger Hafen, Cobija, ist nicht einmal ein solcher, sondern nur
eine unsichere Rhede. Dazu kommt, daß die Republik Chile
32 Aus allen
Anspruch auf den Küsteustrich zwischen 23 itifö 25° 20' s, Br.
macht, und dort liegen die Merillones-Jnfeln, deren
Guanoreichthnm auf etwa zwei Millionen Tonnen geschätzt
wird (jede zu 20 Centnern). So lange die Grenzstreitigkeiten
nicht entschieden sind, muß derselbe unbenutzt bleiben. Das
ganze bolivianische Küstengebirge ist reich an Kupfer; an der
Nordgrenze der Republik, am Flusse Loa, hat man auch Gold
gefunden. Ron Paguica wird etwas Guano ausgeführt, er ist
aber vou geringer Beschaffenheit. In der Nähe von Calama,
etwa 34 deutsche Meilen von Cobija, liegt Kupfer in großer
Menge und stark silberhaltiges Blei, aber das Erz muß auf
Maulthieren durch eine Wüstenei geschafft werden, in welcher
auf einer Strecke von 20 Meilen kein Wasser gefunden wird.
Deshalb lohnt der Betrieb nicht, und ans demselben Grunde
müssen auch die großen Boraxfelder bei Ascotan am Fuße der
And es unbenutzt bleiben. Hätten £>ie südamerikanischen Repub-
liken auch nur einen Theil der Gelder, welche sie in Bürger-
kriegen und Revolutioueu bisher vergeudet haben, auf die
Herstellung vou Straßen verwandt, so würden sie längst zn
Wohlstand gekommen sein. In Bolivia denkt man jetzt an
Erleichterung des Transportes und hat wenigstens Pläne zu
Eisenbahnen entworfen. Den Einfuhr- und Ausfuhrhafen für
das nördliche Bolivia bildet die peruanische Stadt Arica; der
östliche Landestheil ist auf das Stromgebiet des Paraguay,
respective des La Plata angewiesen.
f. v. h. Zarathustra und Ormuzd. Der Name des
großen Propheten der Eranier, den wir gewöhnlich unter der
griechischen FormZoroaster (Zwqoccotqtis') kennen, lautet in der
Sprache, in welcher er selbst geredet, Zarathustra. Die heutigen
Anhänger des Propheten erklären den Namen nach der im
neuern Idiom sich vorfindenden Form Zarduscht oder Zartuscht
als „Goldstern". E. Burnouf deutet deu Namen: fulvos came-
los habens, während Nnd. Roth ihn als „Goldschmied" —
Hang als „der treffliche Lobsänger" erklärt. Der gelehrte
Orientalist der wiener Hofbibliothek und Doeent der allgemeinen
Sprachwissenschaft an der dortigen Universität, Dr. Friedrich
Müller, glaubt, daß, um den'Namen zu erklären, man ihn
einerseits in seine Elemente richtig zerlegen, andrerseits dnrch
passende Parallelen begreiflich zn rechtfertigen versuchen müsse.
Er gelangt zu dem Schlüsse, daß Burnoüfs Deutung die an-
nähernde sei und erklärt den Namen selbst als „muthige Kamecle
besitzend". Bezüglich der Eigenschaft „muthig" verweist er ans
Tarafah, Muallagah. S. 11. Auch über deu Namen des hoch-
sten Gottes der zarathustrischen Religion, des absolut guten
Prinzips derselben, stellt Müller interessante Untersuchungen an.
Bei uns lautet dieser Name gewöhnlich O rmu z d (griecH. &qo-
fn'adrji), in der neuern Form bei den Parsen Hormezd, in der
altern Forin aber und zwar in den Keilinschriften Auramazdä,
in den Zendbüchern meistens Ahurö-mazdäo. Auch hier sind
eine große Anzahl Erklärungen vorhanden, von denen aber nur
acht grammatisch möglich sind. Diese rednzirt Müller auf zwei,
von welchen ihm die Deutung „großer Weiser" die passendste
erscheint.
Das Eidsteddfod, die jährliche Zusammenkunft der Freunde
und Beförderer der wallisischen Sprache ist diesmal (1865) in
der Stadt Flint gefeiert worden. Um mehr Zug in die Sache
zn bringen und möglichst viele Freunde der keltischen Nationa-
lität herbeizuziehen, hatte man zwar „die alte uud herrliche
Svrache des Fürstenthums" auch jetzt zur Hauptsache gemacht,
aber auch ein Schützenfest in das Programm aufgenommen nnd
Preise für literarische Originalarbeiten ansgetheilt. Dazu kam
noch eine Ausstellung wallisischer Gewerbserzeugnisse „von in
Wales gestrickten wollenen Strümpfen bis zu'deu in Wales
geschnitzten Holzlöffeln". Man sieht, die kleinen, allmälig dem
Untergang entgegen reifenden Sprachen und Nationalitäten halten
und wehren sich, so lange es eben gehen will.
Erdöl in Galizien. Europa wird wohl bald in deu
Stand gesetzt werden, seinen Bedarf an Petroleum selber zu
befriedigen. Dieses jetzt so werthvolle und früher vernachlässigte
Produkt kommt in vielen Gegenden unsers Erdtheils vor, in
Italien z. B. am AbHange der Apenninen im Modenesischm
und Parmesanischen, in Frankreich bei Pezenas, in der Krim
Erdtheilen.
bei-Kertfch, sodann in einzelnen Theilen von Deutschland. Ueber
den Reichthum Galizieus an Eroöl haben wir schon früher
im „Globus" Notizen gebracht; jetzt finden wir in einem Bericht
aus Marseille manche neue Augaben. Ein dortiges Blatt, der
„Semaphore", weist darauf hin, daß täglich neue Quellen und
Becken entdeckt werden; die Geognosten stellen systematische Nach-
sorfchnngen an und kommen nach nnd nach ins Klare über die
geographische Bertheilung des Petroleums auf dem
Erdball (daß das Erdöl auch in Persien, im alten Babylonien,
am Kaspischeu Meer, iu China, in Hinterindien, in Venezuela
gefunden wird, abgesehen vou Nordamerika, wissen wir längst).
Zwischen den' beiden Petroleumbecken in Galizien und der
Moldan-Walachei findet ein Zusammenhang statt. Diese beiden
Oelregionen bilden, streng genommen, nur eine einzige, und sie
wird durch die Karpathen bezeichnet. Ich habe, sagt der Bericht-
erstatter, eine Reise dnrch Galizien gemacht, wo fast alle Tage
neue Funde vorkommen. Die Oertlichkeiten, wo man das Oel
entdeckt hat, grnppiren sich im Süden der Krakau-Lemberger
Bahn zwischen Sandeez im Westen, Drohobycz im Osten, Jasto
im Norden und Kamaneza im Süden. Eine sehr reichhaltige
Quelle ist ganz neuerlich (Juni 1865) bei Rzepedz angebohrt
worden; es werden aber gewiß bald viele andere nachfolgen,
denn bic Galizier haben jetzt das Oelfieber so gut wie' die
Amerikaner und bohren allenthalben, freilich zumeist iu sehr
roher Weise und ohne gute Werkzeuge; doch kommen jetzt schon
Ausländer mit Kapital und guten Geräthen, und so wird bald
Alles anders werden. Die bis jetzt bekannte Oelregion hat eine
Länge von etwa 25 und eine Breite von 6 bis 7 deutschen
Meilen, nahe an drei Millionen Morgen Flächeninhalt, und es
sind nur erst 25 Oelwerke vorhanden, die während der letztver-
slossenen drei Jahre entstanden. Die Oelregion zieht sich von
Drohobycz nach der Moldau hin. von Nordwest nach Südost,
durch die Bukowina. Aus der Bertheilung der Oelquelleu ergibt
sich, daß ein großer unterirdischer Spalt vorhanden
ist, welcher Europa etwa in der Linie von den
Mündungen der Oder bis zu jenen der Donau
durchzieht. Auf dieser Linie werden die Salzwerke von
Wieliezka, Bochnia, Stavasol, Drohobycz, Delatin und Solka
bearbeitet. Das letztere liegt in der Bukowina, unweit der
moldauischen Grenze, nnd dort kommt, wie in Drohobycz, Petro-
lenm neben dem Salze vor; bei Stavasol in Galizien ist das-
selbe der Fall. Meine Beobachtungen in Galizien führen mich
zu der Annahme, daß große unterirdische Reservoirs vorhanden
sind, welche vou den bituminösen Auswürfen, die tief aus dem
Innern der Erde kommen, Nahrnng erhalten. Da, wo Petro-
leum in jüngeren Formationen auftritt, wie in Galizien, liegt
es gewöhnlich 100 bis 150 Fuß tief.
Der Handelsverkehr Großbritanniens und Irlands 1864
ist beträchtlicher gewesen als iu irgend einem frühern Jahre.
Ungeachtet die Einfuhrzölle während der letztverflossenen sieben
Jahre beträchtliche Reduktionen erfahren haben, ergeben sich doch
für 1864 mehr als 24 Mill. Pf. St. Zolleinnahme. Je niedriger
die Zölle gesetzt wurden, um so größer war der Ertrag. Folgende
Ziffern reden deutlich genug:
Einfuhren. Ausfuhren.
1862 ... 225,700,000 Pf. St. . . . 166,100,000 Pf. St.
186» . . . 248,000,000 „ ... 196.900,000
1864 . . . 274,800,000 „ ... 212,600,000 „
Frankreich hat 1864 an Gold und Silber aus England
für 9,921,524 Pf. St. bezogen.
Die Einfuhren aus Amerika betrugen 1861 für 49,400,000
Pf. St., im Jahre 1864 nur 17,900,000 Pf. St.
Während der Wiedererp ort von ausländischen uud
Colonialgütern 1861 erst 34,529,684 Pf. St. betrug, war
derselbe 1864 auf die ungeheure Summe vou 52,240,240 Pf. St.
gestiegen.
Großbritannien bezog an Wein aus Spanien 7,770,887,
Portugal 3,344,871 und ans Frankreich nur 2,723,200 Gallonen.
Das schwere Getränk findet auf der nebligen Insel mehr Lieb-
Haber als das leichtere.
Die Abgaben von Rauch- und Schnupftabak in Groß-
britannieu haben für das Jahr vom 31. März 1864 bis dahin
1865 die ungeheure Summe vou 6,115,997 Pf. St. 16 Schill.
1 Penny abgeworfen.
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Berlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Aus Hermann Vamben/s Reife in Mittelasien.
.....- -......■ -
Wir haben erzählt, daß Vambery im Hause des tür-
kischen Gesandten zu Teheran eine Anzahl tatarischer Pilger
aus der chinesischen Bucharei kennen lernte und mit ihnen
die Reise nach Chiwa und Buchara antrat. Sie hatten
ihm ehrlich und offen gesagt, daß ihre Landsleute daheim
mals bedrohte Lebeu gerettet und ihn auch sonst aus miß-
ließen Lagen befreit.
Der angesehenste unter den Pilgern war Hadschi
Bilal. Er stellte nnsern Derwisch seinen Landsleuten aus
Aksn, Barkend und Kaschgar vor, Menschen, die eher gräßlich
Ein persischer Sklav bei dcn Turkoinauen. (Nach einer Zeichnung von Nambery,)
an Erfahrung und Weltkenntnis weit hinter ihnen zurück-
ständen, und daß, trotz aller Gastfreundschaft, ein er-
äug weiter Ferne von ihnen mit Mißtrauen angesehen
^verde. Aber die Pilger nahmen den vermeintlichen Der-
gern als Reisegefährten an; die Häupter derselben
umarmten und küßten ihn. Auch versprachen ste dem
türkischen Gesandten, dem Reisenden, der ja cht fefeitbt, cm
Beamter des Sultans sei, die Treue zu bewahren. Und ste
haben in ehrenhafter Weise Wort gehalten, ihm das mehr-
Globus IX. Nr. 2
entstellten Landstreichern als Wallfahrern glichen. Jener
war in seinem Land ein angesehener Mann und hatte zwei
Adoptivsöhne bei sich; unter seinen Gefährten befanden
sich Hadschi Justus, ein chinesisch-tatarischer Bauer, mit
einem erst zehnjährigen Neffen; diese Leute galten für reich,
denn ste hatten noch 89 Dukaten Geld. Dazu kamen ein
armer Mollah, der weiter nichts besaß als einen Bettelstab;
ein Bettler von Professton, Hadschi Jakub, dessen Vater
auch Bettler gewesen war; ein junger Mann, Hadschi
34 Aus Hermann Vambery
Haan, dessen Vater während der Reise gestorben war;
sodann ein kränkliches Kind von 14 Jahren, welchem bei
Hamadan die Füße im Schnee erfroren waren, und mehrere
andere dergleichen Leute, z. B. ein junger Schwärmer aus
Kaschgar, dessen Vater ein Heiliger und zugleich Dichter
gewesen war; Hadschi Ahmed, der einst als Soldat in
einem Mnsketierregimente des Kaisers von China gedient
hatte; sodann auch Hadschi Abdul Kader, der eiu Metsch-
sub war, d. h. ein von der Liebe zu Gott Hiu-
gerissener. Wenn ein solcher zweitausendmal Allah!
gerufen hat, tritt ihm der Schaum aus dem Munde und
der Mann geräth in den „allerseligsten Zustand", d. her-
bekommt epileptische Zufälle. Noch eiu Pilger, Nur
Mehemmed, Kaufmann ans dem Chanate Ehokand, war
zum zweiten Mal in Mekka gewesen, und zwar als Stell-
Vertreter eines andern, der ihn dafür bezahlte. Auch in
christlichen Ländern ist es üblich, daß Kranke oder solche,
welche verhindert sind, zu irgend einem wundertätigen
Bilde zu wallfahrten, Stellvertreter schicken, dergleichen
auch immer für gutes Geld zu haben sind.
Eine wunderliche Gefellschaft von 24 Leuten! Im
Karawauserai zu Teheran bewohnten sie zwei kleine Zellen,
je zu 10 und 14 Personen. Vambery machte ihnen in
den eleuden, schmutzigen Löchern einen Besuch. Die meisten
waren auf den Bettelstab angewiesen und Ungeziefer hatten
sie in Hülle und Fülle. „Ich fand sie bei einer Beschäs-
tigung, mil deren Beschreibung ich dem Leser kernen Wider-
willen verursachen möchte, zu der aber ich selber späterhin
auch gezwungen war. Sie empfingen mich herzlich und
bereiteten mir grünen Thee; es war aber für mich eine
Höllenpein, eine große bnchariotifche Schale mit diesem
grünlichen Wasser ohne Zucker austrinken zu müssen; ja,
man war noch gnädiger und wollte mir eine zweite geben,
doch bat ich um Entschuldigung. Ich umarmte meine Ge-
fährten, wurde von ihnen als Bruder angesehen uub auch
so benannt. Nachdem ich mit Jedem Brot gebrochen hatte,
setzten wir uns in einen Kreis und berietheu über den Weg,
welchen wir eiuschlageu sollten."
Als die Pilgerkarawane Teheran iin Rücken hatte und
an den Abhängen des Elbursgebirges hinzog, waren Alle
heiter, weil sie nun bald aus dem Lande der schiitischen
persischen Ketzer herauskommen und dann unter Stammes-
und Glaubeusgenossen, nämlich sunnitischen Turkomanen,
recht gemüthlich leben könnten. Hadschi Bilal sprach sein
Bedauern darüber aus, daß die schöne, frnchtbare Provinz
Masenderan in den Händen von Ketzern sei. Es ist, sprach
er, sonderbar, daß alle schönen Gegenden der Welt in die
Hände von Ungläubigen gerathen sind. Nicht umsonst sagt
der Prophet: „Diese Welt ist das Gesängniß der Glan-
bigen und das Paradies der Ungläubigen." In Hindnstan
regieren die Jngilis, Rußland ist fehr schön und Frengistau
ein Paradies.
Die Karawane gelangte nach Karatepe an der Bucht
von Asterabad, wo Vambery im Hanse des Afghanen Nur
Ullah ein Unterkommen fand; er wurde mit Verdacht au-
gesehen; aber Bilal sagte deu Leuten: allerdings sei der
Fremde einst Efendi des großen Sultans gewesen, habe sich
jedoch iu Folge göttlicher Eingebungen von der trügerischen
Welt zurückgezogen und sei nur mit Siaret, d. h. dem
Wallfahren zu deu Gräbern der Heiligen beschäftigt. Da-
mit mußten die Zweifler sich zufrieden geben, denn der
wahre Muselmann darf nicht zweifeln, wenn er von
Jlham, göttlicher Begeisterung oder Eingebung, hört.
Von der Spitze des „schwarzen Hügels", denn das
bedeutet Karatepe, hatte Vambery den ersten Blick auf den
Kaspischeu See, aber nur auf das sogenannte Todte Meer,
's Reise in Mittelasien,
welches von der bei Aschnra endenden Landzunge einge-
schlössen ist. Zwei Tage nachher sand die Einschiffung statt.
Jeder Pilger hatte nun außer seinem Bettelranzen auch
noch einen Mehlsack. Man bestieg einen ausgehöhlten
Baumstamm und gelangte in demselben bis zum Schiffe,
das wegen des seichten Wassers wohl eine halbe Stunde
weit vom Ufer vor Anker lag. Der fchmale Baum, über-
füllt mit Menschen, Mehlsäcken k. in buntestem Wirrwarr,
drohte jedeu Augenblick zu sinken. Das Schiff war ein
Keseboy, d. h. hatte einen Mast, ein großes und ein
kleines Segel, war ein Last - oder Frachtfahrzeug; die schnell-
fahrenden Schiffe der Turkomanen, die Kajnks, werden
auf Raubzügen gebraucht. Das Keseboy hatte kein Deck;
es ging am 10. April 1862 unter Segel und fuhr zunächst
nach Aschnra, dem südlichsten Punkt der russischen Be-
sitzungen in diesen Regionen; ihn nahmen die Russen, um
von hier aus den Zügen der tnrkomanischen Seeräuber zu
steuern. Vambery sah dort einige Kriegsdampfer liegen,
ohne welche weder die in der Stadt wohnenden Russen noch
die aus Astrachan kommenden Segelschiffe sicher wären.
Auf offener See haben sie nichts zu befürchten, wohl aber,
wenn sie sich der Küste nähern; dann schützt sie ein Dampfer.
Abertrotz aller Wachsamkeit werden doch manchmal nnglück-
liche Perser, dann auch sogar russische Matrosen in Ketten
nach Gömüschtepe geschleppt. Die russischen Fahrzeuge
durchkreuzen unablässig bei Tag und Nacht die tnrkomani-
schen Gewässer; jeder turkomauische Nacheu, der sich von
der Ostküste nach dein südlichen persischen Ufer begeben
will, muß einen Paß haben, der auf ein Jahr ausgestellt
wird und in Aschnra vorgezeigt werden muß; hier unter-
sucht man auch das Schiff, ob Waffeu, Eontrebande uud
Gesangeue an Bord sind. Die Russen verfahren mit der
nöthigen Strenge, befolgen aber auch eine zweckmäßige
Politik, indem sie sich bemühen, einige Stämme freundlich
zu sich heranzuziehen, um einen gegen den andern gebrau-
chen zu können. Vambery sah in Aschnra einen Hänpt-
ling aus dem Stamme Gasilikör, der schon seit 30 Jahren
als Admiral (Derjabegi) im Dienste der Russen stand und
monatlich 40 Dukaten Sold bezog. Er bewohnte ein Zelt
inmitten einer halbeuropäischen Colonie; sein Amt war,
durch seinen Einfluß auf die Turkomanen Raubzüge zu
verhindern oder von denselben Kunde zu geben.
Die Fahrt von Aschnra über den südöstlichen Winkel
des Kaspischen Meeres fand ohne Unfall statt. Die Küste
ist so seicht, daß das kleine Schiff anderthalb englische
Meilen vor der Mundung des Görgeu ankern mußte.
An beiden Ufern dieses Flusses liegt der Ort Gömüsch-
tepe in Gestalt einiger hundert kolossaler Bienenkörbe.
Dort wurden die Hadschis sehr freundlich aufgeuom-
men und Vambery von Ehandfchan, einem angesehenen
Manne, gastlich empfangen. Weiber, Kinder und Hunde
eilten herbei, um die Pilger zu seheu und durch eiue Um-
armung an dem göttlichen Gebote und dem Verdienste der
Pilgerfahrt sich zu betheiligen. Vambery war von dem
ganz neuen Bilde mittelasiatischen Lebens höchlich über-
rascht; er Wichte nicht, ob er zuerst die sonderbar gebauten
Filzzelte oder die Frauen betrachten sollte, deren rothseidene
Hemden bis aus die Knöchel hinabreichten. Jung und Alt
wollte die Hadschis berühren, auf denen noch der heilige
Staub von Mekka und Medina ruhte, und der Mann aus
Ungarn war nicht wenig betroffen, als die allerfchönsten
Weiber und Mädchen ihn umarmten.
Die Pilger zogeu dann vor das Zelt des Ober-
Jschans (Priesters). Jeder Tnrkomane wollte Pilger
bewirthen; die Gastfreundschaft dieser Nomaden war
grenzenlos. Die Weiber zankten sich, um Hadschis ins
Aus Hermann Vambery's Reise in Mittelasien.
35
Zelt zu bekommen, und Chandschan mußte am Ende eiue
Verkeilung vornehmen; Bilal und Vambery nahm er in
seine eigene Behausung. Er gab ihnen em besonderes
Zelt, das unweit vom Ufer des Görgen stand. Die Pilger
gingen, wie es sich gebührt, zweimal um dasselbe herum
und spuckten nach allen vier Himmelsgegenden aus; dann
erst traten sie ein. Abends brachte ein Sohn Chandschans
das Nachtessen, das aus gesottenen Fischen und saurer Milch
bestaud; eiu mit schweren Ketten belasteter persischer Sklav
trug die Schüsseln.
So war also Vambery in einem Zelte der Iomuten,
die einen mächtigen Stamm unter den Turkomanen bilden.
In der Tschatna (dem Zelte) befand er sich Wohl. Nun
legte er auch, auf Bilals Rath, den Charakter eines Efendi
ab und wurde mit Leib und Seele Derwisch, damit er
Fatiha, Segen, austheilen könne. „Theile ihn aus und
schneide eiu frommes Gesicht, auch Nefes (den heiligen
Hauch) kannst Du geben, wenn Du zu Kranken gerufeu
bist. Nur vergiß uie, zugleich Dciuc Haud auszustrecken,
denn die Leute wissen, daß wir von frommen Handlungen
leben müssen und geben gern eine Kleinigkeit."
Chandschan sagte den Pilgern, daß sie einige Wochen
in Gömüschtepe würden verweilen müssen, bis eiue Kara-
waue nach Chiwa abgehe. Vambery übte sich im prak-
tischen Gebrauche der turkomanischen Sprache, besuchte die
Zelte, spendete Segen und schloß sich dein Hadschi Salih
au, der für einen Arzt galt und Medicamente austheilte.
Auch machte er die Bekauutschast eines turkomanischen
Gelehrten, der in Buchara studirt hatte. Als man sich
über die weiße Gesichtsfarbe des Derwisches aus Rum
(der europäischen Türkei) wunderte, sprach der Gelehrte,
dies sei das wahre Nür ül Islam, das Licht des Islam,
welches aus dem Antlitze strahle; so göttlichen Segens
erfreuten sich nur die Gläubigen des Abeudlaudes. Vam-
bery überzeugte sich bald, daß nur die Schriftgelehrten
Einfluß auf das unbändige Volk ausüben, und jener der
Akfakale (Granbärte) bei weitem geringer ist.
Mit dem Gelehrten Kisil Achond machte Vambery
einen Ausflug zu den Atabeg, einem östlichen Stamm
der Jomuten, uud dann auch zu den Göklen-Tur-
komauen. Dabei fand er Gelegenheit, einen großen
Theil der Mauer zu sehen, welche Alexander der
Große gegen die Nomaden der Wüste hatte aufführen
lassen. Sie läuft auf deu höchsten Stellen des Bodens
hin, und die Nähe der Mauertrümmer bildet noch immer,
zu allen Jahreszeiten, den sichersten Weg; auch liegen dort
überall Zeltgruppen. „Das westliche Ende habe ich nicht
feheu können; östlich glaube ich deu Ausgangspunkt an
zwei Stellen entdeckt zu haben: den einen nordöstlich von
Gömüschtepe, wo größere Festungsruinen dicht am Meeres-
nfer den Anfang bezeichnen; den zweiten ungefähr 20 eng-
tische Meilen südlich vom Flusse Etrek, auch nahe am
Meere. Beide Linien vereinigen sich etwas höher über
vem Altin Tokmak. Die von Gömüschtepe ausgehende
^nie habe ich zwei Tage lang in einer Entfernung von
^geographischen Meilen von West gegen Nordost genau
verfolgen können. Sie ist an einer Erhebung, oft von
~ bis 8 Fuß, zu erkennen, je nachdem die Beschaffenheit
Cs Bodens zur Verschüttung der Ueberreste beigetragen
Z1 • Das Ganze bietet so ziemlich den Anblick einer
iuu?CU ^)6uzenlinie, aus deren Mitte sich in Entser-
Tbüvn! ^Dn 'e 1000 Schritt die Gruudruinen ehemaliger
üemlirff rl1,eI)en' diese sind sich in den Dimensionen so
Manei 5,,^° Außerdem siebt man in der Richtung dieser
hausen Hab-? ÜÄ'Von d-n kl-in-nn Erd-
>-le Turkomanen mehre geöffnet, und m
einem „viereckigen Gebäude" hat man einen kolossalen,
papierdünnen Tops gefuudeu, der eine bläuliche Asche,
einige Goldmünzen und andere Kleinodien enthielt. Man
nennt deshalb die ganze Gegend, einschließlich der Mauer,
Kisil Alan, den Geldnehmer. Uebrigens müssen diese
Erhöhungen von den Joska unterschieden werden, d. h.
Hügeln, welche die Turkomanen zu Ehren ihrer großen
Todten aufwerfen."
Die Pilger allesammt machten bei den Turkomanen
sehr gute Geschäfte, wurden aber doch sofort dieser Leute
überdrüssig und mochten bald gar nicht mehr mit ansehen,
wie abscheulich grausam die persischen Sklaven behan-
delt wurden. Es ist wahr, so sagten die Tataren, daß sie
schiitische Ketzer sind, deren Landsleute uns auf der Durch-
reise sehr arg geplagt haben; aber was diese Armen hier
ausstehen, ist doch zu viel. Sie fluchten gegen die Un-
Menschlichkeit der turkomanischen Karaktschi, d. h. Rän-
ber. Man stelle sich nur vor, schreibt Vambery, wie einem
Perser zu Muthe sein mag, wenn er durch einen nächtlichen
Ueberfall aus dem Kreise seiner Familie geraubt, oft noch
schwer verwundet und als Gefangener nach Gömüschtepe
gebracht wird. Statt seiner Kleider erhält er alte turkoma-
nische Lumpen und wird mit schweren Ketten belastet, welche
ihm die Knöchel wund reiben und bei jedem Schritte heftige
Schmerzen verursachen. Die ersten Tage und oft Wochen
lang muß er sich bei solcher Behandlung mit der schlechtesten
Nahrung behelfen, und damit er nicht versuche, bei Nacht
zu entfliehen, legt man ihm die Karabogra an, einen
eisernen Halsring, der mit einer Kette an einen Pfahl
befestigt wird und durch ein Gerassel die leiseste Bewegung
verräth. Seine Qualen erreichen nur eiu Ende, wenn er
von den Seinigen ausgelöst oder als Sklav nach Chiwa
oder Buchara verkauft wird.
Vambery konnte sich nie an das Kettengerafscl gewöh-
nen, das unter dem Zelt eines jeden Turkomanen erklingt,
welcher nur einigermaßen Anspruch auf Ansehen macht.
Auch sein Freund Chaudschau hatte zwei junge persische
Sklaven, deren Schicksal unfern Reifenden jammerte. Aber
öffentlich mußte er diese Unglücklichen beschimpfen und
ihnen fluchen, denn die kleinste Mitleidsbezeigung hätte
gegen ihn Verdacht erregen können; ohnehin wurde er am
meisten von ihnen angeredet, weil er der persischen Sprache
kundig war.
„Der jüngste unserer Haussklaven, ein schöner, schwarz-
lockiger Jranier, bat mich, für ihn einen Brief an seine
Eltern zu schreiben; sie möchten um Gotteswillen Schafe
und Hans verkaufen, um ihn auszulösen. Ich schrieb
den Brief. Einmal glaubte ich, ohne überrascht zu werden,
ihm eine Schale Thee geben zu können; als er aber seine
Hand nach meiner Gabe ausstreckte, trat unglücklicherweise
Jemand ins Zelt. Ich stellte mich daher, als ob ich ihn
bloß necken wolle, und statt des Thees mußte ich ihm
einige leichte Hiebe geben. Während meines Aufenthalts
iu Gömüschtepe verging keine Nacht, ohne daß Schüsse
vom Meeresufer her ein mit Beute zurückkehrendes Boot
anzeigten. Ich ging dann Morgens hin, um vou deu
Helden den, einem Derwisch gebührenden Zehnten zu
fordern, eigentlich aber nur, um die armen Perser im
ersten Moment ihres Unglücks zu sehen, und mein Herz
blutete bei dem schrecklichen Anblick." So mußte Vambery
sich langsam gewöhnen an schroffe Gegensätze von Tu-
genden und Lastern, von Menschenliebe und Tyrannei, von
skrupulöser Redlichkeit und abgefeimter Schurkerei, die im
Orient überall, am meisten aber in Mittelasien anzutreffen
sind, „und vorzüglich dort, wo der Islam, dieses schreckliche
Gift des socialen Lebens, den Samen seiner falschen Civi-
5*
Aus Hermann Vambery's Reise in Mittelasien.
lisation ausgestreut hat. Die nichtmuselmännischen No-
maden dagegen sind die besten Menschen von der Welt."
„Ja, staunenswert!) ist der Einfluß, welchen Religion
und Geschichte auf die Menschen ausüben. Lachen muß ich,
wenn es mir einfällt, daß eben diese grausamen, unmensch-
lichen Turkomaueu es waren, die jeden Augenblick ein
Lillah, d. h. ein Gastmahl zu frommen Zwecken gaben,
bei welchem dann die ganze Pilgergesellschaft sich einfinden
mußte." Solche Einladungen wiederholten sich mehrmals
am Tage, u. wenn
Vambery sich ent-
schuldigen wollte,
zwang ihn der Ein-
ladende durch Rip-
penstöße, sein Zelt
zu verlassen; denn
die turkomauische
Etikette lautet: je
derber die Stöße,
desto herzlicher die
Einladung. Man
warf vor das Zelt
des Gastgebers
einige Filzdecken
oder einen Teppich
hin, jede einzelne
Gruppe bekam
eiue große höl-
zerne Schüssel, die
je uach der Zahl
und dem Alter der
Mitessenden ge-
füllt war; in diese
fuhr jeder mit weit
geöffneter Hand
hinein. Pferde-
und Kameelfleifch
war an der Tages-
ordnuug.
Nach einem
Aufenthalte von
drei Wochen ver-
ließ V a m b e r y
Gömüfchtepe. Er
lernte dort noch
zwei eigenthüm-
liche Charaktere
kennen. Der eine
war Jlias Bey,
ein Kameelvermie-
ther, aus Chiwa
gebürtig und vom
Stamme der Jo-
mnt-Turkomanen.
Dieser Mann
machte einmal Eine innge Turkomanin im Puh-
jährlich eine Ge-
schäftsreife und stand zu Gömüschtepe unter dem Schutze
Chaudfchaus; ohne solchen wäre er eben so wenig sicher
gewesen wie andere Fremde. Er sollte Führer der Kara-
wane sein, und Chandschan empfahl ihm die Pilger ange-
legentlich, indem er zum Schluß die Worte sprach:
„Jlias, Du wirst mir mit Deinem Leben bürgen."
Jlias schlug die Augen zu Boden, was Brauch beiden
Nomaden ist, wenn sie ganz besonders ernst erscheinen und
sprach ganz gleichgültig, leise und kaum die Lippen
bewegend weiter nichts als: „Du kennst mich schon."
Dann wurde der Miethpreis vou je 2 Dukaten für ein
Kameel im Voraus bezahlt, Hadfchi Bilal sprach eine
Segensformel, und Jlias strich mit der Hand durch seinen
dünnen Bart. Nun war Alles in der besten Ordnung.
Zum Sammelplatz der Karawane war ein Punkt am
Flusse Etrek bestimmt; dieser Name wird auch auf die
Ufergegeudeu ausgedehnt. Er ist bei den Bewohnern der
persischen Provinzen Masenderan und Taberistan das
größte Schreckens-
wort, weil fo viele
Unglückliche dort-
hin in die Sklave-
rei geschleppt wer-
den. Dort hauste
der Räuberhaupt-
mann, der Pir
der Karaktschi.
Er hießKulchan,
und ihmwarVam-
bery ganz beson-
ders empfohlen.
Der alte Sünder
hatte ein düsteres,
abschreckendes
Aussehen und be-
gegnete demFrem-
den, während ihm
derselbe als Gast
übergeben wurde,
gar nicht freund-
lich. Er forschte
lange in Vambe-
ry's Zügen und
flüsterte dann und
wann Chandschan
etwas ins Ohr.
Der Reisende be-
griff bald die Ur-
fache des Miß-
tremens. Kulchau
hatte nämlich in
seiner Jugend mit
dem oben erwähn-
ten, in russischen
Diensten stehen-
den „Admiral"
Chidr Chan Ruß-
land bereist, sich
in Tistis längere
Zeit aufgehalten
und war mit dem
europäischen Leben
ziemlich vertraut.
Er habe, sagte er,
(Nach einer Zeichnung von Vambery.) viele Nationen ge-
sehen, nur nicht
die Osmanlis; doch sei ihm zu Ohren gekommen, daß sie
als Stammverwandte der Turkomanen diesen auch ganz
ähnlich sähen; an dem Derwisch finde er das aber nicht.
Hadfchi Bilal wußte iudeß derartige Bedenken hinweg zu
räumen.
Kulchan erklärte, daß er am zweitfolgenden Tage von
Gömüschtepe nach Etrek gehen werde, und man^möge sich
reisefertig halten; er werde nur fo lange bleiben* bis fein
Sohn von der Alaman (dem Raubzuge) zurückkomme; er
Aus Hermann Vambery's Reise in Mittelasien,
37
sei eben an der persischen Grenze, um von dort einige
Stuten zu holen. Er forderte die Pilger aus, an: andern
Tag einen Gang am uutcrn Ufer des Görgen zu machen;
dort sei etwas Erfreuliches zu sehen, weil etwa um Mittag
die Alaman zurückkommen werde. In der That langten
am jenseitigen Ufer acht berittene Turkomanen an; sie
führten zehn nngesattelte Pferde mit sich und wurden nicht
etwa mit lautem Zurufe begrüßt, sondern alle Anwesenden
verhielten sich still. Man maß mit gierigen Blicken und
stummem Bewun-
dern die Ankom-
Menden, welche
über den Görgen
setzten und dann
mit nnbeschreibli-
chem Ernste ihren
Verwandten und
Freunden die Hand
reichten. Während
die Alten mit gro-
ßer Aufmerksaui-
keit die Beute niu-
sterten, waren die
jungen Helden da-
mit beschäftigt,
ihren Anzug iu
Ordnung zu brin-
gen.
Der Anblick
des ganzen Schau-
spiels war eiu
herrlicher. „Wie
sehr ich auch die
Räuber u. ihr ab-
scheuliches Haud-
werk verachtete,
mein Auge hing
dennoch mit be-
sonderen: Wohlge-
fallen an diesen
Leuten,
in ihrem
Reiteran-
mit ihren
Blicken u.
mit ihren auf die
Brust herabfallen-
den blonden
Locken von Jeder-
mann bewundert
wurden, als sie
ihre Waffen ab-
legten. Auch der
finstere Kulchau
schien aufgeheitert
Zusein; er machte
uns mit seinem
Sohlte bekannt,
lungen
welche
kurzen
Zuge,
Der tatarische Pilger Hadschi Bilal. (Nach einer Zeichnung von Vambery)
und Hadschi Bilal segnete denselben.
. Das Land der Tmkomcum Epischen Meer m
emen ausgedehnten Raum ein, ^n . ^
Westen bis nach Buchara nn Osten, < unter-
persische Chorassan und die von..den m*™; ^
worfenen türkisianischen Chanate die ^mze.
stc an den Flüssen Oxus, Murgab, ^ \ ,
und Etrek; sie sind recht eigentlich ein Volk der Wüste,
und niemals zu einer Gesammtnation vereinigt gewesen.
Ihre Hauptabtheilungen bezeichnen sie als Chalk (ara-
bisch, Leute, Volk), und solcher Chalks gibt es neun.
Jeder Chalk (wir können denselben als Stamm bezeichnen)
zerfällt in einzelne Taife, d. h. Horden, und jede
Horde in Tire, d. h. Bruchstück; wir können sagen
Sippe oder Clan.
Vambery gerieth mit Leuten von drei Chalks in nähere
Berührung: den
Tekke, Göklen und
Jomuts.
Die Tekke
sind der mächtigste
Stamm unter al-
len Turkomanen,
haben die Region
am Tedschend und
Murgab inne und
zählen beinahe
60,000 Zelte.
„Sie^sind "gleich-
'sam von der Na-
tur selbst zum
Raube gezwungen
und eine wahre
Gottesgeißel für
die nordöstlichen
Theile Persiens
und fürHerat und
dessen Umgebuu-
gen." DieGök-
len, am obern
Görgen und Etrek,
sind, vergleich-
weise, die fried-
lichsten und am
wenigsten uncivi-
lisirteu Turkoma-
nen; ihre 10 Hör-
den sollen etwa
10,000 Zelte zäh-
len. Die Jomuts
bewohnen die öst-
lichen Ufer und
einige Inseln des
Kaspischen Mee-
res. Das oben
mehrfach erwähnte
Gömüfchtepe ist
eines ihrer Win-
terquartiere; im
Sommer wird die-
fer Platz stark von
Fiebern heimge-
sucht. Dieser
Stamm soll 40 bis
50,000 Zelte zählen. Vambery rechnet für alle 9 Turko-
manen-Chalks ungefähr 196,500Zelte heraus und nimmt
für jedes 5 Seelen an. Somit erhielten wir 982,500
Köpfe; „diese Zahl muß aber als Minimum betrachtet
werden".
Der Reisende konnte unter den Turkomanen keinen
entdecken, der befehlen, und keinen, der gehorchen wollte.
Sie sagen von sich selbst: „Wir sind ein Volk ohne
Kopf; wir wollen anch keinen haben; wir sind
38
Aus Hermann Vambery's Reise in Mittelasien,
Alle gleich; bei uns ist Jedermann König." Bei
anderen Nomaden findet man mitunter einen Schatten von
Regierung, z. B. bei den Türken in der Person der Aksa-
kale, bei den Persern in jener der Risch Sefid, der
Araber hat seinen Scheich; aber bei den Turkomanen ist
von alledem auch nicht eine Spur vorhanden. Die
Stämme haben Wohl ihre Aksakale, Graubärte, und diese
haben Ansehen bis zu einem gewissen Grade; aber man
liebt und duldet sie nur so lange, als sie ihre Suprematie
nicht durch beson-
dere Befehle und
durch Großthun
zu erkennen ge-
ben. Aber trotz
dieser scheinbaren
Anarchie u. Wild-
heit kommt, so
lange kein Krieg
ist, weniger Raub
und Mord, wem-
ger Ungerechtigkeit
und Unsittlichkeit
vor, als unter den
übrigen Völkern
Ccutralasiens.
„Die Bewoh-
uer der Wüste wer-
den von einem al-
teu und mächtigen
Könige beherrscht,
ja oft tyrannisirt,
der ihnen selbst
unsichtbar ist, den
wir aber als D e b,
d. h. S i t t e,
ü b e r k o m m euer
Brauch erkennen.
Der Deb wird auf
das Allerstrengste
befolgt." Die Re-
ligion hat daneben
bei weitem nicht
den Einfluß, wel-
che« man ihr
gewöhnlich zu-
schreibt. DerTur-
komane raubt und
verkauft uicht etwa
deu Perser, weil
dieser ciu ketzeri-
scher Schiit ist;
Vambery ist fest
überzeugt, daß er
auch sunnitische
Nachbarn in glei-
cher Weise behan-
deln würde; auch
unternimmt er ja oftmals Raubzüge in das Gebiet von
Afghanistan, Maymene nnd Chiwa, die doch sunnitisch sind,
und ein großer Theil der Sklaven in Mittelasien gehört der
sunnitischen Sekte an. „Ich fragte einst einen durch
seine Frömmigkeit berühmten Räuber, wie er denn
seinen sunnitischen Religionsbruder als Sklaven verkaufen
könne; habe doch der Prophet befohlen: Knlli Islam
hnrre, d. h. jeder Muselmann ist frei. Mit großer
Gleichgültigkeit entgegnete der Mann: Der Koran, das
Buch Gottes, ist gewiß edler als der Mensch, und doch kauft
und verkauft man es für einige Goldstücke. Ja, was
willst Du mehr? Joseph, der Sohn Jaknbs, war ein
Prophet und ist auch verkauft worden. Hat ihm das etwas
geschadet?"
Der Deb ist, wie gesagt, mächtiger als der Islam.
Dieser hat bei allen Nomaden Mittelasiens nur die
äußere Form der alten Religionverändert. Was früher
Sonne, Feuer und andere Naturerscheinungen
waren, das ist
heute Allah u.
Mohammed ge-
worden. In-
nerlich ist aber
der Nomade
immer berf elbe
wie vor mehren
tausend Iah-
ren. Seiu Cha-
rakter könnte sich
nur verändern,
wenn er sein leich-
tes Zelt mit dem
schwerfälligen
Hanfe vertauschen,
also aufhören
würde, Nomade zu
sein.
Der Stamm
uud die eiuzelueu
Abtheilungen des-
selben halten fest
zusammen, und
darin liegt vor-
zugsweise das ge-
sellschaftliche Bin-
demittel. Schon
Kinder, die erst
vier Jahre alt
sind, wissen, zu
welcher Taife und
Tire sie gehören
uud sind stolz auf
ihre Sippe.
Die „Türk-
manen od. Türk-
men" (Türk ist
der Eigenname,
inen ein Snffi-
rnm, — thum oder
schaft, also Tür-
kenthum, indem
diese Nomaden sich
vorzugsweise als
Türken bezeich-
neu) sind tatari-
schen Ursprungs;
sie haben aber den reinen Rassentypus nur da bewahrt, wo
sie nicht stark mit iranischem Blute vermischt sind. Bei
den drei obengenannten Stämmen findet man rein tata-
rischePhysiognomien nur bei jeueu Sippen, welche nur selten
Raubzüge nach Persien unternehmen und deßhalb nicht
viele schwarzlockige Sklaven unter sich einführten. Uebri-
gens erkennt man jeden Turkomanen sogleich an seinem
scharfen Blicke, dnrch welchen er sich vor allen anderen
centralasiatischen Nomaden auszeichnet, und an seiner
Der turkomanische Räuberhauptmann Knlchan. (Nach einer Zeichnung von Vambery.)
K. Andree: Betrachtungen
stolzen, kriegerischen Haltung. Beide Geschlechter tragen
das rothseidene Hemd, obwohl das durch die Satzungen des
Islam verboten ist. Die Frauen binden, wie unser Bild
zeigt, in ihrem Galaanznge einen Shawlgürtel über das
lange Hemd, auch sind rothe oder gelbe Stiefel mit hohen
Absätzen unentbehrlich. Am beliebtesten aber ist der
Schmuck, welcher in massiven silbernen Armbändern, Hals-,
Ohr- und Nasenringen mib in patrontaschenartigen Etuis
für Anmiete besteht. Diese Etuis hängen wie europäische
Ordensbänder herunter und begleiten jede Bewegung mit
hellem Geklingel. ,,Der Tnrkomane ist sehr für derartiges
Gerassel eingenommen; denn entweder behängt er sein
Weib oder sein Pferd, oder er raubt einen Perser und
behängt ihn mit Ketten; ein Gerassel muß er haben."*)
Das mittelasiatische Zelt ist kühl im Sommer, ange-
nehm warm in: Winter, und sehr wohlthnend ist sein Schutz,
wenn der wilde Orkan über die unabsehbaren Steppen
dahin tobt. Dem Fremden wird bange, daß die Gewalt
der Elemente die nur fingerdicken Wände in tausend Stücke
zerreißen möchte; aber den Tnrkomanen kümmert das
wenig; er befestigt die Stricke und schläft süß, denn ihm
klingt das Heulen des Sturmes wie ein sanftes Wiegenlied.
Zum Schlüsse wollen wir einen Raubzug schildern.
*) Dasselbe sagt auch H. de Blo cqueville, welcher 1860
mit der persischen Armee den für diese so unglücklichen Kriegs-
zug von Chorassau aus gegen die Tekte-Turlomauen von Merw
mitgemacht hatte. Er war damals 14 Monate in der Gefangen-
schaft dieser Nomaden, deren äußere Erscheinung und Lebens-
weise er geschildert hat (Bulletin 6s la societe de Geographie,
Juni 1865). In Bezug auf das „Gerassel" schreibt er S. 516:
Ijorsqu'une douzaine de femmes se trouvent ensemble et vont
cliercher de l'eau, le cliquetis produit par les bijoux qui Se
heurtent, ressemble assez on bruit des sonnettes d'une cara-
vane de muiets. Er schildert die Tekke als heiter, sorglos
nnd manchmal enthusiastisch, als tapfer und intelligent. Aber
Raubsucht, Geiz und Diebsgelüste seien ihnen einmal ange-
boren. Tons ont l'instinct de l'accaparement et du vol. L'en-
fant vole la mere, la femme vole son mari, le frere vole
sa soeur, mais tout cela en famille, car au dehors cela
n'est pas passible, tout le monde etant, de meme force en fait
de rapine et se tenant sur ses gardes. A.
über die Zustäude in Mexico. 39
Die Hauptfrage im Leben des Tnrkomanen ist die Ala-
man, d.h. Ranbgesellschast, oderTschapao, d. h.
Ueberfall. Der Plan zu einem solchen wird selbst Vör-
den nächsten Anverwandten geheim gehalten. Man wählt
denSerd ar, Anführer, ein Mollah spendet den Segen, und
dann begibt jeder einzelne Theilnehmer aus verschiedenen
Wegen sich zum Sammelplatze. Der Angriff gegen
bewohnte Ortschaften geschieht um Mitternacht, gegen eine
Karawane oder einen feindlichen Trupp um Sonnenauf-
gang. Die Angreifenden theilen sich in mehre Abthei-
lungeu nnd machen zwei, höchstens drei Anfälle, denen die
Perser nur selteu widerstehen. Es ereignet sich häufig, daß
ein einziger Tnrkomane gegen vier oder fünf von ihnen den
Kampf aufnimmt und sie Alle zu Gefangenen macht.
Unserm Reisenden erzählte ein Nomade, es geschehe gar
nicht selten, daß die Perser aus Furcht die Waffen
wegwerfen, Stricke verlangen und sich gegen-
seitig binden. Allerdings wurde 1860 das 22,000
Mann starke persische Heer von 50OO Tnrkomanen fast
vernichtet. Wer beim Ueberfall niedergehauen wird, ist
glücklich zu schätzen; dem Mnthlosen, der sich auf Guade
und Ungnade ergibt, werden die Hände gebunden. Der
Reiter nimmt ihn auf den Sattel und befestigt ihm die Fiiße
unter dem Bauche des Pferdes, oder bindet ihn an dessen
Schweif, oder treibt ihn vor sich her.
Vambery schildert einen Austritt, deu er in Gömüfch-
tepe erlebte. Eine Alaman kehrte reichlich beladen mit
Gefaugenen, Pferden, Eseln, Rindvieh und anderen beweg-
lichen Gütern heim. Als die Beute vertheilt wurde, bildete
man so viele Antheile, als Kämpfer am Raube sich bethei-
Ugt hatten; doch blieb noch ein Reserveantheil vorbehalten.
Dann besichtigte jeder Einzelne seinen Antheil, und die
meisten waren zufrieden gestellt. Ein Räuber aber unter-
suchte einer zu seiner Beute gehörenden Perserin die Zähne
und meinte, daß man ihn verkürzt habe. Der Serdar begab
sich dann zu dein Ergänzungsantheil und stellte neben die
Perserin einen Esel; "der Gesammtwerth beider wurde ab-
geschätzt und die Sache zu beiderseitiger Zufriedenheit aus-
geglichen !
Betrachtungen über di
Von Kar
Wird das Kaiserthum in Mexico Bestand
haben? Diese Frage hört man täglich auswerfen, und
wer mit den transatlantischen Angelegenheiten näher ver-
traut ist, hat bis auf Weiteres kerne andere Antwort als
wieder eine Frage, und zwar jene bekannte spanische: quien
Sabe? Wer weiß das?
In der That erscheinen in Mexico alle Verhältnisse
durchaus provisorisch und für die Zukunft unberechenbar;
nchcre Combiuatiouen sind derzeit noch unmöglich. Das
'a/serthum ist eine Thatfache; ein Theil des Landes ist be-
kane^' °*n an^erev Theil noch in den Händen der Repnbli-
die sm k;1' Krieg dauert fort, und in manchen Gegenden ist
nickt <ir Bevölkerung der neuen Ordnung der Dinge
als fie 31' ®ic Geistlichkeit, welche sich verrechnet hatte,
- dem neuen Herrscher ein ganz gefügiges Werk-
Zustände in Mexico.
Andree.
zeug machen zu können vermeinte, wühlt gegen ihn; sie ist
überhaupt eine verhängnißvolle Landesplage, weil sie gleich
seit den ersten Tagen der Unabhängigkeit sich kopfüber in
die politischen Wirren gestürzt und ihren Einfluß niemals
zum Guten benutzt hat. Sie wird für jede Regierung
eine große Verlegenheit sein, gleichviel, ob man ihre maß-
losen Forderungen befriedigt oder denselben entgegentritt.
Zu deu Schwierigkeiten der Lage im Innern kommt
die drohende Stellung der Nordamerikaner, welche am
Rio Grande, dein großen Grenzstrom, eine beträchtliche
Heeresmacht aufgestellt haben. Nachdem es den Nankees
gelungen ist, mit Hülfe einiger hunderttausend angewor-
bener Soldknechte aus Europa und mit einer ebenso großen
Anzahl von Negern den für seine Unabhängigkeit kämpfen-
den Süden niederzuwerfen, fangen sie wieder an, die
40 K. Andree: Betrachtungen
Monroed o ctrin in den Vordergrund zu stellen. Be-
kanntlich soll, dieser ganz willkürlichen ^Doctriu zufolge,
kein europäischer Staat außerhalb der Colouien, welche er
um das Jahr 1829 besessen, einen Fleck amerikanischen
Bodens in Besitz nehmen; auch soll aus der andern Seite
des großen 'Wassers keine Monarchie gegründet werden.
Der Sinn ist, daß die Aankeerepublik, als der mächtigste
Staat aus der westlichen Erdhälfte, allein maßgebend und
entscheidend zu sein habe.
Nun hat sich der Kaiser der Franzosen an diese Monroe--
doctrin nicht gekehrt, sondern mit Hülfe seiner Soldaten in
Mexico einen Kaiserthron für einen Habsburger, „für
einen Nachkommen Kaiser Karl des Fünften", aufgerichtet.
Im Bankeecongresse rief ein Redner aus: „Darin liegt für
uns eine tödtliche Beleidigung, die wir mit Blut abwaschen
werden." Präsident Johnson hat früher sehr oft die
Monroedoctrin in den Vordergrund gestellt, und dieselbe
ist ohnehin mit jedem Yankee persönlich von Kindesbeinen
an verwachsen. Man wird und kann auch der „amerikani-
schen Staatsmaxime" gemäß niemals daraus verzichte», sie
geltend zn machen. Für den Augenblick läßt man sie eine
Zeit lang ruhen, oder vielmehr man verzichtet bis ans
Weiteres sie geltend zu machen, aber aufgeschoben ist nicht
aufgehoben, und zwischen der Bankeerepublik und
dem Kaiserthum in Mexico wird über kurz oder
lang ein Conflikt unausbleiblich feiu. Auch hier
ist, um mit dem alten Wühler und Ränkeschmied Seward
zu reden, ein „unausweichlicher Zusammenprall", (irre-
pressible conflict) nicht zu vermeiden.
Dem gegenwärtig matt und müden Yaukeelaud ist nach
einem furchtbaren, vierjährigen Bürgerkriege für den Augen-
blick der Frieden willkommen. Der Unterjochungskrieg hat
ganz ungeheure Opfer an Geld und Blut gekostet; durch ihn
ist jenes Land das am schwersten mit Steuern belastete in der
Welt geworden; es hat, allein für die Union, eine Schulden-
last von mehr als drei Milliarden Dollars, — anderthalb
Mal so viel, als Frankreich im Laufe von Jahrhunderten sich
aufgebürdet hat. Es ist eiue Beute der Stellenjäger und
Monopolisten geworden, es hat einen Taris, welcher jeder
gesunden Volkswirtschaft Hohn spricht, und die Begriffe
von Recht und Unrecht, von Scham und Sittlichkeit sind
der Gesellschaft im Allgemeinen abhanden gekommen.
Man hat sich an Preßzwang, Prosoßregiernng, Satrapen-
Willkür, Kriegsgerichte und Betrug gewöhnt, und es ist eine
große Verwilderung in die Menschen gekommen; es giebt
eine blutdürstige und fanatische Partei im Lande, uud Geist?
liche stehen in derselben in vorderster Reihe. Man hat die
alte Negerplage durch eine willkürliche uud unvermittelte
Emancipation um das Huudertsache verschlimmert, uud
mehr und mehr kommt eine von Handwerkspolitikern
gegängelte Ochlokratie zur Geltung. Nie hat es einen
Staat gegeben, der so rasch von den guten Grundsätzen und
den bewährten Überlieferungen seiner Gründer abgefallen
und, vou der ethischen Seite betrachtet, so tief gesunken
wäre. Zwar eine bezahlte oder sanatische Presse bläst in
die Posaune des Lobes, und Thoren glauben den Lügen;
aber der Kündige, welcher die Dinge in ihrer EntWickelung
verfolgt hat und die Thatsachen kennt, weiß sehr wohl,
wie tief der Abgrund ist. Am schlimmsten bleibt, daß das
eigentliche Bollwerk der Freiheit, die Rechte der Einzel-
staaten, der Centralisation geopfert wurden.
Für den Augenblick haben die Yankees gute Gründe,
die mexikanische Frage nicht in den Vordergrund zu stellen;
sie sind im Innern vollauf beschäftigt. Und wenn sie den
unterjochten Süden, welchen sie doch nicht immer als
erobertes Land behandeln können, wieder als gleichberechtigt
äber die Zustände in Mexico.
in die Union ausgenommen haben, dann wird sich genau
dasselbe Verhältniß herausstellen, wie vor dem Ausbruche
des Bürgerkrieges. Die Auflehnung des, namentlich auch
iu wirthschastlicher Beziehung, schwer beeinträchtigten
Südens war ja nicht ein Werk des Zufalls oder einiger
Mißvergnügten, sondern ein ganzes, wunderbar einmüthiges
Volk erhob sich iu Waffeu, um seiue Selbstständigkeit zu
erkämpfen.
Nun zwingt man es in ein verhaßtes Verhältniß zurück,
aber der alte Gegensatz bleibt und wird sich geltend machen,
wie immer er kann. Eine Eroberung Mexico's oder
nur einiger Provinzen desselben würde dem südlichen Ele-
ment in der Union einen Zuwachs an Interessen bringen;
wenn man Krieg in Mexico führen will, muß man not-
wendig annectiren. Die Mexicaner, wie sie nun einmal
sind, haben durch die Anarchie, welche länger als ein halbes
Jahrhundert ihr Land zerrüttete, sonnenklar bewiesen, daß
sie zur Selbstregierung platterdings unbefähigt sind, und
eine Republik bei ihnen unter die unmöglichen Dinge
gehört. Es geht bei ihueu wie in den meisten anderen
Ereolen- oder vielmehr indianischen Republiken, die viel-
leicht noch längere Zeit ihre anarchischen Wirren forttreiben
und aus einem Bürgerkrieg in den andern verfallen, bis
dann eudlich eiue Agonie eintritt, und ein Mann des
Säbels oder ein von außen her octroyirter Monarch die
höchste Gewalt an sich reißt.
Die Monarchie wird für diese zerrütteten Ereolen-
staaten, die ja doch nur dem Rainen nach Republiken
sind, schon deshalb eine Wohlthat sein, weil sie endlich
einmal das bringt, was seit 50 Jahren fehlt: Ruhe und
Ordnung. An die Stelle politischer Ränkeschmiede und
säbelrasselnder Generale, deren jeder der anderen Feind ist,
weil jeder Präsident werden will, tritt dann eine Spitze im
Staate, die stetig ist. Brasiliens Beispiel zeigt, wie viel
dadurch gewonnen wird. Bolivia hat in den letzten zwei
Jahren 4 Präsidenten gehabt. Mexico hatte von 1823
bis 1857 nicht weniger als 46 Präsidenten, uud Ehile
allein ausgenommen, das sich in normalen Bahnen bewegt,
ist der Bürgerkrieg und der Präsidentenkampf an der Tages-
ordnung. Guatemala hatte seit 1839 innere Ruhe, weil
ein Diktator, Carrera, an der Spitze stand, und dieser war
ein — Indianer!
In Mexico kann die Monarchie sich wohl behaupten,
wenn sie nicht von außen her angegriffen und untergraben
wird. Sie hat aber nur einen Gegner, den sie zu fürchten
braucht, eben die Nordamerikaner. Sobald diese die
Monroedoktrin verwirklichen wollen, werden sie ohne
Zweifel Sieger bleiben; aber was wird dann aus Mexico?
Die Nordamerikaner würden der herrschende Volks-
stamm sein, aber zu dem schwarzen Gegensatze, welcher jetzt
schon in ihrem Lande ihnen so große Noth und Verlegen-
heit bringt, käme dann noch ein Gegensatz spanischer
Ereolen, Mestizen und Indianer. Diese letzteren, als
ackerbautreibende Leute, sind nicht auszurotten, wie etwa
die Wald- und Prairie-Indianer im Gebiete der jetzigen
Union, sondern sie werden bodenständig bleiben. Dann
wird die „Union" noch weit mehr ein politischer Wasser-
kops als sie ohnehin ist, sie wird noch mehr ein Staaten-
monstrum, das schon jetzt so viele einander abstoßende und
im Gegensatze stehende Interessen in sich trägt; sie wird eine
noch buntschäckigere Bevölkerung in sich haben, als schon
gegenwärtig der Fall ist.
Für Mexico stellt sich die Alternative einfach. Als
Republik hat es nicht leben können; will es selbstständig
bleiben, dann hat es seine Rettung nur iu der Monarchie.
Fällt sie, so wird es eine Beute der Nordamerikaner, und
K, Undree: Betrachtungen über die Zustände iu Mexico.
41
diese werden das herrschende Volk, bringen aber zugleich
ihre Union dem Tage näher, an welchem sie auseinander
fallen muß. Denn sagen wir es nur gerade heraus: die
Natur selber will keine Weltreiche; der Ausdehnung der
Großstaaten ist von jeher eine Grenze gesteckt worden. Ein
Staatenbund, der einen so ungeheueren Umfang gewonnen
hat, so verschiedene Klimate und so verschiedene Regionen
und Völkerbestandtheile in sich schließt, legt sich von selbst
auseinander. Das liegt im Gange geschichtlicher Ent-
Wickelung, welche für die Yankees keine Ausnahme macht.
Schon der Bürgerkrieg hat das bewiesen; die Schulden,
die Steuern, das Säbelregiment und was dazu gehört,
zeigen, daß auch für sie gleiche Ursachen gleiche Wirkungen
hervorbringen. Die Renommistereien auf der Rednerbühne
und iu der Presse können den natürlichen Lauf, die zwin-
gende Notwendigkeit in den geschichtlichen Gesetzen und
den für das Völker - und Staatenleben geltenden Normen
nicht ändern.
In Mexico hatte vor einigen Jahreu die innere Auf-
lösung und Zersetzung deu höchsten Grad erreicht; das ewige
Schwanken zwischen Anarchie und Diktatur wiederholte sich
iu einem förmlichen Kreislaufe, und es war allmälig eine
grauenhafte Barbarei au die Tagesordnung gekommen.
Als Ariadnefaden, welcher aus diesem ethnisch-politischen
Wirrwarr hiuausleiteu soll, steht die Monarchie da. Kann
sie die Probe bestehen, — gut; wo nicht, und kommen die
Nankee's, d a u n b e g i u n t e i u e n e u e A e r a d e r V e r -
wirrung. Dann erscheint ein kräftiger Menschenschlag
aus dein Norden. Die Geschichte hat ihre Analogien für
Mexicaner wie für Nankee's. An der Schwelle der zer-
rütteten Creolenrepublikeu stehen Leute, die, obwohl schon
mehr als gut ist, mit fremdartigen Volksbestaudtheilen
gemischt immerhin noch viel germanisches Blut in sich
haben. Einst klopften germanische Krieger an die Pforten
des römischen Kaiserreichs und verlangten Einlaß. Die
Heerfürsten, Flibustier ihrer Zeit, kamen mit ihren Gefolg-
schaften und eröffneten den Kampf gegen Rom in fehr
mannichfacher Gestalt. Faßt man das Flibnstierwefen
geschichtlich auf, dann ist nicht zu verkennen, daß es seinen
Anlaß in einem zutreffenden Instinkte von Abenteurern
hat, die gleichsam als Schneeflocken einer weltgeschichtlichen
Lawine voran fliegen. Der bekannte Wilhelm Walker in
Nicaragua wäre ein großer geschichtlicher Mann geworden,
wenn er Erfolg gehabt hätte. Zum Flibnstierwefen im
Kleinen wie im Großen sind aber im Nankeelande jetzt
mehr als je alle erforderlichen Requisite vorhanden: kecke
Generale, abenteuerndes und abenteuerlustiges Volk aus
aller Welt Ende und, glauben wir, auch die Lust nach
Bente.
Mexico bot vor der Franzosen Einmarsch und vor
Maximilians Landung einige Ähnlichkeit mit den letzten
Zeiten des römischen Kaiserreichs dar. Hier waren, in
Folge Her Mischung von Morgenland und Abendland, die
alten Volkstümlichkeiten, Sitten, Anschauungen und
Glaubensmeinungen theils verloren oder abgeschwächt, das
^anze ein wüstes Durcheinander geworden, und den Men-
ichen die individuelle wie die nationale Kraft abhanden
frommen. Ans der chaotischen Masse tauchten allerdings
ß^nc^e süchtige Männer auf und arbeiteten gegen den
aber alles Abmühen erschien vergeblich. Es war
Näilrm^cn ^äsarenreiche dahin gekommen, daß bald ein
Hi^ .Hauptmann aus Arabien, bald ein pannonischer
den ■ 5)011 Kaisermantel um die Schultern warf und von
So * w!en< aui ^en Schild gehoben wurde.
Earrera ? in Centralamerika der braune Viehtreiber
Glob..s'ix°" ^"^cmern zum Gewalthaber erkoren, in
Honduras der halbschlächtige „Tiger" Guardiola, der zu-
gleich Räuber und Soldat gewesen, zum Präsideuten
gewählt; in Peru stritten vor etwa zehn Jahren vier
Männer, unter denen drei Halbschlächtige, um die höchste
Würde. Und in Mexico sind nicht selten gleichzeitig in
sechs oder acht Landestheilen Häuptlinge aufgetreten, deren
jeder Anspruch auf die Präsidentenwürde machte und in
seiner Provinz den Herrn und Meister spielte; so z. B.
Blancarte iu Sonora; in Neuleon, Tamanlipas und
Cohahnila neben dem Mestizen Vidanrri der Creole Garza;
in San Luis Potosi der General Haro y Tamariz, in
Guerrero der alte Indianer Alvarez, der „Panther des
Südens", welcher dann einen Weißen, den General Comon-
fort, znni Präsidenten machte und mit seinen braunen
Banden, den Pintos, in die Hauptstadt einzog. In anderen
Gegenden erhoben sich andere Häuptlinge.
Dieses ganze Wesen gemahnt uns au die Zeiten der
triginta tyranni zur Zeit des Imperators Gallienns.
Damals schon war im römischen Reiche die Ernte reif, und
bald nachher kamen die germanischen Leute, um abzumähen.
Noch immer hat die Anarchie Staaten zu Grunde gerichtet.
Die Geschichte ist logisch und unbarmherzig, und Mexico
war durch und durch anarchisch geworden; es konnte staatlich
nicht mehr leben und wollte doch nicht sterben. Nun ist
die Monarchie gekommen, um Rettung zu bringen. Kann
sie sich nicht behaupten, dann wird, wir wiederholen es,
das Land eine Beute der Nordamerikaner; — tertium uon
datur.
Wer eine Geschichte Mexico's seit der Unabhängigkeit
schreibt, wird dieselbe füglich als eine Geschichte der
Anarchie bezeichnen können. Ich will, um dieselbe zu
kennzeichnen, nur eine Episode hervorheben. Jni März
1853 traten mehre Generale zusammen, entwarfen einen
„Plan" in der Stadt Jalisco und riefen den alten Unheil-
stifter Santa Anna aus der Verbannung zurück, einen
Mann, der schon achtmal durch Revolutionen voni
Präsidentenstuhle hinabgeworfen und dreimal ins Exil
geschickt worden war. Jetzt steuerte er auf die Alleinherr-
fchaft hin. Schon im Anfange des Jahres 1854 war er
Dictator und Durchlauchtigste Hoheit, und ließ sich das
Recht zuerkennen, seinen Nachfolger selbst zu wählen.
Er stiftete einen Orden, jenen Unserer lieben Frau
vou Guadalupe, die bekanntlich eine braune Mutter-
Maria ist, denn eine weiße will der Indianer eben so
wenig wie ein weißes Jesusbild. Aber gerade diese
„Klapper für ehrgeizige große Kinder" (welche von
Kaiser Maximilian auch in Bewegung gesetzt wird) ist
ihm verhängnißvoll geworden. Der Panther des Sü-
dens, der braune Alvarez, wies den Orden in so weg-
werfender Weise zurück, daß der Dictator die Absetzung
des Mannes beschloß. Alvarez bot dem Dictator Trotz,
und die Indianer des Staates Guerrero machten gemein-
schaftliche Sache mit ihm, ihrem Blutsgenossen. Santa
Anna rückte gegen ihn und belagerte Acapulco. Dort
hielt ein weißer Zolleinnehmer, Jgnaz Comonfort, tapfer
gegen Santa Anna Stand, und dieser mußte schimpflich
abziehen.
Dann drängte eine Katastrophe die andere. In ver-
schiedenen Landesgegenden erhoben sich Generale, und am
1. März 1854 entwarfen fünf Offiziere zu Ayntla im
District Omotepec, im Staate Guerrero, einen „Plan",
um den Zwingherrn abzusetzen, welcher die Freiheit mit
Füßen trete, die öffentlichen Gelder verschleudere und an
eine fremde Macht Land verkauft habe. (Man meinte das
Mesillathal und das Land am Rio Gila, welches er für
10 Millionen Dollars an die Nordamerikaner abgetreten
6
42 K, Andree: Betrachtungen
hatte.) Alvarez nahm den Plan an; in der Mitte des
Jahres 1855 mußte Santa Anna wieder in die Verban-
nung gehen; die Dictatur war zu Ende, aber die Verwir-
rung nur um so ärger.
Nach Abzug der „Durchlauchtigsten Hoheit" wurden in
der Hauptstadt sofort die Häuser der Minister geplüudert;
matt riß das Standbild nieder, welches wenige Monate
vorher dem „um das Vaterland Hochverdienten" errichtet
worden war. Auch die Soldaten, einst Santa Annans Haupt-
stütze, erklärten sich in einem Pronunciamients gegen den
„Tyrannen".
Es muß betont werden, daß bei allen diesen Vorgängen
die Indianer und Mestizen eine wichtige Rolle spielten.
Der wichtigste Mann in der Revolution war der indianische
„Panther" Alvarez, der weiße Mann Comonsort nur sein
Schützling und Gehilfe. Und gleichzeitig liefen nicht
weniger als fünf revolutionäre Bewegungen neben ein-
ander her. Wer sollte an die Spitze treten? Zu Euer-
uavaca (im Oktober 1855) hatten sich 20 Generale ver-
sammelt, um zu entscheiden; nicht weniger als 16 derselben
erklärten sich für einen Halbwilden, eben jenen Alvarez.
Stand er doch an der Spitze von 690(1 Braunen! Deshalb
wurde er als „Retter der Freiheit" begrüßt. Er
blieb in Cnernavaca, das etwa eiu Dutzend Meilen von
der Hauptstadt Mexico entfernt liegt, denn diese selbst mit
ihrem Anstriche von Civilisation war ihm zuwider, und
er empfing, mit einem baumwollenen Kittel bekleidet, die
fremden Diplomaten, welche ihm aufwarteten.
Bezeichnend ist Folgendes. Den Vertrag über die Ab-
tretung des Messillathals hatte der nordamerikanische Ge-
sandte Gadsden mit Santa Anna abgeschlossen. Jetzt
trat dieser Bankee vor den halbwilden Indianer hin
und sprach wörtlich: „Nun endlich hat Mexico eine
wahrhaft volksthümliche Regierung." In ge-
wisser Beziehung hatte Gadsden wohl recht; denn unter den
etwa 7 Millionen Einwohnern des Landes befinden sich
mehr als 6 Millionen Farbige.
Vor Alvarez und seinen Braunen zitterte Mexico.
Dem „Panther" wurde die neue Würde unbequem, in dem
Gewirr der Politik konnte er sich nicht zurecht finden.
November 1855 hielt er mit seinen Indianern den Einzug
iu die Hauptstadt und erklärte rundweg, daß die Privilegien
abgeschafft seien, welche man bisher mißbräuchlich den
Geistlichen und den Soldaten gewährt habe. Dann
äußerte er, daß er keine Lust mehr habe Präsident zu sein,
nahm Alles, was er an Waffen und Schießbedarf fand, mit
sich, leerte die Staatskasse, in welcher er 200,000 Piaster
fand, ernannte den Zollhauseinnehmer Comonfort zum
„snbstitnirten" Präsidenten und zog nach seiner Provinz
Guerrero ab.
Und nachher abermals neue und mehr und mehr ge-
steigerte Verwirrung! Die Revolutionen haben bis zur
Ankunft der Franzosen und Maximilians nicht aufgehört.
Die Abschaffung der geistlichen und der militärischen Ge-
richtsbarkeit und dann später die Maßregeln, welche das
Kirchengut der todteu Hand entrissen, gaben den Parteien
willkommenen Vorwand zu Aufständen, welche feit 1855
in ungezählter Menge gleichsam über Nacht emporschössen.
Sie fanden in den Staaten Gnanaxnato, Gnadalaxara,
Oaxaca, Puebla:c. zu Dutzenden Statt. Man erklärte,
der Präsident entspreche den „Wünschen der Nation" nicht,
und Comonfort mußte binnen 17 Monaten nicht
weniger als 71 verschiedene Aufstände nieder-
schlagen. Zumeist befanden sich Geistliche an der
Spitze derselben.
Wir haben das Alles hier angeführt, um zu zeigen,
>er die Zustände in Mexico.
wie zerrüttet und zerklüftet die Verhältnisse waren. Der
Geistlichkeit standen und stehen die radikalen Demokraten
gegenüber, von deren Führern manche, ohne alle Frage,
zu deu besten und gebildetsten Leuten Mexico's gehören.
Aber ein in sich werthvolles Princip, das abstrakt genom-
men und richtig angewandt voxtrefflich sein kann, wird
werthlos und schädlich, sobald man mit demselben bei einem
Volk experimentirt, das weder Fühlfäden noch Verständniß
dafür hat und haben kann. Die Sache erläutert sich sofort,
wenn man bedenkt, daß es sich um ein Collectivum handelt,
in welchem kaum der zehnte Mensch ein Weißer, die Mehr-
zahl aber halbwild ist, und daß die Civilisation nur erst
schwache Ansänge zeigt. Und nun ein Sprung aus dem
spanischen Colonialwesen und allen Mängeln desselben in
eine schrankenlose Demokratie! Er mußte verhängnißvoll
werden.
Es ist nicht die Aufgabe unserer Zeitschrift, Tages-
geschichte zu schreiben, wohl aber haben wir die Bewe-
gnngen im Staatenleben vom Standpunkte der Völkerkunde
aus zu erläutern. Vermittelst der Ethnologie wird der
Grund mancher' Erscheinungen klar, welche dem oberfläch-
lichen Beobachter unverständlich bleiben. Unser europäisches
Publikum überträgt im Allgemeinen seine eigenen An-
schauungen, Meinungen oder Vornrtheile auch auf die
Vorgänge und die Völkerbewegungen in anderen Erdtheilen,
und damit geht es vielfach in die Irre. Wer ein richtiges
Urtheil sich verschaffen will, muß vom ethnologischen Stand-
punkte aus zu individualisireu wissen; mit den gewöhnlichen
Zeitungsphrasen und landläufigen Redeusarteu wird rein
gar nichts erklärt.
Nun ist der braune amexikanische Indianer- zwax ein
Mensch so gut wie wix weißen Europäer'. Abex ex ist ein
von dex Natur audexs angelegter', anders begabter Mensch
als wir, und s e i n e geistigen Evolutionen sind nicht
dieselben. Er denkt, er fühlt, er finmlirt und räsonnirt
nicht wie wir; im Tiefinnern seiner Seele, im Hintergrunde
seines Herzens liegt etwas, das wir nicht besitzen. - In
ihm walten manche Neigungen, Kräfte, Gedanken, Gefühle
und Gesinnungen, die einen besondern Strich haben; er ist
eben eigenartig. Mit unserem Maßstabe dürfen
wir ihn nicht messen, denn derselbe paßt nicht. Es ist
eine keineswegs leichte Aufgabe, diesen braunen Menschen
zu e r g r ün d e n und zu verstehen; darüber sind alle
Beobachter einverstanden.
Oftmals haben wir im Globus hervorgehoben, daß
man die Borgänge in den sogenannten Republiken des
ehemals spanischen Amerika gar nicht verstehen könne,
wenn man nicht die Eigentümlichkeiten des
indianischen Elementes, die psychologischen
Wirkungen der Rassenvermischungen und die
Stellung der verschiedenen Hautfarben zu ein-
ander in sorgfältige Erwägung ziehe. Gerade darin
liegt der Schwerpunkt. Aber wie wenig Gewicht
wird darauf gelegt! In unseren Tagblättern findet man
nur fetten und ausnahmsweise Verständniß dafür, und,
im Gegentheil, oftmals haarsträubende Ansichten und Ur-
theile, die dann auf ein gläubiges und eben so unkundiges
Publikum übergehen. Wie Wenige sind es, die z. B. sich
die Einwirkungen des irisch-keltischen Elementes und der
massenhaften nichtgexmanischen Zuthaten, welche iu den
Vereinigten Staaten seit 50 Jahren so stark zunahmen,
klar gemacht haben? Und doch geben gerade sie einen
Hauptschlüssel zu der politischen Ausartung und allgemei-
nen Verderbniß im Bankeelande.
Doch wir kommen auf Mexico zurück. Das Land
zählt etwa 7 bis 8 Millionen Bewohner. Von diesen sind
Neber Dartr
reichlich zwei Millionen Mischlinge, denen man die Halb-
Mächtigkeit auf den ersten Blick ansieht; etwa eine Million
gilt für weiß und will es sein, aber schwerlich hat mehr
als die Hälfte rein weißes Blut. Alle übrigen sind unver-
mischte Indianer, welche in den Dörfern und in den
meisten Städten die überwiegende Mehrzahl der Bevölke-
rung bilden. Ihr Charakter ist im Wesentlichen noch
derselbe wie in den Zeiten, da der Flibnstier und Azteken-
Würger Cortez ins Land kam; nur die äußere Form der
Gottesverehrung, dessen, was man Religion zn nennen
beliebt, ist eine andere. Der Indianer verehrt seinen
braunen Christus in seiner Weise, aber er weiß uoch
heute sehr wohl, wer ihm die Tempel seiner Vorfahren
zerstörte, seine Götterbilder zertrümmerte, seine Priester
mordete. Das haben die „Christen" gethan. Er hat den
pomphaften Kultus dieser „Christen" angenommen, aber
an seinen alten heidnischen, nationalen Gebräuchen hält er
darum doch fest. Zumeist lebt er als Bauer oder Dienst-
knecht in den Dörfern oder auf deu Landgütern weißer
Männer; als Handwerker, Taglöhner und Bettler wohnt
er in den Städten. Unter einer guten Regierung könnte
er zu einem ordentlichen Arbeiterstande herangebildet wer-
den; bevor die „Christen" ins Land kamen und fo viele
Plageu und Barbareien brachten, gab es einen solchen
Stand. Aber das Mexico, wie es durch die „(Zivilisation"
der Spanier geworden ist, zählt mehr Landstreicher und
Bettler, als bis auf unsere Tage Italien gehabt hat.
In der Hauptstadt Mexico, die mehr als 200,000 Ein-
wohner hat, leben reichlich 30,000 Leperos, farbige Bettler
ohne Habe und Haus.
Der braune Mann steht dem Weißen fern, er hegt
gegen denselben eine tiefe Abneigung. Hat ihm doch der-
selbe nicht bloß seine alten Götter, sondern auch den Grund
und Boden geraubt, ihn beherrscht und zur Dienstbarkeit
gezwungen. Seit der Unabhängigkeit sind die Indianer
stets in Unruhe und Bewegung, und eiu großer Theil von
ihnen hat Waffen in den Händen; sie wissen, daß sie die
Mehrheit bilden, und in Mexico galt bisher die — ich
kann mich nicht milder ausdrücken, — aller Barbarei
Vorschub leistende Praxis des „allgemeinen Stimmrechts",
dessen traurige Ergebnisse wir heute z B. auch in Peru,
Frankreich und Nordamerika sehen. In Mexico lag für*
is Hypothese. 43
die Weißen bisher noch ettte Art von Rettung in dem
Umstände, daß die Indianer in viele Völker und Stämme
getrennt sind, und das Bewußtsein der Zusammengehörig-
keit bei ihnen noch nicht durchgedrungen ist. Sie erschöpften
mehr als einmal ihre Kraft in vereinzelten Aufständen, die
freilich zum Theil bedenklich genug geworden sind, z. B.
in Uucatan, wo der Rassenkrieg der Mayas gegen die
Weißen auch jetzt noch fortdauert.
Als vor nun 17 Jahren die Nordamerikaner gegen die
Hauptstadt anrückten, erhoben sich die Indianer zu Xuchite-
pec bei Cuernavaca, also ganz in der Nähe von Mexico,
und schlachteten viele Weiße ab, bloß weil sie
weiß waren. Im Jahr 1850 trat der Zapoteca-Jn-
dianer Melindez auf, nahm die Stadt Tehnantepec mit
Sturm, bedrohte Oaxaca und stand lange Zeit im Felde.
Fast gleichzeitig erhoben sich, kaum ein paar Meilen von
der Hauptstadt, zu Chalco, die Indianer; eiu Gleiches
thaten jene zu Ameca im Staate Pnebla, und aus vielen
Landgütern revoltirten die braunen Knechte. Man mußte
Allen Amnestie gebeu, weil die braunen Soldaten der
Regierung gegen die braunen Aufständischen nicht feuern
wollten. Präsident Juarez, welcher gegen Kaiser Maxi-
milian im Felde steht, ist ein vollblütiger Mije-Indianer
aus dem Staat Oax-ica; einer der besten Männer, welche
in Mexico eine Rolle gespielt haben, ist er gewiß, besser
als alle weißen Präsidenten waren.
So sind die „zahmen" Indianer. Die „wilden", d. h.
die Apatsches, die Komantsches und andere wilde Reiter-
Völker, welche alljährlich wie Sturmesbraut und Hagel-
Wetter aus ihren Steppen hervorbrechen und für die
Staaten im Norden und Nordwesten eine wahre Gottes-
geißel sind, haben niemals einer mexicanifchen Regierung
gehorcht. Hier wollten wir nur andeuten, wie wichtig das
indianische Element für das neue Kaiserthum ist. Gelingt
es diesem, die braunen Leute zu dem Bewußtsein zu bringen,
daß mau es ehrlich mit ihnen meine, und daß sie fernerhin
nicht mehr in bisheriger Weife ausgebeutet werden sollen,
dann ist schon viel gewonnen. Die braunen Leute
verdienen, daß ihnen endlich bessere Tage leuch-
ten, als in den Zeiten Spaniens und der „Republik" der
Fall war.
Aeber Darwins Hypothese.
Wallace und das Paradiek — Ein Mensch, der kein Mensch ist. — vr. Hunt in London und Dr. Mi'chry in Göttingen gegen
die Hypothese, Naturforscher in der Schweiz für dieselbe. — Karl Vogt/
. Der Streit über dieselbe dauert unter den Natur-
Forschern mit großer Lebhaftigkeit fort', in Deutschland und
er Schweiz, wie iu Frankreich und England, und es wird
«gemessen sein, daß wir dann und wann einige Mitthei-
^ev den im hohen Grad interessanten Gegenstand
der^ev londoner anthropologischen Gesellschaft brachte
ein ^ Bezeichnete Reisende Alfred R. Wallace (dem wir
belehrend^ ^ über den Amazonenstrom und sehr
verdanket ?eitl';i9e zur Kunde des indischen Archipelagus
das Altertb ^ra9e über den Ursprung der Rassen und
n Menschengeschlechts, nachgewiesen ans
der „Theorie der natürlichen Auswahl" zur Sprache
(S. Authropological Review, Nr. 5 und 6;' Jonrnal
S. 158 ff.) Nachdem er Gründe für und wider die
ursprüngliche Einheit und Verschiedenheit der Menschen-
rassen angeführt, kommt er zu dem Schlüsse, daß man vom
unparteiischen und vorurteilsfreien Staudpunkt ans sich
für die Pluralität erklären müsse. Die Gegner könnten
nichts einwenden gegen die Permanenz gewisser Rassen,
welche noch hente genan dieselben sind, wie in den ältesten
Zeiten. Sobald man aber die Dinge so betrachte, daß man
Darwins natürliche Auswahl der Arten zu Hülfe
nehme, dann habe der Streit ein Ende.
44 Heftet Darw
Wallace hat seinen Gegenstand mit Geist und Phan-
taste behandelt, aber die letztere spielt eine allzugroße Rolle.
Er spricht zu viel von „wahrscheinlich", „vielleicht" und
dergleichen mehr, und das ist schade.
Um die natürliche Auswahl zu erläutern bemerkt er,
daß von denselben Aeltern gezeugte Kinder einander nicht
gleich sähen, und häufig sowohl dem Vater, wie der Mutter
und den Geschwistern ganz ungleich seien. „Das gilt vom
Menschen, von allen Thiereu und allen Pflanzen. Man
findet auch, daß Individuen in verschiedenen Eigenheiten
von ihren Aeltern sich nicht unterscheiden, während sie in
allem Uebrigen genaue Duplicate derselben sind." —- „Die
Abkömmlinge gleichen durchschnittlich ihren Aeltern, und
der ausgewählte Theil jeder nachfolgenden Generation
wird stärker und rascher sein als die frühere. Wenn nun
solch ein Vorgang taufeude von Generationen hin-
durch fortdauert, fo wird sich ein Thier in Harmonie mit
den Bedingungen bringen, in welche es sich versetzt sieht.
Es wird nicht bloß stärker und schneller werden und einen
dickern Pelz bekommen, sondern sich wahrscheinlicherweise
(probably) in Farbe und Gestalt verändert haben, vielleicht
(perhaps) auch eiueu längern Schwanz und anders gestal-
tete Ohren bekommen. Es ist nämlich eine ausgemachte
Thatsache, daß, wenn ein Theil eines Thieres eine Ab-
Änderung erfahren hat, fast immer einige andere Theile,
gleich sympathisch damit, auch anders werden. Das ist
Darwins Correlation des Wachsthums, und er führt zu
Gunsten derselben an, daß haarlose Hunde unvollkommene
Zähne haben, blauäugige Katzen taub seieu, Tauben mit
kleinen Füßen kurzschuäbelig sind" :c. — „Wenn eine
Gletscherperiode auftritt, müssen einige Thiere einen wär-
mern Pelz bekommen, oder eine dickere Fettumhüllung,
sonst sterben sie vor Kälte. Die von der Natur am besten
bekleideten Thiere werden durch natürliche Auswahl er-
halten."
Wallace sagt weiter: „Der Meusch kann eiue Homo-
gene Rasse gebildet haben, ich glaube auch fest, daß dem
fo gewefen ist, aber in einer Zeit, von welcher man
noch gar keine Spur entdeckt hat. Sie liegt fo weit
zurück, daß er damals noch nicht einmal sein jetzt
so außerordentlich entwickeltes Gehirn sich an-
geeignet haben konnte, das Organ jener Intelligenz,
durch welches er jetzt, auch vermittelst der uoch am
wenigsten entwickelten Formen, sich weit über die höchsten
Thiere gestellt sieht. In jener Zeit hatte er Wohl Menschen-
gesialt, aber wohl kaum menschliches Wesen; er hatte
noch keine menschliche Sprache, kein moralisches Ge-
fühl und sympathisches Bewußtsein. In dem Maß, als
diese wahrhaft menschlichen Eigenschaften sich in ihm ent-
wickelten, wurden auch seine körperlichen Merkmale sest,
stetig, andauernd. Jetzt hielt er sich im Einklang mit der
ihn umgebenden, laugsam rings um ihn her sich verändern-
den äußern Natur, nicht durch Veränderungen, die mit
seinem Körper vorgegangen wären, sondern durch den F^'t-
schritt seiues Geistes. Wenn wir annehmen, daß er wäh-
rend jener Epoche noch kein Anrecht auf die Bezeichnung
Mensch hatte, dann können wir sagen, daß ursprünglich
mehre verschiedene Urrassen vorhanden gewesen sind.
Wir sprechen uns aber andererseits für den gemeinsamen
Ursprung des Menschengeschlechts aus, wenn wir als
Menschen ein Wesen betrachten müssen, das bei einem
dem unsrigen ähnlichen Körperbau nur eine Intelligenz
hatte, welche kaum jene des Thiers überragte."
Die Schwäche einer solchen Art der Beweisführung
liegt auf der flachen Hand. Und weiter: „Der Mensch
konnte während der Eocenperiode leben, als noch kein
s Hypothese.
Säugethier die Gestalt der heutigen Arten hatte. Während
Alles um ihn her sich veränderte, behielt er seine körper-
liche Gestalt, und nur allein die Organisation seines Ge-
Hirns wurde eine andere. Die Schädel des Mont Denise
und von Engis gehören in eine Epoche, als noch kein
Säugethier seine heutigen Formen hatte; der Schädel aus
dem Neanderthal gehört einem Menschen der niedrigsten
Rassen jener Zeit an, etwa so wie der Australier die nie-
drigsten Rassen unserer Periode vertritt. Man muß also
menschliche Ueberreste in tertiären Ablagerungen finden,
und wenn in Europa dieses nicht geschieht, dann rührt das
daher, daß dieser Erdtheil damals unter Wasser lag."
Und noch weiter: „Wenn die hier aufgestellten An-
sichten begründet sind, dann haben wir einen weitern Be-
weis dafür, daß der Mensch eine Sonderstellung
einnimmt; daß er nicht an der Spitze einer langen
Reihenfolge der organisirten Natur sich befindet, fondern
in gewisser Weise eine neue und verschiedene Ord-
nnng unter den Wesen bildet."
„Seit jenen unermeßlich weit zurückliegenden Zei-
ten, in welchen die ersten Elemente organischen Lebens aus
der Erde erschienen, ist jede Pflanze und jedes Thier
dem großen Gesetz physischer Veränderungen unterworfen
gewesen. Die Erde hat große Eyclen geologischer, klima-
tischer und organischer Fortschritte gemacht; jede Lebens-
form war der unwiderstehlichen Einwirkung derselben
unterworfen, unablässig und andauernd, und nahm ans
unmerkbare Weise innner neue Formen an, um sich mit
der allgemeinen Veränderung in Harmonie zu bringen.
Diesem Gesetze des Daseins konnte kein lebendes Wesen
sich entziehen. Dann endlich erschien jene subtile Kraft
oder Fähigkeit, welche wir als Geist, Intelligenz
(mind) bezeichnen, und die weit wichtiger wurde, als der
physische Bau des Körpers. Von dem Augenblick an, als
der Mensch aus einem Thierfelle sich ein Kleidungsstück
bereitete, als er den ersten Knüttel verfertigte, um sich
desselben auf der Jagd zu bedienen, und als das erste Korn
ausgefäet wurde, — von da an war eine große Revolution
in der Natur vorhanden, die in allen Zeitaltern der Erde
ihres gleichen nicht gehabt hat; denn von nun an brauchte
der Mensch, um zu existiren, nicht mehr mit Allem, was
ihn umgab, sich zu verändern. In diesem Zustande war
er gewissermaßen der Natur überlegen; er entzog sich
aus diese Weise uuu der natürlichen Auswahl, er
entriß der Natur einen Theil ihrer Gewalt; er selber
konnte sich in Harmonie mit ihr bringen; er hatte nicht
mehr nöthig, seinen Körper umzuwandeln, sondern brauchte
bloß seine Intelligenz zn vervollkommnen. Darin
eben liegt die wahre Größe und Würde des Menschen.
Während der unendlich langen Periode, in welcher die
übrigen lebenden Wesen dem Wechsel unterworfen waren,
blieb er derselbe, und nur allein das Gehirn unterlag Ver-
Änderungen."
Am Ende verstieg Wallace sich zu Prophezeiuugeu; er
meinte, vermöge der natürlichen Auswahl würden nach und
nach die niedrigen Rassen verschwinden, die Welt werde
sich vervollkommnen, bis sie von einer gleichartigen Rasse
bewohnt sein werde, wo dann alle Individuen ohne Aus-
nähme dem edelsten und höchsten Menscheneremplare gleich
seien. „Dann wird Jedermann sein Glück sich schaffen
im Einklänge mit dein seiner Nebenmenschen; es wird
vollkommene Freiheit des Handelns stattfinden, denn die
ins Gleichgewicht gebrachten moralischen Eigenschaften
werden Keinem erlauben, die Freiheit Anderer zu beeinträch-
tigen; Zwangsgesetze werden überflüssig sein, denn jeder
Mensch wird sich selber vermöge der besten Gesetze regieren,
Neb er D arw
er wird die Rechte Aller schätzen, Sympathie mit ihren
Gefühlen haben, eine Regierung wird ganz unnöthig sein
und durch freiwillige Genosseuschafteu ersetzt werden, deren
Zweck kein anderer ist, als dieWohlthätigkeit. Leidenschaften
und thierische Neigungen werden sich innerhalb jener Gren-
zen halten, in denen sie zu Glück und Wohlbehagen führen.
Die Menfchheit wird am Ende entdeckt haben, daß nur die
Entwicklung der Fähigkeiten ihrer höhern Natur erforder-
lich war, um diese Erde, welche so lange ein
Schauplatz ihrer ungezügelten Leidenschaften
und eines Jammers, welchen die Phantasie sich
nicht vorstellen kann, gewesen, in ein leuchten-
des Paradies zu verwaudelu, von welchem bis-
her die Dichter nur geträumt haben."
Man sieht, von der natürlichen Auswahl ausgehend
und von einem Menschen, der noch gar kein Mensch ist,
weil ihm Sprache und Denkvermögen, überhaupt Jntelli-
genz fehlen, kommt Wallaee zu einer phantastischen,
geradezu lächerlichen Utopie, welche aller Erfahrung wider-
spricht, und für welche nicht eine einzige Thatsache bei-
gebracht werden kann. Wallaee weiß nicht zu sageu,
wie und wodurch deuu plötzlich einmal das Denkvermögen
in seinen sprachlosen Thiermenschen fuhr. Die Annahme,
daß der ganze Körper feines Menschen sich dann im Wechsel
aller Epochen gleich geblieben sei, und nur lediglich und
allein das Gehirn sich verändert und zum Höhern eut-
wickelt habe, ist rein willkürlich und wird durch gar keiu
Aualogou unterstützt. Für diese Entwicklung nimmt
Wallaee „zehn Millionen Jahre an", was wieder rein will-
kürlich ist und wofür gar kein Beweis vorliegt. Ein fehr
klarer Denker und positiver Kopf, vr. Hunt, Präsident
der anthropologischen Gesellschaft, erklärte die Annahme,
daß sich die niedrig stehenden Wilden in menschliche Pracht-
exemplare höchsten Ranges umbilden könnten, rund heraus
für eiue Absurdität. Einmal leite man die natürliche
Auswahl von äußeren Ursachen her, und Wallaee spreche
nun von einer inhärenten Kraft und von EntWickelung des
Gehirns. Ein Mensch kann ohne Sprache nicht gedacht
werden; jetzt erfindet man einen, der weder Sprache noch
Intelligenz hatte. Als bloße Hypothese könne man das
Gesetz der natürlichen Auswahl gelten lassen; es sei eben
eine naturwissenschaftliche Spekulation, nicht aber Theil
der induetiven Wissenschaften; sie gilt eben so viel wie
andere Hypothesen und Spekulationen. Wallaee habe zwar
keine Thatsache vorgebracht und auch nicht wissenschaftlich
argnmentirt, aber dafür ein Paradies in Aussicht gestellt,
in welchem jedoch die Menschen alle dieselbe Organisation
des Gehirns haben sollen, welche ihnen heute eigen ist.
„Als Gelehrte müssen wir solchen Träumereien entgegen
treten." —
Als wir das Obige geschrieben hatten, kam uns ein
Werk des sehr fleißigen Adolf Mühry in Göttingen zur
Hand. Dieser Gelehrte hat um die geographische Meteoro-
^ogie uud um die Nosogeographie entschiedene Verdienste.
Sein neuestes Buch führt den Titel: „Supplement zur
klimatographifcheu Uebersicht der Erde" ?e. Leipzig 1865.
In demselben spricht er auch seine Ansicht über den Dar-
^vinismus aus, als welcher zur Zeit fast einen Zauber
ausübe.
Derselbe, sagt Mühry, ist bekanntlich eine Anwendung
des in der Geologie zur Erklärung von dem successiven
Auftreten der geologischen Aendernngen auf der Erdober-
durchdringend erfolgreichen Lyell'schen Princips,
, öp ist das Priueip von nur allmäligem, lang-
3ei lchein Zustandekommen der verschiedenen
^vnnationen, bei Unveränderlichkeit der Ge-
o Hypothese. 45
setze, anstatt zeitweise und in instantaner Weise vorge-
kommener Revolutionen. Es ist aber gewiß am richtigsten,
nicht wieder von einem Extrem in das andere überzugehen,
sondern beide Aendernngsweisen anzuerkennen.
Der Darwinismus ist eine Anwendung dieses Princips
auf die in den Schichten enthaltenen Organismen, und
demnach auf die gauze, auch auf die gegenwärtige, orga-
nische Bevölkerung der Erde. Ein solcher Versuch lag im
Gange der Wissenschaft und war insofern völlig gerecht-
fertigt; die Hoffnung, gleiche Ersolge zu erringen, mußte
die Geister empfänglich machen zur enthusiastischen Auf-
nähme des außerdem mit wirklichem Genie in Darwins
Buche ausgeführten Versuchs. Allein seit mehren Jahren
wartet man vergebens ans die Belege durch Beispiele.
Noch einige Jahre werden vergehen, bis der Darwinismus
erkennt und gesteht, daß die Belege nicht zu finden sind;
da doch bei Richtigkeit der Anwendbarkeit des Princips es
an Uebergangsstnfen der Species wie der Individuen eine
lieberfülle geben müßte, ja, Grenzen zwischen den Typen
gar nicht bestehen könnten.
Nach Darwin wird zum Beispiel, im Ernst, erklärlich
gefunden, daß aus dem Eisbären im Verlauf undenkbar
langer Zeiten, mittels Umänderung der Generationen, der
Walsisch hervorgegaugeu sei. Da müssen doch,
wenn es sich wirklich so verhielte, die Uebergangsstnfen zu
finden sein. Auch Darwins Kunst vermochte nicht aus
seinen Tauben z. B. Enten oder Hühner, auch nur auge-
nähert, zu erzwingen. Wäre dies aber einmal erreicht, dann
freilich würde dem Principe Bahn gebrochen sein.
Da der Darwinismus die Annahme voranstellt oder
als Ergebniß zugesteht, daß dennoch einige wenige
Grundtypen, als die Reihenfolge der mannichfaltigen
Organismen eröffnend, ursprünglich entstanden seien, so
ist darin unbestreitbar völlig logisch, und eousequeut dessen
eigenem Grundsatze, die Annahme enthalten, daß dasselbe
Entstehen auch später und noch jetzt entstehen könne und
zwar aus gleiche Weise eben so gut au einem Orte wie an
einem andern. Wozu dann aber alle so gewaltsamen An-
strengungen, extreme Behauptungen durchzuführen, welche
den Charakter der Natur, wie er dem Unbefangenen erkenn-
bar ist (d. i. die ausgedachte, besondere Ideen aus-
sprechende Planmäßigkeit in der Bildung der Organismen-
typen), durchaus widersprechen?
Das Suchen nach belegenden Thatsachen hat Nutzen
gebracht; wer könnte das leugnen? — etwa wie das Um-
graben eines Ackers. Aber der Erfolg ist gewesen, daß
man wohl in der allmäligen Umwandelbarkeit der Orga-
nismen eine größere Amplitude der Oseillationen bestehend
gesunden hat, als früher gemeint wurde; aber auch eine
Bestätigung des Vorhandenseins von festen Grenzen zwi-
schen verschieden erdachten, Pläne aussprechenden, speci-
fischen Gruppeu, — welche Zwischengrenzen noch niemals
als von der Unwandelbarkeit überschritten in nicht einem
Beispiele nachgewiesen worden sind. Die Methode des
Darwinismus ist nicht die indnctive, sondern ein klares
Beispiel des Deduetionsverfahrens, das nicht die Thatsachen
zuvor sammelt, sondern erst nachher für eine Vorstellung
aufsucht; in diesem Falle sind sie nicht gesunden, der Angriff
ist ab g eschlag eu." —
Leider schreibt Herr Mühry, wie die Leser sehen, einen
äußerst schlechten, peinigenden Styl. Er schließt mit
folgenden Worten: „Fragt man nun, welche Erklärung
der chronologischen Reihenfolge der Organismen in der
Paläontologie und der synchronistischen Reihenfolge in den
derzeitigen Organismenbevölkerungen dann bleibe? so ist
zu antworten:'gar keine Erklärung ist sichtlich besser als
46 Leben und Trei
eine unrichtige. Die Entstehung neuer Arten, d. h. wirk-
lich specifische verschiedene Schöpfungsgedanken aussprechen-
der Gruppen ist als zeitweise in instantaner Weise vor-
kommend anzunehmen, aber zu erklären ist sie bis jetzt
nicht; freilich auch, sie ist noch nicht auf der That ertappt.
Das ist der nüchtern und frei aufgefaßte Standpunkt der
Frage." —
Aber die Zahl der Anhänger von Darwins Hypothese
wächst; das hat sich neulich im August zu Genf gezeigt,
wo die Gesellschaft der schweizerischen Naturforscher sich
versammelt hatte. Professor Karl Vogt erstattete darüber
in der „Kölnischen Zeitung" eingehende Berichte. Einen
derselben schließt er in folgender Weise:
„Sonderbar, wie so manche Richtungen in der Wissen-
schaft sich Bahn brechen und oft im Hintergründe einer
Arbeit anfleuchten, ohne daß der Verfasser derselben sie
gesucht hätte. So geht es jetzt mit dem Darwinismus.
Wenn man früher stets nur Unterschiede, charakteristische
Eigentümlichkeiten suchte und auch faud, so wird man jetzt
fast unwillkürlich auf den innern Zusammenhang der
Formen und ihre Ableitung aus gemeinsamen
Grundlagen hingeleitet. So spricht uns Kölliker
von dem Baue der Polypen und Korallen, namentlich ihrer
Hartgebilde, und es gelingt ihm, die so abweichenden
Formen dieser Theile auf eine einzige krystallinische
Grundform zurückzuführen, und der Paläontologe
Meyer aus Zürich hält mir eine Tafel vor Augen,
welche die Verwandtschaft der einzelnen Arten von Thurm-
schnecken graphisch darstellt. „Das gleicht ja der Darwin'-
schen schematischen Zeichnung auf ein Haar", fagte ich zu
ihm, „Sie sind doch nicht Plagiarius geworden, lieber
Freund?" „Das ist es ja eben", antwortete er lachend,
„das ist das Resultat der Untersuchung von mehreren
u der Zigeuner.
Tausend Exemplaren fossiler Thurmschnecken — da
ist die Grundform uud so zweigen sich die abgeleiteten Ge-
stalten ab, ohne Halt in den Uebergängen!" „Haben
Sie gehört", sagt ein Anderer, „was eben in der geolo-
gischen Section vorgegangen ist? Herr Cottean hat einen
sehr interessanten Vortrag über See-Igel gehalten und
zum Schlüsse bemerkt, daß seine Untersuchungen ihn zu
dem Resultate geführt hätten , daß keine Uebergänge zwi-
schen den Formen Statt fänden, worauf ihm Defor, der
die See-Igel ebenfalls sehr genau studirt hat, antwortete:
Seine Untersuchungen über dieselbe Gruppe haben ihn
gerade zu dem entgegengesetzten Resultate geführt, so
daß er die Uebergänge der Formen in andere jederzeit nach-
zuweisen bereit sei. Darauf hält uns Pictet de la Rive
einen inhaltreichen Vortrag über die versteinerten
Fifche aus der Kreideperiode, die im Libanon gefnn-
den werden, und die er mit Hambert untersucht hat.
Jetzt, sagt er, bilden die echten Knochensische vielleicht neun
Zehntel der Gesammtheit. Wollte mau deu Typus eines
echten Knochenfisches aufstellen, so müßte man einen Hale-
coiden (Häring oder Forelle) zeichnen. In der Kreide
kommen hauptsächlich echte Knochensische vor — im Jura
nur einige wenige, die aber mit Halecoiden die größte Aehn-
lichkeit haben, früher gar keine. Das ist alfo die Stamm-
form, aus der sich die abweichenden Formen in der Kreide
uud suceessive die übrigen, so mannigfachen Typen der
Jetztwelt entwickelt haben." Rouget von Montpellier,
der, obgleich Franzose, doch Darwinist ist, nickt mir zu, und
ich lächle Verständniß — innig. „Die Herren mögen mir
glauben", sagt Pictet, „daß ich uicht mit vorgefaßten Mei-
nungen an die Untersuchung- ging — vielleicht war ich
mehr zur Annahme des Gegentheils geneigt —aber ich kann
der Wahrheit die Anerkennung nicht versagen!" A.
Leben und
1. Auf dem Monte sacro in Granada.
Die dunkelfarbigen Menschen, welche fernher aus Asien
stammen und in unserm Abendland eine so fremdartige
Erscheinung bilden, nehmen fortwährend die Aufmerksam-
keit in Anspruch. Wir haben schon früher im Globus
einigemal Mittheilungen über die Zigeuner gebracht,
theils nach eigenen Beobachtungen, theils nach den vortreff-
lichen Büchern von Borrow und Lieb ich in Lobenstein.
Jüngst erhielten wir einen Aufsatz vom Herrn Professor
A.Boltz in Frankfurt am Main, in welchem fehr klar und
übersichtlich der gegenwärtige Stand der Forschungen über
das umherschweifende Volk erörtert wird. Wir theilen
denselben weiter unten mit. Wir haben ferner das in
linguistischer Beziehung ausgezeichnete Bnch des Professors
G. I. As coli in Mailand, „Zigeunerisches", Berlin
1865 (Verlag von E. Heynemann); sodann wiederum
eine Anzahl von Zeichnungen Gustav Dors's, welcher
auf seiner Kunstwanderung durch Spanien die Gitanos mit
besonderer Vorliebe beobachtet hat. Unsere Leser kennen
die prächtigen und markigen Bilder, welche wir früher ans
der Zigeuner.
einigen Städten Andalusiens mitgetheilt haben. Nun
finden wir Dors und seinen Begleiter Davillier in den
Vorstädten von Gr an ad a, wo sie mit Eifer und Erfolg
sich dem Studium der Zigeuner Hingaben.
Sie besuchten den Monte sacro, eine Vorstadt, in
welcher man einst Knochen von Heiligen gefunden haben
will, denn die Zahl der Märtyrer oder solcher, die der große
Haufe dafür hält, ist Legion. Jetzt ist der heilige Berg,
das eigentliche Hauptquartier der grauadinifchen Gitanos,
eine besondere Stadt in der großen Stadt, mit einer Be-
völkernng, die ihre besondere Sitte und Sprache hat, und
ihre eigentümliche Wohnung, denn von Häusern kann
nicht die Rede sein. Die Bergwände nämlich sind^ mit
einer Unzahl Grotten und Höhlen durchlöchert, und in diesen
hausen die Zigeuner als wahre Troglodyten. Einige dieser
Wohnungen haben einen kleinen, immer schlecht nnd nach-
las,ig umzäunten Vorhof. Wozu auch sollte man denselben
verschließen? Es ist nichts da, was zu stehlen sich der
Mühe verlohnte. Die Grotte besteht aus einem einzigen
Gemach und hat eine gewöhnlich baufällige Bretterthür,
und die Wände sind mit Kalk geweißt. Drinnen lebt die
Die Grottenwohnungen der Zigeuner auf dem Monte sacro in Granada. (Nach einer Zeichnung von G Dor .)
Leben und Treiben der Zigeuner.
manchmal bis zu zehn Köpfen starke Familie niit und durch
einander; der Rauch zieht durch die Thür oder durch ein
Loch ab, das Familienzimmer ist zugleich Küche. Der
armselige Hausrath besteht aus eiu paar Bänken, einem
Tisch und dann und wann auch aus einer Strohmatratze.
Diese erscheint aber als ein Luxus; für gewöhnlich schläft
der Gitano auf der platten Erde. Nackte Kinder, fast so
schwarz wie Neger, laufen oder krabbeln umher zwischen
Hühnern und Schweinen.
So siud fast alle diese Höhleu, und die Zigeuner von
Granada leben fast noch dürftiger als jene in anderen
Städten Andalusiens und Spaniens überhaupt. Manche
sind Hufschmiede oder Schlosser und diese haben ihre Werk-
eine ganz ungemeine Beweglichkeit. Man hält sie alle-
sammt für Diebe von Kindesbeinen an; aber sie verfahren
nicht gewaltthätig und können in dieser Beziehung für
harmlos gelteu. Aber dem Eigenthum ist ihre Finger-
fertigkeit immerhin gefährlich. Doch gibt es löbliche Aus-
nahmen, und zu diesen gehört der Gitano Rico, ein
wackerer Mann, dessen Gesichtszüge allerdings von denen
seiner Genossen erheblich abweichen. Dor<3 verlor einige
Geldstücke, und Rico brachte sie ihm ehrlich wieder. Der
Künstler zeichnete ihn und belohnte ihn obendrein.
Die Gitanas sind schlank und fein von Wuchs und
haben eine ganz eigenthümliche Haltung beim Gange. Es
gibt unter ihnen blendende Schönheiten mit großen, fchwar-
/ ,f ; (jv)W
In der Zigeunervorstadt zu Granada. (Nach einer Zeichnung von (3, DorS.)
statten im Berge. Wenn man Abends vorüber geht und
sie hämmern sieht, gewähren sie bei dem nnsichern Flammen-
licht ein eigenthümlich ergreifendes Schauspiel. Andere
treiben die Chalaueria, d. h. das Gewerbe des Roß-
kammes, und mit vollem Rechte kann man sie als Roß-
täuscher bezeichnen. Sie verstehen sich ans ihre Sache ganz
vortrefflich und sind berüchtigt dafür.'
Die Gitanos in Granada haben olivenbraune Haut-
färbe, schwarze, lange und zugleich krause Haare und etwas
aufgeworfene Lippen; man unterscheidet sie gleich auf den
ersten Blick von den Spaniern. Gewöhnlich sind sie von
kleinem Wuchs und haben stark hervorragende Backen-
knochen. Sie gesticnliren ungemein lebhaft, noch mehr als
selbst die Neapolitaner, und haben im Gesichtsausdruck
zeu Augen und Schelmenblick (was die Spanier als pica-
resk bezeichnen), rabenschwarzem Haar und blendend weißen
Zähnen. Ein Hauptgewerbe der Zigeuuerfraueu ist bekannt-
lich das Wahrsagen, die baji, la buena Ventura, und
die Chiromantie, das Prophezeien aus den Linien der
innern Hand, bringt manches Stück Geld ein. So trieben
sie es schon im 16. Jahrhundert, als Covarrubias sie schil-
derte als eiu verlorenes Vagabundenvolk, unruhiges, lügen-
Haftes und betrügerisches Gesindel, das aus den Linien
der Hand wahrsage. (Berits perclida y vagamunda,
inquieta, enganadora y embustidora; dicen la buena Ven-
tura por las rayas de los manos.)
Ihr Tanz ist unvergleichlich; fo oft man ihn auch
geschildert hat, immer übt er neue Anziehungskraft auf
Leben und Treiben der Zigeuner.
Einheimische wie auf die Fremden. Gewöhnlich kommen
die Zigeuner in die Gasthöfe, und der Capitan, welcher die
Oberleitung hat, muß das Ballet anordnen, armar el ba'üe,
und die Guitarre spielen. Aber diese Tänze sind schon
künstlerisch und reflectirt und habeu uicht die ächtzigeune-
rische Ursprünglichkeit, sie werden des Geldes wegen, man
kann sagen, zurecht gemacht. Den ächten, naiven, urwüch-
sigen Zigeunertanz sieht man nur auf dem Monte sacro;
er wird nur unter Zigeunern selbst oder ausnahmsweise
vor guten Freunden und näheren Bekannten zum Besten
eine große vertrocknete Fledermaus, die vortrefflich zum
satanischen Gesichtsausdruck der Vettel stimmte. Sie nahm
einen großen Pandero und schlug mit deu Fingern aus die
gebräunte Spannhaut dieses Tamburins, und die kupfernen
Schellen klimperten und die Umstehenden riefen: Vorwärts
Alte, immer zu Doppeltalte! Anda, vieja, anda, revieja!
Nun trat ein prächtig gebautes Mädchen an, das man
la Pelra nannte, und tanzte den Zorongo mit hin-
reißender Anmuth; ihre unbekleideten Füße streiften leicht
den Boden, sie trat und glitt, als hätte sie das schönste Ge-
Der Zigeuner Nico in Granada. (Nach einer Zeichnung von G. 2)or6.)
gegeben, uud zu diesen gehörten Davillier und Dor6. Wie
prächtig nahmen sich dort die Tänzerinnen in ihren arm-
seligen Lumpen aus, und wie klapperten sie so munter und
ungeduldig mit den Castaguetten, ehe die Gnitarreu und
die Panderetos herbeigeholt worden waren, mit denen der
improvistrte Tanz begleitet werden sollte! Dann begann
die Musik in seltsamen Weisen, welche mit näselndem Ton
auch gesungen wurden. Seltsames Schauspiel! Eine alte
Zigeunerin, eine leibhaftige Hexe, die auf dem Monte sacro
eine große Rolle spielt, saß an einer Wand; über ihr hing
Globus IX. Nr. 2.
täsel unter sich. Der Klang der Guitarre wurde lauter
und lebhafter; alle Anwesenden riefen: Jny! ole, ole!
Alz et! Man klatschte Beifall, und die schöne Gitanilla
war in der That bezaubernd. Sie gerieth mehr und mehr
in Feuer, ihr Haar löste sich und flatterte über die braunen
Schultern hinab. Dann sprang ein junger Gitano aus sie
zu und nahm sie bei der Hand, zwei andere Paare thaten
ein Gleiches, noch andere folgten und nun dauerte der Tanz
fo lange, bis hie Guitarrenspieler die Arme sinken ließen.
Nach einer Panfe traten zwei kleine Zigeunermädchen
7
50
A. Boltz: Abstammung und Sprache der Zigeuner.
von 8 bis 10 Jahren auf, um es ihren älteren Schwestern
nachzuthun. Beide waren mit kläglichen Lumpen behängt.
Die eine beschrieb mit ihren Armen Kreise und schlug mit
Castagnetten den Takt; die andere hob mit der einen Hand
das zerlumpte Röckchen auf, machte herausfordernde Stel-
lungen, drehte den Kops hin und her, warf ihn stolz zurück,
stemmte die eine Faust in die Seite und wiegte sich hori-
zontal, was man Zarandeo nennt, weil man es mit
einem Siebe vergleicht, das hin und her bewegt wird.
Der Vater, ein sehr dunkel gebräunter Mann, stand dabei;
über dem Tuche, welches er um den Kops geschlungen, saß
der Zigeunerhut, der Sombrero calanes. Mit dem Dan-
meu schlug er auf das Tamburin, und die neben ihm sitzende
Mutter blickte wohlgefällig auf die Kleinen. Die alte
Hexe, die Revieja, mochte sich Wohl ihrer Jugend erinnern;
auch sie griff nach den Castagnetten, klapperte, munterte
die kleinen Tänzerinnen mit Worten an, trat den Takt und
rief wiederholt: Mehr Zarandeo, Kleine, mehr Zarandeo!
Wieder ein anderes Bild: Eine neue Tänzerin kam
hinzu, eine Gitanilla von etwa 15 Jahren mit schüchternem,
schwermüthigem Blicke, kleinem Kopse und ungemein dich-
tem Haar. Die Haare ihrer Augenlider waren ungemein
lang und gaben der ganzen Erscheinung etwas eigenthüm-
lich Wildes; die sehr kleinen und zierlichen Füße und
Hände bezeugten, daß das Mädchen von ganz reinem,
unverfälschtem Zigeunerschlage war. Der Wuchs erschien
geradezu ideal; die Beweguugen beim Tanze hatten nichts
von der stürmischen Beweglichkeit der übrigen Gitanas;
diese rührte sich kaum von der Stelle, bewegte die Arme
mit anmuthiger Nachlässigkeit, wiegte zierlich den Hals auf
deu Schultern; sie tanzte eigentlich nur mit Kopf, Armen
und Hüften; aber nie hat man wohl einen schönern Tanz
gesehen.
Ein günstiger Zufall fügte, daß Davillier und Dors,
welche den Monte faero häufig besuchten, einmal die oben-
erwähnte Hexe, die Revieja, überraschten, als sie gerade
buena Ventura prophezeite. Unser Bild, welches Dors
sofort skizzirte, stellt den Auftritt dar. Vier junge, elegant
gekleidete Frauen waren in die Höhle gegangen, um für
gutes Geld zu hören, was ihnen angenehm war. Die
jüngste von ihnen saß auf einem Poyo, einer Steinbank,
und hielt den Fächer vors Gesicht; die übrigen standen bei
Seite. Es gehen wundersame Dinge vor bei den Troglo-
dyten auf dem Monte faero zu Granada!
2. Abstammung und Sprache der Zigeuner.
Von Prof. A. Boltz in Frankfurt a. M.
Die Leipziger Jllustrirte Zeitung brachte im November
1864 die Abbildung eines Zigeunerlagers, nach einer
Orginalzeichnung des genialen Paul Meyerheim, wie
solches urplötzlich in der nächsten Umgebung von Berlin,
der Hauptstadt „norddeutscher Intelligenz", und zwar
rasch auseinander an drei verschiedenen Stellen, von einer
Zigeunerhorde war aufgeschlagen worden. Eine Bande
echter, aus Kroatien gekommener Zigeuner hatte — wie
in den wenigen Begleitworten gemeldet wird — ihre
lumpigen Leinwandzelte, etwa ein Dutzend, auf offenen:
Felde aufgeschlagen Neben den Zelten sind kleine, meistens
schlecht gefütterte Pferde angepflöckt, gewöhnlich mehr als
zur Fortschaffung der Karawane nothwendig sind, da der
Zigeuner leidenschaftlicher Liebhaber von Pferden ist. Da-
zwischen stehen die Karren, mit den Habseligkeiten beladen,
auf welchen in Lumpen gehüllte oder auch völlig nackte
Kinder umherklettern, die in ihren drolligen Bewegungen
den Aeffchen gar sehr gleichen, aber in ihrer Körperbildung
die schönsten Menschenkinder sind, die man überhaupt sehen
kann: braun, voll geformt, mit feinen Näschen, blutrothen
Lippen, glühenden Augen und glänzend schwarzer Haar-
mähne. In gleicher Sorglosigkeit wie die Knaben tummeln
sich die kleinen Mädchen. Nur eine halbreife Dirne
erscheint in bettelhaftem Theaterpomp, in silbergesticktem
Kleide und hohen rothen Stiefeln. Von den Weibern
benutzen nur die schöneren die Vortheile des Putzes. An-
schließende betreßte Mieder umgeben die vollen Formen
des Oberkörpers; der Ausdruck der feingeschnittenen
Gesichtszüge wird durch die üppigen, mit Perlen und
Flitter durchwobenen Haarflechten umrahmt und gehoben.
Die meisten Weiber sind häßlich, und dürftig gekleidet.
Während die alten, müßig ihre Pfeife rauchend, vor den
Zelten sitzen, sind die jüngeren mit den Sorgen des Fa-
milienlebens belastet; sie herzen die zahlreiche kleine Brut,
die unter jedem Zelte ein großes Nest ausfüllt.
Die Männer sind hagere, robuste Gestalten, von oliven-
brauner Hautfarbe, mit erhabener Stirn, tiefliegenden
schwarzen Augen von wildlauerndem Blick, glänzend
schwarzem Kopf- und Barthaar und blendend weißen
Zähnen.
Die Aeltern behandeln ihre Nestlinge und die flügge
gewordene Brut mit jener verhätschelnden Nachsicht, die
nothwendig zur naturalistischen Erziehung gehört; nur in
Bezug auf Abhärtung sind sie unerbittlich. Mit behag-
lichem Wohlgefallen ihren Spielen zuschauend, liegt der
Paterfamilias auf der Streu oder fchmiedet bessernd an
einem alten Radreifen; andere Männer füttern die Pferde,
die meisten rauchen, lachen oder plaudern in einer Sprache,
die nicht ihre ureigene, sondern der kroatischen ähnlich ist.
Die Kleinen, welche schon auf eigenen Füßen stehen
können, reichen sich abwechselnd die dampfende Tabaks-
pfeife, mischen sich mit bettelnder Geberde unter das
Publikum und balgen sich dann in possirlicher Weise um
ein Almosen. Ein kleiner Knabe hat sich eine große Brille
von weißem Bleche aus die Nase gesetzt und karikirt viel-
leicht einen berliner Professor, der unter ihnen linguistische
Studien anstellen wollte.
Als die Kunde nach Berlin gelangte, daß kaum eine
Meile von der Residenz eine Zigeunerbande lagere, und
zwar nicht solche mit deutschem Blute gemischte Herum-
treiber, wie sie in der Mark und in Pommern nicht eben
selten vorkommen, sondern echte, unverfälschte Typen der
indischen Parias: da machten sich die Schaulustigen aus
den verschiedensten Ständen zu Wagen, zu Roß und zu
Fuße um so mehr auf, die verwilderten Fremdlinge in
Augenschein zu uehmen, als Zigeuuer in Preußen bereits
so selten geworden sind, daß sie gar nicht mehr in die amt-
lichen Bevölkerungslisten eingeführt werden, und auch die
Künstler waren in den ersten Reihen derer, die bei diesen
fremdartigen Wanderern mit Interesse verweilten.^ Jenes
Bild Meyerheims verdankt diesem Umstände seine Ent-
stehung.
Worin liegt nun das große Interesse, welches diese
Geächteten, dieses notorische Diebs- und Bettelgesindel,
seit mehr als 400 Jahren aus die abendländische Phantasie
ausüben; was fefselt uns — wenn auch nur momentan —
so eigentümlich an diese seltsamen, unliebsamen Gäste, die
in ihrer charakteristischen verkommenen Dürftigkeit nur hin-
gegeben sind an den ausschließlich-materiellsten Genuß der
Gegenwart in dessen niedersten Formen, die nichts wissen
und nichts zu wissen verlaugeu vou allen deu Fragen, an
- Jas
54
A. Boltz: Abstammung und Sprache der Zigeuner.
Welchen die denkende Menschheit nun schon seit Jahr-
tansenden sich abmüht, sondern die, einem fast vegetirenden
Dasein sröhnend, wie. ein Räthsel dastehen inmitten unserer
beweglichen Zeit, wo geistesrege jeder vorwärts drängt
und strebt und ringt und forscht und sinnt, uud „Erkennt-
uiß" die Losung der Tagesordnung ist, wo hinwiederum
Alles abgemessen, erwogen, bestimmt, begrenzt, geregelt
uud von tausend Gesetzen der Gesellschaft, der Sitte und
des Anstandes gesichert und umfriedet ist, nicht nur für das
Gedeihen der Völker uud des Individuums der Gegenwart,
sondern weit hinaus greifend und vorbauend für die Wohl-
fahrt kommender Geschlechter.
Während wir uns milde sinnen und ringen im Doppel-
kämpfe des Lebens nach Innen und Außen, liegen sie
behaglich am Zelte uud vergeigeu, verrauchen und ver-
schlafen das Leben und bieten in ihrer ärmlichen Ver-
kommenheit, in ihrer trotzigen Genügsamkeit allerdiugs eiu
Bild dar, dem man ein gewisses poetisches Interesse nicht
absprechen kann.
Und so hat sich denn auch die Kunst ihnen schon zum
Oesteren zugewandt, um sie um ihr Geheimniß zu befragen,
und von Cervantes an, dessen reizende Novelle La gitanilla
Preciosa wieder zu einer Zigeuneroper Veranlassung gab,
haben Maler, Dichter uud Schriftsteller sast aller Nationen
und stets sehr hervorragende, hineingegriffen in dies wüste
Volksleben und reizende Motive in jeglicher Form daraus
zu Tage gefördert. So die Maler Murillo, Delaroche,
Dor6, die Dichter Walter Scott, Victor Hugo, kavier de
Moutepin, Beranger, Lenau, Geibel, Julius Mosen, Karl
Beck, Alexander v. Puschkin u. Ä. m.
Welcher Art waren ihre bisherige Schicksale, was sind
sie, woher kommen sie, welches ist der Inhalt ihres geistigen
nationalen Daseins, soweit ein solches vorhanden, und
welche sind voraussichtlich ihre dereinstigen Geschicke in-
mitten des immer mehr sich abschleifenden, glättenden,
civilisirenden und humanisirenden Europa?
Diese uud ähnliche Fragen annähernd hier zu beant-
Worten, ließ mich das allseitige Interesse, das sich an diese
„roues de la misere" knüpft, übernehmen, wozu mich der
Umstand ermuthigte, daß mir diese interessanten Vaga-
buuden auf meinen langgestreckten, zum großen Theil zu
Fuß ausgeführten Wanderungen von der Wolga bis zur
Garonne, und von den Karpathen bis zum Fuße der Pyre-
näen, in so mannichsachen Exemplaren, oft sehr gegen
meinen Wunsch, bekannt geworden sind, daß ich ihnen nicht
gerade als homo novus gegenüber stehe. *)
In die europäische Völker - und Staatenwelt bricht mit
einem Male, in: Anfange des 15. Jahrhunderts — spo-
radisch vielleicht schon früher — ein großer Trupp frem-
den, dunkelfarbigen Volks in Europa ein, das ohne Idee
von heimatlichem Heerd und ohne Gott, ohne Sitte
und ohne Recht, ohne Wissenschaft und ohne Kunst, ohne
Scham und ohne Ehre, ohne Poesie, ja ohne Tradition,
nichts von sich zu sagen weiß als daß sie die Roma und
über ein großes Wasser gekommen seien, die nichts können
als Kessel flicken, Pferde beschlagen, tanzen, musiciren,
wahrsagen und — stehlen, letzteres dagegen in höchster
Meisterschaft.
Im Jahre 1417 in dem Fürstenthum Moldau, das
damals noch bis an das Schwarze Meer sich erstreckte, zu
vielen lausenden angekommen — ans Gründen, die denen
*) Der Herr Verfasser laßt im Manuskript hier eine Cha-
rakteristik der chamitischen, semitischen und arischen Völker-
gruppen folgen, die wir, in Hinblick auf unfern Raum, leider
nicht aufnehmen können. D. Red.
vielleicht nicht unähnlich sind, kraft welcher gegenwärtig die
Tfcherkeffen gezwungen sind in die Türkei einzuwandern —
gaben sie sich mit der ihnen eigenen, rasch orientirten Schlau-
heit für auf einer Bußfahrt begriffene Pilger aus und zer-
streuten sich mit kaum begreiflicher Schnelligkeit bis an die
Nordsee und bis nach Dänemark uud Schweden. Das
nächste Jahr sind ihrer bereits 14,900 in Italien. Andere
große Massen werfen sich nach Polen und dringen ins
Innere von Rußland ein, bis fast zurück nach Asien; wie-
der andere, stets truppweis zusammenhaltend, wenden
ihren Marsch nach Deutschland und der Schweiz und
Frankreich, iu dessen Hauptstadt am 17. Aug. 1427 eiu
Chef (der sich Graf nannte) und 10 Männer, alle zu Pferde,
mit etwa 80 Weibern und Kindern, zum fprachlofeu Stau-
neu der Zeitgenossen, ihren Einzug halten. Wieder andere
zogen südwestwärts weiter nach Spanien, bis ihnen der
Ocean Halt gebot.
Von ihrer äußern Erscheinung überrascht, schenkte man
ihren Angaben anfänglich Glauben uud hielt sie für uu-
schädlich, bis es unmöglich ward, das lawinenartig an-
wachsende Mißtrauen gegen ihre immer bösartiger hervor-
brechenden Naturanlagen zu unterdrücken. Da war es zn
spät sie zurückzudrängen.
Zu dieser beispiellos schnellen Verbreitung und Fest-
setzung über ganz Europa waren ihnen die herrschenden
Politischen und Kulturverhältnisse merkwürdig zu Hülfe ge-
kommen. Vorerst wirkte wohl das Plötzliche, Eigeuthüm-
liche ihrer Erscheinung damals mindestens eben so stark auf
die Gemüther wie noch heut, wenn nicht mehr. In zweiter
Reihe kam dann in jener Zeit die krasse Ignoranz, die
durch alle Stände waltete; der Wunderglaube und der
Glaube an jegliches Wunderbare, in Ermangelung fast aller
Kenntniß des Wirklichen bei allen Nationen, die noch ziem-
lich frische Erinnerung an die Kreuzzüge mit ihr en Wunder-
gestalten, verklärt durch deu Duft der Zeit, verschobeu
durch abertausend snbjektiveZnsätze, die herrschende Wander-
lust in Bürgergilden, Hochschulen und Sängerzünften, das
ganze fahrende Ritterthum mit feinen ungeheuerlichen
Abenteuern uud abenteuerlichen Ungeheuern, deren Phan-
tafiegestalten nun hier zum Theil als verwirklicht auf-
tauchten, kurz, die ganze geistige Zerfahrenheit und Ro-
mantik jener Zeit, die gerade im höchsten Gährungsprozesse
begriffen war, wirkte für die Pläne der schlauen Eindring-
linge gerade eben so günstig, wie der in höchster Blüthe
stehende Fehdestand in fast ganz Europa.
England unter Heinrich V. im Kampfe gegen den
schwachen Karl VII. vou Frankreich, dem eine Jeanne
d'Arc Krone und Waffenehre retten muß, um als Hexe
dafür verbrannt zu werden. Italien, niüde von der
Zwietracht und der Verwüstung der Guelfen und Ghibel-
linen, und noch davon wiedertönend, und erst unter Cosmo
dei Medici sich zum modernen Staatsleben entwickelnd.
Spanien, d. i. Castilien und Leon, int wüthendsten Ver-
nichtuugskampfe gegen das Maurenreich Granada, das
erst 1492 fällt. Das kleine Portugal ganz vertieft in
feine maritimen Unternehmungen, die ein Vasco da Gama,
ein Cabral, ein Albnquerque so bald zu so großer Höhe
bringen sollten. Griechenland imKampse mit den an
die Pforte Europa's klopfenden Türken, die sie nur zu
bald erstürmen. Die Kirche beschäftigt, ihre ersten Eon-
cordate abzuschließen, Hexenprozesse anzustrengen, Hnssiten
zu verbrennen und ihre berühmten Concilien von Eostnitz
(1414), Basel (1431) und Florenz (1439) zu Planen.
Deutschland (unter Albrecht II.)^von inneren Fehden
mehr zerrissen, denn je. Dabei Magie und Astrologie als
gefeiertste Wissenschaften in der Nähe der Throne!
Ein deutsches
In diese Zustände schlichen sich die Fremdlinge rasch
und fast überall mehr oder weniger fest hinein. Kein
Wunder, wenn dieselben vorzugsweise geeignet waren, ihre
angebornen schlechten Anlagen zu voller Blüthe und Thä-
tigkeit zu entwickeln. Als man sich über die Zigeuner klar
wurde, war es, wie gesagt, zu spät. Im Sinne der guten
alten Zeit wurden sie nun fast überall gradezu für vogelfrei
erklärt. Man hetzte sie wie Wild, hing sie zu Massen auf,
wo man sie traf, peitschte, folterte, verbrannte sie; kurz,
keiu Mittel schien zu schlecht sie zu vertilgen. Und doch
war das Alles nutzlos, denn Niemand kannte so wie sie
alle Schlupfwinkel jedes Landes, Niemand vermochte jedem
klimatischen Ungemache so zu trotzen wie sie, Hunger, Durst,
Hitze und Kälte und jegliche Roth so zu ertragen wie sie,
und beim leisesten Sonnenhauch des Glückes wieder zu so
reich gesegneten Familiengruppen anzuschwellen, wie sie.
Kurz, sie blieben — und sind eben noch da, und
so wird es wohl nachgerade Zeit sein, einen Schritt näher an
sie heranzutreten und uns von diesen Beduinen der Welt-
geschichte, wie sie Julius Mosen in seiner reizenden
Zigeunernovelle: „Die blaue Blume", zwar poetisch doch
unzutreffend genannt hat, ihren Doppelpaß ans Asien und
Afrika einmal vorzeigen zulassen, und ihnen, da sie es
selber nicht vermögen, ihre Heimat endgültig anzuweisen.
Das werden wir kraft der vergleichenden
Sprachwissenschaft unfehlbar vermögen. Ebenso wie
wir wissen, daß die Bewohner des fernen Islands, von
dem man eine Zeit lang schwankte, ob man es Europa,
Schifservolk. 55
Amerika oder einem neu zu begründenden arktischen Welt-
theile zuzählen sollte, die Sprache der in Asien heimischen
Arier reden, und daß alle ihre primitiven Anschauungen
von dorther ausgingen und nur dort wieder ihre endliche
Lösung finden, so gut wie die der Nachkommen der Perser,
Griechen, Römer, Kelten, Teutonen, Slawen und Littauer,
deren gegenseitige sprachliche Verwandschaft durch sichere,
oft mikroskopische Forschung erkannt ist, als aus den ewi-
gen, unabweisbaren Gesetzen des Lautwechsels ruhend, —
ebenso wie wir wissen, daß alle die genannten Völker-
schaften, bis in ihre letzten Stamm - und Sprachspaltungen
hinein, zusammen gehören zu einer großen Familie, der
es ganz wohl anstehen würde, wollte sie in allen ihren
Gliedern dieser heiligen Blutsbande ein wenig besser ein-
gedenk sein; ebenso wie die Sprachwissenschaft den Ma-
gyaren sin Ungarn), anfänglich sehr zu deren Verdruß,
ihren Platz angewiesen hat in der großen Völkerfamilie der
„Turaner", neben Finnen, Tataren, Türken, Kirgisen und
Baschkiren; ebenso unfehlbar werden wir die Zigeuner an
den ihnen gebührenden Platz stellen, oder vielmehr, es ist
bereits geschehen. Und wenn wir dann sehen sollten, daß
wir sie neben unsere gelehrten brahmanischen Sanskrit-
Inder aufzunehmen haben als eingeborne Glieder in die
edle Familie der Arier, so wollen wir, auch ihre Stamm-
genossen, wenn auch in fernster Sippe, sie betrachten wie
den verlornen Sohn in der Schrift und hoffen, die Zukunft
werde auch für sie noch Keime der Kultur in ihrem Schooße
bergen. (—??—)
E i n deutsches Schifservolk.
Von einem Mecklenburger.
An der deutschen Ostseeküste, dort wo Pommern und
Mecklenburg an einander grenzen, zieht sich von Nordost
nach Südwest ein vielfältig gespaltener und mannigfach
ausgebuchteter Meerbusen in einer Länge von fast sieben
Meilen und in einer Breite, welche von etwa ein Zwanzig-
stel Meile bis zu zwei Meilen mehrfach wechselt, in das
Land hinein. Auf pommerschem Gebiete ist derselbe nach
der Ostsee hin durch die langgestreckte Insel Zingst und
durch die mit dem mecklenburgischen Gebiete zusammen-
hängende Halbinsel, den Darß, begrenzt; in Mecklenburg
durch das lange, schmale Fischland und durch einen
anderweitigen, kleinen Distrikt des Amtes Ribnitz, welcher
dem sogenannten Clashahnenorte angehört. Letzterer
Distrikt und der pommersche Darß werden durch das Fisch-
laud miteinander verbunden.
Dieser Meerbusen trägt in seinen verschiedenen Becken,
Buchten, Engen und Armen 'eine Menge verschiedener
Namen. Seiu östlicher Theil, der nur mittelst eiues
mäßigen Armes mit der offenen See zusammenhängt, heißt
die Grabow. Dann folgt der Barth er Bodden, die
dann der Bootstedener und der Pruchtener
Bodden, der Doppelstrom, der Saaler Bodden
und endlich der Binnensee, von dem sich wiederum die
Permien abzweigt. Alle diese Gewässer, mit Ausnah
nie
der beiden letztgenannten, gehören zu Pommern, und sie
mögen hier eine Fläche vou drei Quadratmeilen bedecken,
während der mecklenburgische Antheil ungefähr drei Viertel
einer Ouadratmeile mißt.
Im gesammten Deutschland, wenn man von den friesi-
fchen Inseln an der Küste von Schleswig absieht, gibt es
keinen Landstrich, den die Natur so sehr einer Fischer - und
Schifferbevölkerung zugedacht zu haben scheint, als eben
diesen. Denn der Boden ist hier durchweg eiu ziemlich
dürftiger, oft fogar ein völlig unfruchtbarer Sand, und felbst
dort, wo seine natürliche Beschaffenheit ihn zum Anbau
von Kulturgewächfen geeignet macht, werden diesen die
heftigen Stürme oftmals gefährlich und Verderben bringend.
Auch zur Viehzucht, obschou sie als Nebenerwerb in meh-
ren Dörfern ziemlich im Schwünge ist, erscheint die Gegend
nur schlecht geeignet. Einerseits mangelt es in diesem
Distrikt fast alleuthalbeu an ausreichenden natürlichen
Wiesen, so daß der Winterbedarf an Heu aus der Ferne,
meistens über Stettin aus dem Oderbruche beschafft werden
muß, andererseits wirkt der Genuß der vielen harten See-
strandpflanzen und das Tränken mit brakigem:") Wasser
und
*) Brakig nennt man ein solches Wasser, in dem Süßwass
Seewasser sich vermischten. Je nach Umständen, die vo
er
von
56 Ein deutsch
Weder günstig auf die Milch- noch auf die Wollproduktion.
Dagegen sind hier die Ostsee und im weit höhern Maße
noch diese Brakwasser haltenden Meerbusen und Wasser-
laufe reich an Fischen der verschiedensten Gattungen, und
mehre alte, beträchtliche Handelsstädte, wie Stralsund,
Greifswalde, Wolgast und Rostock, von denen aus seit
vielen Jahrhunderten bedeutende Seefahrt getrieben wird,
liegen in der Nähe. So weist denn hier Alles den Men-
schen auf die See, als auf sein eigentliches Element hin,
und die Bewohner dieser Gegenden haben denn auch den
Fingerzeig der Natur verstanden, allerdings in dem einen
Distrikte früher und allgemeiner als in dem andern; fast
seltsamer Weise am ersten und am gründlichsten in dem
mecklenburgischen Laudestheile. — Hier nutzt in der That
die Bevölkerung das ihr von der Natur Geboteue iu einem
so reichen Maß ans, wie dergleichen in Bezug auf das
Meer in Deutschland nicht wieder vorkommt. Denn wo
sonst fänden wir in unserm Vaterlande einen von 2500
Menschen bewohnten ländlichen Distrikt, der mehr als
200 große Seeschiffe besitzt, welche Schiffe zusammen einen
Werth von mindestens drei Millionen Thalern repräseu-
tiren, und deren Tonnengehalt etwa den achten Theil dessen
beträgt, den die gesammte preußische Rhederei aufweist?
Dieser Landstrich und feine Bewohner verdienen daher
eine genauere Beachtung, als mancher weit ansgebreitetere
Theil unseres Vaterlandes, wo ohne sonderlichen Aufwand
von Intelligenz und Energie mit längsterschlossenen Kultur-
zweigen der Eingewohnte sein Dasein fristet. Das ist denn
auch bereits mehrfach erkannt und Manches hier und dort
über dieses Schifferlaud und über seine Bewohner geschrieben
worden; leider aber sehr Weniges, was von der Wirklich-
keit ein gutes Bild gewährte.*)
Zunächst werde ich eine Beschreibung von dem mecklen-
burgischen Autheile dieses Schifferlaudes geben, also von
dem Distrikt, der das Fischland und die beiden Dörfer
Dierhagen und Dänendorf begreift. Späterhin
gedenke ich auch den Darß und Zingst zu beschreiben, von
denen in größeren Kreisen noch weniger bekannt ist, als
Stürmen und Fluten, Regen und Schnee abhängen, ist es bald
mehr, bald minder salzig.
*) Manches Falsche, ja völlig Verkehrte ist in Umlauf
gesetzt worden, namentlich von Seiten zweier renommirten Ton-
risten, deren Berichte und Schilderungen über dieses Land und
dieses Volk sich nicht viel besser mit der Wahrheit stehen, als
Lucians wahrhafte Geschichten, oder des Barons von Münch-
Hausen Reiseabenteuer. Trotzdem jene Herren Touristen es be-
haupten, muß man doch ernstlich bezweifeln, daß sie jemals
einen Fuß in diese Gegenden gesetzt haben, denn so verkehrt sieht
selber ein blödes Auge bei einer oberflächlichen Umherschau
nicht leicht. Zwei mecklenburgische Schriftsteller haben jedoch
bereits sehr werthvolle Arbeiten über Laud und Volk geliefert,
nämlich Ernst Boll in seinem überhaupt vortrefflichen Buche:
„Abriß der mecklenburgischen Landeskunde", und C. I. F. Pa-
ters, Lehrer an der Navigationsschule zu Wustrow, in seiner
interessanten Broschüre: „Das Land Swante Wustrow oder das
Fischland." Trotzdem aber bleibt einem Dritten, ja anch noch
manchem Anderen, noch Allerlei zu berichten übrig, denn die
Bollsche Arbeit konnte natürlich nur ein Bild in Umrissen, nicht
detaillirte Schilderungen geben. Herrn Peters Schrift aber
würde sicherlich uodj' weitaus interessanter und reichhaltiger,
namentlich nach der ethnographischen «Seite hin, geworden sein,
wenn ihn nicht amtliche 'Stellung und gesellige Verbindungen
genöthigt oder ihm doch augerathen hätten, Manches zu ver-
schweigen, oder doch nur so obenhin zu berühren. — Der Klein-
städter hat bekanntlich die Eigenschaft, in jeder Zeile, welche
über seine Heimat geschrieben wird, Satyren zu fürchten oder
zu wittern; der Dorfbewohner hat aber diese Eigenschaft in
einem noch weitaus höhereu Maaße, und namentlich wenn er
obendrein, wie es in diesen Gegenden der Fall ist,
zu drei Vierteln des Jahres fast nur aus Frauenzimmern
besteht.
Schifservolk.
von den vorhin genannten Distrikten, und doch beruhen
Preußens Marine-Hoffnungen hauptsächlich auf diesen
kleinen, öden Seeländern, von deren Existenz eine große
Anzahl deutscher Binnenländer kaum eine Ahnung hat.
Dänendorf, Dierhagen und das Fischland.
Die beideu erstgenannten Dörfer und das Fischland
mit seinen vier Dörfern erstrecken sich in der Richtung von
Süd nach Nordnordost zwischen dem Binnensee und der
Ostsee, in einer Länge von etwa anderthalb Meilen und
in einer Breite, welche nirgendwo eine volle Viertelmeile
erreicht, an mehren Stellen aber nur 50 bis 60 Ruthen
beträgt. Zur Winterzeit, namentlich' bei anhaltenden
Nordweststürmen, kommt es manchmal vor, daß das Meer
einige dieser schmaleren Landengen völlig überflutet und
sich mit dem Binnensee wieder in direkte Verbindung setzt,
wie denn eine solche hier ehedem durch einen Durchstich, der
aber seit Jahrhunderten völlig versandet ist, bestanden hat.
Der Flächeninhalt dieses ganzen Distriktes beträgt, ein-
schließlich einer mitten darin gelegenen, der Stadt Ribnitz
zugehörigen Wiese, ungefähr drei Achtel einer Quadrat-
meile.
Dieses ganze Areal ist, vom öconomischen Standpunkt
ans betrachtet, sehr wenig ergiebig. Ein Drittel desselben
besteht aus Meerstrand und Dünen, doch sind letztere nur
an einzelnen, kleinen Stellen von aller Vegetation entblößt
und bieten hier und dort sogar eine ziemlich gute Weide,
sowohl dem Rindvieh als den Schasen. An einigen Stel-
len sind aber dem Lande fast gar keine Dünen vorgelagert,
und hier zeigt sich dann ost hinter der Düne ein sumpfiges
Gelände mit nur sehr dürftigem Pflanzenwuchs. Nur an
wenigen Stellen sind bereits aus diefeu Sümpfen im Laufe
der Zeiten Wiesen geworden, aber auch diese zeichnen sich
nicht durch einen üppigen Graswuchs aus, wie es sonst doch
gewöhnlich die am Meere gelegenen und zeitweiligen Ueber-
flutungen ausgesetzten Grasungen zu thuu pflegeu. Der
Boden, welcher als Acker- und Gartenland genutzt wird,
ist gleichfalls sandig, und wenn ihm auch au manchen
Stellen einiger Thon und Lehm zugemischt ist, so wird
doch auch hier seine Ertragsfähigkeit sehr in Frage gestellt,
dadurch, daß wenige Fuß, oft nur wenige Zoll unter der
Oberfläche, der sogenannte Ur oder Fuchs, hier auch
Clas Hahn genannt, sich befindet. Der Ur ist ein sehr
eisenhaltiger Sand, welcher ost in so steinharten Schichten
lagert, daß er der Durchbrechung oder der Zertrümmerung
durch die gewöhnlichen Ackerinstrumente erfolgreich spottet,
und der nicht allein dadurch schädlich wird, daß er den
Pflanzen es unmöglich macht, ihre Wurzeln tief in die
Erde zu treiben, fondern noch mehr dadurch, daß er die
Absickerung der überschüssigen Nässe verhindert.
Der ganze Landstrich erhebt sich in seinem südlicheren
Theile nur wenig über die ihn begrenzenden Wasserflächen;
nach Norden hin steigt er allmählig an, und hier erheben
sich auch die Dünen steil aus dem Meere, ost in einer
Höhe von 50, ja, 60 und 70 Fuß. Nur iu ihrer obern
Schichtung bestehen sie aus Saud; darunter befindet sich
Lehm, welcher wieder einen festen, mit Kreidestücken unter-
mengten blauen Thon als Unterlage hat. Das Meer nagt
aber beständig an ihnen, imd man kann annehmen, daß
jährlich dem Lande 30 bis 40 Quadratruthen entrissen
werden.
Torf und Holz fehlen diesem Distrikte gänz-
lich. Doch liegen Dänendors und Dierhagen dem großen
stibnitzer Forst nicht fern, und es findet sich auch nördlich
Ein deutsches
vom Fischlande, auf dem pommerschen Darß, eine bedeu-
tende, wohlbestandene Laub und Nadelwaldung. Auf dem
Fischlande selber, das wegen seiner geringen Breite und
seiner Lage den Stürmen mehr ausgesetzt ist, als irgend ein
anderer Theil dieses Distriktes, kommen jedoch Bäume nur
au geschützten Orten fort, wie mau denn in den Dörfern
selber recht große Exemplare von Birnbäumen findet. Wo
aber der Schutz gegeu Nord und Nordwesten fehlt, da wol-
len selber Schwarzpappeln und Kiefern nicht gedeihen, wie
denn eine Anpflanzung von letzteren, die mit sechsjährigen
Bäumchen in dem Dünenreviere, auf sonst geeignetem
Boden, vor fast 20 Jahren gemacht worden ist, augeublick-
lich noch keinen einzigen Stamm aufweist, der eiue Dicke
von zwei Zoll und eine Höhe von fechs Fuß hätte. Auch
die hin und wieder in den Dorfstraßen angepflanzten Alleen
von Schwarz- und Silberpappeln siechen und krüppeln,
doch ist diefes nicht allein den Stürmen zuzuschreiben, son-
dern zum großen Theile auch deu Menschen; denn wenn
der Seemann zu Hause ist und ihn nicht andere Beschäfti-
gungen iu Anspruch nehmen, hat er sein Messer stets iu
der Hand und schneidet und schält damit an Allem herum,
was er in seiner Nähe findet. Da müssen nun neben den
Sitzbänken, die sich hier und dort in den Straßen finden,
und deren Bretter mau oft bis zur Breite von einem Zoll
zerkerbt und ausgeschnitten sieht, hauptsächlich die Bäume
des Gemeinwesens herhalten.
Dierhagen und Dänendorf zählen zusammen etwa
890, das ganze Fischland aber hat in seinen vier Dörfern
gegen 1800 Einwohner. Die beiden erstgenannten Ort-
fchaften gehören zur Parochie der Stadt Ribnitz, während
das Fischland eine eigene Gemeinde bildet, deren Kirche und
Pastorat sich zu Wustrow befindet. Die Einwohner sind
ein kräftiger Menschenschlag, die Männer meistens über
Mittelgröße, die Frauen oft, selbst in jüngeren Jahren,
reichlich derbe gebaut. Der Abstammung nach scheinen
sie Germanen zn fein, wie sich denn auch bei ihnen weit
weniger, als dieses sonst in abgelegenen Dörfern des östlichen
Mecklenburgs der Fall ist, fast nur deutsche Familien-
namen finden. Einige wendische Namen, wie Per-
min, Zegelin, Dilwitz, Kleinow, kommen freilich vor,
meistens aber haben die Namen einen ächt niedersächsischen
Klang, wie: Fretwnrst, Bradhering, Vaß, Niemann, Maaß,
Andreis und Dade. Letztere Namen sind auch die am
meisten verbreiteten im Lande, und ihre Glieder bilden
hauptsächlich die Aristokratie des Schifferstandes.
Aus welchem germanischen Lande die Urväter der jetzi-
gen Bewohner gekommen sind, möchte sich jetzt wohl kaum
mehr genau erweisen lassen. Nicht unmöglich, ja sogar
wahrscheinlich ist es, daß sie theilweise aus Dänemark
kamen, zu jener Zeit (1300), als diese Gegenden und
die ganze Herrschaft Rostock unter die Gewalt des Königs
Erich von Dänemark geriethen. Dänendorf und das nahe
Dänfchenbnrg sind jedenfalls durch Dänen gegründet wor-
den, und Manches in den Gebräuchen und namentlich in
den landwirtschaftlichen Gewohnheiten des Schiffervolks
weicht stark von dein ab, was sonst im nordöstlichen Mecklen-
bürg Sitte ist. So z. B. sieht man nirgendwo sonst noch
in Mecklenburg, so wie hier, deu Acker in schmale, runde
Beete ausgewölbt, noch die Schaafe paarweise an einen
Pfahl „getüdert". Beides ist aber auch im westlichen Jüt-
land und auch auf einigen der dänischen Inseln in Gebrauch,
-üich derselbe Aberglaube hier und dort. Holt Jemand
von einer Fischländerin Milch, so wird letztere es fast nie
bcircmf 3U dringen, daß das Gefäß mit der
es über die Straße getragen werden soll,
bedeckt werde. Die Kuh, welche die Milch geliefert hat,
Globuö IX. Nr. 2.
Schiffervolk. 57
Würde nämlich ihren „Dägt" *) verlieren, wenn eine ab-
günstige Person einen bösen Blick in den Topf hinein
würfe. — So viel ich weiß, ist dieser Aberglaube im übri-
gen Mecklenburg nicht im Schwange, Wohl aber hu west-
lichen Jütland und auf Fühnen.
Die Bewohner des Landes sind, vom administrativen
Standpunkt ans betrachtet, entweder Bauern oder Büdner.
Bauern, hier nur Achtelhufener, gibt es auf dem Fischlande
32. In Dänendorf wohnen sechs Viertelhufener und in
Dierhagen wiederum 13 Achtelhufener. Büdnereien finden
sich in dein gauzen Distrikte etwas mehr als 500. Wie
überall im fürstlichen Domanio sind die Bauen: nicht Eigen-
thümer der von ihnen bewirtschafteten Hufen, sondern nur
deren Pächter, und werdeu ihre Pachtgelder und anderen
Leistungen alle 12 oder 14 Jahre durch einen neuen Eon?
tract genau regulirt. Dennoch steht ihnen observanzmäßig
eine Art Erbrecht an den von ihnen bewirtschafteten Hufen
zn. Sobald nämlich nicht die allerreiflichsten Beweggründe
dem entgegentreten, folgt der älteste Sohn, oder falls dieser
sich nicht eignet, ein anderer Sohn dem Vater iu den:
Pachtrecht auf die Hufe, ja, auch Töchter können diese bei
dem Abgang von Söhnen erben uud sich einen Mann auf
die Hufe hinauf Heiraten.**)
Die Viehzucht befindet sich in einem bessern Zustande
als der Ackerbau, und die hier gezogenen Starken werden
gern im übrigen Mecklenburg gekauft, da sie für äußerst
abgehärtet gelten und sie sich auf besseren Weiden gewöhn-
lich zu guten Milchgebern ausbilden. Ob aber bei dieser
Aufzucht von Starken, bei dem sich benöthigenden Ankauf
von Winterfutter, wirklich etwas von den Züchtern profi-
tirt wird, möchte sehr zu bezweifeln sein. Auch bei der
Aufzucht von Enten uud Hühnern, die in einem ziemlich
ausgedehnten Maße betrieben wird, stellt sich gleichfalls
schwerlich ein Reingewinnst für die Produeeuteu heraus.
Die Büduer besitzen den von ihnen geuutzteu Grund nnd
Boden unter allerlei Beschränkungen als Eigenthum. Sie
können ihn nnd die darauf errichteten Gebäude bis zu einen:
gewissen Grade mit Hypotheken belasten, ihn auch verkau-
fen, aber nicht parcelliren.
In unseren anderen Domanialdörfern bilden allgemein
die Bauern den ersten Stand und sehen aus die Büdner,
als sogenannte kleine Leute, herab; hier findet das Ent-
gegengefetzte statt. Der Schiffer, und dieser ist vor-
wiegend der Eigenthümer der Büdnereien, ist nämlich hier
weitaus die Hauptpersou, uud auch der Steuermann und
Matrose verdienen weit mehr, als der Ackerknecht. So
gehen denn alle jüngeren Männer und selber die Söhne
der Bauern, ja sogar der künftige Gehöftserbe zur See,
und wenn letztern der Tod des Vaters zum Ackerbau ruft,
versteht er meist nur Wenig von der Sache. Während die
eigenen Söhue auf See sind, wirtschaftet der Bauer mit
fremden Knechten, die fast ausnahmslos dem pommerschen
Darß entstammen. Seit neuerdings aber die Heuer (Lohn)
der Seeleute sich so sehr erhöht hat, pflegeu uuu auch diese
Eingewanderten nach einem ein - oder zweijährigen Dienste
den Pflugsterz und die Senfe mit der Ruderpinne und dem
Schiffsdweil zu vertauschen, wobei sie gewöhnlich Dienste
auf mecklenburgischen Schiffen nehmen, da diese in dem
Rufe stehen, daß die Beköstigung aus ihnen besser und
reichlicher sei, als auf preußischen Fahrzeugen.
Die Büdnereien sind fast sämmtlich im Besitz von
*) Dägt, was etwas taugt; Tugend.
**) Wie ich nachträglich höre, sind neuerdings einige Bauern
zu Dierhagen zu Erbpächtern gemacht worden und besitzen nun
ihre Hnfen unter ähnlichen Bedingungen, w:e die Büdner ihre
Büdnereien.
8
58 Ein deutsches
Schiffern („Kapitänen") oder Steuerleuten, oder von
solchen Personen, welche dieses ehedem waren und sich nun-
mehr zur Ruhe gesetzt haben.
Durchschnittlich fahren die hiesigen Seeleute bis zu
ihrem 50. Jahre. In der Dorfschaft Althagen aber,
welche der preußischen Grenze am nächsten liegt, und wo die
jenseitigen Gewohnheiten manchen Einfluß üben, pflegen die
Seeleute schou weit eher zu Hause zu bleiben, und daß in
jenem Dorfe sich weit weniger Wohlhabenheit findet, als
in den übrigen, wird hauptsächlich diesem Umstände zuge-
messen. In Althagen sehen wir denn auch bei weitem
die wenigsten Schiffer und die meisten Matrosen, noch
mehr aber Fischer. Dorthin sind auch in den letzten Iah-
ren manche preußische Seeleute gezogen, hauptsächlich um
den hohen Abgaben und Zollplackereien ihrer Heimat zu
entgehen.
Mit dem vollendeten 14. oder 15. Jahre geht der
Knabe zur See, nachdem er sich schon vorher, so weit dieses
nur irgend thunlich war, auf fem künftiges Gewerbe vor-
bereitet hat; theils durch gelegentliche kleinere Seefahrten,
Schwimmen und Klettern, theils durch einen entsprechen-
den Schulunterricht, der, namentlich in Wustrow', dem
Hauptort dieses ganzen Bezirkes, seit 15 bis 16 Jahren
als ein wirklich mustergültiger betrachtet werden kann. Die
erste Fahrt macht er als Kaj üts wacht er; dann rückt der
junge Mann zum Schiffsjungen, später zum Jung-
mann und Matrosen auf und besucht nun die Nävi-
gationsschule. Der Lehrcursus dauert eiu volles Jahr,
und wenn, der junge Mann bei der Prüfung besteht, so
empfängt er fein von der Navigationsbehörde ausgestelltes
Patent, von den Seeleuten selber Eramenbries genannt.
Nachdem der Steuermann dann mindestens 18 Monate
als solcher gefahren ist und das 24. Jahr erreicht hat,
besucht er wiederum den etwa vier Monate dauernden
Schiffercurfus der Navigationsschule, und nachdem er dann
wiederum ein Examen bestanden, ist er, vermöge des ihm
ertheilten Priifungsattestes, zur Führung eines Schiffes
ermächtigt. — Während sich das Steuermannseramen fast
nur auf rein nautische Gegenstände erstreckt, werden beim
Schifferexamen auch viele in das Gebiet des Handels-
und Seerechts gehörende Fragen gestellt, namentlich über
Affeeuranz und Bodmereiwesen, über das bei erlittener
Havarie grosse einzuhaltende Verfahren zc. Namentlich
muß auch die Befähigung dargethan werden, sich über alle
dergleichen Fragen schriftlich klar und bündig aussprechen
zu können.
Der junge Schiffer sucht nunmehr ein Schiff oder
wenigstens doch die Führung eines Schiffes zu erlangen.
Letzteres macht sich nur selten, da es in Mecklenburg, ganz
entgegengesetzt wie in den deutschen Nordseestaaten, nur
wenige Schiffe gibt, die Nichtfchiffern gehören. Meistens
wird zum Bau eines neuen Schiffes geschritten, oder der
junge Schiffer sucht eiu bereits im Bau begriffenes Fahr-
zeug zu erwerben. In letzteren beiden Fällen wird folgen-
der Weg eingeschlagen.
Der Schiffer läßt sich von einem Kaufmann, den er
zum künftigen Korrespondenten seines Schiffes bestimmt
hat, eine Missive geben, in welcher die Größe, die Ballart
nnd die veranschlagte Bausumme des Fahrzeugs verzeichnet
sind. Letztere wird in beliebige Theile, in Achtel, Vier-
nndsechszigstel, Hundertachtundzwanzigstel:e. zerlegt, und
nun sucht der Schiffer, meistens mit Beihilfe des künftigen
Korrespondenten, diese Antheile, welche in der Geschäfts-
spräche Parten genannt werden, an den Mann zu bringen.
Meistens betheiligt sich der Baumeister mit einem Achtel-
Schiffervolk.
pari; auch der Correspondentrheder nimmt gewöhnlich
einen gleichen, oft noch einen größern Theil, und auch die
am Schiffe beschäftigte Handwerker, namentlich der Segel-
macher, der Blockmacher nnd der Reifer, zeichnen ein Nenn-
zigstel oder dem ähnliches. Die anderen Parte sucht man
an Bekannte und Gönner, oft aber auch an wohlhabende
Privatleute abzusetzen. Als iu den Jahren 1854 bis 56
die Schiffsparte mehrfach Jahresdividenden von 29 bis 30
Prozent abwarfen, begann alle Welt zu rhedern, d. h.
Schiffsparte zu zeichnen. Namentlich betheiligten sich die
mecklenburgischen Landleute, die in den damaligen guten
Jahren ihre Gelder oft gar nicht unterzubringen wußten,
sehr stark in Schiffsparten. Oft aus Speculation; öfter
wohl noch aus Eitelkeit. Die Schiffer fingen nämlich an,
ihre Schiffe nach demjenigen zu nennen, der den bedeutend-
sten Part darin gezeichnet hatte, und manchem ehrlichen
Landjunker oder Pächter erschien es nun als eine Art Ehren-
sache, daß auch sein Name am Spiegel oder unter der
Gallion eines mecklenburgischen Schisfes prange und hin
und wieder von seinen Bekannten in den Schiffsberichten
der Rostocker Zeitung gelesen wurde. — Was endlich an
Schiffsparten nicht unterzubringen gewesen ist, das wird
vonl Schiffer selber und von seiner Familie übernommen.
Dieses pflegt ein Drittel oder ein Viertel der ganzen Bau-
summe zu betragen.
Nachdem das Schiff fertig geworden ist, erhalten die
einzelnen Rheder Eigenthumsakten, die vonl Schiffer und
vonl Korrespondenten unterzeichnet sind; der Schiffer mustert
dann feine Mannschaft und beginnt feine Fahrten. Der
Correfpolldent hat die Verwaltung der Schiffsintraden.
Er vertheilt diese an die einzelnen Rheder, und ans ihn zieht
der Schiffer auch Gelder, wenn Havarie grosse oder andere
Unfälle die Beschaffung von solchen in fremden Hafen-
Plätzen erforderlich machen. Bei Beschließnng wichtiger
Schiffsangelegenheiten ist die Stimmenmehrheit der Rheder
entscheidend. Bilden sich trotzdem einander nicht nachgeben
wollende Parteien, so setzt die eine Partei der andern das
Schiff, d. h. sie schätzt das Fahrzeug ab und überläßt dann
den Gegnern, ob diese es ihnen zu dieser Tare lassen und
darnach ihre Parte ausgezahlt erhalten, oder ob sie bezüg-
lich ihrer dieses selbe Verfahren einhalten wollen. Setzung
eines Schiffes kommt namentlich dann wohl vor, wenn ein
Kapitän fortwährend unergiebige Reisen gemacht hat und
die Rheder, statt Dividenden zll empfangen, wohl gar noch
Gelder haben nachzahlen müssen. Bei einem solchen Vor-
kommniß verliert denn auch meist immer der bisherige
Kapitän das Schiff.
Augenblicklich besitzen die fünf Dorfschaften: Wustrow,
Althageu, Neuhagen, Dierhagen und Dänendorf zusammen
203 Schiffe; davon kommt mehr als die Hälfte aller Schiffe
auf Wustrow. Das größte von diesen Schiffen mißt über
300 Rostocker Lasten (ä drei Tons englisch), jede zu 6000
Pfund, die kleinsten Schiffe tragen von 50 bis 80 Lasten.
Durchschnittlich stellt sich der Werth eines jeden Schif-
fes mindestens auf 18,000 Thlr., wovon wenigstens
ein Drittheil Eigenthum der Schiffer und anderer im
Schifferdistrikte ansässigen Personen ist. Darnach würde
sich ergeben, daß die Bewohner dieser fünf Dörfer
ein Kapital von etwa einer Million Thaler in
Schiffen angelegt haben. Rechnet man hinzu, daß
der Jahresverdienst eines jeden Schiffers im Durchschnitt
sich aus 800 Thlr. stellt, und daß die 400 hier zu Hause
gehörenden Steuerleute, Matrosen und Jungen meistens
alljährlich auch fämmtlich etwas von ihrer Heuer erübrigen,
fo wird man zu dem Resultat kommen, daß vielleicht von
keiner gleich zahlreichen Einwohnerschaft einer deutschen
O, Speyer: Das Evt
Ortschaft ein vortheilhafteres Geschäft betrieben wird, als
es hier geschieht.
Natürlich findet nur ein sehr kleiner Theil der hiesigen
Rhederei in den Landeshäfen Beschäftigung. Hauptsächlich
fahren daher die Schiffe für englische, belgische und hollän-
ben im Vispthale 1855. 59
dische Rechnung von den entsprechenden Häfen nach dem
Mittelmeer und neuerdings anch viel nach Ostindien und
Australien. Man wird denn auch kaum einen mecklen-
burgischen Schiffer finden, der nicht in Konstantinopel oder
in Alerandria gewesen ist.
Das Erdbeben h
Von Pros. Otto
Zu den großartigsten unter den vielen wildschönen
Partien des Alpengebiets, welche erst in neuester Zeit dem
Touristen erschlossen sind, gehört ohne Zweifel das Nico-
laithal im obern Wallis. Bald als enge, tiefgespal-
tene Schlucht, bald beckenartige Erweiterungen bildend,
deren Grund üppige, mit Dörfern und Weilern bedeckte
Wiesenflächen bilden, erstrecktes sich von seinem Ursprünge,
da, wo oberhalb des Dorfes Z er matt, des Stand-
quartiers seiner Besucher, die Gornervisp als reißender
Strom aus dem Eisthore des gewaltigen Gletschers hervor-
bricht, 10 Stunden weit nordwärts, bis wo der Fluß, nach-
dem er sich mit der von Südost herkommenden Saaservisp
vereinigt, bei dem Flecken Vispach seine trüben aber
mächtigen Gewässer der jungen Rhone zuführt.
Während die Centralkette derPenninischen Alpen, über-
wölbt von der Cima de' Jazzi, deu 9 Gipfeln des Monte
Rosa, den: Lyskamm, den Zwillingen, dem Breithorn nnd
der unvergleichlichen Riesenpyramide des großen Matter-
Horns, das Südende des Thales von Welschland scheidet,
wird dasselbe im Osten unb Westen von zwei gewaltigen
Seitenketten eingefaßt, deren furchtbar steil ansteigende
Gipfel bald als schwarze Felshörner, bald als im reinsten
Weiß leuchtende Schneekegel östlich in den Mischabel-
hörnern, westlich im Weißhorn cnlminiren und, an 14,000
par. Fuß hoch aufragend, in ganz Europa nur den Mont-
blanc und Monte Rosa über sich erkennen. Tannen- und
Lärchenwälder, hier und da von Erlen- und Birkengesträuch
unterbrochen, bekleideu die unteren Hänge; darüber hin
winken freundliche weiße Kirchen und braune Sennhütten
von der steilen grünen Matte; noch höher hinauf ragt das
nackte Felsgestein hervor, unterbrochen von blauschimmern-
deu Gletscheru, überragt von den: leuchtenden Schnee-
mantel der Hochgipfel. Brausende Wasserfälle, die bald
zur Rechten, bald zur Linken des Wanderers schäumend
herabstürzen, unterbrechen die tiefe Stille des Hochgebirges.
Es war an einem herrlichen Tage zu Eude des Juli
1864, als ich mit meinem Bruder, einem gewiegten Alpen-
fahrer, der schon öfter diese Gebirge durchwanderte, vom
Genfer See herkommend, die Mündung der Visp erreichte.
Acht Tage lang durchwanderten wir das Thal, erklommen
an seinein Südende die Eiswände des Gornergletschers, des
zweitgrößten im ganzen Alpengebiete, erstiegen den Riffel-
berg, dessen Fuß er schlangenartig umwindet, legten uns
dann in dem „Risselhanse", 7900 Fuß über dein Meere,
vor Anker, bewunderten in der Frühe des wolkenlosen
Morgens vou der Steinbank des Gornergrats aus das
grandiose Panorama, das nach allen Richtungen des Com-
passes hin dem Auge einen Kranz von Riesengipfeln dar-
bietet, wie er in ganz Europa nirgends wieder zu finden,
Vispthale 1855.
peycr in Arolsen.
sahen am Abend die weiten Schneeflächen des Silberbasts
und Breithorns gleich durchsichtigen Riefenrubinen erglühen
und stiegen endlich über Eis und Schnee den Kamm der
Centralkette selbst empor, bis wo von der 11,760 Fuß
hohen Cima de' Jazzi der Blick sich mit bewunderndem
Entsetzen in den furchtbaren Schlnnd südwärts hinabsenkt,
jenseit dessen tief, tief unten die blühenden Gefilde Hes-
periens und die blauen Fluten des Lago Maggiore auf-
tauchen.
Nur zögernd und mit schwerem Herzen entschlossen wir
uns endlich, den Blick wieder nach Norden gekehrt, die reine
stärkende Luft des Hochgebirges, den würzigen Duft viel-
farbiger Alpenkräuter, -deu herrlichen, stets wechselnden
Anblick der vielgestaltigen Berggipfel und der blendenden,
zwischen grünen Matten eingebetteten Eisströme mit den
eintönigen, fchilfbedeckten Sümpfen des heißen, reizlosen
Rhonethals und weiterhin mit den furchtbar öden und
nackten Gebirgswüsten der Grimfel und des obern Aar-
thales zu vertauschen.
In Sanet Niklaus, dem in der Mitte des Visp-
thales gelegenen Hauptorte desselben, hielten wir unser
letztes Nachtquartier. Wie alle benachbarten Orte ist es
ein elendes Dorf ans kleinen, von Sonne und Luft gebräun-
ten Häusern aus Lärchenholz, deren unzählige winzige, mit
sechseckigen, bleigefaßteu Scheiben versehenen Fenster auf
eine im übrigen Europa längst überwundene Kulturstufe
deuten. Hölzerne Pfähle, auf denen eine große Mühlstein-
artige Platte ruht, tragen die leichten Gebäude. Außer der
steinernen, weißgetünchten Kirche mit orientalisch geformter
Zinkkuppel ragen nur die beideu Wirthshäuser zum Kreuz
und zur Sonne durch Größe und Reinlichkeit aus dem wir-
ren Haufen dieser Holzhütten hervor. Die Straßen sind
eng, düster und schlechtgepflastert, die 600 Einwohner arm-
lich, Zerlumpt, von ungesundem, nicht selten eretinartigem
Aussehen.
Schon auf dem Hinwege waren uns zwischen Stalden,
dem malerisch am Berghang liegenden Dorfe, wo die beiden
Vispthäler sich vereinigen, und St. Niklaus die furchtbaren
Steinlawinen aufgefallen, welche, von der Höhe der Berge
his zur Thaltiefe die Abhänge bedeckend, an ihren riesigen
Gneis- und Granitblöcken die unverkennbaren Spuren
eines verhältnißmäßig frischeil Bruches trugen. Hier in
St. Niklaus fielen uns die zahlreichen Reparaturen an den
Häusern, die schlechtverklebten Mauerrisse an der Kirche,
und eiue Anzahl halb oder ganz in Ruinen liegender Ge-
bände, zumal zwei dergleichen am Nordende des Dorfes, in
die Augen. Unsere Vermuthnng, daß beide Erscheinungen
Spuren des furchtbaren Erdbebens seien, welches im Jahre
1855 diese Gegeudeu heimsuchte, wurde uns von unserm
$*
60 O. Speyer: Das Erd
Wirthe „zum Kreuz" bestätigt. Auf unser Befragen erzählte
er uns, als Augenzeuge jeues Ereignisses, manche interes-
sante Einzelheit, und die Leser dieser Zeitschrift werden es
mir vielleicht Dank wissen, wenn ich ihnen, theils nach
seinen Mittheilungen, theils und besonders nach den aus-
führlicheu Daten, welche Professor Volger in Frankfurt
darüber gesammelt hat, *) eine Skizze des schrecklichen
Naturereignisses, soweit es das Vispthal und seine Be-
wohner betraf, zu entwerfen versuche.
Auf einen schneereichen Winter und eiu kaltes Frühjahr
waren im Juni furchtbare Regengüsse gefolgt. Fast alle
Thäler der Schweiz wurden von Überschwemmungen heim-
gesucht. Der Juli brachte uubestäudiges Wetter mit vor-
herrschendem Föhn; fast an jedem Tage stürzten heftige
Platzregen herab, während in den verschiedensten Gegenden
Deutschlands, zumal in der zweiten Hälfte des Monats
furchtbare Gewitter, nicht selten von Wolkenbrüchen
begleitet, fast Tag für Tag aufeinander folgten. Die
Umwohner des Vispthales erzählten von seltsamen Phäno-
menen, die sich in den letzten Tagen vor dem verhängnißvollen
25. Juli gezeigt habeu sollen. Der eine Theil des Hori-
zonts schien zuweilen in düstere Nacht gehüllt, während
der andere in Hellem Sonnenschein glänzte. Der Gesang
der Vögel verstummte gänzlich; das Vieh war unruhig,
schnüffelte in der Luft umher und zitterte am ganzen Leibe.
Schlangen erschienen in solcher Menge auf der Oberfläche
der Erde, wie man sie nie zuvor gesehen. Die Menschen
empsanden eine beängstigende Schwere der Atmosphäre.
Am 24. Juli herrschte eine furchtbare Sonnenglut, und die
drückende Schwüle verkündete ein schweres Gewitter, das
am Abend wirklich losbrach und sich während der Nacht in
einen Landregen auflöste. Am folgenden Morgen war das
Wetter trübe und nebelig; die Wolken senkten ihre Schleier
bis tief in die Thäler hinab.
Es war während der Mittagsruhe; die zwölfte Stunde
war noch nicht lange vorüber, als die tiefe Stille des
Nebeltages plötzlich durch ein furchtbares Etwas unter-
brochen wurde, eiu Etwas, für das von Allen, die es
empfunden, kein Einziger ein Wort hatte oder nur ein
bezeichnendes Bild zu fiudeu wußte. „Noch eiuen ganzen
Monat nach dem Ereignisse", sagt Volger, „vermochte mir
Niemand von dem, was er gefühlt und wie er es gefühlt,
eine nähere Beschreibung zu gebeu — es fehlteu die Bilder
zur Vergleichung des Geschehenen in Allem, was die allge-
meine Erfahrung im Leben darbietet; die Sprache versagte
den Ausdruck — nur das Gefühl der Ohumacht gegenüber
dein entsetzlichen Schrecken kehrte Allen in der Erinnerung
wieder, und ich sah Leute, welche sonst fest und unempfind-
lich schienen, erbleichen, wenn sie durch Fragen veranlaßt
wurden, die Eindrücke jenes Augenblicks — oder wenn
es mehre Augenblicke, oder gar, wie Andere behaupten,
lange Minuten? — wieder aufzufrischen. Kinder und
Greise, kraftstarre (!) Männer und erregbare Weiber—
Alle schienen diesem Eindrucke gegenüber sich völlig gleich-
mäßig zu verhalten. Vor der unermeßlichen Obergewalt,
deren sich der Mensch bewußt geworden war, verschwand
aller Unterschied der Willenskraft." — Es war ein urPlötz-
liches Zusammendröhnen der Gebirge, was die feste Masse
der Gesteine bis in ihre tiefsten Tiefen erschütterte, ein
Stoß, der allen Beobachtungen nach sein Centrmn in der
Mitte des Weges zwischen Stalden und St. Niklaus hatte,
da, wo die Brücke über die Visp in den aus Erlengebüsch
nnd Tannen gemischten Kipser Wald führt, aber von dort
*) G. H, O. Volger, Untersuchungen über das Phäno-
mm der Erdbeben in der Schweiz. Gotha, I. Perthes. 3 Bde.
?ben im Vispthale 1855.
aus in ungeheurem Welleuschlage die gauze Schweiz, Süd-
deutschland, Ostfrankreich und Norditalien durchzitterte.
Vou einem Tone, einem Geräusche in diesem Momente
weiß Niemand etwas zu sagen; er Betäubte alle Sinne in
solchem Maße, daß alle Wahrnehmung vollständig auf-
hörte. Als aber der furchtbare Stoß selbst vorüber war,
als nun der ganze Boden hin- und herschwankte, die Berge
auf und nieder wankten, zahllose Felsen durch die Nebel-
und Wolkenmassen von allen Abhängen niederstürzten und
rollten, die Wände der Häuser sich neigten und zu Schutt-
Haufen zusammenfielen, die stärksten Balken sich bogen nnd
brachen, Dächer abglitten oder ineinander saukeu, da
erschöpfte sich die Natur in der Erregung aller furchtbaren
Getöse von Donnergrollen, Wogenbrausen, Sturmes-
rauschen, Knallen, Krachen, Prasseln, Gellen, Pfeifen und
Klirren.
Im Gasthause zum Kreuz in St. Iiiklaus saßeu mehre
Reisende beim Mittagsmahle. Da erfolgte der Stoß;
sie wurden von ihren Stühlen gerissen und zu Boden
geschleudert; die Balken krachten, die Mauern des Zim-
mers klafften auseinander, daß die wankenden Gebäude
gegenüber sichtbar wurden. Zitternd und entsetzt rafften
sie sich mit dem Instinkt der Selbsterhaltung aus, ehe das
Dach einbrach, stürzten die hohe Steintreppe hinab zwischen
den taumelnden, ächzenden Häusern dnrch die enge Straße,
der Kirche vorüber, deren Thurm wie eiue Tanne im
Sturmwind hin- und herschwankte, ohne doch niederzn-
stürzen, während die zusammenkrachenden Gewölbe das
Innere mit fußhohen Trümmermassen überschütteten, und
eilten über die Brücke de,u hochgelegenen Weiler ©röchen
zu; wo sie sicherer zu sein glaubten. Aber der Weg war
grauenvoll. Denn unaufhörlich drang aus dem Wolken-
und nebelverhüllten Gebirge das Krachen und Prasseln
niederdonnernder Steinlawinen. Tausende großer Blöcke
rollten neben ihnen herab oder sausten in furchtbarem
Schwuuge hoch durch die Luft, bis sie unten in den auf-
zischenden Fluten der Visp zur Ruhe kamen. Dennoch
erreichten sie glücklich ihr Ziel, das zwar nicht minder zer-
stört und verwüstet war, wo sie aber, wenn auch wachend
und in steter Todesangst, unversehrt die Nacht zubrachten.
Kein Gebäude in St. Nikkuts war unbeschädigt geblie-
ben; die meisten waren arg zertrümmert, nur wenige jedoch
vollständig zu Bodeu geworfen. Aber was der erste Stoß
noch in einigermaßen gutem Zustande gelassen hatte, wurde
durch die nächstfolgenden meist bald ganz unbewohnbar
gemacht. Demi 17 Stuudeu laug dauerten die Erschüt-
terungen fort, etwa von Viertelstunde zu Viertelstunde sich
wiederholend; später ängstigten sie bald in größeren, bald
in kleineren Pausen mit allmälig abnehmender Heftigkeit
noch zwei Monate lang die durch die fortwährenden Schrecken
endlich fast abgestumpften Bewohner. Ja sogar den Oktober
hindurch erfolgte noch von Zeit zu Zeit eine heftige Er-
schütterung; erst in der Mitte des Novembers beruhigte
sich der Boden vollständig, und das fortwährende unter-
irdische Rolleu, Knallen und Donnern verlor sich allmälig.
Furchtbarer uoch als selbst in St. Nikfans waren die
Wirkungen des Hauptstoßes in dem entfernten Vispach
gewesen. Denu dieser Ort besteht zum großen Theil aus
Steinhäusern, deren unelastisches Material einer solchen
Erschütterung nicht gewachsen war. ^ Die ^ meisten der
„Adelspaläste" genannten rohen und unförmlichen massiven
Gebäude brachen im ersten Augenblick zusammen; in wenig
Minuten war fast der ganze Flecken eine große Ruine.
Jeder hervorstehende Theil der Gebäude wurde nieder-
geworfen, alle drei Kirchen wurden im Innern furchtbar ver-
wüstet und zertrümmert, während ihre Mauern äußerlich oft
Aus allen
nur einige klaffende Spalten zeigten. Das Wasser derVisp
stieg zu einem hohen Kegel empor; überall brachen im Orte
selbst, der zum Theil bedeutend tiefer liegt, als das Fluß-
bett, Quellen hervor und überschwemmten die Straßen.
Zu gleicher Zeit verschwanden, wie durch einen Zauber-
schlag, fast alle Quellen des Thales, um erst allmälig, zum
Theil an anderen Orten und in anderer Art, wieder zu
erscheinen. Der ganze Ort bot bald den Anblick einer
rasenden Flucht nach allen Richtungen dar. Zwischen allen
Häusern durch die aufsteigenden Staubwolken, die auch aus
den Thören und Fenstern der Gebäude drangen, stürzten
schreckenbleiche Menschen jedes Alters und Geschlechts her-
vor. Draußen unter dm Walde von Obst-, Kastanien-
und Nußbäumen, der sich an der Südostseite des Fleckens
ausbreitet, wo die in Bogensprüngen herabsausenden Felsen
minder zu fürchten waren, fand sich fast die ganze Bevöl-
kernng zusammen. Einzelne irrten auf der Landstraße
umher oder flohen fast bewußtlos zu den nächsten Orten im
Rhonethal. Fast Niemand scheint gewußt zu haben, was
er that, nur der Instinkt der Selbsterhaltung setzte Alle iu
Bewegung. Vou Obrigkeit und Ordnung war keine Rede.
Während in den Gebirgsdörfern trotz der Verwüstung und
der drohenden Felsstürze die Bewohner nicht daran dachten,
die Heimat zu verlassen, lagerte hier Alles, was nicht schon
nach Siders, Sitten oder Brieg geflohen war, die ganze
letzte Jnliwoche hindurch im Freien. Die Regierung
sandte Zelte; ein Bretterverschlag mit blauen und rotheit
Vorhängen, einer Jahrmarktsbude ähnlich, diente als Kirche.
Immerwährend wurden Bußlieder gesuugeu, wurde gebetet,
gebeichtet und eommnnicirt; endlich „unter geistlichem Ge-
horfam" verboten, sich in den Häusern des Fleckens ferner
aufzuhalten, der „Papstsegen" ertheilt und ermahnt, sich
eine neue Heimat aufzusuchen. Die Erscheinung eines
Mondregenbogens vermehrte die Angst der abergläubischen
Gemüther. Die Zugvögel sollen die Gegend verlassen,
menschenscheue Thiere mitten unter ihren natürlichen Fein-
den klagend und hülfesuchend erschienen sein. Als die
Heftigkeit des Erdbebens nach und nach abnahm, wagten
sich erst Einzelne, dann nach Verlauf mehrerer Wochen auch
die Uebrigen wieder in den Ort, nicht ohne noch mehrmals,
zuletzt in der Nacht vom 27. bis 28. Oktober, durch erneute
Stöße zu eiliger Flucht getriebeu zu werden.
Alle Ortschaften zwischen St. Niklans und Visp, zu-
mal Stalden, hatten natürlich schwer gelitten, wenn auch
ihre aus langen, biegsamen Balken bestehenden Holzhäuser
den Stößen einen wirksameren Widerstand entgegensetzen
konnten. Oberwärts von St. Niklans nach Zermatt zu
nahm die Stärke der Erschütterung rasch ab; auf den
Erdtheilen. 61
Höhen der Gebirge ward wenig von ihr empfunden, wäh-
reud jenseit der Centralkette die Ortschaften des piemonte-
fischen Anzaseathals wieder schwer zu leiden hatten. An
vielen anderen Orten in und außerhalb des Kantons Wallis
erzitterte und schwankte der Boden mit bedeutender Heftig-
feit; Schornsteine fielen herab, Risse entstanden in den
Mauern, Quellen blieben aus; aber nirgends wurde ein
wesentlicher Schaden verursacht. Ja der ganze materielle
Verlust der am schlimmsten betroffenen Gegend, auf 526,342
Franken berechnet, erscheint unbedeutend, wenn man nicht
die Armuth ihrer Bewohner und die Wertlosigkeit ihrer
Häuser und Hausgeräthe iu Anschlag bringt. Was aber
das Merkwürdigste, bei den Zerstörungen und Felsstürzen
in dem engen Thale fast Unbegreifliche ist: ein kleines, von
einer einstürzenden Mauer erschlageues Kind ausgenommen,
soll nach Volgers Versicherung kein Menschenleben verloren
gegangen sein. Anderes freilich versichert unser Gewährs-
mann, der Wirth zum Kreuze, demzufolge in St. Niklans
allein drei Menschen erschlagen und viele schwer verwundet
und verstümmelt worden seien. Aber selbst diese letztere
Angabe erscheint dein Reisenden, der die Stätte der Zer-
störnug und die Spuren der schrecklichen Naturerscheinung
in der Verwüstung der alten Wege und den sperrenden
Felsblöcken uoch uach neun Jahren erblickt, fast unglaub-
lich gering.
Nicht wenige ans Fabelhafte grenzende Abenteuer
wunderbarer Errettung fanden an jenem schrecklichen
25. Juli statt, wie die des trefflichen, den Reisenden im
obern Rhonethal wohlbekannten Wirthes Guntren zum
goldnen Kreuz in Münster, dem dicht vor St. Niklaus das
Bein von einem herabstürzenden Felsblock verrenkt und
gequetscht wurde, während seinem Bruder, der sich in einen
„Heustadel" geflüchtet, der Speicher desselben über dem
Kopf weggerissen ward.
Das große Erdbeben im Vispthale, mitten im Hoch-
gebirge, weit entfernt vom Meere und noch weiter von
jeden: vulkanischen Heerde, hat nicht wenig dazu beigetragen,
die Theorien L. v. Buchs und Alex. v. Humboldts über
die Entstehung dieser Naturerscheinung zu erschüttern, und
Volgers gründliche Untersuchungen, verbunden mit den
Arbeiten der ausgezeichnetsten Geologen der Gegenwart,
scheinen nahe daran, der langen Herrschaft des Plntonis-
inits und Vulkanismus überhaupt ein Ende zu machen und
der Lyell'schen Theorie von den in unendlichen Zeiträumen
langsam aber stetig wirkenden und vorbereitenden, wenn
auch zuweilen wie in dem vorliegenden Falle plötzliche und
heftige Zerstörungen veranlassenden Kräften den Sieg zu
verleihen.
Aus allrn
Heilquellen und Bäder im Orient.
r. Nicht allein Griechenland, sondern der ganze Orient ist
}'cich an ausgezeichneten warmen Quellen, so daß man wohl
behaupten kann, daß andere europäische Länder keinen solchen
an Heilquellen aufzuweisen haben. Im heutigen
und auf den vulkanischen Inseln des griechischen
Archipels sind mehr als 40 der großartigsten und heilkräftigsten
Hymnen Europa's; so die Herkulesquellen zu Oedipso auf Euboea,
>.le ^yalyvothermen auf Santorin, die verschiedenen Haly- und
E r d t h e i l e n.
Pikrothermen der Inseln Thermia und Mylos, die großartigen
Theiothernien von Methana und Patradschik. Die meisten dieser
Quellen befinden sich jedoch in einem so bedauerlich-paMarcha-
lisch™ Zustande, daß sie dem Hilfesuchenden auch nicht einmal
die nothwendigste Bequemlichkeit" bieten können; für Alles, selbst
für Kost und Betten, müssen die Patienten selbst Sorge tragen
und auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichten. Die ein-
zigen Unterhaltungen sind kleine Spaziergänge in der Nähe des
Ortes,.langweiliges Zusammensitzen, Spiel nnt dem Rosenkranze
oder eine Tabakspfeife. Bis zu einer Badewanne darf man
62 Aus allen
seine Ansprüche nicht erheben; in den meisten Fällen ist der
orientalische Badegast genöthigt, sich eine Grube in der Nähe der
Quelle zu graben und das Wasser hineinzuleiten, um sich hinein
setzen zu können, nachdem er zum Schutz gegen die brennende
Sonnenhitze über seiner Badegrube ein Hüttchen von Brettern
oder Baumzweigen errichtet hat. Die besuchtesten orientalischen
Heilquellen haben ein Haus mit einigen elenden Zimmern und
in der Mitte eine Cisterne, in welche zum gemeinschaftlichen
Bade das Wasser geleitet wird, in gewissen Stunden sür die
Männer, in anderen für die Frauen. Die Unkenntniß der Heil-
kräfte einer Quelle verleitet oft zu den größten Mißgriffen; man
findet an Anämie und Chlorose Leidende in Schwefelquellen,
mit Exanthemen Behaftete in Chalybothermen, ganz analog der
Ansicht der Orientalen, daß alle Krankheiten durch Wein und
durch starkes Schwitzen gehoben werden.
Trotzdem sind diese Heilquellen jährlich von Tausenden
besucht, von welchen die Meisten geheilt in ihre Heimat zurück-
kehren. Dieser allgeineine Zustund der orientalischen Bäder findet
jedoch auch einige Ausnahmen; es sind in Brnssa noch ans
der Kaiserzeit her großartige Kurhäuser, in Thermia sogar
ganz nach europäischem Style errichtete.
Au der Grenze Albaniens in der Nähe des Dorfes Argpro-
kastron, d. h. silberne Bnrg, weil im Alterthnme dort Silber
gegraben sein soll, findet sich eine Heilquelle, welche besonders
Frauenkrankheiten durch innern Gebrauch zu heilen in hohem
Rufe steht. Sie sprudelt am Abhänge eines kleinen Hügels
und setzt einen rothen Absatz von Eisen ab, so daß also diese
Quelle eine Chalybokrene ist und durch ihren Eisengehalt sehr
wohl in den erwähnten Krankheiten von Wirkung sein kann.
Besonders kinderlose Frauen trinken das Wasser, welches den
sonderbaren, aber sehr bezeichnenden Namen Kopsokakkon (nen-
griechisch: xotitco, abschneiden, xcmco'v, das Neble, die Krank-
heit) führt. Unter den Hunderten von Heilqnellen des Orients
ist dies die einzige, welche einen charakteristischen Namen führt.
Das Wasser von Silo am im heiligen Lande ist ans dem
Evangelium jedem Christen bekannt; in diesem Wasser wurde
ein Gichtbrüchiger, ein Paralvtischer, geheilt, und Christus hellte
damit einen Blinden. „Siloham" bedeutet „Wasser des Abge-
sandten des Himmels", indem das arabische „Siloam" ein
„Abgesandter" heißt. Die Quelle entspringt am Abhänge des
Berges Sion mitten in einem Walde von Gedern und sammelt
sich in einem Graben. Dieser ist mit einer Mauer umgeben,
und mittelst einer aus Steinen ausgemauerten Treppe steigt man
hinab. Von diesem Graben wird das Wasser in die nahe
gelegenen Gärten zur Bewässerung geleitet.
Das Wasser besitzt einen leicht salzigen Geschmack und ist
hart, d. h. zum Kochen und Waschen nnbranchbar. Die Quelle
von Siloam ist eine intermittirende: sie quillt von Morgen bis
Mittag, fließt daun bis zum Abend nicht, beginnt von Abend
bis Mitternacht von Nenem zu fließen und setzt von Mitternacht
bis zum Morgen wieder aus. An dem Jahrestage nun, an
welchem Christus mit dem Wasser von Siloam den Blinden
heilte, kommen die Leute zur Kolymbedra von Siloam, wie man
diese Art Cisternen nennt, weil Y.olvtißr^oa eine Schwemme,
ein Badeplatz heißt, um sich mit diesem Wasser die Augen zu
waschen, zu stärken und vor anderen Krankheiten zu bewahren.
Es ist demnach das Wasser von Siloam weniger als Heilquelle,
sondern mehr als ein Wallfahrtsort im christlich-katholischen
Sinne zu bezeichnen, etwa wie der Brunnen der heiligen Linde
bei Rössel im südlichen Ostpreußen. In der Nähe dieser Wall-
sahrts-Kolymbedra eristirt noch eine^ ähnliche Schwemme von
Siloamwasser, in welcher jedoch nur Schafe gebadet werden.
Eine Jntermittenz in Bezug auf die Wärme zeigt im
Orient die schon im Atterthum hochberühmte Sonnenquelle,
Fons solis, bei dem Tempel des Jupiter Amnion in der großen
Oase Siwah. Herodot, Diodorus Siculus, Arrian, Lucrez,
Plinins geben an, daß das Quellwasser bei Tage kalt, des Nachts
warm, ja heiß sei.
Gegen rheumatische und gichtische Leiden werden im Orient
mit dem besten Erfolge trockene Schwitzbäder, Sandbäder,
angewendet. In Meeresbuchten, in welchen sich durch günstige
Verhältnisse des Windes und des sandigen Bodens Hügel und
Berge von Meeressand bildeten, werden diese von den Patienten
zu den Sandbädern benutzt, indem sie sich in den Sandhügel
hineinstecken und so mit Sand bedecken lassen, daß nur der mit
einem Strohhute gegen die Sonnenstrahlen geschützte Kopf si'ei
bleibt. Durch die Last des aufliegenden heißen Sandes, welcher
der Sonnenhitze ausgesetzt oft + 36 bis '40° R. zeigt, gerathen
die Patienten in einen heftigen Schweiß; Angst und Athmungs-
noth befällt sie in dem Grade, daß sie sich schleunigst aus ihrem
Sandgrabe befreien lassen müssen. Die Haut ist mit Blnt über-
füllt, in vielen Fällen zeigt sich sogar ein eigenthümlicher Ans-
Erdtheilen.
schlag in Folge der Einwirkung der Salzlauge, die sich durch
den auflösenden Schweiß auf die Salztheile des Meersandes
gebildet hat. Nachlassen der Schmerzen, ja gänzliche Heilung
sind sehr häufig die Resultate dieser Sandbäder. Hunderte von
Leidenden versicherten Augenzeugen, daß sie nach dem Gebrauche
weniger solcher Bäder von chronischem Rheumatismus und
Gicht befreit worden seien. Man nennt diese Sandbäder im
Orient A m m o l o n t r a.
r. Calait aus einem keltischen Grabe. Bei den Nach-
grabnngen, welche die Soeie'te Polymathiqne des Departements
Morbihan unter Leitung von Rene'Galles anstellen ließ, fand man
in einem „keltischen" Grabe bei Maneer-H'roek in Lockmariaker
eine Mineralsubstanz. Es waren eiförmige Schmuckgehänge und
Halsbandperlen von der Größe einer Linse bis zu der eines
Taubeneies. Die abgerundeten und an ihren Rändern volirten
Perlen zeigten meistentheils zwei einander gegenüberliegende
ebene Flächen und in der Mitte eine mehr oder minder sym-
metrische Durchbohrung, welche ungleich weit nach außen sich
erweitert, wie man es bei den ältesten bearbeiteten Steinen und
noch heute bei einigen wilden Volksstämmen beobachtet hat.
Das Mineral, aus welchem diese Schmnckgegenstände gear-
beitet sind, ist apfelgrün, dem Smaragdgrün sich nähernd, einige
Stücke sind durch weiße nnd bläuliche Partien marmorirt,
andere durch braune oder schwarze Adern und Punkte gefleckt,
das Ganze durchscheinend wie Chrysovras. Eine Untersuchung
von Damour hat ergeben, daß das Mineral Calait sei, den man
bisher für identisch mit Türkis gehalten hat. Beide sind jedoch
sowohl wegen ihrer chemischen, als auch physikalischen Unter-
schiede durchaus als gesonderte Mineralspecies zu trennen. Von
den letzteren soll nur erwähnt werden, daß der Türkis fast
undurchsichtig nnd von gesättigt himmelblauer Farbe ist; — von
den ersteren nur, daß die Farbe des Türkises von Kupseroryd,
die des Calaits von Eisenoryd herrührt.
Woher der Calait in den keltischen Gräbern in Morbihan
stammt, ist vom Standpunkte der Archäologie eine interessante
Frage, denn in ganz Frankreich gibt es kein ahn-
lich es Mineral. In Sachsen, Schlesien, im Ural kommen
analoge Mineralien vor wie der Pegamit, Variscit und Fifcherit,
keines aber entspricht den Eigenschaften des Calaits. Die Fund-
orte, welche Plinins für den Callais angibt (s. Plin. Natur.
Hist. lib. XXXVIT, cap. XXXII), Kaukasus, Indien, Persien,
sind die des Türkises, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der
grüne Calait nnd der blaue Türkis in denselben Lagern vor-
kommen. In dem archäologischen Museum zu Vannes hat man
in keltischen Gräbern gefundene bläuliche Steine aufbewahrt, die
gewissen Varietäten des gemeinen Türkises entsprechen. In
denselben Gräbern fand man zugleich mit den erwähnten Schmnck-
gegenständen auch Aexte aus polirten Steinen.
Die Expedition zur Aufsuchung Leichhardts hat sich in
den ersten Tagen des Juli in Bewegung gesetzt. Das Frauen-
comite hatte 900 Pfd. Sterl. gesammelt; die Regierungen von
Victoria und Südanstralien hatten je 500, die von Queensland
1000 Pfd. Sterl. gegeben, jene von Neusüdwales gab nichts,
doch steuerten der Gouverneur und das Publikum uicht uner-
heblich bei. Die Kameele sind von der Victorianischen Regie-
rung zur Verfügung gestellt worden.
In der melbonrner „Germania" vom 20. Juli finden wir
folgende Mittheilung:
Glück auf, McIntyre! Die Erpedition zur Aufsuchung
unsers Landsmannes, Dr. Ludwig Leichhardt, verließ Glen-
gower am 3. Juli Mittags aus der Route uach Coopers
Creek unter (wie die „Castlemaine News" berichtet) dem herz-
lichen und ermnthigenden Beifall nnd jedem Ausdruck der besten
Wünsche aller derjenigen, welche die Gelegenheit benutzen konn-
ten, der kleinen hochherzigen Männerschaar Lebewohl zu sageu.
Als die Erpedition sich in Bewegung setzte, konnte man sich
uicht des Gedankens erwehren, in welcher ruhigen und unprah-
lerischen, dabei begeisternden Weise die Reisepartie aufbrach im
Vergleich zu derjenigen von Bnrke. Vorläufig reist die Partie
unter Führung des Arztes der Erpedition, Dr. Murray, und
wahrscheinlich in Gemeinschaft eines Herrn Grey. Letzterer
soll ein erfahrener Buschmann und längere Zeit aus der Sta-
tiou des Herrn Campbell, eines Verwandten McJntyre's,
welcher sich in anerkennnngswerthester Weise an den Vorkehrungen
zur Expedition, bestehend im Ankauf von Pferden, Provisionen
und fast jedem zur Reife Erforderlichen, darunter auch einer
bedeutenden Menge passender Geschenke für die Eingebornen,
betheiligt hat, beschäftigt gewesen sein.
Aus allen
Zunächst wendete sich die aus 11 Mann bestehende Partie
nach Carisbrook. Die Reisenden befinden sich meistens zu
Pferde, von denen man 40 mitgenommen hat. Obgleich die
Kameele (14 an Zahl) auf Packsätteln einen bedeutenden Theil
der Vorräthe tragen, so soll doch die Last für jedes derselben
keine zu große sein. Man denke übrigens nicht, daß dies alle
Vorräthe "sind, deren die Expedition auf einer zweijährigen
Reise benöthigt ist; man wird vielmehr auf dem Wege von zu
Passirenden Stationen Provisionen mitnehmen und schließlich
per Dampfschiff vom Queensland-River ans eine andere Quan-
tität erhalten.
Es wird vermnthet, daß MeJntyre jetzt ungefähr 500
Meilen vom Golf von Carpentaria entfernt ist und mit der
Reisepartie unter der einstweiligen Führung des Dr. Murray
am 1. Aug. bei Mo mit Murchison am Darling zusammen-
treffen wird; ferner, daß derselbe die Hälfte seiner Begleiter den
Flnß vielleicht 200 Meilen abwärts, und, nachdem diese ins
Lager der übrigen wieder zurückgekehrt ist, die andere Hälfte
ebensoweit den Fluß aufwärts gehen lassen wird, während wel-
cher Zeit McJntyre das Land aufzunehmen beabsichtigt. Möge
hier noch erwähnt sein, daß die Namen der unter Führung des
Dr. Murray abgegangenen Reisenden folgende sind: James
Patrick, Richard Roß", William McDonald, Francis Harvey,
I. McAllmann, Collins Stewart und John Barnes; dem Letzt-
genannten, welchem die Beaufsichtigung der Kameele anvertraut
ist, hat sich zur Beihülfe noch ein Mann angeschlossen, dessen
Name bis jetzt unbekannt geblieben ist.
Das Denkmal für die australischen Entdeckungsreisenden
Burke und Wills. Dasselbe ist am 21. April zu Melbourne
feierlich eingeweiht worden, und John King, Reisegefährte
jener beiden Männer, war zugegen. Gouverneur Darling
erinnerte in seiner Rede an die großen Verdienste der Ent-
deckungsreifenden überhaupt, z. B. an Hnnic und Howell,
welche über den Murrnmbidgee und den obern Murray gingen,
an Sturt und Mitchell'und vor Allen an Ludwig Leich-
Hardt. Die Figuren des Denkmals sind aus Brome gegossen,
12 Fuß hoch; Burks rechte Hand ruht auf Wills' Schulter; der
letztere sitzt auf einer Erhöhung und schreibt in sein Notizen-
buch. Vier Basreliefs stellten die Hauptmomente der Reisen vor.
Im Monat Mai ist ein Kameel nach Victoria gebracht
worden, das sich seit jener Erpedition wild umhergetrieben hatte
und nur mit Mühe angefangen werden konnte; es hat zu Wrights
Abtheilung gehört.
Die Verdienste Burke's siud sehr überschätzt worden. Die
Germania schreibt: „Wer dem Gange der Ereignisse bei jener
Erpedition gefolgt ist, muß aufrichtig wünschen, daß die Erin-
nernng an dieselbe eher abgeschwächt werden oder der Vergessenheit
möglichst anheimfallen mochte, als sie auf alle mögliche Weise
zu Ehre und Ansehen zu bringen. Man hätte den Ausspruch
der Commission, welche jene traurigen Vorgänge zu untersuchen
hatte, beachten sollen; in ihrem Berichte heißt es unter Anderm:
„Herr Burke legte viel größern Eifer als Klugheit an den Tag,
daß er Coopers Creek vor Ankunft der Depot-Abtheilung von
Menindie verließ, ohne eine Verbindung mit den angebauten
Distrikten, wie Solches zu thuu ihm vorgeschrieben war, sich
gesichert zu haben; und indem er eine so weite Reise, ohne sich
mit hinlänglichen Vorräthen zn versehen, unternahm, kam er in
die Lage, die Kräfte seiner Abtheilung zu überschätzen, deren fort-
währende und unablässige Anstrengungen die Zugrunderichtung
der Thiere herbeiführte und das endliche Erliegen seiner selbst
und seiner Gefährten durch Strapazen nnd äußerste Entbeh-
rungen verursachten. Der Tadel ist deutlich genug ausgesprochen;
aber man will nun einmal diesem Manne 'eine hohe Stufe von
nützlicher Wirksamkeit nachrühmen, die er niemals zn erreichen
befähigt war. Für eiu ceremonielles und sehr kostspieliges Heber-
siedeln der Gebeine von Burke und Wills von Coopers Creek
auf den Friedhof in Melbourne, für das in Rede stehende Mo-
nument, für ein noch zu errichtendes Mausoläum wurden und
werden noch tausende von Pfunden von der Regierung her-
gegeben; aber es ist nicht bekannt, daß man Fürsorge getroffen
hätte, daß jemals die Ruhestätten des thätigen Dr. Becker, des
kurz vor seinem Hinscheiden noch von seinem Herrn gemißhan-
delten Gray und der anderen bei der traurigen Erpedition zu
Grunde Gegangenen von dem Wanderer in jenen Gegenden
wieder aufgefunden werden könnten!"
Die.australischen Blätter bringen eine Berechnung der Kosten,
weiche die Erpeditionen unter Burke und Wills uud die ihr
?! von Howitt, Landsborongh, Walker, sodann die Reise
Victoria verursacht haben. Es kommen mehr als
50,000 Pfd. St. heraus.
Erdtheileu. 63
Australien. Das Alerandra-Land. Mit diesem Namen
wird der Landstrich der Colonie Südaustralien bezeichnet, welcher
zwischen 16 und 26 Grad südl. Br. liegt.
Camden Harbour in Westaustralien. Dort sollte
eine Colonie gegründet werden, nnd gegen Ende des Jahres 1864
ließ eine Anzahl von Ansiedlern sich' dort nieder; man hatte,
wie das in Australien so oft geschieht, die Gegeud als fruchtbar
und nicht arm an Wasser geschildert. Nun berichtet aber die zn
Melbourne erscheinende „Germania", daß bereits im Mai 1853
jene Kolonisten den Camden Harbour wieder verlassen haben
und nach dem Schwanflusse zurückgekehrt sind. Sie fanden
100° F. Hitze, sehr warme Nächte, wenig Weideland und Wasser,
und von den Schafen sind die meisten ans Mangel an Wasser
und durch deu Genuß einer giftigen Pflanze umgekommen.
.Volksmenge im australischen Victoria. Die Behör-
den in deu australischen Colonien veranstalten sehr oft Volks-
Zählungen. Ju Victoria belief sich Ende März 1865 die Volks-
menge auf 610,250 Köpfe, wovon 350,698 männlich und 259,552
weiblich.
Petroleum nun auch iu Südaustralien gefunden,
und zwar in der Nähe von Gnmaracha. Also hat auch der
fünfte Erdtheil sein Steinöl. Neue Goldlager werden fast in
jeder Woche gefunden; ein sehr reichhaltiges entdeckte man im
Juni zu Albury in Neusüdwales. Diamauten kommen auch
vor. Ein Goldgräber Namens Gill fand in den Minen , bei
Woodshed. binnen wenigen Tagen 11 Diamanten; die beiden
größten wiegen jeder ein Karat,' sie sind ganz weiß und achteckig.
Schlfffahrt der Europäer an der chinesischen Küste. Die
Küsten.schifffahrt des Blumenreiches der Mitte geht mehr und
mehr in die Hände der Europäer, namentlich der Deutschen
über, welche in den Gewässern vom Bengalischen Meerbusen bis
Japan jahraus jahrein etwa 200 Schisse laufen haben. Wir
finden einige Angaben in einem französischen Handelsberichte,
die nicht ohne Interesse sind. Der Schreiber war gerade in
Hong kong, als dort lagen: 64 Engländer, 28 Deutsche
(18 Hamburger, 4 Bremer, je 2 Oldenburger, Preußen und
Mecklenburger), 8 Dänen, 1 Schwede, 3 Norweger, 2 Holländer,
5 Spanier, 4 Amerikaner, 4 Siamesen, 1 Russe, 1 Italiener
und nur 4. Franzosen. In Swatau lageu 5 Engländer,
5 Deutsche; inWhampoa 6 Engländer, 3 Deutsche; in Maeao,
Emuy (Amoy) Schanghai und Futscheu kein einziger Franzose.
Wir haben im Globus oftmals darauf hingewiesen, daß Frank-
reichs Handel uud Schifffahrt im fernen Osten von höchst ge-
ringem Belang sei; ob die Besitznahme Cochinchina's daran
etwas ändert, mnß die Folgezeit lehren.
Vaneouver Island. Die „Times" vom 26. Mai 1865
theilt den Brief eines Canadiers mit, welcher sich über die Zn-
stände dieser an der Nordwestküste Nordamerikas gelegenen Insel
ausspricht. Die Straße, welche von Victoria nach dcn Sooke-
minen führt, geht durch eine Fichtenwaldung. Die Fichte ist
vorherrschender Baum auf Vaneouver. In' Sooke find die
Häufer sehr groß aber schlecht gebaut. Das, iu welchem
ich wohnte, hatte keine Fenster; die Temperatur im Innern war
wie draußeu im Freien. Die Hauptfundorte für Gold sind
am Leechslusse, der in den Sooke fällt, und am Weiss-
ere e k. Alle diese Bäche unb Geriesel haben felsige Betten
und sind sehr seicht, so daß sie kaum den Namen von Flüssen ver-
dienen. Das Gold ist sehr gnt und rein. Im Ganzen hat man
bis jetzt für 100,000 Dollars in den Sookeminen gewonnen, doch
lobnt sich die Arbeit nicht sehr der Mühe; ebenso ist im ver-
floffenen.Wiuter wegen der starken Kälte nicht gearbeitet wor-
den. Die Umgebung von Sooke ist stark bewaldet, aber das
Holz nicht so gut wie das canadische, oder das von Britisch-
Columbien, wo einzelne ungeheuere Balken zugehauen werden,
die, wenn sie nach England verschifft sind, dort das Stück einen
Werth von 1000 Dollars besitzen. Sooke hat ini Winter ein
sehr kaltes Klima nnd liegt ganz von Bergen eingeschlossen, die
das Rückgrat der Insel bilden, von der einen Seite der Insel
bis zur andern sich hinziehen und eine Höhe von 6000 Mß
erreichen. .
Die hauptsächliche Nahrung der Bergarbeiter besteht aus
Wildpret, das iu zahlloser Menge auf der Insel vorkommt, aus
Brod, das in heißer Asche gebacken wird, Schulten und Apfel-
san?e. Während ich mich in den Minen aufhielt, wurde gerade
nicht gearbeitet, und die meisten Arbeiter trieben sich in der
Stadt oder in den Schenken umher. Der Schnee auf den Ber-
64 Aus allen
gen lag neun Zoll tief. Ein Canadier, welcher bereits drei
Jahre lang auf der Insel lebte, nahm mich mit nach Co mar,
der entferntesten, aber ani meisten versprechenden Ansiedlnng.
Dort leben 40 ColoNisten, unter ihnen aber nur drei weiße
Frauen. Hirsche kommen in großer Menge vor, werden von
den Indianern gejagt und das 'Stück für einen halben Dollar
verkauft. Wilde Enten kosten das Paar 25 Cents, wilde Gänse
einen halben Dollar, Mehl jedoch 14 Dollars per Barrel. Die
Ansiedler, von denen viele in Caribu oder Australien bereits
nach Gold gesucht hatten, führen ein halbwildes Leben. Die
nächste Stadt, Nana im o, ist 70 Miles entfernt; durch die
Indianer werden die Eigenthumsverhältnisse sehr unsicher.
Comax ward erst vor zwei Jahren angelegt, hat aber schon
einen Priester. Wir verließen diesen Ort am 11. Januar 1865
und langten am 15. in Nanaimo an. Dies ist jetzt der
blühendste Ort auf Vancouver, zählt 809 Einwohner und besitzt
eine kleine nette Kirche, sowie eine Methodistenkapelle. Die
Kohlenausfuhr im letzten Jahre betrug schon 30,000Tons.
Am 17. Januar verließen wir diese Stadt und langten nach
drei Tagen in Victoria an. Die Schifffahrt dorthin istjehr
gefahrvoll, da Sandbänke, Riffe und vereinzelte Felsen sich längs
der ganzen Küste hinziehen und heftige Winde wehen.
'Was ich von dem Lande gesehen habe, kann nicht als guter
Ackerboden gelten. Es ist wenig ebenes Land vorhanden, und
darum verlohnt es sich auch nicht der Mühe, die Wälder anszn-
roden. Straßen sühren uoch nicht nach Victoria, das den einzigen
Marktplatz für landwirtschaftliche Erzeugnisse bildet; die Flüsse
sind zn unbedeutend, nm als Fahrbahnen benutzt werden zu
können. Weil nur wenig den Anbau lohnende Landstrecken vor-
handen sind, können auch die Ansiedler nicht nahe bei einander
wohnen und sich Kirchen bauen; auch ist noch Alles sehr thener.
So kostet ein Joch Ochsen oder Pferde 300 Dollars, eine gute
Kuh 50 bis 60 Dollars. Der Preis per Acker Land beträgt
mindestens und in schlechter Lage 6 Dollars, während man in
Oregon gutes Land für 50 Cents den Acker erhält. Grund und
Boden ist ganz in den Händen von Compagnien, die denselben
in der Nähe der Stadt mit 50 bis 100 Dollars per Acker ver-
werthen. Die Berichte über ausgezeichnete Früchte und Gemüse,
welche auf Vancouver gedeihen sollen, gehören in das Bereich
der Fabeln. In Canada und England zieht man bessere und
billigere Gemüse. Das Klima ist unangenehm, kalt, rauh,
uebelig und ungemein feucht. Zuweilen regnet es zwei Monate
hinter einander. Starke Winde herrschen vor, und manchmal
stürmt es zehn Tage lang; höchstens drei bis vier ruhige Tage
kommen hinter einander vor. Der Brennstoff ist thener. Schlechte
Kohle kostet 12 Dollar per Tonne und ungehaueues Kiefernholz
2 Dollar per Klafter. (Vergl. Globus VIII, S. 30, wo ein
weit günstigerer Bericht über die Vancouver Insel mitgetheilt ist.)
B. Reutte und Ehrenberg in Tyrol. Erlauben Sre
mir über diese Punkte ein paar Worte:
Es gibt auf der Nordseite unsrer großen deutschen Alpen-
kette mehre freundliche Orte, die als vorgeschobene Posten nicht
zu weit von der bevölkerten Ebene entfernt, aber doch lief
genug innerhalb des Bergkranzes liegen, um. den Touristen
einen festen Standpunkt zu Kreuz- und Querzügeu darzubieten.
Natürlich ist dabei auch die noch seltenere Eigenschaft nöthig,
daß sie in nächster Nähe mit einer Fülle wechselvoller Natur-
schönheiten gesegnet sind.
Ein solcher Ort ist der saubere behagliche Marktflecken
Reutte, der durch die ungebeugte Betriebsamkeit seiner Be-
wohner aus Pest, Krieg und Feuersbrünsten nur immer um so
blühender hervorging. Das unbefangene Völkchen der Reutter
bemüht sich, dem Fremden durch einige Kultur und angestammte
Behaglichkeit einen angenehmen Eintritt in Tyrol zu bereiten,
und das dortige Gasthaus zur Post ist eiu beliebtes Staud-
quartier für hunderte von Wandergästen während des ganzen
Sommers. Ein weiter Kreis von keck gegipfelten Höhen, wovon
einige, wie z. B. der Taneller, mit Schnee durchfurcht sind,
schließt den freundlichen Grund ein, und malerisch zieht sich der
Lech mit seinen: breiten Steinbett durch die hügeligen, *>on
Dörfern geschmückten und mit Viehheerdeu genrebildlich belebten
Wiesenfluren dahin.
Rings umher öffnen sich mehre Thäler und Schluchten; so
vor Allem das Lechthal selbst; das Vilsthal, das Thannheimer-
thal und die romantische wildverwachsene Schlucht, iu der sich
die Stnibenfälle, die Abflüfse des blauen träumerischen Plansees
weißschänmend niederstürzen und ihr Brausen mit dem Rauschen
Erdtheileu.
der allen Föhren und Eichen vermischen. Ein anderer Haupt-
thalweg öffnet sich bei der Ehrenbürger Klause. Es ist dieselbe
Kuuststraße, welche vom Innthal über Hasserreit, den Fernstein-
paß und Leermoos nach Renlte führt und hier im Lechthal
mündet.
Ehrenberg selbst stellt sich als eine stattliche Bergveste dar,
die noch iu ihrer ruinenhafteu Gestalt dem Beschauer jene
Achtung einflößt, welche sie immer ihren Feinden abnöthigte.
Dennoch wurde sie, wie fast jede Burg, wiederholt erobert,
und ihre historischen Erinnerungen ziehen sich, so blutig als ein-
flußreich, bis in das graue Mittelalter hinein. Der Sturz dieser
Beste hatte immer bedeutungsvolle Folgen, denn er eröffnete
dem Feinde den Eingang in das Innere Tyrols, oder ließ ihn
daraus hervor und in die bayerischen Lande einbrechen. Im
Schmalkaldischen Kriege nahm der Bundeshauptmann Schärtlin
von Burdenbach Ehrenberg ein und int Jahre 1552 erstürmte
Moritz von Sachsen die Ehrenberger Klause, mit ungestümer
Hast. Dieselbe war auch iu der That gerechtfertigt, indem es
in dem kühnen Plane des Feldherrn lag, durch den Paß ohne
Aufenthalt nach Innsbruck zu gelangen, um dort den hartnäckigen
aber damals thatenlofen Kaiser Karl V. durch einen über-
raschenden Handstreich gefangen zu nehmen.
Dazu verhalf ihm'die Eroberung Ehrenbergs nicht, indem
in einem seiner Regimenter zu Reutte eine Empörung aus-
brach; der tapfere Moritz hatte, wie fast alle Helden der ältern
deutschen Geschichte, kein Geld, um die hungernden Soldaten zu
bezahlen.
Als Moritz seine Söldner beruhigte, hatte der Kaiser be-
reits Wind bekommen und die Schultern seiner treuen Tyroler
benutzt; da ihm das Reiten zu unbequem war, ließ er sich in
einer Sänfte über die Alpen tragen.
Im dreißigjährigen Kriege bewegten sich wieder Bernhard
von Weimar und LLrangel in und bei Ehrenberg, der alte
schwedische General, der' trotz seiner Gichtbrüchigkeit schon vor
dem Beginne des großen Krieges seine Feinde durch die Rasch-
heil seiuer Eilmärsche in Verzweiflung brachte. Im spanischen
Erbfolgekrieg befehligte hier Maximilian Emanuel, der energische
Eroberer von Belgrad. Im Jahre 1800 wurde die Burg von
den Franzosen zerstört, und Oesterreich hat keine Veranlassung
gefunden, sie wieder als Schutzwehr des Passes in Stand zn
setzen. Uebrigens würde dies sehr leicht möglich sein; die
malerischen epheuumrankten Gemäuer, die sich aus einem hohen
Berggipfel ganz dicht an die eigentlichen höheren Felsen des
Klauseneinganges anschließen, sind stark und in ihrem Fuuda-
ment wohlerhalteu. Mau kann die Anbauten aus den ver-
schiedensten Jahrhunderten deutlich unterscheiden; mit Hülfe der
Kanonen neuerer Zeit würde es möglich sein, von hier den
ganzen Thalgrund erfolgreich zu bestreichen. Die Augen des
Wanderers haben von dieser pittoresken Höhe eine entzückende
Aussicht über ein weites Panorama. Es stehen uns gerade
jene Bergreihen gegenüber, aus welchen sich der bedeutendste
nächste Punkt von 6000 F. Meereshöhe, der bekannte Seiling,
erhebt, jener markig geformte Felskegel, hinter dessen Fuß der
grünblaue Alpsee liegt, welcher den Schloßhügel vou Hohen-
schwangau bespült. Dieser herrliche Punkt ist sür jeden Fuß-
gäuger leicht zu erreichen; er liegt also auch in der Nähe von
Reutte und vermehrt die Reize der Umgebung.
Bamnwollenwaaren sind aus Großbritannien während der
ersten sechs Monate 1865 ausgeführt worden: 942,871,056 2)ards.
Der Umfang des Erdballs am Aequator beträgt 24,876 Miles
oder 43,781,760 2)cn-ds. Mit jeueu zur Ausfuhr gelangten
Baumwollenzeugen könnte man also die Erde umspannen, und
es bliebe außerdem noch genug Zeug übrig, um daraus einen
Sack zu verfertigen, „in welchen man den Mond stecken
könnte". (Schipping Gazette vom 2. August.)
Berichtigung.
Vou der Vorrede zum vin. Bde. habe ich eiue Druckrevision
nicht gelesen. Neben kleineren Druckfehlern befindet sich ein den
Sinn durchaus verfälschender, der berichtigt werden muß. S. IV
soll es heißen: Man wird insbesondere auf dem Gebiete jener
Art von Philanthropie, welche jetzt gang und gebe ist, Vieles
(es war irrig gesetzt worden Alles) als unberechtigt und
geradezu schädlich bekämpfen und zurückweisen müssen. A.
Herausgegeben von Karl Andrer in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
m
Der Herrscher von Buchara und sein Regierungssystem. — Reise nach Karschi. — Die Brunnen in der Wüste. — Kerki am
Orus; Zollerhebung. — Ein turkomanischer Heiliger. — Balch und dessen Ruinen. — Andschuy. — Ein ceutralasi atischer Völker-
fechtboden. — Chanat Maymene. — Peitschengeld. — Uebergang über den Flnß Murgab. — Die Dschemdschidi Turkomanen. —
Wildwachsende Landesprodukte.— Herat und dessen Bazar. — Bunte Bölkermischuug. Der Derwisch in der Audienz beim Prinz-
regenten. — Glückliche Ankunft zu Mesched inChorassau.
Der Reisende aus Ungarn schildert Alles, was er in
Buchara und in Samarkand erlebte, in sehr anschaulicher
Weise; wir gehen aber nicht näher darauf ein, weil wir
seinen Aufenthalt in diesen berühmten Städten schon früher
im Globus eingehend besprochen haben.
Regierung durch Gerechtigkeit." Die letztere faßt er freilich
in einem durchaus morgenländischen Sinn auf. Einst ließ
er seinen Mehter, d. h. den zweithöchsten Hofbeamten hin-
richten. Weshalb? Man hatte ihm, der gerade gegen den
Chan von Chokand im Felde stand, gemeldet, daß der-
Brunnen in der Wüste zwischen Samarkand und Karschi- (Nach einer Zeichnung von Vambery.)
Der Herrscher von Buchara, Mosassar ed-din Cha n,
ist einer der mächtigsten Monarchen Innerasiens und un-
endlich besser als sein Vater, der während seiner letzten Re-
gierungsjahre ein vollendeter Wütherich und Wüstling war.
Vambery sah den Emir, denn diesen Titel führt er, nicht
in seiner Hauptstadt, sondern erst einige Wochen später in
Samarkand. Er mag vierzig und etliche Jahre alt sein, ist
eine ansprechende Erscheinung, hat schöne schwarze Augen
und nur einen dünnen Bart. Sein Wahlspruch ist:
Globus IX. Nr. 3.
selbe einen forschenden und zweifelhaften Blick
auf eine der Hofsklavinnen gerichtet habe.
Gegen seine Würdenträger benimmt er sich sehr streng;
jedes kleine Vergehen bestraft er mit dem Tode, aber gegen
die ärmeren Klassen verfährt er schonend, und so bezeichnet
ihn denn der Volksmund als Elephantentödter und
M ä u s e p f l e g e r (F i l k u s ch und M u s ch P e r w e r ). Das
Ganze aber ist eiu Regiment der äußersten Willkür; der
Emir hat die Einfuhr' von Lnxuswaaren verboten und
9
'!! Iii
66
Aus Hermann Vambery's Reise in Mittelasien^
duldet keinen Pomp der Kleidertracht; selbst in den Häusern
soll Alles so einfach wie möglich sein.
Als er in Samarkand einen feierlichen Einzug gehalten
hatte und öffentliche Audienz hielt, stellte auch Vambery
sich ihn: vor; es überraschte ihn, als ein Hofbeamter ihm
mittheilte, der Badewlet (die Majestät) wolle ihn allein
sprechen. Der Emir lag auf einer rothen Matratze zwischen
Büchern und Schriften. Der Derwisch sagte sofort eine
Snre aus dem Koran her und sprach ein Gebet für des
Herrschers Wohlergeheu; dann setzte er sich ohne Weiteres
nahe bei dem Monarchen nieder und wurde von diesem mit
den Worten angeredet:
„Hadschi! Aus Rum (der Türkei) kommst Du, wie ich
höre, um das Grab Bahaeddius und der anderen Heiligen
Türkistans zu besuchen?" —
„Ja, Tachsir (mein Herr), und auch, um mich an Deiner
gesegneten Schönheit laben zn können."
„Sonderbar. Und Du hättest gar keinen andern Zweck
dabei, daß Du aus so fernen Landen hierher kommst?"
„Nein, Tachsir, das edle Buchara und das reizende
Samarkand wollte ich sehen. Scheich Dschelal bemerkt,
daß man hier eher mit dein Kopfe als mit den Füßen wan-
deln sollte. Uebrigens habe ich keine andere Beschäftigung,
und schon lange streife ich in der Welt als Dschihan-
geschte, Weltwanderer, herum."
„Was? Du mit Deinen: lahmen Fuße ein Dschihan-
geschte? Das ist wirklich auffallend."
„Ich möge Dein Opfer sein (d. h. verzeihe), Tachsir!
Dein glorreicher Ahn, Friede sei über ihn, hatte ja den-
selben Fehler und war sogar Dschihangir, d. h. Welt-
er ob er er."
Diese Anspieluug auf Timur gefiel dem Emir. Von
den: Weltstürmer leiten die Herrscher Bnchara's, obwohl
fälschlich, ihr Geschlecht ab. Er selber war bekanntlich
lahm, und deshalb bezeichneten seine Feinde ihn als Timur
lenk, den lahmen oder hinkenden Timur. Aus dieser Be-
zeichnuug machte man im Abendlande Tamerlan.
Man sieht, der Derwisch aus Ungarn war dreist und
an Geistesgegenwart fehlte es ihm nicht. Der Emir ließ
ihm einen Anzug und etwas Geld geben uni) befahl ihm,
in Buchara, sich wieder vorzustellen. Aber feine Reise-
geführten rietheu ihm, nach diesen: Austritte nicht länger in
Samarkand zn verweilen. Es macht seinem guten Herzen
alle Ehre, daß er deu Abschied von den alten Freunden mit
Wärme schildert. Sechs Monate, sagt er, hatten wir die
größten Gefahren, die uns von Wüsten, Räubern und
Elementen drohten, getheilt; — kein Wunder, wenn jeder
Unterschied des Standes, des Alters und der Nationalität
verschwand und wir uns als eine Familie betrachteten.
Trennung war in unseren Augen so viel als Tod, und wie
könnte das auch anders sein in Gegenden, wo Wiedersehen
fast unmöglich ist. Mein Herz wollte brechen, als mir der
Gedanke kam, daß ich diesen meinen besten Freunden in der
Welt, denen ich mein Leben verdankte, das Geheimniß
meines Jncognito nicht anvertrauen konnte und sie täuschen
mußte. Ich bahnte den Weg dazu, ich wollte es versuchen,
doch Religionsfanatismns, der ja selbst in: gebildeten
Europa vorkommt, hat einen schrecklichen Einfluß auf den
Jslamiten. —
So verließ er Samarkand am Abend; der aufgehende
Mond warf eine matte Beleuchtung aus die Kuppel:: der
Moscheen. Seine neuen Reisegefährten waren ans den:
Ehanat Ehokand und wollten nach Mekka; auch ein junger
Mollah aus Kungrad hatte sich angeschlossen.
Die Reise ging nun gegen Süden, zunächst nach dem
etwa 18 deutsche Meilen entfernten Karschi durch die
Wüste, welche aber in: Vergleich zu der früher geschilderten
gefahrlos erscheint. Sie wird nach allen Richtungen hin
von Schäfern durchzogen und hat viele Brunnen mit ziem-
lich gutem Trinkwasser. Sie sind größtenteils tief; neben
ihnen besiudet sich aus Stein oder Holz ein Becken, in
welches man das Wasser gießt. Die Eimer sind klein, und
das häufige Aufziehen würde die Schäfer bald ermüden.
Man verwendet deshalb zum Schöpfe:: ein Kameel oder
einen Esel, welchem das Seil an: Sattel befestigt wird. Das
Thier muß eine, der Länge des Seils entsprechende Strecke
weit fortgehen und fördert so das Wasser zu Tage. Der
Anblick dieser Brunnen mit den Thieren an der Tränke und
deu ernsten Hirten hat etwas Poetisches. Der Reisende
aus Ungarn war überrascht durch die Ähnlichkeit, welche
dieser Theil der Wüste nüt seinen heimatlichen Pnszten
darbot.
Der Emir von Buchara läßt eine sehr strenge Polizei
ausüben, und deshalb sind die Straßen so sicher, daß auch
kleine Karawanen und selbst einzelne Reisende diese Wüste
ungefährdet durchziehe::. Der folgende Vorfall ist kenn-
zeichnend. Vambery's Karawane begegnete einer andern,
die aus Karschi kam und eben an eilten: Brunnen Rast
hielt. Unter den Reisenden befand sich eine junge Frau,
die ohne ihren Willen und ohne ihr Wissen von ihrem
eigenen Manne für 30 Goldstücke an einen Tadschik ver-
kauft worden war. Erst in der Wüste erfuhr sie von den:
abscheulichen Handel. Die Arme schrie, weinte, raufte sich
die Haare aus und rief, wie wahnsinnig auf den Derwisch
zurennend: „Mein Hadschi, Dn hast die Bücher gelesen;
sage mir, wo steht geschrieben, daß ein Muselmann seine
Frau, mit der er Kinder hat, verkaufen kann?" Vambery
sagte ihr, daß das eiue Süude sei, der Tadschik aber lachte
ihn ans; er hatte sich wahrscheinlich mit den: Oberrichter
von Karschi abgefunden und war seines Kaufes sicher.
Karschi, das alte Nachscheb, ist durch Größe und
Handelsbedeutung die zweitwichtigste Stadt in: Ehanate
Buchara, hat 10 Karawanseraien, einen gut versorgten
Bazar und iu ruhigen Zeiten viel Transithandel zwischen
Buchara, Kabul und Indien. Die etwa 25,000 Ein-
wohner sind zumeist Usbeken (Vambery schreibt O es b eg en)
und bilde:: den Kern der bnchariotischen Truppen. Zu
ihnen kommen noch Tadschiks, Inder, Afghanen und Jude::.
Die letzteren habe:: in Karschi das Privilegium, auch in der
inner:: Stadt zu reiten; das ist ihnen in keinem andern
Theile des Chauats gestattet. Karschi ist auch in gewerb-
licher Hinsicht nicht ohne Bedeutung; noch mehr gilt das
aber von den: unweit entfernt liegenden Hifar, das durch
die Fabrikation der Messer berühmt ist. Verschiedene
Arten derselben werden nicht nur nach allen Theilen Mittel-
asiens, sondern durch die Hadschis auch nach Persien, Ära-
bien und der Türkei ausgeführt utld theuer verkauft. Die
damaseirten Klingen mit Gold und Silber ausgelegten
Griffen sind in der That sehr kunstvoll gearbeitet und können
an Gediegenheit und Feinheit sich n:it den berühmtesten
europäischen Fabrikaten vollauf messen.
Vambery war ganz überrascht, in Karschi einen
öffentlichen Belnstignngsort zu finden. Man trifft
dergleichen weder in Buchara noch Samarkand und eben
so wenig in Persien. Der große Garten führt den befchei-
denen Namen Bettlerherberge, Kalenderchane, liegt
an: Flusse Scheri sebs, hat Baumgänge und Blumenbeete,
und dort bewegt sich die Menge von 2 Uhr Mittags bis
nach Sonnenuntergang. ^ Geschlossene Gesellschaften sitzen
um die Samoware (Wasserkessel zu Theebereituug). Der
Anblick einer fröhlichen Menge ist für den Reisenden in
Mittelasien etwas Seltenes; aber die Bewohner von
Aus Hermann Vambery's Reise in Mittelasien.
67
Karschi zeichnen sich durch frohen und lustigen Sinn aus
und haben im Chanat Buchara einen ähnlichen Ruf, wie
die von Schiras in Persien.
Der Reisende zog dann nach dem 14 Meilen entfernten
Kerki, wo er den dort 800 Schritte breiten Orns über-
schritt; der Strom ist fast doppelt so breit wie die Donau
zwischen Pesth und Ofen, und fließt stark, hat aber viele
Sandbänke und seichte Stellen. Die Schiffer nahmen von
den Pilgern kein Fährgeld, jedoch der Beamte des Gouver-
nenrs hielt die Fremden an und erklärte, sie seien ent-
lanfene Sklaven, die nach ihrem ketzerischen Vaterlande
Persien entfliehen wollten. Er zwang sie, mit Sack und
Pack in die Citadelle zu gehen, wo man sie verhörte. Vam-
bery machte großen Lärm, sprach im konstantinopolitanischen
Dialekte und zeigte seinen Paß. Das half. Man sagte ihm,
er solle nur ruhig sein; der Untersuchung müßten alle Frem>
den sich unterwerfen, weil die freigelassenen Sklaven, welche
nach Persien zurückgehen, an der Grenze zwei Dukaten Zoll
zu erlegen haben; manche verkleiden sich aber, um nicht
zuzahlen. _
Kerki ist Grenzfestung auf der Straße von Herat
und Schlüssel zu Buchara. Das Städtchen hat nnr etwa
150 Häuser und wird von ackerbautreibenden Usbeken und
Turkomanen bewohnt. Von der Stadt aus unternahm
Vambery einige Ausflüge zu den Turkomanen in jener
Gegend, namentlich zu den Ersari, welche vor 200Jahren
vom Kaspischen Meere dorthin gezogen sind und seit etwa
einem halben Jahrhundert die Oberherrlichkeit des Emirs
von Buchara anerkennen. Mit seinem Gastgeber Chalsa
Nijas war er sehr zufrieden.
Dieser Mann hatte Heiligkeit, Wissen und Ansehen
von seinem Vater geerbt und besaß ein Kloster (Tekkie),
in welchem junge Männer für geistliche Genossenschaften
gebildet wurden. Auch hatte er ein Jsu, eine Erlanbniß,
zum Vorlesen der heiligen Gedichte aus Mekka bekommen.
Wenn er las, stand eine Schale mit Wasser vor ihm, und
cun Ende eines jeden Gedichts spuckte er in dieselbe hinein.
Der von der Heiligkeit der Worte durchdrungene
Speichel wird als wunderwirkende Arznei an
den Meistbietenden verkauft.
Mit ihm ritt Vambery zu dem nur 5 Stunden vom
alten Belch (Balch) entfernten edeln Grabe, mesari
scheris; es gilt für Ali's Grab und ist ein vielbesuchter
Wallfahrtsort. Es wird bezeichnet als das Wnndergrab
zu Schahi Merdau (d. h. Heldenkönig), und foll um 1150
n. Chr. zur Zeit des Sultans Sandschar entdeckt worden
sein. Balch war weit und breit nitt Ruinen bedeckt, in
denen man nach Schätzen grub, welche aus den Zeiten der
Divs (Teufel) herrühren sollten. Als auch jener Herrscher
nachgraben ließ, habe man, so wird geglaubt, eine Tafel
aus weißem Stein gefunden mit der Inschrift: „Dieses ist
das Grab Ali's, Sohns des Ebntalib, des großen Helden
und Gefährten des Propheten."
Dieser Umstand, sagt Vambery, hat für uns nur so
viel Interesse, als wir dadurch nachweisen können, daß
die Ruinen des alten Balch (von den Orientalen
Uem ül Bilad, Mutter der Städte, genannt) sich
5 Stunden weit ausgedehnt haben. Hente
zeigen nur einzelne Erdhaufen, wo das alte
Baktra stand; von den neueren Ruinen ist nur eine
halbverfallene Moschee ueunenswerth, die der Seldschucken-
fürst Sandschar erbauen ließ. Belch war im frühen Mittel-
Jxtcv eiu Hauptsitz der islamitischen Eivilisatiou und führte
damals den Beinamen Knbbet ül Islam, Kuppel des
Auffallend ist, daß ich hier Ziegel von derselben
(^roße und Qualität faud, wie iu den Ruinen der
Alexandermauer in: Lande der Jomuten (wir haben die-
selbe früher bereits geschildert, doch habe ich keine mit
Keilschriften entdecken können. Nachgrabungen würden
von großem Erfolge sein, wären aber nur möglich, wenn
sie ein Empfehlungsschreiben von ein paar tausend enro-
päischen Bayonnetten zur Seite hätten. Das heutige
Belch (Balch) wird als Hauptsitz der afghauifcheu Provinz
Tnrkestans angesehen, und dort residirt der Serdar mit
einer Garnison. Der Ort ist nur im Winter bewohnt, denn
schon im Frühjahre zieht Alles nach dem höher gelegenen
Mesar, wo die Hitze nicht so drückend und die Luft uicht
so schlecht ist, wie zwischen den Trümmern des alten Baktra.
Dieses ist verrufen durch die Menge gefährlicher Skor-
pione; jenes hat einen bedeutenden Ruf durch die wunder-
wirkenden Rosen, welche anf dein angeblichen Grabe Ali's
wachsen; sie sind an Farbe und Geruch die schönsten, welche
ich je gesehen habe. —
Von Kerki zog der Reisende in südwestlicher Richtung
über eine dürre ebene Wüste nach den Ruinen der Stadt
Andchuy, wo der Chan für Menschen, Thiere und
Waaren Zoll erpreßt. Das Sprichwort sagt: „Andchuy
hat bitteres Salzwasser, brennenden Sand, giftige Fliegen
und Skorpione; rühme es nicht, da es ein Bild der wirk-
lichen Hölle ist." Es soll aber noch vor etwas mehr als
einem Menschenalter 50,000 Einwohner gehabt haben.
Diese trieben mit feinen Schaffellen, sogenannten astracha-
nern, Handel nach Perjien. Die dort gezüchteten Kameele
gelten für die besten in ganz Türkistan. Eine Art, Nu-
genannt, zeichnet sich durch schlanken Bau, große Stärke
und durch Haare aus, welche von Hals und Brust lang
hcrabwallen; diese Sorte ist jetzt selten geworden. Andchuy
hat jetzt noch 2000 Häuser und 3000 Zelte, welche letztere
am Saume der Wüste, oder in den Oasen derselben liegen.
Die Zahl der Einwohner übersteigt 15,000 nicht, Turko-
matten, Usbeken und einige Tadschiks. Es bildete von
jeher ein besonderes Chanat, wie das auch mit Chnlum,
Kundus und Balch der Fall war. Aber es war, weil es
an der Straße nach Herat liegt, den Angriffen sowohl des
Emirs von Buchara, als auch jenen der Afghanen ans-
gesetzt und wurde 1840 von letzteren fast zerstört. Der
Chan erkannte dann die Oberherrschaft der Afghanen an.
Der ganze Landstrich hu Süden des obern Orns bis
an den Hiudnkoh und bis nach Herat ist allzeit ein Fecht-
boden gewesen, auf welchem die Herrscher der kleinen Raub-
staaten, nämlich der Chanate Kundus, Chnlum, Balch,
Aktsche, Serepul, Schiborgan, Andchuy und Maymene sich
henuntununeln. Und anf demselben Felde treffen auch die
Monarchen von Buchara und Afghanistan zusammen,
welche abwechselnd die kleineren Chanute in Abhängigkeit
brachten. Bis zu Anfang unseres Jahrhunderts überwog
der Einfluß Buchara's; seitdem hat aber dieser deu lieb er-
griffen der afghanischen Stämme der Durani, Saddnsi und
Bareksi weichen müssen, und dem berühmten Dost Moham-
med Chan, welcher Gebieter aller Afghanen war (er starb
vor zwei Jahren in hohem Alter), gelang es, die sämmt-
lichen kleinen Chanate, mit Ausnahme von Badachschan
und Maymene, zu unterwerfen; er bildete ans ihnen seine
afghanische Provinz Türkistan und legte in dessen Hauptstadt
Balch 10,000 Soldaten. Der Chan des Gebirgslandes
Badachschan erklärte sich zum Vasallen des Dost; aber
Maymene, das von tapferen Usbeken vertheidigt wurde,
widerstand.
Der Tod Dost Mohammed Chans erscheint als ein
hochwichtiges Ereigniß in der Geschichte Büttelasiens. So-
fort begannen die Wirren, von welchen auch gegenwärtig
noch das Afghanenland zerrüttet wird. Der Emir von
9*
68 Aus Hermann Nambei
Buchara wollte sofort dieselben benutzen und schickte dem
Chan von Maymene 19,000 Goldstücke. Beide verab-
redeten, daß der Emir den Oxus überschreiten, und daß
man gemeinschaftlich die Afghanen angreifen solle. Aber
der hitzige, erst 22 Jahr alte Chan begann sofort und allein
den Kampf, und als Vambery in Maymene eintraf, hatte
jener das Eingangsthor zu seiner Citadelle mit 300 lang-
>'s Reise in Mittelasien,
wie er sagte, den tüchtigem Sohn an die Spitze des Staates
zu briugeu." Der Chan hat das Recht, jeden seiner Unter-
thanen, welcher zu einer Strafe verurtheilt worden ist,
nach Buchara auf den Sklavenmarkt zu schicken!
Die Stadt Maymene liegt zwischen Bergen, hat 1500
Lehmhütten und ist sehr schmutzig. Die Einwohner sind
zumeist Usbeken; dazu kommen Tadschiks, Heratis und
Eine Hofsklavin in Buchara.
behaarten Feindesköpfen geschmückt und traf eben Vorberei-
tungen zu einem neuen Feldzuge.
Das Chauat Maymene hat, so weit es bewohnt ist,
20 Meilen Länge und 18 Meilen Breite, und besteht außer
der Hauptstadt aus 10 Dörfern und Ortschaften, zusammen
ungefähr 100,000 Seelen, zumeist Usbeken, welche 8000
gutbewaffnete Reiter ins Feld stellen. „Der Herrscher
Hnsein Chan ist ein Sohn Hukumet Chans, den sein eigener
Bruder, der noch lebende Oheim des jetzigen Fürsten, von
den Mauern der Citadelle hinabwerfen ließ, um,
einer Zeichnung von Vambery.)
etwa 50 Familien Juden, einige Hindlls Mld Afghanen,
welche alle gleiche Freiheit genießen und wegen ihrer Re-
ligion und Nationalität nicht beunruhigt werden. Die
dortigen Pferdemärkte sind berühmt, und beträchtlich ist
die Ausfuhr vou Teppichen, trockenen Trauben, Anis und
Pistazien.
Nach einem Aufeuthalt von mehren Tagen setzte sich
die Karawane auf der Straße nach Herat in Bewegung
und kam unweit von Chodschakendu vorüber, das in
dieser Gegend die Grenze Türkistans bildet. Ein Grenz-
I
;» ,
70 ' Ans Hermann Vambe
Wächter erhob eine Abgabe, das Kamtschin pulu,
„Peitschengeld". In Mittelasien ist es Sitte, daß die
Escorte, welche eine Karawane begleitet, ein Peitschengeld
swir würden sagön Trinkgeld) bekommt. Jener Wächter
hatte aber, ohne daß eine Bedeckung vorhanden gewesen
wäre, vom Chan das Recht erhalten, sich von jedem Durch-
ziehenden eiue Abgabe zahlen zu lassen, und darin bestand
seine Jahreseinnahme. Ein Kaufmann aus Herat sagte
zu unserem Reisenden, der sein Erstaunen über eiue solche
Erpressung äußerte: „Wir dankeil Gott, daß man uns nur
Steuern auferlegt. Früher war itt Andchny und Maymene
größere Gefahr; der Chau selber ließ die Kara-
wauen plündern, und manchmal verloren wir Alles."
Vambery schildert die Usbeken als biedere, ehrliche Leute;
diese Nomaden hatten den besten Eindruck auf ihn gemacht.
Der Weg führte dann einen ganzen Tag lang durch
eiu iippiges Wiesenland, aber am folgenden Abend cubfte
die schöne Thalgegend, und die Karawane mußte über einen
rauhen und steilen Gebirgspaß, der an manchen Stellen so
eng ist, daß emzelue beladene Kameele nur mit Mühe hin-
durch können. Er scheint der einzige praktikable Weg zu
seiu, welcher über das Gebirge zum Flusse Murghab
führt, desseu Ufer um Mitternacht erreicht wurde. Er
entspringt aus dem östlichen Hochgebirge, dem Ghur, und
fließt nach Nordwesten bei Martschah und Pendschdeh vor-
bei; dann verliert er sich in den Sandebenen von Merw.
Die Angabe, daß dieser reißende Gebirgsstrom ehemals in
den Orus eingemündet sei, ist unrichtig.
Der Strom floß sehr schnell, war nicht besonders tief,
konnte aber wegen der steilen Ufer und der im Bette liegen-
den Steinblöcke nicht all jeder Stelle überschritten werden.
Beim Uebergange trieb mall zuerst die Pferde ins Wasser,
dann folgten die Kameele, und zuletzt sollten die Esel „das
Kunststück vollenden". Diese Thiere, sagt Vambery, fürch-
ten Schlamin und Wafser mehr als Tod und Feuer; ich
hielt es daher für eine nothwendige Vorsichtsmaßregel,
meinen Ranzen, welcher die thenerste Beute meiner Reise,
die Manuscripte, enthielt, auf eiu Kameel zu legeu. Ich
setzte mich aus den leereil Sattel llnd trieb dann meinen
Esel in den Fluß hinein. Gleich an den ersten Schritten,
welche er aus dem steinigen Boden des reißenden Stromes
machte, merkte ich schon, daß etwas Unangenehmes vor-
gehen würde, lind wollte sofort absteigen. Das war aber
unnöthig; bcrnt noch einige Schritte weiter stürzte mein
Renner unter großem Gelächter der ain Ufer stehenden
Reisegefährten und rannte dann ganz erschrocken, gerade
wie ich es gewünscht hatte, ans jenseitige Ufer. Das kalte
Morgenbad in dem klaren Murgab war nur dadurch unan-
genehm, daß ich mich nicht umkleiden konnte; ich mußte
meinen Anzug in der Sonne trocknen und inzwischen unter
Teppichen und Säcken liegen.
Am linken Ufer des Murgab steht eiu Fort des Chans
der Dschemdschidi - Türko m an en, welcher hohe Zölle
selbst voll deil Pilgeril erpreßte. Einst soll in diesen Ge-
genden, als Merw noch eine blühende Stadt war, eine
gewisse Kultur geherrscht haben; „heute aber Hausen Tur-
komanen dort, deren Tritteu überall Ruinen und Elend
folgen".
Das gebirgige Land der Dschemdschidi bringt drei
wildwachsende Produkte hervor, welche jeder belie-
bige Mensch sanumln kamt; erstens Pistazien, sodann
Busgundsch, eine nußartige Frucht, welche zum Färben
benutzt wird; drittens Terendschebin, eine than-
artige Zuckersubstanz, die von eiller Stande wie
Mauna gesammelt wird, feilten Übeln Geschmack hat und
in Persien und Herat zur Zuckerbereitung benutzt wird.
>'s Reise in Mittelasien.
Vambery bemerkt, daß es unter den Dschemdschidi-Roma-
den „mit der Religion schwach bestellt sei".
Herat ist von dem Bala Murgab für Pferde nur 4,
für beladene Kameele 8 Tagereisen weit entfernt, und der
Weg führt über mehre Gebirgspässe durch das Gebiet der
Hesare, welche hier, durch Vermischung mit iranischem
Blut, ihren mongolischen Stainmtypus nicht so rein
bewahrt haben, wie ihre Brüder in der Umgebung Kabuls.
Die Hesare, welche man in Persien Berber nennt (mit
welchem Worte man eigentlich die Stadt Scheri Berber
bezeichnen will, die angeblich in den Gebirgen zwischen
Kabul und Herat lag), sollen aus ihren Ursitzen in der
Mongolei durch Dschengischan nach dem südlichen Mittel-
asien gebracht worden sein; auffallend ist, daß sie ihre
Muttersprache mit der persischen vertauscht haben, die selbst
in der jetzt von ihnen bewohnten Gegend nicht allgemein
ist. Nur eiu kleiner, isolirt bei Herat lebender Theil,
welcher sich lnit Kalkbrennen beschäftigt, spricht einen Jar-
gon des Mongolischen und lteitnt die Stätte, auf welcher sie
wohnen, Gobi.
Die Karawanen legen gewöhnlich deu Weg zwischen
Buchara lmd Herat in 20 bis 25 Tageu zurück, aber jene, mit
welcher Vambery reiste, hatte mehr als 6 Wochen gebraucht.
Jetzt merkte er, daß er in der schönen Ebene von Herat
(Dschölgei-Herat genannt) wirklich an das Ende von
Türkistan und von Eentralasien gelangt sei. Obwohl
Bäume fehlen, ist doch die Landschaft so lieblich, daß sie von
den Orientalen alsDschennetfifat, paradiesähnlich, bezeich-
net wird. Die Stadt selbst ist bekanntlich ein Schlüssel nach
Judieu und Eentralasien, hat deshalb eine große politische
Wichtigkeit und ist ein Zankapfel für die Nachbarländer.
Zwei Monate vor Vambery's Einzug hatteu dort wilde
Afghanenkrieger Gräuel der Zerstörung verübt; trotzdem
sahen in der üppigen Landschaft Aecker und Weingärten
vortrefflich aus. Im Innern fand der Reisende noch überall
Ruinen, doch war ein großer Theil des Bazars unversehrt
geblieben und bot das' interessanteste Musterbild eilles
Lebens dar, desseu Charakter eiu Gemisch von Indien,
Persien und Mittelasien noch deutlicher repräsentirt, als
selbst der Bazar von Buchara. Vambery's an orienta-
lisches Leben schon gewöhntes Auge wurde hier dennoch
überrascht durch die Rasseuverschiedeuheit von Afghanen,
Jndiern, Tataren, Turkomaueu und Persern. Jedermann
ging bewaffnet. Dem wildmartialischen Afghanen ist nur
der turkomanenähnliche Dschemdschidi zu vergleichen; der
armselig gekleidete Herati; der fast nackte Hesare und der
Teymnri aus der Umgegend verlieren sich neben ihm lmd
gehen demüthig an ihm vorüber; „aber nie ist der Herr-
scher oder Eroberer so gehaßt worden, wie der Afghane
vom Herati". Das gilt selbst von den schon länger in der
Stadt ansässigen Afghanen; sie sind jenen, besonders seit
der letzten Belagerung, bitter feind, und ein Kabuli oder
ein Kaker aus Kandahar ist ihnen, als ein Unterjocher,
eben so fremd und verhaßt, wie deu eigentlichen Urein-
wohnern, die von persischem Schlag aber im Laufe der Zeit
mit türkisch-tatarischem Blute vermischt sind. Die Original-
bevölkeruug wird jetzt lnit dem Namen A'nuak oder
Tschahr-Änuak bezeichnet. Man theilt sie in Hesare,
Dschemdschidi, Firuskuhi und Temiene oder Timuri. Diese
Stämme sind ganz verschiedenen Ursprungs und können
nur volii politischen Standpunkt ans als Nation betrachtet
werden.
Vambery war in Herat bettelarm angekommen und
mußte sogar seinen Esel verkaufen, um sich Brot zu ver-
schassen. ' Sein treuer Begleiter Wollah Jschak aus Kim-
grat in Ehiwa, der jetzt in Pejth lebt, erbettelte Nahrung
Karl von Gaderns Charaktei
ititb Brennmaterial in den Straßen. In dieser Roth ging
der Reisende znin regierenden Prinzen Mehemmed Jakub
Chan, einen: sechszehnjährigen Knaben, welchen sein Vater
an die Spitze der eroberten Provinz gestellt hatte. Er trug
immer Uniform niit hohem Stehkragen, saß gewöhnlich auf
einem Lehnsessel am Fenster und ergötzte sich au den
Schwenkungen seiner Soldaten, welche englische Uniform
und Tschako trugen, obwohl die Sunniten jede Kops-
bedecknng, die ein Schild hat, als Abzeichen der uugläu-
bigeu Christen, verabscheuen. Auch das Commaudo ist
englisch.
In der Citadelle nun begab sich folgender Austritt.
Vambery trat iu deu Saal; zur Rechten des Prinzen saß
der Wesir, auch manche andere Würdenträger waren an-
wesend. Der Derwisch sprach die gewöhnliche Gruß-
formel, ging gerade auf deu Prinzen zu und setzte sich ohne
Weiteres zwischen ihm und dem Wesir nieder, nachdem er
letzteren in handgreiflicher Weise zum Platzmacheu verau-
laßt hatte. Mau lachte, aber der Derwisch sprach sofort
das übliche Sitzgebet: „Gott, unser Herr, laß uns einen
gesegneten Platz einnehmen, denn fürwahr, Du bist der beste
Quartiergeber."
Der Prinz faßte den Fremden fest ins Auge, schien
betroffen zu fein r und als der Derwisch das Amen sagte
und die Anwesenden sich den Bart gestrichen hatten, erhob
sich der Prinz auf seinem Sessel, zeigte mit dem Finger auf
Vambery und rief halb lachend und halb verwundert aus:
„Bei Gott, ich schwöre, Du bist ein Engländer!"
Ein lautes Gelächter begleitete deu sonderbaren Einfall
des jungen Herrschers, der dann vom Sessel herunter
sprang, sich dem Derwisch gegenüber stellte, wie ein Kind,
tif der Indianer in Mexico. 71
das einen glücklichen Fund gethau, iu die Hände klatschte
und ausrief: „Ich möge Dein Opfer werden! Sage mir,
uicht wahr, Du bist eiu Jugelis iu tebdil" (d. h. iueoguito).
Sein ganzes Benehmen war in der That naiv. Der Der-
wisch entgegnete: „Laß ab; Dn kennst wohl den Satz:
wer einen Rechtgläubigen selbst im Scherz für einen
Ungläubigen erklärt, wird selbst ein Ungläubiger. Gieb
mir lieber etwas für eine Fatiha, damit ich weiter reisen
kann." Der Prinz setzte sich und bemerkte, daß er nie
einen Hadschi aus Buchara mit solchen Gesichtszügen
gesehen habe, worauf Vambery entgegnete, er sei ja aus
Stambul; dann zeigte er seinen Paß, welcher herum-
gereicht wurde.
Am 10. November 1863 verließ Vambery Herat, die
Pforte Mittelasiens oder Indiens, mit einer 2000 Mann
starken Karawane und erreichte glücklich Mesched im
persischen Chorassau. Dort waren alle Gefahren über-
standen; er konnte dein Derwisch Valet sagen itnb wieder
als Europäer auftreten. Der schiitische Prinzgouverneur,
dem er viel von seinen Abenteuern erzählte, war ganz ent-
zückt, daß der Ungläubige den Emir von Buchara geseguet
habe; nennt sich doch dieser Sunnit, zum Aerger aller
Schiiteu, Emir ül mumeuin, d. h. Fürst der Rechtgläubigen,
und dafür gilt den Persern allein Ali.
Vambery schrieb von Mesched aus einen Brief an den
Prinzen nach Herat, wünschte ihm Glück wegen seines
Scharfsinns und sagte ihm, daß er zwar uicht eiu Eng-
länder, wohl aber ein Europäer wäre. Der Prinz sei ein
liebenswürdiger Mann, doch wolle man ihm den gut-
gemeinten Rath geben, iu Zukunft nicht einen Fremden zu
demaskireu, welcher durch Verhältnisse gezwungen sei, ein
Iueoguito anzunehmen.
Karl mm Gagerns Charakteristik der Indianer in Mexico.
Reulich haben wir in unseren Betrachtungen über die
Zustände iu Mexico hervorgehoben, von wie großen: Ge-
Wichte für dieses Land gerade das indianische Element sei.
Dasselbe überwiegt an Zahl alle anderen Bestandtheile der
Bevölkerung bei Weitem. Karl v. Gagern, welcher in der
„Revue du monde eolonial" über die Eiugebornen Merico's
Mittheilungen nach eigenen Beobachtungen gibt, nimmt im
Ganzen sieben Millionen Seelen an, und von diesen bil-
den die Weißen ungemischten Blutes nur etwa
den zwölften Theil."')
*) Wir wollen bemerken, daß in Folge der Anregungen,
welche Gallatin, Buschmann und Brassenr gegeben, iu
Mexico selbst bei einigen Gelehrten ein reger Eifer für For-
schungen aus dem Gebiete der Ethnographie zu Tage tritt.
Pimentel hat vor ein paar Jahren über die indianischen
Sprachen des Landes eine Arbeit geliefert, welche von einem
gründlichen Kenner, Aubin in Paris, für sehr unkritisch erklärt
worden ist. Im vorigen Jahr (1864) erschien in Mexico von
dem Licentiaten Manuel Orosco y Berra eine „G-eografia
Je las lenguas y carta ethnografica de Mexico, precedidas de un
ensayo de classificacion de. las mismas lenguas y de apuntes
para ]as inmigraciones de las tribus"; wir haben dasselbe noch
l J>U ^aui3cn bekommen sin den aber in der Julinummer
«v Annales des Voyages" eine kurze Jnhaltsanzeige.
Dte Karten über die Vertheilnng der Sprachen und die Erörte-
Die einzelnen Jndianerstämme sind allerdings
vielfach von einander verschieden, doch läßt sich eine gewisse
rungcn über den geschichtlichen und linguistischen Theil sind klar
uud übersichtlich.
Orosco y Berra theilt die Sprachen Merico's in 11 Fami-
lien: Mexiranisch (Azteka), Othomi, Huarteca-maya-
quiche, Mixteea-zapoteea, Matlatzinca, Tarasca,
Opata-tarahumar-pima', Apache, Seri, Guaicura
und Cochimi. Dazu kommen noch 16 nicht klassifizirte und
62 jetzt uicht mehr vorhandene Idiome.
Jene Ii Familien umfassen gegenwärtig 35 Idiome uud
69 Dialekte. „Dans l'ctat actuel des connaissaiices linguistiques
relatives au Mexique, on compte 182 langues difterentes parlees
dans cet interessant pays." Der Licentiat gibt zwei alphabe-
tische Kataloge; der eine enthält die Namen der 182 Sprachen
mit ihren verschiedenen Synonymen und bezeichnet den Staat
oder die Provinz, in welcher sie geredet werden. Die zweite
enthält cine Aufzählung aller Stämme, über welche geschicht-
liche Spuren vorhanden siud, uud bringt dereu uicht weniger
als 619 zusammen, die sich aber wohl bei genauer Untersuchung
beträchtlich verminderu lasseu werdeu. Iu dem zweiten ^helle
des Werkes spricht Orosco y Berra über die^ Einwanderungen
im alten Mexico, und der Geistliche ist verständig genug, sich aus
die Zerstreuung der Völker nach dem babylonischen Thurmbau
und andere derartige Fabeln nicht einzulassen. In chrono-
logischer Folge erscheinen zuerst die Chichimeken, deren Sprache
verloren ist, danu kommen die Colhnas und Nahuatlacas,
72
Karl von Gagerns Charakteristik der Indianer in Mexico.
typische Übereinstimmung nicht verkennen. An einen
as ia t is ch e n Ursp rnn g der Amerikaner denkt heute kein
kritischer Kopf mehr. Seit dein Menschenfunde im Missis-
sippidelta wissen wir ohnehin, daß schon vor mehr als
50,000 Jahren (also doch etwas früher als zur Zeit des
Urvaters Adam) Uramerikaner mit der Schädelbildung der
heutigen Indianer auf der westlichen Erdhalbe lebten. —
Der Indianer ist auf den ersten Blick als ein eigen-
artiger Mensch zu erkennen, aber unter der gleichen Haut-
färbe findet man nur erst uach und nach die individuellen
Ziige heraus. Bei wenig - civilisirteu Völkern tritt mehr
eine Stammes - oder Hordenphysiognomie hervor, als jene
des einzelnen Individuums; bei geistig höher ausgebildeten
und im Blut gemischten Völkern werden auch die Gesichts-
züge:c. mannichsaltiger.
Wir glauben, Herr v. Gagern sage das Richtige, wenn
er hervorhebt, daß heute die Civilisatiou der Ju-
dianer im Allgemeinen eine niedrigere sei, als
zur Zeit, da der europäische Flibustier Cortez
auftrat. Wahr ist aber auch, daß schou im alten Azteken-
reich ein beträchtlicher Theil der Volksmenge niedergedrückt
war; andererseits dagegen stand Tlascala als Republik
da. In dem von den Azteken zusammeneroberten Reiche
herrschten Priester und Edellente über die Volksmasse; sie
mußte schwer arbeiten, weil es dem Land an jedem Last-
thiere gebrach.
Gegen die in ihrer Weise hohe und eigentümliche
Civilisation der Azteken ist von den Spaniern in scheuß-
licher, boruirtester Weise gewüthet worden; einen so Hirn-
losen, stupiden Fanatismus hat sich kaum jemals ein
mohammedanischer Wütherich zu Schulden kommen lassen.
Den ansässigen, halbcivilisirten, „zahmen" Jndia-
ner schildert Herr v. Gagern in folgender Weise: Schon
in seiner Jugend hat er für uns etwas Greisenhaftes, und
doch bewahrt er wieder bis in sein hohes Alter etwas
Jugendliches, denn sein Bart ist spärlich, seine Haut runzelt
wenig, und sein schwarzes Haar wird nicht leicht grau. In:
Gesichte liegt schon bei Kindern ein Zng von Ernst und
Nachdenken; der Neger dagegen hat in seinem ganzen Be-
nehmen immer etwas Kindisches. Selbst die Freude des
Indianers trägt einen Anstrich von Trauer, und seine
Traurigkeit ist düster und schweigsam. Sein Rücken ist
gewöhnlich gekrümmt, als ob er unter einer Last seufze;
wenn er stehen bleibt, hat er uicht etwa eiue freie stolze
Haltung, sondern heftet den Blick ans den Boden. Aber
sein Körper ist kräftig gebaut, obwohl er nicht so viel
Muskelstärke hat, wie jener des Negers; er zeigt aber An-
daner in der Arbeit und ist darin mehr passiv als activ.
Seine einfache Nahrung besteht vorzugsweise aus Mais,
schwarzen Bohnen, Bananen und rothem Psefser; die Ge-
sundheit ist zumeist vortrefflich.*)
und später die Tolteken. Der Liemtiat meint, daß die uteri-
canische Bilderschrift älter sei, als sene von Palengne,
Urmal und Covan, und daß zwischen beiden keine Verwandtschaft
stattfinde. Auf der weiten Strecke vom Rio grande bis Aucatan
vermöge man drei Mittelpunkte alter Civilisation zu erkennen;
die Tolteken seien nicht die ersten Bewohner auf der Hochebene
von Anahuac, sondern vor ihnen schon Mirtekeu und andere
Stämme dort gewesen, welche bereits eine eigene Civilisation
gehabt hätten. Dann kamen die Tolteken und nachher die
Azteken. ' A.
*) Herr von Gagern theilt das Menschengeschlecht in „drei
Rassen" ein, nämlich in „aufsteigende, culminirende und unter-
gehende"; der Neger, meint er,_ fei im „Aufsteigen" (1» rfCe
africane ascendante); der mexikanische Indianer uns espers
clsstinss a disparaitre. Das i|t eine rein willkürliche Annahme,
für welche die Beweise fehlen. In Bezug auf die „Indianer" muß
man scharf individnalisiren. Der nordamerikanische Wa ld- und
Der Indianer, so meint unser Gewährsmann, der
wohl vorzugsweise die Aztekas tiu Auge hat, sei uicht so
sehr dem Trunk ergeben, wie man gewöhnlich meine.
Wenn er aber sich in Pnlqne berauscht (dem gegohrenen
Safte der Maguöypflanze, der amerikanischen Agave), oder
in Chingnerito, einem Zuckerbranntwein, dann will er
Vergessenheit suchen und von seinem kläglichen Dasein
nichts wissen. Mittheilsam ist er nie; er meidet die
Berührung mit den Weißen, die ihm „sein Land"
geraubt haben; er hat einen Hang zur Einsamkeit, ist kein
geselliger und gesellschaftlicher Menfch, kennt auch nur
geringe Bedürfnisse und ist schon deshalb ein passives
Hinderniß für das, was wir Europäer als Fortschritt
bezeichnen. Vieles, das für uns Bedürfniß ist, kennt und
begreift er gar uicht; in ihm liegt von Natur eine gewisse
Trägheit und Unempsindlichkeit, und beide weichen nur
momentan, wenn der Stachel berauschender Getränke oder
aufwallender Leidenschaft seine Wirkung übt. Wozu auch
soll er aus seinem Phlegma heraustreten, wenn er dafür
weder Zweck uoch Nothweudigkeit erkennt?
Aber arbeitsam ist er, sobald er zur Arbeit auge-
halten wird. Als vollkommener Stoiker duldet er, ohne
sich zu beklagen, und fürchtet den Tod um so weniger, da
ja das Leben ihn: nur geringe Freuden bietet. Allem,
was kommt und geschieht, setzt er die Macht der Trägheit
entgegen. Dem Weißen gegenüber erscheint er sanst und
unterwürfig, aber das ist oftmals nur Verstellung, und bei
passender Gelegenheit weiß er sich zu rächen. In seiner
Höflichkeit liegt etwas Uebertriebenes und Eeremoniöses
selbst tut Verkehr mit Seinesgleichen. Anhänglichkeit an
eine weiße Person gewinnt er nur schwer, und wenn er sie
endlich gewonnen hat, läßt er sie doch leicht wieder fahren.
Seine Erfindungsgabe ist gering, um so bemerkenswerter
dagegen sein Talent der Nachahmung, und seine
Geduld ist unerschöpflich. Darum leistet er Vortreffliches
in jeder Handarbeit, welche sich bei sitzender Lebensweise
und mit einer bis ins Kleinste gehenden Aufmerksamkeit
beschaffen läßt. Seine Intelligenz entwickelt sich frühzeitig
bis zn einem gewissen Zeitpunkte, dann aber tritt gewöhn-
lich eiu Stillstand ein. Die Geschichte hat jedoch unter
Prairie-Jndianer ist allerdings unrettbar dein Untergange
geweiht; in Central - und Südamerika dagegen haben diejenigen
Jndianervölker, welche schon vor Ankunft der Spanier Acker-
bau triebeu nud bodenständigeLeute waren, sich erhal-
ten, trotz aller Barbareien ihrer Unterjocher. Noch mehr; ihre
Zahl wächst überall an. Wir werden gelegentlich Erörterungen
über die Akklimatisiruug der verschiedenen Menschen-
gruppen in verschiedenen Regionen anstellen und dann auf diesen
Gegenstand zurückkommen, heute mag eine Stelle ans Bert-
hold Seemanns Reise um die Erde (deutsche Ausgabe, I,
S. 211) angeführt werden. „Die Indianer in Ecuador sind
kräftige, abgehärtete Menschen und sehr zahlreich iu Gegen-
den, wo sie die Verbindung mit Weißen und Negern
vermieden haben. Darin liegt, nach Allem zn schließen,
das große Geheimniß, sie vor Vernichtung zu be-
wahren ?c. Die weiße und gemischte Bevölkerung ist
im Abnehmen, seit die Einwanderung ins Stocken
gerieth."— Wenn Herr von Gagern annimmt, daß der große
Kindersegen, dessen die mexikanischen Indianer sich erfreuen,
darauf hindeute, daß die Rasse bald aussterben werde, so bedünkt
uns ein solcher Schluß doch zn kühn. Es mag sein, daß die
Sterblichkeit unter den Jndianerkindern größer ist, als unter
jenen der „aufsteigenden und culmiuirenden" Nassen, aber der
größte Theil der Indianer ist arm und gedrückt, und daß auch
bei uns in Europa die Sterblichkeit der Kinder in den armen
Klassen beträchtlicher erscheint als der den Wohlhabenden, ist
eine festgestellte Thatsache. Auch gesteht Herr von Gagern zu,
daß die Sterblichkeit unter den Jndianerkindern „ihre Ursache
wohl in allzu frühzeitigen Heiraten, in der ausschließlichen
Pflanzenkost und der geringen Sorgfalt der Aeltern" haben
könne. A.
Karl von Gagerns Charakte
den indianischen Mexicanern manche Männer aufzuweisen,
die auch in geistiger Beziehung bedeutend erscheinen. Man
kann seine Intelligenz durchaus nicht als eine niedrige
bezeichnen,aber sie hat ihren eigenthümlichenStrich.
Der Indianer beobachtet immer und dringt mit einer
gewissen Leichtigkeit in die Gedanken Anderer ein; er blickt
durch die gesenkten Augenlider, hört selbst im Schlafe, und
da er sich trefflich zu verstellen weiß, sehr schweigsam ist
und daneben auch äußerlich unempfindlich, so hat er offenbar
Anlage zu einem Musterdiplomaten. Dabei gefällt er sich
in seiner Versnnkenheit und mag von Verbesserungen,
welche die Weißen ihm bringen oder aufzwingen wollen,
gar nichts wissen, will ihnen auch nichts verdanken, sondern
das Recht behalten, sie zu verwünschen und zu verfluchen
für die unzählige und unaussprechliche Summe vou ab-
scheulicheu Niederträchtigkeiten, welche er bis auf dieseu
Tag vou ihnen hat erdulden müssen.
Die Christen haben ihn zur Annahme des Katholicis-
mus gezwungen, aber dieser ist nur ein Schleier, unter
welchem er seinen alten Heidenglauben verbirgt. Nicht die
unbegreifliche Dreieinigkeit, aber die zahlreichen Mütter
Gottes, welche allefammt Marien sind, und die vielen
männlichen und weiblichen Heiligen gemahnen ihn an se ine
alten Götter, die besiegt, aber nicht tobt sind.
Auch trifft es sich, daß iu der alten Aztekenreligion das
Sühnopfer durch Blut eine Hauptrolle spielt, und hier
ist auch eine Analogie. Statt der Menschenopfer auf deu
Altären hat der braune Mann nun einen ans Kreuz
geschlagenen Gott; Blut ist da für ihn auf deu Teo-
callis der alten Priester des Huitzilopochtli, wie anf der
Schädelstätte von Golgatha. Der Indianer will voll und
ganz Indianer bleiben und seinen ganzen Haß gegen die
Weißen nicht fahren lassen.
Wir halten diese Schilderung des Herrn v. Gagern für
ungemein zutreffend und gestehen gern, daß wir keine bessere
kennen. Sie hebt mit wenigen Strichen alle wichtigen
Kennzeichen hervor und gewährt einen tiefen Einblick in
den Charakter der Indianer. Dann folgen Einzelnheiten,
welche zur Erläuterung dienen, und durch welche Streif-
lichter aus die Zustände der Indianer fallen.
Vom Soldatendienste waren die Indianer auch iu
der republikanischen Zeit mehrfach ausgeschlossen. Man
verfuhr dabei nach der alten Colonialmarime, welche iu
ihnen minderjährige Menschen sah, deren Arme man ohne-
hin für den Feldbau nöthig hatte. Sie wurden als
Peones verwandt, als Dienstknechte, und hatten thatsäch-
lich etwa eine Stellung wie die russischen Leibeigenen;
rechtlich sollen sie freilich unabhängige, freie Bürger sein.
Aber diese Ausschließlichkeit ließ sich nicht durchführen;
die inneren Kriege forderten viele Menschenopfer, und man
wollte Ersatz haben. Santa Anna's Rekrutirnngsordre
verfügte aus dem Papiere, daß kein Indianer in der Armee
dienen solle; trotzdem beliebte der Diktator die Leva,
Aushebung, eine wahre Soldatenpresse. Man nahm junge
kräftige Leute, wo man sie eben fand, legte solchen „Frei-
willigen" Handschellen an, band sie mit Stricken zusammen
und führte sie als Patrioten zum Heer ab. Die liberale
Partei kam 1860 an die Spitze und milderte anfangs diese
Barbarei einigermaßen, aber nur eine Zeit lang; auch sie
hatte Soldaten nöthig und nahm sie sich, ganz in der Weise
Santa Anna's.
Solch ein indianisches Geschöps sühlt sich als Soldat
unbeschreiblich unglücklich, schon allein deshalb, weil man
es mit Menschen in Berührung bringt, gegen welche es eine
tiefe Abneigung empfindet. Der indianische Soldat kann
nicht mehr in seiner einsamen Hütte hausen, sondern muß
Globus IX. Nr. 3.
stik der Indianer in Mexico. 73
in einer Kaserne wohnen; er soll andere, obwohl nahrhaf-
tere Speisen, und noch dazu an jedem Tage dreimal,
genießen; statt seines Baumwollenkittels und weiter Bein-
kleider hat er nun eine knappe Uniform. Sodann muß er
sich regelmäßig waschen; er arbeitet nicht mehr vom Mor-
gen bis zum Abend, woran er doch gewöhnt war, sondern
muß nur 4 Stunden täglich exerciren. Er bekommt einen
leidlich hohen Sold (6 Silbergroschen allein für Neben-
ausgaben), darf auch seine Geliebte oder Frau bei sich
haben, kann in seinen Mußestunden für sich erwerben,
z. B. Strohhüte flechten, erhält auch manchmal Urlaub
unter der Bedingung, monatlich einmal beim Appell zu
erscheinen.
Aber das Alles erscheint ihm unerträglich, er reißt aus
sobald er irgend kann, und das Desertireu ist zu einer wahren
Epidemie geworden, weil der Indianer vor allen Dingen
die Einsamkeit und Abgeschiedenheit liebt, auch weuu er iu
seiner Hütte iu höchst armseligen Verhältnissen leben muß.
Deserteure, deren man wieder habhaft wurde, erhielten
Stockprügel; mau legte sie vor der Front mit dem platten
Bauch auf eine Binsenmatte, vier Soldaten hielten Arme
und Beine, und der Korporal theilte hundert oder mehr
Ruthenstreiche aus. Dabei schmetterten die Trompeten
und wirbelten die Trommeln. Es ist sehr oft vorgekommen,
daß die blutiggepeitschten Deserteure, trotz aller Schmerzen,
gleich in der nächsten Nacht wieder ausrissen. Juarez
schaffte diese Bastonnade (Palos) ab; sie wurde aber
trotzdem unter der Hand fortgesetzt. Es ist ferner vor-
gekommen, daß Ausreißer erschossen wurden und dennoch
an demselben Tage Soldaten fortliefen, die bei der Exe-
cuttern verwandt worden waren. Jeder Deserteur findet
an jedem Indianer einen Freund und Beschützer. Daß
übrigens der Indianer nicht etwa feig ist, dafür liefert er
in jedein Kasten- und Raffenkampfe vollgültige
Beweise.
Der Indianer war Werkzeng in den Händen der Spa-
nier und Creolen, eine Arbeitsmaschine, weiter nichts.
Oft sagte er selbst: „No somos gente de razon", wir sind
keine mit Vernunft begabten Leute. So erklärt sich auch,
daß in den Bürgerkriegen die Gefangenen der einen Partei
sofort in die Armee der anderen traten; sie trugen die
Waffen für die Liberalen oder für die Reactionäre mit
derselben Gleichgiltigkeit, ließen die Religion und die
Privilegien der Geistlichkeit hoch leben und schrieen gleich
nachher: „Es leben die Freiheit und die Reformgesetze!"
Als sie zum Empfang des Kaisers an die Landstraßen
geführt wurden, anf welchen der neue Monarch einHerzog,
bezeichneten sie ihn mit dem Namen eines ihrer alten
Götter, des Quetzalcoatl, den sie sich als weiß und
blond vorstellen, und welcher der Sage zufolge einst als
Messias aus Osten wiederkommen soll. „Aber das Alles",
meint Herr v. Gagern, „will nichts bedeuten. Weuu
Maximilian erst die Indianer besser kennt, wird er ein-
sehen, daß man einer im Laufe der Jahrhuuderte nieder-
gedrückten Rasse dadurch nicht aufhilft, wenn man einige
ihrer Angehörigen zur Tafel zieht, anderen die Hand drückt
und ihnen verspricht, einen aztekischen Sprachmeister anzu-
nehmen." Dadurch allerdings nicht; aber solche Beweise
von höflicher Freundlichkeit schließen ja gute Maßregeln
nicht aus.
Wir haben im Globus schon mehrfach gezeigt, wie ober-
flächlich das sogenannte Christenthum^ bei den In-
dianern ist. Auch Herr von Gagern verbreitet sich über
diesen Gegenstand: „Wenn das Aufschütten einiger Wasser-
tropfen für Bekehrung gelten kann; wenn es hinreicht, statt
Huitzilopochtli zu sagen Erzengel Michael; statt
10
74 Karl von Gagerns Charakt«
Tonatiuh oder Tetzcatlipoea zu sagen Christus;
statt Tlazoteotl Maria, und Noah statt Coxcor, —
dann sind die Indianer Christen. Sie sind es auch, wenn
dazu hinreicht, daß sie dem Priester die Hand küssen und
den Zehnten sammt anderen Abgaben zahlen. Aber
unter den äußeren Ceremonien der römisch-katho-
lisch-apostolischen Kirche lagert tief und breit der
alte aztekische Aberglaube; sobald man den katho-
lischen Firniß herunterkratzt, wird sosort das Heidenthnm
sichtbar."
Noch vor einigen Iahren feierten (und seiern wohl
heute noch) die Indianer bei Cadereyta unweit Qneretaro
in Berghöhlen heidnische Feste. Einer meiner Freunde
war 1857 beim Dorfe Tilotepee, 3 Meilen von Jalapa,
Zeuge bei einem heidnischen Gottesdienste. Drei weiß-
gekleidete Männer übten das Priesteramt aus und schlach-
teten auf dem Altar eine weiße Taube. Im Staat Oaxaea
glauben die Indianer an eine leibliche Wiederaufstehung,
die stattfinden wird, fobald die Weißen nicht mehr im Lande
seien; deßwegen vergräbt Jeder so viel Silber als irgend
möglich, damit er künftig dasselbe gleich zur Hand habe.
Auf solche Weise sollen allein in jenen Staaten seit Ende
des vorigen Jahrhunderts manche Millionen dem Umlauf
entzogen worden fein. Die Indianer verbergen Alles,
was sie für ihre Landeserzeugnisse, namentlich Indigo,
Cochenille und Vanille einnehmen.
Den Pomp des katholischen Gottesdienstes läßt der
Indianer sich gern gefallen, aber daneben behält er, wie
bemerkt, die Feierlichkeiten seines alten Kultus. Die
Kirchenfeste bieten ihm willkommene Gelegenheit, aus
sich herauszugehen. Dann ist er halbnackt, schmückt sich
mit Blumen, nimmt scheußliche Masken vors Gesicht,
trinkt mit vollen Zügen, regt sich aus und tanzt um die
Heiligenbilder. In den Kirchen gebärdet er sich wie ein
Besessener, brennt Schwärmer ab, läßt Raketen steigen und
schreiet mit heiserer Stimme. Und was dann zwischen
beiden Geschlechtern am Abend und während der Nacht
geschieht, darüber soll hier ein Schleier geworfen werden.
Es geht bei den Kirchenfesten genau so zu, wie bei den
Mi tot es der alten Azteken. Dieses Volk hat nichts ver-
gessen, weil man es nicht unterrichtet.
In manchen indianischen Dörfern war es schon wäh-
rend der spanischen Zeit üblich, unter den indianischen
Jünglingen die befähigtsten auszusuchen und in den Städten
ihnen eine höhere Ausbildung geben zu lassen. Gewöhn-
lich machen sie vortreffliche Fortschritte, erhalten selbst
gelehrte Grade, kehren aber am liebsten in ihr Dorf zurück
und leben dort wie ihre Landsleute. Ich war beim Dorfe
Amatlan unweit Cordova mit Feldmessen beschäftigt und
hatte einen Mann zum Halten der Kette nöthig. Unter
einem Baume lag ein Indianer, und diesen forderte ich auf,
mir behülflich zu seiu. Er gehorchte und sprach kein Wort.
Dann aber nahm er meinen Theodolit und bemerkte, daß
derselbe nicht in der Ordnung sei. Was konnte ein In-
stik der Indianer in Mexico.
dianer von einem so verwickelten Instrumente verstehen?
Nun, dieser junge Mann hatte umsasseude Kenntnisse, war
im Colleginm von San Gregorio zu Mexico gebildet wor-
deu und Doctor der Rechte. Aber er lebte in seinem Dorse
und unterschied sich äußerlich in Nichts von den übrigen
Indianern, hatte die Hülle der Civilisatiou abgestreift und
benutzte feine Rechtskenntnisse nur, um die Interessen seiner
Dorfgemeinde zu vertheidigen.
Während der Belagerung von Puebla hatte ich mit
einem indianischen Courier zu thuu; der Mann war
Advokat.
Der Indianer ist der Civilisation abgeneigt, weil sie
bisher für ihn gleichbedeutend mit Zwang und Druck war.
Ein Weißer, der zu ihm kommt, kann ein Feind sein; er
gibt ihm, wenn er irgend kann, weder Speise noch Trank.
Freundliches Zureden und Gesprächigkeit hält er für
Schwäche; mißtrauisch bleibt er immer und zäh hängt er
am Alten fest. Der Schnitt seiner Kleider ist noch wie in
Montezuma's Zeit, seine Nahrung gleichfalls, seine Hans-
geräthe sind höchst einfach. Im heißen Unterlande hat er
leichte, luftige Hütteu, im Oberland und auf der Hochebene
Häuser aus getrockneten Lehmsteinen; dort schläft er in einer
Hangmatte, hier auf dem platten Boden und hüllt sich in
seinen Mantel. Den Acker bestellt er in altnrthümlicher
Weise, und selten säet er mehr Frucht aus, als er auf ein
Jahr für feinen Hausbedarf nöthig hat. Der Mais trägt
in guten Iahren 309- bis 7O0fältig, in schlechten Jahren
60fältig. Viele Indianer glauben, daß sie in den Himmel
kommen, wenn sie Blatternarben haben; dann lasse Maria
sie ein. Deshalb haben viele den geimpften Kindern die
Pockenstellen wieder ausgeschnitten.
Der Neger gehorcht ungern einem Mulatten, der In-
dianer ungern einem Mestizen; er zieht den Guero, d. h.
deu Mann mit rothen Wangen und blondem Haar ent-
schieden vor.
„Man muß diese fünf Achtel des Volks wohl in Er-
wägung ziehen. Es handelt sich darum, die uegativen
Eigenschaften der Indianer in gesellschaftliche Tugenden
umzuwandeln und brauchbar zu machen. Man muß ihre
Apathie und den Hang zur Vereinsamung besiegen. Es
handelt sich auch darum, Hebel zu fiuden, wodurch diese
träge Masse in Bewegung gebracht wird. Der Indianer dars
nicht ewig mit gekreuzten Armen am Ufer der Civilifations-
strömnng dastehen, sondern muß in den Strom hinein, und
dieser ihn zur Verbesserung hintreiben. Diese Nullen
müssen in nützliche Werthe umgeschaffen werden; es handelt
sich darum, den Indianer zu regeneriren. Darin liegt
der Schwerpunkt für die Zukunft Mexieo's.
Die Frage selber ist inhaltschwer und vielleicht mit einem
Rassenkriege schwanger. Sie erhebt sich vor uns wie eine
räthselhaste Sphinx, aber sie steht im Vordergrund und
muß beantwortet werden. Bis jetzt hat Niemand das
Räthsel gelöst. Wer wird der Oedipns sein?"
A. Boltz: Abstammung und Sprache der Zigeuner.
75
Leben und Treiben der Zigeuner.
Abstammung und Sprache der Zigeuner. Von Professor A. Boltz.
Der gelehrte Prof. Pott in Halle, der eine ver-
gleichende Grammatik und eiu vergleichendes Wörterbuch
der Zigeunersprache in zwei ansehnlichen Bänden geschrieben
hat uud in dieser Beziehung, so wie in manchen daraus
abzuleitenden, als die Hauptquelle anzusehen sein dürfte,
gibt in der Einleitung nicht weniger denn 50 Quellenwerke
über die Zigeuner an, darunter, neben mancher Spreu,
auch sehr bedeutende, wie die von dem berühmten frank-
furter Glottiker, Lorenz Dieffenbach, gesammelten und
ihm zur Verfügung gestellten sprachlichen Arbeiten.
Die Arbeit des Herrn Pott darf — da er die ver-
fchiedenen Zigeuner-Idiome oder vereinzelte Ausdrücke
vom höchsten Standpunkte der Wissenschaft aus der strengen
Analyse unterwarf — für abgeschlossen, seine daraus
gewouneuen Resultate dürfen für maßgebend angesehen
werden. Diese Arbeit, d. i. die theoretische Bewältigung
der mannichfachen Zigeunerdialekte darf ohne Frage zu den
schwersten linguistischen Problemen gerechnet werden, theils
weil zur Vergleichung wenigstens eben so viele Sprachen
herangezogen werden mußten, als Dialekte vorhanden sind,
und andererseits, weil die Untersuchung nicht umhin konnte,
eine pathologische zu werdeu, insofern die romsche Sprache,
selbst da, wo sie am reinsten blieb, sich gleichwohl in einem
hohen Grade desorganisirt und verwildert zeigt. Hierzu
kommen noch die fast noch größeren subjektiven Schwierig-
keiten, nämlich die Ueberwältignng der zahllosen Jrrthümer,
Ungenanigkeiten und Mißverständnisse seitens der Samm-
ler, denen es nicht selten an ausreichender Sprachkeuntniß
fehlte. *)
Nachdem wir so der Riesenarbeit des Herrn Pott die
gebührende Anerkennung gezollt haben, werden wir uns
im Nachfolgeudeu in Betreff der auf die Sprache bezüglichen
Data im Wesentlichen an ihn anlehnen.
Namen der Zigeuuer.
Wegen der großen Zerstreutheit dieses Volkes über die
Erde hat wohl kein anderes so viele Namen wie die
Zigeuner. Pott theilt sie — nach Abstreifung aller solcher,
die nur der phantastischen Spekulation gelehrter Etymo-
logen ihr Dasein verdanken, in zwei Kategorien:^)
1) solche, welche bei ihnen selbst üblich sind,
2) solche, welche ihnen von anderen Völkern gegeben
werden.
Die ersteren dürften am geeignetsten sein, auf ihren
*) So schreibt der Eine — um nur ein Beispiel anzuführen
— brishendo, erregen statt des abgefragten der Regen; —
o parno, das Weiße st. der Weizen; — beschetuno ma-
nu sch, ein Mensch, der Sitzefleisch hat st. sittsamer Mensch;
— banduk, Flinte st. Büchse; — doite, Büchse st. Bürste;
— sennelöwisa, Rasen, tegaron st. rasen, und unzählige
mehr, gemacht von Lenten, die beim gelegentlichen Zusammen-
treffen mit ein paar Zigeunern geschwind ein Bischen Wissen-
schast treiben wollten.
**) Wie weit man in solchen gelehrten Spielereien ging,
vewei.ft der Umstand, daß es ein Graf Wacker bar t doch wirk-
ch 1° weit brachte, aus Nebukadnezar allen Ernstes Jakob
zu machen, nämlich so: 2 X ne — ja! zar am Ende bleibt
ta§ ^stirende bukad wird durch Versetzung kabud — kaput
topf kopp — fyh . _|_ xyh — Jakob!
II.
Ursprung Licht zu werfen, da sie von Benennungen nach
Farbe, Geschäft nub wirklicher oder vermeintlicher Abkuuft
herrühren.
Sie selber nennen sich nun: Romano, Chai, Mä-
nuscli, Cal6, fem. calli, Zinc a 1 o ltnd Sinte. Und
genannt werden sie unter den mannichfachsten Namen, die
wir anführen wollen , nachdem wir diese beleuchtet haben
werden.
Manu sch, manisch ist indisch manuscha, der
Mensch; sie bezeichnen sich also selber als Menschen par
excellence.
Chai (bucharisch djaii) heißt eingeborne Kinder, demin.
dschehi, etwa: Menschenkinder, Kinder des Stammes.
Romano, oder schlechtweg rom, oder in Zusammen-
setzungen romnimanuscli, romnimanisch, rom-
nitschehl Heißt wiederum nichts Anderes als Mensch,
oder Mensch - Mensch. Han dume romnitschehl ? Bist
Du einer von uns? ist die über die gauze Erde verstandene
Stanimsrage, auf deren Bejahung Zeche uud Tauz beginnt.
Bei den Mahratten heißt romnichal ein herumziehendes
Volk. Rom, par excellence, ist ein Zigeunermann, der Z.,
romni die Zigeunerin; der Plural roma aber heißt Män-
ner, Menschen. Die Ableitung rommany heißt die Gatten,
und dies Wort wird wieder als Stammwort für den fehlen-
den Plural zu Rom, Zigeuner, gebraucht. Hierzu stimmt
formell fskr. räma, Gatte, Liebeuder, f. rämä, fowie beuga-
lisch ramana, ramani. Dein Inhalt nach würden sich die
Zigeuner durch roma als das Menschenvolk, im Gegensatz
zu den sich idolisirenden, bevorzugten Kasten bezeichnen,
ober auch in stolzer Voranstellung ihres Stammes; Aehn-
liches finden wir ja anch bei den Deutschen, da tliiud, das
Stammwort, ja eben nichts als Volk, thiudisk, popularis,
gyviKo,- heißt. Auch Slawe, wie ich dies gelegentlich an
anderer Stelle auszuführen gedenke,. kommt weder von
sJowo Wort, noch gär von sknva Ruhm, wie die slawischen
Wortdeuter behaupten, sondern einfach von siowek
siowak, der (slawische) Mensch. Eine solche An-
schauung liegt einer Ursprache gar nicht fern und entbehrt
nicht einer gewissen Schönheit. Dein gegenüber liegt nun
noch eine Ansicht des Professor Brockhaus, wouach rom,
rolvni, aus dein Hindi d'oma, d'ömni käme, welches
einen Menschen der niedrigsten Kaste, einen im
nordöstlichen Indien lebenden, unterjochten, zu Parias
entwürdigten Volksstamm bezeichnet. Adams Hindi-
Wörterbuch bestätigt diese Ansicht, wir finden für diese
Wörter: 1) a Hindoo, 2) a Yavana-tribe. — Diese An-
sicht ändert jedoch nicht viel an der Sache, sie modisieirt
nur. Nach dem Hindlverb ram'nä, wandern, würden
sie sich die Wanderer nennen, und dies würde das engl.
Wort to roam, sowie das ital. romeo, der Pilger, — die
man bisher von der Stadt Rom abgeleitet, um so mehr
erklären, als Pilger wirklich rumijele heißt. Es sind ja
eine Meitge Zigeunerwörter ins Englische übergegangen,
wie hoax eins hocus, monger, der Krämer, chap, ein
kecker Bursch u. a.
Calo, Schwarze, nennen sie sich indisch selber, im
Gegensatze zu alle» Nichtzigeunern, die pani heißen, d. i.
76 A. Boltz: Abstammung
Blanke; für letztere haben sie außerdem noch die Benen-
nungen gacho und busn£, nach Borrow sehr starke
Ausdrücke, so viel wie Wilder, Heide, d. ist Nichtzigeuuer.
Sinte im Plural ist so viel wie Bewohner des Sindl),
Indus, und entspricht dem Hindi- und sanskritischen
Säindh-ava, aus der Gegeud des Siudh.
Der vou ihnen ausgegangene, ani weitesten verbreitete,
oder, wie Pott sagt, am meisten beqnacksalberte Name aber
ist Zigeuner mit seinen vielen Variationen: lat. Cygani,
Cingari (Aegyptiaci), Port, cyganos, ttCll. zlngari,
ungr. c y g ani, russ. zigany, türk. syrisch chingana
(das unser berühmter Etymolog von vorhin einfach aus
Zieh: Gauner! ableitet), offenbar ihr eigenes zincalö,
Schwarze, dem das persische zengiän, arabisch zendsch,
Aethioper, wohl ihrer Farbe wegen entspricht, denn diese
Völker nahmen an, daß sie etwa aus Zangebar, dem Lande
der Schwarzen, kamen. Das persische Tsengaris oder
Tsingaris bezeichnet außerdem noch heute einen Volksstamm
in Vorderindien, der, wenig höher stehend als die Parias,
religions- und gesetzlos, tanzend und mnsicirend, stehlend
und betrügend das Land durchstreift; also schon in ihrem
Lande waren sie die schwarzen Gaukler, die Zinganen,
Singanen, Sanganen, die in Guzerat und am Ausfluß
des Indus noch heut übelberüchtigt sind.
Von den ihnen gegebenen Namen sind die hervor-
ragendsten
1) nach ihrer vermeintlichen Heimat, in
Deutschland, beim gemeinen Mann: Tatern für
Tataren, auch Saraceuen und ferner Aegypter (in
allen Verstümmelungen, — engl, gy.psies; spart, gita-
nos neben germanes, flemingos (den Spaniern
schienen alle Fremden aus Deutschland zu kommen); neugr.
Tvcpros auch Aiyunrog neben T&yccvo;-, ungr. pharao
nepek, Volk der Pharao.
Den Franzosen erschienen sie als les BOberniens,
entweder weil die nach Frankreich kommenden wirklich ans
Böhmen kamen, oder für die damals aufgetretenen böh-
mischen Brüder augeseheu wurden; den Persern als K au l i,
Kouli, d. i. Kabnli, aus Cabul stammenden Inder,
womit sie wieder das Richtige am nächsten trafen.
2) Nach ihrem Geschäfte: in Schweden: spa-
käring, Wahrsager; in Schottland: tinkler, in den
Hochlanden caird, beides Kesselflicker; in Dänemark:
kjeldring, Lumpenkerle, Lumpengesindel, etwa = ft'-
coqnin, faquin, maroufle, bdlitze, ferner: natmändsfolk,
Nachtleute, d. i. Abdecker; in Persien: Dnri, luli, Hindi
löhari, Schmiede; in Arabien: Charami, Räuber.
In Indien selber heißen sie noch heute:
1) Diesseits des Indus: Nury, Plural nauwära
— Luri, luli, Schmiede und karaclii, Schwarze.
2) Jenseits des Indus, wo Veranlassung der
Wanderung und Stamm der Zigeuner völlig unbekannt
sind, so wenig Notiz hat man von ihnen genommen: nat,
Spitzbuben, beria, Tänzer, Gaukler, im reinen Hindi,
und b azi-gar, Spieler, Gaukler, bei deu Mohammeda-
nern. Ihr Stammbaum ist also gerade nicht geeignet, sie
uns verehrungswürdiger zu machen.
Was nun die Zigeunersprache anbetrifft, so hat sich
ergeben, daß sie kein Rothwälsch, keine bloße Gauner-
spräche, sondern ganz unzweifelhaft eine unter der großen
Menge jüngerer indischer Volksmundarten ist; eben so un-
zweifelhaft ist sie eine ächte Sanskritidin, das beweisen
Grammatik wie Lericon, überhaupt ihr Gesammtgepräge,
trotz der dichten Verhüllung fremder Znthaten, aus welcher
dies hervorgesucht werdeu muß. Es ist daher geeigneter
mit Hindnstani oder Urdu zu vergleichen, als mit dem
ad Sprache der Zigeuner.
schon um mehre Grade höher stehenden Sanskrit oder
dessen nächsten Desceudeuteu Prakrit und Pali.
Sie hat um so größere und schnellere Verluste erlitten,
als sie keine Schriftsprache ist — es existirt wenig
mehr Literatur in ihr, als die von Borrow und anderen
Missionären gemachten Uebersetznngen des Neuen Testa-
mentes, sowie eiuige ihnen abgefragte Sprichwörterund
Redensarten und wenige fehr spät entstandene Lieder.
Sie ist in Folge der großen Verbreitung der Zigeuner
schnell in viele ganz verschiedene Dialekte zerfallen, die, je
nach den Ländern, welche dies Volk bewohnte, mit so viel
erborgtem Flitterstaat behangen sind, daß Zigeuner aus
verschiedenen, entlegneren Gegenden Mühe haben, sich
miteinander zu verständigen. Ein Wort hat sich, nach
Borrow, bis jetzt in allen, noch so weit auseinander star-
renden Dialekten erhalten, der Name für Wasser, pani,
das bis ins Hindust, pani, sskr. päniya, zurückgeht. Daß
diese Sprache aber in Folge dieser landschaftlichen Färbung
überall für eine Gerigonza, Gerga, Jargon, Argot gehalten
wurde, ist nicht auffällig; und es überrascht uns nicht,
wenn Dr. Hoppe in Berlin unlängst nachgewiesen hat,
daß das in England immer üppiger wuchernde Slaug —
es ist bereits bis auf etwa 10,000 Wörter augewachseu,
hat also, fügen wir hinzu, bereits 2000 Wörter mehr, als
der große Milton in seinen gesammten Werken verwendet
hat, und fast das Doppelte aller im Alten Testamente vor-
kommenden Wörter (die Zahl derselben ist nach M. Müller
genau 5642) —■ urfprüuglich von den Zigeunern herrührt;
habeu doch Pferdeliebhaber, Jäger, Seeleute, Bergleute,
Juristen und felbst die Kaufleute sich allmälig überall an
eine Art Slaug-Sprache gewöhnt, die dem außerhalb dieser
Kreise Stehenden fast unverständlich, jedenfalls höchst
wunderlich vorkommt. Was heißt es z. B., wenn es in
einem Marktberichte heißt: Kaffee war lebhaft, Zucker blieb
flau, Korinthen waren matt, Roheisen blieb kontant, Leinöl
und Talg waren fest ?c., oder, wenn man brieflich meldet:
Ihr Werthes habe erhalten und demzufolge für deu Betrag
meines Guthabens mich auf Sie per deu und den erholt;
oder: ich erlaubte mir auf Sie abzugeben.
Wir siud in solchen Redensarten gelind ausgedrückt
bereits an den Grenzen des Möglichen angekommen.
Die Sprache der Zigeuner ist sehr wohlklingend, hat
eine reiche Dekliuatiou — für unbelebte Dinge 6 Casus,
für belebte Wesen 7 auch 8, wobei es interessant ist zu
beobachten, daß die Wörter Herz, Leib, Mund und
Zuuge, aber daneben auch Fluch als belebte Wesen
repräsentirend behandelt werden. Sie hat reich ansge-
stattete, perfekte Formen und einen Conjnnktiv. Für alles
Uebrige nmß ich auf Pott und Borrow verweisen.*)
*) Wir haben schon auf das Werk hingewiesen, welches
Ascoli in Mailand unter dem Titel „Zigeunerisches" in
deutscher Sprache geschrieben hat. Dasselbe enthält grundgelehrte
linguistische Untersuchungen und ist ein erfreuliches Zeichen, daß
die' deutsche Art der Forschung in der Sprachwissenschaft auch
bei den Italienern sich einbürgert.
Ascoli weist insbesondere auf dasSiudhi und das Afgha-
Nische hin und fragt: „Wird die bestimmtere Definition der
Zigenner etwa lauten müssen: Sindhier, die sich lange
unter den Afghanen ausgehalten haben?"^ Er fügt
hinzu, daß er bis auf Weiteres diese Frage nur schüchtern auf-
werfen wolle. —
In einer Sitzung der Philologenversammlung zu Meißen
am 30. September 1863 hörten wir einen äußerst wunderlichen
Vortrag über die Zigeuner-im Orrent, welchen vr. M ordt-
mann aus Konstantinopel hielt. Er sackte unter Anderm, nach
den vor uns liegenden schriftlichen Auszeichnungen, welche wir
der Güte des Hrn. Dr. Häntzsche m Dresden verdanken: „Die
Zigeuner haben vor den Sansknt redenden Ariern in Indien
gewohnt. Einen Theil ihrer Kultur entnehmen wir schon aus
A. Boltz: Abstammung und Sprache der Zigeuner.
77
Was die räumliche Verbreitung der Zigeuner
betrifft, so gibt Rienzi in seinem Werke über die Zigeuner
den Bezeichnungen der Kulturpflanzen und Hausthiere, die sie
schon vor den Ariern kannten. Dazu gehören noch die Aus-
drücke für Blasebalg, Feile, Hütte, Wäsche, Leinenzeug , Geld,
Backofen, Scheere, Beinkleider, Schuhe, Sattel, Teller, Löffel,
Feuerstahl (II), Schwert, Zelt, Zwirn, Rad, Urne. Alle diese
Ausdrücke setzen schon eine gewisse Kulturstufe voraus, noch mehr
Kirche, Kreuz, Ercommunieation, Ostern, Priester, Taufpate,
Teufel. Diese Worte bezeichueu zunächst, daß die Zigeuner in
eiuer Epoche ihres Wanderlebens das Christenthum angenommen
haben, und daraus, daß die Ausdrücke während der griechischen,
arabischen und persischen Sklaverei angenommen wurden, kann
man schließen, daß sie (sie!) schon in Indien eineReli-
gion hatten, welcher sie beimUebertritte diese Ausdrücke ent-
lehnten. Welcher Art diese Religion war, möchte schwer zu
ermitteln sein."
Diese haarsträubenden Deductionen erregten in der gelehrten
Versammlung ein bedenkliches Kopfschütteln und allgemeines
Befremden, das immer mehr wuchs, als vr. Mordtmann sagte:
„Ob die Zigeuner ohne alle Religion seien, läßt sich
schwer beweisen, vielmehr, daß sie eine Art Magier sind,
welchen Kultus sie, unter dieser Voraussetzung (daß sie nämlich
sich „zu der Religiou bekennen, welcher ihre Nachbarn ange-
hören") während ihres Aufenthalts in Persien angenommen
haben müssen. Die Beweise sind nur schwache. Es ist That-
fache (?!!), daß sie beim Morgensonnenaufgaug (sie!) ihr Gebet
nach der Sonne zu weuden, ferner, daß sie ihre tobten (sie!)
Leichname auf eine bisher uoch nicht ermittelte Weise beseitigen.
Bis jetzt hat sich noch Niemand gefunden, der bei dem Leichen-
begängnifse eines Zigeuners zugegen gewesen wäre. — Es ist
auffallend, daß das Zigeunerwort für Feuer, tscha, von einem
Sauskritworte herkommt, welches Feuer bedeutet. Die Arier
habeu großeu Eiufluß auf die Zigeuner gehabt, deren Worte
(sie!) meist aus dem Sanskrit stammen."
Herr Mordtmanu nannte dann etwa ein Dutzeud Wörter
und fuhr, buchstäblich, fort: „Die genüge Anzahl von Aus-
drücken für Kulturpflanzen und Hausthiere aus dem Sanskrit,
verglichen mit der Anzahl der übrigen Wörter, deutet an, daß
sie in Indien vorzüglich mit stadtischen Gewerben sich
beschäftigten. Eines der auffallendsten Wörter ist rat, Edel-
mann, dem indischen Radscha entnommen. Auch einige religiöse
Bezeichnungen deuteu auf ihre Berührung mit den arischen In-
dient. Gott, Debal aus dem Sanskrit Diwas. Die Gottesidee
haben sie also aus Indien mitgebracht. Eben so zeigen die
Wörter für Heirat, Monat, Jahr 2c., daß die religiösen Vor-
stellungen auch auf die Zigeuner einen verhältnismäßigen Ein-
slnß hatten. Die Ausdrücke der (Zivilisation: _ Lüge, Stehlen,
Dieb, sind ebenfalls aus den: Sanskrit abgeleitet."
Das Erstaunen in der Versammlung hatte schon einen
hohen Grad erreicht, und das Kopfschütteln war nun mit einem
Lächeln verbunden. Herr Mordtmann aber fuhr fort und führte
dieZigeuuer nach Afghanistan. „Wann sie dort ankamen, was
sie dort machten, möchte schwer zu ermittelu sein." Die
Zigeuner, sagte Hr. M., hätten dort den Gußstahl kennen
gelernt und '„das Messer auf eine verbesserte Weise", sodann
die Milch (schud von sud) und auch die Zahl 100! „Ihre
Hauptbeschäftigung in den Städten Persiens war Mnsik, und sie
wurden daher dort Luti genannt; auf dem Laude waren ihre
Hauptbeschäftigungen Viehzucht nnd Ackerbau; auch das Meer
scheinen sie in Persien kennen gelernt zu habeu. Auffalleud ist
das Wort für Pflug. Von Persieu zogeu die Zigeuuer nach
Chusistau, ohne langen Aufenthalt dort. Einige Wörter sind
nach den Keilinschrifteu zweiter Gattung zu erklären, nämlich
Schraube und Kreuz, ruschusa. In dem heutigen Kur-
distau haben sie sich vermuthlich etwas länger aufgehalten, d eun
— aus dem Kurdischeu nahmen sie einige Ausdrücke an, z. B.
Brunnen, Maus, Bär; noch mehr in Armenien: Geist,
bowi armenisch, zigeuuerisch bohewi, Wind, König, Kürbis,
Pferd, Füllen haben sie nach dem Altarincnischen, dauu Leder,
Hammer zum Schmieden. Die ans Medien, Susiana und
Armenien stammenden Ausdrücke sind wenig prägnant. Die
Zigeuner sangen an, sich ihren heutigen Beschäftigungen zu-
z.nueigen. JuPhrygien tauchten die Atinganen dann auf,
ein Stamm, der hauptsächlich Wahrsagerei trieb. Sie waren
beschnitten, wahrsagten aus Händen, waren Bauchredner u. s. w.
Man will jedoch nicht überall zugeben, daß diese Stämme
Ä^^rmer waren, man war der Ansicht, daß sie Römer seien
r Die Atinganen, hieß es auch, wären vermuthlich
dKjelve Sekte, welche jetzt Böhmische Brüder heißen, weil
Boh<5miens NN Französischen."
dieselbe so an. Man findet Zigeuner in Asien, von
Tobolsk und den orenburgischeu Kirgisensteppen au, durch
Indien, Persien, die Türkei, Anuam, Siam, China, Japan;
Europa, in fast allen Ländern; Afrika, in Aegypten,
Nubien, Abyssinien, Sudan und der Berberei.
Ihre Kopfzahl ist wohl auf zusammen 5 Millionen
Köpfe zu veranschlagen. Diese Zahl scheint sehr hoch-
gegriffen; wenigstens ist jene der in Afrika wohnenden
Zigeuner — wenn überhaupt dort welche hausen —, was
Borrow, der sich ihrethalben längere Zeit in Aegypten ans-
gehalten, sehr in Frage stellt — nur eiue sehr uubedeuteude,
und für Europa siude ich in den neuesten mir zugänglichen
Quellen folgeude Angaben: Oesterreich 83,779, in Ungarn,
Wojwodfchaft, Siebenbürgen und int Heer 800; Türkei
80,000, Rußlaud 48,247, Poleu 162, Spauien 45,000,
England 1836 noch 18,000, jetzt 10,000. Frankreich,
Italien und Preußen, Holland, Skandinavien verschwin-
dend Wenig, zusammen etwa 2000, so daß wir auf die
Gesammtzahl von rund 271,000 für Europa kommen.
Sollten die übrigen Millionen wirklich vorhanden sein, so
möge uns der Himmel vor ihrem künftigen uuerbeteueu
Besuche in Guadeu bewahren.
Um nun auf ihren Charakter, ihre Sitten uud
Gebräuche, ihre Anlagen nnd Beschäftigungen zu kom-
men, so hat jeue in: Eingang gegebene Schilderung das
Wesen der Zigeuner fast erschöpft, und ich kann mich hier
um so kürzer fassen, je mehr mir darum zu thuu ist, noch
Raum für eiuige Einzelschilderungen zu gewinnen.
Der Zigeuner liebt nur einen Menschenschlag — seines
Gleichen. Der unversöhnliche, thierische Haß gegen jeden
Nichtzigeuner ist unausrottbar in seine Seele gepflanzt.
Eine Ehe mit einem busnd, aus Liebe, ist daher vollkom-
men unmöglich. Doch sollen in Rußland wohl aus anderen
Gründen gemischte Ehen eingegangen worden sein. Eben
so wird von vereinzelten Fällen der Adoption eines Nicht-
zigenners berichtel. Eine Religion hat er uicht, wiewohl
er, des Vortheils halber, jede Landesreligion zu bekeuueu
heuchelt. Von irgend welcher Moral ist keine Rede. Nichts
Bestimmtes thnn, an keinen festen Ort, an keine Zeit, an
kein Gewerbe gebunden sein, ist ihm erste Lebensbedingung.
Somit bleibt musicireu, Bären führen, etwas Schmiede-
Handwerk, Pserde beschlagen, -scheeren und -knriren das
Lieblingsgeschäft der Männer, wahrsagen, den bösen Blick
vertreiben, Blut besprechet uud nach Borrow jegliche
Teufelei, das der Weiber; betteln uud stehlen das Aller,
ohne Ausnahme.
In einzelnen Ländern, wo man etwas ans ihnen
machen wollte — wie z. B. in Ungarn unter Maria Theresia
— wurden sie auch Gastwirthe und Goldwäscher; vor
Es war geradezu peinlich, so äußerst erude Diuge anzuhören,
und in solcher Weise ging es fort bis ans Ende des Vortrages.
„Vox faueibus haeret", sagte mein Nachbar, ein berühmterLinguist,
„der Herr Redner hat ja nicht einmal eine Ahnung von der
neuern Literatur über die Zigeuner und deren Sprache." Wir
haben das Obige als einen' Beweis für die Dreistigkeit mit-
getheilt, welche der Dilettantismus sich erlauben zu können
glaubt. Ueber die Zigeuner im Orient hat Paspati geschrieben:
,,a memoir 0n the language of the Gypsies, as now used in the
Turkish empire" (Journ. americ. Orient. Society, Bd. VII.
Neuhaven 1862); Herr Mordtmann sprach über die Zigeu-
ner im Orient; wie —, das sahen wir eben. Der gelehrte,
gründliche und besonnene As co li knüpft nun seine linguistischen
Untersuchungen zunächst an jene Abhandlung. Wir können
darauf nicht näher eingehen, wollen aber hervorheben, daß
Ascoli in einem besondern Abschnitte „Zigeunerliches aus
Süditalien" behandelt und „wirkliche Sprachproben" gibt.
Er verkehrte im Oktober 1864 mit mehr als 40 „Neu - Indern";
nach Aussage derselben sollen viele Zigeuner auch in Calabrien
wohnen. A.
78 A. Boltz: Abstammung
Allem aber gern Henker und Scharfrichter, und die Chro-
niken sind voll von schaudererregenden Berichten, mit welcher
teuflischen Freude sie in Spanien die Opfer der Inquisition
foltern und quälen halfen.
Hier wirft man vielleicht die Seitenfrage auf, warum
sie, die völlig Gottlosen, nicht selber eine Beute dieses
Tribunales der Gewissen wurden? Borrow, der englische
Zigeunermissionär, der (wie die Leser des Globus von
früher her wissen) sie kannte, wie kein Anderer, und den sie
selbst stets für einen Zigeunerkönig, Krallis, ansahen, gibt
hierauf zur Antwort: „Es war nichts von ihnen zu holen,
folglich ließ man sie laufen, bis sie etwa der weltlichen
Macht in die Hände sielen."
Ist der Zigeuner grausam, so ist er auch feig, und daß
er dies ist, sehen wir n. a. an seiner geringen Tauglichkeit
zum Soldaten und zu jedem bürgerlichen Berufe, zu dem
Wahrlich mehr Muth gehört als zum Vagabundiren.
Unter solchen Umständen leben sie schlecht, im Zelt, in
Gruben und Höhlen, unter der Weide am Bach, auf der
Haide, im Walde, wo es eben geht. Ihre Nahrung ist,
was sie eben auftreiben können: Wild, wenn es zu haben
ist, Kaninchen, Katzeu, Hunde, Ratten, Mäuse, und was
die Bauernhöfe etwa liefern; selbst von Gott geschlachtetes
Gethier, wie sie es nennen, wird nicht immer verschmäht.
Vor Allem aber brauchen sie Tabak uud Branntwein.
Unter sich gehorchen sie einem Krallis, Oberzigeuner
oder Zigeunerkönig, der aber abgesetzt wird , wenn seine
Unternehmungen sich nicht bewähren. Ihre Ehen schließen
sie sehr früh, — 1^ jährige Mädchen sind meist schvn
Bräute, d. i. heiratsfähig; die Einwilligung der Aeltern
und der Kinder ist der ganze dabei zu beobachtende Apparat,
eine Schwelgerei die Feier und die einzige Gelegenheit, wo
sie busn^s in ihre Zelte lassen. Das Topfwerfen
(Polterabend) ist ein ihnen entlehnter Gebrauch.
Die Eheu werden aber unverbrüchlich heilig gehalten, wenig-
stens von Seite der Frauen.
Ein Busus ist noch nie von einem Zigeunermädchen
geliebt worden, *) obwohl sie ihn — und sie sind mitunter
von gewaltiger, unheimlich anziehender, hinreißender
Schönheit — in ihren Netzen umstrickt hält, bis er nichts
mehr zu opfern hat. Sie verblühen aber eben so schnell
und zeichnen sich später durch hexenhafte Häßlichkeit ans.
Ihre Ehen sind sehr kinderreich, und schon deshalb dürften
die noch anderweitig nicht begründeten Anschuldigungen
des Kinderraubes im Ganzen grundlos sein. Als völlig
unwahr haben sich die vereinzelt gegen sie erhobenen An-
klagen des Kannibalismus herausgestellt.
In zwei Ländern haben sie sich vorzugsweise zu halten
uud zum Theil günstiger zu stellen gewußt, als im übrigen
Europa; es sind dies solche, in welchen die allgemeine
Bildung, im Einzelnen und Ganzen, sich nicht zu solcher
Höhe entwickelt hat, daß die Zigeuner mit ihrem wüsten
Treiben in gar zu schroffem Widerspruche dazu gestanden
hätten. Sie konnten sich daselbst aecomodiren, ohne gerade
nach jeder Seite hin die subtilen Gesetze der Eivilisation
zu verletzen; anch wurde ihnen dort nicht überall jedes
Büschel Haidegras mißgönnt, das ihre hungrigen Pferde
abweideten, ich meine Spanien, das in feinen Sierras
ihnen ungezählte Zufluchtsstätten bot, und Rußland.
Hier hat sich der Zigeuner mehrfach bis zu einer gewissen
Höhe entwickelt und selbst zu verschiedenen Malen küust-
lerische Anläufe (aber auch nur solche) genommen, nament-
lich in Musik und Tanz.
*) Diese Behauptung ist, so allgemein hingestellt, schwerlich
zu beweisen; ich selbst kenne sehr bestimmt wenigstens einen
Fall, auf welchen sie nicht paßt. A.
ud Sprache der Zigeuner.
Wer sie gehört hat, die seltsamen Sänger, in Moskau,
wo sie ihre so beliebten Vocal-Eoncerte geben, die Einen
wie mit magischer Gewalt fesseln an diese wunderbaren
Laute, welche bald in leisestem Tremnlo zarte, unver-
standene Klagen auszuhauchen scheinen, getragen von den
halbmurmelnden, bewegten Stimmen der Männer, bis
sie in steigendem Pathos sich wirbelnd schwingen und
plötzlich culminiren in einem wild ausbrechenden, gellen
und doch harmonischen Schrei, der Einen: durch Mark und
Bein geht, um sich dann wieder zu brechen, wie eine Feuer-
Werksgarbe, in viele leuchtende Einzelklagen, die jede für
sich und doch alle zusammen weben und schweben, um
wiederum aufzusteigen zu einer gewaltig wirkenden Lautsäule,
der wird es begreiflich finden, daß ein Franz Liszt es der
Mühe Werth erachtete, ihre Musik näher zu beleuchten und
in seinem eigenen wunderbaren Style ein ganzes Buch
darüber zu schreiben: Les Bohemiens et de leur musique,
Paris 1859, das der höchsten Beachtung Werth ist.
Im Tanze haben sie von jeher geleistet und leisten sie
in Andalusien noch immer, was einst die Tochter der
Herodias vor Herodes that, sie verdrehen den ernsten
Spaniern geradezu die Köpse. So wie das magnetische
Klikklak ihrer Eastagnetten ertönt, durchströmt es jeden
Zuschauer siedend heiß. Bis zu welcher Extase sie auch den
kältesten Betrachter hinzureißen vermögen, ist in des geist-
reichen Richard Fords Handbook of Spain, S. 188 nach-
zulesen, der selbst nach einem 22jährigen Aufenthalte in
Spanien die einzigen zwei Zigeuuertäuze Zarabauda und
Romalis (letztere unter dem Namen Ole auch von den
Spaniern blaß nachgeahmt) „matchlesS, unequalled, inimi-
table" nennt, gerade fo wie feine Beschreibung dieser Tänze
ist. Das Erbtheil der Bayaderen und der Dewedaschis
ist ihnen also bis jetzt nicht verloren gegangen.
Sie sind grenzenlos unwissend und wissen über sich
selbst nichts mehr zu sagen, als daß sie, nachdem sie es so
oft von Anderen gehört, allen Ernstes aus Aegypten zu
stammen vermeinen, von welchem Lande sie aber wiederum
nichts wissen, als daß ein mächtiger Pharao daselbst
geherrscht habe, nach dessen Falle sie über die Erde zerstreut
wurden. Und so bauteu sie sich eine Sage, die sie jedem
erzählen, der sie hören will, nach Borrow in folgender
Form:
„Es war einmal ein großer König in Aegypten, Na-
mens Pharao, der hatte zahlreiche Heere, nüt welchen er
nach allen Ländern hin den Krieg trug und alle unterliegen
machte. Uud als er die ganze Welt bekriegt und besiegt
hatte, ward sein Herz traurig uud voller Sorgen, denn er
wußte nicht, was er beginnen sollte, und fand doch nur am
Kriege Wohlgefallen. So gedachte er denn endlich mit
Undebel, mit Gott selber Krieg zu führen und sandte
Herolde an ihn ab mit der Herausforderung: herabzu-
steigen vom Himmel mit allen seinen Engeln und zu streiten
niit Pharao und seinen Heerschaaren. Aber Gott sagte:
„Ich will meine Macht nicht messen mit der eines Menschen\"
Aber Gott war entrüstet über Pharao und beschloß ihn zu
strafen für seinen Hochmuth; und er öffnete eine Spalte
an der Seite eines großen Berges, und es erhob sich ein
gewaltiger Sturmwind, der zog den Pharao und seine
Heere hin zu dem düstern Eingange, und der Abgrund
umfing sie allesammt, und der Berg schloß sich wieder über
ihren Häuptern. Aber wer in der St. Johannisnacht hin
geht an den Berg, der kann den Pharao und feine Heere
drin singen und toben hören. Als nun Pharao und seine
Heere dahin waren, standen alle Könige und Völker, die
dem Gewaltigen uuterthan gewesen, wider Aegypten aus,
A. Boltz: Abstammung i
das nun ohne König und ohne Verteidigung war, und
überzogen das Land mit Krieg und überwältigten es und
zerstreuten sein Volk über die ganze Erde und: Apilyela
gras Chai tapani Lucalai, d.i. sieh, und nun trinken unsere
Saumthiere im Guadiana!"
Borrow bringt noch eine ähnliche Sage in poetischer
Form, die ich ihm möglichst klang- und sinngetreu nach
übersetze:
Heimaisstatt war uns einstmals bie_ Gegend von Chal,
Wo nur Lust und Genuß sich uns bot überall —
Bis, zerstreut durch die Welt wir, kein Mensch weiß mehr wie,
Unsre Saumthiere tränken, im Guadiana nun, sieh!
Einstmals knieten viel Köu'ge vor unserem Thor,
Und nicht Einer von uns kam gering ihnen vor.
Doch, ach, jetzt sind verworfen wir, mehr denn noch nie,
Unsere Saumthiere trinken im Guadiana nun, sieh!
Denn der Uudebel sah von dem wolkigen Thron,
Daß schlecht unser Thun, unsre Herzen voll Hohn,
Und so trieb er uns fort, der noch niemals verzieh,
Unsre Saumthiere trinken im Guadiana nun, sieh!
Doch sollten sie trinken nur die heil'ge Flul,
Die durch Chal sich ergießet in sonniger Glut--
Sie kosten von allen, als dem Einen, sieh,
Apilyela gras Chäi tapani Lucaläi!
Wie es aber möglich ist, daß in Spanien noch heute so
manche feine Dame einem uusaubern, ignoranten Zigeuner-
Weibe ihre Hand darreicht, um sich aus den zarten Linien
derselben die bahi von ihr sagen zu lassen, wäre geradezu
unerklärlich, wüßten wir nicht, daß nichts so leicht Wurzel
in uns saßt, als der Hang zum Aberglauben und zum
Glaubeu an Vorbedeutungen. Im gewöhnlichen Leben
hilft man sich mit dem Worte „unberufen" oder mit dem
Shakspeare'schen: „Es gibt mehr Ding im Himmel und
aus Erden, als enre Schulweisheit sich träumt, Horatio!"
um den Schein zu retten. In unkultivirtereu Ländern,
wo man mehr dem Instinkte als dein klaren Vernunft-
bewußtsein gemäß lebt, gibt man sich ihm ohne alle Scheu
hin und man wird auch deshalb von Niemand gerichtet.
Aber auch iu dem erleuchteten Deutschland — von Frank-
reich und England ganz zu schweigeu — ist in dieser Be-
ziehnng manche dunkle Stelle. Ich will gar nicht zurück-
greifen etwa bis in die Zeiten des Tischrückens, das wenig-
stens als reizende Sinnestäuschung austrat, sondern in die
Gegenwart hineingreifen, wo der Data des krassesten Aber-
glanbens sich so viele darbieten. Oder wie könnten sonst
die Zukunftskarten, die unter dem Namen Lenormand ver-
kauft werden, wenigstens in Norddeutschland, einen so
riesigen Absatz finden, wie kaum ein verständiges Buch?
Wie wäre es möglich, daß jüngst in Königsberg in Preußen
die Postbotenfrau Klein vor den Assisen stand, der absicht-
lich geübten Zauberei, d. i. für die Gerichte des Betruges,
augeklagt? Wie hätte der Fall im Kreise Kosten im Obra-
bruch vorkommen können, wo eine Hochzeitssahrt bei
spiegelglattem Wege über das Glatteis dadurch unter-
brochen wurde, daß bei dem wilden Jagen eines der nnbe-
schlagenen Pserde stürzte und sofort todt war? „Die Braut
stieg vom Wagen und erklärte der sie begleitenden Gesell-
schast, daß sie weder nach der Kirche fahren, noch die ehe-
liche Verbindung mit ihrem Bräutigam eingehen werde,
weil durch die Dazwischenkuust einer „Here" ein Fall
eingetreten sei, dereine unglückliche Ehe ankünde. Alle
Vorstellungen vermochten das junge heiratsscheue Mädchen
zu keinem andern Entschlüsse zu bewegen, der ganze Zug
machte Kehrt, und das Mißlingen der Partie wurde einer
itb Sprache der Zigeuner, 79
alten gehässigen Nachbarin mit stillen Verwünschuugeu
zum Vorwurfe gemacht." Kosten hat 2 Kirchen, 3321
Einwohner, ein Kreisgericht, ein Landrathamt und ist also
gerade uicht außerhalb aller Eivilisatiou gelegen. Wie
sollten nun die Zigeuner aus so günstigen Verhältnissen,
wo sie sie finden, nicht den größtmöglichen Nutzen ziehen,
um so mehr als dies fast die einzige Seite ist, von der sie
uns beikommen können?
Resumireu wir das Mitgetheilte behufs bündiger
Lösung der am Eingang gestellten Fragen, so finden wir,
daß die Zigeuner Arier und Hindu, vielleicht aus der
Gegend des Sindhu, des Indus, sind, daß sie zwar keine
Kaste bilden und ihnen überhaupt jegliche Erinnerung an
ihr ursprüngliches Heimatland verloren gegangen ist, daß
sie aber in kastenartiger Abgeschlossenheit in einem ver-
sumpften Zustande dahin leben. Das Interesse, welches
sie uns unzweifelhaft einflößen, ist wohl mehr unser eigenes,
subjektives Gefallen an der Abnormität ihrer Erscheinung,
der Ungewohntheit und Seltsamkeit, und uicht selten an
dem wirklichen Zauber ihrer fremdartigen Gestalten, an
der scheiubareu Räthselhaftigkeit ihres Wesens, von dem
wir so wenig wissen, an dem Trotz, mit welchen: diese Ge-
ächteten, gegen die seit vier Jahrhunderten Jedermanns
Hand erhoben war, die wilde Freiheit des Wolfes festhalten,
an den vagen Vorstellungen, die sich an das hohe Alter
ihres Stammes knüpfen, kurz, an ihrem ganzen, geheimniß-
vollen, romantischen Vagabundenthum, das ja vou jeher
des Interesses nicht entbehrte, unter welchen weltgeschicht-
liehen Formen es auch auftrat — als die reine Objektivität
ihrer Erscheinung, die höchstens durch ihren scharfen Eon-
traft gegen unsere Zustände gleichsam wie ein Euriosum
auf uns wirkt, ohne einen dauernden, wohlthueuden Ein-
druck in uns zu hinterlassen, und diesen Eindruck machen
auch alle hier einschlagenden Kunstwerke; es ist eben loves
labour lost!
Was ihre künstigen Geschicke sein mögen, wer dürfte
es wagen, dies andeutend zu bestimmen? Daß sie aber
dennoch in Europa sich au Zahl vermindern, ist eine nnbe-
strittene Thatsache, die sich zum Theil dadurch erklärt, daß
sie, in Folge der fortgeschrittenen, sie zurückweisenden Civi-
lisation, sich iu einzelnen Staaten in ihrer verkommenen
Rohheit nicht haben halten können; in anderen hingegen,
wie jetzt in Spanien, sobald sie seßhaft geworden, nicht
mehr als Zigeuner, sondern als eingeborne Spanier in
den Geschlechtsregistern der Städte verzeichnet werden, da-
selbst anch vielfach nicht mehr auf die gitanerias — eine
Art Ghetto — beschränkt sind, ein Verfahren, das, ächt
spanisch, die Achtung vor dem Individuum tel quel bekun-
det und als wahrhaft human verdiente nachgeahmt zu
werden. Woher anders sollen die Keime künftiger Gesit-
tnng für sie kommen?
Die Worte unseres Dichters, der sie auf der Haide sah,
Wo sie ihm dreifach haben gezeigt,
Wenn das Leben uns nachtet,
Wie maus verraucht, verschläft, vergeigt
Und es dreimal verachtet.
sind zwar recht wahr und tief gegriffen und bekunden sein
eminentes Talent als Situationsmaler; sie sind aber für
uns von geringerer Innerlichkeit als die Schlußstrophe, in
welcher er gesteht, daß
Nach den Zigeunern lang' noch schaun
Mußt' ich im Weiterfahren,
Nach den Gesichtern dunkelbraun,
Den schwarzlockigen Haaren.
80
A, Leist: In der Herzegowina und Montenegro.
In der Herzegowina und Montenegro.
Von A. Leist.
Während meiner Streifzüge in der Herzegowina kam
ich nach der kleinen Glubinje. In der zerklüfteten Ein-
öde, von welcher dieselbe weithin umschlossen wird, findet
man mehre Bäche und kleinere Flüsse, welche ans den
Felsenhöhlen iu die Thäler sich niederstürzen und uach
kurzem Laufe sich bald wieder in Kalkhöhleu verlieren, oder
auch, sich in kesselförmige Thäler ergießend, Seen bilden,
Der rechts liegeude Weg, welcher, von Glubiuje aus im
Bogen eine steile Bergmasse umschreibend, durch eiu Felsen-
thor uach Kotese und dann in das schöne, üppige und daher
auch au Ortschaften reiche Thal der Trebinjschtiza führt, ist
in jeder Beziehung weit interessanter. Bei Slano, welches
schon im Thale der Trebinjschtiza liegt, fallen beide Wege
zusammen. An den Abhängen des Berges Gliwo sind
Trebinje. (Original;
welche der Sage nach ihre unterirdischen Strömungen fort-
setzend anderweitig wieder als Quellen zum Vorschein
kommen und neue Bäche bildeu, die in der heißen Jahres-
zeit gewöhnlich vertrocknen und daher zur Bewässerung
des Landes nur sehr wenig beitragen.
Von Glubiuje führen zwei schlechte Wege nach Tre-
biuje. Wir wählten den geradesten, welcher etwa sechs
Meilen beträgt, dessen erste Halste aber durch eine unebene
steinige Wüstenei führt und schon sehr an die Nähe des
nackten montenegrinischen Felsenlandes erinnert. Auf diesem
sterilen Terrain trifft man auch bis zunt Städtchen Slano
keine erwähnnngswerthen menschlichen Niederlassungen an,
und das Auge sucht daher vergebens nach den wohlthuenden
Punkten der Kultur. Nur die fernen, terrassenförmig aus-
steigenden Bergketten gewähren dem Auge interessante An-
Haltspunkte, obgleich dieselben in matter Färbung des
Sonnenlichtes erscheinen.
nung von F. Kanitz.)
anmnthige Obstpflanzungen. Dieser Thalgrund ist aber
auch reich an Getreide, Wein und Südfrüchten und'führt
in den Volksliedern den Beinamen „pitome", d. h.f*bte
kultivirte, welchen Namen dieselbe anch im Vergleich zu
anderen Gegenden dieses Landes verdient. Von Slano
führt ein direkter Weg über einen Einschnitt der Grenz-
gebirge uach Ragusa. Natürlich ist unser Slano mit der
dalmatinischen Stadt gleichen Namens nicht zu verwechseln.
Im anmuthigen Thale der Trebinjschtiza liegt die nach
türkischem Maßstabe ansehnliche Stadt Trebinje, welche
schon im 9. Jahrhundert der Sitz der Fürsten von Tribnnia
war und später die Herrschaft wechfelud, zuletzt eiu Zank-
apfel zwischen Türken und Venetianeru war, welche letzteren
sie im Jahre 1695 unter Daniel Delfino mit stürmender
Hand nahmen, ohne dieselbe für die Daner behaupten zu
können. Die aus unferm Bilde vorragend sichtbare große
Moschee war eine griechische Kirche. Außer den Griechen
82 A, Leist: In der Herzl
und Türken gibt es auch viele Katholiken mit einem Bischöfe,
und sie haben einen ärmlichen Dein.
Wie in der ganzen Herzegowina, so ist auch in Trebinje
der Geist der meist serbischen Bevölkerung ein äußerst
türkenfeindlicher; er ist theils in den unaufhörlichen Be-
drückungen derOsmanen begründet, theils wird er durch die
ewigen Feindseligkeiten der benachbarten Tschernogorzen
immer neu augefacht. Mehre Nahien der Herzegowina und
namentlich jene von Gazko, Piva nnd Drobnak stehen sogar
ziemlich unabhängig von der Pforte und nehmen beim Aus-
brnch der Feindseligkeiten gewöhnlich für die Montenegriner
Partei. Des ewigen Kampfes müde läßt die Pforte diese
Nahien unter ihren eigenen Stammhäuptern frei fchalteu
und walten, wenn sie nur nicht offenbar den Landfrieden
stören. Auch für Serbien hat man in der Herzegowina
lebhafte Sympathien und zählt sich mit Recht zur serbischen
Nationalität, wie wir dies hier auch aus dnu Motto eines
Manuskriptes erseheu konnten, welches die Drohworte ent-
hielt: „Ks acerbetur gens Serbica."
Allein wir hörten hier nicht nur Verwünschungen gegen
die Kerwolske (Blutsauger), wie die Türken genannt
werden, sondern auch Klageu gegen die europäischen
Völker, die sich so gern ihrer civilisatorischen Bestrebungen
rühmen.
„Europo, zar ne crjesli plac tuznik Kristianah?
I cowecstwo iine tnjesl), jerse tice Slawjanah?"
Europa, warum hörst du denn nicht das Wimmern der Christen?
Du übst nicht Menschlichkeit, denn man foltert und quält uns
Slaveu?
Eine sehr drückende Abgabe, welche die Rajah in der
Herzegowina den Türken erlegen müssen, ist die söge-
nannte Tretschina, d. h. das Dritttheil von allen
Produkten, deren Entrichtung außer dem Karatsch und
anderen zum Theil willkürlichen Steuern die Nichtmusel-
männer immer zur Unzufriedenheit reizt. Auch ist der
vielbesprochene Hat-J-Humajnn in der Türkei bis zum
heutigen Tage ein todter Buchstabe, und am wenigsten
kümmern sich um denselben die fern von Konstantinopel
hausenden Paschas und Kaimakane; es ist somit von einer
organistrten, rechtlichen Staatsgewalt iit der Türkei keine
Rede.
In Trebinje hatten wir von einem in Ungarn lebenden
Bekannten einen Bries an seine Eltern abzugeben, welche
wir endlich nach vieler Nachfrage in einem aus Lehm und
Holz uach türkischer Weise innerlich backofen förmig gebauten
Hanfe auffanden. Wir entledigten uns dieses Auftrages
uoch mit der Zugabe, daß wir das Schreibeu auf Ersuchen
der freudigerregten Mutter und Schwester des Briefschrei-
bers auch vorlasen, da dieselben des Lesens nicht kundig
waren. Schon vorher hatten Mutter und Schwester ihre
Herzensfreude über die von uns auch mündlich überbrach-
ten günstigen Nachrichten des in Ungarn Lebenden durch
lautes Weinen kundgegeben, welches sich während des Vor-
lesens des Briefes bis zu Erelamationen und zum Hände-
ringen steigerte. Unter solchen Umständen fanden wir,
nachdem man uns mit eingemachten Früchten und Wein
mit Pomeranzensaft erquickt hatte, viele Mühe, die gast-
freundlichen Einladungen zum Nachtquartier, mit dem wir
schon anderweitig versorgt waren, abzulehnen, mußten aber
doch am folgenden Tage einer Einladung zu einem Sarina
Folge leisten, bei welcher Gelegenheit wir auch den alten
Vater, welcher sich heute im Weinberge befand, kennen
lernten. Es ist aber das erwähnte Sarma, sogenanntes
gefülltes Kraut, gehacktes Fleisch; es wird mit Reis und
Gewürz in gesäuerte Weißkohlblätter gewickelt und darin
geschmort. Das ist hier eine beliebte und wirklich wohl-
)wina und Montenegro.
schmeckende Speise. Im Uebrigen macht sich zu Trebinje
anch sonst in enlinarischer Beziehung, besonders in den
Loeanden, schon der italienische Einfluß geltend.
Obgleich wir gestern durch die Ablehnung des Nacht-
quartiers auch das landesübliche Fnßbad, welches das
dienstthueude Frauenzimmer des Hauses darzureichen pflegt,
verscherzt hatten, mußten wir heute doch das mit bunter
Seide durchnähte Handtuch, welches nach der Fußwaschung
Abends dem Gaste zum Andenken dargereicht zu werden
pflegt, annehmen, wogegen wir der eben so kunstfertigen
als freundlichen Geberin beim Abschiede ein Jabnka ver-
ehrten. Mit diesem Worte bezeichnet man bei den Serben
in der Türkei im weitern Sinne jedes Geschenk, obgleich
es wörtlich nur „Apfel" heißt. Es mag wohl diefe Be-
dentnng für eiu Geschenk daher rühren, daß nach serbischer
Sitte die Mädchen lind Bräute von den ältlichen Frauen
besonders am Sonntage beim Begegnen vor der Kirche
häufig mit Aepfeln beschenkt werden. Unter Bräuten,
Snasche, sind aber hier jungverheiratete Frauen zu ver-
stehen, welche bis zu ihrer ersten Niederkunft oder ein Jahr
lang diesen Namen führen und sich durch besondere Ab-
zeichen, namentlich an der Kopfbedeckung kenntlich machen.
Auch ein Sträußchen von Bafiljen (Ocimum basili-
cum), dieser serbischen Nationalblume, erhielten
wir beim Abschiede als sinnige Bedeutung uud zum Zeichen
der Gastfreundschaft, lieber all, wo Serben und Griechen,
oder die Anhänger der orthodoxen Kirche (pravoslavna
vera) wohnen, wird dieses wohlriechende Blümlein gehegt
und gepflegt, und es fehlt selbst in der Kirche nicht, denn der
Pope bedient sich desselben als Weihwedel. In den Volks-
liedern spielt es unter dein Namen Misloein, Vasilje
eine große Rolle, denn Jedermann liebt es und kennt seine
symbolischen Bedeutungen; in diesen ist man im Lande der
Selants nicht unbewandert. Daß man aber von der
orientalischen Pflanzensymbolik in allem Ernste in das
Gebiet eines sehr thörichten Aberglaubens, bei soust guten
geistigen Eigenschaften, sehr leicht hinüber schweifen kann,
haben wir hier an der bereits erwähnten Schwester unseres
Freundes erfahren, welche, wenn ich nicht irre, Miliza hieß.
Miliza war sehr besorgt, daß ihr Bruder im fremden Lande
das Opfer einer nichtserbischen Liebe werden könne, und
diese Besorguiß war um so gerechtfertigter, weil derselbe
schon vor längerer Zeit mit einem ranowatzer Mädchen
verlobt wurde, natürlich auf Wunsch der Eltern und zu
einer Zeit, wo die Braut kaum 12 Sommer zählte. Um
aber den Bruder gegeu jede Einwirkung der Liebe nn-
empfänglich zu machen und ihn daher gegen alle Liebes-
Pfeile zu schützen, gab sie uns ein sogenanntes Raztanak
traca mit mündlicher Gebrauchsanweisung und ersuchte
uns, dieses Zaubermitel bei unserer Rückkehr ihrem
Bruder zu überreichen. Derselbe müsse die Wurzel dieses
Krautes iu Linnen wickeln und bei sich tragen. Es schützt
gegen Liebe und ist das Gegentheil vom Liebestrank,
der bei den Südslaven ebenfalls nicht unbekannt ist und
den Namen Samdokas führt. Das Kraut, welches wir
zwar später an den richtigen Mann abgeführt, das aber
wohl nie seine Bestimmung erreicht hat, ist das Dolden-
gewächsLigusticum officinale gewesen, welches in früherer
Zeit wohl auch in Deutschland in Bezug auf die Liebe zu
abergläubischen Zwecken verwendet worden sein mag, wie
dies ja die Benennung „Liebstöckel" zur Genüge anzeigt.
Als Heilmittel wird die Wurzel des Liebstöckel, besonders
in Viehkrankheiten, auch heute noch angewendet. In
Deutschland ist diese Pflanze selten, aber in den Gebirgs-
gegenden der wärmern europäischen Türkei häufig. —
Trebinje hat seine ehemalige Bedeutung als Festung
A, Leist: In der Herz
längst verloren, ist jedoch in militärischerBeziehnng insofern
von Wichtigkeit, als die Stadt während der montenegri-
nischen Unruhen für die türkischen Observationstrnppen
einen guten Stützpunkt bildet und eine ansehnliche Truppen-
masse aufnehmen kann. So haben die Türken iin Jahre
1858 nach ihrer Niederlage am 13. Mai in Trebinje viel
Truppen angehäuft, denn man befürchtete sogar, daß die
Montenegriner diese wichtige Stadt durch Ueberrumpeluug
nehmen konnten. Im Uebrigeu haben die zahlreichen
Festungen und Schlösser, mit welchen die Türken zu ihrer
Sicherheit den natürlichen Wall von Montenegro von drei
Seiten umgürteten, nur den Montenegrinern gegenüber einige
Wichtigkeit, weil diese letzteren gar kein Belagerungsgeschütz
besitzen und auch nur selten mit einigen Kanonen ins Feld
ziehen. Spnz, Klobnk, Niksitsch, Onogoscht, Podgoritza,
Zablak u. a. sind türkische Festungen, während die Tscher-
nogorzen gleich den Spartanern und den SzKlern in
Siebenbürgen gar keine Festung und nicht einmal eine
Stadt besitzen.
Von Trebinje führt ein schlechter, aber von türkischen
Karawanen ziemlich belebter Handelsweg durch deu süd-
westlichen Theil der Herzegowina in das öde, keine rationelle
Kultur kennendeSuturinathal, welches mit seiner Meer-
umspülung ebenfalls zur Herzegowina gehört und südlich
und nördlich von den österr.-dalmatinischen Gebieten der
Boeca und Ragusa begrenzt, von diesen durch Fruchtbarkeit
und Kultur weit überboten wird. Wir stehen ab vom
Besuche dieses Theiles der Herzegowina mit seinen schlecht-
gepflegten Weingeländen, seinen verwilderten Oel- und
Feigenbäumen und führen unsere Leser über Grahowo iu
das Bergland Montenegro, welches so oft der Schauplatz
blutiger Ereignisse war und in dem letzten Jahrzehend auch
die Diplomatie der Großmächte vielfach in Thätigkeit ge-
setzt hat.
Der serbischen Bevölkerung in den Schwarzen Bergen
ist die italienische Benennung „Montenegro" ganz uube-
kannt; dieselbe kennt nur die Bezeichnung „Tscherne gore"
(Schwarze Berge) und gebraucht nur sehr selten die im Aus-
lande übliche Einzahl Tscherna gora. Sich selbst nennen diese
tapferen, aber armen Bewohner Tfchernogorzen, aber nicht
Tfchernllgorzen und zwar wird das erste Wort am richtigsten
ohne e geschrieben, wie: Tschrno, Tschrne, Tschrna u. s. w.
Die Größe dieses kahlen unfruchtbaren Hochgebirgs-
landes hat je nach den Wechselfällen der Kämpfe schon oft
gewechselt und dürste gegenwärtig mit den unter türkischer
Oberhoheit stehenden, aber von eigenen Wojwoden regierten
Nahien der Berda wohl über 100Quadratmeilen betragen,
wovon aber einzelne Gebiete nicht allein von der Pforte
streitig gemacht werden, sondern es kommt auch vor, daß
sich einzelne Wojwoden und Stammhäupter gegen die
Souveränetät des Fürsten von Montenegro auflehnen, wie
dies der Stamm der Kutschier schou wiederholt gethau
hat, welcher durch kriegerische Execution zum Gehorsam zu-
rückgeführt werden mußte.
Das eigentliche Montenegro enthält nur 35
Quadratmeilen und ist von unzugänglichen, zerklüfteten
Bergketten durchzogen und umwallt, über welche nur
wenige, leicht zu vertheidigende Engpässe nach den Haupt-
orten führen.
Unter den Römern war Montenegro ein Theil Jllyri-
cums und bildete später von: Jahre 1040 bis 1389 einen
Theil des,großen serbischen Reiches. Als aber, wie ein
serbisches Sprichwort sagt, die Freiheit der Serben aus
KosMvo lZgg verloren ging, ward dieselbe in den Schwar-
zen bergen wiedergeboren. Von 1389 bis 1516 bildete
Montenegro einen selbstständigen Staat unter Fürsten aus
owina und Montenegro. 83
dem Hanse Tschernowitsch und wurde später eiu geistliches
Erbfürstenthum unter dem Vladika, welcher die bischöfliche
Gewalt zugleich mit der weltlichen bis zum Jahre 1851 in
sich vereinigte. Seit 1851 bildet es ein weltliches Erb-
sürstenthnm in der Familie Petrovitsch, die geistliche
Würde ist abgetrennt worden. Diese bekleidet gegenwärtig
der Metropolit Hilarion. Der weltliche Fürst heißt
Nikolaus.
Während des serbischen Unabhängigkeitskrieges erhoben
sich auch die Montenegriner zu Gunsten ihrer Stamm-
genossen mit Erfolg. Der Vladika der Tschrnegore hatte
noch uie zuvor über einen so bedeutenden Flächenraum zu
gebieten gehabt, als zwischen der Zeit von 1806 bis 1814.
Es gehörten nämlich in dieser Zeit noch zu Montenegro
hie Bezirke von Grahowo, Zschupa, Banjani, Piwa,
Drobnjak, Krnschewiza, Zupezi (unweit von Trebinje),
Waschoewiez bis zu den Flüssen Tora und Lima, und An-
tivari an der Küste des Adriatischeu Meeres. Als aber
int wiener Frieden 1814 die Küste von Cattaro an Oester-
reich siel, wurde der Fürst von Montenegro von dem be-
freundeten russischen Kaiser Alexander I. aufgefordert,
Antivari, welches seit alten Zeiten zu Montenegro gehörte,
an Oesterreich abzutreten. Die Montenegriner fügten sich
in das harte Gebot und verloren mit Antivari das
ganze Küstengebiet und die Verbindung mit
dem Meere, welche dem armen Volke manche Vortheile
gewährt hatte. Auch jene Gebiete, in deren Besitz sich die
Montenegriner seit 1806 gesetzt hatten, und welche ihnen
Weiden für ihr Vieh und zum Theil auch Ackerland ge-
währten, wurden ihnen nach und nach von den Türken wie-
der entrissen, und die Montenegriner sahen sich zuletzt in
ihre unfruchtbaren Berge zurück gedrängt. Da sie hier nicht
genügenden Lebensunterhalt fanden, machten sie räuberische
Ausfälle in die benachbarten Gebiete und raubten den tür-
kischen Besitzern und wohl anch solchen Rajah, die nicht
gemeinschaftliche Sache mit ihnen machten, die Heerden,
plünderten und verbrannten die feindlichen Dörfer, ganz
eben fo wie dies die Türken bei ihren oftmaligen Einfällen
in Montenegro gethan haben. Dergleichen Exceffe führten
zu offenen Feindseligkeiten, Kriegen und diplomatischen
Verhandlungen. Während die Montenegriner sich rühmten,
ein freies Volk zu sein, und auf ihre kahlen Berge hin-
weisend ein fruchtbares Weidelaud in den grünen Thälern
der Herzegowina oder Nordalbaniens beanspruchten, be-
hanpteten die Türken, daß Montenegro kein Recht auf
Selbstständigkeit habe, sondern Eigenthum der Pforte wäre,
und machten wiederholt große Rüstungen zur gäuzlicheu
Unterwerfung dieses kleinen Freistaates. Als im Jahre
1830 der Vladika von Montenegro starb, sammelten die
Türken ein Heer bei Skntari und drangen in die tschernisker
Nahia ein. Durch Schüsse und Feuersignale von den
Bergspitzen wurde sofort die Bevölkerung in Allarm gesetzt,
Alles, was Waffen trug, eilte nach dem bedrohten Punkte,
wo Iwan Dfchaja die Streiter ordnete und zu beiden
Seiten des Engpasses hinter dein Dorfe Martinitsch ver-
theilte. Die im Engpaß vorwärts dringenden Arnanten
wurden von den Montenegrinern unter dem üblichen
Schlachtrufe „ Iu r i f ch " mit Flintenschüssen empfangen
uud durch herabgestürzte Felsstücke vernichtet. DieNizams
zogen sich wieder zurück.
Auch der im Jahre 1852 und 1853 von Omar Pascha
geleitete Feldzug hatte keinen Erfolg, und die Türken muß-
ten viel von d'er Ueberschwemmung der Zeta leiden.
Groß aber war die Niederlage, welche die Türken 1858
am 13. Mai durch eiueu Uebersall der Montenegriner aus
herzegowiuischemBoden erlitten, wo sich das Observations-
11*
84 A. Leist: In der Herzec
Heer der Türken aufgestellt hatte. Nach dem Berichte,
welchen der Präsident des Senats, Mirko Petrowitsch Nje-
gusch, an den Fürsten Daniel erstattete, haben die Tschr-
nogorzen an diesem Tage nicht weniger als
7000 Türkenköpfe abgeschnitten, 8 Kanonen,
500 Zelte, 1200 Saumpferde, eine große Zahl Tschewer-
dan (türkische Gewehre) und viele andere Waffen, Feld-
zeichen, Kostbarkeiten n. s. w. erbeutet. „Das Schlacht-
feld glich einem umgehauenen Walde" sagt derselbe Bericht-
erstatter, „und die Leichenhaufen der Türken sind entsetzlich
anzuschauen. Zwei Pascha's wurden getödtet, einer von
Jlija (Elias) Djekauow; der audere wurde vom Fahnen-
träger der Perjaniken (Leibgarde des Fürsten) nieder-
gehauen." Die Montenegriner solleu nur einige hundert
Mann an Todten und Verwundeten verloren habeil. Unser
Bild stellt verwundete Montenegriner dar, welche, vom
Kampfplatze kommend, durch das Njegufchthal nach Nje-
gusch und Cetiuje ziehen. Auf dieses wilde, das Hoch-
gebirge durchschneidende Felsenthal werden wir gleich zurück
konuuen.
Die zu ihrer Existenz unerläßlichen Forderungen der
Montenegriner hat Fürst Daniel in einer Denkschrift ent-
wickelt und den Großmächten unterbreitet. Dieselbe hatte
keinen Erfolg, namentlich hatte sich das kirchliche christliche
England als der wärmste Vertheidiger der türkischen In-
teressen erwiesen, und selbst Oesterreich zeigte kein Mitgefühl
für das christliche Volk; um den Preis von Antivari, wel-
ches die Tfchrnogorzen zu ihrer friedlichen Existenz für noth-
wendig erachteten, mußten sie das alte Räubervolk bleiben!
Die Forderungen der Montenegriner bestanden im
Wesentlichen in folgenden 4 Punkten: 1) Anerkennung
der Unabhängigkeit der Bewohner der Schwarzen Berge
unter ihrem Fürsten. 2) Erweiterung der Grenzen nach
der Herzegowina und nach Albauien, und zwar nur zur
Erlangung des beuöthigteu fruchtbaren Bodeus. 3) Ab-
messung und Festsetzung der Grenzen durch eine gemischte
Eommission. 4) Antivari, welches von Alters her zu
Montenegro gehört hat und demselben widerrechtlich und
ohne alle Entschädigung abgenommen worden ist. —•
Ans dem Beispiele Serbiens konnte die Pforte lernen,
daß sie an innerer Kräftigung Nur gewonnen hätte, wenn
sie den Forderungen der Montenegriner durch Abtretung
einiger fruchtbaren Distrikte Gehör gegeben und dadurch
vielen Veranlassungen zu Streitigkeiten vorgebeugt hätte.
Unter den gegenwärtigen Verhältnissen aber wird Monte-
negro nach wie vor jene Stelle bleiben, von wo aus die
unzufriedenen Rajahs ans den türkischen Provinzen, die
hier unter dem Namen Uskoken(Entsprnngene) eine Zu-
fluchtsstätte finden, ihre immer bereitwillig geführten
Streiche gegen das im Auflösungsprozesse begriffene tür-
kifche Reich führen werden, und es ist leicht möglich, daß
die hier sich entzündende Flamme bei dem vorhandenen
Brennstoffe sich dereinst mit Schnelligkeit weiter verbreiten
und snr die Türkei von den verderblichsten Folgen seiu
dürfte.
Von den wenigen und schwer passirbaren Eingangs-
Pforten, welche aus der Herzegowina nach Montenegro
führen, ist zu bemerken die Bergstraße, welche von Gazko
über Piwa und Wassoewitsch in das Gebiet der 5No-
ratscha (nicht Moraka) führt, und jener Felsenpaß, durch
welchen man von Grahowo aus iu verschiedenen Windungen
und eine nur wenig unterbrochene Felsenwüstenei in das
höchste und schwerzugänglichste tschrnogorzische Dorf Nje-
gnfch gelangt, welches wir der leichtern Aussprache wegen
anch mit dem italienischen Namen Genegnssi benennen
wollen. Wie ein Adlerhorst ist der Ort mit seinen Stein-
mün'a und Montenegro.
und Holzhütten an den Rand jener Felskolosse hingeklebt,
welche mit mehren Einschnitten das interessante Njegnsch-
thal bilden. Malerisch, aber rauh und wenig angebaut,
ist dieser Kern des montenegrinischen Hochlandes, welches
allmälig nach allen Seiten hin abdacht und dem Fleiß, oder
vielmehr der Roth nur wenige Flächen zum Kohl- uud
Kartoffelbau überlassen hat. Njegusch ist der Hauptort
der Katuuska Nahia, welche als Anfang und Wiege der
Freiheit für Montenegro dasselbe ist, was die Urkantone
für die Schweiz sind. In Genegnssi residirte früher der
Gnwernadnr, welcher der eigentliche Führer der Monte-
negriner im Kriege war uud die Organisation der Woiska
leitete, zu welcher jeder Tschrnogorze gehörte; jeder ist ver-
pflichtet, stets bewaffnet und gerüstet zu sein. Von dem
hübsch gelegenen Njegusch führt cht nur mit Mühe zu
überschreitender Felsenpaß nach dem anmnthigen in einer
großen Ebene gelegenen Cetinje; von dem Hauptorte
reden wir hier um so weniger, da derselbe bereits Bd. V,
S. 196 des „Globus" besprochen worden ist.
Weit wichtiger als die erwähnten Eingangspforten ist
der belebte Paß, welcher österreichischerseits von Eat-
tar c a aus durch das Njeguschthal iu das Herz von Monte-
negro führt und mit seinen Verbindungen den Hauptver-
kehr in den Schwarzen Bergen vermittelt. Er führt über
den gegen 5000 Fuß hohen Monte sella (Sattelberg),
welcher viel besucht wird, und auf dem man das Panorama
der Central-Felsengruppe des montenegrinischen Berg-
landes genießt, während anderweitig hin die Aussicht be-
schränkt ist. Die schönste Ansicht bieten die montenegri-
nischen Felsenmassen jedenfalls von der entgegengesetzten
Seite dar, von der Ebene des Amselfeldes aus gesehen;
dort erheben sich auch die höchsten Kolosse, welche bei trü-
bem Himmel in ihrer dunklen Färbung eine zwar düstere,
aber majestätische Seeuerie darbieten.
Oben auf dem Monte sella, nur wenig abseits von der
Bergstraße hat der Vladika vou Montenegro im Jahre
1850 chic Tschesma errichten lasseu, d. h. er hat eiue
vorhandene ergiebige Quelle uach serbischer Sitte iu Steine
gefaßt und damit der Menschheit einen Dienst erwiesen.
Nicht nur, daß dieser Brunnen an dieser Stelle ein Be-
dürfniß für die vorüberziehenden Menschen und Thiere ist,
derselbe hat auch iu deu Anschauungen der montenegri-
nischen Serben eine Art Weihe, wiL dies ja auch sonst int
Morgenlande der Fall ist. In vielen der wunderbarsten
und lieblichsten Geschichten, welche die Bibel erzählt, ist ein
Brunnen der Mittelpunkt der Handlung. Auch iu deu
Städten der Türkei und iu Serbien bilden die Bruuueu
heute noch den Mittelpunkt des öffentlichen und geselligen
Lebens; hier ist es, wo am Morgen wie am Abend die
Mädchen mit ihren Krügen oder mit der Abrawiza
(Tragstange für zwei Krüge) zum Wasserholen sich ein-
finden und bei dieser Gelegenheit ihre Geheimnisse aus-
plaudern. Zu deu gemauerten Quellen, Tschesma oder
Wodiza, welche sich unweit der Städte an Bergabhängen
befinden und mit schattigen Anlagen versehen sind, wan-
dem an Sonn- und Festtagen die Serben hinaus und
erquicken sich dort nicht nur an dem frischen Quellwasser,
sondern auch am rotheu duftenden Wein, welchen der ge-
müthliche Wirth zu billigem Preise darbietet. Das Wasser
eines solchen Brunnens, der oft mit Heiligenbildern ge-
schmückt ist, wird auch in Flaschen gefüllt und zu abergläu-
bigeu Zwecken verwendet. Ich selbst habe in der stillen
Umgebung der Wodiza manche Stunde des angenehmsten
Stilllebens zugebracht, denn dort, wo das wohlthueude
Grün der Bäume alle zerstreuenden Gegenstände abschließt,
kann man bei völliger Beruhigung der Sinne sich ungestört
Brunnen au dem Monte sella. (Originalzeichnung von F. Könitz.)
86 Ein deutschl
dem Genüsse der Natur hingeben. — Daß der Wodiza
aus dein Monte sella die grüne Baumanlage fehlt, ist auch
aus unserem Bilde ersichtlich.
Noch ein wichtiges Eingangsthor zu der großen Ge-
birgsfeste bildet von der österreichischen Seite der Bergpaß,
welcher von dem befestigten Kloster Stanjewitsch
nach Montenegro führt und dort in die nach dem See von
Skntari leitende Bergstraße einmündet. Die letztere hat
insofern Wichtigkeit, als sie von dem Bergvolke sehr oft bei
den Erpeditionen gegen die Türken benutzt worden ist, und
bei einem feindlichen Einfalle läßt sich der Engpaß auch
leicht vertheidigeu.
Im Osten grenzt an Montenegro die LandschaftZeta, am
Flusse gleiches Namens, und sonst noch an die Herzegowina,
an Albanien und an den See von Skntari grenzend. Im
Mittelalter war diese Landschaft unter dem Namen Acuta
bekannt, und man findet sie so auch auf den alten nürn-
berger Homannfchen Landkarten aufgezeichnet. Dieselbe
muß aber früher bedeutender gewesen fein, denn einige alt-
serbische Könige führten den Titel: König von Serbien
und vonZenta amMeere. Vor ein paar Jahrhunderten
haben viele serbische Familien, gedrängt vom Uebermuthe
der Türken, das Gebiet von Zenta verlassen und sind nach
Ungarn ausgewaudert, wo sie eine Niederlassung an der
Theiß gegründet haben, welcher sie in liebevoller Erinnerung
an ihre schöne Heimat den Namen „Zenta" gegeben haben.
Dieser Name ist ihren Drängern, den übermüthigen Türken,
später in gerechter Wiedervergeltung sehr verhängnißvoll
geworden. Prinz Eugenius hat den Namen Zenta durch
die furchtbare Niederlage der Türken bei diesem Orte
verewigt.
Da die Tschrnogorzen serbischen Stammes sind, so
Schifservolk.
ist ihr Nationalcharakter im Wesentlichen auch mit jenem
der Serben übereinstimmend; mit diesen haben sie ja auch
gleiche Religion und Sprache. Doch sind die von allem
bildenden Einflüsse abgeschnittenen Montenegriner viel
wilder und roher als die Serben, und das ist zum Theil
auch eine natürliche Folge ihrer Beschäftigung, welche wem-
ger in Acker-, Obst - und Weinbau, als in Viehzucht, Jagd
und Tscheteu, d. h. in Fehde und Raub besteht. Die
Rauhheit des Charakters bringt es mit sich, daß bei den
Tschrnogorzen die Blutrache uoch gilt, während bei den
Serben von derselben keine Rede mehr ist. Obgleich die
Frauen und Mädchen in den Schwarzen Bergen den Man-
nern gegenüber eine sehr untergeordnete Rolle spielen, so
genießen sie andererseits hohe Achtung und dürfen nament-
lich in Bezug auf die Schamhaftigkeit nicht verletzt werden.
Fremde, welche die äußerst strenge, von den Serben wie-
dernm sehr abweichende Sitte der Montenegriner nicht
kannten und gegen dieselbe sich grober Verletzungen schul-
dig gemacht, haben ihren Frevel mit dem Leben gebüßt, und
die schreckliche, den Türken abgelernte Tödtnngsart des
Hautabziehens ist in früherer Zeit wiederholt in An-
Wendung gebracht worden, nicht allein an Türken, fondern
auch au einem russischen Offizier. Von diesem grausamen
Akte haben wir allerdings in den sonst von Blut triefenden
montenegrinischen Volksliedern keine Spur vorgefunden.
Für Reisende, welche Montenegro besuchen und wegen
der Schamhastigkeit der Frauen nicht gern in Conslikt
gerathen wollen, ist es ersprießlich, wenn sie sich das sol-
gende tschrnogorzische Sprichwörtlein ins Gedächtniß ties
einprägen: „Schaue die Mädchett von den Schwar-
zen Bergen nicht an, wenn du nicht willst, daß
deine Haut au der Sonne trockne."
Ein deutsches Schiffervolk.
Von einen: Mecklenburger.
II.
Der bejahrte Matrose und Steuermann, welcher sich,
wie er es nennt, zur Ruhe gesetzt hat, pflegt dann häufig
Fischer zu werden. Namentlich wird von Althagen ans
auf der Binnensee mittelst eigenthümlich gebauter Böte,
Jeseuböte genannt, eine ziemlich starke Fischerei geübt.
Hin und wieder wird auch die Fischerei, namentlich die
Häringssischerei in der Ostsee, in ähnlicher Weise wie
die Schifferei betrieben, d. h. mehre Personen, gewöhnlich
ehemalige Schiffer, schaffen zusammen das uöthige Geräthe
an Netzen, Böten :c. an und lassen durch Andere für ihre
Rechnung fischen. Die dabei direkt beschäftigten Fischer
pflegen mit bestimmten Procenten am Gewinn Theil zu
nehmen, anch werden ihnen von den Rhedern die großen
Stiesel und die Lederschürzen gehalten. Die Hörings-
sischerei wird hauptsächlich in den Nächten der Frühjahrs-
monate betrieben, mittelst großer „Waden", die am Strande
aufgezogen werden. Es soll aber der Fischerei-Ertrag Nch
von Jahr zu Jahr vermindern. — Vielfach wird jedoch
gemeint, daß die Art und Weise, wie hier die Fischerei
betrieben wird, eiue völlig veraltete sei. Ehedem wurden
die Häringe hier auch eingesalzen und noch mehre geräuchert
und so in den Handel gebracht. Jetzt findet beides nur
noch für den eigenen Gebranch statt. Außer deu Häringen
werden hauptsächlich Lachse, Dorsche, Hornfische, Mai-
schollen, Aale, Brachsen, Zander und Hechte gefischt,
letztere vier Arten in der Binnensee nnd im Saaler Bodden,
worin nach einem alten Vertrage die Mecklenburger auch
fischen dürfen. Die gefangenen Fische werden größtentheils
nach Rostock, Stralsund, Stettin und in die benachbarten
kleinen Landstädte abgesetzt. Der feinste und geschätzteste
aller hier gefangenen Fische ist der Zander, ^ueiopereg.
sanetra) doch wird er von Jahr zu Jahr seltener, besonders
dadurch, daß man die jungen Fische, hier D ö l l i n g e genannt,
mit engmaschigen Netzen wegfängt.
Der Seemann ist gewöhnlich auch ein Freund der Jagd,
und so wird denn auch diese fleißig betrieben, doch ist nur
jene auf Federwild ergiebig. Eisenten, Schwäne und wilde
Gänse finden sich während des Winters hier zahlreich ein;
sonst kommen auch vielerlei Schnepfenarten vor, die sammt
und sonders einen vorzüglichen Braten liesern. Ehedem
Ein deutsch,
wurden auch Falken gefangen. Jährlich kamen deshalb
aus dem jetzigen Belgien Vogelsteller nach dem Fischlande,
welche die abgerichteten Thiere zu hohen Preisen Haupt-
sächlich nach Frankreich und England hin verkauften.
Mit Geschäften in Feld uud Garten befaßt der See-
mann sich niemals gern, sie bleiben zumeist dem Weib-
lichen Geschlechte überlassen. Doch führen die eingebornen
Frauen zwar ein sehr thätiges, aber doch kein unbequemes
Leben, da sie größtenteils sich Dienstmädchen halten,
die sammt und sonders dem Darß entstammen, denn daß
ein hier gebornes Mädchen in Dienst zu fremden
Leuten geht, kommt niemals vor.
Obschon die Bewohner des ganzen Distriktes sich in
ihrem Sein uud Wesen sehr ähneln, so findet dennoch unter
den verschiedenen Dörfern nur eine sehr lose Verbindung
statt. Es kommt selten vor, daß ein Mädchen in ein anderes
Dorf hinein heiratet, und die Einwohner von Dänendorf
und Dierhagen nehmen es übel, wenn man sie für Fisch-
länder hält, ebenso wie diese letzteren es ungern vermerken,
wenn man ihre Abstammung verkennt. So sind denn alle
Einwohner eines Dorfes mit einander verwandt, und daß
hier sehr zahlreiche Geisteskrankheiten vor-
kommen, mag mit von den vielfältigen W echsel-
heiraten herrühren. — Wie stark der Sondergeist
in diesen Menschen steckt, zeigt sich recht klar in dein größten
Dorse, in Wustrow. Hier läuft eiue breite Straße
mitten durch den Ort und scheidet ihn in einen Wester - und
in einen Ostertheil. Nicht bloß die Jugend der beiden
Dorstheile entnimmt ans diesem Umstände eine Ursache zu
Besehduugeu, sondern auch die erwachseneu Personen sehen
darin einen Grund, sich gegen einander zu isoliren. Selten
kommen Heiraten zwischen Personen vor, welche
den verschiedenen Dorftheilen entstammen, ob-
schon es hüben und drüben in den Häusern gleich wohl-
habend und stattlich ist.
Es sind nur wenige verschiedene Familiennamen in
den einzelnen Dörfern vorhanden. Deshalb hat sich der
Gebrauch herausgestellt, die Personen nach ihren
Schiffen zu nennen. So heißt es denn: Hier wohnt
Marie- Voß, Arial-Zögelin, oder auch wohl nur:
Polarstern, Baron von Donnerstrunkshausen:e.
Außerdem sind manche Scherznamen gang und gäbe,
und zwar so sehr, daß der eigentliche Name fast darüber
in Vergessenheit geräth.
Die Dörfer sind meistentheils in langen Reihen hin-
gebaut; nur das größte, Wustrow, macht hiervon eine Aus-
nähme. Die Bauernhäuser sind noch fast allenthalben die
gewöhnlichen alten Rauchhäuser, in welchen, aus dem der
Straße abgewandten Ende, die Wohnungen für die Menschen
liegen, während das Uebrige durch eine Scheuntenne und
durch die Ställe für das große Vieh in Beschlag genommen
ist. Die Häufer der Büdnereien zerfallen ihrer Bauart
nach in zwei Hauptklassen. Die ältere hat Fachwerk mit
überstehendem Giebel uud ist gewöhnlich noch mit Stroh
gedeckt. Die so gebauten Häuser liegen bunt und nnregel-
mäßig durcheinander. Thüren und Fensterläden sind
mit grellem Grün bemalt, das übrige Holzwerk ist getheert.
Dasselbe gilt von den Staketen an der Straßenseite, hier
„S Utters" genannt, durch die eine Pforte auf einen
gepflasterten Damm führt, welcher bis an die Hausthüre
reicht. Dieser Damm wird an Sonn- und Festtagen mit
weißem Sande bestreut, und ein Gleiches geschieht mit jenen
Steindämmen, welche den hoch gelegenen Kirchhof durch-
Die neuen Häuser sind sast sämmtlich massiv und
einstöckig, haben einen Vordergiebel und bedecken jedes
einen Raum von etwa 1800 Quadratfuß. Die Fenster
Schisservolk. 87
bestehen aus englischein Glase; in der Mitte befindet sich
die doppelschlägige mit Fenstern versehene Hausthür.
Durch diese gelaugt man zunächst auf eine sauber vermalte
Flur, von der links und rechts ab Thüren zu den tape-
zierteil Wohn- und Schlafgemächern führen. Eines dieser
Gemächer dient als Staatsstube, und es enthält außer
mehr oder minder eleganten Mahagonymöbeln fast immer
eine Stntzuhr und über dem Sopha ein in Oel gemaltes
Bild des Schiffes des Hausvaters. Auf Kommoden
und Schränken sieht man fremdländische Conchylien uud
dazwischen allerlei levantinische und chinesische Raritäten
aufgestellt. Neben der Thür hängt ein in Jndieii ver-
fertigtet* Staubwedel aus Pfauenfedern, und oft steht in
einem an der Wand befestigten Glaskasten das zierlich
geschnitzte Modell eines Schiffes. Alles ist äußerst rein
und sauber gehalten, fast zu sauber. Neben der Staats-
stube befindet sich ein Schlafgemach, in dem mehre hoch
aufgestapelte Betten prunken.
Ueber die Flur gelangt man in die Staatsküche.
Dort strahlt ein englischer Kochheerd in reicheni, blank-
polirtem Messingbeschlag. Alle Schränke, Börte und Holz-
geschirre sind sauber angemalt und überreichlich mit blau
. bedrucktem englischen Steingut besetzt. Eisen-, Kupfer- und
Messinggeschirre gläiizen, als wenn sie niemals in Gebrauch
genommen würden, und wirklich geschieht dies auch nur
bei festlichen Gelegenheiten, namentlich dann, wenn der
Hausherr heimgekehrt ist. Für gewöhnlich wird in einer
Nebenküche gekocht, die sich in einem Anbau des Hauses
befindet, wie denn auch während der Abwesenheit des
Hausvaters die Vorderzimmer nicht bewohnt werden, foii-
dern während dessen die Strohwittwe sammt ihren Kindern
in einem kleinen Hinterstübchen, oder Wohl gar in der
sogenannten Kellerkammer haust. Auch ungemein einfach
wird während der Abwesenheit des Vaters gespeist nitb
getrunken. Es befindet sich hier überhaupt noch die Küche,
wie sonst nirgendwo in Mecklenburg, in einem Zustande der
Barbarei. Nur Fische weiß man schmackhaft zu bereiten;
vom übrigen Theil culinarifcher Wissenschaft weiß man
nicht viel mehr als Neger und Indianer. Von Gemüsen
kennt man nur den Kohl, uud ich habe es als eine Ver-
fchwendilng bezeichnen hören, grüne Erbsen und Bohnen
zu essen, da ja letztere die Schweine so gern fräßen!!
Hätten nicht die Väter die löbliche Gewohnheit angenommen,
von ihren Fahrten einige holländische Käse, Porter und süße
Weine mitzubringen, mit denen Besnchende bewirthet
werden, so würde es für den Fremden hier wirklich schlimm
in Bezng aus seine Kost aussehen.
Frauen uud Kinder leben, wenn der Vater nicht zu
Hause ist, oft Tage laiig nur von Kaffee und Butterbrod.
Eine andere Hauptspeise bildet dicke Milch, in die man
Kartoffeln tunkt. Auch „Schellhäringe", gesalzene Horn-
fische nnd in der Lust gedörrte Maischollen werden vielfach
gegessen, Gerichte, vor denen die Nase eines hier nicht
gebornen Menschen sich fast noch mehr entsetzt, als der
Gaumen. Von demjenigen aber, dein diese Speisen nicht
munden wolleu, sagt man wohl: „oll steten God, et Stuten
in Botter bradt." — *)
In Kleidung wird dagegeu ein desto üppigerer Auf-
wand getrieben. ' Daß die Schifferfran mehre seidene
Kleider besitzt, die das Stück 50 bis 60 Rthlr. und noch
mehr gekostet haben, ist etwas ganz Gewöhnliches.^ Bei
gerichtlicher Aufnahme des Nachlasses einer unlängst ver-
storbenen Frau kamen allem 15 verschiedene Shawls,
Longsh^ls und große werthvolle UmschlagetücherHum Vor-
*) Alt fressendes Volk, ißt die Semmel in Butter gebraten.
88 . Ein deutsches
schein. Bei der Verlobung schenkt der Bräutigam der
Braut ein Gesangbuch, dann eine goldene Brosche, der-
gleichen Armbänder, Uhrkette, auch einige Ringe und einen
Longshawl oder dergleichen, während er von der Verlobten
ein Gesangbuch und eine Uhrkette erhält. Eine goldene
Uhr schenkt der Mann der jungen Frau bei der Geburt des
ersten Kindes. Dennoch wird ans einen Theil des Körpers
bei der Garderobe wenig Rücksicht genommen, nämlich auf
die Füße. Bei den schwersten Atlaskleidern sieht man oft
schlechtes, gänzlich vertragenes Schuhwerk. „Ob de säut
Wardt bei uns nich röckt, (d. h. aus die Füße wird bei uns
keine Rücksicht genommen; nicht gerechnet)" ist die Antwort,
wenn ein Fremder darüber seine Verwunderung zu erken-
nen gibt.
Bei Leichenbegängnissen folgen nicht blos Männer,
sondern auch Frauen und Mädchen dem Sarge. Alle
tragen dann schwarze Kleider, über welche man große,
Weiße Tücher schlägt, die so weit über die Kopfe gezogen
Werden, daß die Gesichter nur eben herausschauen. Für
zur See Verunglückte wird eiu feierlicher Trauergottesdienst
unter Glockengeläute abgehalten.
Aber so stattlich sich die Frauen und Mädchen bei diesen
und anderen festlichen Gelegenheiten kleiden, so wenig thuu
sie dieses täglich, ja sie vernachlässigen dann sogar oft grob-
lich die schickliche Sauberkeit. Ehemals war dieses auch
bezüglich der die Schule besuchenden Kinder der Fall, doch
hat sich das durch die ernsten Anstrengungen der Lehrer
jetzt völlig geändert, und schwerlich möchte man irgendwo
in Dorfschulen eine durchschuittlich größere Sauberkeit und
Reinlichkeit antreffen. Auch die Schulgebäude sind sämmt-
lich musterhaft eingerichtet, uud vielleicht fiudet man in
keinem andern deutscheu Dorfe eiu gleich stattliches, ja so
prächtiges Schulhaus wie in Wustrow.
Die einzige Pfarrkirche in diesen Ortschaften, jene zu
Wustrow, macht dagegen keinen sonderlich sauberen und
stattlichen Eindruck. Ein paar kleine Bilder von Schiffen,
ans dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, sind in einigen
Kirchenfenstern zu sehen, und zwei sehr sauber geschnitzte
Schiffe, Geschenke von Seefahrern, hängen im mittleren
Kirchengange von der Decke herunter. So hängt auch
ein großer hölzerner Taufengel, der bei allen
Eingebornen in hoher Achtung steht, weil die
Richtung seiner Nase stets anzeigt, wohin der
Wind weht.
Wie in den meisten abgelegenen Schifferörtern, so ist
auch hiev noch viel kirchlicher Sinn anzutreffen. _®er
Seemann, welcher zu Haufe kommt, besucht gauz gewiß am
nächsten Sountag mit seinen sämmtlichen Angehörigen den
Gottesdienst, und nicht selten findet man dann eine Guinse,
einen Napoleonsdor oder dergleichen im Klingelbeutel. Für
Arme und auch für Verwandte wird nach besten Kräften
gesorgt.
Neben dem kirchlichen Sinn fehlt auch der Aberglaube
nicht. „He verköfft wohl sien Veih, öbers den Dägt behöllt
he vor sif", („Er verkauft wohl sein Vieh, aber den Ertrag
desselben behält er zurück") wird oft geäußert, und an
Behexen, bösen Blick ?c. wird fest geglaubt.
Ein auf dem Darß wohnender Wunderdoktor hält hier
noch immer reiche Ernten, trotzdem vor wenigen Jahren
das sämmtliche Silberzeug eiues Schifferhauses, eiwa
400 Rthlr. an Werth, durch ihn in Sand uud Steine
verwandelt worden ist! Wie es einem Wundermann
zukommt, erscheint der Pfiffige uud geriebene Preuße immer
nur des Nachts. Trotzdem aber hat er schon die Bekannt-
schast mecklenburgischer Gefängnisse machen müssen.
Alle Einwohner des Landes, Männer und Frauen, sind
Schiffervolk.
ernsten Sinnes, geben sich selten einer lauten Lustigkeit hin,
sie bleiben äußerst wortkarg, ja, gegen Nichteinheimische
sogar im hohen Grade „maulfaul". Hierin unterscheiden
sie sich wiederum gänzlich von den Einwohnern des Darßes
und der Zingst, die lustig und geschwätzig sind, uud wo auch
das Wirthshauslebeu, das hier in Mecklenburg sehr wenig
vorkommt, in hoher Blüthe steht. Dennoch sind die
Männer, namentlich die jüngeren, leicht mit der Faust und
auch mit Schimpfwörtern bei der Hand. Es herrscht auch
aus den hiesigen Schiffen durchschnittlich ein viel urwüch-
sigerer Ton, als auf deu deutschen Schiffen der Nordsee-
Häfen. Der Kapitän stellt sich gewöhnlich sofort mit seiner
Mannschaft auf den Kriegsfuß und spricht zu derselben oft
gar nicht anders als durch Schimpfwörter uud Thätlich-
keiten. Mehrfach ist es noch neuerdings vorge-
kommen, daß Kajütswächter uud Schiffsjungen
mit den Ohren an den Mast oder ans Deck fest-
genagelt worden sind, und Fußtritte uud Faustschläge
kommen auf einzelnen Schiffen täglich vor. Trotzdem soll
sich aber auch hierin schon eine Wandelung zum Bessern
zeigen und im Allgemeinen herausgestellt haben, daß diese
alten biderben Kapitäne weit schlechtere Fahrten machen,
als ihre jungen gebildeteren Kollegeu. — Unter den älteren
Kapitänen findet man auch noch einzelne, die kaum ihren
Neimen zu schreiben vermögen, und die nicht im entferntsten
im Stande wären, das heutige Steuermannseramen zu
machen.
Dem Fremden, namentlich dem Binnenländer, fällt es
sofort auf, daß fo Vieles nach den H immelsrichtuugeu
b e u a u n t wird. Da sind N order- und Süde r st übe n,
W e st e r- und O ste r b ö rsen *), Süder und Nord er-
laub en, B äu k e je. Eine alte Frau, welche eine Wunde
am Bein hatte, sagte zu dem Arzte: „Kummt se bat nich ok
so vör, Herr Dokter, dat bat doar in de Nordwestereck uu
au to Helen fangt?" (Kommt es Ihnen nicht auch fo vor,
als ob das da in der Nordwestecke zuheilen anfängt?)
Auch in der Bildersprache wird dieses und Aehuliches viel-
fältig angewendet. „Jk käm em (kam ihm) ganz südlich,
öbers he käm mi gliek (aber er kam mir gleich) so nörd-
lich", hört man häufig, wenn von früheren Streitigkeiten
die Rede ist. — Auch beim Fahren im Wagen wird von
Luv uud Leeseiteu geredet. Eben so hört man: „He is
wiet ober Stüer," (weit über Steuer) das heißt: er ist
weit zurück in etwas. —
Das größte Fest für eine Familie ist, wenn die Nach-
richt einläuft, daß der Hausherr und sein Schiff wohlbe-
halten in einem benachbarten Hafen eingelaufen sind. Ist
dies in Hamburg, Holland oder England, so reist nicht
selten die Frau dem Mann entgegen, um ihm entweder eine
kurze Zeit auf dem Schiffe Gesellschaft zu leisten, oder ihn
in die Heimath abzuholen. — „Ja, et is en grot Freud,"
sagte mir eine junge Fischländerin, „wenn in'n Harwst
(Herbst)uns Mannen to Hns kamen, öbers se kamen
nich all to Hus! Veir (vier) Bröder hev ik had to See;
wo süud se nu? De letzt söll verleden (vergangenen) Winter
to Rostock ut de Mast. Acht Dag lag he noch iu't Klini-
kum, denn brächten wi ein to Jer (Erde)." — Wenn der
Mann oder die Brüder auf See sind, forschen die Frauen
sorgfältig nach allen betreffenden Wind- und Wetter-
berichten, und jede weiß auch genau, welche Winde günstig
und welche ungünstig für die Reife sind, welche Strömungen
und welche Passate dabei benutzt werden können.
Ehemals wurden die Hochzeiten, immer nur zur
*) Börsen nennen die Schiffer diejenigen Plätze, wo sie
sich zum Rauchen, Tabackkanen und zu Gesprächen zusammen
zu finden pflegen.
Alte Stei
Winterzeit, großartig gefeiert; jetzt nur noch selten. Doch
ist es Gebrauch, daß sich außer den geladenen Gästen viele
junge Leute, namentlich aber alle näheren Bekannten des
Brautpaars, am Hochzeitabend vordem Hochzeithause ver-
sammeln und dort allerlei Lärm und Muthwilleu treiben.
Namentlich erschallt dann der Rns: Proppen los! worauf
aus dem Hochzeithause Weinflaschen gebracht werden. Auf
der Hinterdiele, oder in der Nebenküche steht auch an diesem
Abend eine große Schüssel mit einem dickgekochten, süßen
Reißbrei, von dem Jedermann sich nach Gefallen nehmen
mag. Die Mädchen tragen bei dieser Gelegenheit die
Kopftücher weit über das Gesicht gezogeu, gleichsam, als
möchten sie nicht gerne erkannt werden. Geschieht dies aber
bei der einen oder der andern dennoch Seitens der Braut
oder deren Mutter, so wird sie in's Haus genöthigt und
muß Theil am Feste nehmen. Es wird einem jungen
Mädchen sehr übel genommen, wenn sie es unterläßt, die
befreundete Braut am Ehrentage derartig zu besuchen. —
Um die Mitte des Sommers wird das sogenannte
Tonnenfest abgehalten. Inder großen Dorfstraße in
Wustrow sieht man eine mit Laub umwundene Tonne an
zwei Stangen schweben. Die Banernknechte jagen zu Pferde
im Galopp unter dieser Tonne durch und bemühen sich,
dieselbe vermittelst eines dicken Knittels herabzuschlagen.
Wer die Stäbe zum Fallen bringt, heißt Stäbenkönig,
und wer das letzte Stück herunterschlägt: Bodenkönig.
Beide erhalten aus der großherzoglichen Kasse ein Geschenk.
Spiel und Schenkbuden, Musik und Tanz sorgen für wei-
teres Vergnügen.
'enfrnfiler. 89
In Dierhagen und in Wustrow pflegen Sommers sich
auch einzelne Fremde zum Baden einzufinden. Der Strand
eignet sich auch ganz vorzüglich dazu, vielleicht in einem so
hohen Grade, wie an keinem andern Flecke deutscher Ostsee-
lande. Dennoch aber werden diese Dörfer nie stark besuchte
Badeörter werden, besonders deshalb, weil die Bevölkerung
durchschnittlich viel zu wohlhabend ist, als daß sie sich ihre
Häuslichkeit durch die Ausnahme von Fremden stören lassen
möchte. In Wustrow pflegen sich im Juli und August
20 bis 30 Badegäste zu versammeln, welche theils in dem
geräumigen Wirthshause, theils bei einzelnen Wittwen k.
ihr Unterkommen finden. — Vom Festlande aus gelangt man
nach Wnstrow über die mecklenburgische Stadt Ribnitz, von
wo täglich mehremale große mit Verdeck versehene Segel-
böte dorthin fahren. —
Ich habe Ihnen hier das Leben und Treiben einer
wenig bekannten Gegend geschildert. Um sie getreu dar-
zustellen, konnte ich nicht umhin, mich einer niederländischen
Kleinmalerei zu befleißigen und ins Einzelne einzugehen.
Hoffentlich habe ich dadurch Ihre Leser nicht ermüdet. Ich
sehe mit Vergnügen, daß Sie im Globus die landschaftlichen
und Stammeseigenthümlichkeiten aus Süd und Nord, von
Krain bis zu Ost- und Nordsee berücksichtigen, und deshalb
siudet wohl auch diese anspruchslose Skizze über eine Strecke
mecklenburgischen Gestadelandes Raum iu Ihrer Zeitschrift
und wohlwollende Aufnahme bei den Lesern.
Alte Steindenkmäler.
Wir haben früher nachgewiesen (Glob. VIII, S. 307 ff.)
welch eine ausgedehnte Verbreitung die Tafelsteine,
Dolmen, haben. Die Steindenkmäler verschiedener Art
erregen in unseren Tagen die allgemeine Aufmerksamkeit
und sind Gegenstand einer eingehenden, sehr eifrigen For-
schnng, welche in Bezug auf die Alterthümer des Menschen-
geschlechts schon jetzt zu vielen interessanten Ergebnissen
geführt hat.
Die Steinmonumente sind von sehr manuichsaltiger
Art und rühren ans sehr verschiedenen Zeitabschnitten her.
Wir werden Gelegenheit finden, darüber dann und wann
Mittheilungen zu machen; heute wollen wir nur eine Art
von Schema, eine Uebersicht oder Eintheilung der ver-
schiedenen Gruppen dieser Denkmäler geben. Wir folgen
dabei dem Werke Chr. Ke ferst eins: „Ansichten über
die keltischen Alterthümer, die Kelten überhaupt und be-
sonders in Deutschland, sowie den keltischen Ursprung der
Stadt Halle." Halle 1846. Die zum Theil sehr aus-
schweifenden Phantasien über die Kelten gehen uns hier
nichts an; seit 20 Jahren hat die Wissenschaft in dieser
Beziehung schon vielfach reine Bahn gemacht; es verschlägt
uns auch nichts, daß Keferstein überall „druidische Denk-
mäler" sieht. Ihm gebührt das Verdienst, zuerst und mit
großem Fleiße eine Aufzählung der „heidnischen Alter-
thürncv" in verschiedenen Gegenden gegeben zu haben.
richtig bemerkt er, daß das Wesentliche dieser
Denkmäler in der Verwendung zumeist großer, oft kolossaler,
Globus IX. Nr. 3.
roher oder sehr wenig behaltener Steine ohne allen Mörtel
bestehe. Wo man Steine mit Erde bedeckte, wurde nur
schwarze Dammerde benutzt. Viele sind Grabstätten und
daher je nach Zeit und Ländern von verschiedener Art; wir
werden später einmal über die Grabdenkmäler reden.
Die Monumente aus eiuzeln enSteinen bestehen
meist aus Pfeilern oder Platten. Die isolirten Hünensteine
sind pfeilerartig, oft Pfeil- oder obeliskenförmig; sie stehen
theils mehr einzeln, theils gruppcnförmig zusammen und
finden sich in gleicher Weise in Deutschland, Skandinavien,
England und Frankreich. Bei uns heißen sie Hünen-,
Heiden- oder Ries ensteine; im Wälschen Maenhir
oderMenhi r, d. h. Langsteine, im Bretonischen Peu^van
von penl, Pfeil, wenn sie spitz zulaufen. Von den Fran-
zoscn werden sie bezeichnet als Colonnes dmidiques, Pierres
debout, p. fischades, p. fiches, oder Kxss, p. taites, p.fittes.
Englisch Hoarstoues, schottisch Lechs, auch Hare-
stones, angelsächsisch Haranstanes, in Schweden
Bautastenars und Steinpfeiler, wenn sie nicht sehr hoch
sind. Die Gestalt ist zumeist viereckig und schlank, zuweilen
iu der Mitte am dicksten, so daß sie nach oben und unten
dünner werden; deshalb heißen sie in Frankreich Weiber-
spindeln, Quenouilles ä la bonne ferame. Höhe Über
der Erde verschieden, gewöhnlich 12 bis 15, aber auch 20
bis zu 24 Fuß, aber auch bis zu 58 Fuß; etwa ein Viertel
der Länge steht in der Erde. In England werden die
Menhirs, in welche Sitze eingehauen sind, Orakelsteine
12
Alte Steindenkmäler,
Steinkreis
genannt. Die Menhir's stehen gewöhnlich isolirt mitten
im Felde; mauchmal 3 zusammen in gerader Linie; dann
nennt man sie in Schweden Skydds pelare, Schutz-
Pfeiler. Zuweilen stehen sie in einem Pfeilerumsatz, einem
Hünenbette. —-
Die vereinzelten Steinplatten haben oft großen
Umfang und ungeheures Gewicht und liegen ohne Unterlage
am Boden. Das sind die Druden-, Trutten-, Teu-
selssteiue; Pierres druidiques, p. creusdes, p. sacr^es;
keltisch Lech oder Leach. Manchmal mit Figuren oder
eingehauenen Rinnen und Löchern. An diese Teufels-
steine knüpfen sich
überall alte Sagen.
Oft liegen sie inner-
halb der Hünenbet-
ten oder gleichsam
als Wächter vor
denselben.
Die verein-
zelten Stein-
klötze laufen meist
nach oben hin fpitz
zu und haben oben
eingehauene in ge-
wisse Figuren ge-
stellte Löcher, in
Form kleiner Näpfchen. Daher am untern Main Näpf-
chensteine.
Steinpfeiler in großer Zahl, unregelmäßig zusam-
mengestellt, kommen in Schweden vor, wo man Banta-
steine ohne bemerkbare Ordnung zu Hunderten neben ein-
ander findet, einen wahren „Monolithenwald". Sie heißen
dann Val Platz er, Wahlplätze, weil man meint, sie seien
zum Andenken an große Schlachten errichtet worden.
Steinpfeiler, in kürzeren oder längeren
Reihen und Gängen zusammengestellt, kommen
auch in Deutschland oft vor. Manche unserer Hünenbetten
sind so lang und schmal, daß sie mehr Gängen als Recht-
ecken gleichen, z. B. das bei Niendorf, Amt Medingen, Hau-
nover, hat bei 400 Fuß Länge nur 4 Fuß Breite. An unsere
Hünenbetten stoßen
nicht selten Pfeiler-
gänge; in England
sind zuweilen runde
Hünenbetten mit
schlangenförmigen
Pfeilergängen ver-
bnnden und haben
„Drachenform", da-
her Drakontien
genannt. Oft steht
inmitten eines Pfei-
lerkreises ein Men-
hir. Bei Carnac Stewwis.
in der Bretagne bil-
den „Pfeilerlinien" in 10 Pfeileralleen ein schlangenförmiges
Parallelithon, das über 2 deutsche Meilen fortlief und aus
etwa 10,000 Pfeilern bestanden haben muß. Jetzt stehen
noch etwa 4000 da. —
In Rechtecken und Kreisen znsammenge-
stellte Hünen steine, Cromlechs, Hünenbetten.
Sie zeigen innerhalb der Formen eines Kreises oder eines
Rechtecks eine große Mannichfaltigkeit, kommen in Nieder-
dentschland, Skandinavien, England und Frankreich auf
gleiche Weise vor, wenn auch in verschiedenen Gegenden mit
örtlichem Typus, z. B. rechteckig in den Elbgegenden. Das
Wort Hünenbett hat eigentlich keine genau bestimmte
Bedeutung. In Niederdeutschland heißen sie auch Bül-
zenbetten; holländisch Huynen- oder Reuserbetter.
In Deutschland nennt man auch alle großen Grabhügel
Hünengräber oder Hunnenbetten (das Wort Bett
bezeichnet im Allgemeinen etwas Erhöhetes), in Däne-
mark Rund- und Longdyssers; in Schweden Tempel-
kummel, oder Fredsbana, Einfriedigung, Rees-
kühlen, Riesengruben; Troldestner, Unholdsstuben.
Im Bretonischen Ca er, Kreis, im Gälischeu Eromlech,
von crom, der Kreis; Carn, heiliger oder Orakelstein
und besonders der
Kreis solcher Steine;
englisch druidical
temples, druidi-
cal circles und
auch Cromlechs.
Die Hünenbet-
ten bestehen zumeist
aus iu die Erde ge-
setzteu großen und
kleinen Steinpfei-
lern oder aus Stein-
klötzen, selten aus
vielen weniger gro-
ßen Steinen. Bei
einigen erscheinen die stärksten Pfeiler wie ein Sessel oder
wie ein Sitz mit ausgearbeiteter Rücklehne. Die Form ist
stets rund oder rechteckig, außer in Skandinavien. Die
runden sind theils kreisförmig, theils oval, die rechteckigen
bilden theils eiu Quadrat, theils sind sie langgezogen, so
daß sie Gänge bilden; bald sind die Seiten gleichlaufend,
bald laufen sie nach einer Seite spitz zu, oder die schmalen
Enden sind bogenförmig. Die Länge ist verschieden von
10 bis zu 409 Fuß, die Zahl der Steine bis zu 200 und
mehr. Manchmal sind die Pfeilerlinien doppelt und drei-
sach. Der innere Raum, das Bett, ist in Deutschland
und Dänemark stets etwas erhöht und oft gepflastert, theils
leer, theils trägt es ein altarähnliches Bauwerk oder mehre
dergleichen, oder einen Steinpfeiler, oder einen mächtigen
Granitblock, oder
kleine Steinkreise,
die um einen Pfeiler
laufen. Grabhügel
findet man höchst
selten innerhalb der
Hünenbetten, häufig
aber neben densel-
ben. An die Pfeiler-
fignr schließen sich
von Außen meist 2
große platte Steine,
welche wohl den
Eingang bezeichne-
ten, also „Wächter";
oder zwei kleine Reihen von Pfeilern, oder lange schlangen-
förmige Pfeilergänge, ähnlich den Dracontien. Gewöhn-
lich liegen die Hünenbetten auf freien, etwas erhöhten
Stellen, theils einzeln, theils in kleineren oder größeren
Betten beisammen, oft viele nahe bei einander.
Die Schwung-, Wag- oder Wacksteine bestehen
aus einem Träger und einem schwingenden Hünenstein.
Im Wälschen Llygatine, der bezauberte; oder Logau
stones, von logan, Höhlung; in der Bretagne Logans;
franz. Pierres aux cocus, p. branlantes oder mouvantes;
englisch Rockingstones oder Routers. Es gibt aller-
Alte Steindenkmäler.
91
dings Schaukelsteine , welche die Natur geschaffen hat; die
hier in Frage stehenden sind aber wunderbare Werke von
Menschenhand. Große 'platte Steine aus einer verhält-
nißmäßig scharfen Unterlage derart im Gleichgewichte, daß
eine sehr geringe Kraft sie in Schwung bringt und eine
stärkere Kraft sie nicht in größere Bewegung versetzt, kom-
men vor. Aber zumeist sind es längliche, ballonartige
Steine, unten halbkugelsörmig, die aus einer Ebene oder
in einer schalen-
artigen Vertiefung
solchergestalt stehen,
daß sie nach jeder
Seite bewegt und
auch im Kreise her-
umbewegt werden
können, ohne daß
des Menschen Kraft
im Stande wäre, sie
umzustürzen. Sie
vibrirenlängere oder
kürzere Zeit, gebeu
auch wohl einen eige-
nen Ton von sich.
Manche Wagsteine
haben bis zu 80
Fuß Umfang n. ein
Gewicht von 8000
bis zu 10,000 Ctr. Wie war es möglich, solche Stein-
massen aufzurichten und ins Gleichgewicht zu bringen? In
England und Frankreich gibt es viele derselben; der West-
Hoadley in Süsser ist 9700 Centner schwer, jener im
hannoverschen Amte Coppenbrügge 6000 Centner; doch
ist der letztere wohl kein Werk der Kunst. Ueberall knüpfen
sich alte Sagen an die Schaukelsteine. In der Bretagne
glaubt das Volk, sie dreheten sich um die Mitternachts-
stunde von selbst herum; daher der Ausdruck pien-e deminuit.
Steinthor e
und Querbalken
aus 2 Pfeilern
und 1 Deckstein,
in Frankreich pierres
levees, in England
Sto ne h eng e' s,
hängende, aufgelegte
Steine. In der Vre-
tagne bei Anrae
stehen etwa 150 fol-
cher Steinthore, die
man dort als Li-
chaueu oder Lek a
ven bezeichnet. Sie
sind auch in Skan-
dinavien nicht selten,
stehen vereinzelt oder
in einem Hünen-
bette; in Deutsch-
land selten, aber
doch vorhanden,
z. B. bei Rahnis in Thüringen. —
Ueberdeckte Bauwerke. Bedeckte Steingebäude
aus drei oder mehr Trägern mit einem Deckstein oder
mehren Trägern mit einem Deckstein oder mit mehren, die
unvollkommen oder gar nicht geschlossen sind; Altar, Altar-
gro en und Grabkammern. Sie sind sehr häufig und
kommen auf ganz gleiche Art vor in Deutschland, Skandi-
navlen, England und Frankreich, treten aber unter zwei
Ein Dolmen-
wesentlich verschiedenen Verhältnissen auf. Entweder stehen
sie frei da, sind ungeschlossen, haben eine offene Seite, —
oder sie liegen innerhalb eines Hügels, unter hohem Erd-
reich und sind dann ganz geschlossen, oder sie stehen mit
einem langen Seitengang in Verbindung, dessen Mündung
verschlossen war. Diese verdeckten und geschlossenen Kam-
mern enthalten stets Leichenreste, sind also Grabstätten.
Offene Dachgebäude, Dolmen. Sie bestehen
aus rohen, meist
sehr großen Stei-
nen, stehen frei und
unbedeckt über der
Erde, sind nicht voll-
kommen geschlossen
u. habeu eiu Stein-
dach. Aber inner-
halb dieser Eon-
struetion kommen
große Verschieden-
heiten vor. Als
Grundtypus ist etwa
anzunehmen, wenn
ein Dachdeck- oder
Tafelstein auf 3
Trägern oder Dach-
Haltern ruht, die
uach den 3 Seiten
so daß die vierte Seite,
— also „einfache Altäre"
Tumulus mit Grabkammern.
eines Rechtecks aufgestellt sind,
gewöhnlich die südliche, offen ist;
von meist viereckiger Gestalt. Wenn aber nach 2 Seiten
die Tragsteine vermehren, nni) in gleichem Verhältniß auch
die Decksteine, dann entsteht eine längliche Form, ein
grottenartiges Bauwerk, eine „Altargrotte", die stets mehre
Dachsteine hat. Manche solcher Grotten sind 50 bis 60
Schritt lang und bestehen aus sehr vielen Trag- und Dach-
steinen.
Die rechteckige
Form herrscht vor,
doch ist auch die
runde vorhanden;
dann stehen dieTrag-
steine im Kreise,
und auch die Deck-
steiue haben eine
runde Gestalt. Der
Dachstein liegt kei-
ueswegs immer ho-
rizontal auf seinen
Trägern, sondern
zuweilen schief,
manchmal selbst mit
einer Seite aus der
Erde und mit der
andern auf dem
Träger; dann ist er
ein Dolmen incli-
nee. In den Elb-
gegenden liegt sehr
ern zwischen deu
oft der Dachstein nicht auf,
Trägern, oder ein einfacher
son „ , .
platter Stein repräsentirt
in den Hünenbetten den „Altar".
Die Höhe der Träger ist sehr verschieden; ost haben
sie über der Erde 5 bis 7 Fnß, so daß Menschen bequem
in die Grotte hineingehen können, wie bei den schwedischen
Altarkummels; oft ist der Raum viel niedriger und
manchmal der Dachstein wenig über der Erde; das sind
12*
92 Aus allen
dann die „Opferaltäre" der Schweden. Vor der Oeffnnng
des „Altars" findet man häufig einen platten Stein oder
einen aufgerichteten Pfeiler als Wächter. Die Dolmen
stehen zumeist auf natürlich oder künstlich erhöhten Punkten,
selteu auf wirklichen hohen Grabhügeln. Theils kommen
sie isolirt vor, theils bilden mehre eine Linie oder ein
Dreieck. Sehr häufig sind diese „Altäre" in den Hünen-
betten, d. h. die Pfeilerfigur umschließt einen „Altar" oder
mehre oder auch viele. Häufig kommen aber auch Dolmen
ohne Pfeilerumsatz vor.
Wir kennen eine ganz ungeheure Menge dieser Dol-
men, von dol oder taol Tafel, men, Stein, im Breto-
nischen; sie werden auch als Lech, Li ach, Li achh ouv en,
heiliger Ort der Steine bezeichnet; im Wälschen Kistvän,
Steinkiste, auch wohl Cromlech, wenn sie grottenartig
find; latein. Panum Mercurii; engl. Kistvaens; sranzös.
Pierres des fees, tables sacrdes, t. druidiques, p. levades,
p. levdes, p. couvertes, p. croutes pesees, p. des gdants,
p. de Guarquata. grottes des fees; portug. Antas. Iu
Schweden begreift man sie unter der Benennung Altar-
kummel, Tempelkummel, Ofseraltare und Grot-
tar; dänisch heißen sie Jynovne (Hünenofen), Laug-
dyssar und Runddyssar; deutsch Teufelskanzeln
und Hünenbetten.
Geschlossene Dachgebäude oder wirkliche
Grabkammern. Sind den Dolmen ähnlich, aber von
allen Seiten geschlossen und mit Erde oder Steinen über-
deckt, entweder einfache Kammern oder mit grottenartigem
Zugang, wie ihn unsere Abbildung eines solchen Grabtu-
mulus zeigt. Sie treten in Deutschland, Skandinavien,
England und Frankreich in gleicher Weise auf.
Pflasterungen, überhaupt Denkmäler aus vielen
unregelmäßigen Steinen, welche gewisse Gestalten darstellen,
aber keine „Hünenbetten" sind. Sie bestehen zumeist aus
Erdtheilen.
Rollsteinen; Vierecke und Kreise von solchen, leer oder mit
Steinen ausgefüllt, kommen in Frankreich und England
als „Druidenplätze" vor, aber viel mehr noch in Skan-
dinavien, wo sie eine großartige Malerei von Steinen
bilden. Die Ähnlichkeit mit der Mosaik hat Viereck und
Kreis, Groß und Klein herrschen zwar vor, daneben sieht
man aber auch Dreiecke und buchstabenähnliche, sehr oft
auch schiffsförmige Figuren, sogenannte Skepshögar;
oft bloß einfache Ovale, und die Mastbäume und Ruder-
bäuke sind durch Bautasteiue und Rollsteine angedeutet.
Manchmal laufen eine Menge Kreise umeinander herum,
oder sie gehen von einem Kreise in der Mitte aus, z. B. bei
Arnsdorf unweit von Frankfurt an der Oder. Die Roll-
steine walten vor, häusig sind aber auch einzelne Pfeiler
angewandt, die an den Ecken oder in der Mitte stehen;
der innere Raum ist theils leer, theils mit Rollsteinen aus-
gesetzt oder gepflastert. Oft ist eiue Anzahl solcher Figuren
von einer trockenen Mauer eingefaßt. In Schweden stehen
derartige Bauwerke oft zu Hunderten beisammen, auch iu
Dänemark findet man viele Schiffshügel, in Niederdeutsch-
land sind sie selten. Pflasterungen aus kleinen Rollsteinen
sind sehr verbreitet; viele Hünenbetten und Gräber haben
ein regelmäßiges Pflaster. Außerdem findet man oft runde
oder auch eckige, zuweilen mit einer Mauer umgebene,
gepflasterte Plätze; sie haben eine Schicht Asche über sich
und werden als Verbrennungsplätze gedient haben. Zu-
weilen laufen die Pflasterungen weit fort, z. B. in der
Lausitz. Unweit von Bremervörde liegen gepflasterte Wege,
die jetzt hoch mit Torf bedeckt sind und gewiß in ein sehr
hohes Alter hinaufreichen.
Wir beschränken uns hier auf diese Angaben; später-
hin werden wir Gelegenheit finden, in Erörterungen über
diese Steindenkmäler und deren Bedeutung für die Alter-
thümer des Menschengeschlechts näher einzugehen und auch
anderer Steiudenkmäler zu erwähnen. A.
Aus sllcn Erdtheilen.
Geographisches aus den Verhandlungen der
„British Association".
Diese Wandergesellschaft von Gelebrten, welche nach &em
Muster unfrei- deutschen Naturforschergesellschaft gebildet worden
ist, hielt diesmal im September ihre Versammlung zu Birming-
ham. Sie zerfällt in verschiedene Abtheilungen; 'Sectio» E ist
für Geographie und Ethnologie bestimmt. In England herrscht
der Mißbrauch, daß manche Gelehrte keinen Anstand nehmen,
ihre Aufsätze über irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand an
mehren Orten zu Markte zu bringen, und was sie z. B. in
London etwa in der ethnologischen oder in irgend einer andern
Gesellschaft vorgetragen und worüber die Blätter dann Bericht
erstattet haben, in der Association noch einmal vorzulesen.
Die Abtheilung für Länder- und Völkerkunde zählt allemal
eine Menge von ausgezeichneten Männern in ihren Reihen.
England ist ein Reich, das mehr als 50 Colonien in allen Erd-
theilen besitzt, deren jede von gebildeten Männern besucht wor-
den ist. So kommt es, daß England für nnsre Wissenschaft ein
so reiches Material liefert, und em Theil desselben wird alljähr-
lich in der Association bekannt gemacht.
Diesmal führte Sir H. Rawlinson den Vorsitz. Unter
den anwesenden Fremden finden wir, als Mitglieder des Ans-
schusses, Adolph Bastian, Heinrich Kiepert und Hermann
Vambery; der Präsident hielt nur diesem letztern eine Lobrede.
Dann bemerkte er, daß der Nilerforscher Baker demnächst in
Europa eintreffen werde; Livingstone sei abermals nach Afrika
gegangen, um diesmal die Gegend zwischen dem Nyassa- und
dem Tanganyika - See zu erforschen. Von Baron Karl von der
Decken'sind beim Ministerium des Auswärtigen Briefe ange-
langt. Der Reisende will den östlichen Theil'des obern Nil-
beckens erforschen. Am 15. Juni war er mit seinen zwei
Dampfern von Sansibar nach Norden abgegangen; der britische
Dampfer „Lyra" begleitete ihn. Ob es ihm gelingt, auf eiuem
der ostafrikanischen 'Ströme der Aequatorialgegend tief landein
zu dringen, das werden wir wohl im Laufe der nächsten sechs
Monate erfahren; wenn er den Dschub befahren will, muß er
zuvor die Hindernisse besiegen, welche die Barre vor dessen Mün-
dung ihm entgegenstellt. 'Dann wurde der neuen Erpedition
Halls nach den Polargegenden erwähnt, und der sehr wichtige»
Erforschung desPnrns durch Ehandless. Durch diesen Rei-
senden ist ein großes Problem der südamerikanischen Hydro-
graphie gelöst worden; er hat den ganzen Lauf dieses Flnsses
bis zum Amazonenstrom verfolgt auf eurer Strecke von 1870
Miles und eine genaue Karte entworfen. Unsere Leser wissen,
daß wir seit drei Jahren alle Nachrichten gegeben haben, welche
wir über diese wichtige Wasserstraße erhalten konnten, und wir
werden nickt ermangeln, auch die neuesteu Ergebnisse mitzu-
theilen, sobald die Arbeit des Hrn. Ehandless uns zugänglich
geworden ist.
Aus allen Erdtheilen.
93
Dann folgt ein Bericht überT. Mac Neills und Kapitän
Wilsons über die Wasserversorgung Jerusalems; die
heilige Stadt ist jetzt Mode in England; wir gehen aber auf den
Gegenstand hier nicht ein, weil wir demnächst ein deutsches Werk
über Palästina zu besprechen haben, und erwähnen nur kurz, daß
G. Grove gleichfalls Mittheiluugen über dieses Land gab.
lieber die C o m o ro -I nse ln haben wir vor einiger Zeit im
„Globus" (VII, 328) Mittheilungen gegeben; in der Association
erregten die Angaben Pelly's Aufmerksamkeit. Dieser Reisende
ist derselbe, welcher den Persischen Meerbusen genall erforscht und
eine Reise zum Beherrscher der Wahabis in Riad gemacht hat.
Die Comoren schildert er aus eigener Anschauung. Sie bilden eine
Gruppe von vier Inseln und liegen zwischen dein Norden von
Madagaskar und der ostafrikanischen Küste. Die nördlichste,
Groß-Comoro, hat ctwa 30 Miles Länge und durchschnittlich
10 Miles Breite, südlich von ihr liegt Mohilla, die kleinste
unter allen; südöstl.von dieser Johanna(besserAndschuan)und
30 Miles südöstl. Mavotta. Hier ließen sich 1841 die Fran-
zosen auf dem kleinen KüsteneilandeZa ond zi nieder, das ihnen
von einem Häuptling abgetreten wurde. Es ist nnn befestigt,
hat ein Arsenal und sollte früher zu einer Schiffsstatiou ersten
Ranges erhoben werden; seil 1848 ist aber in dieser Beziehung
nicht viel geschehen. Mayotta ist auf 30 Miles mit Korallen-
rissen umgeben; innerhalb derselben befinden sich gute Ankerstellen.
Das Haupterzeugniß ist Zucker; aber es fehlt an Arbeitskräften.
Die Insel selbst hat ungefähr 7000 Seelen; Johanna, das seinen
eigenen Sultan hat, im Ganzen nur 12,000. Hier ist eine Art
Lingua franca im Gebrauch, die sogenannte Johanna-
Sprache, doch redet man neben derselben anch das Kisa-
waheli. Beide Sprachen, und selbst das Englische, werden auf
der Insel mit arabischen Buchstaben geschrieben. Die Be-
wohner sind Mohammedaner, das Klima ist gesund und Kaffee
dasHaupterzengniß. Handelsverkehr wird mit Sansibar, Mayotta
und Madagaskar unterhalten. — Groß-Comoro zeichnet sich
durch überraschend herrliche Landschaften aus; sein Vulkan hat
8000' Höhe; sehr häufig fließen von ihm Lavaströme bis ins
Meer hinab und bilden an demselben ueue Vorgebirge oder auch
Inseln. Der englische Konsul Snnley beobachtete, daß binnen
vier Jahren an einer frühern Landungsstelle ein Lavariff eine
halbe Stunde weit ins Meer vorgerückt war. Die Hauptstadt
heißt Maroni; die Herrschaft befindet sich in den Händen
mehrer Häuptlinge.
Auch die Nordpolexpedition kam zur Erörterung. Im
Wesentlichen wurde vorgebracht, was schou in einigen Sitzungen
der londoner geographischen Gesellschaft (Glob. VIII, S. 47 ss.)
gesagt worden war. Clements R. Markham schloß sich den
Ansichten des Kapitäns SHerard Osborne an, welcher über-
hanvt den Gegenstand zuerst wieder auf das Tapet gebracht hat.
Er gibt der Fahrt durch den Smith - Sund ganz entschieden den
Vorzug vor jener über Spitzbergen und behauptet, es sei ganz
unmöglich, den Pol zu erreichen oder der Wissenschaft erhebliche
Dienste zu leisten, wenn man den Weg über Svitzvergen wähle.
Damit stimmte der Entdecker von Franklins Spuren, Sir Leo-
pold Mac Clintock, durchaus überein; wichtige Ergebnisse
könne man nur erzielen, sobald man vom Smith-Sund aus
Schlittenreisen uach Norden unternehme. — Wenn nun aber dort
offeues Polarmeer gefunden werden sollte, was sollen dann die
Schlitten ausrichten ? — Da iu Deutschland eine Erpedition über
Spitzbergen ausgerüstet werden solle, so empfehle es sich für
England, cine solche über den Smith - Sund zu unternehmen.
Dagegen erklärte sich Admiral Ommaney auch jetzt für
Spitzbergen, und Admiral Welcher that ein Gleiches. Der letz-
tere erwartete nicht viel Großes von einer Erpedition über den
Smith-Sund; auch habe die deutsche Erpedition einen bestimm-
teu und wichtigen Zweck vor Augen, nämlich zu ermitteln, wie es
sich im Osten von Spitzbergen mit der Richtung und den Grell-
zen des Golfstroms verhalte. Dagegen wandte A. Newton
ein, daß das Meer zwischen Spitzbergen nnd Nowaja
Sem lja unschiffbar sei. Aus eigenen Beobachtungen und nach
Allem, was er auf Spitzbergen selbst gehört habe, glaube er, daß
beide Länder durch eine Reihenfolge von Inseln verbunden seien.
Auf Spitzbergen habe man Rennthiere mit künstlich geschlitzten
öhren gefunden, die doch wohl nur über Land nnd Eis ans
öen bewohnten Gegenden Nordsibiriens gekommen seien.
(In dem uns vorliegenden Berichte (Athenäum Nr. 1979)
sinoen wir nicht, daß irgend einer der englischen Seefahrer der
helfen des russischen Adinirals Lütke erwähnt habe, und doch
find gelade die Arbeiten dieses ausgezeichneten Mannes für die
Regionen östlich von Spitzbergen lind für Nowaja Semlja klassisch.
Die Eisschranke, welche Lütke dort gefunden, ist auf seiner Karte
verzeichnet, und mehr als kühn ist die Annahme, daß man von
dort ans nach dem neusibirischen Archipel und den Lenamün-
düngen vordringen könne, um — Mammuthzähne zn holen
und aus dieseü einen bedeutenden Handelsartikel zu machen!
Von einer Regelmäßigkeit der Fahrten würde ohnehin gar keine
Rede sein können, und wenn ein Schiff dorthin gelangte, wo
ohnehin auf weite Strecken von der Küste das Meer höchst seicht
ist, welche Garantie hätte es sür die Möglichkeit der Rückkehr,
und in welchem Verhältnisse stände ein noch gar nicht erwiesener
Handelsvorlheil zu dem sichern Risico? A.)
E. Hopkins bestritt die Annahme, daß der Nordpol ein
mathematischer Punkt in Bezug auf die magnetische Dcclination
sei. Er glaube, es sei wahrscheinlich iu der Nähe des Pols ein
weites Gebiet magnetischer Zersetzung vorhanden.
Sehr lebhaft waren die Erörterungen über das Bronce-
zcitalter im westlichen nnd nördlichen'Europa und das, was
sich daran knüpft. T. Wright kritisirte die archäologischen An-
sichten der Geologen, nämlich jene, welche Lnbbock in seinem
Werke über vorgeschichtliche Archäologie ausgestellt habe.
Die von den skandinavischen Alterthumsforschern aufgestellte Ein-
theilung, uämlich die Annahme eines Stein-, Bronce- nnd
Eisenzeitalters sei unstatthaft. Lubbock sagt: „Broncewasfen findet
man memals zusammen mit Münzen, Töpfergeschirr oder anderen
Ueberbleibseln römischen Ursprungs." Aber dieser Ausspruch
Lubbocks sei unrichtig und zeuge vou einer ungenügenden Be-
kanntschaft mit den archäologischen Bedingungen des zu lösenden
Problems. Man habe allerdings Schwerter von Bronce neben
römischen Ueberresten gesundeu, und die am meisten ornamentalen
skandinavischen Broncestücke seien doch nur schlechte Nachahmungen
der römischen Kunst.
Lnbbock vertheidigte seine Ansichten. Schon der Umstand,
daß Broncewasfen in so großer Menge vorkommen, nnd daß
weder sie noch die zugleich mit und neben ihnen aufgefundenen
Töpfelgeschirre niit römischen, ans denselben Materialien ange-
fertigten Kunstwerken übereinstimmen, zeuge für eiu Broncezeit-
alter, ^le römische Bronce enthalte 30 Prozent Blei, und dieses
letztere finde man nicht in der Bronce des eigentlichen Bronce-
Zeitalters. Man findet Broncegeräthschaften in großer Menge
in Dänemark nnd Irland, wohin doch niemals römische Heere
gedrungen sind. I. Evans sprach sich gleichfalls für jene Drei-
theilnng aus. Die Verbindung geologischer Studien mit archäo-
logischen habe der Wissenschaft schon jetzt großen Nutzell gebracht.
Ueber die Feuersteine von Pressigny le Grand, deren
wir schon früher im Globus erwähnt haben (Vin, S. 256) svrach
I. Evans sehr ausführlich. Das genannte französische Städt-
chen liegt am kleinen Flusse Claise, etwa sieben deutsche Meilen
südlich von Tours an der Loire. Dort fanden Evans, der ver-
storbene Christy, Brouillet und Lartet eigentümlich be-
arbeitete Feuersteine in rothem Lehm, der wahrscheinlich aus der
Miocenperiode herrührt. Die Landleute bezeichnen diese Feuer-
steine iu Lehm wegen der eigenthümlichen Gestalt als Pfunde
Butter, livres de beurre. Sie haben ihre Gestalt dadurch erhal-
ten, daß eine Reihenfolge von Feuersteinplatten von den Seiten
des Kerns derart abgelöst worden ist, bis derselbe annähernd
die Gestalt eines Brotes erhielt. Wenn man eine Anzahl der-
selben neben einander legt, so ist man erstaunt über die große
Ähnlichkeit ihrer Gestalt! Die regelmäßige und saubere Art, in
welcher die Ecken abgesprengt worden sind, könnte zu der Au-
nähme verleiten, daß sie zu Werkzeugcu bestimmt gewesen seien,
etwa zu Pflugschaaren oder schweren Aerten. Man ist aber zu
dein Schlüsse gelangt, daß man an diesen Feuersteinen überhaupt
gar keine Werkzeuge vor sich habe, sondern Kerne und Klumpen,
von welchen Platten und Feuersteinmesser abgesprengt worden
sind. .Nachdem das Letztere geschehen sei, habe man diese Kerne,
als nicht weiter brauchbar, fortgeworfen. Robert und Eli e de
Beaumont hatten, 'wie wir schon früher im Globus erwähn-
ten, die Ansicht aufgestellt, daß cs sich hier lim die Ueberreste
einer Fabrik handle, in welcher Feuersteine für die Schlösser
von Schießwaffen verfertigt worden seien; aber Flintensteine sind
nicht vor dem Jahre 1709 in der französischen Armee üblich
gewesen. Jene Feuersteinkerne sind vorhistorisch; es handelt sich
bei ihnen lediglich um Bereitung vou langen Aeuerstemmessern,
welcke von den Kernen abgesprengt wurden; die letzteren warf
man sl>rt, wenn nichts mehr von ihnen abzusprengen war.
Aus einer Mittheilung von Steenstrnp und Lnbbock
geht hervor, daß diese Kerne zuerst von Dr Leveille bemerkt
worden sind. Die Pfunde Butter lagen nur 18 Zoll unter der
94 • Aus allen
Oberfläche, und auf einer Menge von Bruchstücken Holzkohle.
Einige fand man unter den Wurzeln einer mehr als dOOjäh-
rigen Eiche.
Ueber die während der letztverflossenen Jahre vielbesprochenen
Wasserfälle im Sambesi, die sogenannten Victoria-Kata-
v altert, sprach eingehend der unseren Lesern wohlbekannte Rei-
sende T. Baines, welcher dieselben 1862 besucht hat. Er war
damals mit I. Chapmau auf einer Wanderung durch Süd-
afrika, welches er von der Walsischbay iui Westen bis zur Küste
von Quilimaue durchziehen wollte, verweilte dann volle 3 Wochen
lang an den Katarakten, nahm Photographien auf und zeichnete.
Der Katarakt ist 1855 von Livingstone entdeckt worden. Der
Sambesi ist dort 2000 Aards breit und stürzt in eine etwa 400'
tiefe, 70 bis 130 Aards breite Schlucht. Aus dieser zieht das
Wasser durch eine enge Pforte am östlichen Ende ab und strömt
dann weiter durch eine sehr lange, vielfach gewundene Schlucht,
vou welcher man uochLOMiles weiter unterhalb Spuren findet.
Ans der Tiefe des Katarakts steigt der Gischt wolkenartig bis zu
1200' empor. Deshalb und wegen des gewaltigen Getöses be-
zeichnen die Makololo den Fall als Mosi oa tunya, d. h. dm
Rauch, welcher Geräusch macht. Ringsum liegt üppiger tro-
pischer Wald, in welchem ein reges Thierleben herrscht; weiter
abwärts, wo der befruchtende feuchte Niederschlag vom Katarakt
aufhört, findet man die gewöhnliche afrikanische Dürre. Baines
hat denselben ans allen Seiten, und nicht ohne große Mühselig-
feiten und Gefahren, umgangen, weil er vollständige Zeichnungen
aufnehmen wollte; der Umfang ist aber so groß, daß er nur
theilweise seinen Zweck erreichen konnte. Der'Fall ist in mehre
kleinere Katarakten getheilt; von diesen ist einer, an der west-
lichen Seite, viel abschüssiger als die anderen, weil die Felsenleiste,
welche quer über den Strom zieht, dort hinweggespült wurde.
Kirk, der bei Livingstone war, als dieser zunt zweiten Male
den Fall besuchte, bestätigte daß Baines eine getreue Schilderung
gegeben habe; die Zeichnungen, Oelsarbenskizzen und Photogra-
phien desselben seien vortrefflich. Er bemerkte, der Reisende
könne sich Glück wünschen, daß er nicht den Versuch gemacht
habe, den Sambesi in einem Boot hinabzufahren, denn auch
unterhalb der Stelle, bis zu welcher Baines gelangt sei, und der
portugiesischen Niederlassung Tete lägen sehr gefährliche Strom-
schnellen, in deren einer er', Kirk, Schiffbruch gelitten und alle
seine Instrumente, dann auch seine naturwissenschaftlichen Samm-
lungen, die Frucht sechsmonatlicher Bemühungen, verloren habe.
Aus seiner geologischen Untersuchung des Landes in der Region
der Katarakten müsse er folgern, daß dort einst ein großer
See gewesen sei. Der gegenwärtige Zustand müsse eingetreten
sein in Folge eines Erdbebens; von diesem rühren auch d:e
vou Baines geschilderten Zickzackspalten her.
So viel ist nun längst ausgemacht/daß der Sambesi keine
fahrbare Strombahn bis tief ins Innere von Ostafrika eröffnet.
Ueber die Eingebornen von Formosa sprach Consul
R. Swinhoe aus eigener Anschauung. Die wilden Kali
bewohnen eine Gebirgsgegend im südlichen Theile der Insel, und
man kann jetzt mit' verhältnißmäßig geringer Mühe zu ihnen
gelangen. Ein katholischer Priester, Fernando Sainz, hat eine
Kirche gebaut in einem Dorfe, das am Fuße des Gebirges liegt
und von Mischlingen bewohnt wird. Etwa vierzig derselben
hat er zum Christenthum bekehrt. Die Dorfbewohner sprechen
einen chinesischen Dialekt, welchen Sainz versteht; er beschäftigt
sich aber jetzt auch mit Erlernung der Kalisprache. In der Nähe
dieses Dorfes, das Bang Kinsing heißt, leben vorzugsweise
Hakka-Chinesen aus der Provinz Knang tung (Canton)
und sie haben fast ununterbrochene Fehde mit den Kalis, welche
sich bei Nacht zum Missionär schleichen müssen. Der Photograph
Edwards und Swinhoe besuchten das Dorf und nahmen 3wet
photographische Abbildungen dieser Wilden aus. Die Haut der
Frauen ist mehr oder weniger hellbräunlich; sie sehen recht hübsch
aus und werden von den' Chinesen an der Ostküste gern gehei-
ratet. Sic verlassen aber, wie der Priester sagte, ihre chinesischen
Männer bald wieder, um unter ihrem Volke zu leben. 2>n
Folge der Blutsvermischung findet man unter den Chinesen aus
Formosa viele, die einen Typus vom Kalivolke haben. Dieser
erinnert lebhaft an jenen der Tagalen auf Luzon. Die Kali
tragen Turbane, schwarzen Hüftenschurz und kurze gelbe Jacken.
Der Schaft des Speers ist von Bambus, die Säbelscheide wird
roth bemalt. Die Männer haben keine Tättowirung, die Frauen
dagegen tättowiren sich die Oberfläche der Hand. Swinhoe
meint, die Kali seien von tag alischer Abkunft. Uebrigens
wohnen in den Gebirgen Formosa's auch noch Leute von einer
ganz andern Rasse. Die wildesten derselben haben einen s£h1'
Erdtheilen.
kleinen Wuchs „und sind wahrscheinlich verwandt mit den Negritos
auf den Andamanen". Das ist aber nur eine Vermuthung;
Swinhoe hat keinen von diesen Leuten gesehen.
Ueber den uegro-europäischen Dialekt in Suri-
nam und Cura?ao sprach E. B. Tylor. Die Sprachen,
welche von den aus Westafrika nach Amerika transportirten
Sklaven mitgebracht wurden, sind zumeist verschwunden, und
was davon übrig geblieben, ist zersetzt durch die Beimischungen
aus deu Sprachen "der europäische!: Herren. (So entstand das
sogenannte Popplomento in Surinam.) Tylor hat sich mit
dem Negerenglisch in Surinam und dem Negerspanisch auf
Curayao näher beschäftigt; auf dieser Insel mußten bekanntlich
die Spanier den Holländern Platz machen. Dadurch kamen
viele holländische Wörter in das Negerspanisch, das aber immer
noch eine Art von spanischem Charakter bewahrte. Auch in
Surinam hat das Negerenglisch seit der Besitznahme durch die
Holländer seinen vorwiegend englischen Charakter nicht verloren.
Die Herrnhuter haben das Nene Testament in den Surinam-
dialekt übersetzt. „Werfend ein Netz in die See, denn sie waren
Fischer; englisch: casting a net into tlie sea, for they were
fishers; surinamisch: dem hiti netti na ini luatra; bicasi
(because) dem de fisiman.
Englisch: Even so every good tree bringeth forth good
fruit. Surinamisch: We ibrievan boen boom de meki boen
vroektoe. Ibrievan ist das englische every one; meki ist make;
boen ist das spanische bueno; boom statt tree ist holländisch,
wie vroekte (sprich frukte), Frucht, gleichfalls niederdeutsch ist.
Tylor macht einige Bemerkungen über dieses Sprachengemisch.
Zwei Völker, welche ganz oder annähernd dieselbe Sprache reden,
können von sehr verschiedener Abstammung sein; ist das Herr-
sehende Volk zahlreich und gebildet, so wird'es bei dem eroberten
oder dienenden Volke allmälig mit seiner Sprache durchdringen;
ist es nicht sehr zahlreich und weniger gebildet, dann findet das
Umgekehrte statt. Wir haben dafür eine Menge von Beispielen.
Die Landenge von Panama und d er Darien-Kanal
wurden von dem bekannten Doctor Cnllen zur Sprache
gebracht. Er schilderte die einzelnen Vorschläge, welche zur Her-
stellung einer interoeeanischen Wasserstraße gemacht worden sind,
und deren wir neulich im Globus nicht weniger als anderthalb
Dutzend aufgezählt haben. Die Strecke zwischen dem Caledonia-
Hasen und dem Golf vou San Miguel hat, ihm zufolge, vor
allen anderen erhebliche Vortheile; sie sei, abgesehen von der
Chiriquiroule, die einzige, welche auf beideu Seiten einen guten
Hafen habe. Im Jahr' 1853 wurden verschiedene Expeditionen
unternommen, um eine praktikable Linie für den Kanal aus-
findig zu machen; sie hatten aber keinen günstigen Erfolg, weil
die Leitung iu schlechten Händen, z. B. Gisborne's gewesen sei;
man untersuchte den Punkt nicht, wo ein Durchstechen der Land-
enge möglich sei, nämlich landeinwärts vom Caledoniahafen.
Dort, sagt Cnllen, bildet die Cordillera zwei Ketten, deren End-
punkte hinter einander übergreifen; zwischen ihnen läuft ein
Thal schräg in einem Winkel von etwa 20 Grad mit der Küste.
Im Jahr 1860 wurde diese Linie theilweise von Bonrdiol,
de Pnydt und Tronchon untersucht, und im folgenden Jahre
von ihnen und de Champville noch einmal; 1864 waren
dePuydt und Tronchon abermals dort; im Frühjahr 1865 wurden
dem neugranadinifchen Congresse zu Bogota von zwei Com-
Pagnien und drei Handelsfirmen Gesuche' überreicht, in denen
man um Privilegien für die Anlage eines Kanals auf dieser
Linie nachsnchte. Er würde 35 englische Meilen lang sein.
Der höchste Punkt in dem Querthale würde uicht mehr als
250' über dem Meere liegen; man'müsse aber noch eine sorg-
sältige Untersuchung anstellen.
E. Hopkins'bemerkte, daß er im Auftrage des Präsidenten
von Neugranada verschiedene Theile des Isthmus vou Panama
untersucht habe. Es sei nun seine Ueberzeuguug, daß nur von
einer einzigen praktikabeln Route für einen interoeeanischen
Schiffskanal die Rede sein könne. _ Diese laufe unweit von der
Panamabahn, und zwar vom Rio graude auf der westlichen
Seite bis zum Rio de Chagres an der atlantischen Küste. Die
Entfernung zwischen beiden Flüssen betrage 8 oder 9 Miles,
die beträchtlichste Erhebung 260 Fuß, das Gestein sei ein weicher,
zerreiblicher Granit, durch welchen man sich leichthin durcharbei-
teu könne. Man brauche nur einen mäßig breiten Durchstich von
Salzwasser zu Salzwasser, die Flutströmungen würden dann
das Uebrige thun und den Kanal frei und offen erhalten. Die
Kosten würden ungefähr 10 Million Pfd. Sterl. betragen. —
Man sieht, daß in Bezug auf diesen Kanal die Ansichten
Aus allen
immer noch weit auseinander gehen und Alles in bev Luft
schwebt. Wir wollen hier beiläufig bemerken, daß über den
Nichtzusammeuhaug der südamerikanischen Cordil-
leren mit den centralamerikanischen Gebirgen unser
Landsmann Moritz Wagner einen vortrefflichen Bericht gege-
beu hat ^Münchener Akademie der Wissenschaften, am 27. Nov.
1858); derselbe steht in den Münchener Gelehrten Anzeigen,
1859, Nr. 2, S. 18 ff. _
DieVanconverinfel vor der Nord Westküste Ame-
rika's ist, wie unsere Leser wissen, in den letzten Jahren
mehrfach untersucht worden. N. Brown schilderte die Erpe-
dition, welche er im Auftrage einer Erforschungsgesellschaft im
Sommer 1864 gemacht hat. Er zog mit einem Astronomen,
Zeichner, Naturforscher, mehren Assistenten nnd indianischen
Jägern durch die Insel. Von dem Ausgangspunkte Cowichan
Harbour ging er nach dem befestigten Jndianerdorfe Whyack
und erforschte unterwegs den großen Cowichau-See, der
22 Miles lang und bis zu % Miles breit und von zwei,
2000 bis 3000 Fuß hohen Bergketten umgeben ist. Von diesem
See ab drang er durch eine Waldgegend nach Südwesten bis
zum Nittinahtflilffe, schiffte auf Flössen denselben über
manche Stromschnellen hinab und kam nach einer sehr gefähr-
lichen Fahrt an eine 18 Miles lange, tief ins Land eindringende
Föhrde, an deren Ufern viele Jndianerdörfer liegen. — In-
zwischen hatte Lieutenant Leech die Insel vom Sooke Har-
bonr nach dem Cowichansee durchzogen; beide Partien fuhren
dann zur See nach Nanaimo an der Ostküste, erforschten die
verschiedenen Arme des Courtenayflnsses und fanden sehr*
ausgedehnte Kohlenfelder. Sie kreuzten dann die Insel in
der Richtung des Central-Lake und entdeckten unterwegs
außer süus neuen Seen auch noch mehre Flüsse. Der Centraisee
ist 18 Miles lang. Von seinen Usern gingen sie nach dem
Kleecoot-See 'und weiter zur Niederlassung Alberui; von
dort wieder nach Nanaimo. Das Gesammte des Innern ist
gebirgig, aber gut bewaldet; man sand an verschiedenen Stellen
Gold und andere Metalle, aber wenig Wiesenland. Zwischen
Nanaimo und Alberni laufen 4 verschiedene Bergketten, deren
höchste Gipfel von 3700 bis zu 5500 Fuß Höhe haben.
Der Gebrauch der Rosen im Orient.
r. Dionysos Anthios, der Blümige (nvQ-og die Blume) war
bei den Hellenen der Gott des Weines, der Bäume und Blu-
men, der seine Residenz bald in dem Blumenlande Phyllis, bald
auf dem rosenreichen Pangaeon, bald in den Rosengärten Ma-
cedoniens und Thraeiens aufschlug. Ehe er Blumen hatte, be-
kränzte er sich mit Epheu; erst nach seiner Rückkehr aus Indien
schmückte ihn Aphrodite mit einem Blumenkränze. Die alten
Hellenen waren Freunde dieser lieblichen Kinder Floras, und
diese Liebe der Alten hat sich auf die heutigen Griechen vererbt.
Die Rose hatte unter allen Blumen eine hohe Bedeutung, ihr
Aroma wurde für das edelste gehalten. Die Araber bereiteten
schon 1000 n. Chr. daraus das Rosenwasser; die christlichen
Kirchen wurden, ehe man sie zu Moscheen umwandelte, damit
gewaschen. Saladin sandte aus 500 Kameelen Rosenwasser, um
die von den Kreuzfahrern in eine Kirche umgestaltete Moschee
des Omar zu reinigen; Mahomed II. ließ die Sophienkirche in
Konstantinopel durch viele tausend Okken Rosenwasser aus-
waschen, ehe sie sür die Verehrung des Propheten geweiht wurde.
Die Bewohner Asiens besprengen Kleider nnd Gemächer, die
Perser Straßen und Wege mit Rosenwasser, eben so den in die
Wohnung tretenden Fremden als Zeichen des Willkommens.
Die Bewohner der Jonischen Inseln bespritzten mit demselben
in neuerer Zeit die griechischen Soldaten, als dieselben nach
Vereinigung der Inseln mit Griechenland dorthin kamen. Eine
Sultanin Indiens ließ in ihrem Garten eine Cisterne mit
Rosenwasser füllen, um aus dieser durch kleine Schleußen das
Wasser in dem Garten umherzuleiten, um denselben mit Rosen-
düften zu erfüllen.
Schon Homer führt als das auserwählteste Oel das Rosenöl
an, mit welchem Aphrodite den Leichnam des Patroklus salbte.
Es war jedoch dieses nicht das heute gebräuchliche ätherische Oel
der Rose, sondern durch Digestien der Rosenblätter mit fettem
Del dargestellt (s. Plinius Naturgeschichte XXI, Cap. X).
. Zu den besten Consitüren der Orientalen, die dem Fremden
besuchen präsentirt und löffelweise mit Wasser genossen
we:den, gehört der Rosenzncker(Rodosael,ar!), der durch Ein-
ruyren der frischen Rosenblätter im kochenden Znckerfyrup dar-
mtusf! alf° eine Art Conferve, in welcher man die ganzen
Rofenblatter noch unterscheiden kann. Die im April blühende
Erdtheilen. 95
Rosa centifolia besitzt leicht abführende Eigenschaften, deshalb
werden Aprilrosen-Conferven von vielen Orientalen täglich am
Morgen als angenehme Hausarznei genossen. Früher galt der
Rosenzucker als Heilmittel für Lungenkrankheiten und Krank-
heiten des Mundes.
Eines der beliebtesten Aromen des Orients ist aitch der
Rosenessig (Rodoxidon), der für das ganze Jahr vorräthig
bereitet wird, tbeils als Zusatz zum Salat, theils als stärkendes
und reizendes Mittel bei Krankheitsfällen nnd Ohnmächten.
Cataplasmen aus Rosen sind im Oriente gegen Frauenkrank-
heiten im Gebrauche. Zu dem Rosenessig nehmen etwas zu
beleibte orientalische Damen verschiedener Altersstufen löffelweise
ihre Zuflucht, um sich von der Fettsucht zu heilen nnd sich eine
sentimentale sogenannte interessante Gesichtsfarbe zu verschaffen;
ein Mittel, welches besonders zu dem letztgenannten Zwecke auch
in unseren kultivirteu Landen leider oftmals Anwendung findet
und schlimme, lange anhaltende Krankheiten hier wie im Oriente
zur Folge hat.
r- Schwammfischerei auf den Bahama-Bänken. Die
Schwammfischerei ist ein sehr einträgliches Geschäft der Um-
gebung von Key-West in Florida geworden. Im Jahre 1860
sind, nach Simmonds, dort ungefähr 100,000 Pfd. Schwämme
gesammelt worden, die einen Werth von 25,000 Dollars reprä-
sentiren. _ Die feinere Sorte Schwämme kommt aber an den
amerikanischen Küsten nicht vor.
Die Schwämme werden mit starken, zweizinkigen, an lan-
gen Stangen befestigten Gabeln von den Felsen losgestoßen. Auf
den Straßen und in der Umgebung von Nassau auf Neupro-
vidence sieht man ungeheuere Mengen von Schwämmen alle freien
Plätze und sogar die Hausdächer bedecken. Sie liegen hier zum
Trocknen, wohl auch zum Bleichen, nachdem sie vorher einige
Wochen lang vergraben gewesen sind, um die darin wohnenden
Zoophyten zu tödten, und werden dann gewaschen. Sie werden
ferner von den ihnen anhängenden Felsstückchen gereinigt, ge-
preßt und in Ballen von ungefähr 300 Pfund für' den londoner
Markt verpackt.
r. Em Begräbnißplatz in der Wüste von Atacama. Mit
Salzthnlen überladene, trockne, heftig wehende Winde konserviren
Körper, die man ihnen aussetzt. Davon haben die alten Bewoh-
ner Peru's Gebrauch gemacht, indem sie ihre Tobten aus der Erde
ließen, statt sie darunter zu bringen. In der Wüste von Ata-
eama entdeckte Dr. Reid, einer der letzten Durchforscher Peru's,
durch Zufall einen solchen Todtenplatz. Männer, Weiber, Kin-
der, 600 an der Zahl, alle völlig gut erhalten, waren in Halb-
kreisen, wie in Betrachtungen versunken, niedergesetzt. Seit
Jahrhunderten sitzeu sie da, jeder Leichnam hat neben sich einen
Krug Mais und ein Kochgesäß.
F- v- H. Jagd in Persien. Dem vor Kurzem bei F. A.
Brockhaus erschienenen vortrefflichen Werke Dr. I. E. Polacks
über Persien — wir werden dasselbe näher besprechen — ent-
nehmen wir einige interessante Details über die dortige Jagd.
Diese ist im ganzen Lande Jedermann gestattet, mit Ausnahme
einiger königlichen Reviere in der Nähe der Hauptstadt, wo
Jagdwächter aufgestellt sind, die nur gegen Bestechung dort
Jäger zulassen. Trotz dieser allgemeinen "Jagdsreiheit ist das
Wild^ ziemlich häusig,«wozu mehre Ursachen beitragen. Es wird
nämlich zum Genüsse das Fleisch der Hausthiere dem Wildpret
vorgezogen; ailch siud gute Schießwaffen in Persien sehr theuer,
und überdies versteht man die Felle der jagdbaren Thiere, mit
Ausnahme des wilden Esels und des Argalischafes, nicht zu
gerben. Die uuermeßlicheu Ebenen machen auch das Verfolgen
des Wildes nur mit ausgezeichneten Pferden und arabischen
Hunden (täzi) möglich, so daß die Jagd (schikär) bedeutende
Kosten verursacht und nur reiche Leute diesem Vergnügen nach-
gehen können. Als Jagdgewehr bedient sich der Perser "meist der
europäischen Flinte, die man englische (tufenk - e -inglis) nennt.
Zur gewöhnlichen Jagd braucht man einige berittene Bediente,
die das Wild zutreiben, nnd arabische Hunde, welche es ver-
folgen. Bei größeren Jagden bedient mau sich auch der Falken
(putsch, baz) vorzüglich zum Jagen vou Geflügel, seltener von
Gazellen. Die Falkenjagd besteht, ähnlich wie bei uns tm
Mittelalter, uoch in ziemlicher Ausdehnung, kommt aber der
hoben Kosten wegeu immer mehr in Abnahme. _
Der jetzt regierende Schah ist ein passiomrter Jagdlieb-
Haber; er unternimmt häufig Ausflüge in die Ebene von Teheran
und Rages, wo er unfern von den Rutnen letzterer Stadt auf
96
Aus eitlen Erdth eilen.
einem Hügel ein kleines Jagdschloß besitzt. Die wichtigste Hof-
jagd findet einmal im Jahre gegen Ende des Monats Dezember
im Tbale des Dschedscherndflnsses statt, wo ebenfalls ein kleines
Jagdschloß steht. Am bestimmten Jagdplatz halben bereits vor-
her zahlreich ansgestellte Treiber und Soldaten die dominirenden
Hügel besetzt; sie treiben mm dem König das Wild zn, damit
er es mit gesegneter Hand erlege. Es wird jedoch ans vorüber-
rennendes Wild von mehren Schützen zugleich geschossen; natür-
lich ist es immer die Kugel des Schah, welche das Wild erlegte.
Auf Geflügel schießt der König in der Regel allein; obwohl
etwas kurzsichtig ist er doch, wie fast alle Perser, ein guter
Schütze. Jedes Rebhuhn, worauf er zielte, wird ihm, wenn er-
es anch nicht getroffen, von der Begleitung gebracht, denn es
ziemt sich nicht, daß der Schah einen Fehlschuß gethan. Zu
diesem Zwecke führt das Gefolge frischgeschossene Rebhühner in
den Jagdtaschen, welche in erlaubter Täuschung als vou könig-
licher Hand erlegt producirt werden.
Als jagdbare Thieve kommen zur Zeit iu Persien vor:
Die Hyäne (Canis hyaena L. — Hyaena striata, perf.
kiefter) ziemlich häufig in der Nähe der Hauptstadt und wenig
gefürchtet, weil sie niemals Menschen angreift.
Der Wolf (Canis lupus L., perf. gurk) das gefährlichste
Raubthier, selbst deu Löwen nnd Tiger nicht ansgenommen,
häufig iu allen Gegenden des Landes.'
Der Schakal (Canis aureus L., perf. schagäl), wohl das
verbreitetste Thier m ganz Persien, das sogar in den Städten,
wie in Teheran, Jsfahan :e. Nachts fein widerliches Geheul
vernehmen läßt.
Der Fuchs (Canis alöpex, perf. mbäh) und der Marder
(Mustelina martes £.), ebenfalls häufig und den Hühnerställen
sehr gefährlich.
Der Tiger (Felis tigris L., perf. baber), nicht selten in
den Wäldern Masanderans, soll jedoch die Kinder, welche da-
selbst das Vieh hüten, nie angreifen.
. Der Gepard (Felis jubata. Schrei., perf. jus pelenlc),
früher zu Jagden abgerichtet, ebenfalls in den Wäldern Ma-
fanderans.
Der Luchs (Felis lynx £.) desgleichen.
Der Löwe (Felis leo L., perf. schir), ohne Mähne iu
Arabistan und in dem Gebiete des Persischen Meerbusens.
Der Leopard (Felis leopardus Cuvperf. peienk) eben-
daselbst häufig, einzeln anch an anderen Orten auf Hügeln im
Tafel lande.
Der Bär (Ursus aretos L., perf. chirs) auf deu Bergen
des Elbnrz, Elwend u. s. w., ziemlich klein, schmutzigbraun,
wird häufig eingefangen nnd vou den Schwarzen znr'Volks-
ergötznng im Lande herumgeführt.
Endlich werden die Fischotter (l^uti-a vulgaris Ercl., perf.
sekmähi) und der Biber (Castor fiber L.t perf. dschunde-
bidester) hie und da erlegt uud verwerthet.
Vegetation in Cornwallis. Cornwallis, „das H^n
von Wallis", hat ein eigeuthümliches und zwar sehr sanftes
Klima, besonders im Winter. Viele Gewächse, die bei uns den
Winter über nur in Treibhäusern am Leben bleiben, gedeihen
dort dranßen. Trotzdem Cornwallis noch nördlicher als ^0
nöi dl. Br. nnd also mit Prag, Kiew :e. ans gleicher Breite liegt,
gedeihen dort Myrthen, Lorbeeren, Fuchsien, Granatbärnne und
Hortensien im Freien bis zu ansehnlicher Höhe nnd blühen gar
üvpig. Man benutzt sie zn Hecken, Gebüschen nnd läßt sie
Sommer und Winter dranßen. Der bekannte französische Schrlst-
steller Alphons Esgniros erzählt in der Revue des deur
Mondes, d.iß er zn Grove-Hill in der Nähe von Falnionth
eine Besitzung besucht und in deren Gärten, die durch ihren
Reichthnm an die Canarifchen oder Azorischen Inseln erinnern,
Dattel-, Orange-nnd Citronenbänme gefunden habe; die beiden
letzteren blühten üppig und gaben reife Früchte. Er sah einen
Banm, von welchem an einem Tage 133 Citronen, alle von
ausgezeichneter Qnalität, gepflückt waren. Man würde glauben
in Italien oder Spanien zn sein, wenn nicht der üppige Gras-
wnchs und die dunkelblaugrünen Tinten der Bäume an das mehr
feuchte Klima Englands erinnerten. Der Eigenthümer jener
Besitzung, ein Herr For, pflanzt Gewächse von Australien und
Neuseeland, aus kälteren und gemäßigteren Gegenden neben
einander, Die große sogenannte hundertjährige Aloe oder die
amerikanische Agave steht nicht in Töpfen oder Gefäßen, ^'ie
solches in unseren Gärten der Fall ist, sondern ist in den Boden
gepflanzt und bildet natürliche Hecken nnd Alleen. Zu Peu-
i et tief, einet andetn Besitzung desselben Eigentümers, findet
man ebenfalls ein buntes Gemisch von Pflanzen verschiedener
Zonen. Wohet hat nun Cornwallis diese sanfte Lnftbefchaffen-
heil? In etstet Stelle verdankt es solche dem Seeklima,
wodurch die Winter weniger kalt, aber auch die Sommer weniger
warm sind, als im Innern des Landes. Aber die Milde der
Luft wird im S.W. Englands, wie in einem großen Theile
des nordwestlichen Europa, auch bedeutend durch' den Eiufluß
des Golfstroms vermehrt. Im Winter ist das Meer bei
Cornwallis 4 bis 5° wärmer als der Boden; dadurch wird die
Kälte der Luft gemäßigt, und wenn auch einzeln ein wenig
Schnee fällt, so schmilzt solcher auf den dem Meere zugekehrten
Hügelabhängen sofort. Vom Dezember bis März gibt die außer-
gewöhnlich milde Witterung Gelegenheit, vieles Gemüse zu
ziehen, welches für gutes Geld nach London geschickt wird.
Aber nach April ist es nicht besonders warm, und die Kornernte
sällt, da die Sommer von Cornwallis meistens feucht sind, ver-
bältnißmäßig spät, viel später als auf derselben Breite in
Deutschland'nnd Frankreich. Ans Obigem geht hervor, warum
viele Gewächse, besonders Bäume wärmerer Gegenden im nörd-
lichen Europa nicht am Leben bleiben: es fehlt ihnen nicht au
hinreichender Wärme des Sommers, aber die Strenge des Win-
ters läßt sie umkommen.
Großbritanniens Mineralerzengniffe 1864. In diesem
Jahre sind 3268 Kohlengruben in Betrieb gewesen, und
diese haben 92,737,873 Tons gefördert. Davon kommen
allein auf Durham und Northumberland mehr als 23 Millionen.
Der Kohlenexport nach dem Auslande betrug 8,275,212 Tons.
Eisen. 10,064,890 Tons Eisenerz, das aber für den Be-
darf der englischen Fabrikation nicht ausreichte, denn es wurden
mehr als '75,000 Tons eingeführt. 612 Hochöfen, welche
4,767,951 Tons Roheisen lieferten, wovon auf England
2,620,472, Schottland 1,158,750, Wales 988,729 Tons kommen.
An Roheisen wurden nur 465,951 Tons ansgeführt, alles Au-
dere ist verarbeitet worden iu 127 Eisenwerken mit 6262 Puddel-
öfeu und 718 Walzwerken.
Gold. In 5 Gruben in Merionetshire 2887 Unzen im
Werth von 9991 Pf. St.
Zinn. In Cornwallis und Devonshire wird schon seit
2000 Jahren Zinn gefördert; 15,211 Tons Zinnerz, die 10,108
Tons ergaben im Werthe von 925,969 Pf. St.
Kupfer. 192 Gruben im südwestlichen England und etwa
30 in anderen Landestheilen; 214,604 Tons Erz, welche 13,302
Tons nnd 13 Centner Erz lieferten. Eingeführt wurden außer-
dem 67,283 Kupfererz, 26,018 Kuvferregulus, 10,015 Tons
„Briefs" und Pigs", und 14,924 Tons Kupferbarren.
Blei und Silber. 94,433 Tons Bleierz ergaben 91,283
Tons Blei und 641,088 Unzen Silber.
Zink. 15,047 Tons Erz ergaben 4040 Tons Zink.
Der Gefammtwerth der Mineralien betrug an den
Erzeugungsstätten (Bausteine K nicht mitgerechnet) 31,604,047
Pf. St.; jener des geschmolzenen Metalles 15,281,869 Pf. St.,
so daß mit Hinzurechnung des Werthes der Kohlen in den
Gruben, 23,197,968 Pf, St, und etwa 172 Mill. für andere
Erdmineralien sich - eine Gesammtsumme von 39,979,837
Pf, St,, also etwa 250 Mill. Thaler herausstellt!
Die irische Nationalität schmilzt immer mehr zusammen.
Wir berichteten bereits früher (Globus V, 31) nach statistischen
Quellen, daß die Zahl derjenigen Menschen in Irland, welche
nur ihre alte keltische Muttersprache, das Ersisch, reden, 163,275
im Jahre 186 l betragen habe. Am 23. Mai 1865 hielt die
irländische Gesellschaft zn London unter dem Vorsitze des Lord
Ealthorpe ihre Jahreszusammenkunft. Prediger Thomas wies
daraus hin, wie nothwendig es sei, das irische Volk in seiner
Muttersprache zu unterrichten, und wie mangelhaft jetzt der
Schulunterricht iu derselben sei. Dabei gab er eine Statistik
der Menschen in Irland, die nur Ersisch reden. Sie vertheilen
sich auf folgende Grafschaften: Waterford 10,467, Cläre 7,126,
Cork 16,704, Kerry 24,971, Donegal 22156, Mayo 32,228,
Galway 41,512. .Es ergiebt dies etne Gesammtsumme von
155,164 Seelen, also 8111 weniger als im Jahre 1861. So
schnell nimmt die Zahl derjenigen ab, dte allein Irisch reden;
die englische Sprache greift immer mehr um sich.
Herausgegeben von Karl Andrer in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Ethnographische Schilderungen aus dem Gebiete des Amazonenstroms.
Hütten bei einer Bananenpflanzung.
sich (wie wir mehrfach im Globus hervorgehoben) heraus-
gestellt hat, daß sie für Dampfer fahrbar sind und vom
Atlantischen Weltmeere her einen Weg bis tief ins Innere
von Peru eröffnen.
Marcoy entwirft sehr eingehende Darstellungen der
Gegenden und der Völker am Ueayale; von keinem andern
Reisenden sind dieselben umfassender beschrieben worden.
Unsere Leser kennen die Charaktergemälde, welche er von
den Autis und den Chontaqniros geliefert hat (Globus
Vlli, S. 8 bis 43). Nun finden wir ihn am eigentlichen
Ueayale, auf dem Wege nach der Mission Sarayaen im
*) S, Bd. Vlii, S. 8 u. 37.
Globus IX. Nr. 4.
(Nach einer Zeichnung von Marcoy.)
hundert und aber hundert Stiche zu eiuer nervösen Reiz-
barkeit, die sich kaum beschreiben läßt.
Die Schiffe legten a,n dritten Tage der Fahrt vor
einigen Hütten an, welche in einer Bananen-Anpflanzung
standen. Sogleich drang eine Schaar von Indianern her-
vor; sie schrien laut und gaben den Reisenden Zeichen,
nicht ans Land zu kommen. Die Männer schlugen ärger-
lich und drohend mit ihren Bögen auf die Erde, die Frauen
kreischten vor Entsetzen, und eine furchtbar häßliche, abge-
magerte Alte, eine wahre Hexe, die eben der Hölle entlaufen
zu sein schieu, rannte bis dicht an den Fluß und spie mehr-
mals in denselben hinein. Trotz alledem gingen die Rei-
senden ans Land und verschenkten mancherlei Siebensachen,
13
III.*)
Fahrt auf dem Ucayale. — Region der Stechmücken. — Verwüstungen durch die Blatternkrankheit. — An der Mündung des
Pachitea. — Die Gründung der Missionen vom Kloster Ocopa aus. — Erinnerung an das Volk der Panos.— Schilderung der
Combo-Indianer. Ihre äußere Erscheinung; Männerputz; die Frauen. — Das Blasrohr und das Pfeilgift der Ticunas. —
Fang der Schildkröten; die Eier und das Oel. — Wie die Combos mit den Fingern zählen. — Die Bereitung der Kähne. —
Das Zähmeu wilder Thiere. — Allerlei Sitteu und Gebräuche.
Wir haben in früheren Mittheiluugen die interessante Lande der Combos. Das Wasser des Stromes war
Fahrt Paul Marcoy's auf dem Apn paro, d. h. dem fortan ruhig, von Stromschnellen und Felsenblöcken drohte
obern Laufe des Ucayal« geschildert. Diesen letztern keine Gefahr, aber nun begann die Gegeud, in welcher die
Namen nimmt der Strom an, nachdem der Pachitea, Stechmücken eiue geradezu unaussprechliche Plage bil-
vom Westen her, sich in ihn ergossen hat. Beide Flüsse den, namentlich znr Nachtzeit; auch Moskitouetze helfen
sind nun von der größten Wichtigkeit geworden, nachdem kaum etwas, und weiße Menschen kommen in Folge der
98
Ethnographische Schilderungen aus dem Gebiete des Amazonenstroms.
aber die Indianer zitterten. Doch zeigten sie sich nun
gastlich und brachten einige Speisen herbei.
Woher diese Furcht? Die braunen Leute fürchteten sich,
daß die Fremden ihnen die Blatteru zubringen könnten.
Diese sind die entsetzlichste Geißel, vor welcher sie viele
Meilen weit in die Wälder fliehen. Sobald die erste
Pustel sich bei Jemand zeigt, bemächtigt sich Aller ein
unaussprechlicher Schrecken; wer die Krankheit bekommt,
weiß kein anderes Mittel, als in den Fluß zu springen, um
sich abzukühlen, und ist dann allemal eine Beute des Todes.
Nicht bloß den Waffen und den Civilisationsversnchen von
Seiten der Peruaner und Brasilianer, sondern insbeson-
dere auch den Blattern muß man es zuschreiben, daß
so viele Stämme zwischen dem Huallaga, dein Maranon,
dem Ucayale und untern Amazonenstrome so sehr zu-
sammengeschmolzen oder ganz verschwunden sind. Im
18. Jahrhundert zählte man in jener Region noch mehr
als 120 Stämme; jetzt sind deren kaum noch 30 vor-
handen !
nahmen, waren aber kaum 30 im Dorfe anwesend, weil
die übrigen in den Wäldern der Jagd und auf dem Wasser
dem.Fischfang oblagen. Es war die Absicht der Leute, sich
einen Papa oder Tayta, d. h. Missionär, aus Sarayacu
zu holen.
Die Fahrt auf dem Ucayale, von Santa Rita ab, war
sehr bequem, das Strombett ohne Klippen und Baum-
stamme. Auch au Lebensmitteln hatte man Ueberfluß,
weil man in jeder Conibohütte für Nadeln, Fischangeln
und Glasperlen vollauf Maudioca, Bananen, Schildkröten
und Fleisch vom Lamantin, vom Tapir und von Affen
erhielt; auch zogeu die Ruderer manchen Fifch an Bord,
und Schildkröteneier fand man zu taufenden. Abends
gingen die Reisenden ans Land und lagerten sich, umgeben
von einem Flammenkreise, welcher die Nacht über unter-
halten wurde, nicht bloß, um die Mücken abzuwehren,
sondern die hungrigen Jaguare und die gierigen Krokodile.
Dann und wann fand sich eine kleine Horde umher-
streifender Indianer ein und blieb bis zum Morgen.
Wohnhütten der Conibos. (Nach einer Zeichnung von Marcoy.)
Fünf Tage laug verweilte Marcoy an der Mündung
des Pachitea. Dieser hat hier eine Breite von etwa
1000 Fuß; er wird 82 Lienes von dieser Stelle 'entfernt
gebildet durch die Vereinigung des Pozuzu und des Pa-
stazza, welche auf deu entgegengesetzten Abhängen der Cor-
dilleren vou Huaunco entstehen. Weiterhin empfängt ev
am rechten Ufer den Pichi, am linken deu Carapacho, Cosien-
tata und Calliseca.
Der Tampu Apurimac, welcher nach seiner Vereiui-
gung mit dem Ouillabamba Santa Ana den Namen Apn
Paro führt, heißt nach der Einmündung des Pachitea
Ucayale, d. i. Begegnung, Vereinigung. Auf einem
Hügel am Ufer lag eine Hütte der Conibos, das
erste Gebäude einer Mission, welche die Indianer, unter
dem Namen Santa Rita, an dieser Stelle gründen wollten.
Etwas entfernt standen noch einige andere luftige Gebäude
mit Dächern von Schilf oder Palmblättern. An einigen
Stellen war der Boden urbar gemacht und mit Mandioca,
Baumwolle :e. bepflanzt worden; von den etwa 129 Coni-
bos, welche solchergestalt einen Anlauf zum Ackerbau
Eiue derselben kam von einem Streifzuge gegen die
Remos zurück, welche ihnen einen Kahn nebst Rudern
gestohlen hatten. Um die Diebe zu züchtigen und ihr Eigen-
thnm wieder zu holen, waren sie Abends in den Fluß
Apujau hineingefahren, um die Remos zu überrumpeln.
Diefe waren aber auf der Hut geweseu und konnten die
Flncht ergreifen; ihre Hütten wurden niedergebrannt.
Der Fluß Capucinia, welcher von den westlichen
Ausläufern der Sierra de Cnntamana herabkommt und in
den Ucayale auf dessen rechtem Ufer mündet, bildet die
Grenze zwischen den Conibos und den Sipibos; aber
beide Völker sind stammverwandt und reden dieselbe
Sprache; auch Gesichtsbilduug und Sitten gleichen sich.
Marcoy geht (Le Tour du Monde Nr. 244) näher in
eine Schilderung der Stämme am Ucayale ein und bringt
in dieselbe eine gewisse Ordnung.
Es waren Mönche aus Lima, welche die Missionen
am Huallaga gründeten; jene in Maynas und am obern
Amazonenstrom sind ein Werk der Jesuiten von Quito.
Das apostolische Collegium zu Oeopa in der Provinz
Ethnographische Schilderungen aus
Jauja, von welchem so viele Missionäre ausgegangen sind,
wurde erst 1738 gestiftet; die Missionen des Cerro de la
Sal, im Pajoual, am Poznze und am Ueayale verdanken
ihr Entstehen Mönchen aus Oeopa. Im vorigen Jahr-
hunderte zählte man in Peru mindestens 159 Missionen;
jetzt sind im Ganzen nur noch acht übrig; zwei am Hual-
laga, eiue am Santa Catalina, unweit von Sarayacu, zwei
am Amazonenstrom und drei an: Ueayale.
Die Frauziscaner aus Lima waren die ersten, welche
jene Regionen von Pern erforschten, die zwischen den
Flüssen Hnallaga, Maranon, Ueayale und Pachitea liegen.
Sie fanden am Ufer des kleinen, am linken Ufer des
dem Gebiete des Amazonenstroms. 99
Lieues Don ihren ursprünglichen Sitzen am Apn Paro fest.
Bei ihren Wanderungen sind sie niemals über den 8. Grad
südlicher Breite hinausgekommen.
Für Marcoy's Behauptung, daß Tracht, Kleidung und
Kultus an die Traditionen des mexikanischen Hochlandes
gemahnen, welche ihrerseits die Collahnas, Aymaras und
später die Jukas in diesem Theil Amerika's (angeblich,
aber nicht nachweisbar, eingeführt hätten, fehlt jeder Be-
weis; eben so fehlt derselbe für Marcoy's fernere Annahme,
daß die Panos ihren sackartigen Nock den Völkern der
nördlichen Halbkugel entlehnt hätten. Sackartige Körper-
bekleidnngen erfindet jedes Volk sehr leicht felbst und braucht
Eine Pano-Mestize. (Nach einer Zeichnung von Marcos)
Ueayale einmündenden Flusses Sarah Geueh, der jetzt
Sarayacu heißt, ein Volk, dessen Gesichtstypus, Sprache,
Kleiduug, Sitteu und Gebräuche noch bei sechs Stämmen
vorhanden waren; diese hatten sich in unbekannter Zeit
von ihm getrennt. Das Volk ist jenes der Panos. Sie
sind aus der Gegeud am Aequator auf dein Flusse Moroua
hergekommen und haben sich au der Mündung des Hual-
fftga festgefetzt. Dort scheinen die Stämme sich schärfer
von einander getrennt zu haben. In Folge von Streitig-
fr^ten mit den Teberos ain obern Amazonenstrome (den:
^uno.uragua) zogen sie längere Zeit in den Pampas del
Sacramento umher und setzten sich am Ende etwa 50
dieselben nicht erst von anderen zu entlehnen. Die Panos,
so wird weiter gemeldet, hätten eine Art Papier ans Baum-
rinde verfertigt, welches au das mexikanische, das bekannt-
lich aus den Fasern der amerikanischen Agave, der Aloe,
bereitet wurde, erinnere. Auf demselben hätten sie, mit
Hilfe hieroglyphischer Zeichen, wichtige Begebenheiten und
die Eintheilnng des Jahres verzeichnet. Man fand Götter-
bilder aus Holz geschnitzt oder aus Thon geformt bei
ihnen, Aexte von Obsidian mit zwei Oehren für Stiele.
Sie hätten, fagt man weiter, geheimnißvolle Gebräuche
gehabt, welche sich auf deu doppelten Kultus der Sonne
und des Feuers bezogen; sie begruben ihre Todten in einem
13*
100
Ethnographische Schilderungen aus dem Gebiete des Amazonenstroms.
bemalten, irdenen Gefäße, nachdem sie die Leichen geschminkt,
geputzt und umwickelt hatten. Das Alles komme bei
anderen südlichen Völkern nicht vor; die Panos hätten in
Bezug aus das Herkommen dieser Bräuche tiefes Schweigen
bewahrt; die früheren Missionäre seien aber von allen
diesen Dingen sehr überrascht gewesen.
Das mag sein, aber man ist noch nicht berechtigt, auf
einen Zusammenhang zwischen Azteken und Panos zu
schließen. Nirgends mehr als in der Ethnographie der
alten amerikanischen Völker ist ruhige Nüchternheit am
Platze; wir haben der lächerlichen Phantastereien schon
übergenug.
Am Ende des 17. Jahrhunderts waren die Panos sehr
zusammengeschmolzen, theils in Folge der Kriege mit
anderen Völkern, theils durch die Abtrennung der Conibos,
Sipibos, Schetibos, Casibos, Chipeos und Remos. Die
Panos wohnten
damals, wie be-
merkt, am Ufer
des Sarayacn,
wo 1686 der
Pater Biedma
sie fand. Die
Patres Girbal
(ein unkritischer
Mann) u. Mar>
quez, welche die
1767 von den
bekehrten Chri-
sten zerstörten
Missionen am
Ucayale wieder
neu aufrichteten,
schätzten die An-
zahl der Panos
auf etwa 1000
Seelen, was doch
wohl um die
Hälfte zu hochge-
griffen fein mag.
Man taufte sie u.
obendrein einige
Conibos; von
den letzteren zo-
gen aber die mei-
sten wiederum
ein freies, wildes
Leben vor, und
sie thnn es noch
heute. Auf einer
Strecke von etwa 70Lienes fand Mareoy am linken Ufer des
Ucayale nur 8 Wohnungen der Conibos, am rechten Ufer
bloß 2; rechnet man jene von Santa Rita und an den
kleinen Flüssen Cipria und Hiparia hinzu, dauu kommen
für das ganze Volk etwa 600 bis 700 Seelen heraus.
Auch sie werden verschwinden.
Der Conibo ist 1 Meter und 50 bis 60 Centinieter
hoch, fchwerfällig gebaut, mit breitem Brustkasten; er hat
eiu rundes Gesicht, das Weiße in dem schräggestellten Auge
ist gelblich, die Pupille tabacksbrauu, die Nase kurz und
am Ende breit („geplatscht"); die Lippen sind dick, die
Zähne gelb aber wohlgestellt, und das Zahnfleisch wird
mit Nanamucukraut (Peperomia tinctorioides) schwarz
gefärbt. In dem Ausdruck der Gesichtszüge liegt jenes
eigentümliche Gemisch von Verschwommenheit und Melau-
cholie, welches wir bei der Mehrzahl der „Wilden" in Peru
Der letzte Pauo von unvernüschteni Blute. (Nach einer Zeichnung von Marcoy.)
finden; aber beim Conibo, dessen Gesicht beinahe kreisrund
ist, kommt dadurch etwas Gutmüthiges, man möchte fast
sagen etwas Naives in die Physiognomie. Die Farbe ist
sehr dunkel, aber von einer gemischten und unbestimmten
Nuance, etwa jener zwischen neuem und altem Mahagony-
holz, nnd die Haut sehr rauh anzufühlen. Das kommt
von den Mückenstichen. Das schwarze, straffe Haar ist
voll; vom Barthaar siudet man kaum einige spärliche
Haare auf Oberlippe und Kinn. Wenn Pater Girbal
äußert, die Conibos fähen beinahe fo weiß aus wie die
Spauier und hätten dichten Bart, fo sagt er die Unwahrheit.
Die Frauen sind klein, von untersetztem Wuchs,
haben aber nicht die mageren Beine und dicken runden
Bäuche, die man bei so vielen Weibern der südlichen
Stämme fiudet. Trotz der Mücken gehen sie fast ganz
nackt nnd haben einen nur schmalen Schurz von braunem
Zeug um die
Hüften gefchlnn-
gen. Die Män-
ner tragen einen
braunen Sack
( Tari) aus
Baumwollen-
zeug; er wird
zum Schmucke
mit allerlei Fi-
gureu bemalt.
Beide Gefchlech-
ter bemalen das
Gesicht mit Roth
und Schwarz;
die elftere Farbe
wird aus dem
£)rleaus(Rocou,
Bixa orellana)
gewonnen, die
zweite aus dein
Genipa (Hui-
toch); Roth wird
nur für das Ge-
ficht verwandt,
Schwarz für alle
anderen Körper-
theile.
Bei vielen In-
dianerstämmen
machen wir die
Wahrnehmung,
daß die Männer-
ungleich putzsüch-
tiger sind als die Frauen. Jeue sitzen stundenlaug, um Haare
auszupflücken oder sich zu bemalen, betrachten sich selbst-
gefällig in einem kleinen Spiegel, besonders an Galatagen,
wenn sie sich anch mit weißen und schwarzen Glasperlen
(Chaquiras) behängt haben. Die Fassung dieser Bijour
besorgen sie selbst; unser Bild zeigt, in welcher Weise das
geschieht. Die Frauen tragen Halsbänder, hängen auch
wohl ein Stück Silber oder eine Kupfermünze daran, oder,
falls sie dergleichen nicht haben, einen Fingerknochen vom
Brüllaffen (Simia Belzebuth).
Manche Conibos gehen alljährlich einmal nach der
nächsten Mission, um Beile, Messer und Perlen zu holen.
Sie gebeu dasür Schildkröteusett und Wachs.
Den Hut haben sie in den Missionen kennen gelernt;
sie verfertigen sich diese Kopfbedeckung aus Stengeln der
Palmblätter. Alle Arbeit wird von der Frau besorgt;
102 Ethnographische Schilderungen aus
sie macht den Boden urbar, säet und Pflanzt, besorgt die
Ernte, trägt Holz und Wasser herbei, bereitet Speisen und
Getränke, webt Zeug, sammelt Wachs und Honig ein, der-
fertigt und brennt die Töpfe und bemalt dieselben auch
mit zierlichen Figuren. Auch muß sie, wenn der Mann
einen Ausflug zu Schiff unternehmen will, alles Nöthige
im Kahn besorgen und darf besonders den Picha.nicht der-
gessen, d. h. den Nachtsack, oder besser gesagt die Reisetasche,
dem Gebiete des Amazonenstroms.
thun, und hat auch denselben Schnupfapparat (Mob. VIII,
S. 12), welcher Chicachauh genannt wird.
Als Waffen dienen Bogen, Pfeile, Keule und Blas-
rohr. Aeltere Reifeude erzählen von Schilden aus Tapir-
haut und Lanzen aus Palmenholz, aber dergleichen sind
jetzt nicht mehr vorhanden. Bogen und Keulen werden aus
dem Holze der ChoutaPalme (Oreodoxa) verfertigt, die
Sehue des Bogeus machen die Frauen aus Blattfasern der
Ein Nemo-Indianer. (Nach einer Zeichnung von Marcoh,)
welche auch vou ihr verfertigt worden ist. Auf diese legt
der Stutzer großen Werth, denn sie enthält das aus zwei
scharfen Muschelu verfertigte Instrument zum Auspflücken
der Haare, den Tfanu; sodann die Chicapnta, Tabacks-
dose. Der Taback (Chica) wird aber nur als Gesund-
heitsmittel gebraucht; man schimpft das grüne zum feinsten
Pulver zerriebene Kraut, um den Schnupfen oder Kopf-
schmerz zu vertreiben, in ähnlicher Weise wie die Autis es
Mauritiapalme; die alten Leute verstehen sich auf Her-
stellung trefflicher Pfeile aus dem Blüthenschast der Gyne-
ria saccliaroides.
Das Blasrohr, dessen sich nicht blos die Conibos,
sondern auch die meisten Eingebornen am Ucayale und
Maranon bedienen, wird von den Leberos eingetauscht.
Diese wohnen am linken Ufer des Tuuguragua (des obern
Marauon), iin Innern, zwischen den Flüssen Zamora und
Ethnographische Schilderungen aus
Moroua. Der Handelswerth eines solchen Blasrohrs
beträgt nach unserm Geld etwa 2 Thaler 20 Silbergroschen.
Die Waffe ist vortrefflich für die Jagd geeignet; die Pfeile,
welche man aus ihr schießt, können recht eigentlich mit
Stricknadeln verglichen werden. Mau nimmt dazu Blatt-
stiele von Palmen und befestigt au denselben einen Flocken
vegetabilischer Seide vom Bombax; die Spitze ist einge-
kerbt, damit sie in der Wunde abbreche, und mit dem Gifte
der Ticuuas getränkt. Es schadet nicht, daß es sich dem
Blute mittheilt, und wirkt auf das verwundete Thier betau-
beud. Ein Vogel, der anch nur deu leichtesten Stich von
einem solcheu Pfeil bekommen hat, wird struppig am Ge-
dem Gebiete des Amazonenstroms. 103
Wälder und Flüsse könnten dem Conibo eine sehr reich-
liche und mannigfaltige Nahrung liefern, aber daraus macht
er sich wenig; er ist recht eigentlich ein Chelenophage,
ein Schildkrötenesser. Die Schildkröte spielt in seinem
ganzen Leben und Webeu eine Hauptrolle. Manche liebe
lange Stunde liegt er am Ufer, um die Eigeuthümlichkeiten
dieses Thieres gründlich zu beobachten.
Am Ucayäle legen die Schildkröten zwischen dem
15. August und dem 1. September ihre Eier ab. Um diese
Zeit ist der Strom niedrig und die weiten, sandigen Ufer
liegen trocken. Der Conibo ist nun in seiner besten Heiter-
keit. Mehre Familien machen gemeinschaftliche Sache,
Eine Conibo-Frau. (Nach einer Zeichnung von Marcoy.)
sieder, kann nicht mehr auf deu Beinen stehen, taumelt hin
und her und fällt nach etwa 10 Minuten um; ein Affe
nach 6 bis 8, ein Peceari nach 12 oder 15 Minuten. Die
Indianer am Ucayale bedienen sich des Giftes nur auf der
Thierjagd, jeue ain Amazonenstrom vergiften aber auch
ihre Kriegslanzen. *)
*) Nicht blos die Xeberos verfertigen Blasröhre (Carba-
canas oder Pupunas; auch die Ticuuas, Aahuas uud^ einige
andere Stämme am Amazonen ström liefern dergleichen; sie wer-
den aber nicht, wie Humboldt gemeint hat, aus einem Bambus-
stamme verfertigt, sondern mit großer Kunst und Sorgfalt aus
Palmstaminen. — Die Combazas in den Missionen am Hnallaga,
tue Bewohner von Lamas, Tarapote und Balzapuerta an dem-
selben Strome, sodann die Xeberos und Aakuas am obern
Amazonenstrome treiben Handel mit den von ihnen für die
schiffen sich eiu und fahren nach solchen Plätzen, wo sie eine
reichliche Ernte zu finden hoffen.
Sobald die Fischer am Ufer gewisse Linien int Sande
bemerken, wissen sie, daß dort Schildkröten ihren Zug
gehabt haben. Sie bauen einige Hütten und warten im
Schatten derselben ruhig ab, bis die Amphibien erscheinen.
So genau wissen sie die Zeit zu berechnen, daß allemal nach
ein paar Tagen der ersehnte Augenblick erscheint.
Es ist dunkle Nacht. Zwischen Mitternacht und zwei
Jäger verfertigten Giften. Diese aber kommen an Stärke jenen
der Ticunas nicht gleich. Von diesem hat ein Topfcheu vou
der Größe eines Hühnereies einen Werth von etwa 15 Francs
und ist dreimal so thener wie jenes der anderen Stämme. Salz
und Zucker sollen als Gegengifte wirksam sem.
104 Ethnographische Schilderungen aus
Uhr Morgens. Aus der Ferne vernimmt man ein Ge-
räusch, als ob die Springflut heranbrause. Der Strom
wallt aus, und dann kommen tausend uud abermals tausend
Schildkröten ans Ufer. Die Conibos verhalten sich in
ihren Hütten ganz ruhig uud warten den geeigneten Augen-
blick ab. Die Schildkröten ziehen in verschiedenen Ab-
Heilungen auf das Land, kratzen mit ihren Vorderfüßen
ungemein rasch einen manchmal bis zu 600 Fuß langen,
etwa 1 Elle tiefen und 2 Ellen breiten Graben auf und arbei-
ten dabei fo hitzig, daß sie von einer förmlichen Staubwolke
umgeben sind. Sobald der Graben tief und breit genug
ist, klettert die Schildkröte an den Rand desselben hinauf,
Ein Combo-Stutzer. (Nach
dreht sich plötzlich um und läßt nun ihre Eier hineinfallen,
mindestens 40 und nie mehr als 60 Stück. Sobald dies
geschehen ist, kratzt sie mit den Hinterfüßen und füllt ihrer-
feits den Graben aus. Bei dem hastigen Durcheinander
so vieler tausend Amphibien wird manches Thier lebendig
begraben. Das ganze Geschäft nimmt kaum 20 Minuten
in Anspruch, und das Heer eilt wieder dem Wasser zu.
Nun ist die rechte Zeit für die Combos gekommen.
Sie springen aus den Hütten, nicht etwa um deu Schild-
kröten den Rückzug abzuschneiden, denn das wäre bei der
Ungeheuern Menge dieser Thiere geradezu unmöglich, !^u-
dern um am Rande des Zuges fo viele als irgend möglich
einer Zeichnung von Marcoy.)
au den vier Füßen ein, damit sie nicht fortlaufen, und
bindet sie paarweis aneinander. Sie ziehen nun den Kopf
ins Gehäuse ein uud geben kein Lebenszeichen von sich.
Man wirst sie alle in eine Grube und bedeckt diese mit
nassen Zweigen.
Das gelbe Fett wird geschmolzen und abgeschäumt;
es ist dann ganz klar und farblos, verliert auch das Kleber
rige und wird aus irdene Gefäße gefüllt. Aller Rückstand
wird ins Wasser geworfen und von Fischen und Caymans
gierig verschluckt.
Inzwischen hat man die Schildkröteneier nicht etwa
vergessen. Man scharrt sie aus dem Graben hervor und
den: Gebiete des Amazonenstroms.
auf den Rücken zu legeu, und auf diese Art werden hun-
derte ihnen zur Beute.
Am Morgen beginnt das Abschlachten. Man zerhäm-
mert den dicken Panzer mit Beilen und Keulen, reißt die
dampfenden Eingeweide heraus und wirft sie den Frauen
zu; diese lösen dann das gelbe, feine Fett ab, das delieater
ist als Gänseschmalz. Alles Uebrige gibt ein leckeres Mahl
für die Geier und Fischadler, die sich bereits in mächtigen
Schwärmen eiugefuudeu haben. Uebrigens läßt man
einige hundert Schildkröten am Leben; ein Theil derselben
dient zur Nahrung, ein anderer wird nach den Missionen
gebracht und verkauft. Diefen schneidet man die Sehnen
Ethnographische Schilderungen aus
wirft sie in einen zu diesem Zwecke sorgfältig gereinigten
Kahn, der als eiue Art von Presse benutzt wird. Die
Haut des Eies ist weich und lederartig; man durchsticht
dieselbe mit sünfziukigen Pfeilen, und dann fließt die gelbe,
ölige Masse heraus. Sie wird in großen Muscheln gesam-
inclt; man kocht das Oel, schäumt es ab, thut etwas Salz
dazu und füllt es dann anf große Krüge. So gewinnt
man eine Handelswaare, gegen welche man, wie schon
bemerkt, in den Missionen Messer, Angeln und Speer-
spitzen eintauscht. Die letzteren bestehen aus alten Nägeln,
welche von den getauften Indianern in Sarayaeu in g'eeig-
neter Weise umgeschmiedet werden. Man harpunirt ver-
mittelst dieser Werkzeuge Schildkröten, wenn dieselben in
dem Gebiete des Amazoneustroms, 105
denn er will mit seiner Person einen möglichst guten Ein-
druck machen. Oelgesäße und lebendige Schildkröten bringt
er in der Mitte des Kahns unter, die ganze Familie steigt
ein, und das Fahrzeug treibt stromabwärts. Bei der
Mission schüttelt der Patriarch oder der Schönredner, —
denn auch daran fehlt es den Indianern nicht, — sein
langes Haar und kämmt es noch einmal, legt frisches Roth
aufs Gesicht, läßt die Frauen zurück, und wenn er an Ort
und Stelle ist, beginnt er zu reden: „Ich habe frische
Eharapas (Schildkröten); Fett und Oel lassen nichts zu
wünschen übrig." Der Missionär fragt, wie viel Waare
angebracht worden fei? Nun reckt der Combo sich in die
Höhe, kratzt hinter dem Ohre und scheint verlegen. Nach-
Leichenklage bei den Conibos. 0
dichten Massen auf der Oberfläche des Wassers schwimmen
und aus einem Fluß in den andern ziehen.
Der Fischer wartet am Ufer seine Zeit ab. Er sieht
einen Schwärm näher kommen, spannt seinen Bogen, legt
einen Pfeil aus, au welchem er das kleine Harpuneneisen
befestigt hat, zielt horizontal, hebt dann plötzlich den Bogen
in die Höhe, läßt den Pfeil einen Bogen beschreiben, und
zwar so, daß er beim Herabfallen die Stelle trifft, an welcher
die Schildkröte den Kopf aus ihrem Panzer herausgestreckt
hat. Nicht selten auch springen mehre Indianer in einen
Kahn und Verfölgen den Schwärm; sie machen allemal gute
Beute. Dabei geht es lustig her, und das muntere Schreien
und Lachen nimmt kein Ende.
> Sobald eine Ladung Waare beisammen ist, trifft man
Vorbereitungen zur Fahrt nach der Mission. Der Eonibo
wascht sich, pflückt die Haare ans und kämmt sich sogar,
Globus IX. Nr. 4.
h einer Zeichnung von Marcoy.)
dem er sich etwas besonnen, antwortet er: Atschupre,
und dabei krümmt er Daumen und Zeigefinger. Dann
fügt er hinzu: Rrabni, knickt Mittelfinger und Ring-
singer ein und wiederholt dieselben Worte, bis er mit seiner
Aufzählung sertig ist.
Atschupre bedeutet 1 und Rrabui 2. Die Sprache
der Conibos kennt nur diese beiden Cardinalzahlen; was
darüber hinausgeht, ist der Ouechuasprache entlehnt, also
quimsa 3, tahua 4, picheca 5 und so fort. Das Oue-
chua ist seit 300 Jahren durch die Missionäre zu einer
großen Verbreitung gelangt, und heute kann der Combo bis
1000 und mehr zählen. ^
Wir wollen auch einige Worte über das verfertigen
der Kähne sagen. Sie benutzen dazu deu Eapiruua-
bäum (Cedrela odorata). Das Fahrzeug ist zwischen
10 und 25 Fuß lang; im letztern Falle nimmt die Arbeit
14
106 Ethnographische Schilderungen au
manchmal zwei Jahre in Anspruch! Der Baum wird
mit der Axt gefällt und muß einen Monat lang trocknen,
dann verbrennt man die Blätter, hackt die Aeste ab, sängt
mit dem Behauen an und höhlt den Stamm mit Art und
Feuer aus. Dabei muß sehr sorgfältig Obacht gegeben
werden, damit das Feuer keinen Schaden anrichte; zuletzt
wird mit dem Messer nachgeholfen. Solch ein Fahrzeug
muß natürlich für den Indianer großen Werth haben, und
trotzdem kommt es vor, daß er es gegen eine Axt oder ein
Beil vertauscht; manchmal werden aber 4 oder 6 Sterte
dafür bezahlt. Das Holz hält sich auch im Wasser viele
Jahre lang ganz vortrefflich, inib die Missionäre lassen
Bretter daraus verfertigen.
Der Conibo denkt in Bezug auf Lebensmittel niemals
über das Heute hinaus; das Morgen kümmert ihn gar
nicht, und auf die Jagd geht er nur, wenn der Hunger ihu
zwingt. Der Schildkrötenfang macht ihm Vergnügen,
aber er beschäftigt sich mit demselben vorzugsweise nur
deßhalb, weil er sich Beile und Messer und Putzsachen ver-
schaffen will. Inmitten der üppigsten Naturfülle hat er
manchmal kaum das Allernothwendigste zum Leben, aber
auch dann ist er gastfrei. Einige Conibos haben in den
Missionen einen schwachen Begriff von Ackerbau erhalten
und haben Pflanzungen im Walde, die aber allemal sehr
klein sind und aus einigen Bananen, einigem Zuckerrohr,
ein paar Baumwollenstauden, etwas Taback, Roeon und
Erdnüssen bestehen. Das Ackerbauwerkzeug besteht aus
dem Schulterblatt eiues Lamantin, welches an einen Stiel
befestigt worden ist.
Merkwürdig ist die Gabe dieser Indianer für das
Zähmen von Thieren. Junge Tapirs und Peccaris
laufen ihnen wie junge Hunde nach und gehorchen den
Befehlen. Aras, Pfefferfresser und manche andere gezähmte
Vögel fliegen aus der Hütte iu den Wald uud kommen
regelmäßig wieder. Hauptliebling aber ist der Affe, dessen
Sprünge und lustige Fratzen den übrigens melancholischen
Conibo stets ergötzen. Aber wenn der Indianer betrunken
ist, trifft es sich doch, daß er seinen Liebling todt schlägt.
Bei der Verheiratung finden keine besonderen Feier-
lichkeiten statt. Die Geburt eiues Mädchens ist den: Vater
so gleichgiltig, ja so widerwärtig, daß er, wenn man ihm
dieselbe meldet, sein Moskitonetz anspeit; dagegen schlägt
er vor Freude mit dem Bogen auf die Erde, wenn ein
Knabe zur Welt gekommen ist, und sagt der Mutter freund-
liche Worte. Wenn diese nach der Geburt eines Mädchens
vom Flusse zurückkommt, in welchem sie sich uud das kleine
Geschöpf gewaschen hat, senkt sie beim Eintreten iu die
Hütte den Kopf und ist so beschämt, daß sie kein Wort
spricht. Früher drückte man den Kindern die Köpfe platt;
feit etwa einen: Jahrhundert ist aber dieser Gebrauch in
Abgang gekommen.
Das Mannbarwerden der Mädchen feiert man nüt
großen Festlichkeiten. Dabei werden neue Flöten gespielt,
denn das Ehebianabiqni-Fest soll würdig begangen
werden, und es ist dabei ausnahmsweise den Frauen
erlaubt, gemeinschaftlich mit den Männern zu tanzen.
Neben ^ der Flöte mit fünf Löchern erschallt die Tronunel,
Kntukutu, welche aus einem hohlen, mit Kieseln ange-
füllten Kürbis besteht. Die jungen Mädchen müssen sich toll
und voll trinken und werden einen Tag und eiue Nacht lang
von den alten Frauen im Tanz herumgedreht, bis sie nieder-
sinken und wie Leichen am Boden liegen.
Die Combos machen sich eine Vorstellung von einem
höchsten Wesen, das Himmel und Erde geschaffen hat und
bald Papa, Vater, bald Huchi, Großvater, genannt
wird. Dieser Gott hat Menschengestalt, füllt den Welt-
dem Gebiete des Amazonenstroms.
räum aus, bleibt unsichtbar und ist, nachdem er die Erde
erschaffen, zu den Sternen aufgeflogen; von diesen herab
lenkt er Alles. Man beweist ihm keine Verehrung uud
erinnert sich seitler eigentlich nur, weuu die Pampa del
Saeramento vou Erdbeben heimgesucht wird. Diese ent-
stehen, wenn der Große Geist seiue himmlische Wohnung
verläßt, um einmal nachzuseheu, ob die Erde auch noch da
sei. Die Conibos lansen aus den Hütten, tanzen, springen
und rufen ihm zu, daß sie noch leben.
Der böse Geist Unrima wohnt im Innern der
Erde; durch ihn kommt alles Unglück, und er wird so sehr
gefürchtet, daß man nur ungern seinen Namen ausspricht.
Die Zauberer, welche zugleich Aerzte siud, stehen jedoch mit
ihm aitf gutem Fuße, haben Mittel gegen Schlangenbiß
und Insektenstiche, Amnlete und sogar Liebestränke; diese
letzteren werden ans dem Fleisch und den Augen des
Cuchusca (Delphinus Amazoniensis) bereitet. Diese
Nubues oder Teufelsdoctoreu werden bei allen wichtigen
Angelegenheiten um Rath gefragt und thnn nichts umsonst;
manchmal werden sie aber auch sehr geprügelt, z. B. wenn
sie Heilung versprochen haben und der Kranke dennoch
stirbl. Der Combo kommt in einen Himmel, in welchem
es sehr kriegerisch zugeht, denn zum Zeitvertreib hat ei
Kampfspiele, hübsche Mädchen (Ai'bo muca'i) sind ihm zu
Wille,r, und er findet ganze Berge, die aus deu besten
Speisen bestehen; berauscheudes Getränk fließt in mächtigen
Strömen. Das ist doch noch ein Paradies, welches sich
für einen Indianer der Mühe verlohnt. Die Leiche wird
in einen Sackrock (Tan) gewickelt, bekommt in die rechte
Hand Pfeil und Bogen, man bemalt das Antlitz mit Roth
uud Schwarz und steckt das Gesicht in ein Trinkgeschirr,
eine Kalebasse. Dann wird er mit einer Lamantinhaut
umwunden und sieht nun aus wie eiue Carotte Taback.
Die Frauen tanzen und singen Klagelieder, und bei Sonnen-
Untergang legt man den Todten in ein großes Thongefäß,
welches vergraben wird.
Wir können nicht umhin, einer abscheulichen Wider-
Wertigkeit zu erwähnen. Die Conibos verzehren leiden-
schaftlich gern Ungeziefer; aber auch viele andere Indianer-
stännne, und nicht blos wilde, sind Pthirophagen. Auch
Stechmücken, die sich mit Blut vollgesogen haben, sind für
den Conibo ein leckerer Fraß.
Das Volk gehörte iin 17. Jahrhundert zu deu mäch-
tigsten in der Pampa del Saeramento; jetzt ist es dem
Untergange nahe uud zerfällt in gauz kleine Sippen, deren
jede ans einigen wenigen Familien besteht. Sie leben
zerstreut am linken Ufer des Ucayale. Der Conibo haßt
ingrimmig feine Nachbarn, die Casibos oder Caschibos
am Pachitea, nicht minder die Nemos imd die Amahua-
eas am rechteu User des Ucayale. Aber die verschiedene,:
Stämme führen jetzt keine Vernichtungskriege mehr gegen
einander. Ein Theil ihrer frühern Wildheit hat sich ver-
loren, zur (Zivilisation sind sie jedoch nicht gelangt.
Wir haben früher ein kleines Vocabularium aus den
Sprachen der Antis und der Chontaquiros mitgetheilt
(Globus VIII, S. 15 uud 39). Wir wollen aus jener
der Combos die Wörter für die dort aufgeführten Gegen-
stände mittheilen. Ein Vergleich kann zeigen, daß die drei
Idiome dnrchans verschieden sind.
Baumwolle, Imasmue, Genipahn, nane (bei den An-
Zucker, sanipoto, lis ana),
Cacao, turampi(wie bei den Mcutioc, adsa,
^ Chontaquiros), Mais, seci (im Anti sinci,
Canneel, chitani, ^ im Chontaqniro siji),
Rocon, mase, Tciptl', auha;
A. Kayser: Ebbe und Flut.
107
Bär, huiso,
Schlange, runi,
Peccari-Schwein,
maeüa,
Asse, rino,
Hund, huchete,
Geier, schiqui,
yaua
Hahn, ituri buene;
Henne, ituri,
Papagey, baüa,
Taube, nubul,
Fisch, huaca,
Spinne, vinacua,
Fliege, nabu,
Mücke, xio,
Ameise, isiqui,
Banane, paranta.
Die letztere heißt im Antis xarianti, im Chontacsuiro
parisanta. Diese Pflanze und der Mais bedürfen des An-
baues; sie selber und ihre Benennungen sind Wohl den drei
Völkern von Außen her zugebracht worden.
Ebbe u
Von Prof. A. K
Unter Ebbe und Flut verstehen wir das in ungefähr
25 Stunden zweimal wiederkehrende Fallen und Steigen
des Meeres. Wegen der regelmäßigen Wiederkehr in be-
stimmten Zwischenräumen nennen wir diese Meeresschwan-
kungeu Gezeiten, ein Wort, das anch in dem angel- und
niedersächsischen tide, tides, low tide, liigh tide wieder
klingt. Hat sich das Meer in Folge dieser regelmäßigen
Schwingung bis zu seinem tiefsten Niveaupunkte zurück-
gezogen, um nun den Schritt nach einigen Minuten der
Ruhe — „todtes Wasser" sagt der Seemann — wieder
umzulenken, so hebt die Flut an — flux de la mer nennt
sie der Franzose. Sie dauert so lange, als das Wasser
immer höher und höher steigt, bis es für das Mal deu
höchsten Punkt gewonnen hat und dann, eine kurze Weile
die Höhe behauptend, wiederum zurücktritt. In diesem
Momente beginnt die Ebbe, welche der Franzose darum
als reflux de la mer bezeichnet.
Die Zeit, welche zwischen dein tiefsten und höchsten
Wasserstande verfließt, ist nicht eonstant; sie beträgt durch-
schnittlich 6 Stunden 50 Minuten. Ebbe autb Flut
erfordern daher durchschnittlich 12Vs Stunden; so kommt
es, daß der Moment des höchsten und tiefsten Wasserstandes
täglich ungefähr eine Stunde vorrückt. Die Beschleunigung
oder Verzögerung schließt sich dem scheinbaren Tageslaufe
des Mondes um die Erde an, so daß während je zweier
Durchgänge des Mondes durch deu Meridian eines Ortes
zweimal Hock) - und zweimal Tieswasser eintritt.
Die Flut, welche die Sonne und den Mond im Meri-
dian hat, heißt Zenithflnt, die zu gleicher Zeit eintretende
antipodarische Nadirflut. Es ist jedoch zu bemerken, daß
in der That das Hochwasser nur au sehr wenigen Meeres-
stellen mit dein Durchgange der Sonne und des Mondes
durch deu Meridian eines Ortes genau zusammenfällt.
Zur Zeit des Voll- und Neumonds geht Luna am raschesten
auf ihrer Wanderung um die Erde, sie gebraucht nur
24 Stunden 87 Minuten, so viel Zeit verstreicht dann auch
zwischen je drei Fluthöhen. Schläfriger schreitet sie beim
ersten und letzten Viertel einher; dann gebraucht die Laug-
same 25 Stunden 27 Minuten, uud ebeu so viel Zeit liegt
auch zwischen drei Fluthöhen. Nicht weniger Abwechselung
tritt in der Höhe zum Vorschein, zu welcher die Flut auf-
steigt, oder der Tiefe, zu welcher die Ebbe hinabsinkt; auch
dieser Wechsel schließt sich dem Mondlause au. Um die
Zeit des Neu-und Vollmonds steigt die Flut höher als
zur Zeit der beiden Mondviertel. Der Deutsche nennt
d Flut.
' in Paderborn.
jene bezeichnend Springflut, diese trefflich Nippflut.
In der Nordsee treteil die Vollmoudspriugfluten jedoch erst
ungefähr zwei Tage nach dem Vollmonde ein. Die höchsten
Springfluten zeigen sich zur Zeit der Aequiuoctieu, sowie
hei Mond - und Sonnenfinsternissen. Ebenso steigt die
Flut höher, wenn der Mond in der Erdnähe (Pen-
gäum) sich befindet, als wenn er in der Erdferne
(Apogäum) steht.
Das Phänomen der Gezeiten tritt mit besonderer
Energie an den Küsten der offenen Meere auf. An den
in das offene Meer hinaustretenden Küsten von Brest und
Cap Lizard steigen die Springfluten auf 18 bis 19 Fuß;
im Golf von Martaban (am Indischen Oeean) bis 23 Fuß;
in der Chesapeake-Bay, unweit Annapolis (Maryland),
bis 30 Fuß; frei St. Malo (Departement der Jlle uud
Vilaine) 46 Fuß; iu der Fundy-Bay (an der Nordost-
grenze der Vereinigten Staaten) schwillt sie bis zu der
enormen Höhe von 70 Fuß an.
Die an solchen Küsten mündenden Flüsse nehmen an
den Schwankungen des Meeresniveaus Theil. Iu der
Weser dringt die Flutwelle 9 Meilen, in der Themse
12 Meilen (bis oberhalb London), in der Elbe 20 Meilen
(bis oberhalb Hamburg) vor; im Lorenzstrom ist sie noch
in Quebek 100 Meilen, im Amazonenstrom noch 150
Meilen von der Mündung zu verspüren. Sie bedarf mehrer
Tage, um diesen Weg in die Tiefe der amerikanischen Ur-
Wälder zurückzulegen; oft sind acht Fluten in entsprechenden
Zwischenräumen im Flußbette dieses Riesenstromes unter
Wegs-
Die hohe See dagegen zeigt eine geringe Hebung des
Wasserspiegels. Im Großen Oeean z. B. erreicht sie bei
den Sandwich-Inseln die geringe Höhe von 2 V? Fuß, ja
bei Tahiti von nur 11 Zoll. In deu Meeren, welche durch
Engen von dem Leben der Oeeane mehr abgeschlossen sind,
treten nur schwache Spuren von Ebbe und Flut auf, oder
sie verschwinden ganz. Im Mittelmeere ist die Wirkung
zumeist erst bei sorgfältigen Beobachtungen wahrncmbar.
Im Adriatischen Meere ist der Unterschied zwischen Hoch-
und Tiefwasser zwar 3 bis 4 Fuß, aber bei Terracina nur
1,23 Fuß, bei Alexandria nur 1,08 Fuß, "ach Trevelyans
Studien zu Antium nur 1,18 Fuß. Darum herrschte lange
der Glaube, das Mittelmeer bleibe von den Pulsen des
Oceaus unberührt. Das Schwarze Meer sowie die Ostsee
sind dagegen in der That von diesem Schicksale betroffen
14*
108 A, Kayser:
indem selbst die aufmerksamsten Beobachtungen keine merk-
lichen Flutspuren aufgezeigt haben.
Im Stillen und Indischen Oeeane schreitet die Flut,
dem Monde bei seiner scheinbaren täglichen Bewegung um
die Erde folgend, von Osten nach Westen voran; im
Atlantischen Ocean verfolgt sie eine nördliche Richtung;
im Kanal La Manche bewegt sie sich umgekehrt vouWesteu
nach Osten; im nördlichen Theile des Deutschen Meeres
kommt sie sogar von Norden nach Süden heran.
Da der Gesichtskreis der klassischen Völker des Alter-
thnms lange Zeit aus den Rand des Mittelmeerbeckens
beschränkt war, so begreift sich, wie bei denselben diese auf-
fallende Schwankung des Meeres so lange Zeit unbekannt
bleiben konnte. Den seekundigen Phöniciern, welche den
Indischen und Atlantischen Ocean befuhreu, war das Phä-
nomen natürlich längst nicht mehr verborgen. Der erste
Hellene, welcher dasselbe beobachtete, war Kolaens aus
Samos, etwa 700 v. Chr. Als er nach Aegypten segeln
wollte, wurde er durch Ostwinde nach der Insel Plataea
und von dort durch die Meerenge in den Ocean nach
Tartessns getrieben (Herodot 4, 152). 70 Jahre spä-
ter (um 680 v. Chr.) unternahmen die Phoeäer weite
Seereisen und segelten mit sünszigrudrigen Schiffen in den
Atlantischen Ocean hinaus, wo ihnen das intensive Wogen-
spiel der Gezeiten Anlaß zu Staunen und Bewunderung
gab (Herodot 1, 163). Herodot beobachtete die Flut am
Busen des Rothen Meeres. Gleichwohl blieb diese Er-
scheinung dem klassischen Alterthum zumeist ein uubekann-
tes Schauspiel. So erklärt es sich, daß Alexander der
Große sammt seinem Heere von Schrecken und Staunen
ergriffen wurde, als die Schiffe au deu Jndnsmündungen
plötzlich im Schlamme versanken und dann ebenso uner-
wartet wieder von den Fluten gehoben wurden (Curtius
de rebus gestis Alex. 9, 9). So erklärt es sich auch, daß
selbst ein Cäsar an den Ufern Britanniens durch eine Voll-
mondsflnt, deren gesteigerte Höhe er nicht ahnte, großen
Schaden für feine Flotte erlitt (De bello Gallico 4, 29).
Der erste, welcher den Grund dieser Erscheinung dunkel
vermuthete, war Pytheas aus Massilia (Marseille), eiu
kühner Seefahrer des4. Jahrh. v.Chr., der vonGades(Ea-
diz).bis zur sagenhaften Ultima Thüle fuhr. Nach Plinius
will er oberhalb Britanniens ein Steigen der Flut bis zu 80
Ellen bemerkt haben (Hist. nat. 2, 97) — eine von den
vielen Übertreibungen, welche sich der alte Massilieuser zu
Schulden kommen ließ! Aber er hat das Richtige getroffen,
wenn er dem Monde Einfluß auf Ebbe und F^nt
zuschrieb und sagte, daß die Flut bei wachsendem Monde
steige und bei abnehmenden falle (Plutarch Placita pkil.
3, 17). Aristoteles, sein Zeitgenosse, erkannte dieselbe
Ursächlichkeit, wenn er behauptete, die Flut richte sich nach
dem Monde (De mundo 4). Nach einer spätern Sage soll
ihm jedoch das auffallende Hiu-und Herwogen der Gewässer
im Enripns, dem engen Kanäle zwischen Enböa und
Böotien, das in der Flntwirknng seine Erklärung findet, so
viel Kopfzerbrechens verursacht haben, daß er sich aus Ver-
zweiflung in die Wellen stürzte.
Sehr aufmerksam hat der ältere Plinius Ebbe und
Flut beobachtet. Er kennt nicht blos das regelmäßige
Steigen und Fallen des Meeres, das sich jeden Tag wieder-
holt, er weiß auch schon, daß das Wasser sich an dm Ufern
viel höher bäumt, als ans der hohen See und sindet dieses
ganz natürlich, da ja auch im menschlichen Körper die Er-
tremitäten einen stärkern Pulsschlag fühlen (quoniaia et
in corpore extrema pulsum venarum, id est spiritus, maZis
sentiunt. Hist. nat. 2, 97).
Was Cäsar erst für theures Lehrgeld inne ward, spricht
bbe und Flut.
Plinius und auch dessen Zeitgenosse Taeitns (Annal. 1,70)
als eiue allgemeine Thatsache aus: daß nämlich die Voll-
monde höhere Flutwellen mit sich bringen. Den
ursächlichen Zusammenhang der in Rede stehenden Meeres-
schwankungen mit der scheinbaren Tagesbewegung von
Sonne und Mond hat er deutlich erfaßt. „Ueber das
Wesen des Wassers ist schon viel gesagt; doch das Wunder-
barste an demselben ist das Steigen und darauf eintretende
Zurückweichen des Meeres. So fehr es auch wechselt, die
Ursache davou ist in der Sonne und dem Monde zu
suchen. Zwischeu je zwei Mondaufgängen strömt es zwei-
mal heran, tritt es zweimal zurück. Wenn der Mond
sich über den Horizont erhebt, so schwellen die Wasser mehr
und mehr an, während sie sich senken, wenn er sich von
seinem Eulminationspnnkte zum Untergange neigt.....
als ob sie dem Gestirne, das in durstiger Gier
d ie M eer e an sich zieht, dienstbar wären (Hist. nat.
2, 97)." Deutlicher noch hatte schon Posidonins aus
Apamea, gewöhnlich der Rhodier genannt (nach Bake's
Berechnung 135v.Chr. geboren) den Einfluß des Mondes
auf die Gezeiteu durchschaut. Außer der täglicheu Perio-
dicität unterscheidet er noch eine monatliche und jährliche,
indem er darauf hinweist, daß stärkere Fluten zweimal in
jedem Monate, beim Neu - und Vollmond und bei deu
Solstitieu in jedem Jahre wiederkehren. Aus Posidonins
Schrift tceoI Lr/.savov hat Strabo, der berühmte Geograph
aus Amafea, seine Beschreibung und Auffassung über Ebbe
und Flut geschöpft (Strabonis res geographicae 3. Buch
gegen das Emde).*)
Aus dem Gesagten erhellt, daß die Alten den Mond
und die Sonne als Ursache von Ebbe und Flut erkannten,
ohne über die Art und Weise des Cansalnerus irgend eine
bestimmte Vorstellung zu haben. Das ganze Mittel-
alter blieb mehr als anderthalb tausend Jahre aus dieser
Erkenntnißstuse des klassischen Alterthums festgebannt. Der
Erste, welcher einen neuen Anlauf that, war der Italiener
Galilaei. Er erklärte die tägliche und jährliche Bewegung
der Erde für Ursache der Ebbe und Flut. Er glaubt, aus
der Bahu um die Sonne sei die wahre Bewegung eines
Theilchens an der Erdoberfläche bei Tage etwas langsamer,
bei Nacht etwas schneller. Darum müsse das Wasser in
den großen Meeren bei Nacht etwas hinter den Ufern zu-
rückbleibeu und sich an den westlichen Küsten erhöhen, bei
Tage etwas voreilen und an den östlichen Küsten steigen
(Vgl. Dialogus de syst, niundi. Ansgb.v. 1635. S. 424).
Wallis schließt sich Galiläi's Theorie an, hebt aber als
besonders wichtigen Umstand hervor, daß eigentlich nicht
der Mittelpunkt der Erde, sondern der Schwerpunkt der
Erde und des Mondes es sei, der einen regelmäßigen Kreis
unt die Sonne beschreibe. „Wenn man diesen Umstand
berücksichtige, so müsse einleuchten, daß der Mittelpunkt der
Erde bald innerhalb bald außerhalb der Bahn jenes ge-
meinschaftlichen Schwerpunktes fei, und aus diesen: Wechsel
resultire die wechselnde Bewegung des Wassers". (Wallisii
opera tom, 2, S. 737).
Cartesius, der Begründer einer neuen Aera in der
Geschichte der Philosophie, erklärte Ebbe und Flut, wie
die scheinbare Unregelmäßigkeit der Planetenbahnen, aus
Wirbeln. Da nach seiner Meinung Mond sowohl als
Erde mit einem Wirbel umgeben sind, so kommen dieselben
da, wo sie zwischen Erde und Mond durchgehen sollten, ins
Gedränge und bringen einen Druck hervor, welchem das
*) Die mehr poetische Erklärung der Alten, welche die Erde
als ein lebendiges Wesen ausfaßt und das Steigen und Fallen
des Meeres ähnlich wie das Heben und Senken der Brust beim
Athencholen deutet, habeu wir übergangen.
A. Kays er: Ebbe und Flut.
109
Meer ausweichen müsse. „Indem so in der Mitte des
Meeres das Wasser weggedrängt werde, müsse es gegen die
Ufer steigen und hier die Flut bewirken" (Princip. philos.
Thl. 4, Propos. 49). Diese kindlichen Erklärungsversuche
der Art und Weise, wie der Mond Ebbe und Flut hervor-
bringe, bedürfen heut zu Tage keiner Widerlegung mehr.
Aber sie sind denkwürdige Beispiele, wie viele Zeit, wie
viele Mühe es kostet, die richtigeLösnng eines Jahrtausende
alten Problems zu finden.
Da entdeckte der große Kepler seine drei berühmten
Gesetze und behauptete die gegenseitige Anziehungskraft —
virtus tractoria — der Weltkörper, also auch der Erde und
des Mondes. „Wenn sie keine seitliche Bewegung ver-
folgten", sagt er, „so würden sie gegen einander fallen und
sich endlich begegnen." Ebbe und Flnt führt er als den
deutlichen Beweis an, daß der Mond seine Anziehungskraft
bis zur Erde erstrecke. (Vgl. Astronomia nova. Comment.
de motu stellae Martis; praefatio.)
Was der große Astronom ahnungsvollen Herzens vor-
her verkündet: „die Entdeckung der wahren Gesetze der
Schwere sind eiuer künftigen Generation vorbehalten, wann
es dein allmächtigen Schöpfer der Natur gefallen wird, ihre
Geheimnisse dem Menschen zu offenbaren" — sollte früher
in Erfüllung gehen, als er erwartet hatte. Kepler starb
1630, und schon 1642 erblickte Jsaae Newton das Licht
der Welt — der große Geuius, welcher dem Gesetze der
Schwere — der Gravitation — seine Herrschaft durch den
ganzen Weltraum vindieirte, indem er nachwies, daß die-
selbe Kraft, welche den fallenden Apfel zur Erde zieht, das
schwingende Peudel bewegt, auch die Monde und Planeten
durch ihre elliptischen Bahnen treibt, auch Ebbe und Flut
hervorbringt. Wie viele Tausende hatten vor ihm den
Apfel vom Baume fallen sehen! Seinem eminenten Genie
blieb es vorbehalten, so riesige Resultate au dieses alltäg-
liche Vorkommniß zu knüpfen! Ihm verdankt die Wissen-
schaft das Gefetz: „Jeder Körper übt auf alle au-
deren eine Anziehung aus, welche in geradem
Verhältnisse zu den Massen der verschiedenen
Körper und in umgekehrtem Verhältnisse der
Quadrate ihrer Entfernungen steht."
Mit Hülfe dieses Gesetzes wurde nicht blos die Bewe-
gnng der Erde, sondern auch die Gezeiten-Bewegung des
Wassers erklärt und berechnet, und so die sichtbare Bestäti-
gnng des Naturgesetzes geliefert. Newton felbst hat die
Anwendung desselben ans Ebbe unb Flut, wenn auch nur
inKürze, versucht (Dialog, de syst, mundi. 1685. S. 412,
456). Bernoulli, Mac Laurin, Enler führten sie
weiter aus, bis Laplace in seiner Mecanique Celeste
(Buch IV und XIII) sie vollständig zum Abschlüsse brachte.
Lassen wir die Berechnung als unerquicklich bei Seite, be-
gnügen wir uns mit der Theorie.
Obwohl das Newtou'sche Gravitationsgesetz im ganzen
Bereiche des Weltraums gilt, so schrumpft die Anziehungs-
kraft, welche die Sterue außer nnserm Sonnensysteme, ja
selbst die Planeten nnsres Sonnensystems auf die Erde
ausüben, eines Theils wegen der Entfernung, andern Theils
wegen der geringen Masse so sehr zusammen, daß sie für
Ebbe und Flut als Null betrachtet werden können; es kann
nur der Mond wegen seiner Nähe — er hat nur 50,000
geogr. Meilen Entfernung — und die Sonne wegen ihrer
Masse — sie übertrifft ja die ganze Planetenmasse nnsres
Systems 758 mal — in Anschlag kommen.
^bstrahiren wir nun von der jährlichen und täglichen
^ewegung der Erde um die Sonne und denken wir uns
die Erdkugel ganz von einer tiefen Wasserhülle umgeben.
Gesetzt nun, der Erdball wäre ausschließlich der Anziehung
der Sonne ausgesetzt, so würde jeue auf diese zustürzen.
Welche Gestalt müßte dann aber die Wasserhülle annehmen?
. M"
Fig- 1.
E sei die Erde, in 3 die
Sonne. Es ist leicht einzusehen,
daß das Wasser iu a stärker au-
gezogen wird, als der Mittel-
punkte, und wegen der Verschieb-
barkeit der Theilchen vorauseilt.
Ebenso muß aber auch das Wasser *M
iu b dem entgegengesetzten Punkte
hinter e zurückbleiben, weil es
eine weniger starke Anziehung
von derSoune erfährt als c. Es
muß sich alfo die Wasserhülle iu
a und b gleichzeitig hebeu und
ebenso gleichzeitig in e und f sen-
ken , d. h. die Wasserhülle nimmt
die Gestalt des Sphäroids LL'
an — oder was dasselbe ist: in a,
wo die Sonne im Zenith steht, ist
Flnt — Zenith - Flut; aber gleich-
zeitig auch in b, wo die Sonne im Nadir weilt — Nadir-
flnt; bei e und f dagegen ist Ebbe.*) Es kann nichts
verschlagen, daß die Erde uicht wirklich der Sonne zufällt,
sondern, von einer tangentialen Kraft seitwärts getrieben,
durch eine elliptische Bahn fliegt; ist ihr Kreisen'doch ein
beständiges Fallen. Die Axeudrehuug der Erde bringt
nun mit jedem Augenblicke einen andern Meridian in das
Zenith, resp. in das Nadir; es muß daher die Doppel-
Hebung genau dem täglichen Sonnenlaufe folgen. Es muß
somit jeder Meridian innerhalb 24 Stunden zweimal
Flut und demgemäß auch zweimal Ebbe haben. Wenn
nun auch die Erde nicht ganz mit einer solchen Wasserhülle
umgeben ist, so ist sie doch zum THeile darin gekleidet, und
an diesen Theilen, wenigstens an den größeren, müssen die-
selben Aeußerungen der Anziehungskraft zu Tage treten.
Diese Folgerung wird durch die Newtou'sche Vorstellung
evident. Er denkt sich nämlich einen Erdball, der in
der Gegend des Aequators von einem breiten, tiefen
Wasserkanale umgeben ist; darin muß sich ganz dieselbe
Hebung des Wassers für Zenith und Nadir, ganz die-
selbe Senkung für die um einen Quadranten davon ab-
stehenden Punkte der Wasserzone ergeben. Zieht sich dieser
Wassergürtel uicht um den ganzen Erdball, sondern nur
um die Hälfte, so bleibt für diese Hälfte der Einfluß der-
selbe; es ergeben sich nur Modifikationen in der Wirkung,
weil Hindernisse dieselbe nicht vollständiger hervortreten
lassen. _
Tritt nun der Mond noch mit seiner Anziehungskrast
verstärkend hinzu, so ist die Folge eine Steigerung des
*) Setzt man die Größe der anziehenden Kraft, welche die
Sonne t auf das Centrum der Erde c ausübt, als Einheit, so
laßt su'l> nach dem Gravitationsgesetze ohne Mühe berechnen,
wie die Anziehung ist, welche die Sonne auf den Punkt a
und aus den Punkt l/ ausübt. Denn da der Erddurchmesser
1719, die mittlere Entfernung der Sonne von der Erde 20,682,329
Meilen beträgt, so verhält sich (vergl. Fig. I)
Iv' : 1 = Sc2 : Sa2
lv' : 1 = 20,682,3292 : 20,681,469,52
—— 1/(100083
K": l = Sc2 : Sb2
K": 1 — 20,682,3292 : 20,683,188,52
wobei K' die Anziehung ans den Punkt a, K" die aus den Punkt d
bezeichnet. Dieses heißt so viel als: der Punkts wird itm O,000083
stärker angezogen, seine bewegliche Masse eilt beim Fall eben so
viel voran, und t> wird um O,000083 weniger augezogen, bleibt
also zurück, und das will bei der angenommenen Wasserhülle
sagen: sie hebt sich dem entsprechend gleichzeitig an beiden Stellen
110
A. Kciyser: Ebbe und Flut.
Phänomens. Steht der Mond — M —- zwischen Sonne
itub Erde — beim Neumonde — so ist diese Bedingung
erfüllt, es muß also Zenith - und Nadirflut sich höher heben.
Aber ganz dasselbe ist anch der Fall, wenn der Mond ittM",
die Erde also zwischen Sonne und Mond steht wie beim
Neumonde; auch dann muß dieFlutwelle höher anschwellen;
denn die Zenithslnt des Mondes hebt die Nadirflut der
Sonne, und die Nadirflut des Mondes die Zenithflut der
Sonne.*) Steht aber der Mond nicht zwischen der Sonue
und der Erde, auch die Erde nicht zwischen Sonne und
Mond, letzterer vielmehr um 90° seitwärts in M; wie beim
ersteu und letzten Viertel, so heben sich die widerstrebenden
Wirkungen gegenseitig ganz oder zum Theile ans; es ent-
steht ein Wettkampf um die Oberhand. Es ist leicht be-
greiflich, daß der so kleine aber nahe Mond über die so
große aber entfernte Sonne — sie ist zwar mehr als 28
Millionen mal größer, aber nahe 400mal weiter als der
Mond — den Sieg davon trägt.**) Aber eben so klar
ist, daß die Zenith- und Nadirfluten, welche der Mond be-
wirkt, durch die Ebben, welche von der Sonne herabgedrückt
werden, und umgekehrt die Ebben, welche der Mond her-
vorbringt, durch die Zeuith- und Nadirfluten, welche die
Sonne nach sich zieht, gehoben werden. —
*) Setzt man die Große der anziehenden Kraft, welche der
Mond auf das Centrum der Erde ausübt, als Einheit, so läßt
sich uach dem Gravitationsgesetze ebenfalls leicht berechnen, wie
groß die Anziehung ist, welche der Mond auf den Punkt », w:e
auf den Punkt b ausübt. Denn da der Erddurchmesser l'U;
die mittlere Entfernung des Mondes von dem Erdmittelpunkte
5t,803 Meilen beträgt^ so verhält sich (vergl. Fig. 1)
K' : 1 = Mc2 : Ma2
— 51,8032 : 50,943,52
K- —— 1/034 i
ferner K": 1 = Mc2 : Mb2
= 51,8032 : 52,662, *
K" — 0
-0- - /9G76/
wobei K' die Anziehung des Mondes auf den Punkt a, K" die
auf den Punkt b bezeichnet. Dieses heißt aber nichts Anderes,
als der Punkt a eilt, wenn möglich, dem Punkte c um 0 ,,3i,
voran, der Punkt b bleibt 0,O324 weiter hinter c zurück, r"
beweglichen Wassermassen besagt das soviel als: sie heben nch.
Diese Zahlen ergeben auch, daß die Nadirfluten etwas niedriger
sein müssen als die Zenithfluten.
**) Die Masse der Sonne ist 28,276,686 mal großer als die
des Mondes; sie ist dagegen ailch 20,682,329 Meilen bei ihrem
Mittlern Abstände von der Erde entfernt, also fast 400 Mond-
weiten. Daraus ergibt sich nach dem Gravitationsgesetze als
Verhältniß der anziehenden Kräfte, welche Sonne und Mond
auf die Erde ausüben:
28,276,686 . 1 .
4002 ' 12 ~ '
d.h. die Anziehungskraft der Sonne ist 176 mal größer als die
des Mondes. Gleichwohl muß die Wasserhebung, welche durch
die Anziehung des Mondes veranlaßt wird, größer sein, als
die, welche durch die Sonne hervorgebracht wird. Denn, *me
wir sehen, ist die Wasserhebung auf der vou einer Wasserhulle
umgeben gedachten Erde eine Folge des Unterschiedes zwi>chm
der Anziehung, welche auf den Mittelpunkt der Erde ausgeübt
wird, und der Anziehung, welche auf die der Sonne resp- dem
Monde zu- und abgewandten Punkte ausgeübt wird. Dieser Un-
terschied ist aber bei dem Monde wegen seiner größern Nahe
viel bedeutender: wie die frühere Rechnung ergab, ein Plus
von 0,O34 oder 3,470 für deu Punkt a und eilt Minns von
0,0324 oder 3,24% für den Pnnkt b.
Für die Anziehung der Sonne ergab sich nur eiu Plus und
Minus t>on O,nooo?3 für die Punkte a und b oder 0,nn83%;r
wohl nun die Anziehungskraft derSonue 176mal größer ist, so
erreicht, wenn man beide Rechnungen anf die Anziehung des
Moudes als dieselbe Einheit zurückführt, die Anziehung der
Sonne nur den Procentsatz l,40u/0 als Plus resp. Minns für
die Punkte a uud b; denn 0,OO83 X 176 — 1,4608. Daher
beträgt die Hebung des Wassers in Folge der Anziehung der
Sonne nur wenig mehr als ein Drittel der Hebnng, welche
durch die Anziehung des Mondes verursacht wird.
Die sich antipodisch gegenüberstehenden Flutwelleu, so
wie die ebenso coutrastireudeu Ebbeuthäler, ferner die
Springflnten beim Voll - uud Neumonde, fowie die Nipp-
fluten bei den Mondesvierteln fiudeu in obiger Ansein-
andersetznng ihre volle Begründung. Ebenso erklärt sich
daraus aber auch das tägliche Verspäten der Flut resp. Ebbe
um fast eine Stunde. Während der Arendrehung der Erde,
also innerhalb 24 Stunden, ist der Mond aus seiner 28 tägi-
gen Bahu um die Erde deu 28. Theil vorangerückt. Da-
mit nun ein Meridian der Erde den Mond wiederum im
Zeuith habe, muß er sich noch weiter von Westen nach
Osten drehen, und zwar um so weiter, je rascher der Mond
indeß aus seiuer Bahn vorangeeilt ist. Wäre die Ge-
schwiudigkeit des Mondes stets gleich, so würde sich die
Dauer der Verspätung auf 24/2R Stuudeu oder 51 Miuuteu
belaufen. Diefes ist in der That auch die Durchschnitts-
zeit des täglichen Verspätens der Flut.
Gauz dieselbeu Resultate ergeben sich, nur noch dent-
licher und verständlicher, wenn man die Wasserhülle, die
nach der gemachten Voraussetzung die Erde umgibt, unter
dem Gesichtspunkte der Schwere betrachtet. Die Schwere
eines Körpers ist nichts Anderes als die Attraetion, welche
die Erdmasse auf deuselbeu ausübt und ihn so zum Erd-
Mittelpunkte zieht. Wirkt dieser Anziehung eine andere
Kraft entgegen, fo muß der Körper uothweudig leichter
werden. Eine solche entgegengesetzte Kraft haben wir,
z. B. die Eentrifugalkraft, welche auf deu Polen —Null,
unter dein Aequator im Maximum ist. Darum ist eiu und
derselbe Körper auf den Polen schwerer als unter dein
Aeqnator; darum schwiugt eiu uud dasselbe Peudel dort
rascher als hier.
Eiue solche Gegenkraft ist für uusre Erde aber auch die
Anziehung des Mondes und der Souue. Gesetzt, es stehe
der Moud M (Fig. 2) im Zusam-
menschein (Conjuuetiou), also zwi-
schen Sonne S und Erde E. Die
Schwere des Wassers der präsu-
mirten Totalhülle muß — von
geringen Differenzen abgesehen —
überall gleich sein, wenn sie aus-
schließlich unter dein Einflüsse der
Erdattraetion steht. In dem
Punkte a jedoch, für den Sonne
und Mond im Zenith stehen, wirkt
die vereinte Anziehung beider der
Anziehung der Erde direkt ent-
gegen, hebt sie also zum Theile
aus. In d wird das Wasser durch
die Erde nach e gezogen, durch die
Souue nach S, durch deu Mond
nach M. Die Attractionen wirken
aber einander nicht ent-
gegen, sondern vereini- M *
gen sich in den Diago-
nalen des Kräfte-
Parallelogramms zu
einer verstärkten An-
ziehnug und lenken
die Richtung in vorliegendem Falle nur um ein Geringes
von dem Erdmittelpunkte ab. Während also die Schwere
des Wassers in a geringer ist als das Maß der Erdattrac-
tion, ist sie in b größer. Für jedeu Punkt zwischen a und
b ist die Schwere des Wassers um so geringer, je näher er
a liegt. Nach dem hydrostatischen Gesetz muß also, um das
Gleichgewicht herzustellen, das Wasser vonb nach a stürzen.
Ganz dasselbe gilt ans denselben Gründen für deuPuukt d.
I. W, Draper über
In a entsteht somit ein Flutberg, während bei b und d ein
Ebbethal sich bildet. Die Zenithflnt ist erklärt.
Wie verhält es sich aber mit dem Wasser im Pnnkte f?
Hier ist allerdings die Erdanziehung und die Anziehung
der Sonne und des Mondes.in derselben Richtung thätig,
sie heben sich also uicht aus, sondern verstärken einander.
Eine nähere Erwägung ergibt jedoch auch für diesen Punkt
die Notwendigkeit einer Wasserhebung für die angenom-
mene Stellung des Mondes zwischen Erde und Sonne.
Die Schwere des Wassers in f ist das Resultat der An-
ziehung der Erde, der Sonne und des Mondes. Ebenso
ist auch in b und ä die Wasserschwere das Ergebnis; der-
selben attraetiven Kräfte, mit dem bedeutsamen Unterschied
jedoch, daß in b und d der angezogene Körper der Sonne
und dem Monde beinahe um einen ganzen Erdhalbmesser
— 859,5 deutsche Meileu näher ist. Diese Entsernungs-
differenz bewirkt einen um so größern Unterschied in der
Kraftäußerung, da die Anziehungskraft in der Proportion
der Distanzquadrate abnimmt. Hieraus ergibt sich mit
unabweisbarer Eonseqnenz, daß das Wasser bei f leichter
sein muß als bei b und d. Bei g ist das Wasser leichter
als bei b, aber schwerer als bei f. Je näher ein Punkt
bei b liegt, desto schwerer, je näher bei f, desto leichter ist
das Wasser. Die Gleichgewichtstendenz muß also auf der
entgegengesetzten Hälfte der Erdkugel das Wasser von b
uud d nach f treiben, wo es die größte Höhe erreichen muß,
weil es dort das geringste Gewicht hat; und zwar mit der-
selben Naturnothwendigkeit, mit der bei commuuicirendeu
Röhren in dem einen Arme die leichtere Flüssigkeit höher
steht als die schwerere in dem andern. — Die Nadirflut
e Zukunft Amerika's. III
erklärt sich also auch von dem Gesichtspunkte der Schwere
aus mit größter Leichtigkeit.
Ich brauche wohl uicht zu bemerken, daß die Stellung
des Mondes im Gegenschein — Opposition —-, wenn die
Erde in Mitten zwischen Sonne und Mond steht, keine
Aenderung im Resultate hervorbringen kann. Steht nun
aber der Mond im Geviertschein — wie bei den Mond-
vierteln — z. B. in M', so ist bei a uud f das Wasser
leichter in Folge der Anziehung der Sonne; in b und d
dagegen schwerer. Hier ist es aber leichter in Folge der
Anziehung des Mondes, uud dort unter diesem Einflüsse
schwerer. Es kann somit weder in a uud f die Attraetion
der Sonne, noch in d und b die des Mondes zur alleinigen
Auswirkung kommen. Da die größere Nähe den Mond
aber eine größere Wasseranschwellung verursachen läßt,
weil der durch die Anziehung des Mondes hervorgebrachte
Unterschied der Schwere größer ist, als der durch die ent-
ferntere Sonne bewirkte Gewichtsunterschied, so muß das
Wasser in d und b leichter erscheinen als in a und f; aber
der Gewichtsunterschied ist nicht so groß, als wenn der
Mond in Conjunction oder Opposition steht. Darum ist
die Flut nur eine Nippflut, die Ebbe eiue Hochebb?.*)
*) Um nicht unnothig wiederholen zu müssen, weisen wir
auf die Berechnungen hin, die wir oben in deu Anmerkungen
anstellten. Dieselben gelten auch hier. Da die durch die Sonne
veranlaßt? Hebung des Wassers nur '/3 der durch die Anziehung
Mondes veranlaßten Wasserauschwelluug beträgt, so ist bei
vereintem Wirken beider Himmelskörper % | J/3 y3r wenn
die Sonne dem Monde entgegen arbeitet, % —'y? — % das
Resultat. Bei der Stellung des Mondes im Geviertschein be-
trägt also die Höhe der Flut nur etwa die Hälfte.
I. W. Drspcr über di
Der Nordamerikaner I. W. Drap er ist ein Mann
von historischen^ Wissen, auch hat er Geist und in der For-
schling ist er so frei, daß man glauben könnte, er sei bei
unseren deutscheu Philosophen in die Schule gegangen.
Von kirchlichem Puritauismns ist keine Spnr in ihm, und
um Vorurtheile kümmert er sich nicht. Seine Darstellung
der vier oder fünf ersten Jahrhunderte unserer Zeitrech-
nung, in welchen das Heideuthum unterging und die
Christen allmälig aus der Religion heraus in die Theologie
gedrängt wurden, ist ganz vortrefflich.
In der Vorrede zum achten Bande des Globus habe
ich darauf hingewiesen, daß Draper in seiner „Geschichte
der geistigen Entwicklung Eru'opa's" einen physio-
logischen Standpunkt einnimmt und zu einer Art von
historischem Fatalismus gelangt, ^ welchem ein Volk so
wenig sich entziehen könne, wie ein Individuum. Das
eine, wie das andere, sagt er, wird geboren und wächst bis
zu einem gewissen Punkte; dann geht es abwärts mit
ihnen und sie sterben ab; das sei der „unwandelbare und
unabwendbare Verlauf der Dinge".
Drapers Arbeiten leiden übrigens an auffallenden Män-
geln. Er generalifirt zu viel, uud das ist eiu großer
gehler. Sodann übersieht er oftmals die wirthschast-
') Tlioughts on the future civil policy of America, by
j. W. Draper. Neuyork 1865 (September).
Zukunft Amerikas)
lichen Faetoren, welche in der geschichtlichen Entwicklung
der Völker von ganz entschiedener Bedeutung sind; und
was das Schlimmste ist, er legt aus die Rasse neigen-
thümlichkeiten und die ethnologischen Elemente
kein Gewicht, er weiß nicht, wie gerade durch diese die Eigen-
artigkeiten in der geschichtlichen Entwicklung bedingt werden,
und daß man die Nationen nitb ihr Wesen nicht begreifen
kann, sobald man diese Elemente nicht berücksichtigt. Ich
glaube, es ist Thomas Earlyle gewesen, welcher deu ein-
fack)en, durchaus wahren Satz ausgesprochen hat: race is
of appalling importance.
Der Geschichte der geistigen Entwicklung Europas hat
Draper ebeu jetzt (September 1865) ein neues Buch
folgen Waffen, über welches wir in der „New Avrk Weekly
Tribüne" vom 16. September ein scharfes Urtheil finden.
Das Blatt läßt dem Fleiß und den Bemühungen des Ver-
fassers alle Gerechtigkeit widerfahren, aber diese „Be-
trachtungen über die bürgerliche Politik Arne-
rika's" seien cht in großer Eile geschriebenes Werk;^ die
Abfassung sei theils verschwommen, theils fragmentarisch;
von der Zukunftspolitik Amerika's sei weniger^ die Rede
als von den Gesck)ichten aus der europäischen Vergangen-
heit; auch fehle es nicht an-Wiederholungen, uud die rheto-
rische Manier, in welcher Draper sich mehr und mehr
gefalle, mache um so mehr einen unangenehmen Eindruck,
da Sprache uud Ausdruck oftmals uugenan seien und das
112 I. W. Draper über
Springende in der Behandlung, die unkünstlerische Dar-
stellung nicht geeignet wären, den Leser günstiger zu
stimmen.
Wir unsererseits bemerken das hier nur beiläufig;
weiter unten wollen wir auf deu Inhalt des Buches ein-
gehen, den wir in der Tribüne aualysirt finden; auch bringt
sie wörtliche Auszüge. —
Wer über eiue Zukunftspolitik der Vereinigten Staa-
ten Amerikas schreiben will, übernimmt, meine ich, eine
sehr schwierige Aufgabe. Jener Staatenbund befindet
sich, nachdem er von seinen alten staatsrechtlichen Maximen
und von seiner Verfassung abgefallen ist und nicht mehr
ans freier Einigung Aller, sondern so wie er gewordei^ist,
auf Waffengewalt steht, in einem chaotischen Gähren. Das
Alte ist dahin und Neues uoch uicht gegrüudet worden.
Ueber die Art und Weise der Neugestaltung herrscht bitterer
Zwiespalt; statt des gemeinsamen bürgerlichen Gefühls find
Parteihaß und gegenseitige Abneigung in alle Schichten
der Bevölkerung und in alle Einzelstaaten gedrungen.
Die Rafseufrage trat verhängnisvoll in den Vordergrund,
und während ein Theil „kaukasisch-weiß" bleiben will und
zwar um jeden Preis, bietet ein anderer Alles auf, das
Land theilweife zu „asrikanisiren", d. h. dem Neger und
dein Mulatten die absolute politische Gleichberechtigung zu
erringen. Man geht noch weiter, indem man die Misee-
genation, die Blutvermischung zwischen Schwarzen und
Weißen, befördert. Die früheren Arbeitsverhältnisse find
nicht mehr vorhanden, seitdem man vier Millionen Sklaven
für frei erklärt und damit ein farbiges Proletariat geschaffen
hat. Schon jetzt weiß man nicht, was man mit demselben
anfangen soll; die schwarze Verlegenheit wächst tagtäglich
mehr aus dem Boden hervor und ist zu einer wahren
Drachensaat geworden. Welche Früchte sie bringen wird,
weiß Niemand; gute und gesunde auf keinen Fall. Man
stellt die Ordnung der Natur uicht ungestraft aus deu Kopf,
und es erscheint mir als ein frevelhafter Wahn, wenn man
annimmt und darauf hin in der allergefährlichsten Weife
erperimentirt, daß die Natur für das Bankeelaud eine
gesellschaftliche, politische und geschichtliche Ausnahme
machen werde. Es liegen Beweise in Hülle und Fülle vor,
daß sie es nicht thut: der Unterjochungskrieg gegen den Sü-
deu mit allen seinen grauenhaften Barbareien, die Durch-
löcherung der Bundesverfassung, die Beeinträchtigung der
wichtigsten Rechte der Einzelstaaten, das Säbelregiment,
das Streben nach Centralisation, ein stehendes Heer, das
Anwerben einiger hunderttausend Soldknechte aus aller
Welt Enden, der ungeheuere Steuerdruck, die Gütercousts-
cationeu, die Aufhebuug der Habeascorpusakte, die Aul-
liardeu Staatsschulden, die Prohibitivzölle zur Begünsti-
gnng von Monopolisten, die Todtschlägereien zwischen
Weißen und Schwarzen, die ungeheuere Corruption, welche
alle Lebensverhältnisse durchdringt, ein freches und schäm-
loses puritanisches und methodistisches PfaffenthuM, das
die Kanzel in eine Jakobinertribune verwandelt I>at, dessen
Reden von Blut triefen, das offeu aus einen Religious-
krieg hindrängt und die Notwendigkeit einer Staatskirche
zu demonstriren sucht.
Ein ethnischer Zusammenhang fehlt in jenem Lande, das
ohnehin die buutschäckigste Bevölkerung in sich aufgenommen
hat: Mukees, Engländer, Schotten, Jrländer zu vielen
Millionen, Deutsche, Skandinavier, Slaven, Chinesen,
Indianer, Neger; und diese alle wohnen nicht nebenein-
ander in großen Gruppeu, wie z. B. in Rußland, sondern
in wirrem Durcheinander. Diese Rassen uud Kölker
haben ihre ethnischen Besonderheiten, die sich iin gegen-
seitigen Eontact geltend machen und aufeinander prallen.
ie Zukunft Amerika's,
Die „Union" ist jetzt schon eben so viel irisch'-keltisch, wie
angelsächsisch-germanisch. Von einem einheitlichen Volks-
charakter kann feine Rede sein. Wer möchte nun zu
bestimmen wagen, wie sich, im Angesicht so grundver-
schiedener Bestandtheile, gegenüber den Berge hoch ausge-
thürmteu Schwierigkeiten und den ihrer Lösung harrenden
Lebensfragen iu Bezug auf Gesellschaft, Oekouomie und
Staatswesen, die Politik der Zukunft gestalten könne?
Draper, auf ethnologischem und wirtschaftlichem Gebiete
nicht zu Hause, ist einer solchen Aufgabe uicht gewachsen.
Ohnehin liegt es im Wesen der Dinge, daß hier Alles auf
Vermuthungen hinausläuft, Und in der That weiß Draper
nicht viel zu sagen, er kommt zumeist auf die schon früher
von ihm entwickelten Ansichten zurück.
„Diesen gemäß hat der freie Wille der Einzelmenschen,
in Bezug auf die „Erfüllung des menschlichen Schicksals"
im Großen uud Ganzen, nur sehr wenig zu bedeuten.
Der Fortschritt der Völker und der Gesellschaft wird durch
Gesetze bestimmt und gelenkt, die aber unerbittlich sind in
der Art, wie sie wirken, und eben so majestätisch in ihren
Ergebnissen wie jeue des materiellen Weltalls. In dem
großen Gange der Ereignisse und Begebenheiten ist kein
Zufall denkbar, und deshalb ist der Philosoph im Staude
vorauszusehen, wie uud iu welcher Weife die natürlichen
Ursachen wirken müssen; er kann auch für die iu weitester
Ferne liegenden Zeiten der Menschheit das Horoskop stellen!
Das Leben der Nationen ist eben so beschränkt und
begrenzt wie jenes der einzelnen Menschen; das allge-
meine Gesetz der Sterblichkeit findet anf beide Anwendung.
Aus dem weiten Oeeane des menschlichen Lebens tauchen
Reiche in geheimnißvoller Weise empor, aber sie siud
ephemer, so hoch sie sich auch erheben und so glänzend sie
auch erscheinen mögen. Sie verschwinden, aber die nner-
gründliche Tiefe der Menschheit bleibt nach wie vor da.
Die Völker haben jedoch den berechtigten und unvermeid-
lichen Wuusch, ihr Lebeu so viel als möglich zu verlängern
uud denkwürdige Thaten zu verrichten. Die vergleichweise
Dauer ihres Bestehens hängt in jedem einzelnen Falle von
der UnVeränderlichkeit äußerer Bedingungen ab. Jede
Abänderung in diesen Ergebnissen erscheint als das Pro-
dnkt einer neuen Form. Unter den Ursachen, welche eine
vitale Gewalt uud Macht auf die Schicksale der Völker
ausüben, steht der Einfluß des Klima's in vorderster
Reihe." —
Draper vergißt, daß manche Völker, welche dicht neben
einander unter denselben klimatischen Bedingungen leben,
eine ganz verschiedene Entwicklung nehmen, wenn sie von
verschiedenartiger Rasse uud Abstammung siud. Er faßt
nur die äußerlichen Dinge ins Auge; was tiefer liegt, bleibt
von ihm unbeachtet. Ueber das Klima verbreitet er sich
in rhetorischer Weife, fagt aber nur preciös, was jeder
Schüler ohnehin weiß, z.B.: — „Die jährliche Bewegung
der Erde um die Sonne bestimmt größtenteils die Firne-
tionen der organisirten Wesen. In unseren Breiten
erwachen beim Herannahen des Frühlings Pflanzen und
Bäume aus ihrem Schlafe, treiben Blätter und Blüthen,
tragen späterhin Früchte und versinken nachher wieder in
den Winterschlaf. Wilde Vögel und Thiere passen ihre
Lebensweise dem Fortgange der Jahreszeiten an. Die
Sonne bestimmt nicht blos die Zeit des Erwachens und des
Schlafens, des Wachsthums uud des Absterbeus, souderu
übt auch regelnden Einfluß aus die Bewegungen belebter
Wefen über die ganze Erde. Die senkrecht herabfallenden
Sonnenstrahlen erzeugen den üppigen Pflanzenwuchs unter
den Tropen und schwächen die Energie des Menschen ab.
In deu Polargegenden fallen die Sonnenstrahlen schräg,
I. W. Draper über
und deßhalb kann der Erdboden dort immer mit Schnee
bedeckt bleiben; die Polargegenden sind deßhalb unfrncht-
bar und nur spärlich bewohnt. Die Passatwinde treiben
nach diesen Regionen ungeheuere Massen von Orygengas,
welches aus den grünen Theilen der Pflanzen in der heißen
Zone zur Atmosphäre emporsteigt. Das Meer ist den-
selben Einflüssen unterworfen, welche in der Lust wirksam
sind. Der aus deu mexicanischen Gewässern hervorkom-
inende Golfstrom mit seiner durch Sonnenwärme erhöhten
Temperatur gibt, wenn er Europa sich nähert, seine latente
Hitze ab und mildert das Klima von England und Frank-
reich, Ländern, in welchen die Kälte und Unfruchtbarkeit
der unter gleichen Breiten liegenden Regionen Amerika's
durch gemäßigtere Temperatur ersetzt wird. D e ß h a lb (!!)
haben dort die Entwicklung des Geistes, die Künste
des Lebens, die Wissenschaft und Literatur ihre höchste Voll-
endnng erreicht. Ohne den Golfstrom würden Newton
und Milton nicht geschrieben haben."
Solche Gemeinplätze stellt Draper obendrein einseitig
hin; einseitig und theilweise unrichtig ist auch, was er über
den Einfluß des Klima's ans Süden und Norden sagt;
z. B. „Das Klima ist im Süden mehr ausgeglichen als im
Norden; im Süden ist das Leben und Treiben der Menschen
gleichartiger, ihre Interessen sind mehr identisch, sie denken
und handeln Eins wie das Andere. Im Norden ist größere
Mannigfaltigkeit; die starken Gegensätze von Winter und
Sommer dringen dem Menschen verschiedene Verrichtungen
für die verschiedenen Jahreszeiten auf. Der Südländer
kann Dinge auf morgen verschieben, welche der Nordländer
heute abthnn muß; folglich muß der letztere betriebsam,
der elftere kann träg sein; er bedarf geringerer Voraussicht
und weniger regelmäßiger Gewohnheiten. Die Kälte
erlaubt, daß der nördliche Mensch theilweise die Arbeit ein-
stelle, und dann hat er Gelegenheit zum Nachdenken; deß-
halb handelt er nicht, ohne zuvor überlegt zu haben,
er ist in feinen Bewegungen bedächtig. Der südliche
Mensch denkt nur wenig an die Folgen dessen, was er thnn
will. Der eine ist bedächtig, der andere folgt seinen
Wallungen. Wenn der Norden einmal entschlossen ist zu
handeln, dauu folgt er nur Vernunftgründen, und diese
werden den Enthusiasmus des Südens überdauern. An
physischem Mnthe sind beide einander gleich, aber die Aus-
dauer des Nordens, seine Methode und seine Gewöhnung
an Arbeit werden am Ende den Sieg behalten. Der Süden
streitet für den Vortheil seiner Führer und Leiter, der
Norden kämpft und erobert für den Vortheil Aller."
Wie man nur im Ernst solche Hohlheiten aussprechen
kann! Draper scheint zu meinen, daß die Erde nur eiue
horizontale Ausdehnung habe und nicht auch vertikale Er-
Hebungen, er vergißt, daß selbst in deu Äquatorialgegenden
Völker leben, die in einem hochnordischen Klima wohnen.
Und wo beginnt sein „Süden" oder sein „Norden"? Freut-
zosen, Holländer und Engländer, unserer Deutschen ganz
zu geschweige::, sind die nächsten Nachbarn, und wie ver-
schieden ist die geschichtliche Entwicklung dieser Völker!
Die Franzosen leben im nördlichen gemäßigten Klima, und
sie wären etwa nicht „impulsiv"? Doch weiter.
„Der Einfluß eines feuchten oder trockenen Klimas ist
von großem Belang. Sobald die Bevölkerung eines
Kontinents sich in Harmonie mit dessen physischen Verhalt-
nissen gebracht hat, wird er unzählige Beispiele von Modi-
stcationen der ursprünglichen Varietäten ausweisen, der
primitive Typus wird den ihn umgebenden Einslüssen
nachgeben. Deßhalb zeigt der amerikanische Eontinent
eine größere Summe physischer Verschiedenheiten als
Europa, und er wird znlekt eine viel größere Verschieden-
Globus IX. Nr. 4.
ie Zukunft Amerika's. HB
heit unter seinen Bewohnern aufweisen. Die großen
Unterschiede, welche man in-den geistigen Anlagen der Be-
wohner in der alten Welt antrifft, werden in der neuen
Welt noch viel mannigfaltiger fein."
Draper phantafirt dann über die Verschiedenheit der
europäischen und asiatischen Menschen; Asien gilt ihm für
die Wiege des Menschengeschlechts; dort sei in vorgeschicht-
liehen Zeiten eine erstannenswerthe Thätigkeit unter den
Menschen gewesen; dort habe man das Hausthier gezähmt
und den Gebrauch des Feuers zuerst gehabt. Als ob die
alten Amerikaner denselben erst von Asien hätten lernen
müssen!!
Die verschiedene geistige Begabnng und Anlage der
Europäer und Asiaten führt Draper, dem anthropologische
Studien fremd sind, aus die lange fortgesetzte und an-
dauernde Einwirkung der Klimate zurück! Das ist eine
ganz blöde, durch nichts gerechtfertigte Annahme, welche
sich in ihrer ganzen Nichtigkeit zeigt, sobald man die Jso-
therinen vergleicht, die sich dnrch beide Erdtheile ziehen.
Man steht dann sofort, daß Völker ganz verschiedener
Rassen unter denselben klimatischen Einwirkungen leben.
Russen und Samojeden und Ostjaken, Lappen und Nor-
weger, Kirgisen und Chinesen, Araber und Perser :e. müßten
dann dieselben Menschen und ganz gleichartig sein.
Nicht minder willkürlich und ins Blaue hinein generali-
sireud ist die Behauptung: „Die nicht zurückzuhaltende
Tendenz Enropa's ist auf die Philosophie gerichtet, jene
Asiens auf die Religion. Europa faßt die Außenwelt ius
Auge, erforscht die Begebenheiten der Natur und wendet
seine Entdeckungen zu praktischem Gebrauch an. Asien
blickt nach innen auf sich selbst; es kennt keine Fragen,
sondern nur Affirmationen. Europa aber hat immer den
Drang gehabt, Fragen aufzuwerfen, außer in der Periode,
da es zeitweilig dem asiatischen System der römischen Kirche
unterworfen war. Seit dein 14. Jahrhundert jedoch ist
es durch ein Chaos von Zweifeln hindurch gegangen, in
Folge der unzähligen Antworten, welche es auf seine Fragen
erhielt."
„Die Anwendung dieser Prineipieu" (!), so fährt Dra-
per fort, „anf Amerika ist klar. Wenn der menschliche Kör-
per den äußeren Einflüssen nicht widerstehen kann, welche
auf diesem Continente sowohl die Hautfarbe wie den Bau
des Gehirns verändern (was beides bekanntlich nicht der
Fall ist!), dann wird sich unvermeidlich jede Mannigfaltigkeit
im Charakter des Volkes zeigen. Gedanken und Handlungen
der Menschen werden keine natürliche Einheit haben, und
es wird demgemäß sehr schwierig sein, sie unter ein und
derselben Regierung zu vereinigen. Die Schwierigkeit ist
allerdings groß, aber nicht unüberwindlich, weil man sie
dnrch Erziehung und Verkehr nentralisiren kann."
Doch wir brechen hier ab. Es gehört eine nicht geringe
Dreistigkeit dazu, in unseren Tagen, da es doch eine Wissen-
schaft der Anthropologie gibt, mit einer folchen Art von
„Philosophie der Geschichte" hervorzutreten. Vor einem
halben Jahrhundert wäre es verzeihlich gewesen, mit so
platten, halbwahren und unwahren Ansichten aufzutreten,
jetzt verdient eiue so arge Uuwisseuheit, die obendrein
pompös und so apodiktisch austritt, gar keine Entschuldigung.
Und es ist kaum begreiflich, daß ein Arzt die Behauptung
wagte, das Klima könne Hautfarbe und Hirn des Menschen
umwandeln, und eben so unbegreiflich, daß ein Amerikaner
nichts weiß von deu Eigenartigkeiten der verschiedenen
Rassen.
Der Entwicklungsgang der Menschheit wird durch
fatalistische Spekulationen nicht im Mindesten erklärt.
15
114 H. v. Strantz: Die Di
Man kann von sehr verschiedenen Standpunkten über den
wunderbaren Wechsel und über-die tiefgreifenden Verände-
rnngen im Leben der Völker Betrachtungen anstellen, und
manche Denker haben behauptet, daß es doch, im Ganzen
genommen, nur wenig Neues unter der Sonne gebe. Die
einen rühmen unsere Fabriken und Dampfer als wunder-
bare Fortschritte unserer Zeit, und Andere sagen, daß schon
der jüdische Hofagent Joseph im Palaste der Pharaonen
Einen Kattunrock getragen habe, und daß wir Schrauben-
schiffe auf altägyptischen Malereien finden, die mindestens
in Abrahams Zeit hinaufreichen. Man darf die Dinge
nicht so beurtheileu, daß mau eine moderne Schablone
anlegt und die europäischen Meinungen und Ansichten der
neuesten Zeit für allein berechtigt hält.
Wer den Verlauf des Völkerlebens durch die Jahr-
tausende unbefangen betrachtet, wird sich sagen müssen,
rantengruben auf Borneo,
daß die menschliche Natur, so wie sie von Anfang an in
den verschiedenen großen Gruppen und deren Unterabthei-
lungen, also in Rassen- und Völkerfamilien, hervortritt,
sich in allem Wesentlichen nahezu gleich geblieben ist, und
daß die Summe der Erfahrungen, welche die Geschichte
mit alleu ihren Wechselfällen ihnen an die Hand gegeben
hat, sehr wenig an ihnen zu ändern vermochte. Das gilt
in gleichem Maße von Nationen aus den Stufen der Civi-
lisation, wie von denen, welche stets in Barbarei befangen
blieben. „Erziehung" ist ohne alle Frage ein trefflicher
Factor, aber die Träger dieser Erziehung thäten wohl, den
Einfluß derselben nicht zu überschätzen. Es gibt Verhält-
nisse, denen gegenüber sie nur sehr wenig oder gar nichts
vermag, und die von der Natur gegebeue Rassenanlage
wird durch sie nicht verändert. Natura, usque recurretl
A.
Die Diamantengr
Von Hugo
Die Diamanten, Gold uud Platiua enthaltenden Lagen
gehören der Diluvialzeit an und sind Folge einer Wasser-
slut. Obgleich diese drei edelsten Mineralien in ihren
secundären Erhöhungen zu einer gemeinschaftlichen Lage
von Geröllen gehören, sind sie doch, jede für sich selbst, in
verschiedene Klassen vertheilt, und zwar dergestalt, daß da,
wo die Diamanten vorherrschen, Gold und Platina nur in
geringer Masse angetroffen werden, hiugegeu dort, wo die
beiden letztgenannten Metalle vorherrschend sind, nur ein-
zelne Diamanten vorkommen.
Die genannten Schichten bestehen aus einem Conglo-
merat von Diorit, Syenit, Gabbro :c., vermischt mit ver-
schiedenen Quarzarten, unter denen wieder der weiße Quarz
vorherrschend ist. Feinen Quarz und Magneteisen ent-
hält dieses Eonglomerat gleichfalls. Die Dicke ist sehr
verschieden, zwischen einigen Fuß und einer Klafter; eben
so verschieden ist auch die Tiese, in welcher man dieselbe
antrifft; dieselbe beträgt oft nur einige Fuß unter der
Oberfläche und manchmal bis zu 2 oder 3 Klafter. Die
über dieser Eonglomeratlage (Panatu batu) befindliche
Erdschicht besteht aus einem, dnrch Eisen mehr oder minder
gelb gefärbten Thon. Die Diamanten, Gold und Platina
enthaltenden Eonglomeratlagen ruhen auf einer festen,
gelblichen oder grauen Lehmlage, und diese Metalle sind
in sehr abwechselnder Menge in derselben überall ver-
breitet. Die Diamanten dagegen findet man für sich selbst
auf einzelnen Plätzen.
In dem Gebiete von Bandjermasin sind die Diamanten-
lager längs der Sohle der Thäler der wasserscheidenden
Landgürtel und längs dem Fuße des Gunong Bebaris in
einem flach oder sanft ansteigenden Terrain verbreitet.
Ferner findet man sie an den Flüssen Batn Api und Karaug
Jntan und deren Nebenflüssen, auch in den Flächen, die an
dem südwestlichen Ende des Gnnong Bibaris und der
östlichen Wasserscheide südlich von Martapura sich an-
schließen.
Hat man beim Graben die Ueberzengnng gewonnen,
daß irgendwo Diamanten vorhanden sind, d. h. hat man
ltben aus Borneo.
v. Strantz.
in dem Gerölle einzelne kleine, abgerundete Quarzstücke
von blaugrauer oder schwärzlicher Farbe (Batu Timahan)
gesunden, so gräbt man weiter, denn dieser Stein wird nur
gefunden, wo Diamanten sind. Dann gräbt man Schächte
im Durchmesser von 3 bis 4 Fuß, sogenannte Lobang,
welche 2 Klafter entfernt von einander angebracht werden.
Die Tiefe derselben richtet sich nach dem Abstände der Dia-
Manien enthaltenden Lage von der Erdoberfläche an genom-
men und auch nach ihrer Mächtigkeit. Sobald diese durch-
bohrt ist, uud nachdem man ihre früher erwähnte Unterlage
(Pendakan amber anom oder Tanah lihat) erreicht
hat, ist der Schacht beendet. Wenn er tiefer als 2 Klafter
liegt, wird er der Sicherheit halber sehr einfach mit Holz
ausgekleidet. Die Seitengänge sind nicht länger als 1 bis
2 Klafter, da sie auf diesen Abstand den einen oder den
andern der in großer Menge angelegten Schächte oder die
von denselben ausgehenden Gallerien treffen, so daß die
Tanah luaug durch diese Gäuge überall durchschnitten und
unterhöhlt ist.
Diese Gänge haben eine nach dem andern Ausgange
sanft abhängende Krone, um das Einstürzen zu vermeiden,
von Abstand zu Abstand durch einen Rahmen unterstützt,
auf dessen oberer Schwelle wieder dünne Baumstämme
ruhen.
Bei Schächten von einer Tiese von 2 Klaftern oder
mehr werden, um das Heraufbringen der Erde zu erleich-
tern, vonKlaster zu Klafter kleine Leitern, Tanga genannt,
angebracht. Das Heraufbefördern des den Diamant ent-
haltenden Sandes und des Wassers geschieht vermittelst
kleiner Körbe und Eimer, welche die Arbeiter einander zu-
reichen. Auf jeder Leiter steht ein Mann, der von dem
unter ihm stehenden den gefüllten Korb und den Wafser-
eiiner annimmt und ihm zu gleicher Zeit mit der linken
Hand die von oben kommenden bereits geleerten überreicht.
In einem Schacht von 3 Klafter Tiefe sind 4 Menschen in
Folge dieser unzweckmäßigen Arbeit nöthig. Bei jedem
Schacht werden gewöhnlich 6 bis 8 Mann angestellt, die
an einem Tage eine Klafter tief kommen. Das eindringende
H. v. Strautz: Die Dia
Wasser macht die Arbeit sehr beschwerlich, denn in kurzer
Zeit füllt es oft den ganzen Schacht bis oben.
^ Während der Nacht wird nicht gearbeitet, und man
muß an jedem Morgen auss Neue mit der Arbeit beginnen.
Nach dem Ausschöpfen bleibt der Grund während des
ganzen Tages so trocken, daß man die Arbeit fortsetzen kann,
ohne durch das Wasser bei derselben belästigt zu werden.
Da, wo die Diamanten enthaltende Lage nur einige
Fuß tief ist, sind Schächte überflüssig; man entfernt allein
die Erdlage. Der gewonnene Diamantensand (Lamba-
kan) wird von den Steinen gesäubert, in Haufen neben
die Eingänge der Schächte geschüttet, durch eiu Dach von
Blättern vor dem Regen geschützt, und erst wenn man
eine genügende Menge bei einander hat, geht man zur
Wäsche über.
Diese geschieht in einem durch den Minendistrikt laufen-
deu Bach, oder iu einem durch denselben geleiteten Kanal.
Dabei werden folgende Werkzeuge gebraucht: Das Schöpf-
sieb (Aukatan), das Waschsieb (Lege oder Ajakh) und
Waschnäpfe (Lingganan). Das Schöpssieb nimmt den
Diamantensand auf, welchen man nun nach der Reinigungs-
stelle bringt. Diese Körbe sind ungefähr 1V2 Fuß lang und
% Fuß breit und halb ellipsoidisch, haben einen starken Rand,
und die nach unten zusammenlaufenden und die gebogene
Oberfläche bildenden Bambusquerhölzer sind so nahe bei
einander angebracht, als für den Zweck nöthig ist. Die
Lege ist ein 4Fuß langer nnd IVa Fuß breiter halbciliuder-
förmiger Korb. Er wird in das strömende Wasser gesetzt,
und durch deu Angkatan wird der Diamantensand hinein
gethan. Durch Umrühren mit den Händen wird dieser
von dem ihm nock anhängenden Schlamm geschieden und
letzterer durch das strömende Wasser mitgeführt. Die auf
solche Weife vorläufig gereiuigte Erde wird mit dem Ajakh,
einem Korbe, der eben fo wie der Angkatan eingerichtet,
jedoch mit größeren Zwischenräumen verseheu ist, nach
und nach herausgenommen und einer zweiten Wäsche uuter-
worsen. Nachdem man eine zweite, jedoch leere Lege
darunter gesetzt hat, wird in dem Ajakh die Diamanten
enthaltende Erde weiter verarbeitet. Die Oessnungen in
derselben sind so groß, daß sie alle kleinen Steinchen bis
zur Größe einer Erbse und daher auch noch Diamanten
von 4 bis 5 Karat durchlassen. Dann wird der Ajakh
uuter dem Wasserspiegel hin und her geschüttelt, während
man mit der linken Hand die in demselben enthaltene Erde
gut umrührt. Dadurch werdeu außer der vollkommenen
Reiniguug von dem Schlamme auch die größeren Stücke
des feinen Sandes abgesondert, welche durch den Sieb in
die untergestellte Lege fallen.
Was in dem Ajakh zurückbleibt, wird sorgfältig unter-
sucht. In eine speeielle Beschreibung, welche nur ermüden
könnte, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die
Arbeiter werden von Aufsehern überwacht, und diese stehen
ihrerseits unter Controle. Einer derselben nimmt die
großen Diamanten in Empfang, während ein Anderer für
das Waschen in dem Lingganan Sorge trägt und die dort
gewonnenen Diamanten einsammelt. Gewöhnlich findet
man hier nur noch kleine oder sogenannte Taubdiamanten,
oder solche, vou denen mehre einen Karat ausmachen;
Diamanten von größerem Karatgehalt gehören zu den
Seltenheiten, und es vergehen oft Jahre, ehe man einen
von außergewöhnlicher Größe findet.
Die Anzahl der Arbeiter in den Minendistrikten ist sehr
verschieden und hängt natürlich von der Ausdehnung der-
selben ab. Es gibt Minen, in denen 250 Arbeiter
antengruben auf Bomeo, 415
beschäftigt werden; auch andere, in denen 800 bis 1000
und noch mehr arbeiten können. Jedem Eingebornen ist
erlaubt, sich iu einem Minendistrikte Diamanten zu waschen.
Er bekommt von dem Besitzer weder Lohn noch Speisung,
dagegen erhält er das Gold und alle von ihm gewaschenen
Diamanten, die nicht schwerer als 2 Karat sind. Die
schwereren muß er gegeu 20 Gulden per Karat an den Be-
sitzer abliefern; auch müssen die kleineren, wenn es der
Besitzer verlangt, ihm gegeu 18 Guldeu per Karat eiuge-
händigt werden. Trotz meiner Bemühungen ist es mir
nicht gelungen, zu erfahren, wie viel die jährliche Einnahme
einer Mine betrug, denn die Besitzer bewahren über diesen
Plmkt tiefes Stillschweigen. Doch ein Aufseher in dem
Distrikt Knsan versicherte mich, daß Minen mit 200 Ar-
beitern durchschnittlich im Jahre 40,000 Gulden Einkünfte
bringen. Die Minen des Thronfolgers von Bandjermasin
am Gunong Lawakh, in denen durchschnittlich 1200 Ar-
beiter beschäftigt sind, würden dann diesem Fürsten jährlich
24l),000 Gulden einbringen, welche Summe sich oft uoch
höher stellt, wenn sehr große Diamanten gefunden werden.
Es ist vorgekommen, daß man früher einen Diamant von
74 und vor einigen Jahren von 106 Karat gefunden hat.
Das Ansehen der rohen Diamanten, namentlich der
größeren, ist sehr gewöhnlich, und dieselben gleichen durch-
scheinendem Quarz mit einer matten und gestreiften Ober-
fläche, während die kleineren glänzen und den geschliffenen
ähnlich feheu. Alle jedoch, große wie kleine, werden stets
in Krystallform angetroffen. Außer deu ganz farbenlofen
und wasserhellen findet man auch gelbliche, grünliche und
braune Diamanten, die jedoch den wasserhellen an Werth
nachstehen.
So wie der Batn Timahan den Eingebornen die
Diamantenlage anzeigt, so zeigt die sogenannte Dia-
mantenseele an, daß man keine mehr findet.
Diese Diamantenseele ist ein schwarzbrauner, durch-
scheinender, deu gewöhnliche:: Diamant an Härte über-
treffender und daher nicht zu schleifender Diamant, mehr
oder weniger von runder Form uud matter Oberfläche.
Man trifft ihn in der Größe von Schrot bis zur Größe
einer Erbse an, und er wird als Talisman gegen Unglück
nnd Krankheiten in einem Ringe getragen.
In welcher Beziehung übrigens diese Diamantenseelen
zu der Anwesenheit der Diamanten stehen, ist schwer zu
begreifen. Der Grund liegt vielleicht im Aberglauben,
oder es läuft Betrug mit unter. Der Anblick einer aus-
gebeuteten Diamantenmine ist ein Bild wilder Verwüstung.
Der Preis der Diamanten in Bandjermasin ist sehr ver-
schieden und soll nach der Aussage glaubwürdiger Per-
sonen aus Batavia höher fein als auf Java. Den gegen-
wärtigen Preis findet man durch das Quadrat der Karate
mit 30 Gulden, für ungeschliffene mit 20 Gulden mnlti-
plicirt. Die Kuust des Diamantenschleifens, in Europa
erst seit 1456 bekauut, muß auf Bandjermasin bereits
durch den Sultan Sapvh, der Diamautenschleifer von
Java kommen ließ, eingeführt sein, während durch chine-
sische Händler die Fürsten zuerst mit dem hohen Werth der
Steine bekannt gemacht worden sind.
Einer Sage zufolge sind die Diamanten die verstei-
nerten Thränen einer unglücklich liebenden uud betrogenen
Fürstin, Batn Jntan genannt, welche dieselben in der Wild-
niß vergossen hat.
Ans dieser Beschreibung der Diamantenmmen wird
man hinlänglich ersehen haben, daß die Bearbeitung der-
selben noch auf einer tiefen Stufe der Ausbildung steht.
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Fviedr. Brinkmann: Das Atmthal und der Almsee.
a s A l m t h a l und der A l m s e e.
Reisebild aus Oberösterreich von vr. Friedrich Brinkmann.
I.
v ■
O rühmet immerhin Mir eure lauten Feste —
Rühmt mir den Ambraduft der hohen Teppich',immer.
Den Silberschmuck, der Glanz der würz'gen Tafel leiht,
Den Wein, der wie Rubin erglüht im Kerzenschimmer,
Der Mädchen sntz Geschwätz — ihr lockt, ihr lockt mich niminer;
Ich wähle dich, o Einsamkeit.
G e i b e l.
In der Hauptkette der Alpen Oberösterreichs, die sich
bei dem östlich vom Großglockner gelegenen Wachteck von
der Centralkette der Norischen Alpen abzweigt und sich in
einer Ausdehnung von etwa 15 geographischen Meilen
gegen Nordosten erstreckt, treten besonders zwei große Ge-
birgsstöcke hervor, wovon sich der eine am westlichen Ende,
um den Dachstein oder Thorstein, der andere ungefähr
in der Mitte der Kette um deu großen Priel zusammen-
gruppirt. Wie der Dachsteiu der Glanzpunkt der Gebirge
des Salzkammergutes ist, so der große Priel mit den an
ihn sich anschließenden Bergen (das Gebirgspanorama des
sogenannten „Hinteren Stoder") das Erhabenste, was nn
östlichen Theile des Traunkreises an Naturgenüssen sich
bietet.
Zwischen diesen beiden Gruppen liegt ein Gebirgs-
Plateau, das wegen seiner wilden Natur und des Mangels
an Vegetation den Namen des Todten Gebirges erhalten
hat, die ausgedehnteste Hochgebirgswildniß, die es in den
Norischen Alpen gibt. Seinem größten Theile nach gehört
es zu Steyermark und nur mit seinem nördlichen Abhänge
zu Oberösterreich. So wüst und abschreckend es selbst ist,
so ist es doch vou einer Fülle reizender Seelandschaften
rings im Kranze umgeben: auf steyermärkischer Seite von
dem See von Altaussee, dem Grundelsee, dem Töplitzer See
und dem Kammersee; ans oberösterreichischer von dein
Offensee, dem Almsee atub den Seen der Hetzau. Von den
letzteren sind derOffenfee und die Hetzauer Seen tief in den
Bergen versteckt und nur auf Fußpfaden zugänglich. Der
Almsee hingegen, hart air den schroffen Abhängen des
Todten Gebirges gelegeil, hat sich durch deu ihm entjtrö-
Menden, gerade gegen Norden gerichteten Almbach einen
Zugang zur oberösterreichischen Ebene gebahnt und steht
mit derselben durch eine gute fahrbare Straße in Verbin-
dullg. Diese ist daher auch der Weg, den nian gemeinig-
lich einschlägt, um die anderen zu beiden Seiten liegenden
Seen, den Offensee und die noch kleineren Seen der Hetzau,
zu besuchen. Da zudem das Almthal das zunächst aus
das Salzkammergut und das Trauuthal gegen Osten fol-
gende Nebenthal der Traun ist, fo war es natürlicherweise
mein nächstes Ziel, als ich gegell Mitte August des vorigen
Jahres Gmnnden am Trannfee verließ, um deu östlichen
Theil Oberösterreichs (den Traunkreis mit Ausschluß ^es
Salzkammergutes) zu besuchen.
Da, wo dies Thal zum ersten Male dem von ker
Ebene stromaufwärts ziehenden Wanderer eine entschiedene
Gebirgslandschaft darbietet, liegt das Dörfchen Scharn-
stein. Von Gmnnden ans ist es zu Fuße'etwa in drei
Stlmden zu erreichen. Der Weg geht viel bergauf und
bergab und ist dazu iit einem ziemlich schlechten Zustande,
weßhalb man zu Wagen kaum schneller fortkommt, und die
gmundener Lohnkutscher auch bei hohem Lohne nur sehr
ungern sich dazu entschließen, Fahrten nach Scharnstein und
dem Almsee zu unternehmen. Postverbindung existirt
aber hier wie auf so vieleu anderen ungleich wichtigeren
Straßen Oberösterreichs gar uicht.
Scharnstein, am linken Ufer des Almbaches in einiger
Höhe über demselben gelegen, hat seinen Namen von der
alten Burg und Feste Scharnstein erhalten, deren ansehn-
liche Ruinen schräg gegenüber all der rechten Thalwand sich
erheben. Diese hat hier schon eine Höhe von etwa 4 bis
5000 Fuß über dem Meere. Sie ist durch einen Bach,
den Dießenbach, durchbrochen. Das scheinbar so unbedeu-
tellde Wässerchen hat sich tief iu das Gestein eingegraben,
die Felsen thürinen sich sehr schroff in meist senkrechten
Wänden rings gegen das Seitenthälchen auf und sind nur
von dem Almthal aus zugänglich, wo sie eiue sanftere und
grün bewachseue Abdachung zeigen. Alls den schroffstell
dieser Felsenklippen, die gerade da, wo die Schlucht gegeu
das Almthal sich öffnet, schwarz, unheimlich nnd unnahbar
empordräuen, mehre hundert Fuß über der Thalsohle
(etwa 1700 Fuß über dem Meere) ist nun die Burg
Scharnstein entstanden, durch viele Jahrhunderte der Sitz
mehrer der mächtigsten Herrengeschlechter Oberösterreichs.
Sie war immer, so lange sie als solche bestand, der Haupt-
ort des ganzen Thales, die Residenz seiner Herrscher oder
deren Vertreter; das Thal theilte alle Schicksale der Burg,
und darum ist die Geschichte der Burg die Geschichte
des Thales.
Wir können diese weiter in die Vergangenheit hinauf
verfolgen, als es gemeiniglich bei der Ortsgeschichte
möglich ist, bis ins 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
Das Almthal wurde nämlich vom Herzog Thassilo Ii. von
Bayern dem Stifte Kremsmünster gleich bei dessen
Gründung (inl Jahre 777) geschenkt, und Karl der Große
fügte den Almsee hmzu (im Jahre 802). Rasch wuchsen
im Laufe des 9. Jahrhunderts die Besitzungen des Klosters
all, besonders durch die großen Schenkungen Köllig Arnulfs
(im Jahre 893), so daß sie ums Jahr 900 von den Alpen
bis znr Donau in einer Ausdehnung vou 12 Stlindeil sich
erstreckten. Jni folgenden Jahrhunderte wurde aber das
Stift noch viel schneller, als es emporgebluht war, an den
Rand des völligen Untergangs gebracht, und zwar durch die
Einfälle der „Hunnen", denen diese der damaligen Ost-
grenze des Reiches so nahe gelegenen Länder besonders
ausgesetzt waren. Nach der Vertreibung dieser Ungarn
(im Jahre 955) wurde es zwar von Heinrich dem Heiligen
inl Jahre 1007 wieder hergestellt, aber mit viel geringeren
Besitzungen, als es früher beherrscht hatte.
Insbesondere kamen der Almsee llnd das Almthal in
die Hände verschiedener anderer Herren. Unter ihnen
waren die mächtigsten die Herren von Pollheim.
Sie standen im Vasallenverhältnisse zu den Markgrafen
von Steher und bildeten unter deren Lehnsschutze um die
von ihnen gegründete Burg Scharnstein eine Herrschaft mit
weit ausgedehntem Gebiete, die von der Burg den Namen
Friedr. Brinkmann: T
erhielt. Ein Allram von Scharnstein kommt ums Jahr
1232 in einer Urkunde vor, ein Philipp von Scharnstein
wurde von Rudolph von Habsburg 1278 zum Ritter
geschlagen.
Bei diesem Geschlechte blieb Burg und Herrschaft bis
zum Jahre 1335. Daun ging sie in raschem Wechsel
aus andere Häuser über, bis sie iiu Zeitalter der Resor-
matiou wieder lauge Zeit einem und demselben Geschlechte
angehörte, denFreiherren von Jörger. Es ist bekannt,
mit welcher Schnelligkeit die Reformation sich in Ober-
Österreich verbreitete, und wie gegeu das Eude des 16. Jahr-
huuderts das gauze Laud mit Ausnahme des Prälaten-
standes ihr anhing. Hervorgehoben zu werden verdient es
aber, daß die beiden großen Geschlechter, welche die Burg
Scharnsteiu die längste Zeit besaßen, sowohl die Poll-
heim als die Jörg er, in den gewaltigen Kämpfen, die
das Land seiner Religion wegen gegen seine Herrscher und
Bedrücker, insbesondere gegen Kaiser Ferdiuaud II. zu
besteheu hatte, als Führer der Protestanten sich auszeich-
ueten. Ein Siegmuud von Pollheim war es, den die
Stände von Oberösterreich 1619 zum Landeshauptmann
und interimistischen Regenten des Laudes bestellten, bis
Ferdinand die Rechte der Stände bestätigt und die Huldi-
guug persönlich eutgegeugeuommeu haben würde, mit
welchem Schritte der Widerstand des protestantischen Landes
gegen die Bekehrungspläne des bigotten Ferdiuaud begiuut.
Ein Weckhart von Pollheim erscheint unter den Abge-
ordneten, welche in Brüssel deu eigentlichen Herrn des
Landes, den Erzherzog Albrecht, Regenten der Niederlande,
bewegen sollten, sein Recht nicht an jenen Ferdinand, der
bis dahin nur seiu Bevollmächtigter gewesen, abzutreten.
Ein Hanns von Jörger war es, den die Stände nach
Böhmen schickten, um sich mit dem Haupte der sich erheben-
den Böhmen, dem Grafen von Thnrn, in Verbindung zu
setzen, der damals auf deiu Wege nach Oesterreich war,
bald darauf vor Wieu stand und ohne ein besonderes
Unglück den Kaiser in feine Gewalt bekommen hätte. Als
dann der Krieg offen ausgebrochen war, stand ein Karl
von Jörg er au der Spitze der Truppen der Stände um
Windischgarsten. Nach dem unglücklichen Ausgange der
Sache (1621) wurde er gefaugeu genommen und in Passau
eingesperrt, wo er bald darauf (1623) im Kerker sehten
Tod fand. Ein ähnliches Schicksal erfuhr sein Vetter,
Helmhart von Jörg er, der feit 1583 Scharnstein
besessen hatte. Er wurde als Hochverräther zum Tode ver-
urtheilt, das Urtheil aber nicht vollzogen.
Seitdem verschwinden beide Häuser aus der Geschichte
Oesterreichs. Wahrscheinlich sind sie in Folge des Dekretes
von 1627, wonach den Protestanten keine andere Wahl
gelassen wurde als auszuwandern oder katholisch zu werdeu,
wie so viele ihrer Landsleute aus alleu Ständen, aus-
gewandert.
Diese Katastrophe, die mit der Niedertretung des
Protestautismus über Oberösterreich hereinbrach und in
ihren unheilvollen, den Wohlstand des ganzen Landes in
unheilbarer Weise zerrüttenden Folgen nur mit dem Schick-
sale Böhmens nach der Schlacht auf dem Weißen Berge zu
vergleichen ist, benutzte nun aber das Stift Krems-
Münster, nach dem naiven Geständnisse seines Geschieht-
schreibers U. Hartenschneider, recht glücklich, um seinen sehr
heruntergekommenen Besitzstand wieder zu vergrößern, in-
dem es „die feilgebotenen Herrschaften der des Landes ver-
wiesenen Rebellen ankaufte", und so wußte es auch im
Jahre 1625 die Herrschaft Scharusteiu bis zum Almsee
vom Eisens käuflich an sich zu bringen. Es blieb in diesem
Besitze bis zum Jahre 1848. Nach deu Veränderungen,
Almthal und der Almsee, 117
die dies Jahr in ganz Oesterreich herbeigeführt hat, siud
ihm jetzt nur noch einzelne Gerechtsame und großer Wald-
besitz geblieben.
Zu bemerken ist noch, daß der Almsee selbst nicht alle
Schicksale des Almthales theilte, sondern eine gesichertere
Besitzung Kremsmünsters war und diesem bis zur Stunde
gehört. Der Arm der Herren von Pollheim reichte zwar
anch bis hieher; lange hatten sie mit dem Stifte Streitig-
fetten wegen des Saiblingfanges anf dem See, und wenn-
gleich 1285 ein Vergleich zu Staude kam, fo faud doch
noch Kaiser Marimiliau I. es für uöthig (1505), den Be-
sitzern von Scharnstein einzuschärfen, daß das Stift Krems-
Münster in feinem Fischfang aus dem Almsee nicht beein-
trächtigt werden solle.
Die Ruinen der Burg Scharnstein sind von
höchst eigentümlicher Beschaffenheit. Schauerlich nehmen
sie sich von dem Seitenthale des Dießenbachs aus, wie sie
mit den schroffen, nackten Felsen, anf denen sie stehen, aus
dem düstern Walde hervorragen, als schrien sie in ihrer
entsetzlich zersetzten Gestalt um Rache für all die Greuel,
die mit der Geschichte des Untergangs ihrer alten Herren
.verflochten sind. Wenn wir zn ihnen hinaufgestiegen,
müssen wir staunen, wie diese Mauerfetzen von etwa 20 bis
30 Fuß Höhe und nur 3 bis 4 Fuß Breite uud Dicke, dazu
ans kleinen Steinchen bestehend, sich halten können und nicht
schon längst vom Winde weggefegt worden sind. Der Um-
fang der alten Burg ist uoch durch sie angedeutet, aber auch
nichts weiter. In der Mitte liegt ein großer Schutthausen.
Stehen wir ans diesem, so werden wir von einem seltsam
gemischten, halb freudigen, halb wehmüthigen Gefühle
ergriffen. Wir schauen durch die weit gähnenden Mauer-
lücken wie durch ebeu so viele Rahmen nach allen Seiten
in die lebenvolle grüne Landschaft hinein, in das breite
Thal des Almbaches, mit zahlreichen, rings zerstreuten
menschlichen Ansiedluugeu, und in die dunkelgrünen, eng
aneinander gerückten Berge des Nebenthales. Unten in der
Tiefe stießt der durch die starken Regengüsse hoch bis zum
Rande der User angeschwollene und gelbgesärbte Strom,
pfeilschnell dahinfchießend, und sein wüthendes Toben
erfüllt das ganze Thal, als grolle anch er untröstlich über
die entschwundene alte Herrlichkeit.
Einen freundlicheren Eindruck macht die Gegend, wenn
wir von den Ruinen, dieser Brutstätte trauriger Gedanken,
wieder ins Thal hinabsteigen uud über den Fluß in das
Dorf zurückkehren. Man wird in dem ganzen östlichen
Oberösterreich kein Dorf finden, welches ein fo vortreffliches
Wirthshans besäße als Scharnstein, ganz besonders nicht
diese freundlichen, behaglichen, mit städtischem Comfort
ausgestatteten Zimmer, die zugleich die herrlichste Aussicht
in die Gegend gewähren. Durch alle Fenster blicken die
grünen, tannenbewachsenen Berge des Thales in das Zim-
mer, zur Rechten schräg gegenüber liegen die Ruinen der
Burg, jedoch in solcher Entfernung, daß sie in der ganzen
Landschaft wenig hervortreten, hier und da durchbricht ein
nackter Fels den Waldwnchs auf dem gegenüberliegenden
Bergabhange, die grünen Wiesen ziehen sich vom Flusse in
zahlreichen Streifen gegen die Höhe in den Wald hinein,
und in sie sind recht malerisch die weißschimmernden Häuser
zerstreut. Unten längs dem Flusse liegen die stattlichen,
massiven Gebäude mehrer Sensengewerke, die Thalsohle
aber bedeckt ein reicher Wnchs von Laubholzbäumen, und
selbst das Rauschen des Wassers, das uns oben auf der
Bnrg wie ein grollendes Toben vorkam, ertönt hier viel
sanfter, nur als einschläfernde Musik.
Da man nun zudem eine gute österreichische Küche und
118 Friedv. Brinkmann: T>
sehr freundliche und zuvorkommende Wirthe (eine große
Seltenheit in Oberösterreich) hier antrifft, so eignet sich
Scharnstein vortrefflich zum Landaufenthalte für einen
Jeden, der ernstlich und ohne Selbsttäuschung (die indessen
in diesem Punkte sehr häufig ist) nach einem durchaus
ruhigen Orte und einer schönen, in ursprünglicher Natür-
lichkeit uoch dastehenden Alpenlandschaft verlangt. Die
hauptsächlichsten hier ansässigen Vertreter der Bildung, als
der Arzt des Dorfes, der Oberförster des Stiftes, der
Bürgermeister, einige Besitzer der unten an der Alm
gelegenen Sensengewerke, der Schullehrer und die Geist-
lichen des eine Viertelstunde entfernten Dorfes Viechtwang,
zu defseu Gemeinde auch Scharustein gehört, kommen in der
Regel des Abends in dem Herrenstübcheu zusammen und
sehen in dem anspruchslosen Fremden einen willkommenen
Zuwachs ihrer Gesellschaft.
Eine ehrenvolle Erwähnung verdient hier endlich noch
ein Umstand, der besonders dem von Altbayern hieher
kommenden Fremden auffallen wird, nämlich, daß in dem
Wirthshause dieses so abgelegeueu Gebirgsdörschens Ober-
österreichs eine große politische Zeitung, die Wiener Morgen-
post, das Familienjournal und die Gartenlaube gehalten
werden. Damit haben wir aber einen sehr charakteristischen
Zug von Land und Leuten Oberösterreichs berührt, viel-
leicht denjenigen, der uns am meisten für dieses einnimmt
und es aiu vorteilhaftesten vor anderen Alpenländern,
insbesondere vor Altbayern auszeichnet: das ist der Drang
nach Licht. Selteu trifft man ein ansehnliches Dorfwirths-
Haus, wo uicht die eine oder andere der großen öfter-
reichischen Zeitungen gehalten wird, in der Regel stnd es
sogar zwei, die Wiener Presse und die Morgenpost, und wo
diese beiden sich finden, stellt sich als dritte im Bunde gewöhn-
lich die Gartenlaube ein. Diese größere geistige Regsamkeit
des Oberösterreichers erinnert uns mehr als alles Andere
daran, daß trotz der inuigeu Verwandtschaft mit dein Alt-
bayern doch seinem Blute in einem beträchtlichen Verhält-
nisse noch andere als bojuwarische Bestandtheile beigemischt
sind, und daß unter ihnen besonders das lebendige fränkische
Element es war, welches bei der Colonisation des den
Slaven entrissenen Landes mit dem bayerischen sich der-
einte, um die Grundlage der deutschen Kultur zu legen.
Setzen wir jetzt unsern Weg zum Almsee weiter
fort. Leider hatte ich, nachdem ich das eine Meile entfernte
Dorf Grünau erreicht hatte, die ganze weitere Strecke bis
zum See, 2Vs Stunden, in fortwährendem Regen zurück-
zulegen. Nach einer Stunde erreichte er eine folche Heftig-
keit, daß ich sehnlich nach einem Hause verlangte, wo ich
wenigstens den ärgsten Guß vorübergehen lassen könnte.
Die Häuser werden aber von Grünau an sehr selten, nnd
so war ich denn sehr froh, als ich ein einzeln stehendes Ge-
bände erblickte, das nahe vor dem großen Walde lag,
durch die letzte Strecke des Weges mehr als eine Stunde
lang bis zum See sich zieht. Seltsam sah es im Innern
aus. Es bestand nur aus einem Vorhause, das zugleich
als Küche benutzt wurde, und einem großen Schlafsaale,
an dessen Wänden rings eine Menge von Betten, etwa ein
Dutzend, standen, mit Matratzen und Kopsrollen. Außer-
dem befand sich nur noch ein langer Tisch in der Mitte.
Zwei Frauen waren darin mit häuslichen Arbeiten beschäs-
tigt. Sie unterrichteten mich, daß dies Haus eine söge-
nannte Pionirkaserne sei, die Wohnung derjenigen Sol-
daten, die in den ringsum gelegenen Staatswaldungen die
Bäume zu fällen hätten, und luden mich freundlich ein,
so lange zu bleiben, bis der Regen nachgelassen habe. _ Da
ich aber wohl mit Grund befürchtete, es möchte in diesem
Almthal und der Almsee.
Schlafsaale so vieler Menschen ein gewisses kleines, zur
Qual der ruhebedürftigen Menschheit geschaffenes Wesen
in nicht unbeträchtlichen Schaaren sich aushalten und auch
bei Tage seine Springerkünste üben, so dankte ich bestens
und zog es vor, im strömenden Regen weiter zu marschiren.
Räch einer Stunde kam ich nach der Habernan,
einem grünen Thalkessel mit einigen Bauernhäusern, wovon
eines zugleich ein Wirthshans ist. Da die Entfernung bis
zum Seehaufe noch eine Stunde beträgt, so trat ich hier ein
und ruhte mich etwas aus. Als die Wirthin mich in der
kleinen Gaststube allein gelassen hatte, um mir den
gewünschten Mokkatrank zu bereiten, sah ich mich etwas
um und bemerkte in meiner Nähe auf einem Brette an der
Wand mehre Bücher, von denen einige durch ihre Dick-
leibigkeit meine Neugierde besonders reizten. Ich konnte
nicht umhin, sie mir herunter zu langen und etwas durch-
zusehen. Es waren Alles geistliche Erbauungsbücher,
Hauspostillen. Die dickste, etwa 1400 Seiten lang, nannte
sich: Eberhardt Caspari christliches Handbuch von Christi
Leben, Leiden und Glorie, 1782 gdr. Von einem anderen
dieser Bücher, dessen Verfasser ein gewisser Gossine war
(1861 gdr.), versicherte mir später die Wirthin, daß die
Dienstboten Sonntags recht gerne darin läsen, wenn sie
wegen der weiten Entfernung uicht in die Kirche gehen
könnten. Aus dem Tische lag noch eine Sammlung aus
deu Evangelien für Kinder. Diese fünf bis sechs Bücher
sind als Bestand einer Hausbibliothek in einer fo abge-
legenen Einöde Oesterreichs, wie die Habernan ist, durch-
aus nicht unerheblich. Nur schade, daß sie alle von dem-
selben Gegenstande handeln, und dazu von einem solchen,
wo ein gutes Beispiel mehr wirkt, als alle Worte. Die
Leute bleiben aber doch wenigstens in der Gewohnheit zu
lesen, das sie bei Mangel an Gelegenheit nur zu leicht
verlernen.
Ein erfreulicheres Zeugniß für den oben hervorgeho-
benen Bilduugstrieb der Oberösterreicher enthielten
einige Thatfachen, die mir die Wirthin, eine freundliche,
gesprächige Frau, unter anderen mittheilte, während ich
ihren guten Kaffee mir schmecken ließ. Sie beklagte es
sehr, daß sie so weit zur Kirche zu gehen habe, da das ganze
Almthal von Scharnstein bis oben zum Seehause des Alm-
sees zur Pfarre von Grünau gehöre (diese ist eine der
größten Oberösterreichs, hat 24 Stunden im Umfange und
zählt an 7V Berge, darunter den großen Priel). Noch
empfindlicher sei aber diese große Entfernung des Pfarr-
ortes für die Erziehung der Kinder. Da nun ihr Töchter-
chen, ein Kind von etwa 10 Jahren, den weiten Weg nach
der Schicke in Grünau hin und zurück nicht jeden Tag
machen könne, so habe sie ihm lange Zeit einen Hauslehrer
gehalten. Das sei aber endlich zu theuer geworden, und
so habe sie sich genöthigt gesehen, das Mädchen in Grünau
bei Bekannten in die Kost zu geben, so daß es die ganze
Woche abwesend sei und nur Sonnabend und Sonntag zu
Hause zubringe. So etwas thut eine einfache, nicht ein-
mal besonders wohlhabende Bäuerin, dazu eine Wittwe,
in den Bergen Oberösterreichs für die Erziehung ihrer
Kinder. Ich möchte wohl wissen, ob sich in dem ganzen
Gebiete des bayerischen Gebirges auch nur ein einziges
Gegenstück dazu auffinden ließe. Die eigene Erfahrung
und die Schilderung, die uns Stenb („Hochland". S. 16 ff.)
von bayerischen Bauern gibt, machen uns sehr geneigt, jene
Frage zu verneinen.
Ein anderer, weniger ansprechender, aber nirgendwo
im ganzen Lande fehlender Charakterzug Oberösterreichs
trat mir an demselben Orte entgegen. Es war da in der
„Gaststube" ein Cretin (gemeiniglich „TorM", hier
Friedr. Brinkmann: T
„Strumm" genannt), von dem Aeußeren, wie man diese
unglücklichen Wesen in der Regel findet: von der Größe
eines Kindes, gelber Gesichtsfarbe, blöden Augen, der
Mund verzerrt durch ein immerwährendes grinsendes
Lächeln, die Sprache ein Gemenge roher, fast thierischer
Laute, durch die er sich iudesseu den Leuten, die ihn kannten,
verständlich machte. Uebrigens betrug er sich ruhig im
Zimmer. Man sagte mir, er habe die Wartung des Viehs
der Wirthin und rühmte ihn als einen zuverlässigen, vor-
trefflichen Hirten. Es war mir interessant zu bemerken,
wie selbst auf diesen äußersten Grenzen der Menschheit
Spuren individuellen Gepräges zu erkennen waren. Der
größte Schatz dieses armen Burschen, den er stets mit sich
herumtrug und nur seinen genauen Bekannten als Zeichen
besonderen Vertrauens sehen ließ, war eine kleine Sonnen-
uhr. Sie war ihm besonders nützlich, wenn er draußen in
Wald und Feld das Vieh hütete, da sie dann mit untrüg-
licher Sicherheit ihm anzeigte, wenn es Zeit war nach Hause
zu treiben, und so viel Verstand hatte er noch, daß er dies
erkennen konnte. Wer weiß, ob er nicht an diesen: Kleinode
mit derselben Verehrung hing, wie der Kasser an dem
hölzernen Gotte, den er stets bei sich im Gürtel trägt.
Die Zahl solcher Torkel ist in Oberösterreich bedeutend
geringer als in dem benachbarten, tiefer in den Bergen
versteckten und ärmeren Steyermark. Dazu gibt es iu
diesem Lande außer dem ganz ausgebildete:: Cretinismus
noch eine Menge von Individuen, die gleichsam in den:
Uebergaugsstadium zwischen völliger Vernunft und völligem
Blödsinn sich befinden, Halb- und Viertel - Cretius möchte
ich sie nennen, Menschen, in deren Auge gleichsam nur uoch
ein letztes Residuum von Vernunft wie ein verglühendes
Flämmchen aufflackert. —
Als ich von der Habernau wieder aufbrach, regnete es
nur noch sehr sanft, und bald hörte es ganz auf, wie das
ja so häufig au Abenden von Regentagen stattfindet. So
wurde mir denn doch einigermaßen der eigentümliche
Genuß zu Theil, welchen wir empfinden, wenn an: (Sude
einer Wanderung zu einer interessanten Landschaft sie
allmälig in immer bestimmterer Gestalt vor unseren Augen
auftaucht uud sich entwickelt. Der erste Eindruck derselbe::,
den wir auf diese Weise gewinnen, ist immer am dauernd-
sten, weil alle unsere Seelenkräfte auf diesen Moment
gespannt waren und nun unwiderstehlich Besitz ergreifen
von dem lange ersehnten Gegeustaude. Zunächst führt der
Weg noch einige Zeit durch gerade so dichte:: Wald wie
vorher. Plötzlich aber lichtet er sich, das eigentümliche
Zittern des Wassers wird durch die Stämme sichtbar, die
uns von jenem trennende Wand der Bäume wird immer
dünner und durchsichtiger, und endlich liegt der See selbst
vor uns.
Der erste Eindruck des Almsees istUeberraschuug,
daß er so klein ist. Einer der kleinsten Seen des bayrischen
Gebirges ist der Schliersee. Aber der Almsee ist nicht halb
so groß, er bedeckt nur eine Fläche von etwa 139 Morgen.
Man möchte ihn lieber einen großen Weiher oder Teich,
als einen See nennen. Unser Auge kann daher auch nicht
lange auf ihm verweilen. Es wird sofort magifch ange-
zogen von den großen Formen des sogenannten Todten
Gebirges, die sich uns grade gegenüber am südlichen Ufer
des Sees in düsterer, fast dämonischer Weise erheben. Schroff
> Almthal und der Almsee. 119
thürmen sich diese nackten Felsenmassen in die Höhe, die
Abhänge sind voll von Schründen und Rissen und laufen
in mannigfaltig gestaltete Felsenzacken aus. Die Höhen
lagen schon voll von Schnee, und dieser hatte sich selbst bis
tief au den Abhängen gegen das Thal herabgezogen.
Denn, obwohl es kann: Mitte August war, so hatten die
gewaltigen Regengüsse, die in den letzten Tagen erfolgt
waren, doch eine solche Abkühlung der Lust herbeigeführt,
daß in jenen Höhen die Feuchtigkeit zu Schuee krystallisirt
sich niedergeschlagen hatte. Wie ich schon in Grünau hörte,
waren durch diesen unerhört frühen Schneefall die so zahl-
reichen Sennwirthschasten, welche ans dem Hochplateau des
Todten Gebirges sich befinden (Kohl gibt ihre Zahl auf
272 an), besonders hart getroffen uud die Sennerinnen,
welche dort oben zu Hunderten den Sommer über wohnen,
genöthigt worden, in aller Eile mit ihren Heerden in die
Thäler zurückzukehren.
Weniger Grund hatte der Tourist, den damals gerade
sein Weg herführte, über dieses Ereigniß ungehalten zu
sein. Denn es läßt sich nicht verkennen, daß durch den
frisch gefallenen Schnee, der die Häupter aller Berge, so
weit man sehen konnte, bedeckte und ihre felsigen Abhänge
iu überaus zarte::, weißen Schattirnngen, durch ganze
Schneeflächen, Schneelinien und Schneetüpfelchen zeichnete
und die ganze Plastik ihrer Formen hervortreten ließ, den-
selben ein neuer Reiz gegeben und das Imposante der
ganzen Landschaft erhöht wurde. Freilich wurde dadurch
auch das Frostig-Kalte, welches dieser Gegend eigen ist,
erhöht und bis zum Abstoßenden gesteigert. Es schauerte
Einen, wenn man in diese Landschaft blickte, die aus nichts
als unnahbaren Felsenklippen und schwarzem Tannenholz
besteht.^ Und der Anblick des Sees konnte diesen Eindruck
nicht mildern. Dem armen, kleinen Burschen schien es in
der Nachbarschaft dieser weißbärtigen Bergriesen selbst gar
nicht wohl zu Muthe zu seiu. Er schien selbst zu frieren
und eine Gänsehaut ihn zu überlaufen, wenn der kalte
Wind über ihn hinbrauste. Die Stille aber, die hier rings
herrschte, hatte geradezu etwas Unheimliches und Gespenster-
Haftes. Wenn die idyllische Ruhe an einen: Schliersee wie
Balsam auf die Seele träufelt und ein unwiderstehliches
Verlangen weckt, dort Hütten zu bauen, so stößt uns hier
die Stille ab, wir denken gar nicht daran zu bleiben und
können uns kaum dazu entschließen, eine Nacht hier znzu-
bringen.
An diesem ungünstigen Eindrucke, den die Gegend
unter allen Umständen in einem gewissen Grade hinter-
lassen muß, ist aber außer der Rauhheit derselbe,: und.^er
außerordentlich einsamen Lage auch das Mißverhältniß
schuld, in welchem das Gebirge zum See steht. Es mangelt
der Landschaft durchaus alle ideale Schönheit, die nur bei
Harmouie der einzelnen Theile zu finden ist. Andere
Seelandschaften der Alpen, wie die des Traunsees, des
Hallstadtersees, gewinnen gerade dadurch ihre eigenthüm-
liche Schönheit, daß See und Gebirge zu einem einheit-
lichen Ganzen verwachsen, der Eindruck der Gebirge durch
den See, der Eindruck des Sees durch die Gebirge modi-
sicirt wird. Das ist hier nicht der Fall. Die Gebirge
treten durch ihre großen, majestätischen Formen so hervor,
daß der kleine See ganz dagegen verschwindet. Es ist
keine Alpenseelandschaft, sondern eine reineGebirgs-
landschaft.
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120
Ein Ausflug iit die Schneegebirge von Granada.
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Ein Ausflug in die Schnccgeliirge von GransiiÄ.
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Die Hochgebirge der Alpen und Pyrenäen werden
alljährlich durch tausende von Wanderern besucht, dagegen
sind jene in Südspanien eine verhältnißmäßig kanni auge-
brochene Region. Dorthin haben sich bis jetzt nur verein-
zelte Touristen begeben; künftighin wird das anders sein,
weil Spanien nun schon die Hauptstränge eines großen
Schienennetzes hat
und die wichtigsten
Städte ohne alle Un- ^ t~"~_
bequemlichkeit zu er-
reichen sind.
Die landschastli-
chen Reize des süd-
lichen Spaniens sind
von eigentümlicher
Art; auch der Ge-
birgscharakter ist eiu
anderer als in den
übrigen europäischen
Hochgebirgen, und
das Leben und Trei-
ben der umwohnen-
den Menschen sehr
verschieden von jenem
der Basken und Frau-
zosen, der deutschen
und schweizerischen
Alpenbewohner oder
der Slawen in den
Karpathen. In Süd-
spanien liegt in der
Luft etwas Afrika-
uisches.
Eine Wanderung
in die Sierra Ne-
vada de Granada
wird gewöhnlich von
der Stadt aus unter-
nommen, in welcher
die Alhambra steht.
Gustav Dors und
d'Avillier, welche
unseren Lesern längst
wohl bekannt sind,
beschlossen, den Pi-
eacho d e Veleta zu
ersteigen; sie bezeich-
neu diesen Berg als
den Montblanc
Andalusiens. Das Unternehmen ging nicht so glatt ab wie
etwa ein ähnliches in Savoyen oder in der Schweiz; eine
Körperschaft von Führern ist nicht vorhanden, weil nur
wenige Gebirgswauderer kommen, und die Besteigung nur
in den Monaten Juli und August unternommen werden
kann. In der übrigen Jahreszeit ist die Kälte zu schnei-
deud ititb die Wege sind über eine gewisse Höhe hinaus
nicht praktikabel.
Als Führer dienen die Neveros, jene fleißigen,
arbeitsamen, an das Bergsteigen gewöhnten Menschen,
welche fast tagtäglich Schnee aus dem Hochgebirge holen,
und mit dieser, in einem so heißen Lande unentbehrlichen
Waare die großen Städte versorgen. Sie kennen jede
Schlucht und jeden Pfad, und man kann sich ihnen sicher
anvertrauen.
Mit einem dieser Neveros schlössen die beiden Wanderer
einen Vertrag. Der
60jährige Ramirez
-<r _
DerNevero Ramirez in derSierra Nevada. (Zeichnung von G-Dore, nach einer Photographie.)
war sehr rüstig und
galt für einen Zigeu-
ner; doch trägt fein
Gesicht, welches wir
mittheilen und das
Dore nach einer Pho-
tographie gezeichnet
hat, nicht die Züge
eines echten Gitano.
Der ganze Mann ge-
währte in seiner Art
einen sehr malerischen
Anblick. Seine Haut-
färbe fpielte in helle
Broncefarbe hinüber;
über ein rothes, um
deu Kopf geschlunge-
nes Tuch hatte er eiue
andalusische Mütze
gestülpt; seine Jacke
war mit Seidenzeug
aufgeschlagen und
hatte einen reichen
Besatz von Metall-
knöpfen. Als Gürtel
trug er eiueCauana
od. Art Patrontasche;
die kurzen Lederhosen
waren an den Knien
vermittelst bequasteter
Cordeln zusammen
gebunden, und als
Fußbekleidung hatte
er die bekannten und
vielfach beschriebenen
Alpargatas.
Ramirez war der
richtige Mann und
gern bereit, die Wan-
derer nicht nur auf
deu Pieacho de Veleta
zu führen, sondern, wenn es sein müsse, auch auf den
Mulahacen, der noch höher ist. Er sorgte für gute
Maulthiere, Machos, welche sich für Gebirgsreifen besser
eignen als Pferde. Er gab an, was für den Repuesto
uöthig sei, d.h. für die erforderlichen Reisevorräthe, die
auf Esel gepackt wurden. Sie bestanden in rothem Wein
von Baza, der auf Schläuche (botas) aus Valencia-
nischem Leder gefüllt wurde; aus einem iu Zucker ge-
kochten Schinken (jamon en dnlee), aus anderen
Fleischwaaren, gebratenen Hühnern, Ehokolade, Brot
mi
Ein Ausflug iu die Sc
und Obst. Gegen Hunger und Durst war man also
geschützt.
An einem heiteren Augustmorgen fand Namirez sich
in aller Frühe vor dem Gasthof ein; nach einer Viertel-
stunde waren alle Vorkehrungen beendet, und die kleine
Karawane setzte sich in Bewegung. Nachdem sie die
Puerta de los Molinos verlassen, lag Granada hinter
ihnen, und sie ritten nun in der Vega, der schönen andalu-
sischen Ebene, am Xenil entlang, durch das liebliche Thal
von Guejar. Der Fluß bildet reizende Kaskaden und
strömt zwischen immergrünen Ufern. Granada mit seinen
Hügeln war mit einem leichten Nebelschleier überzogen.
Der Weg führte weiter durch das Thal von Monachil
zum alten Kloster San Geronimo, das jetzt fast ganz in
Trümmern liegt, und wo nun die Hirten mit ihrem Vieh
ein Unterkommen finden. Von dort an wird der Pfad
steiler; man konnte die tiefen Schluchten (barrancas) deut-
lich erkennen, der Pflanzenwuchs nahm einen andern
Charakter an, der Oelbaum verschwand, und die Region
der Kastanie begann.
Die Neveros erzählten allerlei von dem Barranco
de Guarnon; dort sei ein ungeheurer Schatz von den
Mauren vergraben worden, nachdem sie die Stadt Granada
verlassen. Im vorigen Jahrhundert war man so fest über-
zeugt, au der Sache sei etwas Wahres, daß 1797 die Re-
gierung eine Commission ernannte, um Nachforschungen
anzustellen. Das ist denn auch geschehen, allein derAuditor
der Kanzlei von Granada, der Notar und der Ingenieur,
welche sich keine Mühe haben verdrießen lassen, fanden
nichts. Aber das Volk glaubt auch jetzt noch an den Schatz.
Auf dem Pfade der Schneesammler, camino de los
Neveros, wurde die Luft immer düuner, aber die Sonne
brannte doch stark genug, selbst oben aus der Rambla
del Dornajo, wo Hauptrast gehalten werden sollte.
Die Quelle dort hat vortreffliches, spiegelhelles Wasser.
Man speiste vortrefflich, hielt Mittagsruhe und beeilte sich
nachher bis zum Panderon zu gelangen, weil dort
das Nachtlager gehalten werden sollte. Der Pfad wurde
immer steiler und beschwerlicher, aber die Gegend war so
prächtig, daß die Mühseligkeiten vergessen wurden. Dann
und wann kreisete ein Adler oder Geier hoch in den Lüften
und hob sich mit seinem braunen Gefieder scharf ab von
dem glänzenden Schnee des Hochgebirges. Allmälig neigte
sich die Sonne dem Horizonte zu und färbte mit warmen
Tönen die weite Landschaft, welche sich unter den Wandrern
ausdehnte. Oben auf der Fläche des Panderon hat man
ein erhabenes Schauspiel. Die Sonne ging hinter den
Serranias von Ronda unter.
Dann wurde die Luft scharf und kalt; in der von den
Hirten und Neveros dort oben errichteten Hütte wurde ein
Feuer angemacht und das Nachtmahl bereitet. Gemächlich
ist das Obdach nicht; als die Reisenden sich in ihre dicken
Wollmäntel gehüllt hatten, konnten sie durch die Oeff-
nungen im Dache die Sterne funkeln sehen.
Am andern Morgen waren Alle schon lange vor Tages-
eegebirge von Granada. 121
anbruch in Bewegung, um wenn möglich auf dem Picacho
de Veleta das Schauspiel eiues Sonnenaufgangs zu haben.
Iu deu Spalten des Gebirges lag Schnee, der nun immer
häufiger wurde. Man befand sich in der Region der
Ventisqueros, der mächtigen Anhäufungen von Schnee,
welche auch im heißesten Sommer nicht hinwegschmelzen.
Von dort holen die Neveros ihre Waare. Außer deu
Ventisqueros von Panderon gibt es in der Sierra noch
andere, z. B. jene des Corral de Veleta, des Cerro del
Caballo und der Roeas de Bacares. Sie gehören alle
der Stadtgenieinde von Granada, welche von den Neveros
eine Abgabe erhebt.
Die Reisenden gelangten auf den höchsten zugänglichen
Punkt des Picacho de Veleta, als der Tag längst ange-
Krochen war. Die Sonnenscheibe stand aber noch hinter
dem gewaltigen Schneegipfel des Cumbre de Mulahacen,
bald aber stieg sie über denselben empor und warf ihr Licht
auf die Landschaft.
Und welch eine Landschaft! Schwerlich bietet ganz
Europa irgendwo einen Blick dar, welcher sich mit jenem
messen könnte , den man von der Sierra de Nevada herab
hat. Im Norden liegen die Sierras von Baza uud Segura,
nach Westen hin jene von Tejeda uud Ronda, weiterhin
die Gebirge von Estremadura unweit der portugiesischen
Grenze. Dann ragt die Sierra Morena mit ihren dunklen,
ausgezackten Höhen empor, weiter die Kette von Gador
und ein Theil der Alpnjarras. Und aus der andern Seite
des Mittelländischen Meeres nach Süden hin konnte man
durch den dünnen Nebel die schwarzen Gebirge der asrika-
nischen Küste deutlich erkennen. Die Neveros behaupten,
hei ruhigem Wetter uud südlicher Luftströmung vernehme
man auch das Brausen des Meeres.
Der Picacho de Veleta führt seinen Namen nach einem
Wartthurme (veleta), welcher einst auf dem Gipfel stand,
uud desseu Nninen noch jetzt vorhanden sind. Man gab
von dort aus während der Nacht Feuerzeichen, die auf
mehren Berghöhen wiederholt wurden, bis nach Granada.
Der Mulahacen ist der höchste Gipfel iu der Sierra de
Nevada, nach spanischen Geographen hat er 3652, der
Picacho de Veleta 3569 Meter Meereshöhe; aber der Um-
blick von diesem letztem ist prächtiger und der Horizont
viel ausgedehnter, weil der Picacho einen großen Theil der
nordafrikanischen Küste verhüllt. Deßhalb verzichteten
die Wanderer darauf, auch die Besteiguug des Mula-
hacen zu unternehmen; sie hätte ohnehin 4 bis 5 Tage
Zeit erfordert.
Das Hinabsteigen ans den steilen Pfaden an jähen
Abgründen entlang war beschwerlich und gefährlich, aber
die Maulthiere gingen sichern Schrittes. Die Neveros
bezeichneten die verschiedenen Pässe (puertos) und Eng-
passe (d essilad ero s) mit ihren Namen, uud eiuige der-
selben siud recht bezeichnend, z. B. der Montayre, Lust-
berg, der Wolfspaß, die Grotte des Gehängten :c.
Alles in Allem genommen ist eine Besteigung des
Picacho de Veleta recht dankbar uud kann empfohlen werden.
Globus IX. Nr. 4.
16
122
Rudolf Rost: Das Gebiet der romanischen Sprachen.
Das Gebiet der r
Von Rll
Die Bewohner Europas gehören mit nur geringen
Ausnahmen entweder der germanischen, oder der slavischen,
oder der romanischen Völkerfamilie an,*) von denen die
erstere in der Mitte und im Norden, die andere hu Osten
uud die letztere im Süden und Südwesten numerisch wie
politisch vorwaltet.
Den geringsten Theil an Flächeninhalt, nur etwa den
sechsten, haben die Romanen inne, während die Bevöl-
kerung der von ihnen bewohnten Länder den vierten Theil
der Gesammtbevölkerung Enropa's ausmacht. Die Sprachen
der romanischen Völker wurzeln mit ihrem grammatischen
Theile bekanntlich im Lateinischen, der Sprache der Welt-
eroberer. Diese kurze, kräftige Sprache, welche in ihrem
Wesen mehr arisch ist, als selbst das Griechische, aber
weniger reich als dieses an Endungen, und weniger
geschmeidig in ihren Verbindungen, hat mehre Umgestal-
tuugcu erlitten, bis sie im Anfang der christlichen Zeitrech-
nung festgestellt wurde. Rauh uud pluiup iu den Gesängen
der Salier, kurz uud kriegerisch iu deu Gedichten des
Ennius, hat sie erst zur Zeit des Cicero und Livius, des
Virgil und Horaz die edlen Formen, die Bedeutuugsfülle
und die männliche Schönheit angenommen, welche sie aus-
zeichnen uud einer großen Nation wahrhaft würdig machen.
Während nun die von der Masse des Volkes selbst niemals
gesprochene lateinische Sprache im Ganzen nach ihrem Ab-
schlnß zwar unverändert blieb, veränderte sich jedoch die
wirklich lebendige, vom Volke gesprochene lateinische
Sprache, die man seit der Bildung der correetcn Schrift-
spräche nicht mehr zum schriftlichen Ausdrucke verwandte,
natürlich fortwährend, wie das in jeder Sprache zu geschehen
pflegt. Es trat in den verschiedenen Theileu des weiten
Gebietes, welches die lateinische Sprache im Laufe ^der
Jahrhuuderte sich errungen hatte, eine ungleichmäßige Ver-
Änderung der Sprachen ein. Als diese in dem Maße ver-
ändert erschien, daß das Latein ihnen gegenüber nicht mehr
als die Schriftsprache, sondern als eine wesentlich andere,
fremd gewordene Sprache angesehen werden konnte, begann
man die neuen Sprachen auch iu der Schrift zu gebrauchen.
Ehe wir zum eigentlichen Gegenstand unserer Dar-
stelluug übergehen, hören wir noch, was Wilhelm v. Hum-
boldt iu der Eiuleituug zu seiueni Meisterwerke über die
Kawisprache auf der Jusel Java über jeue Sprachen sagt:
„Dem festen, ja man könnte wohl sagen, unaustilgbaren
Haften des echten Organismus an den Sprachen, welchen
er eigenthümlich geworden ist, verdanken anch die latei-
nischen Töchtersprachen ihren reinen, grammatischen
Bau. Es scheint mir ein hauptsächliches Erforderuiß SUT
richtigen Beurtheilung der merkwürdigen Erscheinung ihm'
Entstehung, darauf Gewicht zu legen, daß auf den Wieder-
aufban der zertrümmerten römischen Sprache, wenn man
allein das grammatisch Formale desselben ins Auge faßt,
kein fremder Stoff irgend wesentlich eingewirkt hat.
Die Ursprachen der Länder, in welchen die neuen Mund-
arten aufblühten, scheinen durchaus keinen Antheil daran
*) Auf die arischen Verhältnisse, aus die Wanderungen
und Sprachverwandschafteu wird hier nicht eingegangen.
»nnischcn Sprachen.
>Is Rost.
gehabt zu haben. Vom Vaskischeu ist dies gewiß; es gilt
aber höchst wahrscheinlich eben so von den ursprünglich in
Gallien herrschenden Sprachen. Die fremden einwandern-
den Völkerschaften , größtentheils von germanischem oder
dcu Germaueu verwandtem Stamme, haben der Umbildung
des Römischen eiue große Auzahl von Wörtern zuge-
führt; allein in dem grammatischen Theile lassen sich schwer-
lich irgend bedeutende Spuren ihrer Mundarten auffinden.
Die Völker lassen sich nicht leicht die Form umgestalten, in
welche sie den Gedanken zu gießen gewohnt sind. Der
Grund, aus welchem die Grammatik der neuen Sprachen
hervorging, war daher wesentlich uud hauptsächlich der der
zertrümmerten selbst."
Das Gebiet der romanischen Sprachen erstreckt sich in
Europa vom Atlantischen bis zum Schwarzen Meer und
voni Mittelmeer bis nahe an den Rhein und die Donau
und zum Theil noch über diese hinaus; es gehören zu ihr
die italienische, spanische, portugiesische, proveuyalische,
französische, walachifche oder dakoromanifche und chur-
wälsche oder rhätoromanische Sprache.
1) Die musikalisch uud Poetisch beweglichste uud au-
schaulichste aller romauischeu Sprachen ist die italie-
nische. Ihr Gebiet erstreckt sich über Italien hinaus in
die Schweiz, wo ihr ganz Tessiu, ein kleiner südöstlicher
Theil des Cantons Uri und die südliche Hälfte von Grau-
bündteu zufällt, uach Tyrol, wo die Sprachgreuze bei der
Ortlesspitze anhebend bis zur Einmündung des Rons in
die Etsch geht uud von hier, die Etsch überschreitend, sich
nordöstlich wendet, indem Bötzen, Klausen, Briren,
Brunecken deutsche, Layeu uud Pflaueuzaber italienische
Grenzorte sind. Dann folgt die Sprachgrenze, in östlicher
Richtuug, südlich von den Quellen der Drau und des Gail,
der Wasserscheide der Karnischen Alpen bis nach dem Stadt-
cheu Poutafel au der Fella, wo das Italienische mit dem
Slavischen zusammenstößt. Vou hier aus bildet die Sprach-
grenze zugleich die staatliche zwischen Deutschland und
Italien, doch so, daß der italieuischeu Sprache von Jllyrien
noch Gradisea, Aquileja, Moufaleoue und Capo d'Istria
zufällt. Iu Italien selbst finden sich zwei deutsche Sprach-
inseln, die sogenannten dreizehn Gemeinden nördlich
von Verona uuweit der Etsch unb die sogenannten sieben
Genreinden nördlich von Vieenza an der Brenta. (In
Unteritalien finden sich Niederlassungen von Albanesen
oder Arnauten, und zwar in Apulieu in den Landschaften
von Bari uud Otrauto, uud iu Calabrien in den Gebirgen
zwischen Eetraro und Eelso bis in die Gegend von Eatan-
zaro uud iu der Gegeud zwischen Reggio uud dem Eap
Spartiveuto. Auch auf der Jusel Sieilien gibt es iu der
Nähe von Palermo Arnauten in vier Ortschaften. Die
Gesammtzahl der in Italien lebenden Albanesen mag sich
ungefähr auf 100,000 belaufen.) Im nordwestlichen Theile
der Insel Sardinien, in der Stadt Algheri mit Umgegend,
herrscht die proven9alische Sprache, und auf den Inseln
Malta, Gozzo uud Eomino eine arabische, die sogenannte
maltesische Mundart, welche der marokkanischen am
nächsten kommt.
Die italienischen Mundarten zerfallen in drei Haupt-
Nttdolf Rost: Das
gruppen, in die oberitalienischen, mittelitalienischen und
unteritalienischen. Unter den oberitalienischen Mund-
arten treten am bedeutendsten hervor die Piemontesische,
mailändische, lombardische, friaulsche, venezianische, bolog-
nefische und genuesische. Von den mittelitalienischen
Mundarten, ans denen (vor allen der toscanischen) die
italienische Schriftsprache hervorgegangen ist, sind am
bemerkenswertesten die von Lucca, die toscanische, römische,
korsikanische und sardische im nördlichen Theil der Insel
Sardinien. Die wichtigsten unteritalienischen Mund-
arten sind die neapolitanische, calabrische, sicilische und
sardische im südlichen Theile der Insel Sardinien.
Das Italienische, in Toscana, der uralten Wiege itali-
scher Civilisatiou, ausgezeichuet gepflegt, erlangte bald den
mannigfachen Wohllaut und die glückliche Biegsamkeit,
welche es bei Dante ernst, bei Ariost und Tasso lebhast
und glänzend, im geschichtlichen Vortrage würdevoll und
für die Aeeorde der Musik empfänglich gemacht haben.
Diese Sprache glänzt vorzüglich in der lebhasten Schil-
derung der Leidenschaften; sie hat zuerst mit in Europa
die Bahn der neuern Literatur betreten.
2) Die spanische Sprache zeichnet sich als die seier-
lichste und grandioseste aus, denn sie besitzt innere Schön-
heit und Würde, gepaart mit Kraft und Anmnth. Durch
äußere Ausdehnung und bedeutende schriftstellerische Aus-
bildung (man denke nur au Calderou und Cervantes) steht
sie hoch über dem Portugiesischen. Sie ist Volkssprache in
Spanien mit Ausschluß Ccitaloniens, des Königreichs
Valencia und der Balkarischen und Pithyusischen Inseln,
welche dem proven9alischen Sprachgebiete zufallen, und
Galieiens, wo die portugiesische Sprache vorherrscht.
Wie iu Jtalieu Toscana, so hat in Spanien Castilien
vorzugsweise die Schriftsprache gebildet. Im Ganzen ist
das Spanische mundartlich wenig gespalten, am geringsten
in den Provinzen Alt- und Nencastilien, sowie auch in
Astnrien. Die Mundart der Provinz Leon bildet den
Uebergang zum Galicischeu. Iu Leou ist übrigens eine
Sprachinsel bemerkenswert, nämlich die Stadt Astorga
mit einem einige Meilen großen Gebiete. Hier wohnen
die wahrscheinlich von den Gothen abstammenden Mara-
gatos, die noch immer in körperlicher und geistiger Eigen-
thümlichkeit ganz das germanische Gepräge an sich tragen.
Ihre Sprache unterscheidet sich von der der umliegenden
Gegend durch schwerfällige Allssprache und den Mangel
an den den Spaniern so eigentümlichen, anmnthigen und
sinnreichen Wendungen. Wie im Norden die leonische, so
zeigt im Süden die andalusische Mundart, zu welcher
auch Grauada und Murcia gehören, eine größere Ab-
weichnug vom Castilischen oder Spanischen, die noch beden-
tender wird durch eiue gedehntere Aussprache und eine
etwas stärkere Mischuug mit arabischen Wörtern. Zum
Theil gehört uoch die aragonische Mundart hierher im
westlichen und südlichen Theile Aragoniens, während im
Norden und Osten das Proven?alische vorherrscht. In
den baskischen Provinzen, wo die enskarische und bas-
kische Sprache Landessprache ist, wird das Spanische doch
fast überall verstanden.
Ein bedeutendes Gebiet hat sich die spanische Sprache
außerhalb Enropa's errungen. Herrschend ist sie auf den
Kanarischen Inseln, auf Euba, Portorico und im östlichen
theile Haiti's; weit verbreitet ist sie iu allen den Theilen
Amerika's, die ehemals der spanischen Herrschast unter-
ro°r^ei.x ivftveu? in Merico, Guatemala, Columbia, Peru,
Bolivia, La Plata und Chile, obgleich überall einhei-
mische amerikanische Spracheil auch uoch fortbestehen.
Am welligsten umfangreich ist ihr Gebiet auf den Philip-
dcr ro'.naiuschm Sprachen. 123
pinen, Marianen und Carolinen, sowie auch in den den
Spaniern gehörenden, ans der Nordküste von Afrika
gelegenen Städten, in denen fast mehr Arabisch als Spanisch
gesprochen wird.
3) Die portugiesische Sprache, uahe verwandt
zwar mit der spanischen, ist doch weniger wohlklingend und
kräftig als diese, von der sie sich auch noch dadurch unter-
scheidet, daß sie Zischlaute statt der Gaumenlaute gebraucht.
Sie neigt sich auch fehr zur Zusammenziehnng der Wörter;
dennoch ist sie nicht ohne Zierlichkeit, und das Beispiel des
Camosns beweist, daß sie ailch der Ausdruck hoher Be-
geisterung werden kann.
Die sprachlichen Grenzen fallen so ziemlich mit den
staatlichen zusammen und dehnen sich nur im Norden weiter
aus, indem die Mundart der spanischen Provinz G ali c i en,
wie schon erwähnt, dem portugiesischen Sprachgebiete zu-
gerechnet wird. Bei der durchaus' gebirgigen Beschaffenheit
Galieiens ist es nicht zu verwundern, daß daselbst fast von
Ort zll Ort größere Abweichungen wahrnehmbar sind, als
in anderen mehr ebenen Landschaften. In den Provinzen
Estremadura und Alemtejo, also im eigentlichen Innern
von Portugal, scheineu die mundartlichen Abweichungen
sehr unbedeutend zu seiu, während dagegen im Süden, in
der Provinz Algarve, eine eigentümliche Mundart
auftritt.
Dieses Sprachgebiet ist in Europa auf einen nur sehr
kleinen Raum beschränkt, dagegen hat es durch Eroberung
anderwärts sich weiter ausgebreitet. Das Portugiesische
ist Volkssprache geworden in Brasilien, auf den Azorischen
Inseln lmd ans Madeira, auch ist es herrschend auf den
Caboverdischen Inseln, in Angola und in Mocambique. In
Ostindien ist es heimisch in den portugiesischen Besitzungen
Goa und Diu, und ein der Westküste Vorderindiens ist ein
mit den einheimischen Sprachen stark gemischtes Portn-
giesisch als Handelssprache üblich. Auch iu dcr chinesischen,
den Portugieseu unterworfenen Stadt Macao spricht man
Portugiesisch.
4) Die provenxalifche Sprache, in welcher die
Troubadours ihre Lieder fangen, war einst die gemeinfaine
Verkehrs - uud Dichtersprache von ganz Südeuropa, ist
zur Zeit aber nur uoch Volkssprache des südlichen Frank-
reichs, der spanischen Provinzen Catalonien, Valencia und
eines Theiles von Aragonien, der Balearischen und Pithyu-
sischen Inseln und eines kleinen Gebietes der Insel Sar-
dinien. Die Grenzscheide gegen das Nordfranzösische zieht
sich durch Dauphin«, Lyonnais, Auvergne, Limousin, Peri-
gord und Saintonge; was südlich von derselben liegt,
gehört dem provenyalischen Sprachgebiete an. Innerhalb
der Grenzen dieses Gebietes befindet sich eine nordfranzö-
sische Sprachinsel in der sogenannten Gavacherie, einem
Landstriche zwischen Dordogne und Gironde int Giroude-
departenient, und eine italienische Sprachinsel in der Pro-
vence, aus drei Dörfern in der Nähe der Städte Grasse
nnd Antibes bestehend. Im Departement der Nieder-
Pyrenäen wohnen gegen 160,'000 Basken. — Das Pro-
venyalische bildet zwischen den Sprachen der pyrenäischen
und der apenninischen Halbiiisel lind dem Jdioiil des nörd-
lichen Frankreichs eine natürliche sprachliche, wie geogra-
phische Vermittlung, insofern in ihm gleichsam jede der
übrigen romanischen Spracheil durch besondere Eigenthüm-
lichkeiten sich mit vertreten sieht. Daher bemerken wir
ailch in dein ganzen Van der proven?alifchen Sprache ein
stetes Schwankeil, ein sich Anschließen bald an die eine,
bald an die andere Schwestersprache.
Das Gesammtgebiet der proven?alischen Sprache zer-
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Rudolf Rost: Das Gebiet der romanischen Sprachen.
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II
fällt in zwei Gruppen: die füdfranzösischen (langue
d'oc) und die catalonischen Mundarten.
Betrachten wir das südfranzösische Sprachgebiet
näher, so hat man zuerst die gascogn eschen Mundarten
davon abzuscheideu, die von den anderen etwa durch die
Garonne von ihrem Ursprünge bis zu ihrer Mündung
getrennt werden, so ,basj Toulouse gerade auf der Grenze
liegt. Die gaseogneschen Mundarten zeichnen sich beson-
ders durch catalonischen Einfluß, durch Uebergaug eiues
anlautenden f in n uud durch den häufigen Gebrauch von
b statt v und von ty, tg, tclx statt g aus. Unter den
übrigen südfranzösischen Mundarten sind noch von Bedeu-
tung die auverguische, limousinische und einige Schweizer-
Mundarten.
Die catalonischen Mundarten schließen sich eng an
die südfranzösischen an, zumal da die französische Provinz
Roussillou sprachlich noch ganz zu Eatalonien gehört.
Wo sie sonst noch gesprochen werden, ist schon mehrmals
erwähnt worden.
5) Die französische Sprache, die leichteste und
zierlichste unter den romanischen Schwestern, im höchsten
Grade gesellig, gleichsam das allgemeine Organ der Ge-
daukeumittheiluug, der Dollmetscher modernen äußeren
Schliffs, herrscht als Volkssprache in Frankreich, nördlich
der vorhin von uns angegebenen Linie, aber nicht in den
niederen Gegenden der Bretagne, wo über eine Million
Menschen dein keltischen Sprachstamm angehören, int fran-
zösischen Flandern (wo zumeist das Flamische Volkssprache
ist), dem nordöstlichen Theile von Lothringen und fast dem
gauzen Elsaß. In Belgien ist das Französische vielfach
Umgangssprache in den Städten, die Volkssprache aber ist
in den romanischen, nicht niederdeutschen, Theilen dieses
Landes Wallonisch. Vom deutschen Bunde ist dem fran-
zösischen Sprachgebiete zuzutheilen Malmedy mit Umgegend
(höchstens 60,WO Menschen) und von der Schweiz die
Cantone Neuenbürg, Waadtlaud und Genf ganz, Bern,
Freiburg und Wallis theilweife (mit etwa 360,000 Men-
schen). Im heutigen Königreich Italien (Savoyen, welches
sprachlich ganz französisch ist, gehört jetzt auch politisch zu
Frankreich) beherrscht die französische Sprache das Herzog-
thum Aosta uud die Thäler der sogenannten Waldenser.
Außerhalb Enropa's wird das Französische als Volks-
sprache von etwa anderthalb Millionen Menschen gespro-
chen, nämlich iu Untercanada uud einigen Theilen von
Obercanada, der westlichen Hälfte von Haiti, in Gnade-
lonpe, Marie Galante, D6sirade, Les Samtes, Mar-
tiniqne und Neuuion. Amtliche Sprache ist das Fran-
zösische ferner in dem französischen Antheil von Guyana,
in den afrikanischen Besitzungen an: Senegal, in Algier
und in den wenigen ostindischen Besitzungen, nament-
lich in Pondichery. Auf der jetzt den Engländern ge-
hörenden früher französischen Insel Mauritius ist das
Französische zwar Volkssprache, als amtliche Sprache gilt
aber jetzt das Englische.
Unter den französischen Mundarten treten besonders
die Picardische, wallonische, lothringische und
burgundische hervor.
6) Weit entfernt von dem Gefammtgebiet der Romanen
leben, durch Slaveu, Deutsche und Magyaren von ihren
Stammverwandten getrennt, an der untern Donau und
ihren linken Nebenflüssen, in Siebenbürgen, Thrakien und
Makedonien mehre Millionen Menschen, welche eine roma-
nische Sprache reden, die mit slavischen und alt-dakischen
Elementen gemischte walachische, rumänische und
dakoromanische. Sie zerfällt in einen nördlichen und
?inen südlichen Hauptzweig.
Wie ein großes Eiland liegt ein walachisches Sprach-
ganzes im Norden der untern Donau, die nordwala-
chische oder dakoromanische Mundart, umgeben süd-
und nordwärts von Slaven, ostwärts von Slaven und dem
Schwarzen Meer, westwärts von Slaven uud Magyareu.
Nach Osten hin ist es größer als das Dakien des Ptole-
mäos, indem es noch den größten Theil von Bessarabien
bis zum Dnjestr umfaßt, wogegen es iiu Westen einen
breiten Streifen des fruchtbaren Tieflandes, das sich am
linken Ufer der Theiß herabzieht, an die Magyaren, und
eben so das Land um den uuteru Lauf der Theiß und an
der Donau bis Golombatsch, also das westliche Banat, an
die Slaven hat abtreten müssen. Außerdem siud noch im
Innern dieses Kreises, nämlich in Siebenbürgen, bedeu-
tende Strecken theils von Magyaren, theils von Deutschen
besetzt. Die uordwalachische Mundart spaltet sich wieder
in zwei Untermundarten, in die eigentlich walachische
und in die moldauische.
Viel geringer an Umfang uud viel mehr zerstreut sind
die Wohnsitze der südlich von der Donau lebeudeu Walachen,
welche gewöhnlich Makedowalachen oder Kutzowala-
chen genannt werden. Sie zerfallen in drei Stämme, von
denen der nördlichste seine Wohnsitze in dem Gebirge, wel-
ches Makedonien von Albanien trennt, und iu den Abhängen
desselben, besonders auf der makedonischen Seite hat.
Der zweite und zahlreichste Stamm der Südwalachen wohnt
in dein Thessalien und Albanien scheidenden Pindusgebirge.
Der letzte Stamm der Südwalacheu, welche Bov ier oder
Bonner genannt werden, hat seine Wohnsitze an den
Quellen des Euenos oder Fidaris und am Kephissos in der
Nähe von Zeitun.
Der Laut ist im Walachischen willkürlich uud regellos
entstellt uud getrübt, die Flexion weist viele Elemente aus,
welche diese Sprache vou dem romanischen Typus auf-
fallend unterscheiden. Desto merkwürdiger ist es, daß
unter dem beträchtlichen Verfalle des ursprünglichen Laut-
systems und unter der fast beispiellosen Mischung, welche
das Walachische erfahren, seine Eonjugatiou uicht viel
mehr gelitten hat, als die der übrigen romanischen Zungen.
Noch eine romanische Sprache, welche räumlich den:
Oberitalienischen, geistig aber dem Proveuyalischeu näher
steht, ist die von nur etwa 50,000 Menschen in der größern
Hälfte des Eantons Graubüudten gesprochene rhäto-
romanische und churwälsche (kauderwälsche) Sprache.
Sie zerfällt in zwei Hauptmundarten, in die umfangreichere,
mehr deutschem Einfluß ausgesetzte Rumänische am
Rhein, also die westliche, und in die dem Italienischen sich
etwas mehr nähernde Ladinische am Inn; die östliche
Grenze zwischen beiden bildet die Wasserscheide zwischen
dem Inn und den Zuflüssen des Rheins. Jede dieser
beiden Hauptmundarten hat viele Untermuudarteu. In
der rumänischen sind zu merken die Mundart der Ebenen
und die Oberwälder, und in der ladinischen die ober-
engadinische und die unterengadinische.
Man sieht, das Gebiet der auf beiden Hemisphären
von beinahe hundert Millionen Menschen gesprochenen
romanischen Sprachen ist ungemein ausgedehnt. Verdanken
sie diesen äußern Umfang zum Theil auch der Eroberung
durch Waffengewalt, namentlich in Amerika und anderen
außereuropäischen Ländern, so sind doch ihre geistigen
Eroberungen bei weitem größer, und in der That möchten
nicht leicht andere Sprachen der italienischen an Tonesfülle
und Zartheit, der spanischen an Erhabenheit uud würde-
voller Anmuth, der französischen an Gewandtheit (auch an
Armuth) und Klarheit gleichkommen. Die portugiesische
und spanische Sprache, von denen bekanntlich die erster? in
Aus allen
einem Theile Ostindiens Handelssprache ist, und die doch
beide höchst ausgedehnte Gebiete außerhalb Europa's
beherrschen, haben in Europa selbst eine große geistige
Herrschaft nicht erlangt. Zu einer wahren Weltsprache
dagegen hat sich die französische erhoben. Diese Herrschast
verdankt sie zumeist ihren besonderen Eigenschaften. Wenn
das geistige Gebiet des Französischen außerordentlich groß
erscheint, so ist das des Italienischen kaum geringer, obwohl
dieses die einzige romanische Hauptsprache ist, welche feste
Niederlassungen außerhalb Europa's nicht gewonnen hat.
Namentlich in gewissen Kreisen hat sich auch die italienische
Sprache zn einer Art von Weltsprache erhoben, vor allen
aus deu Gebieten des Handels in den Gestaderegionen des
Mittelmeeres und der Künste, insbesondere der Tonkunst.
Ferner hat das Italienische in Folge des bedeutenden
Handelsverkehrs zwischen Italien und den östlich gelegenen
Ländern Einfluß geübt auf das Albanesische und das Neu-
Erdtheilen. 125
griechische. Und mit Hinzunahme des Spanischen ist das
Italienische die Grundlage einer besondern Sprache gewor-
den, welche sich im Verkehr der Romanen mit den Orien-
talen gebildet hat, der sogenannten Frankensprache
(lingua franca). — Die Walachische und churwälsche Sprache
sind einer so umfassenden wissenschaftlichen Behandlung
wie die anderen nicht theilhaft geworden. Das Dakoroma-
nische hat am meisten Flexionen der Muttersprache beibe-
halten und nähert sich außerdem in der Behandlung der-
selben der italienischen.
Die romanischen Nationen haben seit ihrem ersten Auf-
treten in der Geschichte in allen Thätigkeiten des Geistes
und des Charakters neue Bahnen verfolgt. Die sich hier-
aus hervorbildende nene Gestaltnng führte zugleich eiue
Verbindung religiösen, kriegerischen und dichterischen Sin-
nes mit sich, welche aus die Sprache den glücklichsten und
entschiedensten Eiusluß ausübte.
Aus allen
Zwei Ruinenstädte entdeckt.
An das Vorhandensein der einen kann man glauben, an
dem Dasein der zweiten wird man bis ans Weiteres zweifeln
dürfen. Die eine Ruinenstadt liegt in Mexico, die andere soll
in Südafrika liegen.
In den „Nouvelles annales des voyages" finden wir Fol-
gendes, das einer nicht näher bezeichneten in ex iranischen Zeitnng
entlehnt ist.
„Man schreibt aus Tulancingo: Hier spricht man viel von
einer Entdeckung, welche durch Zufall gemacht wurde, und zwar
in der Nähe von Jieo bei Huanchinango. Die Meinungen
gehen auseinander; ich will versuchen, das Wahrscheinlichste'zu
ermitteln.
Beamte von Huanchinango gingen kürzlich (ein Datum ist
nicht angegeben) mit mehren Bewohnern des Ortes hinaus, um
einen Mann, der ein Landgut gekauft hatte, gerichtlich in das-
selbe einzuweisen. Das Gespräch kam aus eine Stelle in einer
betreffenden Urkunde über das Landgut, die sehr alt ist, und in
der als Grenze der Ländereien nach Norden und Osten die Stadt
H. bezeichnet steht. Nach jener Richtung ist dichter Wald, wel-
chen keiner der Anwesenden jemals betreten hatte. Man beschloß
dorthin zu gehen. Nachdem man mit vieler Mühe sich einen
Weg durch das Gestrüpp gebahnt hatte, fand man Spuren von
einer Straße; weiterhin entdeckte man zwei Häuser, deren Dach
die Gestalt eines dreieckigen Gewölbes hatte. In einem dieser
Häuser fand man einen ungemein großen Hofraum und in
diesem eine Menge von steinernen Götzenbildern; von diesen
sind einige nach Huanchinango gebracht worden. Die Leute
untersuchten dann weiter und fanden die Thüren zumeist mit
einer cementirten Steinmasse vermauert. Sie wollen in Trüm-
mer zerfallene Steinsäulen gesehen haben, sodann Stufen, welche
zn einer Erhöhung hinauf führen. _ Als ein Soldat mit dem
Gewehrkolben anf einen Stein stampfte, vernahm er von unten
herauf einen Wiederhall. Nim sind viele Leute au die Arbeit
gegangen; der Präfekt von Huanchinango hat dem Kaiser einen
langen Bericht über diese Entdeckung geschickt und will bei erster
Gelegenheit auch die Götzenbilder nach der Hauptstadt senden.
Man hat die Indianer gefragt, weshalb sie niemals ein Wort
über diese Ruinen gesagt haben; sie entgegnen, das hätten sie
nicht gedurft, und'in den Wald seien sie nicht hineingegangen,
weil jeder, welcher ihn betrete, verzaubert werde." —
Diese ganze Erzählung hat an und für sich gar uichts Un-
wahrscheinliches. Fand doch I. Lloyd Stephens vor etwa 20 Jahren
in Aucatan binnen 10 Monaten nicht weniger als 44, bis dahin
unbekannte Ruinenstädte. Altmerico und Centralamerika waren
Kulturgegenden; wie aber eine Ruinenstadt in das allzeit bar-
barische Sudostafrika kommen soll, das begreifen wir nicht.
E r d t h e i l e n.
Bis auf Weiteres wird uns erlaubt sein, hier einen Humbttg
anzunehmen; wir wollen aber die Sache selbst miltheilen.
Die „Cape and Natal News", ein in Capstadt erscheinendes
Blatt, schreibt Folgendes: — „Wir erfahren, daß der Geistliche
J.L.Dohne bei Urban (der Stadt im Natallande) von einem
deutschen Missionär Knude über die Entdeckung von mehren
Ruinenstädten erhalten hat, und entlehnen dem „Boten der Ost-
Provinzen" das Nachstehende:
Vor einiger Zeit unternahmen mehre Reisende, von denen
einige der Missionsstation Berlin angehören (keine Namen und
kein Datum!) eine Wanderung, um das Land zwischen dem
Sambesi und dem Limpopo zu erforschen, insbesondere den Be-
zirk Leydenburg, welcher zum freien Gebiete des Basutostammes
der Bafedis gehört. Häuptling der letzteren ist Sekukune,
und bei diesem ist 1864 elne Missiousstation gegründet worden.
Wir hatten, so erzählen die Reisenden, unsere Wanderung mit
19 zuverlässigen und bewaffneten Bafedis unternommen, und
außer ihnen 'begleiteten uns 5 andere Männer, die unser Gepäck
trugen. Wir gingen von: Limpopo aus in nordöstlicher Rich-
tung, und zwei Knoapnenzen (?) dienten uns als Führer zu deu
Ruinen von Bunjavi.
Von diesen hatten wir schon vor längerer Zeit reden hören
und zwar von Leuten, welche dieselben gesehen hatten; sie woll-
ten uns aber nur dorthin führen, wenn ihr Häuptling Serabane
es erlaube; dieser steht in gutem Einvernehmen mit den Ein-
gebornen, in deren Gebiete die Ruinen liegen. Serabane wollte
sich anfangs auf Nichts einlassen und sagte, es würde ihm
und uns das Leben kosten, wenn wir dorthin gingen; am Ende
erlaubte er aber doch, daß wir mit einigen seiner Leute dorthin
gingen.
Einer von unseren Führern war in der Nachbarschaft der
Ruinen geboren und erzogen worden und befand sich erst seit
einiger Zeit bei Serabane. Unterwegs erfuhren wir von ihm
Allerlei über seiue Kameraden; sie waren in steter Furcht bei
dem bloßen Gedanken, daß sie weiter mit uns gehen müßten;
am Ende verstanden sie sich aber doch dazu, uns bis in die
Nähe der Ruinen zu führen; weiter aber wollten sie um keinen
Preis uns begleiten und wir mußten uns dann selbst unfern
Weg suchen.
Das Benehmen Serabane's und seiner Leute erklärt sich
daraus, daß Bunjavi als ein geheiligter Ort angesehen wird;
es ist bei Todesstrafe verboten, einen weißen Mann dorthin zn
führen, Thiere zu erlegen, einen Strauch oder einen Baum zu
beschädigen. J
„Was die Ruinen anbetrifft, so ist es gewiß, daß zwei
Stellen vorhanden sind, an welchen ägyptische Trümmer noch
aufrecht stehen." (So steht es wörtlich da; man bemerke, daß
keiner der Reisenden genannt wird, und daß jede ins Einzelne
126 Aus eitlen
eingehende Beschreibung auch in dem fehlt, was nun weiter
folgt.) „Die kleinere Oertlichkeit liegt südlich vom Limpopo,
und die Stelle heißt Bempe. Man findet dort hydraulische
Werke; das Wasser springt aus einem aus dem Felsen geHaue-
neu Thierkopfe hervor. Es gibt verschiedene Legenden über
diesen heiligen Ort. Diese Stadt muß mehre Wegstunden Um-
fang gehabt haben. Man sieht dort eine große Menge (sie!)
vou' Pyramiden, Sphinxen, Resten großer Gebäude und mehren
mit Hieroglyphen bedeckten Marmortafeln, die gewiß für die
Geschichte Afrika's von großer Bedeutung sein werden. Dort
ist anch ein unterirdischer Gang von einer halben engl. Meile
Länge, der ähnliche Hieroglyphenplatten und an jeder Seite
mehre Säle hat. Wir konnten nicht ermitteln, wozu derselbe
gedient hat; wahrscheinlich ist er eine Nekropole."
„Es war unser Wunsch, diese Ruinen gründlich zu erfor-
fchen, es war uns aber für den Augenblick nicht möglich weiter
zu gehen, weil die Eingebornen, welche wir hätten passiren
müssen, krank an Fiebern und Blattern lagen; deshalb wollten
unsere Führer nicht dorthin. Wir sind also nach einer Ab-
Wesenheit von sechs Wochen wieder bei der Mission eingetroffen.
Die Eingebornen, welche in der Nähe der Ruinen wohnen,
heißen Kuari-Kuari. Die Gegend ist sehr ungesund, das
Fieber herrscht sast immer, und Hornvieh kann dort der Tsetse-
fliege halber nicht leben. Jagdwild ist häufig. Dort ist auch
ein großer Marmorberg."
Die russische Provinz Turkestan in Centralasien.
Aus Indien meldete in der Mitte des Septembers ein
Telegramm, daß Samarkand im Chanate Buchara von ruf-
Mischen Truppeu besetzt worden sei; aber den Nachrichten, welche
über centralasiatische Angelegenheiten aus englisch-indischen
Quellen stammen, ist niemals zu trauen, und nicht selten ver-
rathen sie eiue völlige Unkenntniß der Geographie. Mit Be-
stimmtheit wissen wir aber, daß der nördliche Theil des Chanates
Chokand mit der wichtigen Handelsstadt Taschkend sich tm
Besitze des Czars befindet. . .
Das Vordringen Rußlands in Jnnerasien leistet der Civi-
lisation große Dienste. Einst war der weite Raum vom Jrtysch
im Norden bis zum Jarartes im Südeu, vom Ural im Westen
bis zum Tarbagata'lgebirg im Osten ein Schauplatz für Raub-
züge, Fehden und Mordthaten; heute herrscht dort überall Ord-'
nung und Frieden. In den vier neugebildeten Provinzen
Semipalatinsk, Kirgisien, Orenburg und Turkestan uimmt die
ansässige Bevölkerung zu, mau hat regelmäßige Postverbindung
in den Steppen, und der Handel gewinnt, weil Personen und
Eigenthum nicht mehr den Räuberuomadeu preisgegeben sind,
großen Aufschwung. Ja, man träumt schon von einer Eisen-
bahn, durch welche die Wolga mit dem Jarartes in Verbindung
gebracht werdeu soll. Doch das bleibt bis auf Weiteres nur
eine Phantasie, während die Anlage von Telegraphen in der
Steppe zu den wirklichen Dingen gehört. #
Die umgebildete Provinz Turkestan grenzt im Osten
an die Kleine Buchara (Kaschgar), im Süden an die Chanate
Ehokand, Buchara und Chiwa, im Westen an den Aralsee und
die Kirgisensteppe (der kleinen Horde), im Norden an den
Balchaschsee und den Fluß Tschuia, respective au das Gouver-
nement Orenburg und die Steppe der sibirischen Kirgisen. ©te
liegt zwischen 78 und 97° O. und 41 bis 45° N, und ist un
Norden, Osten nnd Süden gebirgig; dort erheben sich der Alatan
und der Karatan mit ihren Verzweigungen; der Westt'U ist
flachs Steppen- oder Wüstenland. Die Gebirgsgegenden haben
sehr fruchIbaren Boden und sind vortrefflich bewässert. Haupt-
ström ist der Jarartes, der vou der Hochebene von Pamir herab-
kommt; er fließt Anfangs in der Richtung nach Südwesten und
nimmt an der rechten Seite die Flüsse Dschuugal, Saravka,
Tschirschick, Snbrossa und Ar de auf; auch auf seiner lin-
ken Seite strömen viele Gewässer ihm zu. (Wir haben den
Jarartes und dessen Erforschung durch Admiral Butakosf aus-
sührlich behandelt, Globns VIII, S. 113). Nachdem fein Laus
eiue nordwestliche Biegung gemacht, theilt er sich unter 45° N;
der nördliche Arm behält den Namen Syr, der südliche heißt
Knwan, und dieser spaltet sich seinerseits wieder in denKuwau
und Jany, Diese drei Arme verlängern sich nach dem Aral-
see hin und bilden ein Delta von etwa 10 deutschen Mellen
Breite. Im Gauzeu hat der Lauf des Jarartes eiue Länge von
mehr als 400 deutschen Meilen, und etwa 200 davon sind schaff-
bar. Die ersten russischen Fahrzeuge schwammen 1845 auf ihm;
seitdem baute General Obrutschef Burgen am rechten Ufer, und
heute wird der Strom regelmäßig von Dampfern befahren.
Das Klima der Provinz Turkestan ist im östlichen und
Erdtheilen.
Mittlern Theile gut, versteht sich nach innerasiatischem Maß-
stabe. Der Frühling beginnt im Februar, und der Pflanzen-
wuchs ist rasch; Getreide wird im Juni geerntet, Gemüse bis
in den September. Im Gebirge ist die Sommerhitze leidlich
gemäßigt; die Winterkälte steigt bis zu 10° R, das Vieh bleibt
während des ganzen Jahres im Freien. Der westliche Theil ist
heißer nnd trockener, und hier steigt der Thermometer im Hoch-
sommer bis auf 40" R.; der Winter ist streng, Schneestürme sind
häufig, aber schon im März bedeckt sich die Steppe mit Blumen
und dustigen Gräsern; doch die Julisonne versengt Alles, heiße
Winde, welche dem afrikanischen Sirocco gleichen, segeu über
die Ebene hin, welche bis zumHerbst eine Wüste bildet. Hier ist
Ackerbau nur möglich, wenn die Felder sorgfältig bewässert
werden. Das Vieh wird von einer Stelle zur andern getrieben.
Am Jarartes, an der Tschüia und auch soust an den Gewässern
sind die Mücken eine wahre Plage.
Der östliche, gebirgige Theil ist metallreich. In der Quell-
gegeud des Jarartes, 'überhaupt am obern Laufe und dessen
Nebenflüssen wird Gold gewaschen; Silber und Blei kommen
in den Gebirgen Kaschgar-Dawan, Balar-Taga, Bolordat, im
Alatan und Karatau vor ; auch Kupfer ist nicht selten, vortreff-
Itcheg Eisenerz sehr häufig; auch an Schwefel, Salpeter und
Salz ist kein Mangel. Steinkohlen sind an den Abhängen des
Kaschgar-Dawan und Karatau gefunden worden; Eornalin,
Jaspis und Türkise sind in Menge vorhanden. Am obern Laufe
des Jarartes wächst Bauholz; bei den Städten und Dörfern
findet man überall ausgedehnte Anpflanzungen von Obstbäumen
nnd vou Südfrüchten; drei Arten von Obst: Bigue, Nasch-
bat und Nik sind in Europa unbekannt; ihre Früchte schmelzen
int Munde und sind so zart, daß man sie uicht trausportireu
kann. Der Maulbeerbaum wird überall gepflegt, uud die Seiden-
zucht bildet den wichtigsten Gewerbszweig. Alle Getreidearten,
Krapp, Flachs und Hanf gedeihen vortrefflich, nicht minder
Pferde, Hornvieh, Esel, Kameele und alles Hausgeflügel uebst
Trappen und Fasanen.
Die Bevölkerung ist bunt genug. Man findet Reste von
den Mongolen, welche einst mit Dfch'ingischan ins Land kamen,
Dsungaren, Buriäteu, Kirgisen, eingeborne Turkmeu, Karakal-
paken, Perser, Chiwenzen, Afghanen, Bucharen aus Kaschgar,
Hindus, und die Juden fehlen auch hier uicht. Wichtige Städte
find: Turkestan. Tfchemkent und Tafchkend; die Burgen
oder Festungen: Susau, Tschelat, Kurgan, Soly-Kurgau, Pisch-
uek, Tokmak, Fort Perowsky, und dazu kommen noch einige
andere. Tafchkend soll mehr als 100,000, Turkestan etwa
30,000 Einwohner zählen. Der Mohammedanismus ist herr-
schende Religion, die Sprache der Dschiggetai- nnd osttürkische
Dialekt des'Türkischen; die ansässige Bevölkerung redet aber
auch cht verderbtes Persisch. Die Gesammtzahl wird 400,000
Seelen nicht übersteigen. Tschemkent ist Sitz der Verwal-
tungsbehörden. Die Post nach Rußland geht durch die Kirgisen-
steppe uud über Fort Perowsky und ist durchaus regelmäßig.
Ueber die orenburgische Zolllinie sind bisher jährlich 'für etwa
10 Mill. Rubel Waareu nach Jnnerasien gegangen.
Neger und Weiße in Nordcarolina.
In Folge der Emaucipation der Schwarzen treten, wie vor-
auszusehen war, täglich neue Uebelstäude und Verlegenheiten
hervor. Die alten Verhältnisse sind gelöst und Alles befindet
sich in einer höchst peinlichen Schwebe' Der nachstehende Brief
eiues Deutschen aus Warrington in Nordcarolina vom 4. Sept.,
welchen das deutsche „Neuyorker Journal" mittheilt, gewährt
einen Einblick in die Verhältnisse."
„Wir thun Alles, was in unseren Kräften steht, ein neues
Arbeitssystem herzustellen aus den Trümmern des alten, das zu
erfolgreich war, um uicht den Neid der Puritaner zu erregen —
dieser gierigsten, arrogantesten und intolerantesten Menschen-
klasse. Wir anerkennen die Thatsache, daß die Negerdienstbarkeit
aufgehört hat, gesetzlich zu eristiren. Die Verfaffungsmäßigkeit
oder Gerechtigkeit der Maßregeln, welche zu ihrer Aufhebung
führten, ist nicht länger ein Gegenstand der Erörterung, gleich
wie der Bergbewohner, dessen Hans von einer Lawine' ver-
schüttet wird,'von seinem wirklichen und handgreiflichen Verluste
zu sehr in Anspruch genommen wird, als daß er Zeit und Lust
hätte, über meteorologische Phänomene oder über die Gletscher-
Theorie nachzudenken. Ist er ein Mann, so wird er nicht die
Hände in den Schooß legen und seinen Verlust beklagen, son-
dern er wird sich daran machen, ein neues Haus zu bauen.
Wir unsererseits sind weder entmuthigt, uoch hat
das Unglück unsern Glauben an das große Fnnda-
mental-PrinziP erschüttert, woraus'wir — viel-
Aus allen Erdtheilen.
127
leicht unvorsichtiger, aber gewiß nicht unlogischer-
weise — unsere Ansprüche auf eine eigene abgeson-
derte Regierung gründeten. . . .
Manche Neger siud geneigt zu arbeiten, während andere der
Ansicht zn sein scheinen, daß das große Jubeljahr gekommen
sei, und daß die Macht, die sie frei'gemacht habe, ihnen auch
das Eigenthum ihrer früheren Herren zur Beute geben werde.
Dieser Wahn ist so verbreitet unter ihnen, daß zu befürchten
steht, der unruhige, leicht erregbare, aber indolente Neger werde
zur Gewalt greifen, um sich das selbst zu verschaffen, was ihm
die Regierung nicht geben kann. Es wurde ihnen so oft von
Bundessoldaten vorgeschwatzt, daß unser Land, unser Vieh je.
unter sie vertheilt werden solle, daß in zwei oder drei Fällen
mehre hundert Neger frohlockend nach Warrington kamen in der
Erwartung eines Dekrets, das all unser Eigenthum zu ihren
Gunsteu eoufiseirt habe.
Es ist grausam, diese leichtgläubigen Leute auf diese Art
zu hintergehen. Gewisse verrückte Leute im Norden suchen deu
unwissenden Neger aufzuhetzen, indem sie sagen, wir freuen uns
über sein Unglück. Mit einer Frechheit und einer heillosen
Unverschämtheit, die man nur unter diesen Philanthropen findet,
stellen sie sich empört darüber an, daß der Neger unter den
naturgemäßen Conseguenzen des unpolitischsten Aktes zu leideu
hat, den die Geschichte kennt. Als ob wir selbst besser daran wären!
Unsere Felder sind verwüstet worden, unsere Ernten zerstört,
unsere Pferde, unser Rindvieh, Schafe, Schweine und Ge-
flügel wurden weggetrieben, unsere Mühlen verbrannt, nnsere
Ackergeräthschaften vernichtet? unser Porzellau, Silberzeug und
Gemälde, unsere Juwelen, Uhren und Pianos zieren heutzutage
die Person, die Tische oder die Besuchzimmer der „gebildetsten,
feinsten und christlichsten" Gesellschaft der Welt. _ Diese unver-
schämten , näselnden Heuchler möchten den Unwillen der Welt
gegen uns wachrufen, weil wir die geringen Vorräthe, die wir
aus deu Klauen der Marodeure, Brandstifter und Eommissäre
gerettet haben, nicht dazu hergeben wollen, um eine Roth zu
lindern, die nothwendige Folge einer Maßregel ist, für dir sie
Himmel, Erde uud Hölle in Bewegung gesetzt haben.
Wir freuen uns nicht über die gegenwärtige schlimme Lage
des Negers, und noch weniger werden wir die Last, die bereits
auf seinen Schultern liegt, anch nur um eine Uuze vermehren.
Wir werden ihn gerade so behandeln, wie Greeley oder Beecher
seinen Diener. Ist er zu alt zum Arbeiten, so werden wir ihn
entlassen; ist er krank, so muß er den Doktor selbst bezahlen,
und vergebens wird er den Besuch und die Pflege einer gütigen
„Herrin" erwarten. Die reichlichen Geschenke an Kleidüng,
Geld und Lebensmitteln, die den Neger einst'zum zufriedensten
Arbeiter der Welt machten, werden ebenfalls ausbleiben.
Mit den weißen Arbeitern, die bald in unser Land strömen
werden, kann der Neger nicht eoncnrriren; diese sind ihm an
Ausdauer, Kraft, Geschicklichkeit und Energie überlegen. Wie
Californien das Stimmrecht dem nüchternen, sparsamen und
ordentlichen Chinesen verweigert, so und mit noch mehr Recht
verweigern wir es dem Neger. Er mag unter uns bleiben,
wenn er Lust hat; seine Contrakte sollen gehalten werden, sowohl
was Rechte, als was Verbindlichkeiten betrifft; seine Freiheit
soll gewahrt, sein Eigenthum geschützt werden. Aber mögen die
Freunde des Negers zwei Thatsachen nicht vergessen: 1)'daß er
jetzt zum ersten Mal mit einer andern, intelligenteren und zahl-
reicheren Rasse zu eoneurrireu hat; 2) daß dieser Continent der
kaukasischen Rasse gehört, und daß weder der Malaie, noch der
Mongole, noch der Afrikaner Theil daran haben kann. Wer
da glaubt, der Neger werde mit der Zeit als ein Färbemittel
in der weißen Rasse aufgehen, ist im Jrrthum. Die unflächige,
widerliche Lehre von der Miseegenation — wornach „die Bronze-
Figur auf dem Kapitole der Typus des künftigen Amerikaners"
sein soll — wird feineu Eingang bei uns finden, und jeder
anständige Mann und Frau im Lande wendet sich mit Ekel
davon ab.
Dies sind die Ansichten und Überzeugungen eines Mannes,
der dem Neger alles Gute wünscht, soweit der Amerikaner nicht
dadurch benachtheiligt wird. Als Sklave^ wän der Neger für
immer gediehen, das Opfermesser hätte ihn nicht erreicht, so
lange er nicht mit den Blumen der Freiheit bekränzt war. Der
Indianer ist nach blntigem Kampfe nnd nach mancher schenß-
liehen Seene von Wald,' See nnd Fluß vertrieben worden, und
die Rasse, die einst in den weiten Wäldern vom Penobseot bis
zum fernen Westen unumschränkt herrschte, ist nahe daran ans-
ZUsterben; der tapfere Widerstand, den sie von Zeit zu Zeit ihren
unermüdlichen Verfolgern leisten, beschleunigt nur ihr uuver-
meidliches Schicksal. Ist der Neger edler als der Indianer, oder
ist fem Mges, serviles Blut eher ein Element der Macht und des
Fortschrittes, als das vou Philip, Logau uud Tekuiuseh? ....
Die Bewohner von Warrenton sind so glücklich, einen
energischen Geschäftsmann mit klarem Kopfe zum Profoßmarschall
zu haben. Nur ein solcher konnte mit den zahllosen, mehr oder
weniger nichtssagenden Beschwerden der Neger fertig werden,
welche der Ansieht zn fein schienen, als wäre er bloß hierher-
geschickt, nm ihren Willen zn thun. Eine Ordre wurde erlassen,
wornach jeder Neger, der ohne Beschäftigung getroffen würde,
zur Arbeit au der Straße verwendet werden solle. Naeh einer
unter Aufsicht eines Eorporals vollbrachten Tagesarbeit legte
ein Neger seinen Spaten hin mit einem tiefen Seufzer und
unter den Worten: „Bei Gott, nie in meinem Leben Hab' ich
noch solch ein Tagwerk gethan!" „Fauler Schurke", saqte der
Corpoml verächtlich, „Du hast ja nicht mehr als fünf Stunden
gearbeitet."
Die Moral dieser Gesehichte ist, daß nicht nur des Negers
Gewohnheiten (die sich vielleicht ändern ließen), sondern auch
sein Temperament (welches immer dasselbe bleiben wird) von
der Art sind, daß er mit dem thätigen und kräftigen Weißen
nie concnrriren kann."
Em neues Projekt für den europäisch - amerikanischen
Telegraphen. Alberto Balestrini will ein Tan legen, aber
die allzu weiten unterseeischen Strecken vermeiden. Vom Aus-
gangspnnkte Paris, — so ist der Plan, — geht der Draht zn
Lande bis Lissabon und bis zum Kap St. Vincent. Von diesem
unter See bis zu den Canarischen Inseln der marokkanischen
Küste entlang;^ Stationen zu St. Louis am Senegal nnd auf
der Insel Goree. Vom Grünen Vorgebirge, welches nun eine
französische Besitzung ist, soll der Draht durch das Atlantische
Meer bis zum Kap San Roque in Brasilien gelegt werden, und
diese unterseeische Strecke ist nur etwa halb so weit als jene für
das nordatlantische Kabel der Engländer. Vom Kap S. Roqne
soll der Draht nach Norden durch Brasilien bis ins französische
Guyana uach Eayenne geführt werden, und von dort weiter an
der amerikanischen Küste hin zu Lande, oder auch vielleicht über
die Antillen bis Neuorleaus.
Man sieht, der Umweg ist weit uud die Schwierigkeiteu
werden nicht gering sein, obwohl der französische Bericht, wel-
chem wir die obigen Notizen entlehnen, von einer „sehr leichten"
Ausführung spricht. Um den Telegraphen an der marokkanischen
Küste sicher zu stellen, müsse man Wachtposten unterhalten. Die
Coinpagnie, welche das große Werk zn unternehmen gedenkt,
will ein Privilegium auf 100 Jahre haben, uud die französische
Regierung soll bis Ablauf derselben keine andere Konzession für
einen transatlantischen Telegraphen ertheilen. Kapital 80Mill.,
Unterstützung von Seiten der Regierung 4 Mill. Frs. In fünf
Jahren soll die ganze Strecke im Betrieb sein.
Die Bermudas-Inseln vor der Küste der Vereinigten
Staaten von Nordamerika gehören bekanntlich den Engländern.
Sie haben ein sehr gesundes, den Europäern zusagendes Klima,
gewähren namentlich in den Wintermonaten einen sehr ange-
nehmen Aufeuthalt und haben manche anmnthige Landschaften.
Die dort wachsende Eeder gibt gutes Schiffsbauholz; auch gedeihen
alle Obstarteu uud Südfrüchte. Der Archipelagus besteht aus
nicht weniger als 360 Eilanden, und fast alle sind bewohnt.
Hamilton gegenüber liegt eine kleine Insel, auf welcher wegen
der ungeheuer» Menge von Ratten kein Mensch leben kann. An
Wasser ist kein Mangel. Im Jahr 1863 belief sich die Volks-
menge auf etwa 15,000 Köpfe. Haupterzeugnisse sind Zwiebeln,
Kartoffeln und Taback; für die beiden ersten Artikel ist in Neu-
York ein Hauptabsatzmarkt. Im Haupthafeu Hamilton liefen
1862 etwa 200 Schiffe von ungefähr 40,000 Tonnen ein. Die
zwischen St. Thomas in Westindien und Halifax in Neuschott-
land fahrenden Dampfer legen in jedem Monate zweimal- bei
den Bermudas an. Auf der Insel Ire land befindet sich ein
großes Marinearsenal mit geräumigen Docks, nnd dort wohnt
der Admiral der westindischen Kriegsflotte, welche hier ihren
Sammelplatz findet, während der Wwterzcit.
Wie hoch ein Yankee die Deutschen taxirt. Im neu-
engländischeu Staate Connecticut sollte am ersten Montag im
Oktober 1865 darüber abgestimmt werden, ob das Wort „Weiße"
aus der Staatsverfassung gestrichen und Alles, was farbig ist,
Vollbürger, stimmberechtigt und wahlfähig werden solle.
Das Hanptabolitionistenblatt, die „Tribüne , ermahnte die
Leute von Connecticut, sich auf die Höhe des Zettbewußtseius
zu erheben, uud Horaee Greeley, der bekannte ultraschwarzradi-
kale Demagoa, ließ sich in folgender Meise aus:
128
Aus allen Erdtheilen.
„Von der Bevölkerung Connecticuts gehören 16 Köpfe zur
indianischen und 8627 zur afrikanischen Rasse. Der In-
dianer ist beinahe ganz verschwunden, aber die farbige Bevölke-
rung bildet eine über den ganzen Staat verbreitete, große und
gedeihliche Geineinschaft. Unter ihr befinden sich 2281, die das
Alter zum Stimmen haben und nach Allem, was wir über sie
wissen, im Besitze des erforderlichen Verständnisses
mindestens eben so sicher sind als die 8525Deutschen,
549 Franzosen und ein guter Theil der 55,445 Jrländer, die
auf Grund ihrer Hautfarbe hier eiu Stimmrecht haben, wel-
ches einer Klasse, die durch und durch amerikanisch und nur
von etwas dunklerer Schattirung ist, vorenthalten wird.
Dazu bemerkt das deutsche „Neuyorker Journal": „Die
Deutscheu Connecticuts werden also ohne Ausnahme noch ein
wenig unter den Neger gestellt, während nnr einem
Theile der Jrländer dieselbe schmeichelhafte Position angewiesen
wird und man schließen muß, daß der andere Theil als eben-
bürtig mit den weißen und schwarzen „Amerikanern" betrachtet
wird. Daß gerade die Tribuuepolitiker mit solcher Verachtung
von dem deutschen Elemente sprechen, unter welchem sie so viele
Mitkämpfer für die Standrechtsloyalität und Rassenverschmel-
zung gesunden, schmeckt stark nach Undankbarkeit, ist aber sehr
erklärlich. Sie beurtheileu eine gauze Nationalität nach den
traurigen Erfahrungen, die sie an ihren deutschafrikanischen
Bundesgenossen mächen. Alles Schweifwedeln vor dein ncger-
radikalen Despotismus ^ hat den Seilten der „deutschen Jntelli-
genzpartei" nichts genützt. ' Man hat ihnen, gleichsam als
Almosen, einige Aemter hingeworfen, glaubt aber dadurch sich
mit ihnen abgefunden und ein um so größeres Recht gewonnen
zu habeu, sie mit Verachtung und Fußtritten zu regalireu.
Selbst vor dem verhaßten, weil demokratischen Jrländer zeigt
man mehr Respekt."
Aus Brasilien. In der Provinz Rio grande gewinnt der
Anbau der Weinrebe au Ausdehnung, Die Trauben liefern
eiu gutes Getränk, das mit starkem Bordeaux Aehnlichkeit hat.
Das' Dutzeud Flaschen wird in Rio de Janeiro mit 6 bis 10
Milreis bezahlt. —
Von Cachoeira in der Provinz Bahia sind viele Männer
uach einer Oertlichkeit gegangen, die Barro branco beißt. Dort
findet man viele Diamanten; einer derselben, welcher in Bahia
ausgestellt ist, wiegt eine Achtel Unze.
Handel von Venezuela. Die beiden Haupthäfen dieser
Republik sind La Gnayra und Puerto Cabello. Es ist
erfreulich, zu bemerken, daß Deutschland in Bezug aus den
Handels- und Schifssahrtsverkehr mit Venezuela allen anderen
Völkern vorausgeht.
In dem Handelsjahre vom 30. Juni 1864 bis 1. Juli 1865
betrugen die Ausfuhren von Puerto Cabello:
Kaffee . . . 15,091,520 Pfund
Kakao . . . 927,690 „
Baumwolle . 3,708,587 „ v
Indigo . . . 45,843 „
Von Kaffee gingen zwei Drittel der gestimmten Ausfuhr,
nämlich 9,176,368 Pfnnd; nach Hamburg vou Cacao 111,481,
nach Bremen 12,659 Pfund; Baumwolle uach Hamburg 793,993,
Bremen 113,896, Altona 12,231, Trieft 25,124 Pfund.
Von den 183 Schiffen, welche von transatlantischen Häfen
einliefen, waren 29 deutsche, 27 englische, 19 französische; und
44 liefen aus nach den 4 deutscheu Häfen Hamburg, Altona,
Bremen und Trieft; nach England nur 12, nach Frankreich 21;
nach Spanien 12 und nach Italien 4.
Große Hitze in Ostindien. Der „Homeward Mail" be-
richtet aus Multan vom 8. Juli, daß die Hitze dort stärker
sei, als sie jemals gewesen. Wir leben, so sagt ein Bericht-
erstatter, in Sonne und Staub, in Staub und Sonne; Jeder-
mann fühlt sich niedergedrückt, und von irgend einer geistigen
Thätigkeit oder Anstrengung kann keine Rede sein. Der Regen,
welcher um diese Jahreszeit sehr reichlich (bis zu zwei Zoll an
jedem Tage) zu fallen pflegt, ist bis jetzt ausgeblieben. Cholera
haben wir uoch uicht gehabt, wohl aber erliegen sehr viele
Menschen dem Sonnenstiche. Bei Scheich Bod'in, einer Ge-
suudheitsstation unweit Dera Jsmael Chan, ist viel Regen
gefallen, am 6. ds. Ms. sielen auch bei Lahore eiuige Tropfen,
aber hier habe ich in meinem schattigen Zimmer 99" F. Hitze.
Dieses Multau ist nicht blos für uns Europäer, sondern auch
für die Eiugeborneu ein wahrer Glutofen.
Gewiß "ist, daß die Witterungsverhältnisse im Jahre 1865
sich in sehr abnormer Weise gestaltet haben. In Australien
hat ein Astronom verkündet, daß noch im laufenden Jahr-
ein Komet erscheinen werde, welcher möglicherweise mit der
Erde in einen Konflikt gerathen könne. „Das Nahen des
Kometen verkündet sich, seiner Angabe nach, bereits in den nn-
gewöhnlichen Witterungserscheinungen, mit denen das Jahr be-
gönnen, auch bringt er damit das Aufsteigen der Naphta-
(Petroleum) Masse aus dem Innern der Erde in Verbindung.
Bezüglich dieses Kometen werden wir, wie unser Astronom sagt,
demnach einer bedenklichen Zeit entgegengehen. Denn es würde
uns Erdbewohnern eiu Schauspiel geboten, welches — wenn es
glücklich abläuft — so lange die Erde existirt, noch nicht da-
gewesen. Sobald nämlich der Komet sich in der entsprechenden
Erdnähe befindet, wird während dreier Tage und dreier Nächte
die Atmosphäre der Erde in dem wunderbaren, funkensprühen-
den Licht des Kometen, das an Helle das Sonnenlicht übertreffen
wird, gebadet fein." Dieses großartige Schauspiel müssen wir
nun abwarten.
r. Surrogat der Gatta pertscha. Viele Bäume in Guyaua
liefern Milchsäfte, unter welchen sich der Balatas (Achras) aus-
zeichnet, der zugleich ein ausgezeichnetes Bauholz gibt. Seit
einigen Jahren läßt das französische Gouvernement' den Saft
durch Sträflinge sammeln, die täglich eine bestimmte Menge
abliefern müssen. Dieser Milchsaft könnte nach Rappler in
Surinam die schwieriger zu erhaltende Gatta pertscha ersetzen,
da der Balatas sich häufig findet, doch läßt der uoch hohe Preis
und außerdem das Mißtrauen des Publikums gegen Neues
fürchten, daß mau bei den ersten Versuchen stehen bleiben wird.
f. v. h. Pernhardts Großglockner - Panorama. Wir
haben in diesem Blatte schon öfters Anlaß genommen anf die
Thätigkeit und das Gedeihen des österreichischen Alpen-
Vereines hinzuweisen, welcher es sich zur Aufgabe gestellt hat,
uicht nur die wissenschaftliche Knude der österreichischen Alpen
zu erweitern und in materieller Beziehung eine praktische Rich-
tung durch Regelung des Führerwesens, Anlegung vou Wegen :c.
zu verfolgen,' sondern auch in weiteren Kreisen Liebe zu deu
schönen Sceuerim der österreichischen Alpenländer zu erwecken.
In dieser letztern Absicht besonders und, von der richtigen An-
ficht ausgehend, daß eine gelungene bildliche Veranschaulichung
am meisten zur Eiweckuug der Sehnsucht und der Liebe zu diesen
Naturscenen beitrage, hat der Verein in Wien die Ausstellung
des Großglockner -Panorama's dcs Hrn. Pernhardt aus Klagen-
fürt veranstaltet, welches zu den gelungensten Leistungen dieser
Art gerechnet werden muß. Der Standpunkt des Beschauers
stellt die Glocknerspitze selbst vor, und das kolossale Bild im
Halbkreise zeigt die Aussicht von derselben nach allen vier Welt-
gegendm. Im Centrum der österreichischen Hochalpen gelegen,
erstreckt sich die Rundschau von der Glocknerspitze fast über die
ganze österreichische Alpenwelt. Es ist nicht zu leugnen, daß
wohl aus keinen geeignetem Punkt die Wahl des Vereins fallen
konnte, nm seinen Zweck zu erreichen, zugleich aber darf man
auch behaupten, daß Herr Pernhardt durch Anfertigung dieses
riesigen auf Leinwand mit Oel gemalten Panorama's, ganz
abgesehen vou dessen künstlerischer Schönheit und Vollendung,
der Geographie der Alpen einen wesentlichen Dienst ge-
leistet hat und die Betrachtung dieses Riesenbildes ihr Studium
in hohem Maße erleichtert.
Volksmenge der zehn größten Städte m Großbritannien.
Dieselbe stellt sich nach der Zählung, welche in der Mitte des
Jahres 1865 vorgenommen wurde, iu folgender Weise heraus:
London . .
Liverpool .
Manchester.
Salford . .
Birmingham
Leeds. . -
Bristol . -
Edinburgh .
Glasgow -
Dublin . .
3,015,494 Seelen
476,368 „
354,930 „
110,833 „
327,842 „
224,025 „
161,809
174,180
423,123
317,666 "
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Ethnographische Schilderungen aus dem Gebiete des Amazonenjtroms.
IV.
Die Uferlandschaft am Ucayale; Pflanzenwuchs und Thierleben. — Der Pirarocoufisch, — Erdschlipfe. — Die Peccaris im Walde. —
Die Sipibos-Indianer. —Die Sierra de Cuntamana. — Schetibos-Indianer. — Der Fluß Sarayacu.— Begegnung mit getauften
Indianern. — Nachtlager im Walde. — Empfang in der Mission. — Der Franziskanermönch Plaza. — ' Gastliche Aufnahme
in Sarayacu.
Wir haben früher hervorgehoben, daß der Ucayale, schaft, namentlich während der Morgenstunden, als wahr-
nachdem er den Pachitea in sich aufgenommen, in seinem Haft entzückend. Gleich nach Tagesanbruch verschwand der
majestätischen Laufe langsamer strömt. Er hat aber nicht Nebel, legte sich in langen Streifen über die Gipfel der
mm&ii
Die Mission Velen. (Nach einer Zeichnung von Marcoy.)
über 18 Fuß Tiefe und zieht sich nach der Einmündung des
Rio Capuciuia wie eine gigantische Schlange in weiten
Windungen durch das Land. Die Ufer stnd nun dicht
bewaldet und die vielen Inseln mit Ficus, Bombax und
Capiruuasbäumen bestanden. Marcoy schildert die Land-
Globus IX. Nr. 5.
Bäume und wurde dann von einem leichten Winde hinweg-
getrieben. Nun begann es im Walde sich zu regen, die
Vögel begrüßten rufend und schmetternd die Sonne. Der
Strom rollte seine gelbe Flut majestätisch dahin, und jede
Welle schimmerte im Glänze des Lichtes. Große Kaimans
17
130 Ethnographische Schilderungen aus
krochen am Strande hin; Lamantins kamen aus dem
Röhricht, steckten den Kopf aus den: Wasser, schlürften die
frische Luft ein und rissen Zweige von Sarasara (Pseudo
mai's) ab; dann tauchten sie wieder unter. In stillen
Buchten, welche gegen Wind und Wellenschlag geschützt
sind, tummelten sich zinkfarbige Delphine gewöhnlich je zu
Vieren in einer Reihe. Auf einem umgefallenen Baum-
stamme lag der Jaguar und lauerte auf Fische; der Fisch-
otter schwamm behend und suchte Beute; am Ufer standen
graue oder weiße Reiher, Flamingos und Jabirus. Auch
bemerkte man den herrlichen „Roseupsau" (Ardea helias);
er hat einen Gang wie ein Huhn, sehr kleinen Kopf, dünnen
Hals, lange Beine und ein prächtiges Gefieder. Die Curu-
curus sind goldgrün und carminroth, die Cotiugas haben
ein wechselndes Gefieder, das anmnthig schillert; die
Papageyen lärmten, und der Taucherkönig streifte über das
Waffer hin, um einen jungen Päisi zu erhaschen.
Dieser Pira roeou,. Vastus gigas oder Malus osteo-
glossum ist ein merkwürdiger Fisch von der Größe eines
Störs und mit prächtigen, viereckigen Schuppen bedeckt;
diese sind hellcarmiuroth und haben einen kobaltblauen
Raud. In den Nebenflüssen und Seen des obern
Amazonenstroms ist er sehr häufig; fein Fleisch wird einge-
salzen, hat dann Ähnlichkeit mit jenem des Stockfisches
und wird bis Para hinab versandt. Die Combos nennen
ihn Huamuc und verschmähen ihn, in den Gewässern der
Chontagniros und Antis kommt er nicht vor. Dagegen
bildet er ein Hauptuahruugsmittel der Cocamas. Das
Weibchen wird von der jungen Brut begleitet und gleicht
dann einem von kleinen Schaluppen umgebenen Dreimaster.
Die Jungen sind mehr als fußlang und haben noch keine
Schuppen. —
Nicht selten war Mareoy Zeuge von Erdschlipfen,
bei denen weite Uferstrecken plötzlich ins Wasser hinab-
stürzten. Der Boden besteht aus Sand und allerlei Ab-
fällen von Pflanzen; er wird allmälig vom Wasser unter-
höhlt und nicht selten gibt er auf meilenweiten Strecken nach;
dann zieht er Waldbäume, Schlingpflanzen und Gesträuch
mit sich in den nassen Abgrund. Man kann das dumpfe
Getöse, welches einer entfernten Kanonade gleicht, stnnden-
weit hören.
Zwischen den Flüssen Tallarie und Rnapnya, die am
rechten Ufer des Ueayale münden, bestand Mareoy ein
Abenteuer von ganz eigentümlicher Art. Es war etwa
3 Uhr Nachmittags, und der von drei Combos geruderte
Kahn fuhr des Baumschattens wegen dicht am Ufer hin.
Plötzlich, sagt der Reisende, vernahmen wir ein Geräusch
wie von hundert Hacken, mit welchen der Boden umgewühlt
wird; es kam aus dem Innern des Waldes, die Ruderer
horchten aufmerksam und winkten mir, still zusein. Gleich
nachher legteu sie den Kahn ans Land, warfen ihren Sack
ab, griffen nach Bogen und Pfeil und liefen splitternackt
in den Wald hinein.
Ich blieb allein bei dem Kahne. Was aber sollte das
Alles bedeuten? Des längern Wartens müde und entsetz-
lich von Mücken geplagt, ging auch ich ius Gebüsch, setzte
mich aus einen umgefallenen Baum und fing an zu zeichnen.
Gleich nachher erzitterte die Erde unter meinen Füßen, es
war, als ob ein Vulkan tobe. Ich sprang auf; es schien,
als ob eine Reiterschwadron ansprenge. Noch sah ich
nichts im Dickicht, aber gleich nachher brauste, kaum
zwanzig Schritt von mir entfernt, eine ganze Armee von
Peccari-Schweinen heran und in der Richtung auf mich
zu. Sogleich kletterte ich an einer Schlingpflanze hinauf;
die Noth machte mich zum kühnen Turner. Das furchtbare
Rudel ras'te neben mir hin wie eine wilde Windsbraut und
dem Gebiete des Amazonenstroms.
erfüllte die Luft mit einem sehr unangenehmen Gerüche.
Die alten Eber bildeten den Vortrab und einige derselben
bluteten; hiuterher kamen die Bachen und die Frischlinge
mit ihren gekrümmten Schwänzen. In einer nicht so
bedenklichen Lage hätte ich über das merkwürdige Schau-
spiel lachen müssen. Zuletzt kamen meine drei Conibos.
Sie heulten, liefen hinter den Frischlingen her, und es
gelang ihnen, zwei derselben festzuhalten.
Das Ganze hatte ungefähr fünf Minuten gedauert,
und nun wurde mir das Räthfel gelöst. Das dumpfe
Getöfe rührte von den Peeearis her, die in Masse um einen
Baum versammelt waren, um dessen Wurzeln bloß zu
legen und zu verzehren; Rüssel und Hauzähne dienten
ihnen als Hacken. Sie wurden bei ihrer Arbeit von den
Conibos überrascht, welche mitten in das Rudel hinein
Pfeile schosseu und mehre Eber verwundeten. Am Abend
lieferten uns die beiden Peeearis ein leckeres Mahl.
Nun war Mareoy im Gebiete der Sipibos, welche
Taback in Gestalt einer Art von Eigarren rauchen. Sie
wohnen an beiden Ufern des Ueayale, und die Region der
Indianer, deren Name mit ris endigt, lag nun hinter den
Reisenden. Dieselbe reicht von den Thälern des Apolo-
bamba bis zum Rio Tarvita über eine Strecke von etwa
7 Breitengraden.^)
Mareoy hebt hervor, daß er während einer Fahrt von
ein paar Meilen 14 Hütten der Sipibos gesehen habe; diese
Indianer benahmen sich friedlich und gastfrei und tischten
kleine Schildkröten auf, die eben aus dem Ei gekrochen
waren. Diese Thiere werdeu zu tauseuden gesammelt, in
Dampf gekocht und etwa so verspeist wie an den Küsten
der Nordsee die Garnelen; sie haben einen ganz vortreff-
lichen Gefchmack, und der Reisende erklärt sie für ein aus-
gezeichnetes Gericht.
Weiter nach Norden hin wurde der Pflanzenwuchs
immer üppiger, die Bewaldung dichter, die vielen Inseln
im Flusse waren manchmal bis zu einer Meile lang und
bildeten eine förmliche Eilandflur. Der Strom felbst
wurde seichter und hatte oft nur 9 Fuß Tiefe, manchmal
aber auch 12.
Eine Merkwürdigkeit in dieser Gegend ist die in ostsüd-
östlicher Richtung liegende Sierra de Cuntamana, ein
Trachytgebirge, das inmitten einer Ebene emporsteigt, wo
auf einem Durchmesser von 300 Wegstunden auch nicht ein
Kieselstein zu finden ist. Von ihr laufen vier kleinere
Ketten aus, gleich den Speichen eines Rades; die Abhänge
sind bewaldet, die Gipfel aber ganz kahl. Die Indianer
sammeln in den Wäldern Sassaparille, Styrax, Eaeao,
Vanille, Copahn, Harz, Gummi, Honig uud Wachs,
Färbepflanzen und Arzneikräuter. An einer dieser Neben-
ketten, welche Ch auayamana heißt, wohnen die Sensis,
auch ein Trümmerstück des alten Panovolkes; sie gelten
für die umgänglichsten und ehrlichsten Indianer, sind aber
schon bis auf etwa 100 Köpfe zusammen geschmolzen.
Mareoy sehnte sich nach Sarayaen, wo er einige Zeit
*) Der Tarvita ist ein Nebenfluß des Ueayale. Jene
Stämme sind die Curicuris, welche an den Grenzen der
peruanischen Provinz Carabaya beginnen, dre Smmns m den
Thälern von Marcapata, Aypata und Asa^oma; dre ^uyuneris
und Huatclnpayris in den Thälern des Acadre de Dios, die
Pucapaeuris am Mapacho und die Jmpetrnlris. Sie alle
sind mit einander befreuudet, gehen unbekleidet, reden dieselbe
Sprache und baben gleiche Sitten^ und Gebräuche. Die mit
gesperrten Buchstaben' gesetzten Stamme fehlen in der sehr
fleißigen Aufzählung der südamerikanischen Indianer, welche
Clements 9i. Markham gegeben hat. Tribes in tlie Valley
of tlie Amazon, including tliose on the banlts of the main stream
and of all its tributaries; tll den Transactions of the ethno-
logical Society of London III. S. 140—196. A.
Ethnographische Schilderungen aus
ausruhen wollte. Die Mission war jetzt nur noch drei
Tagereisen, etwa 20 Leguas, entfernt. Am Abend fanden
sich auf dem Lagerplatze zwei Indianer etit, Angehörige
der Mission und „gute Christen"; sie suchten in den Wäl-
dem Honig und Wachs. Der Mann war einäugig, hieß
Timotheus und hatte früher einmal eine Reife nach Lima
gemacht; die Frau Maria war von christlichen Eltern
geboren. Timotheus zechte ohne alles Bedenken tapfer
mit den heidnischen Indianern und schnupfte Taback auf
europäische Art. Die Frau dagegen schimpfte auf die
„Heidenhunde". Also auch tu den Urwäldern Amerikas
dieser ekelhafte Dünkel, diese widerwärtige Intoleranz!
Jenes Jndianerweib war vom Stamme der Combaza und
unterschied sich iu Nichts von den ungetansten Jndia-
nerinnen, außer durch albernen Hochmnth auf ihr Christen-
thum. Doch nein, sie hatte noch ein Abzeichen; sie trug
nämlich das Haar nicht lang herabhängend, sondern itt
einen Knoten gewickelt und hatte einen Hornkamin. Im
Uebrigen war der Körper unbekleidet, bis auf die Pampa-
nilla, d. h. einen Schurz von einer Elle Breite.
Der Kahn gelangte an die Mündung des Pisqni,
welcher aus einem abgezweigten Gebirgsarme der Cor-
dilleren herabkommt und hier etwa 109 Schritte breit ist.
An seinen Ufern liegen etwa ein Dutzend Hütten der
Sipibos; diese Indianer stehen in Handelsverkehr mit
Sarayaen, wohin sie Wachs, Honig, Schildkröten, Laman-
tinthran ?c. bringen. Einige haben in der Mission
gelernt, wie man Rum aus Zucker bereitet, und trinken
nun stark.
Am Cosiabatay beginnt das Gebiet der mit den
Sipibos stammverwandten und befreundeten Schetibos.
In demselben liegen die drei Missionen Sarayaen,
Beleu und Tierra blanca gleichsam auf neutralem
Boden, der unter dem Einflüsse der Geistlichen steht. Dort
findet man zerstreut und durch meilenweite Räume von
einander getrennt einige Hütten der Schetibos, Combos,
Chontaqni'os und Coeamas, im Ganzen allerhöchstens
anderthalb Dutzend. Auch hier ist das Land so spärlich
und dünn bewohnt, daß die wenigen Menschen sich in dem-
selben völlig verlieren. Das Volk der Sipibos zählt nur
800 bis 900 Köpfe; jenes der Schetibos ist noch schwächer;
rechnet man die Combos hinzu, dann ergeben sich für alle
drei kaum 3000 Seelen!
Nach der Einmündung des Cosiabatay wird der Ueayale
außerordentlich breit; hinter dein User, das mit prächtigen
Wasserpflanzen bestanden ist, erheben sich die Waldbäume,
unter denen viele Palmen schlank in die Lnst emporragen.
Mareoy war nun 43 Tage lang auf der Reise, und Sara-
yacu erschien ihm wie ein wahrer Rettungshafen.
Die Mission liegt unweit dem kleinen gleichnamigen
Fluß, der aus den: Innern kommt und nur etwa 12 Schritte
breit ist, gelbes, schlammiges Wasser führt und dicht
bewachsene Ufer hat. Em Paradies für den Caiman!
Die Pauos nannten ihn Sarah ghene, d. h. Fluß der
Bieue; die peruanischen Mestizen verwandelten den Namen
in den Qnechua - Ausdruck Sara yacu, d. h. Maisfluß. Die
Missionsgebäude stehen zwei Wegstunden weit im Innern.
Die Reisenden konnten, weil der Abend hereingebrochen
war, nicht mehr dorthin gelangen und schlugen deshalb ihr
Nachtlager* am Rande des Waldes auf. Am andern
Morgen aber, gleich nach Sonnenaufgang, fetzte sich
Marcoy, begleitet vom Hauptmann und vom Fähnrich der
peruanischen Eseorte, in Bewegung und eilte der übrigen
Reisegesellschaft voraus. Am Abend hatte er Glockengeläut
aus uv Ferne gehört, das erste seit manchen Wochen, und
tief war der Eindruck, welchen dieses Zeichen europäischer
dem Gebiete des Amazonenstroms. 131
Civilisation dort im tiefen Urwalde Südamerikas auf ihn
machte. Bald nachher vernahm mein lautes Reden und
Schreien, und nach wenigen Minuten kam ein großer
Nachen iu Sicht, in welchem Indianer mit Fackeln faßen.
Die Ruderer trugen Weiße Beinkleider uud stiegen ans
Land, mit ihnen ein Mann von ziemlich weißer Hautfarbe.
Die braunen Leute waren Christen von der Mission, welche
der Pater Plaza den Reisenden entgegengeschickt hatte.
Sie brachten Fleischbrühe, Branntwein und frische Eier.
Aber wer war der weiße Mann? Ein Naukee, der in Lima
sich ans verunglückte Handelsspekulationen eingelassen
hatte und bis nach Sarayacu verschlagen worden war.
Dort hatten die Patres den Calvinisten freundlich aufge-
nommen, und er war nun ihr Gast und Tischgenosse; dafür
stellte er ihnen seine Fertigkeit in allerlei Handwerkerarbeiten
zur Verfügung.
Der Morgen war thanig uud frisch. Durch den Wald
führte eiu enger Fußpfad, und zu beiden Seiten desselben
wucherten herrliche Orchideen in üppigster Fülle. Plötzlich
kam Marcoy an eine Lichtung, iu welcher eine Anzahl
mächtiger Bäume Schatten aus den grünen Rasen warfen.
Auf einem weiten Raum uud theilweis im Walde standen
vielleicht 10 bis 14 Hütten, die mit Palmblättern gedeckt
waren. Auf einer derselben ragte ein Kreuz hervor;
unter einem von vier Pfählen getragenen Dachstuhle hing
die Glocke.
Hier war die Mission Belen (Bethlehem), welche
eine Art von Vorposten oder Außenwerk für die Haupt-
nüssion Sarayacu bildet. Keiue eiuzige Hütte wurde
geöffnet, kein menschliches Wesen, an das man eine Frage
hätte richten können, ließ sich sehen, doch bildete der Fuß-
pfad im Walde einen Ariadnefaden, der aus dem Laby-
rinthe führte. Bald wurde der Weg breiter, die Bäume
traten zurück, uud man wanderte nun wieder im Lichte der
heißen Sonne. Dann kamen auch Neubekehrte zum Vor-
schein und grüßten mit lautem Zurufe; voran schritt der
Aankee. Diese Leute schickte der Pater nach der Stelle,
wo Nachtlager gehalten worden war; sie sollten das Ge-
pack holen. Inzwischen war eine Anzahl anderer Indianer
fast gleichzeitig ans dem Dorfe gekommen, um die ankom-
menden Fremden zu ergötzen. Diese Leute waren Musi-
kanten und Sänger und fuhren in einem Kahne. Sie
bliesen auf einer Art von Flöte und einem Flageolet, aber
Trommeln spielten die Hauptrollen.
Marcoy ging weiterund gelaugte vor die Mission. Bei
Errichtung der Gebäude ward aus Ebeumaß oder Schön-
heit keine Rücksicht genommen; das erklärt sich auch leicht,
wenn man bedenkt, in welchen Umgebungen Sarayacu
liegt, und wie geringe Mittel den Missionen zur Verfügung
standen. Die würdigen Männer haben gewiß das Mög-
liche geleistet. Auf dem großen Platze stehen zwei vier-
eckige Lehmgebäude, theils mit Kalk geweißt, theils mit
Okergelb angestrichen; sie haben einige vergitterte Fenster-
öffnungen. Mitten auf dem Platze erhebt sich ein roth-
bemaltes Kreuz.
Bislang hatte der Reisende noch keine lebendigen
Wesen auf dem Missionsplatze erblickt, außer großen
Huananasenten, welche majestätisch eiue hinter der andern
einherwackelteu. Dann aber kam eiu Schwärm von
Frauen und Kindern aus den verschiedenen Hütten, schrien
laut auf und liefen neben und hinter den Fremden her.
Die einen riefen Willkommen in der Sprache des Cer-
vautes, die audereu in jener Manco Capacs. Unter solcher
Begleitung langten die beiden Peruauer uud Marcoy vor
einem Hanse an, das nicht weniger als fünf Fenster hatte.
Ans der Schwelle stand ein wohlbeleibter, ehrwürdiger
17*
134
Ethnographische Schilderungen aus dem Gebiete des Amazonenstroms.
Greis, mit blühendem Antlitz und weißem Haar, das einen betasteten auch die Kleider der weißen Männer; Pater Plaza
Silberkranz um seine Mönchsglatze bildete. aber verwies sie sofort mit einem: Hinaus mit Euch! in
Er öffnete die Arme und sprach: „Ihr lieben, armen die gebührenden Schranken.
Kinder, ich habe schon gehört, daß ihr Vieles habt ausstehen Das Empfangszimmer war ein großer Saal mit vier
Ufergewächse am Ucayale. (Nach einer Zeichnung von Marcoh.)
müssen. Nun, seid getrost, bei mir solls euch schon besser
gehen."
Dieser Greis war der Pater Manuel Jose de Plaza,
apostolischer Profekt der Missionen am Ucayale und Prior
des Klosters Sarayacu.
Weiber und Kinder drängten sich nun näher an die
Fremden heran und sperrten Mund und Nasen aus; ja sie
Oeffnnngen in der Mauer, also luftig genüge Jetzt
fanden sich die dienstbaren Geister der Mission ein, um die
Gäste willkommen zu heißen. Da trat der Hausmeister,
der Mayordomo, vor; dann kam die Köchin und ihr
Mann, welchem das Holzhacken oblag, die Wäscherin, der
Zimmermann nebst seiner Frau, welche sich als Näherin
nützlich macht, — lauter brave Leute, welche wohl denken
Die Wichtigkeit des Rasse
mochten, die Fremden seien vom Mond herabgefallen. Ab-
gerissen genug sahen diese weißen Menschen nach einer so
langen Reise allerdings aus.
Aber der gute Pater Plaza ließ es au Nichts fehlen.
Nach einer halben Stunde, die rasch verplaudert war,
wurden die Gäste iu sehr reinliche Zelleu geführt. In der,
welche man nnserm Reisenden anwies, stand ein langer,
allerdings höchst einfacher Tisch, welchen der Meister
Zimmermann aus Mahagouyholz verfertigt hatte. An der
einen Wand lief eine bankartige Erhöhung hin, anf welcher
man gemächlich sich ausstrecken und schlafen konnte. Der
Mayordomo, ein dienstbeflissener, freundlicher und noch
nicht sehr bejahrter Mann, brachte ein allerdings etwas
schartiges Barbiermesser, eine Scheere, schwarze Seife,
einen Krug mit Wasser und ein irdenes Becken. Marcoy
sagt von sich, er habe so verwildert ausgesehen, wie ein
Räuber oder Zigeuner; jetzt konnte er seine Kleider wech-
seln und wieder „menschlich" aussehen.
Nach Verlauf einiger Stunden kam auch die übrige
Reisegesellschaft, nämlich der schon in unseren früheren
Berichten erwähnte französische Gras mit seinen Gefolgen
in Sarayaeu an. Pater Plaza hatte nichts verabsäumt,
um eitlen nach Umständen und Verhältnissen würdigen
Empfang zu veranstalten. Er schritt neben dem Grafen
her und hielt über dessen Haupt einen großen Regenschirm
dementes in der Geschichte. 135
von rothem Baumwollenzeug, eine Art von schattenspen-
dendem Baldachin. Auch wurde eiu Böller abgefeuert.
Zur Mittagszeit ließ der Pater die Glocke läuten; das
Essen war aufgetragen; es bestand aus gekochten Schild-
kröten, gedämpftem Reis, gebratenen Hühnern und in Asche
gerösteten Maudiocawurzelu. Das Geschirr bestand aus
Näpfen und Schüsseln von Thon, Zinn und Holzlöffeln
und sehr wenigen Gabeln. Von Tischtüchern war natür-
lich keine Rede, und man sah, daß es hier mit dem Mönchs-
gelübde der Armuth ernsthaft gemeint war. Der Durst
wurde mit Wasser aus dem Flusse gestillt. Nachdem der
Pater eiu kurzes Gebet gesprochen hatte, langten Alle zu;
er selber füllte seine Schüssel, rührte die verschiedenen
Speisen durcheinander und führte die Gerichte bald mit
einem Löffel, zumeist aber mit seinen fünf Fingern zum
Munde. Zum Schlüsse des Mahles brachte der Mayor-
domo Syrup, und bevor die Gäste sich erhoben, traten
Sänger und Tänzer ein, um deu Fremden Proben von ihrer
Knust zu geben.
So war denn Marcoy in Sarayaeu wohl untergebracht.
Die Mission ist eine merkwürdige Art von Oase in der
größten südamerikanischen Waldöde, ein Kern für den An-
fatz einer Art von Halbeivilifatiou. Wir werden das
merkwürdige und eigenartige Leben und Treiben in der-
selben später schildern.
Die Wichtigkeit des Rassen
Gegen Heinrich Thomas Buck
Vor einigen Monaten äußerte ich, in der Vorrede zum
achten Bande des Globus, es sei die Zeit gekommen, da
man in der geschichtlichen Forschung und Darstellung das
Rassenelement viel mehr würdigen und berücksichtigen
müsse, als bisher geschehen sei; die Völkerpsychologie
sei bis jetzt bei weitem nicht nach Gebühr ins Auge gefaßt
worden. ' Ich hob hervor, daß Buckle in seiner Geschichte
der Eivilisation die fundamentalen Anlagen und Unter-
schiede außer Acht lasse; er meine, daß die Völker sich nur
deshalb in verschiedener Weise entwickeln, weil sie unter
verschiedenen Umständen und Verhältnissen leben. Buckle
habe eine mechanische und lediglich pragmatistische Auf-
fassung. Zugleich wurde Drap ers Geschichte der geistigen
Entwicklung in Europa erwähnt; ich betonte, daß dieser
Amerikaner Fatalist sei und auch nicht verstehe ethnologisch
zu individnalisiren.
Auf Drapers Buch, von welchem jüngst auch eine
deutsche Übersetzung (Leipzig bei Otto Wigand) erschienen
ist, will ich demnächst specieller eingehen; auch von Buckle's
Werk ist die Übersetzung des Herrn Arnold Rüge in einer
zweiten Auflage erschienen.
Nun trifft es sich, daß die londoner Anthropolo-
gical Review (Nr. 11, Oktober 1865) jene beiden Ar-
beiten ausführlich erörtert und genau mit dem Urtheil über-
einstimmt, welches im Globus ausgesprochen worden ist.
Da es sich um einen Gegenstand handelt, der von hervor-
ragender Bedeutung ist, so will ich hier das Wesentliche
aus jenem Essay mittheilen, dessen Verfasser wahrscheinlich
tementcs in der Geschichte.
e's Geschichte der Eivilisation.
kein geringerer Mann ist als James Hunt, der ansge-
zeichnete Präsident der Anthropologischen Gesellschaft iu
London. Buckle's Werk ist eine iu mancher Hinsicht sehr
tüchtige Arbeit, aber doch viel zu sehr überschätzt worden.; sie
hat manche fundamentale Mängel, der schwerste Fehler aber
bleibt, daß Buckle ohne all und jedes Verstand-
uiß für die Bedeutung des Rassenelementes in
der Geschichte ist.
Wir können seine ganze Art der Auffassung als eine
einseitig-kaukasische bezeichnen. Von den geistigen
Evolutionen und Eigenartigkeiten der anderen großen
Urstämme hat er uicht einmal eine Ahnung; für die in hohem
Grade merkwürdige (sagen wir mongolische oder, wenn
man will, tnranische) Eivilisation Ehina's und Japans,
oder für die nicht minder selbstständigen und eigenartigen
Kulturen von Mexico und Peru fehlt ihm das Verständniß;
er weiß darüber weiter uichts beizubringen, als daß sie sich
von der wirksamer und umfassender entwickelten Eivilisation
Griechenlands, Roms und des neuern Europa nur in Be-
zug auf Grad und Stufe unterscheiden. Er ahnt nicht
einmal, daß sie von derselben fundamental und in Be-
zug auf die Art verschieden sind, auf gauz anderer ethnischer
Grundlage ruhen, aus ganz anderen Elementen hervor-
wuchsen und im Fortgang ihres inueru Wachsthums nicht
nur nicht das Streben zeigen, sich den kaukasischen Kultur-
formen zu nähern, sondern immer mehr von diesen abzu-
weichen und sich zu entfernen. Er weiß eigentlich nur,
was in seinen Büchern stand; er ist, wie gesagt, viel mehr
dogmatisch als wissenschaftlich; er hält an Überlieferung
136 Die Wichtigkeit des Rasser
und Autorität fest, und um die Fortschritte der Anthropo-
logie und Ethnologie hat er sich gar nicht bekümmert. —
Die Anthropologie aber faßt nicht bloß den leiblichen
Menschen ins Auge, sondern auch seine geistigen Eigen-
schaften; die kennzeichnenden Merkmale seiner intellectuellen
Beschaffenheit; nicht bloß Schädel, Hautfarbe und Gesichts-
züge, sondern auch Ideen, moralische Anlagen, Gewohn-
heiten, Sitten und Gebräuche, seine Religion, Philosophie,
Literatur und Knnst. Sie betrachtet ihn in seiner Gegen-
wart wie in seiner Vergangenheit, und die Wissenschaft
vom Menschen hat in unseren Tagen einen in großartiger
Weise erweiterten Horizont gewonnen, und mit der bisher
üblichen Weise die Geschichte zu behandeln reicht man nicht
mehr aus.
Buckle seinerseits repräsentirt in der Geschichtschreibnng
ohne Zweisel einen Fortschritt; die Art und Weise seiner
Behandlung ist, in ihrer Art, vortrefflich; er war von
dem Bewußtsein durchdrungen, daß in der Geschichtschrei-
bung eine neue Bahn eingeschlagen werden müsse. Sein
weitschichtig angelegtes Werk ist ein Bruchstück geblieben,
und trotz allen Fleißes würde er es nicht haben vollenden
können, wenn er auch Methusalems Alter erreicht hätte.
Er verfügte über ein ausgedehntes Wissen, wenn auch nicht
über tiefe Gelehrsamkeit, und seiu Blick war begrenzt.
Von einer Wissenschaft der Anthropologie wußte er, wie
fchon bemerkt, gar nichts, und es war ein großer Uebel-
stand, daß er dem Volkswirthe John Stuart Mill den
völlig unwahren Satz nachschrieb: „Es ist irrig, daß man
die Verschiedenheit im Betragen und Charakter der Völker
inwohnenden natürlichen Unterschieden zuschreibt."*)
*) Buckle erörtert im zweiten Kapitel den „Einfluß
Naturgesetze auf die Einrichtung der Gesellschaft und den Cha-
rakter der Individuen", und gleich der Anfang zeigt, wie dürft
tig seine Auffassung ist. Ich will die Stelle aus der Heber-
setzung Ruge's (erste Aufl., 1860, S. 35 f.) hersetzen: —
„Wenn wir nach den mächtigsten Einflüsseu der Natur auf
das Menschengeschlecht fragen, werden wir vier Arten finden:
Klima, Nahrung, Boden und — die Naturerscheinung
im Ganzen(!!). Unter letzterer verstehe ich die Erscheinungen,
welche vornehmlich durch das Auge, aber auch durch andere
Sinne die Ideenverbindung geleitet und s o in verschiedenen
Ländern verschiedene Gedankenkreise erzengt haben. Einer dieser
vier Arten lassen sich alle äußeren Erscheinungen, durch welche
der Mensch danernd beeinflußt wurde, beizählen. Die letzteArl,
die Naturerscheinung im Ganzen, wirkt vorzüglich auf die Phan-
taste nnd gibt die unzähligen formen des Aberglaubens an die
Hand, _ welche das große Hinderniß für deu Fortschritt der Er-
kenntniß bilden. Nnd da in der Kindheit eines Volkes die
Macht dieser abergläubischen Vorstellung souveraiu ist, so hat
die verschiedene Naturbeschaffenheit auch verf c£) ie =
d en e Nationalcharaktere erzengt (!!!) nnd der National-
religion eine Färbung gegeben, welche unter gewissen Verhält-
nissen uuerlöscblich (sie!) ist. Die anderen drei Einflüsse: Klima,
Nahrung und Boden, haben, so viel wir sehen, keine so u"-
mittelbare Wirkung dieser Art gehabt; aber sie haben, wie ich
sogleich zeigeu werde, deu bedeutendsten Eindruck auf die Ein-
richtung der Gesellschaft gemacht, und ans ihnen sind manche
der umfassenden und hervorstechenden Unterschiede der Völker
entsprungen, die man oft dem Rassennnterschiede, wornach (sie!)
man die Menschheit eintheilt, zugeschrieben hat. Während aber
diese ursprünglichen Rassennnterschiede nichts als
Hypothesen siud, lassen sich die Verschiedenheiten als Wir-
kungen des verschiedenen Klimas, der Nahrung und des Bodens
befriedigend erklären, und mittelst dieser Einsicht werden sich
manche Schwierigkeiten, welche das Studium der Geschichte bis-
her verdunkelt, aufklären."
Sehr flach uud sehr dreist! Buckle setzt dann noch folgende
Anmerkung unter deu Tert: — „Ich unterschreibe mit Vergnu-
gen die Bemerkung eines der größten Denker unserer Zeit, ver
über die Annahme der Rassennnterschiede sagt: —; ^on
allen Annahmen gemeiner Ausflüchte, womit man sich der
Betrachtung entzieht, welche Wirkung sociale und sittliche Ein-
flüsse auf deu Geist des Menschen haben, ist die gemeinste
ementes in der Geschichte.
Hier führt ein Blinder den andern auf den Holzweg
und in ein Labyrinth von handgreiflichen Jrrthümern.
Buckle folgt einem schlechten Führer; gleich diesem ver-
wechselt er äußere Einflüsse mit inhärenter Anlage
und Begabung, und die Macht der Umstände, welche von
Außen her einwirken, mit der Annahmefähigkeit und mit
der Begabung der Rasse, auf welche jene Einflüsse wirken.
So kommt er zu der, allen Thatsachen und Erfahrungen,
aller Geschichte hohnsprechenden Annahme einer organischen
und intellectuellen Gleichheit, wo nicht gar Einerleiheit, der
verschiedenen großen Menschenrassen, und dieser ver-
hänguißvolle Irrthum bildet eine Hauptgrund-
läge seiner Arbeit!
die, daß man die Verschiedenheiten im Betragen nnd Charakter
natürlichen Unterschieden zuschreibt." Mills Principles
of politieal eeonorny. I, 390.
Auch sehr platt uud dreist. Man kann ein „großer Denker"
sein nnd doch anmaßend über Dinge absprechen, von denen man
noch nicht das Abc versteht; das ist, außer Buckle, auch dem
Logiker Mill begegnet.
Ich lese soeben (25% Okt.), daß auch in Nordamerika die
Plattheiten Stuart Mills die ihnen gebührende Würdigung
finden. Die destruktiven Pfaffen uud Fanatiker der Abolitions-
Partei hatten sich an ihn gewandt, um fein Gutachten über das
Stimmrecht der Neger einzuholen. Der radikale „Logiker", der
sich um reale und anthropologische Verhältnisse nicht bekümmert,
sondern seine fertigen Formeln hat, sprach sich natürlich für
allgemeines Stimmrecht in Amerika aus.
Das deutsche „Neuyorker Journal" (vom 7. Oft), ein
streng demokratisches Blatt, äußert sich nun in folgender Weise:
„Herr Mill ignorirt vollständig die Thatsache, daß in
Amerika die Bev ö lkerung s b est an d th ei le von anderer Art
sind, als in England. Während dort gleichartige Volksstämme
einer und derselben Rasse angehören, den Staat bilden und
nur künstliche Rang- und Vermögensverhältnisse in der Gesell-
schast eristiren, sind hier die verschiedensten Rassen zu-
sammengeworsen, denen die Natur selbst, trotz aller Versuche
zur Nachbesserung, ihre unterscheid en den Merkmale auf-
geprägt hat. Außer deu kaukasischen Stämmen haben wir In-
dianer, Neger und Chinesen, die durch keinen möglichen Refor-
mationsprozeß in Angelsachsen, Deutsche, Kelten x. sich ver-
wandeln lassen. — Herr Mill sagt nickt, wo er bei seinem
„allgemeinen Stimmrecht" die Grenze zieht, und ob
er überhaupt eine Grenze kennt. Das ist ja eben das Schöne
an solchen viel oder nichts sagenden Phrasen, daß ihre Unbe-
stimmtheit und verschwommene Allgemeinheit das Aufdecken ihrer
absurden Anwendung erschwert. Aber man hat nie gehört, daß
er als Reformator in Engtand das Stimmrecht der Frauen, der
Minderjährigen, der nicht naturalisirten Einwanderer zc. besür-
wortet hätte.' Da er kein Idiot ist. so läßt sich annehmen, daß
er nicht entfernt daran denkt, die conseguente Durchführung
seines Prinzips ans alle diese Kategorien ausdehnen zn wollen.
Er wird also zugeben müssen, daß eine Grenze nothwendig
ist und daß kein Unrecht oder Mangel an Liberalismus darin
liegt, wenn das „allgemeine Stimmrecht irgendwo aufhört, all-
gemein zn sein".
Nun weiß man aber hier, daß durchschnittlich unter 1000
Weißen Frauen im Süden mehr Intelligenz zu finden ist, als
unter 1000 Plantagennegern; dito werden unter 1000 weißen
Minorennen von 15 bis 21 Iahren, dito unter den 1000 weißen
Eingewanderten, die noch keine volle fünf Jahre im Lande sind,
mehr zum Bürgerthum befähigt sein, als unter 1000 Negern,
Chinesen und Indianern. — Mill will in seinem ebenen Lande
höchstens alle mündigen weißen Männer stimmberechtigt machen,
verlangt aber von uns in Amerika, daß wir noch darüber hin-
ausgehen und weniger befähigte, von Natur verschiedene Wesen
zur Theilnahme an der Regierung Zulassen sollen. Dieser ab-
straften und absurden Forderung zn Liebe sollen wir unser ganzes
bewährtes Regierungssystem ausgeben.
Das „Neuyorker Journal" fch^eßt^ seinen ausführlichen
Artikel in folgender Weise: — ,,^e literarische Verstärkung,
nach welcher nnsre negerradikalen Heuchler sich jenfeit des Oceans
umsahen und mit welcher sie hier Propaganda zu machen ver-
meinen, löst sich vor der Kritik in ein mit höchst trivialen
Scheinargumenten verziertes Erzeugniß britischer Arroganz nnd
Selbstsucht auf."
Die Wichtigkeit des Nassen
Buckle scheert die „Menschheit" über einen Kamm;
die folgenden Mittheilungen werden zeigen, welche wichtigen
Momente ihm entgangen sind.
Aenßere Umstände und Verhältnisse, also Boden,
Klima, Nahrung und Naturerscheinungen sind allerdings
Bedingungen der Existenz, aber der Rassentypus ist das
Element, auf welches sie einzuwirken haben, und wer den-
selben uicht eben so wohl versteht, begreift und in Anschlag
bringt, wie jene vier Elemente, wird sehr ungenügend und
oberflächlich urtheilen. Aber in dieser Beziehung war
Buckle so „kindisch unwissend", daß er Alles auf Rechnung
äußerer Umstände und nichts auf jene des Typus schreibt.
So konnte es denn auch nicht fehlen, daß er sich selber ost-
mals widerspricht und sein eigenes Raisonnement über den
Haufen wirft. Die Verschiedenheiten des religiösen Glau-
beus leitet er vou deu verschiedenen Naturerscheinungen
her, als welche in tropischen Gegenden, wo die Natur über-
Wältigend mächtig einwirke, das Gefühl der Furcht erzeugen,
in den gemäßigten Himmelsstrichen dagegen Liebe und
Bewunderung hervorrufen, denn in der letztern seien sie in
ihrem Wefen gemäßigter! — Auch dieses, — wie flach und
platt und unwahr!
Er vergleicht die Mythologie von Indien und Griechen-
land als Gegensätze! Aber er hat auch uicht eutserut eine
Ahnung von den Forschungen, welche auf dem Gebiete der
arischen Völker angestellt worden sind; er weiß gar nicht,
daß die Mythologien der Inder und Griechen so viel Jden-
tisches ausweisen und beide aus eineni vergleichweise nörd-
lichen und gemäßigten Klima herrühren! Er weiß ferner
nicht das Allergeringste von dem Gegensatze des Pantheis-
mus der arischen und des Monotheismus der semitischen
Völkerstämme; nichts von dem Gegensatze dieser beiden
Glaubeusforinen zu jenen des asiatisch-mongolischen Scha-
manismus und des Fetischismus der Neger. „Er schwatzt
wie ein unwissender Schulknabe."
Seine Anschauung von der Civilisation int Allge-
meinen ist in hohem Grade dürftig. Er keunt eben nur
äußere Umstände und Einwirkungen und verfällt in
„offenbare Albernheiten". So schreibt er z. B.: „Die
Civilisation Aegyptens ist, gleich jener Indiens,
durch die Fruchtbarkeit des Bodeus verursacht
worden." Er behauptet weiter, dreistweg, als ob sich die
Sache von selbst verstände: „Die Civilisation hatte
ihren Ursprung und ihre Anfänge ohne allen
Zweifel innerhalb der Tropen oder in deren
Nähe."
Nun aber weiß man doch mit absoluter Gewißheit, daß
die arische Kultur Indiens aus dem Nordwesten her ins
Land kam. Die Civilisation Aegyptens ist eine importirte.
Von den archäologischen Forschungen über die kyklopischen
Mauern in Griechenland und deren sehr hohes Alter weiß
Buckle auch uichts. Die ägyptische Civilisation erklärt er
für eine „afrikanische"! Wahrscheinlich weil das Land
geographisch zu Afrika gehört. Sie rage über andere
afrikanische empor, weil das Land so fruchtbar fei! Als ob
viele andere Gegenden, z. B. die Region des Niger, nicht
eben so fruchtbar wären! Und doch sind diese letzteren
allzeit barbarisch geweseu und geblieben. Nach Buckle's
widersinniger Behauptuug hätten sie doch gleichfalls eine hohe
Civilisation hervorbringen müssen. Eben so hätten in den
fruchtbarsten Gegenden der Welt, ani Amazonenstrom und
am Oriuoco, Civilifationen höchster Art entstehen müssen,
und wir finden dort lediglich Jndianerstämme aus einer
äußerst niedrigen Stnse. Wenn nicht ein höher be-
gabtes Volk als die Neger sind, das fruchtbare Nilland
zu benutzen verstanden hätte, dann wäre dasselbe ohne
Globus IX. Nr. s.
sementes in der Geschichte. 137
Zweifel noch in eben so barbarischen Verhältnissen wie
das Nigerdelta. Nicht dnrch seinen Boden ist Aegypten
geworden, was es einst gewesen, sondern durch seine
Menschen. Und wenn der fruchtbare Boden es allein
thäte, weshalb hat denn heute Aegypten keine so hohe
Kultur mehr, wie in den Zeiten der Pharaonen und Ptole-
mäer? Wenn Neger und Negroiden auch viele tausend
Jahre am Nil gewohnt hätten, sie würden doch nicht die
Tempel von Karnak, Dendera und Edfu gebaut haben;
und eben fo wenig Städte wie Theben und Memphis.
„Es ist Zeit, daß die überkommenen Jrrthümer, in welchen
eine gelehrte oder halbgelehrte Barbarei sich gefällt, ein
Ende nehmen, und daß die Thatsachen zu ihrem Rechte
kommen."
Buckle steckt tief in Unknnde und in Vornrtheilen. Er
wollte ein hervorragender Historiker werden und verfiel
doch dem Mißgeschick, daß er einen der wichtigsten Zweige
der Wissenschaft, und gerade jenen, der ihm als nnent-
behrlich hätte erscheinen müssen, gar nicht kannte. Er hatte
eine höchst dürftige und einseitige Vorstellung vom Men-
schen. An einem gewissen Scharfsinn fehlte es ihm
nicht, und manchmal hat er geistreiche Inspirationen. Aber
es kommt ihm nie in den Sinn, sich die so nahe liegende
Frage auszuwerfen: weshalb hat die hohe ägyptische Civi-
lisation gar keinen Einfluß auf die Neger gehabt, während
doch die indische Kultur, vermittelst des Buddhismus, von
so ungeheurer Bedeutung für die mongolischen Völker
geworden ist? Er begnügt sich mit der Thatsache, daß
Nigritien seinen Fetischismus bis auf unsere Tage herab
behalten hat, während doch fast die ganze mongolische Welt
ihren ursprünglichen Schamanismus gegen einen, von
Menschen arischen Stammes ihr zugebrachten Glauben ver-
tauschte. Es dämmert nicht einmal das Bewußtsein in
ihm aus, daß der Mougole von Natur ein höheres Fassnngs-
vermögen und eine größere Aneignungsfähigkeit besitzt, als
der Neger. „Die Vornrtheile, an welchen er thörigerweise
fest hält, machen ihn unzugänglich gerade für den Kreis
von Wissen, welches ihm deu Schlüssel zu jenen, und noch
zu vielen anderen geschichtlichen Erörterungen hätte geben
können."
Wer eine Geschichte der Civilisation schreiben will, hat
vor allen Dingen auch zu entwickeln und nachzuweisen, wie
es kommt, daß schon in den ältesten Zeiten die Völker und
Reiche der sogenannten kaukasischen Rasse, in Bezug auf
Religion, Philosophie, Literatur, Kunst und gesellschaftliche
Verhältnisse, also auch im Staatswesen, einen wesentlichen
Gegensatz zu jenen der sogenannten mongolischen Rasse
bilden; sodann, daß die ersteren auf einer höhern Entwick-
lungsstnfe stehen und gestanden haben, und daß sie offenbar
andern Schlages, anderer Abstammung sind, daß überhaupt
beide verschiedene große, selbstständige und eigenartige
Gruppen bilden.
Wie kommt es, daß man in China und Japan den
Buddhismus, der aus Indien gebracht wurde, annahm,
und daß diese beiden Länder ihrerseits niemals einen rück-
wirkenden Einfluß auf Indien ausgeübt haben? Weshalb
haben sie während der langen Dauer ihrer, man kann
sagen stagnirenden, Civilisation keine poetische Mythologie
geschaffen wie die Arier, oder einen erhabenen Monotheis-
mus wie die Semiten? Weshalb haben sie nicht so seine
und tiefe Gedaukeu, eine so reiche Fülle und Mannigfaltig-
keit von Vorstellungen, wie die alten Hindu schou vor Jahr-
taufenden? Weshalb mangelt ihrer Literatur die Aumnth
und die Zierlichkeit, der Glanz und die Kraft, durch welche
sich jene der arischen Völker von: Ganges bis Skandinavien
kennzeichnen ? Warum haben die Chinesen wohl Pagoden aber
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Die Wichtigkeit des Rassenelementes in der Geschichte^
kein Parthenon, keinen Peters- oder Kölner Dom? Wie
kommt es, daß dem fernen Osten alles Ritterthum, das
Chevalereske und die Galanterie gegen die Frauen (das
Wort im besten Sinne genommen) unbekannt geblie-
ben sind?
Der Anthropolog antwortet: Weil die Natur es dem
mongolischen Typus versagt hat, solcherlei aus sich heraus
zu erzeugen; er kann sie nur, und dann allemal wesentlich
durch die ihm innewohnende Eigenart modisicirt, von Außen
her annehmen, indem er fremde Einflüsse empfängt. Er
hat eine ihm iuue- und anhaftende Besonderheit der Raffe
und steht, in dieser Beziehung und nach unserm Maßstabe,
nicht so hoch wie die Kankasier. Als aber in deu großen
geschichtlichen Bewegungen und Wellenschlägen die Zeit
gekommen war, in welcher die nervösen und intelleetnellen
Völker ihre Suprematie nicht mehr behaupten konnten und
physisch an einer Art von Erschöpfung litten, als der große
Mongolensturm vou deu Gestaden des Stillen Meeres bis
nach Schlesien über zwei Erdtheile hinfegte, brachten die
Eroberer doch keine neuen Ideen mit, keinen neuen Glauben,
keine Philosophie, keine Kunst, keine dauernden Staatsein-
richtnngen. Sie kamen und verschwanden als Halb-
barbaren; sie waren tapfere Krieger und gläubige Schüler,
uicht mehr. Was soll man nun zu einer Geschichte der
Eivilisation sagen, die so gewichtige Thatsachen ignorirt und
nichts mit denselben anzufangen weiß?
Noch mehr. Bnckle nimmt in seiner Geschichte, da,
wo er auf die europäische Eivilisation kommt, gar keine
Rücksicht auf die ethnischen Resultate, welche sich in Folge
der successiven Eroberungen und der Ansiedlnngen der ver-
schiedenen Völker in den Zeiten des klassischen Alterthums
und späterhin der germanischen Völker, sodann auch in
Folge der Blutvermischungen mit den Kelten herausstellten.
Buckle versäumt auch, den Ursprung und den Einfluß des
Christenthums und des Mohammedanismus kritisch zu
erforschen; er deukt uicht daran, den Nachweis zuführen,
daß jenes ein semitischer Glaube ist, welcher der europäischen
Menschheit vermittelst einer beträchtlichen Zuthat und Bei-
mischung arischer Elemente angepaßt wurde; eben dadurch
aber ist er ungeeignet geworden, auf die semitische Welt
einzuwirken, und diese hat sich ihrerseits dem Islam
zugewandt.
Wer heute uoch eine Geschichte der Religionen schreiben
will, ohne auf das Rassenelement Rücksicht zu nehmen,
wird nur eine sehr dürftige Arbeit liefern können. Die
Geschichte liefert Beweise dafür, daß die Religion eines
Volkes, wie seine Literatur und Kunst, der geistigen Anlage
und Befähigung desselben angepaßt sein muß; wenn sie
von innen heraus wächst und entwickelt wird, findet auch
diese nothwendige Uebereinstimmung statt, kraft des Ur-
sprunges selbst; und kommt sie von Außen, dann muß sie,
gemäß der Rafsenanlage und Kulturfähigkeit der Bekehrten,
gewisse Abänderungen erleiden; sie wird modisicirt.
Wer zum Beispiel die große Reformation des
16. Jahrhunderts, eine ganz ungeheuere, iu alle Lebens-
Verhältnisse tief einschneidende Bewegung schildern will und
dabei nicht das Rassenelement in sorgfältige Erwägung
zieht, versteht und begreift rein nichts vom Wesen derselben.
Ihr wesentlicher Charakter liegt darin, daß sie als eine
Auflehnung und Rückwirkung des germanischen Wesens
gegen das Romanenthum erscheint. Das Denken machte
sein Recht geltend gegenüber den Gefühlen, die Vernunft
wollte nicht länger dem Autoritätsglauben unterworfen fein.
In ihren extremen Ausläufern, z. B. bei den schottischen
Presbyterianern, nahm sie dem Kultus jede ästhetische Zu-
gäbe und duldete nicht einmal Orgeln in der Kirche; Gebet
und Gesänge waren nur untergeordnetes Beiwerk; die
Predigt wurde zur Hauptsache und sie wandte sich mehr an
den Verstand als an das Gefühl. Die Reformation erstand,
in ihrer neuen Art und Weise, gleichzeitig mit dem Hervor-
treten des neuen Geistes, mit der Naturwissenschaft, und
im Fortgauge der Zeit erhoben sich die germanischen Völker
in Gewerben, Handel und Staatswesen über alle anderen
Nationen.
Wer über diese Bewegungen und Regungen lange
Kapitel schreibt, ohne das Rassenelement in Erwägung
zu ziehen, treibt lediglich gelehrte Kindereien und schickt
Phrasen ins Blaue hinein.
Wenn etwa Jemand behaupten wollte, daß das Raffen-
element mit der Reformation gar nichts zu thun, und der
Protestantismus lediglich und allein „äußeren Einwirkungen
und Autrieben" fein Entstehen zu verdanken habe, nicht
aber inhastenden Neigungen, Bewegungen und Strebungen
der Völker, bei denen er sich bewurzelt hat, der sagt etwa
eben fo viel, als wenn er behaupten wollte, die Sonne habe
bis zur Mittagszeit ihren Lauf nicht in die Höhe genommen.
Buckle übersieht, daß der Protestantismus vorzugsweise
das Gebiet der germanischen Völker erobert und sich in
diesem bewurzelt hat, daß die romanischen Völker katholisch
geblieben sind, während die überwiegende Mehrzahl der
Slawen sich zur morgenländischen Kirche bekennt.
Buckle schildert deu Gegensatz der geistigen Entwicklung
Englands uud Frankreichs und betont, daß in dem letztern
die Hofgunst eine so wichtige Rolle spiele. Er denkt aber
nicht daran, wie viel Altgallisches, Keltisches noch heute in
den Franzosen steckt (tendency to claiiship and chieftain-
ship). Kraft dieses Zuges verschwindet die Individualität
des einzelnen Bürgers in der Gesammtgröße der Nation, der
Einzelne geht im Ganzen auf, und die Nation wird durch
ihren Herrscher repräsentirt. Als Ludwig XIV. das ver-
messene Wort aussprach: „Ich biu der Staat!" sagte
er als Franzose eine große Wahrheit. Im Munde eines
englischen Königs wäre dieser Ausspruch baarer Unsinn
gewesen. Die beiden Napoleone sind möglich als Ober-
Häupter des keltischen Galliens, im sächsischen England
wären sie geradezu undenkbar. Charakter uud Ausgang,
einerseits der französischen Fronde, andererseits der eng-
lischen Republik, erklären sich gleichfalls aus dem Rassen-
unterschiede. Wer solche historische Austritte lediglich aus
äußeren Naturerscheinungen und Umständen erklären will,
bleibt kläglich aus der Oberfläche der Dinge und kommt
nothwendig zu ganz irrigen Schlüssen.
Die vielen Jrrthümer und falschen Schlüsse Buckle's
liegen eben in seinem Prineip, in seiner Unkunde der anthro-
Pologischen Verhältnisse und ziehen sich durch sein ganzes
Werk. Er begriff nicht einmal den Grund und die Ur-
fachen, weshalb die große Revolution in Frankreich eine
ganz andere Explosion verursachte, als in Deutschland oder
England möglich gewesen wäre. In Bezug aus Spanien
kommt es ihm gar nicht in den Sinn, das in jenem Lande
dem Nationalcharakter zu Grunde liegende iberische Ele-
ment zu würdigen. Er begriff nicht, daß die Vermischung
desselben mit dem keltischen Blute eiu ganz anderes Re-
sultat ergeben mußte, als jene zwischen dem keltischen und
germanischen Blut in Gallien. Das Wilde, Finstere und
Bigote im spauischeu Charakter entgeht ihm allerdings nicht,
er weiß aber nicht, daß das maurische Element in dieser
Beziehung tief eingewirkt hat. Ein deutscher Geograph
hat das Land Spanien als ein „gemildertes Afrika" bezeich-
net; es ist aber auch in ethnischer Beziehung theilweis ein
Stück von jenem Erdtheile. —
Noch einmal: Buckle zeigt die Einseitigkeit seiues Auf-
f
Die Dampfschiffahrt
fassungsvermögens gleich von vorn herein darin, daß er
Stuart Mills abgeschmackte Aenßernng über das Rassen-
element ohne Weiteres annimmt und als ein richtiges
Prineip betrachtet. Aber auch seinen Lieblingsgegenstand,
,,die äußeren Naturerscheinungen" behandelt er dürftig.
Er unterschätzt z. B. die Wichtigkeit der geographischen
Lage in Bezug auf die großen Völkerbewegungen. Er
würdigt nicht einmal eingehend und unifassend die That-
sache, daß Europa den Westen der alten Welt einnimmt
und gegenwärtig auf der Höhe einer Entwicklung steht, die
sich im Verlause der Zeit aus Persien und vom Euphrat
bis zum Rhein und zur Themse fortbewegt hat.
Mit warmen Farben schildert Buckle die Bigoterie der
Spanier uud der Schotten, denkt aber dabei nicht an den
Einfluß, welchen die geographische Lage beider Völker aus-
üben mußte. Sie wohueu im äußersten Westen; die einen
wurden specielle Vertreter des geistlichen und kirchlichen
Despotismus uud der ästhetischen Superstition der roma-
nischen Nationen; die anderen wurden, in nicht minder
hohem Grad uud aus correlativen Umständen zu einer Ver-
körpernng der harten, herben und dürren Lehre und Logik
und warfen alle Kunst, alles Schöne aus ihren Kirchen
heraus. Buckle weiß auch nicht, daß der Keltiberer der
fibröseste, der Caledonier der knochigste Mensch seines
Typus ist. —
Der englische Benrtheiler äußert, indem er manche Män-
im Stillen Weltmeere. 139
gel und Fehler Buckle's entschuldigt: „Es ist überhaupt
noch nicht an der Zeit, Geschichte zu schreiben. Wir haben
nur erst eine entfernte Vorstellung von dem, was ein so
großartiges Unternehmen in sich schließeu muß, und uns
fehlen noch viele wichtige Data. Wir können noch nicht
mit Bestimmtheit sagen, wie hoch das Alter der Menschheit
hinausreicht, auch nicht genau die Anzahl der Menschenarten
bestimmen; wir wissen nicht, wo und durch welche Menschen-
Varietäten die Eivilisatiouen ihren Ansaug nahmen. Eben
so wenig können wir mit Bestimmtheit sagen, ob die gegen-
wärtige Civilisation Europa's eiu Eyclus ist oder eiu Epi-
cyelus, also ein Nebenkreis, dessen Mittelpunkt in der
Peripherie eines andern Kreises sich bewegt, uud ob die
uralte Civilisation Asiens eine dort entstandene urwüchsige
oder von Außen her hingebrachte, gleichsam eine koloniale
war. In Religion und Philosophie ist auch in Bezug aus
die Erforschung der arischen wie der semitischen Gedanken-
und Vorstellungswelt Vieles zu thuu übrig. Erst in
unseren Tagen ist ermittelt worden, daß die Wurzeln der
griechischen Mythologie in der Sanskritliteratur liegen."—
Die alte Methode einer pragmatischen Geschichtschrei-
bung reicht nicht mehr aus; die Wisseuschast uud die geistige
Entwicklung siud darüber schou jetzt weit hinweg; wir
verlangen heute eiue großartigere Auffassung, einen weitern
Blick; das hat schon vor längerer Zeit Schlegel betont.
A.
Dir Dampsschissschrt
Im Atlantischen Ocean und dessen Theilen ist seit
Jahren eine Verbindung zwischen den verschiedenen Ländern
und Häfen hergestellt; Dampferlinien reichen in Wechsel-
seitigem Anschluß von Trapezuut bis zum La Plata, vom
Nigerdelta bis nach St. Petersburg. _ Im Indischen
Ocean fahren Dampfer von Suez bis Mauritius und
Australien; aber das Stille Weltmeer, die große
Südsee hatte bislang Dampferlinien nur an den Küsteu;
regelmäßige Fahrten von Westen nach Osten uud umge-
kehrt, also zwischen Westamerika und Ostasien, fehlten.
Von Puuta Galle (oder Poiut de Galle, wie die Engländer
schreiben) auf Ceylon reichten die Fahrten der Peniusular
and Orieutal Company bis China und Japan, und an sie
schließen sich die Jutercolouial-Linien nach Australien uud
Neuseeland au. Auf der amerikanischen Seite fahren
Dampfer von Panama nach Norden hin bis San Francisco,
gegen Süden bis Valparaiso in Chile. Die Regierung
dieser Republik ist jetzt am Werk, eiue Fortsetzung der
Dampferfahrten nach Süden, durch die Magellansstraße
bis zur Mündung des La Plata zu ermöglichen.
Wir haben schon vor einem Jahr im Globus darauf
hingewiesen, daß die Herstellung einer Linie von Panama
nach Neuseeland, quer durch die Südsee, in naher Aussicht
stehe; jetzt erfahren wir, daß dieselbe gesichert ist. Aber
auch eine zweite Linie steht in Aussicht. Die Nankees
wollen deu nördlichen Stillen Ocean zwischen
San Francisco und Hongkong in China befahren;
Honolulu auf deu Saudwichs -Inseln soll Zwischeustatiou
uud von dort aus Kauagawa in Japan berührt werden.
Die erforderlichen Gelder sind im Februar 1865 vom Cou-
im Stillen Weltmeere.
gresse zu Washington bewilligt worden, und die Pacific
Mail Company hat mit dem amerikanischen Generalpost-
meister einen aus die Ueberuahme dieser Linie bezüglichen
Vertrag abgeschlossen. Die Gesellschaft erhält 599,000
Dollars; sie baut 4 große Raddampfer von 3500 bis 4000
Tonnen Gehalt und macht im Jahre 12 Reisen, durch-
steuert also den nördlichen Stillen Ocean 24 mal. Die
Schisse müssen im Durchschnitte täglich 200 Seemeilen
zurücklegen, die Fahrten sollen am 1. Januar 1867
beginnen. Die Entfernung zwichen San Francisco uud
Hongkong beträgt 7050 Seemiles, bis Kanagawa nur
5475 Miles.
Diese Liuie ist au uud für sich schou wichtig geuug, weil
sie auf dem kürzesten Wege zwei Continente uud verschie-
dene Handelsvölker in sichere und regelmäßige Verbindung
bringt; ihre Bedeutung wird sich aber unendlich steigern,
wenn die große nordamerikanische Weltbahn zwischen Neu-
york uud Sau Francisco, welche schou jetzt nach Westen hin
bis in den Staat Kansas hinein reicht, vollendet worden
ist. Jedenfalls ist auch ohne das diese Dampferlinie eine
Concnrrentin der Ueberlaudroute von Europa nach China.
Hongkong wird etwa der neutrale Puukt seiu, bis wohin
sich bic Zeitdauer der Fahrten einerseits von England,
andererseits von Nordamerikas Westküste gleichstellt; aber
in Kanagawa, also nach Japau, uud auch nach dem nörd-
lichen China hat das letztere deu Vorsvrung. Für Reisende
und Briese wird sich diese Linie ohnehin schon empfehlen,
weil dieselben fortan den Umweg über Europa ersparen
können.
Für die südpacifische Linie zwischen Panama
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A. Kayser: Ebbe und Flut.
und Wellington in Neuseeland werden gegenwärtig
(Oktober 1865) die Schiffe gebaut, und einige derselben
sind der Vollendung nahe. Die australischen Colouieu
sind, wie wir im Globus mehrfach nachgewiesen haben,
mit Recht äußerst mißvergnügt über die Art und Weise,
wie die Peninsular:c. Eompagnie ihren Dienst betrieb;
manchmal fielen Fahrten aus oder die Schiffe verspäteten
sich, auch sind einige derselben verloren gegangen. Die
Australier wollen alle vierzehn Tage eine Verbindung mit
Indien und Europa habeu; bis jetzt fährt monatlich einmal
von Puuta Galle und dorthin zurück ein Dampfer;
dazu soll nun alle vier Wochen einer von und nach
Panama laufen.
Im Frühjahr 1865 schloffen Neusüdwales und Neu-
seeland einen Vertrag mit der Panama, New Zealand and
Australiern Mail Company, welche bisher den Dienst
zwischen jenen beiden Colonien besorgt hat; sie wird vier
Dampfer in die Fahrt zwischen Panama und Wellington
bringen, erhält dafür jährlich 110,009 Pf. St. und muß
im Durchschnitt 10 Knoten stündlich zurücklegeu. Ein
Schiff, die Ruaheine, ist schon fertig; es hat doppelte
Schrauben, 1640 Tonnen Gehalt, ist wie ein Segelschiff
betakelt und kann demnach die regelmäßig wehenden Passate
benutzeu, also Kohlen sparen. Die Entfernung zwischen
den beiden Endpunkten beträgt 7200 Seemiles, und diese
Strecke soll in etwa 25 Tagen zurückgelegt werden. Man
wird also künftig von Southampton (mit den
westindischen Dampfern bis Aspinwall, dann über die
Jsthmnsbahn bis Panama) nach Wellington in Neu-
seeland in 40 bis 41 Tagen gelangen. Das ist
gegen jetzt ein Zeitgewinn von etwa 14 Tagen.
Die australischen Colonien sind aber auch nach einer
andern Richtuug hin thätig. Queensland, Neusüdwalcs
und Victoria beabsichtigen, eine eigene Linie von Dampfern
nach Pnnta Galle (wo bekanntlich der Knotenpunkt für
die östlichen Dampferlinien liegt) ins Leben zu rufeu, und
zwar ans dem nördlichen Wege. Die Schiffe sollen
dann nicht mehr, wie bisher jeue der Peuinsular Company,
die Südwestspitze Australiens, also den König Georgs-
Sund, anlausen, sondern die Nordspitze, Kap Bork am
Eingange der Torresstraße. Die Holländer haben schon
jetzt eine Dampferlinie, die von Singapore nach Osten
hin bis Timor reicht, und diese soll selbstständig bis
Puuta Galle fortgeführt werden.
So gestalten sich allmälig die Verhältnisse der Dampfer-
fahrten in der gewaltigen Südsee ähnlich, wie seither im
Atlantischen Oeean. Hier beschränkte man sich auch erst
längere Zeit auf die Küsten und die Verbindung zwischen
benachbarten Ländern. Dann aber, als einmal der Oeean
in seiner ganzen Breite durchmessen worden war, folgte
eine transatlantische Linie der andern. Direkte Verbin-
düngen zwischen Australien und China, mit San Franciseo
und Valparaiso sind ganz gewiß nur noch eine Frage der
Zeit. Der Bau einer Bahn vom La Plata über die Andes
in Chile ist zwar projektirt, liegt aber gewiß in der Ferne,
aber man ist schon ans Werk gegangen, fahrbare Straßeu
über das südamerikanische Hochgebirge in Angriff zu neh-
men, um dadurch den Verkehr zwischen den Gestaden des
Atlantischen Oeeans und der Südsee zu beschleunigen.
Die Glieder der Kette, welche dazu bestimmt ist, deu
Verkehr zwischen allen Erdtheilen und rings um den Erd-
ball zu erleichtern, werden immer zahlreicher, und bald wird
diese uugeheuere Kette vollendet sein.
A.
f
>4
Ebbe und Flut.
Von Prof. A. Kayser in Paderborn.
II.
Zur Erklärung der Gezeiten sind wir von der Annahme
ausgegangen, daß die Erdkugel gauz von einer Wasserhülle
umgeben sei. Diese Voraussetzung trifft aber in der Wirk-
lichkeit nicht zu, da die Kontinente als Inseln aus dem
Weltmeere hervorragen und den Oeean in verschiedene
große Becken abtheilen, welche durch breitere oder schmälere
Wasserstraßen unter einander in Verbindung stehen. Es
ist selbstverständlich, daß die großen Erdindividuen dem
Gange und Laufe der Flutwelle hemmend und störend ent-
gegentreten und so Unregelmäßigkeiten in Ebbe und Flut
bringen, deren Erklärung nicht geringe Schwierigkeiten mit
sich führte. Der Revereud Sir William Whewell hat die
unzähligen Beobachtungen der englischen Marine und
Colonien in genialer Weise zu einem durchsichtigen Resul-
täte zu vereinigen und selbst für das Auge sichtbar darzu-
stellen gewußt.
Wie Humboldt die Punkte der Erde, welchen eine
gleiche mittlere Jahrestemperatur eigen ist, durch die soge-
nannten Isothermen verband, so hat Whewell 1835 die
Punkte der Erde, welche an einem bestimmten Tage zu
gleicher Zeit Hochwasser haben, durch Linien verbunden,
die er cotidal lines — Jsorachien — nennt. (Vergl.
Berghaus Physikalischen Atlas I. Bd., 2. Abth.: Hydro-
graphie Nr. 1 und 2. Siehe auch die angefügte Karte.)
Der günstigste Punkt für die volle Ausbildung der Flnt-
welle ist offenbar dort, wo nach Ost und West um 90"
offenes Meer sich ausdehnt. Dort kann die Flutwelle
sich zu ihrer ganzen Höhe erheben, während an den um
90 Grade des Parallelkreises entfernten Punkten die voll-
ständigen Wellenthäler sich aushöhlen. Einen solchen
Meeresstrich fiudet Whewell in der Gegend von Van-
diemensland südlich von Australien. Dort breiten im
Osten der Stille, im Westen der Indische Oeean ihre
weiten Wasserflächen aus und reichen sich durch die Enge,
welche Feuerland von dem Südpolarlande (Wilkes Land)
scheidet, die Hand.
Ist nun in dein Meridiane von Vandiemensland
Mittags um 12 Uhr Neumond, so schwillt dort der Oeean
durch die vereinigte Attraction der Sonne und des Mondes
zu einer immensen Flutwelle, während um 90 Grade
A. KaYser:
oft- und westwärts Ebbe herrscht. Wegen der Aren-
drehung der Erde von Westen nach Osten tritt jeden
Augenblick ein westlicherer Punkt in das Zenith; es
schreitet also die Welle der Zenithflut nach Westen vor,
und zwar mit einer so rapiden Schnelligkeit, daß die
Flutwelle um Mitternacht schon die Südspitze Vorder-
indiens, um 1 Uhr Nachts das Cap der guten Hoffnung,
8 Uhr Morgens das Feuerland erreicht. Man schätzt ihre
Schnelligkeit auf der Höhe des Indischen Oceans zu 1000
englischen oder 200 deutschen Meilen in der Stunde.
Die Geschwindigkeit nimmt jedoch mit der Tiefe ab.
Whewell hat berechnet, daß bei einer Tiefe von 4000
Faden (ä 6 Fuß) 500, bei einer Tiefe von 1000 Faden
250, bei einer Tiefe von 100 Faden 80, bei einer Tiefe
von 10 Faden nur noch 25, bei einer Tiefe endlich von
einem Faden nur 8 englische Meilen in der Stunde zurück-
gelegt werden. (5 engl. Meilen — 1 deutsche.)
)be und Flut. 141
Doch gehen wir zu dem Verhalten der Flutwelle hu
Atlantischen Oceau und besonders in der Nordsee über;
weil näher, interessirt es uns zumeist.
Die Mutterwelle, welche bei Vandiemensland unter
dem 40" südl. Br. entsteht, hat eine Neigung nach dem
Aeqnator, das ist nach Norden; die anziehenden Kräfte,
Sonne und Mond, stehen ja in der Nähe des Aequators.
Ferner stellt sich der von Osten nach Westen fortschrei-
tenden Flutwelle eine gewaltige Barriere in dein mächtigen
Continente Südamerikas entgegen, während sich nach
Norden das Meerthal des Atlantischen Oceans öffnet.
Beide Ursachen lenken die von Osten heranströmende Flut-
welle vou ihrer ursprünglichen Bahn ab und geben ihr im
Atlantischen Oeean eine nördliche Richtung. Nur eiu ver-
hältnißmäßig Hemer Theil derselben bricht zwischen dem
Feuer- und Wilkes-Lande in den Stillen Oeean durch.
Diese Erwäguug gibt uns deu Schlüssel für die Lösung
Dieses Verhältniß der Tiefe des Meeres zur Gefchwiu-
digkeit der Flutwelle erklärt uns, weshalb letztere in der
Nähe der Continente und in engeren Wasserstraßen lang-
samer voranläuft, als auf der hohen See, oder was dasselbe
ist, daß die Jsorachieu aus dm Hoheit Meere sich um cht
Bedeuteudes nach vorn ausbauchen. Je langsamer aber
die Flutwelle voraneilt, desto enger ist der Raum, welcher
deu Flutberg dieser von dem Flutberge der nächsten Stunde
trennt; daher treten die Jsorachien unfern der Eonthteitte
näher zusammengedrängt auf.
Das Hiuderuiß, welches die geringere Tiefe der Fort-
beweguug der Flutwelle entgegensetzt, hat aber nicht bloß zur
Folge, daß die Raumintervalle abgekürzt werden, es hat
auch die andere Folge, daß die Höhe der Flutwelle bedeutend
gesteigert wird. In demselben Maße, worin die Basis der
Flutwelle abnimmt, muß die Welleuhöhe wachsen. Da
sehen wir beu Grund, weshalb an den Ufern der Unter-
schied zwischen dem Flut- und Ebbeniveau so bedeutend,
auf hoher und tiefer See dagegen so gering ist.
ichien- Karte.
des RätHsels in die Hand, daß im Atlautischeu Oeean die
Flut nicht von Osten nach Westen, sondern von Süden nach
Norden strömt, oder was dasselbe ist, daß die Punkte an
der Westküste Afrika's anf gleichen Jsorachien mit den
Punkten der Ostküste Amerika's liegen.
Die Urwelle. welche um 1 Uhr Mittags von Vandie-
mensland ausging und um 1 Uhr Nachts das Eap der
guten Hoffnung (Südspitze von Afrika) erreichte, ist um
C Uhr des auderu Morgens atif ihrem nördlichen Lause am
Cap Palmas (Westküste von Afrika) und bei Bahia (Ost-
küste von Südamerika), uiu 11 Uhr am Cap Blaueo und
Hayti, um 12 Uhr bei deu Cauarischeu Jufelu auf der
eineu und bei Neufundland anf der andern Seite des
Atlantischen Beckenrandes angelangt. Es liegt also das
Cap Palmas mit Bahia, das Cap Blaneo mit Hayti, die
Canarischen Juseln mit Neufundland auf derselben
Jsorachie.
Weil das Caraibische Meer durch die westindischen
Inseln der Kleinen und Großen Antillen verbarrikadirt,
142 A, Kayser: Ebbe und Flut.
der Hals des Mittelmeeres durch die Säulen des Herkules Schottlaud herum und beherrscht in südlicher Direktion
zu fest verschnürt ist, so kann die Flutwelle um so weniger den nördlichen Theil des Nordseebeckens. Wie an dem
hereindringen, da sie von Süden nach Norden an den Ein- Südrande die Flut von Westen, so muß sie in der nörd-
gängen vorüber rollt. Der Busen von Mexico so gut als lichen Hälfte von Norden heranstürzen. Die Welle, welche
das Mittelmeer sind dieserhalb rücksichtlich der Ebbe und durch die nördliche Mündung in die Nordsee fällt, trifft in
Flut auf sich allein angewiesen. der südlichen Hälfte des Be'ckens mit dem durch den Kanal
Verfolgen wir jetzt die Flutwelle auf ihrem fernem fließenden Strom zusammen. An der Ostküste Englands
Laufe im nördlichen Theil des Atlantischen Oceans. Durch begegnen sich beide Wellen, und nun treten die bekannten
den festen Körper Nordamerikas, fowie durch die große Jnterferenzerscheinungen der combiuirten Welleubewegun-
Insel Grönland wird derselben eine mehr östliche Richtung gen ein. Trifft die Flutwelle der nördlichen mit dem Ebbe-
angewiesen. Diese Richtung wird noch verstärkt durch die thale der südlicheuOscillatiou zusammen, so heben sich beide
südliche Neigung des Wellenkammes, welche Sonne und gegenstrebenden Wirkungen auf — das Meer ist an einer
Mond, die in der Nähe des Himmels-Aeqnators stehen, solchen Stelle ohne Schwankung—todt. Trifft dagegen
bewirken müssen, sobald die Mntterwelle den Erd-Aequator die Flutwelle des nördlichen mit der Flutwelle des südlichen
passirt hat. Stromes zusammen, so zeigt sich an einer solchen Meeres-
Wir verließen die Flutwelle bei den Eanarischen Inseln stelle gesteigertes Hochwasser. Dieses ist z. B. der Fall
und Neufundland, wohin sie nach Verlaus von 24 Stuudeu an der Münduug der Themse. Die Welle der Zeuithflut
vorgedrungen war. Sie langt Nachmittags 4 Uhr des von Vandiemensland erreicht auf dnu Wege um Schottland
zweiten Tages bei Brest (Nordwestspitze Frankreichs), herum die Themsemündung fast 12 Stuudeu später, als
Laudsend und Eap Elear (Südwestspitzen Englands und auf dem Wege durch den Kanal. In diesen 12 Stunden
Irlands) an. Hier spaltet sich der Flutstrom iu drei ist aber die Welle der Nadirflut nachgerückt, so daß hier
Arme. Der westliche und Hauptstrom fließt seine östliche nun zwei Flutwellen zusammentreffen und eine Anschwel-
Richtung verfolgend zwischen Island und Irland durch lung des Hochwassers bewirken. Diesem Umstände hat es
nach dem nördlichen Eismeere. Der mittlere ergießt sich die Themse zu danken, daß die Flut so hoch in ihrem Bette
durch deu Georgskanal (zwischen Irland und England); steigt; diesem Umstände hat London es zu daukeu, daß die
der östliche endlich wälzt seine Wogen durch den Pas de großen Kauffahrteifahrer zur Flutzeit bis Londonbridge
Calais und bewirkt die Flut an der Südküste Englands fahren und in die dortigen Riesenbassins (Eatharine-,
und an der Nordküste Frankreichs, Belgiens, Hollands, East-Jndian-, West-Jndiandocks) einlaufen können.
Deutschlands und schlägt zuletzt gegen die Westküste Däne- An der Südostseite des Deutschen Meeres wird der
marks und Holsteins, wo sie sich todt läuft. Die Flut- Strom der Flutwelle, die sich durch den Kanal ergießt,
welle, welche 5 Uhr Nachmittags die Küste bei Brest inun- in östlicher Richtung fortgerissen. Durch die starke Flut-
dirte, erreicht erst um 11 Uhr Abends Calais und Dover, welle aus Norden wird er in die Direktion nach Südsüdost
um Mitternacht Ostende und die Themse, um 1 Uhr Mit- gedrängt. Darum strömt die Flut z. B. bei Helgolaud
tags des dritten Tages erst die Mündung der Elbe. Sie, von Nordwest heran. Aus demselben Grunde ist die Ein-
die in 29 Stunden von Vandiemensland nach Brest geeilt, fahrt in die Elbe fo leicht mit herannahender Flut. Bei
braucht volle 21 Stuudeu, um von Brest bis nach Helgo- völliger Windstille läuft z. B. von Helgoland eine Scha-
land vorzurücken. So sehr wird durch die geringere Tiefe lnppe in zwei Flutzeiten sicher nach Curhafeu, weuu durch
der Nordsee die Geschwindigkeit der Flutwelle geschwächt! das Steuer nur die Richtung gewahrt ist.
Ein zwiefaches Dunkel in den Flutschwanknngen der ^ Es erübrigt noch, die Ausaugs erwähuteu regelmäßigeu
Nordsee wird durch diefeu Umstand erhellt: erstens die Fluten von ganz enormer Höhe zu erklären, wodurch ein-
Fortbewegung der nordseeischen Flnt von Westen nach Osten, zelne Küstenpunkte ausgezeichnet sind. Diese enormen
da sie doch nach dem Sounen- und Mondlaufe gerade um- Fluthöhen sind lediglich eine Folge der Configuratiou der
gekehrt von Osten nach Westeu voranschreiten sollte; zwei- Küsten. Wie der Hanptwellenschlag der südoeeanischen
tens die Verspätung der Springfluten in der Nordsee. Mutterwelle einen Arm in den Atlantischen Ocean abstößt,
Nach der Theorie sollten dieselben mit dem Neu-und Voll- so muß dieser Strom seiue Seiteuverzweigungen in jede
monde gleichzeitig sein, finden sich aber in der That in Bai und Bucht au deu Gestaden abstoßen. Erstreckt sich
Brest erst 28 Stunden, in Ostende 36 Stunden, in Helgoland nun eine solche Bucht tief ins Land hinein, uud zwar so,
erst zwei Tage nach dem Nen- uud Vollmonde ein. So daß sie dem Meere eine breitere Mündung zukehrt, sich
viel Zeit gebraucht die Mutterwelle, um von Vandiemens- aber landeinwärts trichterförmig verengt, so ist nur noch
land bis Helgoland zu gleiten! erforderlich, daß die Ufer zu einer hinlänglichen Höhe
Der Stromzweig, welcher seiuen Weg durch den ansteigen, um eine bedeutende Fluthöhe unvermeidlich zu
Georgskaual nimmt, vereinigt sich an der Westküste Schott- machen. Die Wassermasse, welche in die breitere Oeffnung
lands wieder mit dem Hauptstrome, der nunmehr in fast hineingepreßt wird, muß sich, je weiter sie iu der verjüngten
ganz östlicher Richtung weiter fließt und die Westküste Nor- Einbricht vorandringt, heben, und um so mehr heben, als
wegens bespült. Da sich aber zwischen Norwegen und die Bucht sich verschmälert. Am günstigsten sind diese Be-
Schottland das weite Becken der Nordsee öffnet, so muß dingungen in der Bucht bei St. Malo (Nordküste Frank-
sich hier dieselbe Erscheinung, wenn auch in kleinem Maß- reichs) uud in der Fuudybai (Ostküste von Nordamerika),
stabe und in ganz entgegengesetzter Richtung wiederholen, Darum dort eiue Fluthebuug von 46, hier die höchste,
welche wir aus der südlichen Halbkugel beim Eingange in Welche die Hydrographie kennt, zu 70 Fuß.
deu Atlantischen Oeean beobachteten. Ein Theil des Flut- Diese interessante Theorie, welche Whewell aus Cam-
stroms muß sich von Norden her in das Deutsche Meer bridge aus mehr denn 40,000 in Europa, Asien, Afrika
ergießen und seiner Welle einen Kamm geben, auf dem die und Amerika gemachten Beobachtuugeu zuerst combinirte,
Wellenlinie des Hauptstroms senkrecht steht. Die Nordsee Lnbbock und Germar weiter verfolgten uud ausbildeten, ist
steht somit unter dem Einflüsse einer doppelten Flutwelle; geeignet, die verwickelten Erscheinungen der Ebbe und Flut
die eine dringt durch den Kanal vor und beherrscht in ihrem zu begründen und zu erklären, so daß nunmehr das Pro-
östlichen Fortschreiten den südlichen, die andere läuft um blem der Gezeiten als ein völlig gelöstes angesehen werden
A. Kayser:
darf, sofern dieses Phänomen von dem gewöhnlichen und
regelmäßigen Agens abhängt.
Außer der Anziehung der Himmelskörper können auch
uoch andere Einflüsse hemmend oder fördernd auf die
Schwankimgen des Meeres einwirken.
f Zunächst übt der Luftdruck einen nicht ganz nnbe-
deutenden Einfluß auf die Höhe der Flutwelle aus. Je
höher die Luftsäule und je größer somit der Luftdruck
über einer Meeresstelle zu einer Zeit ist, desto geringer
muß bei soust gleichen Umständen die Fluthöhe, desto
gesenkter die Ebbentiefe sein, und umgekehrt. Walker
hat an der Küste von Cornwall und Devonshire die
Beobachtung gemacht, daß das Meeresnivean um 16 Zoll
höher steigt, wenn das Barometer um einen Zoll fällt,
dagegen um 16 Zoll niedriger bleibt, wenn die Queck-
silbersäule um einen Zoll gestiegen ist. Viel belang-
reicher ist aber der Eiustuß des Windes aus die Flut.
Weht der Luftstrom der Flutwelle entgegen, so kann sie
begreiflicher Weife nicht in solcher Höhe ans Ufer schlagen.
Kommt dagegen die Flut vom Wiude getrieben heran-
gestürzt, so muß sie den Strand weiter und höher inun-
diren. Wird gar das Hochwasser einer Springflut von
anhaltenden Orkanen, die stets mit sehr niedrigem Baro-
meterstande gepaart sind, dem Ufer zugesagt, so entstehen die
verheerenden Sturmfluten, deren Schrecken in den Annalen
der Küstenbewohner verzeichnet stehen. „Wenn alle begün-
stigenden Umstände", sagt Hartwig (Leben des Meeres,
Frankfurt 1857, S. 46), „zusammentreffen, was zum Glück
nur selten geschieht, so entstehen jene furchtbaren Sturm-
fluten, welche für die stachen niederländischen und friesischen
Küsten eben so gefährlich werden können, wie ein Ausbruch
^ des Aetna den siciliamschen Gefilden. Denn auch hier ist
eine entsetzliche Naturkraft entfesselt, welche die menschliche
Ohnmacht verspottet. Alsdann bietet das empörte Meer
einen wunderbar majestätischen Anblick. Die ganze Ober-
fläche gährt und siedet. Riesengroße Wellen thürmen sich
wie gewaltige Titanen empor und schleudern ihre gauze
furchtbare Kraft gegen die Dünen und Deiche, als ob sie,
von wilder Eroberuugslust beseelt, das dahinter liegende
Tiefland, welches einst zum ueptuuischeu Reiche gehörte,
wieder verschlingen wollten. Stundenweit hört der er-
schrockene Batave das Tosen der Brandung; und wohl
mag er zittern, wenn die wüthende Sturmflut gegen die
Wälle donnert, die ihn gegen den gewaltigen Ocean
schützen; denn die Annalen seines Vaterlandes sind voll
trauriger Beispiele ihres Zorues und erzählen ihm, daß
an Stellen, wo jetzt die Meeresfläche unabsehbar sich vor
seinen Blicken ausdehnt, Kornfelder einst wogten, oder zahl-
reiche Heerden auf üppiger Grasflur weideten. So über-
schwemmte am 1. Roveinber 1170 ein Durchbruch der
Sturmflut alles Laud zwischen dem Terel, Medenblyk und
Stavoren, bildete die Insel Wieringen und erweiterte die
Oessnnngen, welche die Zuiderzee mit dein Ocean ver-
binden. Durch die Überschwemmungen von 1232 und
1242 fanden mehr als 199,090 Menschen ihren Tod, und
die Sturmflut von 1287 begrub in Frieslaud allein mehr
als 89,999 Opfer unter den Wellen. Der Durchbruch
A von 1585 erweiterte bedeutend die Kanäle zwischen dem
Vlie und Terel, so daß nun große Schiffe bis nach Amster-
dam und Enkhuyzen fahren konnten, was früher nicht mög-
lich gewesen war."
Helgoland erfuhr die Gewalt der Sturmfluten in der
Neujahrsnacht 1729. Von 2 Uhr des Nachmittags am
31. Dezember blies ein rechter Hauptsturm die Wellen des
Hochwassers mit solcher Wucht heran, daß der Verbindungs-
bbe und'Flut. 143
wall zwischen der Düne und dem Unterlande durchrissen
und fortgespült wurde, obwohl derselbe an einzelnen
Stellen eine Breite von 49 Faden (a 6 Fuß) hatte. Wo
vorhin ein pafsabeler Weg den Fußgänger zu der Düne
führte, ist von der Sturmflut ein Kanal gehöhlt, der die
Breite einer halben Stuude und eine Tiefe erreicht, die ihn
für große Schiffe fahrbar macht.
Dem Gedächtnisse älterer Uferanwohner der Nordsee
sind uoch die Schrecken der Sturmflut vom 19. Dezember
1792 und 3. März 1793 in schaueriger Erinnerung; das
Wasser erhob sich 19 Fuß über das gewöhnliche Niveau
der Fluthöhe.
Der seltene Fall, daß ein ungewöhnlicher Sturm mit
der alleruugüustigsten Stellung des Mondes zusammen-
traf, war in den Blättern der Geschichte so wenig als in
den Falten des Gedächtnisses mit Bestimmtheit ausgezeigt.
Das Ende des ersten Viertels in unserm Jahrhundert sollte
das traurige Beispiel liefern.
Am 2. und 3. Februar 1825 siel nämlich Vollmond
und Erdnähe des Mondes zusammen; überdies war Luua
dem Durchgänge durch den Aeqnator nahe. Diese ver-
einigten Umstände reichten für sich schon aus, die Springflut
zu ihrem höchsten Gipfel aufzuthürmeu. Da trat mit
einem Male ein heftiger Gewittersturm hinzu uud trieb die
Fluten über große Uferstrecken der Nordsee. Tausende
wurden in den Wogen begraben, Aecker und Häuser uud
Vieh vom wüthendeu Meere verschlungen, so daß derselbe
Nothschrei von den Dünen Flanderns bis zu der Küste
Holsteins wiederhallte und selbst dem Binnenländer die
Verheerung der Sturmfluten begreiflich machte.
Im vorigen Sommer berichteten die Zeitungen aus
Liucolushire (Ostküste von England): „Ein großer Theil
der Grafschaft, 799,999 Acker Landes, liegt unter dem
Spiegel des Meeres und wird durch Dämme nach Art der
holländischen vor deu Ueberflutungen der See geschützt.
Einer dieser Dämme wurde durchbrochen, und durch eine
40 Uards weite Oefsnnng stürzt die Flutwelle über das
niedriger gelegene, reich angebaute und dicht bevölkerte
Land, welches unter dein Namen The Lincoln fen bekannt
ist. Die fchöne Ernte ist verloren. Die Pachtungen stehen
unter Wasser; der Schaden läßt sich kaum berechnen."
Es war die schreckliche Wirkung einer verheerenden Spring-
und Sturmflut!
Im verflofseueu Wiuter wurde ebenfalls von außer-
ordentlichen Sturmfluten berichtet. In der Nacht vom
26. zum 27. Dezember stieg das Wasser aus Norderney
bei der Flut 19 bis 11 Fuß über die gewöhnliche Höhe.
An der otterndorser Schleuse im Lande Hadeln trieb, der
aus Nordwest wüthende Sturm am 26. Abends die Flut
um 7 Fuß 5 Zoll, und am folgenden Tage um 8 Fuß
19 Zoll über den gewöhnlichen Flutstand.
An den niederländischen Küsten scheinen die^ Fluten
noch höher gestiegen zu sein. Aus dem Haag schrieb man
darüber: „Es vereinigt sich Alles, die Flut zu uugewöhn-
licher Höhe hinaufzutreiben. Springfluten entstehen be-
kanntlich bei Voll- und Neumond, wenn die Anziehnngs-
kraft der Soune uud die des Mondes sich vereinigen. Sie
sind aber dann am höchsten, wenn Nr Mond in seinem
Perigäum, d. h. der Erde am nächsten steht. Dies ist jetzt
der Fall. Außerdem steht die Erde in ihrem PeriHelium,
d. h. der Sonne am nächsten. Rechnet man dazil deu
heftigen Nordwestwind, der die Flut gerade auf die hollän-
dische Küste anjagt, so hat man die Momente einer gewal-
tigen Wirkung beisammen, wie man sie seit 37 Jahren
nicht mehr gekannt hat."
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Benierkungen über das Hechthal von Kaschmir.
Bemerkungen über das Hochthal von Kaschmir.
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Manche von den Phantasten, die sich mit Träumereien
über eine „Wiege der Menschheit" abgaben, haben ein sol-
ches Unding in Asien und namentlich in Kaschmir gesucht.
Dort sei das eigentliche „Paradies" (d.h.ein orientalischer
Lustgarten) gewesen, von diesem Punkte sei die „Mensch-
heit" ausgegangen. Mit saftigen Farben wurde dann aus-
gemalt, wie mild und entzückend das Klima sei und wie
die herrlichsten Früchte den „ersten Menschen" gleichsam
in den Mund gewachsen seien.
Nun ist aber die Geographie eine unbarmherzige Wissen-
schaft, weil sehr positiv. Unser Landsmann, Hr. v. Hügel
in Wien, hat ein lehrreiches Buch über Kaschmir ans
eigener Anschauung geschrieben; hinterher sind die Gebrüder
Schlagintweit gekommen und haben auch manche in-
teressante Thatsachen mitgetheilt, und während der letztver-
flossenen Jahre nahmeil die Engländer trigonometrische
Vermessungen vor und trugen nicht weniger als 4606
Ortschaften in die Karten ein. In der Pandschabkette,
welche sich zwischen demHochthal und den südlichen Ebenen
erhebt, arbeitete Kapitän Montgomerie aus Berghöhen,
die 13,000 bis 15,000 Fuß über der Meeresfläche liegen,
und an der Nordseite in einer Höhe von 16,000 Fuß. Wir
wissen nun, daß das vermeintliche „Paradies" aus einem
Hochthale besteht, welches auf allen Seiten voll Schneebergen
llmgeben ist und etwa 5000 F. über der Meeresfläche liegt.
Reich an malerischen Landschaften ist es allerdings, und
seine Rosen sind berühmt wie seine Deodara-Cedern, deren
Holz viele Jahrhunderte überdauert. Aber schon in den
Herbstmonaten ist das Land bitter kalt, dicker, frostiger
Nebel lagert sich über das Thal, nachher fällt Schnee, der
vier Monate lang liegen bleibt und im April den Hagel-
wettern und dem Regen Platz macht. Das ist eine kalte
,,Wiege des Menschengeschlechts", in welcher ein Feigen-
blatt als Bekleidung für die „ersten Menschen" wohl nicht
ausgereicht hätte. Die Phantasie hält gegenüber der Geo-
graphie nicht Stich.
Aber die Landschaft ist allerdings prachtvoll, großartig
und schön, das Hochthal reich an Seen und fließenden Ge-
wässern und an üppigen Wäldern; verhältnißmäßig kann
man das Klima als mild bezeichnen. Die Hauptstadt
Sriuaggar wird als ein östliches Venedig geschildert, weil
sie nach allen Richtungen hin von Kanälen durchschnitten
ist und die Häuser, wie in der adriatischeu Lagunenstadt,
aus dem Wasser emporsteigen. Auf dem in der Nähe lie-
geudeli See, iu welchem sich die Schneeberge abspiegeln,
fluten schwimmende Inseln auf und ab, und an ihren
Ufern dehnen sich reizende Gärten hin, iu welchen die vom
Gebirge herabfallenden Gewässer lustige Caseadeu bilden.
Der ebeue Theil des Hochthals ist etwas über 20
deutsche Meilen lang und mehr als 4 Meilen breit; er
wird vom Jhilam durchströmt, dessen Quellgewässer im
südlichen Theile des Thales liegeu. Vou Islamabad ab
durchzieht er nach Norden Hill in schlängelnden Windungen
das Thal, bildet mehre reizende Seen und strömt durch
deu Barramalla - Paß^ab. Die große Kette des Himalaya
wird hier von einer 7000 Fuß tiefen Schlucht durchsetzt;
die Sohle derselben ist sehr schmal und wird ganz vom
Fluß eingenommen; bei Art ist dieselbe nur 70 Fuß breit,
und dort steigen die Felsen fast senkrecht ans. Durch diese
natürliche Abzugsschleuse oder Rinne wälzt der Jhilam mit
reißender Schnelligkeit fein Wasser.
Im Thal von Kaschmir sind manche Dynastien ein-
ander gefolgt, die hoch in die Zeiten hinaufreichen. Als
ein großer Theil Europa's noch halbbarbarisch war, blühten
dort schon Kunst und Wissenschaft; unter den Hindukönigen
war der Buddhismus Laudesreligiou, bis im zehnten Jahr-
hundert durch König Ramagupta die Klöster zerstört, die
Götterbilder verbrannt wurden und die Satzungen des
Brahmanismns zur Geltung kamen.
Es ist eine alte Wahrheit, daß die verschiedenen Re-
ligionen einander „auffressen". Die Brahmanen vertilgten
den Buddhismus und unterlagen ihrerseits dem Islam.
Von 1341 bis 1586 herrschten unabhängige mohammeda-
nische Könige, welche znletzt vom Großmogul Akbar besei-
tigt wurden. Die Großmoguls betrachteten Kaschmir als
ihr Paradies, in welchem sie gern und oftmals monatelang
verweilten. Akbar baute Paläste, legte Gärten an und
pflanzte Pappeln und Platanen, die noch heute stehen; fein
Sohn Dschehaudschir und dessen Gemahlin Nurmahal
schwärmten für das schöne Thal und verweilten gern in den
Gärten von Schelimar.
Allch die Herrschaft der Großmogule ging zu Ende;
1753 eroberten die Afghanen Kaschmir, nnd 1819 fiel es
den Sikhs anHeim. In diesem Jahre wurde das Thal
von Erdbeben heimgesucht, durch welche 1200 Menschen
ihr Leben verloren; bald nachher raffte eine Seuche mehr
als 100,000 hinweg, dann kam Huugersuoth, und statt der
800,000 Köpfe, welche 1819 im Hochthale wohnten, zählte
man 1833 nur noch 200,000!
Die Kaschmirier gehören in Bezug ciuf Körperbildung
zu den schönsten Stämmen der Hindns, sie sind jedoch ver-
weichlicht und knechtisch gesinnt. Ein großer Theil bekennt
sich zniu suuuitischen Mohammedanismns, aber die Frauen
bedecken nur deu Kopf, nicht das Gesicht mit dem Schleier,
welchen die Mädchen gar nicht tragen. Diese setzen eine
kleine, rimde Mütze auf, unter welcher das Haar in einer
Menge kleiner Flechten hervorhängt, welche hinten zu-
sammeugebundeu werden. Eine helle Hautfarbe, die sich
mit unserer europäischen messen kann, ist gar nicht selten
und die Schönheit der Frauen sprichwörtlich. Aber die
Volksmasse hat doch einen groben Gesichtsausdruck. Die
Kaschmirier sind zungenfertige Schwätzer, leicht erregbar,
streitsüchtig, und in Zorneswallungen schimpfen sie entsetz-
lieh. Das gemeine Volk ist sehr unsauber und hat viel
Ungeziefer au sich; wehe dem unglücklichen Reisenden, der
sich auf eiu Tuch setzt, das sie ihm hinbreiten! Man darf
ill keinerlei Berührung mit diesen Leuten kommen.
Der englische Missionär Robert Elarke (Church
Missiouary Intelligenter, Oktober 1865, S. 296) ruft
aus: „Wie tief ist Kaschmir, das irdische Paradies, gesnn-
ken im Vergleich zu jenen Tagen, da Dschehandschir und
Nurmahal dreizehn Sommer dort verweilten und dieses
kleine Reich so hoch hielten, daß der Kaiser erklärte, er wolle
lieber jede andere Provinz verlieren als Kaschmir. Dann
ging vor nun 200 Jahren der Großmogul Aureng seb von
seiner Hauptstadt Delhi nach Kaschmir mit 25,000 Reitern,
mit 70 großen Kanonen, deren jede von 20 Joch Ochsen
gezogen wurde, mit 50 kleineren Kanonen, vielen Elephanten
Friedr. Brinkmann: 2
und Rossen, mit Jagdfalken, Hunden, gezähmten Leoparden
und Löwen, mit Rhinoeeronten, Büffeln und Antilopen.
Zwei Monate lang dauerte die Reise von Delhi bis Lahore,
denn das gesammteGefolge bestand aus 400,000 Menschen.
Von diesen durfte aber nur je der vierte Mann dem Groß-
mogul nach Kaschmir folgen, damit im Hochthale keine
Hungersuoth ausbreche. Damals war großer Glanz in
den Prachtpalästen von Srinaggar, doch nun liegen die-
selben in Trümmern, die Straßen sind mit Schmutz gefüllt,
das Laud ist arm, der See versumpft. Aber manche Euro-
päer, vorab Engländer, verweilen in Kaschmir, welches für
diese Leute ein Capua geworden ist. Seitdem die Sikhs
den Briten unterworfen sind und das Reich Randschit
Singhs ein Ende nahm, gab die indische Regierung das
Land Kaschmir nebst Ladakh an den Maharadscha Gholab
Singh, einen Sikh; dessen Nachfolger Rambir Singh
herrscht jetzt über das Land.
Er verdankt seinen Thron den Engländern, aber die
Missionäre klagen, daß sie in Kaschmir sehr schnöde behan-
delt werden. Clark war 1863 dort und predigte; aber
die Leute, welche ihm zugehört hatten, wurden von den
Soldaten des Königs angespieen und geprügelt. Man
i Almthal und der Almsee. 145
stellte Wachen vor seine Wohnung und that ihm kund, daß
er Schläge bekommen solle, wenn er in einem gewissen
Stadttheile predige; endlich trieb man ihn aus. Er kam
aber im Frühling 1864, nachdem er zuvor ein Haus in
Srinaggar gemiethet hatte. Die Kaschmirier wollten den
„Padre Sahib" (geistlichen Herrn) nicht über die Brücke
lassen und er hatte überhaupt allerlei Ungemach zu erdulden.
Ein französischer Shawlhändler, Namens Gosselin, stand
ihm sreuudlich bei, er konnte aber dem Widerwillen des
Volkes gegen den Missionär nicht steuern. In das Hans
dieses letztern wurden Steine geworfen, und die Behörden
wollten das Predigen nicht dulden. Ein Mann, der sich
zur Taufe verstanden hatte, wurde mit einem Klotze belastet.
Im Laufe des Jahres 1865 sind zwei Missionäre in
Kaschmir thätig; einer derselben ist Arzt. In Srinaggar
wurde ihnen, auf Befehl des Königs Rambir Siugh, Mehl
zum Brotbacken verweigert; sie gingen deshalb aufs Land
in die Dörfer. Dort schloß sich ihnen ein mohammeda-
uischer Buchbinder an, wurde aber dafür von den Behörden
öffentlich ausgepeitscht, in Ketten gelegt und dann auf drei
Monate ins Gesängniß gesperrt. Man sieht, es sind immer
die alten Geschichten.
Das A l m t ha l u
Reisebild aus Oberösterreich '
Von dem Pnnkte an, wo man zuerst des Sees ansichtig
wird, hat man bis znm Seehause noch ungefähr eine halbe
Stunde zu gehen. Ich muß gestehen, daß mir gerade auf
dieser Strecke die Berge in ihrer theilweisen Verhüllung von
Wolken, aus welchen die Spitzen und Kämme hier und da
hervorbrachen, und die weißen Abhänge hier und da so
dustig hervorschimmerten, als wären sie mit einem durch-
sichtigen Schleier verhangen, am schönsten erschienen,
schöner als am folgenden Tage, wo ich sie alle unverhüllt
in den glänzenden Strahlen der Mittagssonne vor mir
liegen sah. Diese Nebel und Wolken paßten vortrefflich
zu dem düstern Charakter der ganzen Landschaft und zu der
abendlichen Stimmung und Beleuchtung, worin sie mir
entgegentrat.
Nachdem man einige Zeit am User des Sees fort-
gegangen ist, erscheint das Seehaus, und es wird nun
bald für den müden, in der duukelnden Landschaft dahin
schreitenden Wanderer der interessanteste Theil des Bildes.
Es steht am südlichen Ende des Sees, zwischen diesem und
den Abhängen des Todten Gebirges. Von weißem An-
striche, mit grünen Fensterläden hebt es sich gar nicht übel
ab von der grünen Matte, die davor sich erstreckt, und dem
dunklen Tannenforste, der dahinter den Fuß des Todten
Gebirges umsäumt, und es könnte uns wohl freundlich und
selbst einladend erscheinen, wenn es nur uicht gar so kahl,
ohne alle Umgebung vou Bäumen, schutzlos Wind und
Wetter preisgegeben daläge und so frostig uns anstarrte.
Es ist ein ziemlich großes, zweistöckiges, massives Gebäude
und bildet mit seinen Scheunen und Stallungen ein Geviert,
das seine Hauptseite, die eigentliche Wohnung, dem See
Globus IX. Nr. 5.
nd der Almsec.
ou Dr. Friedrich Brinkmann.
zuwendet. Die Form ist die einfachste, die man sich denken
kann. Nicht die geringste Verzierung, kein Thurm, keine
Zinnen, keine Erker oder Altane erinnern uns daran, daß es
das Jagd - und Lustschloß eines Klosters ist, das einst alles
Land zwischen dem Almfee und der Donau als Stistsgebiet
beherrschte und noch immer zu den reichsten von ganz
Oesterreich gehört. Nichts als nackte, weiße Wände sieht
man, ein großes plumpes Viereck, und nur die fast quadra-
tischen Fenster von städtischer Breite und Höhe künden uns
schon vou fern an, daß wir keinen gewöhnlichen Bauernhof
vor uns haben.
Im Innern des Seehauses werden wir dagegen um
so häufiger und entschiedener auf seine Bestimmung hinge-
wiesen. Alle Gänge sind aufs reichste mit Hirsch- und
Rehgeweihen verziert, und manche herrliche Exemplare finden
sich darunter. An allen Wänden der Zimmer im obern
Stockwerke, die von den Stiftsherren zur Zeit ihres Besuches
bewohnt und auch den etwa hier übernachtenden Fremden
angewiesen werdeu, hangen lebensgroße Bilder von
Aebten Kremsmünsters ans früheren Jahrhunderten und
von anderen adeligen Herren, die mit ihnen zur Jagd hier-
her zu kommen pflegten. Unter ihnen zogen besonders
mehre Aebte meine Aufmerksamkeit auf sich durch den
Widerspruch zwischen dem geistlichen Kleide und dem harten,
herrischen Ausdrucke des Kopses, der gut zu einem Sol-
daten, am besten zu einer Wouvermann'schen Neitergestalt
aus dem dreißigjährigen Kriege gepaßt hätte. So besand
sich zwischen den Bildern, womit mein Schlafzimmer aus-
gestattet war, ein Abt mit solch einem unheimlichen Blicke,
daß ich ihn herzlich gern von der Wand heruntergenommen
19
146 Friedr. Brinkmann: 3
und für die Nacht vor die Thüre gestellt hätte. Diese
Porträts illustriren sehr gut Manches aus der Geschichte
Oberösterreichs, insbesondere die traurige Zeit, in welcher
der Protestantismus durch Kaiser Ferdinand II. ausgerottet
wurde, da unter den Kommissären, die von diesem zur
Bekehrung des Landes ernannt wurden, häufig Aebte sich
befanden.
Die Einrichtung der Zimmer ist alterthüinlich im Ge-
schmacke des Zopfes, schwerfällig und nicht selten plump.
Am meisten Freude hat man noch an dem soliden, dunkel-
braunen, glänzenden Täfelwerk, das an den Thüren, deren
Einfassungen und an alten kostbaren Schränken erscheint,
alles in derselben Art gearbeitet, wie wir es in größter
Vollendung und Schönheit in den Kaiserzimmern des
Klosters Florian erhalten sehen. An allen Thüren sind
noch die großen unbehülslichen Schlösser, die wir kaum mehr
zu handhaben verstehen. Ein plumper, großer Tisch und
eine Menge Betten, drei bis vier in jedem Zimmer, macheu
mit einigen Stühleu die ganze Ausstattung aus. Es sind
dies die unbehaglichsten Zimmer, die mir je vorgekommen.
Man glaubt, die kalte Luft der Klostermauern und Kloster-
zellen bis hierher zu empfinden. Man fühlt, daß hier
niemals ein weibliches Wefen als Hausfrau gewaltet hat,
und daß die, welche hier in der Regel wohnen, die Wärme
des Familienlebens nicht kennen. In folchen Zimmern
kann es nur ein Mönch Wochen- und monatelang aushalten,
trotz des herrschaftlichen Gepräges, das sie tragen. Es
bewährt sich also auch hier wieder der Satz, daß das Haus
ein Spiegelbild seiner Eigenthümer und Bewohner ist.
So sah es in den für die Stiftsherren bestimmten
Räumen des Hauses aus. Einen ganz andern, aber nicht
weniger originellen Anblick bot das im untern Geschosse
liegende Wohnzimmer des Försters, der zugleich die
Wirtschaft ausübt, und seiner Familie dar. Da dasselbe
zugleich das Gastzimmer ist, falls nur wenig Fremde da
sind, so wurde ich dort hinein gewiesen, um mein Abend-
brod zu verzehren. Als ich eintrat, empfing mich ein
gewaltiger Dunst. Man hatte der empfindlichen Kälte
wegen fchon eingeheizt, und rings um den in einer Ecke
stehenden, riesigen, grün angestrichenen Kachelofen waren
eine Menge feuchter Kleidungsstücke aufgehängt, um zu
trocknen. Röcke, Beinkleider, Strümpfe, Handtücher, ein
halbes Dutzend steyrischer Hüte mit breitem grünem Bande,
die dem Förster und seinen Jagdgehülfen gehörten, und
sogar ein Paar große, bis über die Schenkel reichende
Wasserstiefeln baumelten hoch oben an einem der zahlreichen
Stangen des ausgedehnten Trockengerüstes, womit der
Ofen von allen Seiten umgeben war. Noch höher, an dem
mächtigen Onerbalken der von Rauch geschwärzten Decke
hingen aufgespannt und mit der Spitze nach unten gekehrt
ein rother und ein grüner Regenschirm von Baumwolle.
Unten lief rings uiu den Ofen eine Bank, und, wie dies in
der Regel der Platz der Alten und Kranken ist, so lag hier
auf dem hintersten Theile derselben in Kissen gehüllt ein
krankes Kind, das bei meinem Eintritte neugierig den Kopf
emporreckte.
Die andere Hälfte der Wand, an welcher der Ofen
stand, gleich links vom Eingang, war die Rüstkammer des
Försters. Es waren hier allerlei Mordgewehre ansge-
hängt, mehre einfache und doppelläufige Büchsen, Stutzen,
Pistolen von verschiedenen Längen, ein Hirschfänger und
ein Jagdmesser, und unter ihnen paradirte als Sieges-
trophäe das sauber getrocknete Fell eines weißen Hasen,
eine Gattung, die in den österreichischen Alpen nicht selten
vorkommen soll.
s Almthal und der Almsee.
Neben der Thüre, in der sich ein kleines Guckloch
befand, tickte eine fchwarzwälder Uhr, auf der andern Seite
hing ein Erucisir und ein Gefäß mit Weihwasser. An der
dein Eingange entgegengesetzten Wand waren mehre Bretter
angebracht, aus denen allerlei zur Haushaltung gehörige
Gegenstände lagen, unter anderen auch drei dicke, weiße,
abgestumpfte Eylinder, die aber nicht, wie der Fremde
glauben wird, aus Zucker bestanden, fondern aus Salz, das
überall in Oberösterreich in dieser Form verkauft und auf-
bewahrt wird. Unter dem untersten Brette hing ein Rosen-
kränz und ein Kalender, „der Linzer Bothe".
Das Zimmer hatte zwei Fenster, die, wie man es in
allen Dörfern und Marktflecken Oberösterreichs antrifft,
mit starken, rautenförmig in einander verschlungenen Eisen-
gittern gegen außen geschützt waren, und an dieser Wand
stand der Tisch in einer Ecke. Aus demselben war gerade
das Abendessen für den Förster und feine Familie anfge-
tragen, als ich nach Umwechslung meines Fußzeuges wieder
eintrat, um zu Abend zu essen. Der ganze Haushalt,
Herr und Frau, Jägerburschen, Knechte und Mägde, war
im Zimmer versammelt, um sich zu Tische zu setzeu. Ohne
im geringsten Notiz von mir zu nehmen, stellten sie sich in
einen Halbkreis, sprachen in jenen schauerlichen Tönen, an
die ich mich noch immer nicht gewöhnen kann, die ersorder-
liche Zahl von Ave Maria und setzten sich dann zum Esseu
nieder. Daß bei der Gelegenheit nicht ein einziger Stuhl
für mich übrig blieb, kümmerte weder Wirth noch Wirthin.
Ich mußte auf meiuen müden Beinen so lange stehen, bis
jene Gesellschaft abgetafelt hatte. Dann durfte auch ich
mich setzen und erhielt auch nach einiger Zeit etwas zu essen.
Aber die Wirthin, die es mir brachte, machte immer eine
so krause Stirn und ein so ärgerliches, verdrießliches Ge-
ficht, daß man deutlich erkennen konnte, wie die guten Leute
die ganze Wirthschast nur als eine Last ansehen, von der sie
sich gern befreien möchten.
Nach Tische versuchte ich mit dein Wirthe eine Unter-
Haltung anzuknüpfen. Aber alle Mühe, die ich aufwandte,
um ihn gesprächig zu machen, war vergebens, obgleich doch
sonst Jäger und Förster am leichtesten zum Sprechen und
Erzählen zu bringen sind. Er zog sich auf seine Bank
hinter dem Oseu zurück und unterhielt sich mit seinen
Dienstboten. Statt mich daher noch länger in dieser wider-
wärtigen Umgebung zu ärgern und zu langweilen, verließ
ich die dumpfe, ungastliche Gaststube und suchte die Gesell-
schast der grimmig blickenden Aebte in meiner Schlafstube
auf, die mir am Ende deun doch noch lieber waren als jene
Protzigen Bauern.
Freilich, als ich nun mit Muße die Gesichter dieser
werthen Herren, mit denen ich für die Nacht das Zimmer
theilen sollte, musterte, hätte ich wohl mit Kent in König
Lear sprechen können:
I have seen better faces in my time,
Than Stands on any Shoulder tliat I see
Before me at this instant.
Ich sah mitunter bessere Gesichter _
Als hier auf irgend einer Schulter jetzt
Vor meinen Augen stehn.
Und wer stand mir dafür gut, daß nicht der eine oder
andere derselben, der sich während seines Erdenwallens
durch seinen Eiser für die Ausrottung des Protestantismus
in Oberösterreich ausgezeichnet hatte, einen Ketzer in mir
riechen und aus feinem Nahmen herausgeschritten kommen
würde, um mich zu bekehren, vielleicht mit Anwendung
derselben unfehlbaren und unwiderleglichen Argumente,
mit denen man im 17-^ Jahrhunderte zu bekehren pflegte.
So viel kann ich wenigstens versichern, daß mir allein in
Friedr. Brinkmann: Dl
dieser Gesellschaft durchaus nicht behaglich zu Muthe war,
und zuweilen ein Grauen mich anflog, besonders wenn
mein Blick den einen schwarzen Burschen mit den unHeim-
lichen Augen streifte, was ich daher immer zu vermeiden
suchte.
Andererseits konnte ich jedoch nicht umhin, den: einheit-
lichen, cousequeuten Charakter, den durch Alles dieses der
Almsee erhält, meine Achtung zu bezeugen. Die rauhen,
wilden Berge, der in den Sommer hineingeschneite Winter,
das Seehaus selbst, feine jetzigen Bewohner und die Geister
seiner früheren Eigenthümer: Alles steht in schönster Har-
monie mit einander, Alles ist im höchsten Grade ansge-
zeichnet durch die abstoßende Kälte und Unfreund-
lichkeit, durch eiue Düsterheit (dulness), die nur zu oft
den Beigeschmack des Dämonischen erhält. Im Gefühle
dieser Situation mag ein Fremdling, der sich im Seehause
zu Bette legt, wohl den Seufzer ausstoßen:
Von der menschlichen Hülfe so weit,
Unter Larven die einzige fühlende Brust,
Allein in der gräßlichen Einsamkeit. —
Als ich am andern Morgen aufwachte, goß der Regen
noch in Strömen hernieder, und ich befürchtete schon, ich
werde uoch einen ganzen Tag und eine zweite Nacht im
Seehause zubringen müssen, eine Ausgabe, vor der auch
das geduldigste der Menschenkinder zurückgebebt wäre.
Gegeu Mittag wurde jedoch der Regen gelinder, die Lust
heller, gegen Norden über der Ebene zeigte sich ein Stückchen
blauen Himmels, es vergrößerte sich mit überraschender
Schnelligkeit, bald riß auch die Wolkendecke über den
Bergen im Süden entzwei, und die ganze Landschaft des
Almsees lag rein und klar vor meinen Augen.
In der so ganz andern Stimmung, welche Sonnen-
glänz und Himmelsbläue über die Gegend ergoß, mußte
ich mir gestehen, daß diesen Bergen, als sie sich aus der
Hülle der Wolkeu in wunderbarer Reinheit herausgeschält
hatteu und uuu in ihrem blendend weißen Gewände von
srisch gefallenem Schnee da standen, umflossen von tiefer
Himmelsbläue, während hier und da noch ein Flöckchen
zarten Nebels um die Spitzeu spielte, etwas Majestätisches
innewohnte und sie als ein recht sprechendes Sinnbild
„kalter Erhabenheit" (eolä sublimity) erschienen, wie
Byron die Alpen so treffend nennt. Indessen konnte ich
andererseits nicht verkennen, daß in dieser völligen Ent-
hüllung der Mangel der Landschaft an eigentlich malerischer
Schönheit, an Harmonie der Formen und Abrundnng zu
einem Bilde zu sehr hervortritt. Die Berge des Almsees
thitu ihre größte Wirkung, wenn sie halb verhüllt gesehen
werden, hier und da eine Spitze, dort ein Abhang hervor-
tritt und die Phantasie gereizt wird, das Verhüllte sich
schön auszumalen. Daun haben sie auch am meisten
Charakter und Physiognomie, während, wenn sie im hellen
Glänze des Mittags da liegen, man leicht aus den Ge-
danken kommt, daß solche Landschaften von gleicher und
größerer Schönheit sich zu Dutzenden in den Alpen
finden. —
Ganz anders wieder ist der Eindruck, deu die Gegeud
in einer warmen „prächtigen Sommernacht" macht, wenn
die Dunkelheit in ihren verschiedenen Graden und das
Mondeslicht ihre Zauberkünste üben und so gewaltig aus
die Phantasie wirken. Adalbert Stifter hat uns in seinen
„Studien" (1. Band: „Feldblumen") eine meisterhafte
Beschreibung von einer mondbeleuchteten Sommer-
nacht am Almsee gegeben. Er schildert nns, wie „die
Gebirge in der phantastischen Dunkelheit in immer stillere
und größere Massen schmelzen, wie der See stets starrer
Almthal und der Almsee. 147
und schwärzer wird, und nur hier und da mit einem
schwachen, uugewisseu Lichtchen aufzuckt, wie Berg und
Thal und See immer tiefer in die schlummerige Luft
zurücksinken und dann auf einmal die Mondesaurora
erscheint."
„Ein lichter Schein", heißt es weiter, „stand unten am
Rollberge und klomm längs der steilen Kantendes Felsen,
der ordentlich schwarz gegen diesen Schimmer stand, bis
der Mond endlich ans dem Gipfel des Steines wie ein
großes Freudenfeuer emporschlug zum Himmel, an dem
schon alle Sterne harrten. Er trennte sich sodann und
schwamm wie eiue losgebundene, blitzende, weiß glühende
Silberkugel in den dunklen Aether empor — und Alles
war hier unten wieder hell und klar — die Berge standen
wieder alle da und troffen von dem Weißen niederrinnenden
Lichte, das Wasser trennte sich und wimmelte von Silber-
blicken, ein Lichtregen ging in dem ganzen Bergkessel nieder,
und jedes feuchte Sternchen und jedes thauige Gräscheu
hatte seinen Funken."
Freilich muß nun am auderu Tage der Maler, dem
diese Schilderuug in den Mund gelegt wird, sich darüber
wundern, daß der See so klein ist, und er bemerkt mit
Recht : „Das zauberische Nachtlicht hatte mir Alles in seinen
Schleiern auseinander gerückt und vergrößert." Es muß
eben, wie wir oben sagten, am Almsee immer die Phantasie
thätig sein, um die Mängel der Landschaft zu ergänzen,
und dazu eutweder durch Wolken und Nebel oder durch
Nachtdunkel und Mondschein gereizt werden. Die mond-
beleuchtete Nacht mag allerdings der Gegend am günstigsten
sein, in ihr mag der düstere, schwermüthige Charakter der-
selben idealisirt werden und etwas Mystisches erhalten und
so dieses Beiwort, welches die Oesterreicher dem Almsee
zuweilen geben, sich erklären.
Ob bei dem Ausdrucke „der mystische Almsee"
vielleicht auch eiue Erinnerung au die mehr als tauseud-
jährige Geschichte des Sees und an Karl den Großen, der
den See an Kremsmünster schenkte, hineinspielt, weiß ich
nicht. Jedenfalls werden wir an Karl den Großen durch eiue
Eigenschaft des Sees, die mit der Mystik sehr wenig zu
thun hat, bestimmter als durch alles Andere erinnert, durch
diejenige, welche Karl wohl besonders im Auge hatte, als er-
den Almsee dem Kloster gab, und deretwegen dieser zu allen
Zeiten eiu besonders angenehmes Besitzthum für die Stifts-
Herren war. Der See ist nämlich — und damit kommen
wir im Sprunge gleich aus der Poesie in die derbste Prosa
hinein — sehr reich an einer gewissen, besonders schmack-
haften Art von Forellen, die dem frommen Karl vor-
trefflich dazu geeignet zu fein schienen, den Stiftsherren
das Fasten weniger beschwerlich zu machen. Dieser in
ihn gesetzten Erwartung hat denn nun auch der See mit
gewiß seltener Treue über 1009 Jahre eutsprocheu und er
versorgt noch zur Stuude die Klosterküche mit köstlicher
Fastenspeise. Alle Forellen, die gefangen werden, müssen
den Weg nach Kremsmünster wandern, den schon so viele
Millionen ihrer Brüder, Vettern, Ahnen uud Urahueu
gemacht haben. Nur selten kann der Fremde einige im
Seehanse erhalten, und immer nur zu sehr hohen Preisen.
Es ist dies um so empfindlicher, als die Verpflegung des
Fremden hier eiue fehr dürftige ist, Fleischspeisen gar nicht
zu haben sind, falls nicht gerade Wildpret im Hause ist. —
Ehe wir vom Almsee Abschied nehmen, wollen wir
noch ein Wort über seine weitere Umgebung und seine
Verbindung mit anderen Alpenthälern sagen.
In einem weniger regnerischen Sommer als der letzte war,
kann man vom Almsee aus in den verschiedensten Rich-
19*
148 Frledr. Brinkmann: $
tungen in die Berge Oberösterreichs eindringen und gennß-
reiche Wanderungen unternehmen. Nächst dem Wege nach
Scharnstein, der einzigen Fahrstraße, wodurch der See mit
der Kultur in Verbindung steht, wird kein Weg von oder
zn dem Almsee häufiger gemacht, als der über das Todte
Gebirge nach Aussee in Steyermark führende Fußsteig. Es
ist das ein starker Tagemarsch von 19 bis 12 Stunden,
aber nur mit Führer zu unternehmen und nur wenn das
Gebirge noch frei von Schnee ist. Dieses war nach dem
starken Schneefalle seit Mitte Augusts nicht mehr zu Passiren,
und ich mußte es daher aufgeben, auf diesem Wege nach
Steyermark zu kommen. Noch schöner sollen die beiden
Wege sein, welche von hier so recht mitten in die Gebirgs-
Welt Oberösterreichs hineinführen. Der eine geht gegen
Osten zum Offensee und weiter ins Trannthal, wo er
zwischen Ebensee und Ischl einmündet, der andere gegen
Westen über den sogenannten Ring nach der Hetzan, und
längs den Seen desselben Namens weiter bis ins Steyer-
thal, das er zwischen Klaus und Dirnbach berührt. Nament-
lich wurde mir von vielen Seiten der Ring als ein vor-
trefflicher Punkt gerühmt, um das Gebirgspanorama des
Großen Priels von der dem hintern Stoder entgegenge-
setzten Seite zu überblicken.
Man deuke aber nicht, daß der Förster am Almsee
sich gemüßigt gefunden hätte, mir diese Aufschlüsse über die
Umgegend zn geben. Ich habe das erst später erfahren,
würde übrigens auch damals keinen Gebrauch davon haben
machen können, da alle diese Wege damals nicht zu Passiren
waren. So trat ich denn bald nach Mittag meinen Rück-
weg nach Scharnstein an.
Bei den: heitern Wetter, welches mich jetzt begünstigte,
erschien mir die Gegend, die mir am vorigen Tage Regen
und Wolken verdeckt hatten, völlig neu. Auf dein ganzen
Wege bietet sich dem Wanderer eine solche Fülle von
schönen, echt malerischen Bildern, daß ich nicht anstehe, das
Almthal in dieser Beziehung hoch über den Almsee selbst
zu stellen. Gleich Habernan, wohin wir nach einer Stunde
kommen, hat eine köstliche Lage. „Der Platz ist wunderbar
lieblich", sagt Stifter (a. angeführt. O.), „eine heiter grüne
Wiefe in sanften Wellenbildungen, rechts ein dunkler Wald
— vor uns die wunderlichen Felsen des Almseegebirges,
und links tief zurück der hohe und kleine Pciel, die lichten
Häupter in finsterer Bläue badend — kein Lüftchen ^
blendender Sonnenschein." Der Ort liegt aber schon in
einer eigenen, von dem Bergkessel des Almsees durch eiue
Einengung getrennten Abtheilung des Thales, und diese
erstreckt sich etwa bis eine halbe Stunde nordwärts. Hier
treten die Thalwände wieder näher zusammen, und es
beginnt ein ähnlicher Gebirgskessel. So besteht das ganze
Almthal von seinem Anfange am Todten Gebirge bis
Scharnstein aus einer Reihe von sechs aufeinander folgen-
genden Gebirgskesseln. Der erste ist der des Almsees,
der zweite die Habernan, im Mittelpunkte des sechsten liegt
Grünau. Die drei übrigen sind durch Dörfer nicht zu
bezeichnen, treten aber sehr bestimmt hervor, selbst wenn
man seine Aufmerksamkeit nur auf die Straße richtet, da
jedesmal da, wo zwei Thalkessel zusammenstoßen, die
trennende Wand an dem Steigen und Fallen der Straße
bemerkbar ist, im Uebrigen diese immer eben dahin läuft.
In früheren Bildnngsperioden der Erde sind diese Kessel
wahrscheinlich eben so viele Seen gewesen, bis der Almbach
sich durchbrach und so ein Abfluß gegen Norden entstand.
Die durch diese Thalgestaltung bedingte Form der
Bergwände bietet dem Wanderer fortwährend eine wahre
Augenweide, sobald er aus den: Walde herausgetreten ist,
s Älmthal und der Almsee.
durch welchen sich der Weg vor und hinter Habernan auf
eine weite Strecke hinzieht. Die einzelnen Gebirgskessel
grnppiren sich aus einzelnen, selbstständig hervortretenden
Bergen zusammen. Diese sind runde, gewölbte Gestalten,
mit sehr stumpfem Winkel als Spitze oder auch oben ganz
abgerundet. Sie sind von mäßiger, aber immerhin impo-
santer Höhe, salleu gegen das Thal steil ab, streichen aber
in sehr langgestreckten Linien in der Richtung nieder, wie
das Thal läuft, und sind von: Fuße bis zum äußersten
Scheitel dick belaubt. Wendet man sich nun gegen Süden
nach dem Almsee, so sieht man über diesem lieblichen
Vordergrunde die verschiedenen Bergkessel ihre Wände
malerisch in einander verschlingen und darüber hinten in
breiter, majestätischer Gestalt das schneebedeckte Todte Ge-
birge anfragen.
Diese außerordentlich wechselnden Blicke sind es, was
bei heitererem Wetter, als mir am vorigen Tage zu Theil
geworden war, der Wanderung thalanfwärts ihren beson-
dern Reiz verleiht. Die Wanderung thalabwärts gewinnt,
wie überall, ihr Juteresse besonders dadurch, daß man
bemerkt, wie beim Herabsteigen vom rauhen Gebirge zur
Ebene das dort halb eingefrorene Leben allmälig immer
wärmer und voller pnlsirt, ein Schauspiel, das, so oft es
sich auch auf Gebirgswanderungen wiederholen mag, doch
jedesmal in eigentümlicher Weife sich gestaltet und jedes-
mal einen besondern Reiz für den empfänglichen Wanderer
hat. In diesem Thale sind es besonders die mensch-
lichen Ansiedlungen, in denen sich jener Zng aus-
spricht. Gleich nachdem man aus dem Walde von Habernan
herausgetreten, sieht man das erste Haus vor sich liegen.
Es ist die uns schon bekannte Pionir-Kaserne. Nach einer
Weile taucht aus dem Grün der Bäume das erste weiß
angestrichene Haus mit grünen Fensterläden hervor, und
in diesem heitern Gewände erscheinen nun die meisten Woh-
nungen, alle einzeln gelegen, bald auf der Thalsohle, bald
ans dem reizenden, in herrliches Grün gekleideten Hügel-
lande, das sich in der Regel zwischen den Bergen und der
Thalebene gebildet hat. Sie machen alle in ihrem höchst
säubern Aussehen den Eindruck von Wohlhabenheit und
sind mit wenigen Ausnahmen Holzschneidemühlen, worauf
die großeu dabei liegenden Haufen von geflößtem Holze,
meistens dicke, 6 bis 12 Fuß lauge Stämme, hinweisen.
Die Sensenschmiedehämmer finden sich erst in Scharnstein,
dort aber gleich in großer Anzahl. Das Holz und die
Sensen sind die beiden Gegenstände, wodurch die Bewohner
des Thales ihren Lebensunterhalt erwerben. Die Vieh-
zucht ist unbedeutend, und Ackerbau fehlt oberhalb Grünau
fast gauz. Daher findet man in den größeren Wirths-
Häusern des Thales regelmäßig über einem Tische ein Floß
hangen und über einem andern eine Sense.
Der Fluß aber, der all dies Leben nährt, der das aus
den Bergen gehauene Holz herabträgt, die Schneidemühlen
und Sensenschmiedehämmer treibt, kommt, je mehr man
herabsteigt, auch immer mehr zum Vorschein, da die Straße
häufig von einem Ufer auf das andere hinübergeht, und
belebt die ganze Landschaft. In demselben Maße endlich,
wie die menschlichen Ansiedlungen zahlreicher werden, wird
auch das Wiesenland der Thalsohle ausgedehnter, und die
Lanbholzbänme treten häufiger und in dichteren Massen
unter dem Nadelholze hervor^ und ziehen sich zwischen
diesem hoch zu den Bergen hinan. Selbst Apfel- und
Kirschbäume finden sich in Menge vom vierten Thal-
abschnitte an.
Das Behagen, womit ich diese untere Thalhälfte durch-
wanderte, wurde noch dadurch erhöht, daß es gerade
Der Krieg zwischen den holländischen
Samstag Abend war. Die Sabbathruhe hatte sich schon
über die Gegend gelagert. Es begegneten mir viele Holz-
schneider mit der Säge und dem Brodsacke ans dem Rücken,
welche die Woche über in den Bergen gearbeitet hatten und
den Sonntag bei den Ihrigen zuzubringen gedachten. Die
Schneidemühlen standen schon alle still. Der blaue, sich
kräuselnde Rauch stieg so traulich ans den weit zerstreuten
Wohnungen aus, und die grünen Berge schauten in seier-
lichem Ernste auf das friedliche, in den goldenen Strahlen
der Abendsonne daliegende Thal hernieder. Nur der grau-
liche, Pfeilschnell unter den Brücken dahinschießende Strom
wußte nichts von Ruhe.
So kam ich denn mit Einbruch der Dunkelheit nach
Grünau, übernachtete hier und gelangte am folgenden
Tage wieder nach Scharnstein. Grünau ist der Hauptort
des Thales, um den das ganze Leben der Kultur sich am
höchsten entwickelt findet. Es führt seinen Namen mit
Recht, es ist wirklich ein durch und durch grünes Thal,
eine in das mannigfaltigste Grün gekleidete Au. Besonders
tritt eben so wohl im Thale als an den Abhängen der
Berge der prächtige Baumwuchs bei einem allgemeinen
Ueberblicke hervor. Unmittelbar neben dem Flusse liegt
aber auch manches herrliche Stück Wiesenland, und die
freundlichen Häuser stechen überall ans dem Buschwerke her-
aus. Letztere stehen bald einzeln, bald in kleinen Gruppen
von vier bis sechs zusammen, zuweilen folgen sie vom Thale
zu den Bergen ansteigend terrassenförmig übereinander.
Auch die Häuser des Dorfes selbst hangen, ebenso wie die
von Scharnstein, nur sehr lose zusammen. Ein jedes ist
umgeben von Wiesenland, Garten oder Baumhof. Bald
sind sie ganz massiv aus Steinen gebaut (und das ist als
die Regel anzusehen), bald ist es nur der untere Theil,
und alle sind gedeckt mit Holzschiudeln. Die größeren
haben Dachluken mit metalleueu Spitzen, zuweilen findet
sich auch bei besonders stattlichen an einer Ecke ein knppel-
Bauern der Oranjefluß - Republik :c. 149
förmig auslaufeuder Thurm, wie es häufiger in den Markt-
flecken und Städten Oberösterreichs vorkommt.
Besonders bemerkenswerth erschien mir aber im
Häuserbau dieses Thales, wie all der anderen Thäler
Oberösterreichs, die ich später gesehen habe, des Krems-
thales, des Steyer- und Eunsthales, daß das so malerische,
durch sein weit ausladendes, steinbeschwertes Dach und
seine Gallerten (Lauben) ausgezeichnete, meist aus Holz
gebaute Alpeuhaus (das sogenannte Schweizerhaus) uir-
geudwo in diesen Thälern sich findet, obgleich es in dem
unmittelbar angrenzenden Salzkammergute und dem Inn-
viertel von den Alpen bis an die Donau die fast ausnahms-
lose Regel aus dem Lande bildet, und von da an gegen
Westen durch die ganze Alpenkette, die bayrischen, Salz-
burger-, Tyroler-, Schweizeralpen und den Schwarzwald
sich erstreckt. Hiernach würde die Linie der Traun die
östliche Grenze des Schweizerhansstyls als ländlichen Bau-
styls sein. In dem ganzen östlichen Oberösterreich ist das
gewöhnlich städtische Haus, mit hohem, vierseitigem, in
einen ziemlich scharfwinkligen First auslaufendem Dache,
auch das Haus des Bauern. Deu Gruud diefes auffallen-
hen Unterschiedes des östlichen vom westlichen Oberösterreich
vermag ich mit Bestimmtheit uicht anzugeben, vermnthe
aber, daß ihm eine Verschiedenheit in dem natürlichen
Reichthum der einzelnen Länder an Holz oder Steinen, und
somit eine Verschiedenheit in den Preisen dieser Baumate-
rialien zu Gruude liegt, da das Schweizerhaus da besonders
angezeigt ist, wo Holz billig und Steine theuer sind. Die
Leute hier zu Laude, die ich darüber srug, spracheu nur mit
der größten Verachtung von jenem hölzernen Alpenhause
und meinten, ihre Art mit Steinen zu bauen sei unver-
gleichlich besser. Und für ihr Land mögen sie Recht haben.
Denn das Holz ist hier zwar in Menge vorhanden und sehr
billig, aber an Steinen sehlt es auch nicht, und so sind
diese wegen der größern Solidität immerhin das zweck-
mäßigere Baumaterial. —
Der Krieg zwischen den holländischen Dauern der Dranjefluß-Republik und den
eingebornen Msutos.
Im südöstlichen Afrika, nördlich vom Garip oder
Oranjestrome, nimmt ein Prozeß, der schon vor Jahren
begonnen hat, seinen blutigen Fortgang, und das Ende ist
vorauszusehen. Ueberall, wo aktive weiße Menschen mit
dunkelfarbigen Leuten ein und dasselbe Land bewohnen,
oder wo beide Rassen dicht aneinander grenzen, wird die
dunkle Farbe unterliegen. Die eingebornen Krieger mögen
noch so tapfer fein, sie mögen Recht oder Unrecht haben, —
gleichviel, wir können diesen Prozeß überall verfolgen, in
Asien, in Afrika, im hinterindifchen Archipelagus, auf Neu-
seeland und in Amerika. Der kaukasische Meusch behält
aus die Dauer allemal deu Sieg.
Oestlich von den Hottentoten lebt, über ein weites Ge-
biet verbreitet, ein Völkerschlag, welchen man mit dem
Namen der Kasfern bezeichnet. Die verschiedenen Stämme
haben unter sich keinen engern Zusammenhang; sie stehen
unter erblichen Häuptlingen und sind zumeist streitbare
Menschen. Die Bitschuanas aus dem innern Hochlande
bilden eine dieser Kafferugruppen, und als einen Zweig
derselben betrachtet man die Basutos, deren Land von der
Capcolonie, Britisch Kasraria und der Oranjesluß-Repu-
blik umschlossen ist.
Die Engländer haben lange Jahre mit den Kafseru
blutige Kriege geführt und denselben einen nicht geringen
Theil ihres Landes abgenommen. Die Kassern treiben
vorzugsweise Viehzucht, und die Fehden mit den Weißen
Ansiedlern hatten zumeist ihren Ursprung darin, daß die
Kaffern Raubzüge unternahmen und Heerdeu forttrieben.
Die Holländer, welchen früher die Capcolonie gehörte,
übten allemal prompte Justiz in ihrer Weise; sie züchtigten
die Räuber und schössen die Rädelsführer todt. Als die
englische Regierung dagegen Einspruch that und die hollän-
dischen Colouisten sich auch iu anderer Beziehung beein-
trächtigt glaubten, sich überhaupt gekränkt und beengt
sühlten, zogen sie zu taufenden niit Weibern, Kindern,
Heerden und anderer fahrender Habe nach Norden und
bildeten dort zwei Freistaaten: die Transvaal-Republik,
welche im Norden vom Limpopo begrenzt wird, und südlich
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150
Der Krieg zwischen den holländischen Bauern der Orcinjefluß - Republik x.
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von dieser den Oranje River-Freistaat, welcher im
Süden vom Oranjefluffe begrenzt wird.
Das Land der Basntos ist im Norden und Westen
von dieser Republik derBoers (sprich Buhrs, d.h. Bauern)
umschlossen, und die letzteren haben von jeher Ansprüche
aus dieses schöne, gesunde und wasserreiche Gebiet, das
„Lessuto", gemacht. Grenzstreitigkeiten blieben nicht
aus, Bauern und Basntos siud von jeher erbitterte Feinde.
Die Regierung der Capcolonie suchte zu vermitteln; der
eine Theil machte eine lange Reihe von Beschwerden geltend
und der andere gleichfalls, doch wurde zugestanden, daß die
Bauern durch Basutoräuber vielfach geschädigt worden
seien und Anspruch auf Genugthuung hätten. Zu einer
solchen waren die „Wilden" nicht geneigt; der Krieg begann
und wird mit großer Erbitterung geführt. Es verschlägt
dabei wenig, wer im Rechte ist; beide Theile werden wohl
manche Gewalttätigkeiten auf dem Kerbholze haben. Wir
wiederholen, was wir oben sagten: wo Leute von zweierlei
Hautfarbe zusammenstoßen und verschiedene Interessen
haben, dort werden Feindseligkeiten nicht ausbleiben, und
der Sieg bleibt der aktiven Rasse.
Seit länger als einem Vierteljahrhundert entwickeln
die protestantischen Missionäre im Lande der Kassern eine
große Thätigkeit, und sie haben mit einer leicht erklärlichen
Vorliebe Partei für die dunkelfarbigen Leute genommen,
sie sind auch nicht gut auf die Boers zu sprechen; wir wissen
das aus den Berichten Livingstone's und Moffats. Im
Lande der Basutos hat die pariser „Gesellschaft für evange-
lifche Missionen" eine nicht unbeträchtliche Anzahl von
Stationen gegründet und sich eifrig bemüht, das Ansehen
der Zauberer, Doctoren und Regenmacher zu untergraben.
Sie zählen in ihren 18 Stationen 1676 Commnnicanten,
52 Leute „unter Disciplin"; zur Tause Vorbereitete 535;
die Schulen werden besucht vou 726, und der Gottesdienst
wird in ruhigen Zeiten besucht von 2860 bis 3960 Jndi-
vidnen.
Die gegenwärtige Lage der Dinge ergibt sich aus einigen
Berichten, welche wir im Septemberhefte des pariser Jour-
nals des Missions evangeliques finden; wir wollen das
Wesentliche aus deuselben mittheilen. Die verschiedenen
Stationen sind: Morija, mit den Nebenstationen Kolo,
Molomo, Tsito und Mofoka; Thaba Bofsin (im Thale des
Caledon und Wohnort des Häuptlings Moschesch); Beer-
seba; Meknatling; Bethesda, mit der Nebenstation Tha-
baneng; Ber6e; Hebron; Hermon; Carmel, gegründet
1863; Mabnlele (1863); Leribeh; Thabana-Morena mit
der Nebenstation Siloeh.
„Die Stationen sind von den Bauern überrumpelt und
geplündert worden; die Ernten zerstört, die Leute ins Ge-
birge geflüchtet, alle unsere armen Christen, auch die Kate-
chisteu und Schulmeister von ihren Hirten getrennt, dem
Hungertods preisgegeben und auch die Missionäre ohne
Verbindung untereinander. Die Bassntos hatten sich, im
Juli 1865, iu die unzugänglichsten Gebirge zurückgezogen
und dort ihre Familien und Heerden iu Sicherheit gebracht.
Die Boers, welche früher eiue Niederlage erlitten, waren
darüber im höchsten Grade erbittert, besonders weil die
Basutos dann eine schreckliche Razzia (Raubzug) unter-
nommen hatten. Sie zogen ihre gesammten Streitkräfte
zusammen, hatten viele Kanonen, drangen von drei vex-
schiedenen Seiteu her ins Lessuto ein, zerstörten auf ihrem
Wege Alles, und dann vereinigten sich die drei Abthei-
lnngen vor Thaba Bossiu, dem Hauptorte der Basutos.
Die letzteren mußten denselben verlassen und zogen sich iu
das hohe Maluti-Gebirge (die „blauen Berge" zwischen
dem Caledon und dem Oranje) zurück."
Der Herausgeber des ebengenannten Missionsblattes,
welcher in obiger Weise die Sachlage schildert, betont, daß
er sich aus Recriminationen über die Veranlassung des
Krieges uicht einlassen wolle. „Wir beugen lieber das
Haupt und bitten Gott um Gnade und Vergebung für das
Volk, dessen religiöse und gesellschaftliche Erziehung er uns
anvertraut hat. Wir thnn das für die Häuptlinge, die
ein schweres Unrecht begingen, als sie die Raubzüge gestat-
teten und sich demoralisiren ließen durch eine Lage, deren
Gefahren nur durch eiue strenge Gerechtigkeit beschworen
werden konnten. Wir thun es für die Bafutos, welche als
Volk das noch viel größere Unrecht begangen haben, daß
sie Gott nicht früh genug erkannten." Dann folgen Be-
merken über die „Namenchristen", nämlich die Bauern,
als welche ländergierig seien und eine Provinz nach der
andern sich anzueignen bestrebt seien. Uebrigens habe
Brand, der Präsident des Freistaates, angeordnet, daß den
Missionären nichts zu Leide gethan werde, auch sollen ihre
Missionsgebäude und ihr persönliches Eigenthum unange-
tastet bleiben.
Der bekannte Missionär, Dr. Casalis, welcher
ein lehrreiches Werk über die Kaffern geschrieben hat,
meldet ans Beerseba unterm 2. August 1865, daß
Mekuatling, Mabulele, Hebron und Bethesda von den
Boers verbrannt worden seien, Hermon dagegen sei noch
unangetastet. Easalis begab sich durch eine völlig verwüstete
Gegend nach Morija, das einem großen Grabe glich;
„selbst der hinkende Schulmeister Philemou Rapetloane
hatte dasselbe verlassen! Niemand könne absehen, welchen
Verlauf die Dinge nehmen würden. Die Basntos haben
auf ihren Zügen, nachdem sie angegriffen worden waren,
tausende von Ochsen und Kühen geraubt und alle Boers,
welche ihnen in den Weg kamen, ohne Gnade und Barm-
Herzigkeit massacrirt, Frauen und Kinder jedoch verschont.
Unser Missionswerk scheint zu Grunde gerichtet, und wenn
eine neue Grenzlinie gezogen wird, werden wohl manche
unserer Stationen von Lessnto abgetrennt werden. Es ist
möglich, daß die humanen Absichten des Präsidenten Brand
nicht von allen Boers getheilt werden, und daß Mauche es
auf die Missionäre abgesehen haben."
In einem andern Berichte wird geklagt, daß Lessuto von
Seuchen, Dürre, Krieg, Hungersnoth, Diebstahl, Aber-
glauben und Widersetzlichkeit der Häuptlinge heimgesucht
worden sei. Auch die Heuschrecken haben Verwüstungen
angerichtet. Nachdem die Boers ihren Kriegszug angetreten
hatten, flüchteten manche Basutos so eilig in die Berge,
daß sie uicht einmal etwas Korn mitnahmen.
Der Häuptling Moschesch, welcher schon seit 1830 eine
hervorragende Rolle spielt, hatte in Thaba Bossiu sich gegen
das Christenthum sehr feindselig benommen; zwar benahm
er sich äußerlich gegen die Missionäre recht artig, „aber sein
Uebelwollen trat oftmals empfindlich genug zu Tage".
Wir unsererseits meinen, daß er als Oberhaupt und nach
afrikanischen Begriffen schwerlich im Unrechte gewesen ist.
Die Missionäre erzählen: „Moschesch that den Christen
der Station kund, daß sie auf den Berg gehen und dort
Hütten errichten sollten, in welchen die neubeschnittenen
Jünglinge sich aufhalten würden. Die Christen thaten,
als ob sie diesen Besehl gar nicht erhalten hätten, ja einige
riefen: Wir wollen lieber sterben, als daß wir diesem Ge-
böte gehorchen."
Hier ist wieder ein Beweis, in welche Conflicte die
Missionäre und ihre Bekehrten gerathen. Jene kommen und
treten gegen alle überkommenen Vorstellungen des Volkes
und auch gegen die altüblichen Gesetze und Bräuche feiudlich
auf. Wenn nun die Neuchristen den Missionären gehorchen
W. Hausmann: Rei
und die Autorität der Häuptlinge nicht ferner achten, dann
sehen diese darin, was wir Europäer als Auflehnung oder
eine Art von Hochverrath bezeichnen würden. So wird
das „Uebelwollen" der Häuptlinge erklärlich; in Europa
würde ein Potentat viel kürzern Prozeß machen. — Auch
unter dem Volke zeigt sich vielfach Widerstand gegen die
neue Lehre, und der Jahresbericht über Leffuto klagt über
„Wiederabfall und manche Skandale". Auf den 12 Haupt-
stationen mußten etwa 50 Leute von der Theilnahme am
Abendmahl ausgeschlossen werden. Kinder von Christen
nahmen Theil an den Einweihungen, d. h. an den Festlich-
»ild aus der Walachei. 151
fetten nach der Beschneidung, die bei den Kaffern eine
bürgerliche Einrichtung ist; der Jüngling, an welchem sie
vollzogen worden ist, gilt fortan für mannbar und für
einen Krieger. Der Häuptling Monaheng hatte eine
Christin und deren Tochter prügeln lassen; viele Christen
halten noch an dem landesüblichen Zauberglauben fest. Als
zwei Christenkinder starben, gerieth das ganze Dorf in Be-
wegnng; man meinte, die Mission sei behext.
Judessen nahmen die Schukn einen gedeihlichen Fort-
gang, und der Missionär Mabille läßt ein Blatt, den
Leselinyana, in der Landessprache erscheinen. A.
Reisebild aus
Von Wilhelm Ham
Ja, angenehm, recht angenehm ist es, wo man fragen
kann: Sollen wir unsere Reisetour auf dem Schienenwege
machen und, im Fluge dahiusauseud, Städte, Dörfer, Villen
und Burgen mit ihrer lachenden Umgebung von wechseln-
dem Saaten- und Waldesgrün an uns vorüberziehen
lassen? Oder lieber die langsamere, aber noch bequemere
Wasserstraße wählen, wo wir, behaglich auf den Leder-
polstern der Cajüte des prachtvoll dekorirten Dampfers
ausgestreckt, irgend eine leichte Reiselektüre durchblättern,
deren interessanter Stoff uns bald in friedlichen Schlummer
versinken macht, aus dem wir auf die angenehmste Weise
durch das Läuten der Tischglocke geweckt werden, die uns
zur delikat besetzten Tasel ruft.
Ach wie ganz anders das Reisen in den östlichen
Ländern Europa's! Namentlich eine Tour über den hohen
Gebirgswall der Siebenbürger Alpen, durch die wildeu,
fast menschenleeren Gebirge der Walachei, möchte selbst
manchem Abenteuer suchenden Sohne Albions etwas zu
stark sein. Da gibt es noch Mühen, Gefahren und Ent-
behrungen zu bestehen, die vorkommenden Falls selbst in
Afrika oder Centralamerika nicht viel größer fein können.
Den allerdings großartigen Naturcharakter jener Ge-
genden können wir hier nicht eingehender besprechen, son-
dern müssen uns mehr mit Andeutungen und Umrissen
begnügen, die aber doch hinlänglich sein werden, dem Leser
einen genügenden Anhaltspunkt für die Beurtheiluug zu
geben. —
Die Natur selbst hat Siebenbürgen von dem süd-
licheu Nachbarlande durch eiue langfortlaufende Kette
gewaltiger Bergriesen getrennt. Die Politik beider Nach-
barländer war seit Jahrhunderten dem Baue einer bleiben-
den Kunststraße nicht günstig. Nur der Handel, dieser
ruhelose und oft waghalsige Motor des Völkerverkehrs,
kümmerte sich weder um natürliche, noch politische Hinder-
nisse und bahnte sich, wie kümmerlich immer, doch einen
Weg auch durch diese steilen, einsamen, weitgedehnten Ge-
birgsreviere. In neuester Zeit boten nun auch die Regie-
rungen die Haud und die Mittel, eine bessere und gefahr-
losere Straße zu bauen, die nun auch für eine kurze Zeit,
mit ungeheuerm Kostenaufwands hergestellt, zur Freude der
Reisenden bestand. Namentlich dem mehr verweichlichten
der Walachei.
jUll in Kronstadt.
Theile derselben, z. B. Walachischen Bojarenfamilien,
erleichterte die neue Straße den Besuch der vou ihueu so
sehr geliebten siebenbürgischen Bäder, wo sie den Sommer
in angenehmem Müssiggang verbringen konnten und dabei
die frische Bergluft der Hochebenen genießen mochten.
So lange die Straße unversehrt war, ging auch ein
sogenannter Eilwageu, — der diese schmeichelhafte Be-
nennung aber nicht immer rechtfertigte — regelmäßig von
Kronstadt nach Bukarest ab, in welchem wohl oder
übel 3 bis 10 Fahrgäste Platz haben mußten.
Romantische Gemüther, denen mehr der Genuß galt,
welchen ihnen das längere Anschauen der erhabenen Ge-
birgsnatnr gewähren mochte, vertrauten sich lieber einem
der schwerfälligen, riesigen Frachtwagen an, welche in Kisten
verpackt zahllose Flaschen des berühmten Borzeker oder
Elöpatoker Sauerwassers den immer durstigen Bukarestern
zuführen. Auch wir gehörten zu den romantischen Ge-
müthern, da wir ohnedies den Naturcharakter dieses noch
gar wenig wissenschaftlich durchforschte,: Landes studiren
wollten.
Wir hatten unsere Zeit schlecht gewählt. Gerade im
Juni und Juli 1864, wo die entsetzlichsten Wolkenbrüche in
diesen wilden Gebirgsgegenden ungeheuere Zerstörungen
anrichteten und das Reisen hier nun doppelt gefährlich
und beschwerlich machten. Wir brauchten nicht selbst die
Schiffe zu verbrennen, dafür sank ohne unser Zuthun hinter
uns der Weg in Trümmer. Gewölbte Steinbrücken
prasselten wie Kartenhäuser zusammen, uud im vollen
Sinne des Wortes stürzten Berge ein, durch die Last der
vom Wasser durchweichten Erdschichten aus ihrer Lage
gedrückt.
Die Abfahrt von Kronstadt ging noch sehr leidlich von
Statten. Die langweilige Paß - und Gepäckvisitation auf
der walachifchen Manth — Vama predealn, welche gerade
auf der Wasserscheide des Tsmesch und Praovaflusscs liegt,
genossen wir noch bei heiterem Wetter. Der 8000 Fnß
hohe Bocccs, dessen östliche Abhänge mit ihren grandiosen
Felsmassen man hier sehr deutlich sieht, blickte freilich schon
bedenklich finster und droheud aus uns herab. Aber ohne
Anstand ließ er uns bis mitten in die tiefen Waldthäler
feiner östlichen Ausläufer gelangen. Da aber brach die
152 W, Hausmann: Ne
langverhaltene Wuth der Elemente los. Unaufhörlich
rollte der Donner, fuhren grell leuchtende Blitze zur Erde,
brachen laut knackend mächtige Aeste von den alten Buchen,
polterten große Steintrümmer die steilen Abhänge herunter.
Die Wolkenschläuche zerrissen, und unheimlich brauste und
rauschte das Wasser vou allen Seiten. Trotz der Nachmittag-
stunde war völlige Dämmerung eingetreten. — Vor der
Abfahrt versicherte unser Rosselenker, daß die den Wagen
überspannende Rohrdecke vollkommen wasserdicht sei;
aber lieber Himmel! in einigen Minuten sickerte und
tropfte es durch die Decke, und bald waren die Romantik
suchenden Passagiere vollkommen durchweicht. Die Luft-
temperatur war wenig mehr als 6 bis 7 0 R., das Zähne-
klappern in diesem Zustande also sehr verzeihlich. Die
Pferde, entsetzt durch die oft dicht neben ihnen niederfahren-
den Blitze, machten kehrt und schienen Lust zu haben im
Wagen selbst Schutz zu suchen. Zahllose Peitschenhiebe
trieben sie wieder an; denn was sollte aus uns werden,
müßten wir in diesem Zustande verharren? Namentlich hier,
wo der Weg dicht und ohne Geländer oft 300 Fuß hoch
über den wüthend dahinbransenden Wirbeln und Wogen
der Praova ging.
Wir hatten schon gehört, daß in den walachischen Ge-
birgswirthshäusern kein Luxus herrsche; wir waren gefaßt
darauf, iu Bezug auf Bequemlichkeit und Comfort uns
sehr bescheiden zn müssen. Was wir aber hier erlebten
und erfuhren, war denn doch mehr als wir wünschten oder
erwarteten.
Der weibliche Theil der kleinen Reisegesellschaft, fowie
die Kinder von 1 bis 5 Jahren, welche einer der Damen
gehörten, litten natürlich am meisten. Ich selbst, obgleich
ein abgehärteter Jäger und Bergsteiger, fühlte mich hier
sehr unbehaglich, vertröstete aber doch alle die Jammernden
und Klagenden auf das nahe Wirthshans, wo wir ja von
allen Strapazen uns erholen konnten und namentlich diesem
unaufhörlichen Wassertriefen entkommen würden.
Endlich hielten unsere dampfenden, erhitzten Rosse —
nachdem der Wagen kurz vorher theils über angenehm
weiche knietiese Düngerlagen, theils über kopsgroße runde
Steinknollen gezogen wurde, — auf einem geräumigen
Hofe still. Mit der Vorderseite stand das Wirthshans an
der Landstraße. Es war ein großes, ziemlich weitläufig
scheinendes Blockgebäude, welches prahlerische Auküu-
digungen, wie z. B. Hotel, Gasthaus k. zu verschmähen
schien. Man hatte ganz einfach als Zeichen feines Berufes
einen Stecken durchs Dach gestoßen, woran vorn an einen
Bindfaden gebunden ein zerbrochenes Schnapsglas im
Winde baumelte.
Der Regen hatte nachgelassen und rieselte nur fein und
staubartig hernieder. Endlich stand Alles mitten im Hofe
neben dem Wagen und fah sich zögernd um, indem man
sich in der schmeichelhaften Erwartung gefiel, zu glauben,
daß vielleicht ein Kellner, Hausknecht, oder der Wirth felbst
erscheinen dürste, um die durchnäßten Gäste ins Hans zu
führen. Nach langem Warten trat eine stämmige Romänin,
im langen Hemde von Hausleinwand, das auf alleu Näthen
zierlich mit rother Baumwolle gestickt war, mit einer roth,
blau und schwarz gestreiften Kedriefe bekleidet, in die Haus-
thüre. Um den stattlichen Bauch schlang sich eine roth-
wollene Binde, die nervigen braunen Hände waren mit
einigen zinnernen dicken Ringen geziert. Ein großer Leder-
beutel, der mit langen Riemen am Gürtel befestigt war,
legitimirte sie als Wirthin.
Nach langem Betrachten, während unsere Damen den
Boden prüfend untersuchten, wo die denselben überflutende
bild aus der Walachei.
braune Brühe wohl am wenigsten tief sein möchte, sagte die
Wirthin im reinsten Romänisch: „Nun, auf was Wartens
denn? Wollens hereinkommen oder nicht? sonst meinet-
wegen bleibens draußen." Dieser Empfang schien uns
allerdings nicht sehr einladend, bewirkte aber so viel, daß
Alle entschlossen durch die Pfützen gingen, um nur ins
Trockene zu gelangen. Ich, als Zugführer und Wegweiser,
war natürlich der erste, indem ich zugleich das Terrain
reeognoseiren wollte; dies war leicht geschehen. Das Haus
war vermittelst eines Durchgangs in zwei Theile getrennt;
rechts ein ziemlich großes, hohes Zimmer, alles dunkel-
braun beräuchert; links ein kleineres Zimmer, worin sich
zugleich der Schenktisch befand. Dieses ließ seine sonstige
Bestimmung leicht erkennen, da rundum hölzerne Pritschen
standen, es stellte nämlich das Schlafzimmer vor. Hinter
diesem noch ein kleineres Zimmer, welches speeiell Stube
der Wirthsleute war, aber auch alle möglichen Utensilien
beherbergte. Trockene Schaffelle auf Stangen gehängt,
Säcke mit ungewaschener Wolle gefüllt, alte Stricke, rostige
Aexte k.
Als meine Reisegesellschaft eintrat, sahen wir uns aller-
dings mit sehr verlegenen Mienen an. Wohin nun mit den
nassen Kleidern, worauf sich setzen oder legen? In dem
Zimmer rechts hatten sich 6 bis 8 Gebirgswalachen, in
ihre rauhen, zottigen Buudas gehüllt, ebenfalls ganz naß,
es bequem gemacht. Ein lauger Brettertisch und zwei
rohe Bänke davor bildeten das Menblement. In der
Ecke stand ein riefiger Lehmofen, in dem das Feuer auf der
Erde brannte; über demselben war ein großer Kessel auf-
gehängt, in der Palnkos brodelte. Die Gäste hatten die
hier üblichen wollenen Zwerchsäcke neben sich, in welchen
sich Jeder auch die hier so beliebten Zwiebeln mit dem
grünen Kraute daran mitgebracht hatte. Diese langten sie
einzeln heraus, schnitten sie auf dem Tische zierlich in kleine
Theile, bestreuten das duftende Gericht reichlich mit Salz,
worauf sie mit den gesunden Weißen Zähnen die Mischung
kräftig zerkauten, mit der andern Hand in ein Tüchelchen
langend, welches alten, vielleicht vorgestern gekochten
Palukos enthielt. Die nöthige Anfeuchtung gaben zahl-
reiche Gläser eines stark schimmlich schmeckenden dünnen
Weines.
Neugier war nicht der Fehler dieser Gebirgssöhne.
Auch nicht Einer unterbrach sein lautes Gespräch, oder
rückte nur ein wenig zusammen, als wir Alle eintraten.
Trotz des qualmenden Zwiebeldampfes rieth ich doch hierher
zu kommen, des Feuers wegen. Während sich Alle schüch-
tern um den Ofen versammelten, um Hals - und Umschlage-
tücher zu trocknen und die erstarrten Händchen zu erwärmen,
sollte ich fouragiren gehen. Drüben im Schenkzimmer
stellte ich zunächst an die Wirthin die unverfängliche Frage:
„Liebe Frau, was können Sie uns zu essen geben?" „Gar
nichts!" versetzte sie lakonisch. Ich glaubte nicht richtig
verstanden zu haben und wiederholte in bescheidenstem Tone
meine Frage, worauf sie sich mit Wünschenswerther Deut-
lichkeit erklärte: „Ja glaubenSie denn, daß ich da wäre, um
für die Reisenden Brod, Fleisch, Milch ?c. parat zu halten?"
— Auf meine schüchterne Bemerkungdaß dergleichen ja
auch auderorts nicht ganz ungebräuchlich wäre, entgegnete
sie: „Warum nicht gar! jeder Gast verzehrt, was er mit-
bringt, ich gebe nur den Wein oder Schnaps dazn." Mit
dieser trostlosen Nachricht erschien ich bei meiner Begleitung.
Wir hatten allerdings etwas Brod, Schinken und Liquör
mitgenommen; da wir aber gehofft, bald Kimpina zu
erreichen, nur sehr wenig; besonders da ich früher einmal
auf der Mauth mit Schmerz gesehen, wie mein leichter
Liquör, den ich aber zufällig in eine sehr schwere Flasche
Anzeichen des Rassenk
gefüllt, gewogen wurde, und ich einen Zoll bezahlen
mußte, als hätte ich ein Faß eingeführt.
Der Fuhrmann erklärte, vielleicht 3 bis 5 Tage hier
liegen bleiben zu müssen, da vor und hinter uns die Brücken
eingestürzt seien, und bei diesem unerhörten Wasserstand kein
Wagen durch die Praova könne. Um aus alle Fälle meine
Schutzbesohleueu vor dem Hungertode zu sichern, trat ich
nochmals die Wirthin mit dem Ansuchen an, mir gegen
hohe Bezahlung mehre Maß ihres groben Maismehles zu
überlassen. „Ja Mehl kann ich nicht verkaufen, denn ich
weiß selbst nicht, wie lange der Weg gesperrt bleibt, und
dann habe ich am Ende selbst nichts zu essen." Jndeß
entschloß sie sich doch vorläufig mit einer angemessenen
Dosis auszuhelfen. Eine Nachbarin, die weit oben an:
Berge wohnte, brachte von ihrer magern Kuh ungefähr
eine halbe Maß Milch, die sie sehr splendid bezahlt bekam.
Mein Fuhrmaun steckte geheimnißvoll winkend den Kops
durch die Thüre und sagte: „Herr! Herr! kommens heraus,
ich Hab Fleisch gekauft von einem Bergwalachen, er sagt,
es sei Lammfleisch." Freudig eilte ich hinaus, besah aber
mit bedenklichen Blicken das belobte Fleisch. Der Fuß
war abgeschnitten; das Ganze zeigte sich als trocknes,
sehniges Muskelgefüge, welches allerdings dem Hinter-
scheukel eines größern Viersüßers angehört haben mußte,
ob es aber von einem Schase oder Hunde abstammte, war
mir nicht möglich mit Sicherheit zu bestimmeu. Jndeß
Noth kennt kein Gebot, und ich hütete mich Wohl, meine
Zweisel laut werdeu zu lassen.
,pfes in Nordamerika. 153
Mittlerweile hatte sich die Zahl der Gäste vermehrt.
Wettergebräunte Männer, in Hemden von gröbster Haus-
leinwand gekleidet, traten herein. Die Haare an den
Schläfen mit dem Rasirmesser bis weit zurück abgeschoren,
nur hinten lang und schlicht herunterhängend. Die weit
offenen Hemdärmel ließen die braunen, muskulösen Arme
bis hoch hinauf feheu. Das dünne Schnürchen, welches
am Halse das Hemd zusammenhalten soll, ist immer abge-
rissen, so daß die breite Brust sich stets bloß zeigt. Der
Hals war bei mehren mit einem mehr oder weniger statt-
lichen Kröpfe geziert. Als Ueberkleid trugen sie einen
engen braunen oder schwarzen Mantel, aus dem Kopfe trotz
des Hochsommers schwere schwarze Schaffellmützen, an den
Füßen die landesüblichen Opintschen. Sich keck und ver-
gnügt umblickend warfen sie den buntkarrirten Quersack
mitten im Zimmer nieder, eben so die langen Bergstöcke,
setzten sich sans gene auf die Bank, stützten beide Ellbogen
auf den Tisch, während das Gesicht bequem in den Händen
ruhte, und schallten sich dann in Erwartung der Dinge, die
da kommen sollten, die fremde Gesellschaft mit jovialer
Miene an. Nach einigen Augenblicken erschien ein kleines
barfüßiges Mädchen und reichte jedem Ankömmling ein
überlaufend volles Glas Schnaps hin, ohne ein Wort zu
sagen, oder die trübselige, indolente Miene im geringsten
zu ändern. Die Gäste nahmen übrigens davon keine Notiz,
leerten mit einem Zuge ihr Glas, welches eben so stumm
wieder gefüllt wurde, griffen dann nach ihren Säcken und
singen muuter an zu schmausen.
Anzeichen des Rsssenltt
Saturn frißt feine eigenen Kinder! Diese alte
Wahrheit findet auch jetzt in der durch Gewalt und Blut
oberflächlich wieder zusammengeschweißten „Union" ihre
Bestätigung.
Schon jetzt saugen manche Abolitionisten an, vor den
Folgen ihrer heillosen Thaten zu erschrecken. Nachdem sie
den entsetzlichen Bürgerkrieg veranlaßt und nach vierjäh-
rigem Kampfe den Sieg errungen hatten, erklärten sie vier
Millionen Neger für frei. Sie thaten es, als ächte „Exter-
minatoren" der Weißen wie der Schwarzen, indem sie nicht
etwa eine Ueb ergangsz eit aus der gezwungenen Dienst-
barkeit in die Freiheit feststellten, indem sie nicht etwa für
die Freigelassenen in wirtschaftlicher Beziehung sorgten,
sondern sie machten den Schwarzen einfach „frei" und
schufen ein Proletariat, wie die Welt es nie zuvor
gesehen.
Wir haben es oftmals betont: für die westliche
Erdhalbe ist diese Negerfrage die inhalt-
schwerste des Jahrhunderts. Wenn wir unfere
amerikanischen Zeitungen durchgeheu (und wir halten nicht
weniger als 6 große Wochenblätter der verschiedenen
Parteien, damit wir über Thatsachen und Stimmungen
uns allseitig unterrichten können und mit allen Strö-
mungen und Wechselfällen auf dem Laufenden bleiben),
dann finden wir sie jedesmal überwiegend mit Neger-
angelegenheiten gefüllt; alles Andere tritt dagegen in
den Hintergrund. Jetzt schon weiß man, welch ein schauder-
haftev ^erhängniß heraufbeschworen worden ist, und doch
Globus IX. Nr. 5.
in Nordamerika.
ist man erst in den Anfängen. Die Verlegenheit ist groß,
und das wird bereits von allen Seiten gefühlt. Nur ein
Theil der Abolitionisten, jener nämlich, der sich von den
absolilten Gleichheitsmachern der „N.-U. Tribüne" und
den puritanischen oder nlethodistischen „Blutpsaffen" uoch
am Gängelbande leiten läßt, taumelt in wahnsinniger Ver-
blendung immer weiter m den Abgruud hinein. Ruat
coelum!
Die weißen Nigritier haben dem Präsidenten
Johnson nun den Krieg erklärt, weil „der Herr von ihm
gewichen" sei, d. h. er will die consiscirten Ländereien nicht
den Negern geben, sondern hat diesen erklärt, daß Arbeit
für sie eine Pflicht sei. Er hat die Gouverueure in den
einzelnen Staaten angewiesen, die Gesetze gegen die Vaga-
bunden auch auf die Neger anzuwenden, und eine Menge
von Landgütern, welche das Bureau für Freigelassene sich
widerrechtlich angeeignet hatte, den wahren Besitzern her-
auszugeben. Er begnadigt tausende von „Rebellen" und
will gegen die Südländer nicht mit Galgen und Stand-
rechtskugeln vorgehen.
Das sind schwere Verbrechen. Ein radikales Aankee-
Blatt, die „Boston Commonwealth", das Organ des Erz-
sanatikers Sninner, äußert: „Es wird noch so viel ritter-
licher Sinn im amerikanischen Volke vorhanden sein, daß
dem Präsidenten und seinem Cabinete der Krieg
auf Leben und Tod erklärt und ihnen die Beute
aus den Zähnen gerissen wird. Schande über
sie Alle miteinander! Schande über Johnson,
20
154 Anzeichen des Rassenk5
der die, welche ihn zum Präsidenten machten, und eben so
die Neger schnöde verrathen hat, welchen er sich selbst als
ein Moses ankündigte. Schande über Seward, Schande
über Stanton, Schande auch über die ganze Clique, die
nicht so viel Ehrgefühl hat, um dem Präsidenten zu
opponiren und, falls das nicht Hilst, abzutreten und ihn
anzuklageu. Schande ferner über den ganzen Norden,
der dieses Unrecht nicht nur nicht geschehen läßt, sondern
auch zaudert, die infamen Werkzeuge desselben anzu-
klagen."
Man sieht: Saturn frißt seine eigenen Kinder; der
Hexensabbath feiert seine häßlichen Orgien. Dieser wilde,
heftige, ingrimmige Ton kennzeichnet überhaupt die Erbit-
terung dieser Vernichtuugsradikaleu. Von den Kanzeln
herab werden bluttriefende Reden gehalten und die „gebil-
deten Damen Neu-Englands" klatschen dazu in die Hände
und schwenken ihre Taschentücher.
Folgendes ist charakteristisch. Das „Church Jour-
nal", welches Organ der anglikanischen Hochkirche ist,
hatte „die puritanischen Sektirer, welche so unversöhnlich
und rachsüchtig gegen ihre südlichen Brüder sind und den-
selben die Wiederaufnahme in die Kirche verweigern", als
„Bluthunde Zions" bezeichnet.
Dagegen verwahrt sich „ein Freund der Bluthunde",
als welchen durch einen Vergleich mit jenen Menschen,
falls man die rachsüchtigen Sectirer noch so bezeichnen
dürfe, ein großes Unrecht geschehe. Der Bluthund
unterscheide sich von ihnen, zu seinem großen Vortheil, in
manchen wesentlichen Punkten.
„1) Er ist nicht blutdürstig und hat keine beson-
dere Freude am Blutvergießen.
2) Er ist nicht feig oder hinterlistig, sondern kühn und
brav; er schickt uicht Au dere, um seine Händel auszu-
machen, sondern er lhut dies selbst offen und ohne Furcht.
3) Er trachtet seinen Mitgeschöpfen nicht nach dem
Leben. Wir sind dem Bluthunde diese Ehrenerklärung
schuldig, um einem geringen, aber anständigen Thiere
Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen."
Wir könnten ganze Heste des Globus mit den pikau-
testen Berichten über die Negerfrage und Negerplage
füllen. Der fanatische Flügel der ultraradikalen Abolitio-
nisten hat den Schwarzen die tollsten Dinge in den Kops
gesetzt, ihnen z. B. die liegende Habe der „Rebellen" ver-
sprechen und weiße Frauen obendrein; man hat ihnen
gesagt, daß sie, die Farbigen, viel besser seien, als die
Weißen, deren Blut durch schwarze Zuthat veredelt werden
müsse, und was des Unsinns mehr ist. Kein Wunder,
daß es nun auch im Kopfe der Neger irr und wirr aussieht.
Eine politische Hauptfrage, die zugleich eiue Rassen-
frage ist, beschäftigt jetzt das ganze Land, jene, ob man
den Negern auch das Stimmrecht und überhaupt die
volle politische Gleichberechtigung ertheilen solle.
Die Abolitionsradikalen bieten Alles aus, um das Stimm-
recht für die Schwarzen durchzusetzen, hauptsächlich um mit
Hülfe von einer Million Negerstimmen Gewalt und Aemter
für sich zu behaupten. Sie trachten dahin, die Recon-
structiou der Südstaaten zu verzögern, damit keine Mit-
glieder derselben in dem nächsten Congresse sitzen, und der
radikale Rumpscougreß, der ohnehin schon so viele Löcher
in die Bundesverfassung geschossen hat, ohne Weiteres das
Stimmrecht der Neger dekretire. Verfassungsgemäß hat
aber darüber jeder Einzel st aat selbstständig zu eutschei-
den und in den ersten Tagen des Oktober hat der neueng-
ländische Staat Connecticut, seit 10 Jahren zum dritten
Male, durch allgemeine Volksabstimmung und mit großer
Mehrheit den Negern das Stimmrecht verweigert.
lpses in Nordamerika.
Ein Gleiches hat Wisconsin gethan. Im Westen und
Süden wird man es ihnen eben so wenig geben, weil man
den Staat nicht „asrikanisiren" will.
Nun kommen seit dem Monat Mai, nicht aus zehn,
zwanzig oder fünfzig Gegenden, sondern aus Hunderten
dieselben Klagen über das Gebahren der Neger,
und mehr und mehr auch aus dem Lager der Abo-
litionisteu selbst; viele unter diesen sind ehrliche aber
beschränkte Leute, welche an die radikale Floskel glaubten,
die jetzt aber, in Folge des Augenscheins und der eigeueu
Erfahrung sich enttäuscht sehen und „der Wahrheit geben
wollen, was ihr gebührt".
Wir nehmen die neuyorker Blätter vom 15. Oktober
zur Hand und wählen aus der langen Reihenfolge von
Negerartikeln, die sich aus die Vorgänge einer einzigen
Woche beziehen, Folgendes aus:
Aus 3! e u o r l e a n s schreibt man, daß 80,000 Schwarze
beiderlei Geschlechts sich dort zusammengedrängt haben,
daß aber große Roth an Hausdieuerschast sei, weil jene
nicht arbeiten wollen; sie seien ja freie Leute. Diese
Klage zieht sich wie ein rother Faden durch alle Verhältnisse.
„Da stehen sie an den Straßenecken und verschlingen enorme
Quantitäten von Gingerbrot und kaltem Geflügel, oder sie
gehen in einen Trödelladen und kleiden sich in Himmel-
blauen Rock und gelbe Hosen. Bei dem unsinnig hohen
Tagelohn genügt wenig Arbeit, um ihnen Geld zu ver-
schaffen. Die Mädchen verschleudern ihr Geld in Kleidungs-
stücken, die so buntfarbig sind wie Josephs Rock, und
behängen sich mit Tomback."
General Slocum, der lange Zeit im Südwesten die
Unionstruppen besehligt hat, sagte in der ersten Oktober-
Woche zu Syracuse in einer Rede: „Viele Neger weigern
sich hartnäckig, etwas Anderes zu thun, als zu essen, zu
faullenzen und zu schlafen." Die „Tribüne" hört zwar
nicht, daß die Neger arbeiten, Wohl aber, „daß sie zu den
Schulen strömen, Kinder, die kaum gehen können,
Müttermit ihren Säuglingen an der Brust, Arbeiter(?),
deren Tagewerk vorüber ist, betagte Patriarchen und weiß-
köpfige Großmütter, —Alle sitzen über ihrenABCbücheru.
Ihre Lernbegierde soll beinahe krankhaft sein; man kann
ihr weder Einhalt thun, noch sie controliren; sie ist wie
ein Fieberparorysmus."
Das ist eine Sensationsnotiz. Anders lauten die Be-
richte aus Florida. „Unter den Negersoldaten fehlt jede
Zucht. Sie erlauben sich gegen Weiße Männer und Frauen
die gröbsten Beleidigungen. In Tallahassee kann kein
weißer Mensch ausgehen, ohne von Negern insultirt zu
werden. Eben so ist es in anderen Theilen des Staates."
In Georgien haben die Neger geheime Gesellschaften
gebildet. Zu Paducah in Kentucky fand am 1. Oktober
ein Gefecht zwischen einem Negerregiment einerseits und
zwei weißen Reginientern aus Illinois und Minnesota
andrerseits statt; 7 Schwarze blieben tobt, viele wurden
verwundet. Die Neger hatten sich gerühmt, daß sie im
Kriege tapferer gewesen seien, als die Weißen.
Nashville, in Tennessee, 3. Oktober. Amletzten
Sonntag drang eine Bande Negersoldateu mit Gewalt in
das Haus der Wittwe des Generals Donalson und Vertrieb
die Familie.
In Kentucky haben die Negertruppen so viel Unfug
angerichtet, daß der Präsident befohlen hat, sie aus dem
Staate zu entfernen.
Washington, 11. Oktober. Kenneth Raynor, ein
„Negerfreund", schreibt aus Nord Carolina, daß er
für eine Trennung der schwarzen und weißen
Rasse und eine besondere Colonisation der erstern sei.
Anzeichen des Rassen?
„Die Arbeit der freien Neger ist nicht genügend; im laufen-
den Jahre werden kaum einige 100 Ballen Baumwolle
erzeugt werden."
Richmond, Virginien, 9. Oktober. Wieder Neger-
uuruheu wegen eines Zankes zwischen einem weißen
Knaben und einer Negerin. Die Neger wurden in die
Flucht geschlagen.
Nashville. Zwei gerichtlich des Mordes überführte
Neger sind von schwarzen Soldaten aus den Händen des
Sherisss befreit worden. Zu Memphis in Tennessee
fast täglich Negerkrawalle, auch der Schwarzen unterein-
ander. „Raufereien zwischen weißen Soldaten und Negern
kommen sehr häufig vor, dann und wann werden vou den
elfteren die Hütten der Schwarzen verbrannt."
So tritt der Rassenantagonismus immer stärker
hervor, und den realen Bedingungen gegenüber wird die
hohle Phrase der Abolitionisten ganz und gar bankbrüchig.
Auf das Nachfolgende legen wir entschiedene Wichtig-
keit. Tennessee, ein westlicher Staat, ist während des
Krieges ungemein schwer heimgesucht worden. Ein großer
Theil der Bevölkerung war für den Süden günstig gesinnt,
und viele tausend Tennesseer dienten in den Heeren der
Conföderirten. Lincoln bot Alles auf, um diesen wichtigen
Staat zu behaupten und ernannte den vormaligen Schnei-
dermeister und nachherigen Buudesseuator Johnson zum
Militärgouverneur. Als solcher erließ derselbe sehr strenge
Verordnungen gegen die „Rebellen"; er trat die Ver-
sassung mit Füßen; er verbot Jedem, welcher der „illoyalen
Gesinnung" verdächtig sei, bei den Wahlen abzustimmen;
er stellte Soldaten an die Stimmbuden, ließ mit der echten
Brutalität eines Satrapen „verdächtige" Leute durch seine
Freiheitskämpfer fortjagen und erzwang auf solche Weise
eine Legislatur, wie er sie gebrauchen konnte. (Seine
Proelamationen liegen vor uns; es ist aber für die Sache,
welche erläutert werden soll, nicht nothweudig, sie jetzt mit-
zutheileu.) So wurde er würdig, von der Partei der
„Republikaner" zum Vicepräsideuteu ernannt zu werden.
Tennessee hatte nun durch Johnson eiue durchaus
„loyale Regierung", und die loyalen Stelleuiuhaber ver-
fuhren, Privatvortheile nicht verschmähend, mit Erbitterung
gegen alle Rebellen und Verdächtigen. Zum Gouverneur
war mit Hülfe von Johnsons und Lincolns Bayonnetten
ein Liebling des letztern, der Pastor Brown low, gewählt
worden, der bis heute als ein Parteihaupt des ultraradikalen
Flügels unbarmherzig wüthet. In Tennessee sind, von
dem entsetzlich zerrütteten Missouri abgesehen, die meisten
politischen Morde an der Tagesordnung. Ein demokra-
tisches Blatt schreibt, und der Ton ist bezeichnend für beide
Theile: „Der tollwüthige Pfaffe Brownlow, diese Bestie,
für welche Hängen zu gut wäre, scheiut es als religiös-
politische Aufgabe zu betrachten, mit allen erdenklichen
Mitteln Pöbelgewalt, Anarchie, und Blutvergießen im
Staate Tennesfee zu befördern. Er verspricht in seinem
Organ, dem „Knorville Whig" zum Voraus Ablaß und
Begnadigung aller Mordbuben, welche sich an „illoyalen
Personen" vergreifen. Todtfchläge beschönigt er als „ge-
rechte Vergeltung". Als jüngst ein ehemaliger consöde-
rirter Offizier, Names Cor, in den Straßen von Knox-
ville niedergestoßen wurde, gab Brownlow in seinem
Blatte folgenden Commentar: „Während wir die Noth-
wendigkeit solcher Vorfälle beklagen, so wird doch die
Gesellschaft weniger darunter leiden, wenn solche Charak-
tere, wie Cor, aus der Welt spedirt werden." Zeituugen,
welche gegenBrowulows Schreckensherrschaft zu Protestiren
wagen, werden ohne Weiteres unterdrückt; fo wurden
jüngst die Redakteure des „Clarksville Chronicle" eiuge-
lpfes in Nordamerika. 155
kerkert. Brownlow duldet keinen Widerspruch; er ist der
Glaubeusverwaudte der puritanischen Neuengland-Sippe."
Dieser Pastor Brownlow war bis in den Oktober-
monat ein Hauptabolitionist; er gehörte dem aller-
radikalsten Flügel der Vernichter an, und nun?
Es ist ihm begegnet, daß seine Schooskinder, die
Neger, ihn, den Weißen Gouverneur und Geist-
liehen, aus reinem Uebermuth mißhandelt und
in die Gosse geschmissen haben. Flugs hat sich
dann seine Vorliebe, seine „christliche Sympathie" für den
unausweichlichen Neger verloren.
Nun, nachdem die Schwarzen an den Weißen Gewalt-
Haber ihre Hände gelegt, hat Brownlow eine Erzählung
veröffentlicht, die wir mittheilen, nicht jenes abolitio-
nistifchen Satrapen wegen, fondern weil sie in einen tiefen
Einblick in das ganze zerfahrene Wesen und die Stelluug
der beiden Rassen gewährt.
„Die hiesigen Negersoldaten haben keine Achtung vor
ihrer Uniform und wissen ihre Würde und ihre Bedeutung nicht
zu schätzen. Kürzlich begegneten mir zwei derselben
in voller Uniform aus einem engen Seitenwege
und stießen mich in die Gosse, so daß ich ans die
Knie und Hände siel. Ich hatte ihnen aus dem
Wege gehen wollen und sie sahen dies wohl; aber
da ich aus Schwäche an einem Stocke gehen muß, so ging es
wahrscheinlich für ihre Ideen von Fortschritt zu langsam.
Ich beklagte mich weiter nicht, aber ich dachte bei mir selbst,
daß diese farbigen Raufbolde nicht gelernt haben, „die
Uniform der Armee zu respektiren" und ging meiner Wege, nicht
fröhlich, sondern in meinem linken Knie wohl fühlend,'daß ich
hxi dieser Begegnung den Kürzern gezogen hatte.
Soldaten und Offiziere, welche die Bundesuniform tragen,
sollten alle Gent leinen sein, gleichviel von welcher Farbe sie
sind; aber die einzigen zwei farbigen Soldaten, denen ich je
begegnet bin, waren offenbar nicht von dieser Sorte. Ich ver-
lange nicht, sie noch einmal auf die Probe zu stellen; ich
könnte auf Andere stoßen, die weniger sein sind
und die mich vielleicht mit dem Bayonett durch-
stoßen würden. Da mir verweigert ist, zu thun, was ich
als weißer Mann in einem solchen Falle gern thun möchte, so
verlange ich blos das Recht eines Negers, aus dem
Wege gehen zu dürfen." —
Kein Wunder, daß ihm jetzt die Rafseusrage in einem
ganz neuen Lichte erscheint, und daß ihm plötzlich die Augen
über das Betragen der loyalen Neger in seiner Um-
gebung aufgegangen sind, trotzdem daß er früher nichts
dagegen einzuwenden hatte. Wenn folgende Schilderung im
„Knorville Whig" nur halb wahr ist, wäre ein Rassen-
kämpf in Tennessee unvermeidlich.
„Taufende von freien Farbigen, so sagt Brownlow weiter,
sammeln sich in den größeren Städten Tennessees und in deren
Umgebung, und tausende kommen von anderen Staaten dort-
hin, von welchen kaum der dritte Theil Beschäftigung finden
kann. In der That wünscht auch kaum ein Dritttheil derselben
zu arbeiten. Sie haben die irrthümliche Idee, d a ß d i e B un d es -
regierung verpflichtet sei, alle ihre Bedürfnisse
zn befriedigen und ihnen sogar Wohnungen zu verschaffen,
und sollten auch deren weiße Bewohner an die Luft gefetzt wer-
den müssen. In jedem Theile des Staates herrscht
große Nachfrage nach Arbeitern, aber die Farbigen
verachten, mit wenigen Ausnahmen, alle Arbeit.
Sie fiedeln und tanzen bei Nacht, und den Tag über
lungern sie um die Läden und an den Straßen-
ecken herum.
Es ist bekannt, daß einige ihrer unvorsichtigen Lehrer
ans dem Norden, die den Charakter des Negers nicht ken-
nen, ihnen den Rath gegeben haben, sich nicht als Arbeiter
bei weißen Leuten zu verdiugen! Da sie keine andere
Idee in ihren Köpfen haben, als Abolition, so rathen ste dem
einfältigen und leichtgläubigen Neger, lieber eine prekäre Erlstenz
in den Städten zu führen, um unterrichtet zu werden, als sich
auf dem Lande guten Lohn uud ein austäudiges Unterkommen
zu verdienen. Wenn nicht vorher ein gründlicher Wechsel ein-
tritt, so wird im nächsten Winter großer Mangel und Sterb-
20*
156 Anzeichen des Rassenkc
lichkeit unter den Negem herrschen. Die Stimmung zwi-
schen den Weißen nnd Schwarzen ist schon jetzt nicht
die beste und wird täglich schlimmer. Viele Neger
insultiren weiße Frauenzimmer, die ihnen nie
etwas zu Leide gethan und nie einen „Sklaven"
besessen haben.
Häufig stoßen sie weiße Damen über die Trottoirs hin-
unter und traktiren weiße Männer, die an ihnen vorbeigehen,
mit Schimpfreden, wie um zu zeigen, daß sie die Herren seien.
Andere stoßen auf den Straßen Flüche und Drohungen ans,
z. B. „sie wollen in dieser verdammten Stadt ausräumen", oder
„wenn man sie nicht zur „Ballöt-Bor" (d. h. zu den Stimm-
kästen) zulasse, so werden sie zur „Cartridge-Bor" (Patrontasche)
greifen" u. s. w. Und dabei schwören sie, daß sie von der
Bundesregierung unterstützt würden.
Als ein Mann, dem es um das Wohl der farbigen Be-
völkerung ernstlich zn thnn ist, erlaube ich mir, derselben zu
bemerken, daß sie die Legislatur von Tenncssee nicht dazn brin-
gen können, ihnen das Stimmrecht einzuräumen, und die
Bundesregierung hat kein Recht, die Stimmrechtssrage in Ten-
nessee zu regeln. Die große Unionpartei aber ist zn vernünftig,
als daß sie versuchen sollte, diese Frage auf dem Wege der
Congreßgesetzgebung zu controlliren.
General Tilson zu Memphis hat erklärt, daß er die Ent-
fernnng der freien Farbigen aus der Stadt und Umgegend
nötigenfalls mit Gewalt durchsetzen werde. Er sendet Pa-
tronillen durch die Stadt, um zu erfahren, welche derselben Be-
fchäftigung haben und welche nicht, und läßt die letzteren in
Kenntniß setzen, daß sie fortan keine Unterstützung mehr von der
Regierung zu erwarteu haben. Denjenigen, die Eon-
trakte eingegangen haben, hat er zu wissen gethan,
daß sie nicht ohne Weiteres weglaufen dürfen, son-
dern ihre Eontrakte halten müssen, und daß er sie
mit Gewalt dazu anhalten werde.
Ich rechne General Tilson zu den besten Commandanten,
die wir je in Knorville hatten, und es freut mich zu hören, daß
er auch in Memphis seinen alten gesunden Menschenverstand
und Rechtssinn an den Tag legt. Eine derartige Strenge gegen
die farbige Bevölkerung thäte auch hier Roth.
Präsident Johnson wird in Bälde alle Truppen aus Ost-
Tennefsee entfernen und die farbige Bevölkerung wird,
wie die weiße auch, für sich selbst zu sorgen haben. Ein Theil
derselben wird, ich bin es überzeugt, fleißige und ruhige Bürger
abgeben, die für sich und ihre Familien sorgen. Die große
Mehrheit derselben aber wird Unordnungen aller
Art anfangen, und Manche derselben werden das
Zuchthans bevölkern helfen. Durch ihre Drohungen
nnd Gewaltthätigkeiteu werden sie nichts Gutes
ausrichten, und wer es wirklich gut mit ihnen meint, muß
ihnen davon abrathen. Farbige Soldaten in Bundesunisornicn,
mit Gewehren in ihrer Hand, dürfen nicht glauben, daß die
Bürger von Ost-Tennessee sich von ihnen einschüchtern oder ihre
Familien von ibnen beschimpfen lassen.
Ich kenne die dortige Bevölkerung nnd ich weiß, daß sie
sich nicht von Negersoldaten controlliren lassen. Die Truppen
von Ost-Tennesfee,' welche drei schreckliche Jahre hindurch gekämpft
haben, um die Neger frei zu machen, nnd die jetzt in ihre alte
nnd geliebte Heimat zurückkehren, sind nicht die Männer, die
sich vou farbigen Soldaten, die erst in der elften Stunde ins
Gefecht kamen, etwas bieten lassen. Mögen sich die Comman-
bauten nnd Vorgesetzten der farbigen Truppen dies eiu für alle-
mal merken.
Es gibt Unionleute hier, welche das Recht der Regierung
nicht anerkennen, jetzt, nachdem ihre Sklaven emancipirt sind,
in Nordamerika.
auch noch ihre Ländereien und ihr Vermögen zu confis-
ciren, als Strafe dafür, daß sie früher Sklaven gehalten haben.
Es gibt Unionleute hier, welche der Ansicht sind, daß ein
Kapitän oder Lieutenant farbiger Truppen nicht
das Recht habe, auf die Anzeige eines Negers von
schlechtem Rufe hin respektable und loyale weiße
Bürger durch Neger verhaften und von einem
Eounty ins andere schleppen zu lassen, um sie dort
zu Prozessiren, während doch ihre Verurtheilung
schon im Voraus beschlossene Sache ist. Es gibt tan-
sende aufrichtiger Unionmänner und verabschiedeter Bundessolda-
ten in Ost-Tennessee, welche lieber auf der Stelle in
einem neuen Kriege umkommen wollen, als daß fie
solche Beleidigung, Unterdrückung und Beschim-
psuug sich gefallen lassen!. ..
Die loyalen Bürger von Ost-Tennessee gönnen der sarbi-
gen Bevölkerung ihre Freiheit und das Recht, ihre Kinder zu
erziehen; aber sie sind nicht geneigt, ihnen alle ihre Kirchen und
Schulhäuser einzuräumeu, so daß es den unschuldigen Kindern von
Unionsleuten, die nie einen Sklaven besessen haben, daran fehlt.
So wollen es nämlich ein Paar unverschämte Lehrer aus
dem Nordeu, die dort keine Beschäftigung finden
und hierher gekommen sind, um den Neger zu ver-
herrlichen. Es gibt aber Unionleute genug hier, die trotz
dem Resultate des Krieges der Ansicht sind, daß ein weißes
Kind so gut ist als ein schwarzes.
Seit ich Vorstehendes geschrieben habe, höre ich, daß auf
einem Negerballe im hiesigen Universitätsgebäude drei Far-
bige in einer Nacht getödtet wurden. Sie sollen von
Weißen, die als Weiber verkleidet waren, erschossen worden sein.
Natürlich bin ich weit entfernt, eine solche Thai zu billigen,
und ich erwähne derselben nur, um zu zeigen, welche
Feindschaft bereits zwischen den RassenPlatz greift.
Diese Bälle find zu häufig und taugen nichts. Weiße Offiziere
und Soldaten wohnen denselben bei und tanzen mit farbigen
Frauenzimmern. Ein Ohiosoldat von guter Erziehung ver-
schaffte sich eine Heiratserlaubniß, ohne von der Farbe seiner
Zukünftigen etwas zu sagen, und heiratete in der That eine
junge Person, die früher eine Sklavin in dieser Stadt gewesen
war. Wenn diese Verbindung seinem Geschmacke zusagt, so
habe ich nichts dagegen einzuwenden. Dagegen bedauere ich,
sagen zu müssen, daß die Moral der farbigen Bevölke-
rung seit ihrer Emancipation sich verschlechtert hat,
und^bei derHast, mit der wir ihre Aufklärung betrei-
ben, wird bald die Hälfte derselben in Folge des
ewigen Lehrens, Predigens, Betens, Singens und
Tanzens ruinirt sein."
Man vergesse nicht, daß es ein „loyaler" Mann, ein
Abolitionist von reinstem Wasser und ein Hauptführer der
Partei ist, welcher sich so unumwunden äußert; ein Gon-
verneur der seinen Staat kennt, und ein Nebellenvernichter,
der als solcher immer in der vordersten Linie gestanden hat.
Brownlow befand sich bisher ganz nnd garanfderPlatform
der alleräußersten Radikalen und Negromanen, und nun
solche Enthüllungen ! Der alte Horace Greeley, dieser alte
Unheilstifter, ist, in seiner Tribüne, außer sich über solche
Geständnisse und Enthüllungen und kanzelt den Verräther
an der heiligen Sache des Negerthums ab.
Saturn frißt auch im Aankeelande seine
eigenen Kinder. A.
Aus allen Erdtheilen.
157
Aus allen
Sind noch einige Geführten Sir John Franklins am
Leben?
Der bekannte Polarreisende, Kapitän Hall ans Einem-
nati, welcher jetzt zum dritten Mal eine Wanderung im arkti-
scheu Labyrinth unternommen hat, um über die Frage ins Klare
zn kommen, spricht sich bejahend aus. Der kühne und aus-
dauernde Mann war bekanntlich in Begleitung einiger Eskimos
nach den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und hat sie dann wie-
der in ihre eisige Heimat zurückgebracht. Er ist mit der Lebens-
weise und mit der Sprache der Junuit, d. h. der Eskimos
genau vertraut, und sie betrachten ihn als einen der Ihrigen.
Eben jetzt, Mitte Oktobers, macht ein Schreiben von ihm den
Rundlauf durch die europäischen Zeitungen, das auch wir mit-
theilen müssen. Ob Halls Hoffnungen sich erfüllen, kann Nie-
mand sagen Daß von Franklins Gefährten noch einige am
Leben sein können, jetzt etwa 20 Jahre nach dem Beginn der
Erpedition, welche im Mai 1845 die Themse verließ, ist nicht
unmöglich, aber kaum wahrscheinlich. Gewiß wird Hall
nichts verabsäumen, um über die Sache ins Klare zn kommen.
In seinem Schreiben sagt er: —
„Ich habe erfahren, daß noch drei von Franklins Gefährten
am Leben sind; einer von ihnen ist Crozier (welcher auf dem
Schiffe „Terror" eommandirte, während Franklin den Befehl
anf dem „Erebns" hatte). Die Einzelnheiten darüber sind vom
höchsten Interesse, doch möge das Nachstehende für jetzt und bis
ich heimkomme, genügen.
Crozier und drei feiner Leute wurden von einem Vetter
des Uek (Albert), Schoo schi ark pani (John) und Ar too a
(Frank) aufgefunden, während diese drei Eskimos über das Eis
von einem Jglnlik (Dorfstation) zum andern gingen; der Vetter
hatte seine Familie bei sich und wollte Seehunde fangen bei
Neitschille (Boothia Felixhalbinsel); Crozier bestand nur noch
aus Haut und Knochen und war dem Hungertods nahe, seine
Begleiter dagegen waren fett. Der Vetter erfuhr bald, daß diese
wohlbeleibten Leute sich von Menschenfleisch, vom Fleische ihrer
Gefährten, genährt hatten; diese letzteren Alle hatten die beiden
im Eise festgefrornen Schiffe verlassen, und Crozier war der ein-
zige Mann, welcher kein Menschensleisch essen wollte; deshalb
war er dem Hungertod? nahe.
Der Vetter nahm sofort ihn und die drei Anderen in seine
Obhut; er fing einen Seehund und gab Crozier davon am
ersten Tage nur ein ganz kleines Bischen rohen Fleisches, den
drei fetten Leuten gab er aber nichts ab, denn die konnten sich
recht gut so lange' behelfen, bis Croziers Lebeu außer Gefahr
war. Diesem gab der Vetter am nächsten Tage ein etwas
größeres Stück Seehundsfleisch, und durch des Vetters Sorg-
falt wurde ihm das Leben gerettet. Crozier begriff seine Lage
sehr wohl und stimmte mit dem Vetter darin überein, daß er
am ersten Tage nur ein ganz kleines Stück Fleisch genießen
dürfe. Croziers Gesicht gewährte einen schreckenerregenden An-
blick, die Augen waren tief eingefallen, das Gesicht war bleich
und wie ein Geripp; der Vetter mochte ihn während der ersten
Tage gar nicht ansehen, es wurde ihm so unwohl dabei.
Dieser edle Vetter, welchem die ganze civilisirte Welt für
sein menschenfreundliches Benehmen Dank wissen wird, sorgte
dann für Crozier und dessen drei Leute. Aber bald uachdem der
Vetter sie gefunden hatte, starb ein Mann, aber nicht wegen
Hungers, sondern an einer Krankheit.
Im Frühjahr begleiteten Crozier und die beiden anderen
Männer den Vetter auf der Halbinsel Boothia Felix nach Neit-
schille, wo sich viele Jnnuits (Eskimos) befanden. Crozier und
die Leute hatten Gewehre und viel Schießbedarf und manche
hübsche Sachen, und sie schössen mit ihren Gewehren viele
Enten je.; sie lebten in Neitschille bei den Jnnuits, und Crozier
wurde fett und gesund.
Crozier erzählte dem Vetter, daß er einst vor manchen
Jahren zu Jnnsil le (an der Repnlsebay) gewesen sei und an der
Wmtennsel und zu Jglulik; an den beiden letzgenannten Oert-
lichketten habe er viele Jnnuits getroffen und habe mit den-
selben Verkehr gepflogen. Der Vetter hatte von seinen Lands-
leuten an der Repulsebay einige Jahre früher von Parry, Lyon
und Crozier etwas gehört, und als Crozier ihm seinen Namen
nannte, ermnerte er sich desselben. Der Vetter sah Crozier und
Erdtheilen.
die Drei Männer ein Jahr früher, als er ihnen jetzt begegnete,
dort wo die beiden Schiffe im Eise lagen. Crozier und die
beiden Männer lebten einige Zeit bei den Jnnuits von Neit-
schille; die Jnnuits mochten ihn sehr gern und behandelten ihn
sehr gütig.
Nach einiger Zeit ging Crozier mit seinen zwei Leuten
und einem Jnnnit, der ein Kayak (d. h. ein Boot) mit sich
nahm, — wie E bier bing, ein Eskimo, meint, ein Boot von
Gummi, denn den Rippen entlang sei etwas gewesen, das man
mit Luft haben füllen können,— von Neitschille fort nach Süden
hin, um in dasKoblunasland zn gelangen. Als N e la (Albert)
und seine Brüder im Jahre 1854 diesen Vetter, der sich so gütig
gegen Crozier und dessen Lente benommen, an der Pellybay sahen,
die nicht weit von Neitschille entfernt ist, hatte der Vetter nicht
gehört, ob Crozier, dessen zwei Leute und jener Neitschille-Jnnnit
jemals zurückgekommen seien oder nicht. Die Jnnuits glauben
nicht, daß sie lodt seien; nein, das glauben sie nicht. Crozier
bot dem Vetter, weil dieser ihm das Leben gerettet habe, sein
Gewehr an, aber der Vetter wollte dasselbe nicht annehmen,
weil er meinte, es könne ihn tobten; es machte ein so starkes
Geräusch und tödtete fast mit gar Nichts. Crozier gab dem
Vetter ein langes, merkwürdiges Messer (einen Säbel) und noch
andere hübsche Dnige. (Doch ich breche hier ab; die Hunde
sind angeschirrt, die Schlitten beladen, und ich habe versprochen,
in einer halben Stnnde fertig zu fein.) Crozier erzählte dem
Vetter von einem Gefechte mit Indianern, nicht mit Jnnuits.
Dasselbe muß an der Mündung des Großen Fischflusses (Back-
flusses) stattgefunden haben."
Man sieht, Kapitän Hall schreibt gleiehsam im Eskimostyl;
man kann aber den Bericht nicht ohne Bewegung lesen. Frei-
lich hat der Vetter seit elf Jahren (1854) nichts mehr von
Crozier gehört! —
Wir wollen zum Schlüsse bemerken, daß sein Brief datirt
ist: Winterquartier in Jgloo, Freitag 10. Deeember 1864, Noo
Wook, West and Rowes Weleome. Breite 64° 46' N., Länge
87° 20' W. — Rowes Weleome ist der Meereskanal, welcher,
von der Hudfonsbay nach Norden hinlaufend, im Osten die
Southampton-Jnsel hat, nach Norden hin die Frozen Street,
welche in den For Channel führt; auf der Westseite schneidet
der sogenannten Wager River tief ins Land.
Zustände in Paraguay.
Ein Herr Franz Salomenombry, wahrscheinlich ein
Magyar, der sich mehre Jahre in diesem Staat aufgehalten hat,
entwarf im Juli 1865 eiue Schilderung der Verhältnisse, welche
gerade jetzt nicht ohne Interesse ist. Wir entlehnen dieselbe der
„Deutschen Zeitung", welche zu Porto Alegre erscheint.
„Mit den despotischen Gesetzen will ich beginnen, denn
während meiner sechsjährigen Residenz in genannter Republik
glaube ich genug der Kenutniß und Erfahrung gesammelt zu
haben, um den'Lesern eine genaue Anschauung verschaffen zu
können.
Als der Vater dieses Präsideuten, S. Lopez, nach dem Tode des
Diktators vi-. Francis Präsident wurde, war es sein erster Schritt,
die despotischen Gesetze seines Vorgängers zu schärfen und noch
viel elendere zu erfinden. Aber damit noch nicht zufrieden, gab
er im Jahre 1852 ein Gesetz, wonach ein jeder Einwohner der
Republik, ob Aus- oder Inländer, verpflichtet sei, von seinem
17. bis zum 60. Jahre zum Linienmilitär zn gehören, und
sollen dieselben verpflichtet sein bei Verlust ihres Vermögens,
ihrer bürgerlichen Rechte nnd einer 12jährigen Gefängnißstrafe,
je nach Distanz ihres Wohnorts von der Hauptstadt sich, sobald
sie zum Dienst einberufen, binnen zehn Tagen zn stellen.
Welch eiu humanes Gesetz iu einer Republik! Welcher Kon-
traft mit den Gesetzen dieses Kaiserstaates, wo jeder Fremde und
Eingeborne vor dem Gesetze gleich stehen, und wo es auch in
den bedrängtesten Seiten der Regierung nie einfällt, em solches
Gesetz zu Tage zu fördern. Trotzdem gibt es viele Deutsche in
der Republik,' die in diesem Moment wie förmliche Sklaven ihr
Haus und Geschäft verlassen mnßten, um Kriegsdienste zu thun.
Wer würde ein solches Land nicht gern verlassen, wenn er nur
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158
Aus allen Erdth eilen.
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könnte, wo die sogenannte Freiheit weiter nichts als Skla-
verei ist.
Im Jahre 1857 kam ein Gesetz ans Licht, wo derjenige
Eiugeborue, der mehr als 40 Pfund Matte oder 500 Cigarren an
einen Ausländer ohne eine Spezialerlaubniß vom Präsidenten zu
besitzen, verkauft, außer seines Vermögens verlustig, noch mit
4 Monat Gefängniß und 50 Stockschlägen zu bestrafen sei, ohne
Ansehen der Person.
Im Jahre 1858 trat ein Gesetz in Kraft, das dem in der
Republik wohnenden Ausländer verbot, Grundbesitzer zu
sein, und bestimmte, daß Jeder, um sich mit einer Eingebornen
verheiraten zu dürfen, einen Eid abgelegt haben mußte, nie
mehr die Republik verlassen zu wollen. — Ich könnte noch
viele dergleichen Gesetze anführen, glaube aber, daß obengenannte
hinreichend sind, den Despotismus der paraguayscheu Regierung
zu schilderu. —
Die Armee besteht aus ungefähr 54 bis 60,000 Köpfen,
aber nicht so viel kampffähigen Männern, deuu man sieht in
der Armee nicht selten Lahme bei der Cavallerie, sowie Ein-
ängige und Bucklige bei der Infanterie und Artillerie; die Osfi-
ziere' werden nicht nach Kenntnissen oder Verdienst, sondern nach
ihren Vermögensumständen gewählt. Der Höchstkommandirende
ist Präsident Lovez, der sich selbst die Würde eiues General-
Feld Marschalls zu geben gewußt hat. Die einzigen Offiziere
von Bedeutung sind derJngenieuroberst Duteil (Franzose) und
die preußischen Oberstlieuteuants V. Treskow, v. Zitzewitz,
v. Falken st ein und v. Steuden, sämmtlich Kommandeure
der verschiedenen Batterien der Festung Humayta', wo besonders
letzterer als Kommandant des Laboratoriums fungirt. Außer-
dem kommandirt ein Engländer, Oberstlieutenant Smith, das
3. Cavallerieregimeut. Die Verpflegung und der Sold der
Armee ist folgende: Die Soldaten erhalten, wenn sie in Gar-
nison sind, täglich je 4 Mann 1 Pfund Fleisch, 3 Pfuud Mais-
brod, % Pfund Mattee, uud jedeu Monat, d. h. wenn bezahlt
wird, 1 Mil 400 Reis oder 1 Thlr. preuß. Jeder Soldat
empfängt außerdem an Bekleidung für 22 Monate ein Paar
Schuhes die nur bei Paraden getragen werden dürfen, eine rothe
Wolldecke, die er als Poncho benutzt und die ein Jahr vor-
halten muß, und endlich zwei baumwollene Hemden und Hosen
und einen Tschako, der einer Waschtiene ähnelt. Die Offiziere
(Inländer) haben das Recht, vom Präsidenten Geld zu erbitten,
werden aber häufig, ohne daß ihre Bitte berücksichtigt wird, ent-
lassen. Nach dem Gesetz soll der Soldat im Felde doppelte
Verpflegung und Löhnung haben.
Die Artillerie ist, wie ich schon oben bemerkte, meistens nur
von fremden Chefs und Subalteruofsiziereu kommandirt, und
da es nicht zu den kleinsten Fehlern des Diktators gehört, sehr
viel Mißtrauen gegen Fremde zu hegeu, so sind die meisten der
fremden Offiziere in den bedeuteudsten Miliäraustalteu Asuncion
und Humayta', letztere als bedeutende und nicht leicht von der
Wasserseite einnehmbare Befestigung auf der rechten Paraguay-
Uferseite gelegen, wo stets 7000 bis 8000 Mann in Garnison
sind, die theils in Kasematten, theils in, nach französischem Styl
gebauten Kasernen untergebracht sind. Außerdem hat Humayta'
eiu Laboratorium uud Ärseual, wo stets 2 bis 300, meistens
Engländer und Deutsche, beschäftigt sind. Die Batterien
von Humayta' sind von 130 bis 140 Geschützen verschiedenen
Kalibers vertheidigt, von denen die bedeutendsten 80Pfünder sind,
und da die Krümmung des Flusses nnd die kurze Kaualdistanz
das Attaguiren erschwert, so wären die Batterien sehr leicht mit
Panzerschiffen zu nehmen. Sie wären vielleicht zu nehmen von
der Landseite.
Die Militäranstalten von Asuncion sind ziemlich nnbeden-
tend, denn außer dem Marinearsenal, das meistens von Eng-
Kindern verwaltet wird, gibt es eine Kanonengießerei, die aber
bis jetzt uichts Gutes geliefert hat. Auch hat Asuncion eine
Kugelgießerei, die sehr bedeutend und gut ist. Das Lebe» der
Soldaten iu Paraguay ist von dem der Soldaten civilisirter
Nationen vollständig verschieden. Sie werden von Abends 8
bis Morgens 7 Uhr aus ihren Kasernen entlassen, von wo ein
Jeder hingeht, wo es ihm beliebt, und die meisten schlafen aus
Mangel an Obdach mit den Frauen auf freien und öffentlichen
Plätzen. Es herrscht eiu Gesetz, wonach ein jeder Eivilist, der
bei einer Wache vorübergeht, vor der Schildwache seinen Hut
abziehen nmß, und muß derjenige, der Abends nach 8 Uhr auf
der Straße geht, eine Laterne angezündet bei sich führen und
sich bei jeder Wache, an welcher er vorübergeht, melden.
Die Marine ist von einem frühern, tapfern Fregatten-
Kapitän, Namens v. R a d e t y l f y, kommandirt. Derselbe stand
früher im österreichischen Flottendienst, ging von dort, seiner
demokratischen Ideen halber, ab, nnd es ist schwer zu verstehen,
wie Jemand, der auf Ehre Anspruch macht, in einem Lande
dienen kann, wo Frauen und Kinder gefangen genommen und ins
Innere von Paraguay geschleppt werden,' wo sie als Sklaven
arbeiten müssen, was bei denen, die in der Provinz Matto-
Grosso gefangen worden sind, der Fall ist; denn die Para-
guayer haben sogar Kinder, die schwer zu transportiren waren,
getödtet.
Die Subalternoffiziere und Matrosen der Republik wissen
weder etwas von Praxis noch Theorie und sind nur auf Flüssen
als Matrosen brauchbar.
Abschlachtung von Indianern in Nordamerika. Es ist
eine unbestreitbare und auch allerseits zugestandene Thatsache,
daß die Streitigkeiten zwischen den Indianern und Weißen sast
ohne Ausnahme ihren Grund in Frevelthaten der letzteren haben.
Man behandelt das „rothe Ungeziefer" grausam, oder hält ihm
nicht Wort, jagt unschuldigen Leuten Kugelu durch den Leib uud
schreit dann über Blutgier und Barbarei der Indianer, welche
in ihrer landesüblichen Weise Rache nehmen. Sehr häufig ist
es vorgekommen, und es ist auch amtlich nachgewiesen worden,
daß vou Seiteu der Agenten, welche den Indianern Vertrags-
mäßig festgestellte Jahrgelder für Landabtretungen zu zahlen
hatten, Betrug der schmählichsten Art verübt wurde, oder daß die
Jahrgelder nicht zu rechter Zeit bezahlt wurden. Seit drei Iah-
ren sind nun die Prairie-Indianer namentlich im Gebiete
Dakotah in Bewegnng, nnd die Bundesregierung hat Truppen
gegen sie ausgesandt. Der Befehlshaber derselben, ein Oberst
Chivington, wurde von weißen Leuten beschuldigt, sich ab-
scheuliche Barbareieu erlaubt zu haben, und General Alexander
Mac Cook untersuchte an Ort und Stelle. Der „Atchison
Champion" euthält nun den amtlichen Bericht irnd äußert sich
in folgender Weise:
„General Mac Cook sagt mit dürren Worten, es handle
sich hier um die kaltblütigste, empörendste, teuflischste Abscheu-
»lichkeit, die jemals von einem Menschen oder Teufel ausgedacht
wurde. Die befchwornen Aussagen von Zeugen ge-
nügen, um jedem Menschen die Schamröthe darüber, daß er
selber eiu Meusch ist, auf die Wangen zu treiben. Es war ein
unterfchiedloses Ermorden von Männern, Frauen und Kindern
beiderlei Geschlechts, in jeder denkbaren und empörenden Gestalt.
Ungeborene Kinder wurden aus deu Leibern sterbender Mütter-
gerissen und skalpirt; Kinder im zartesten Alter wurden abge-
schlachtet; Soldaten „schmückten" ihre Hüte mit gewissen
Körpertheilen von Männern und Frauen aus; die Flagge und
die Uuisorm der Vereiuigteu Staaten wurden durch Handlungen
diabolischer Grausamkeit geschändet, die in ihren Einzelnheiten
so empörend sind, daß ein anständiges Blatt sie nicht alle
wiedergeben kann."
„Und alle diese Abschenlichkeiten wurden an einer Indianer-
bände begangen, welche sich freiwillig uuter den Schutz
der Regierung gestellt hatte, über deren Lagerplatze eine
weiße Fahue neben dem Sternenbanner der Vereinigten Staaten
wehete. Das letztere hatten die Indianer von dem Militär-
kommandanten in Fort Lyons erhalten, nnd dieser hatte ihnen
gesagt, die Flagge diene als Schutz und Sicherheit, so lange sie
keine Feindseligkeiten verüben würden."
„Diese Indianer standen unter der Führung des Schwar-
zen Kessels, und die Freundschaft dieses Häuptlings für die
Weißen war feit Jahren sprüchwörtlich. Er hatte als Kund-
schafter im Dienste unserer Regierung gestaudeu und war vom
Oberstlieuteuaut Tappau vom ersten Coloradoregimente zurUeber-
wachuug der Sioux uud anderer feindlicher Stämme verwandt
worden.' Erst einige Tage vor der Gräuelthat hatte er durch
rechtzeitige Benachrichtigung einen Uebersall verhindert. _ Er
hatte die Männer, Frauen und Kinder seines
Stammes zusammengebracht, um in der Nähe des
Forts und unter der Obhut der Weißeu zn^ leben.
Das Vertrauen dieser Indianer wurde durch unterschiedsloses
Abschlachten, die freundliche Gesinnung durch Nothzucht und
Verstümmelung der Leichen belohnt."
„Pioniere der (Zivilisation!"
Judenvekehrungen in Amerika. Man welß nicht genau,
wie hoch sich die Ziffer der Juden tn der Neuen Welt beläuft;
nach eiuigeu Augabeu soll sie nahe an 200,000 Köpfe betragen,
von denen etwa '50,000 anf Neuyork kommen. In dieser Stadt
haben sie mehre Synagogen und überall halten sie zäh an ihrem
alten Glanben fest. Nach dem Bespiele der londoner Juden-
bekehruugsgesellschaft, welche im Ganzen doch nur geringen
Erfolg aufweisen kann, haben sich ähnliche Vereine in Neuyork
gebildet, namentlich unter den Presbyterianern und unter deu
Baptisten. Sie eröffneten Schulen, in denen sie vorzugsweise
Aus allen
bekehrten Juden als Lehrer anstellen. Der christliche Missionär
Löwenthal, der1864 zuLudianah in Indien ermordet wurde,
war eiu bekehrter deutsch-amerikanischer Israelit. Ein Anderer,
Lederer, gibt iu Neuyork ein Bekehrungsblatt heraus, welches
deu Titel „Der wahre Israelit" führt. Auch auf den Antillen
und in Guyana sind Judeunüssioucire thätig. In Surinam
hat van Emden, ein reicher Jude, eiue schöne Kapelle bauen
lassen, in welcher die Herrnhuter predigen; in Demerara wurde
1864 ein aus Hannover gebürtiger Hebräer mit seiner ganzen
Familie getauft, und in Brasilien ist irgendwo (wir finden den
Ort nicht angegeben) ein bekehrter Jude als evangelischer Pastor
angestellt worden.
Die Beschiffung des Purus durch Chandleß. Die bis-
herige Annahme, daß der peruanische Fluß, welchen man als
den Madre de Dios bezeichnet, mit dem Purus ein und der-
selbe sei, ist nicht länger haltbar. Wir haben noch jüngst
(Globus VIII, S. 159, 220 ff.) Mittheilungen über die Wasser-
Verbindungen im Innern Brasiliens gegeben; hier bringen wir
noch einige Notizen über den Purus nach Chandleß, dessen
ausführlicher Bericht später im Journal der londoner geogra-
phischen Gesellschaft erscheinen wird. Dieser Fluß erscheint auch
deshalb von großer Wichtigkeit, weil er auf der ganzen Strecke
feines Laufes gar keine Schwierigkeiten für die Schifffahrt dar-
bietet. Chandleß fand Indianer aus Bolivia, welche seinen
Kahn ruderteu, und befand sich am 12. Juni 1864 in der Mün-
dnng des Purus; dann fuhr er stroman, bis er am 23. Dez.
den Fluß so schmal und dermaßen mit Felsen angefüllt fand,
daß er nun nicht mehr weiter kommen konnte. Cr befand sich
(die Länge und Breite finden wir nicht fpeeiell angegeben) 1866
Miles vou der Mündung entfernt in einer Höhe von 1688 Fuß
über dem Meere. Dann drang er an den beiden Quellarmen,
welche den Purus bilden, so weit als irgend möglich hinauf.
Keiner von diesen war der Madre de Dios. Der Wald war
überall so dicht und hoch, daß der Reisende keinen Blick auf die
Andes gewinnen konnte; er meint aber, sie hätten ohne dieses
Hinderniß sichtbar sein müssen. An jenen beiden Quellarmen
sand er eiuen Jndianerstamm, der noch nie im Verkehr mit den
Weißen gestanden hat und eben so wenig mit den weiter abwärts
wohnenden Indianern Handelsverbindungen unterhält. Diese
Indianer kannten noch keinEifen und hattenStein-
b e i l e.
Der unseren Lesern bekannte Reisende Bat es bemerkt, er
sei auf dem Amazonenstrom viermal an der Mündung des
Purus vorbeigefahren, habe dieselbe nur etwa eine Viertelmeile
breit gefunden imd deshalb den Purus für einen Zufluß dritter
oder vierter Klasse gehalten; fünf oder sechs der Hauptneben-
ströme des Amazonas seien an ihrer Mündung drei bis vier
Miles breit. Uebrigens sei es richtig, daß der Purus eiue vor-
treffliche Fahrbahn bis ins Innere von Peru darbiete.
' Aus Brasilien. Zwischen Rio Janeiro und Porto Alegre
in der Provinz Rio Grande wird eine Telegraphenlinie
gebaut.
Professor Agassiz war am 16. August in Parä angekom-
men und wollte am 17. d. M. seine Fahrt auf dem Amazonen-
strome beginnen.
Die Dampfschifffahrt zwischen Brasilien und
Nordamerika wird 1866 beginnen. Der Washingtoner Con-
greß hat den Unternehmern auf 10 Jahre eine jährliche Bei-
steuer vou 120,600 Dollars bewilligt, und die brasilianische Re-
gierung gibt jährlich 22,000 Pfd. Sterl. Zuschuß. Die Schiffe
werden von Neuyork abgehen, St. Thomas in Westindien, Parä,
Pernambneo und Rio Janeiro berühren.
Die argentinische Regierung ihrerseits hat beschlossen, daß
sie auf acht Jahre 20,000 Dollars jährliche Unterstützung den
Dampfern zukommen lassen werde, welche einen monatlichen
Dampferverkehr mit Neuyork ermöglichen. Diese Linie wird
wohl mit jener ersten combinirt werden.
Fortschritt in Chile. In Brasilien, Neugrauada, den
argentinischen Provinze,t imd Uruguay haben Nichtkatholiken
das Recht der freien Ausübung ihres Gottesdienstes. In Chile
war tatsächlich große Toleranz, aber gesetzliche Bestimmungen
fehlten. Nun aber hat im Juli 1865 der Congreß den Para-
graph 5 der Verfassung in folgender Weise erläutert: „Allen,
welche sich nicht zur römisch-katholisch apostolischen Religion
bekennen, ist erlaubt, ihren Gottesdienst in Gebäuden abzuhalten,
welche Privateigenthum sind. Sie können Privatschulen grün-
den, in welchen sie ihre Kinder in den Lehren ihrer Religion
Erdtheilen. 159
unterrichten. — Die Geistlichkeit bot Alles auf, um die Maß-
regel zu hintertreiben, die öffentliche Meinung ist aber für die
Beseitigung der früheren Beschränkungen gewesen.
Der Handel des Landes befindet sich in blühendem Zu-
stände. In dem Finanzjahre 1864/65 betrug die Einfuhr
18,868,365 Dollars, 1,620,162 Dollars mehr als im Vorjahr.
Die Ausfuhr wächst. Sie stellte sich auf
1861 . . 20,349,634 Dollars
1862 . . 21,994,432 „
1863 . . 20,118,852 „
1864 . . 27,242,853 „
Der Geldwerth der im Küstenhandel beförderten Güter
stellt sich auf 28,896,783 Dollars.
Australische Notizen. Aus den von den Entdeckern als
„ausgezeichnetes Weideland" so hoch belobten Norddistrikteu der
südaustralischen Colonie sind im August höchst betrübende Nach-
richten eingelaufen. „Die lange Dürre hat einen gänzlichen
Mangel an Futter im Gefolge; das Vieh verhungert zu Tau-
senden.^ Mehre der größten Stationen sind völlig verlassen,
auch die Ansiedler ziehen aus jenen Gegenden sort. Man findet
sogar keineswegs selten verhungerte Kängeruhs."
Tabackssamen ans Schiras in Persien ist im Auf-
trage der englischen Regierung in der Colonie Victoria vertheilt
worden. Unser Landsmann, Dr. Müller, Direktor des bota-
nischen Gartens zu Melbourne, hat sich der Sache angenommen.
Der Zilckerbau iu Queensland scheint guteu Fort-
gang zu nehmen; man gedenkt aus dem Lande mehr und mehr
eine Zuckereolonie zu machen. Im Juni ist ein erfahrener Zucker-
Pflanzer, Fyers, aus Mauritius nach Brisbane gekommen und
hat Fabrikationsgeräthe der neuesten und besten Art mitgebracht.
Er wird vou der Regierung 1000 Acres Zuckerlaud erhalten,
das er in Abtheilungen von 50 Acres theilen will. Auf diese
soll nach seiner Methode Rohr gepflanzt werden.
Der Streit über Freihandel und Schutzzölle, der iu
Europa beseitigt ist, erhält die australischen Colonien, nament-
lich Victoria, 'in großer Aufregung. Hier sind Regierung und
Oberhaus für hohe Schutzzölle, das Unterhaus ist dagegen.
Man will die Colonie wo möglich zu einem Fabriklande machen,
und es entstehen allerdings viele gewerbliche Anstalten. Jn Syd-
uey wird von einer Compagnie eine große Glas- und Por-
zellanfabrik gegründet, damit man nicht mehr „von England
abhängig sei, in Sachen, die man selber verfertigen könne".
In Neusüd Wales sind binnen wenigen Wochen nicht
weniger als 30 mit Getreide beladene Schiffe aus Chile
angekommen.
Die Aufiedlung am Cap im Nordgebiete.
Wir haben die darauf bezüglichen Reisen uud die Maßregeln
zur Gründung einer Niederlassung früher im Globus ausführ-
lich geschildert; wir theilten anch mit, daß gegen den Herrn
Finnis, welchem die Leitung anvertraut war, große Mißstim-
mung herrsche. Jetzt lesen wir, daß die Regierung diesen un-
fähigen Mann abgerufen und durch eiueu Herr» Benney
ersetzt hat; diesem'ist der tüchtige und erfahrene Entdecknngs-
reisende M'Kiulay als „Explorer" beigegeben worden. Der
erste Platz zur Niederlassung war höchst unpassend gewählt
worden, und das Vieh starb aus Mangel cm Futter.
. Dle Leichhardt-Expedition hat am 18. Juli Balronald
erreicht. _ Der während der letzten Tage gefallene Regen wird e»
wahrscheinlich möglich machen, daß dieselbe die zwischen dem
Darling uud Mount Murchisou befindliche Gegend geradenwegs
durchziehen kann. Ueberall haben die Ansiedler, deren Eigen-
thnm die Expedition berührte, derselben große Unterstützung
gewährt. Die Vorzüglichkeit der Kameele in einer beinahe gras-
losen Gegend hat sich im Verbältniß zu den Pferden wiederholt
herausgestellt. Dr. Murray berichtet, daß letztere sehr durch den
großen Mangel an Futter leiden, während die Kameele beun
Genuß der dort wachsenden Salzpflanzen uud des Scrubs sich
ganz wohl befinden.' Die Expedition scheint in Bezug aus ihre
Mitglieder gut organisirt zn sein.
Folgendes Schreiben ist von Dr. Murray, dem bis-
herigen Führer der Leichhardt-Expedition, eingegangen:
Pooncurie am Darling, 2. August 1865. „Ich bin
mit der Expedition am 31. Juli hier eingetroffen. Wir haben
bedeutende Schwierigkeiten beim Durchzug der Gegend zwischen
Balronald und dem Darling gehabt, verursacht durch gänzlichen
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Aus allen Erdtheilen.
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Mangel an Futter und Knappheit des Wassers an der Straße.
Eines der jungen Kameele nachte ich in hoffnungslosem Zu-
stände auf Herrn Officers Station gelähmt zurücklassen, und
eines unserer guten Packkameele ist in der Nacht des 31. Juli
ertrunken; anscheinlich ist es am steilen Ufer des Flusses aus-
geglitten und in die ans dem Boden liegenden Baumknorren
verwickelt worden. Wir haben jetzt 35 Pferde und 12 Kameele,
nämlich 8 Packkameele, 1 Reitkameel und 3 Junge. Ich kann
nur mit größter Zufriedenheit über das Betragen eines jeden
Mitgliedes der Erpedition sprechen; Alle wetteifern mit ein-
ander sich nützlich zu machen, und Jeder unterzieht sich aufs
Bereitwilligste der ihm angewiesenen Arbeit. Bevor ich nach
Menindie aufbreche, werde ich einige Tage hier verweilen,
damit die Pferde sich erholen können. James P. Murray."
Neueren Nachrichten zufolge ist Dr. Murray mit der Erpe-
dition glücklich in Menindie angekommen.
Entdeckungsreisendc in Westaustralien von den Ginge-
bornen ermordet. Wir haben früher der Erpedition Panters
erwähnt. Jetzt finden wir in der „Melbouruer Germania" fol-
gende betrübende Nachricht:
F. R. Panier, I. R. Harding und W. H. Goldwyer
waren am 9. November 1864 von der Noebnckbay in Nord-
westen aufgebrochen, um das Land in der Richtung nach Legrange-
Bay zu untersuchen. Sie hatten mit sich 4 Pferde und waren
auf 14 Tage verproviantirt. Da dieselben 60 Tage nach ihrer
Abreise nicht zurückgekehrt waren, so befürchtete man, daß ihnen
ein Unglücksfall zugestoßen sei, und es wurde daher ein Herr
Brown in Begleitung von zwei Polizisten und drei Eingebornen
am 16. Februar ds. Js. in dem von der Regierung gecharterten
Schiffe „Clarence Packet" abgesandt, um nach den Verschollenen
zu suchen. In Roebnck-Bay angekommen, nahm die Partie
ihren Weg nach der Gegend, welche jene wahrscheinlich durch-
zogen hatten. Erst am 8. März erfuhr man von einem Ein-
gebornen, daß vor ungefähr 4 Monaten 3 weiße Männer nut
4 Pferden v on den Eingebornen des Nachts üb er-
fallen und getödtet worden wären. Herr Brown eilte
mit seinen Begleitern nach dem angegebenen Orte, welchen er
am 4. April erreichte, und sand hier nicht nur die Leichname
der Unglücklichen, sondern auch ihre Tagebücher und viele zer-
streut umherliegende Reiseutensilien. Die Partie trat darauf
ihren Rückweg nach Freemantle an, woselbst sie, die Leichname
mit sich führend, am 10. Mai eintraf.
Der Stamm der Selabah im Innern Arabiens. Unsere
Leser wissen aus Gifford Palgrave's Reisebericht, daß viele
Stämme in Arabien sich vom Mohammedanismus fern gehalten
haben. Auch Oberstlieutenant Pelly sand auf seiner Reise vom
Persischen Meerbusen nach Riad die Selabah, Seleb od^r
Selaib, welchen der Islam völlig fremd war. Bei gewissen
Festlichkeiten, z. B. bei der Heirat und der Beschneiduug richten
sie ein mit rothem Zeug umwickeltes Kreuz auf, dessen obent
Theil sie mit Federn verzieren; dasselbe wird vor der Haus-
thüre der Brautleute oder des Beschnittenen aufgestellt; dann
versammelt sich das Volk und tanzt um das Kreuz. Das Wort
Seleb bedeutet Kreuz; einige Leute des Stammes leiten aber
dasselbe ab von Es solb el Arab, d.h. vom Rücken der
Araber; sie wollen damit andeuten, daß sie das rechte urarabische
Blut seien. Von den Mohammedanern werden sie gehaßt und
gleichsam als Pariahs angesehen, und jene Selaibs, welche in
das Nedsched oder andere mohammedanische Gegenden einge-
wandert sind, müssen sich äußerlich den Bräuchen des Islam
anbequemen; wenn sie aber in ihren Zelten unter sich sind,
leben sie nach alter Weise. Zwischen den Selaib und den
mohammedanischen Arabern kommen Zwischenheiraten nicht vor.
Jene sind ausgezeichnete Jäger und tragen einen langen Rock,
der aus Thierfellen zusammengenäht ist. Ihre Hauptuahrungs-
mittel sind Wildpret, Heuschrecken und Datteln"; acht Monate
führen sie mit ihren Schafen und Kameelen ein Wanderleben.
Für Mekka haben sie angeblich eine gewisse Verehrung, ihr
eigentlicher Wallfahrtsort ist aber Haran in Mesopotamien.
Sie sollen Gesänge und andere Bücher in chaldäischer nnd assy-
rischer (?!) Schrift haben. Sie verehren den Polarstern,
den sie Iah (Jehova) nennen, weil er der unveränderliche
Punkt ist, nach welchem alle Reisenden sich richten, und außer-
dem noch einen Stern, Jedy, im Bilde des Widders. Während
des Betens kehrt der Selaib dem Sterne das Gesicht zu und
streckt die Arme so aus, daß sie mit dem Körper ein Kreuz
bilden. Uebrigens glauben sie an Einen Gott und beten täg-
lich dreimal. Sie sind friedlich und gastfrei nnd behaupten ein
aus dem Nedsched ausgewanderter Stamm von Sabäern zu sein.
Wenn Rawlinson meint, diese Selaib seien kein semitischer
Stamm, so fehlen dafür die Beweise.
Die Waffenfabrikation in Birmingham. Die Anfertigung
von Werkzeugen, mit welchen die christlichen und civilisirten
Menschen unsers Jahrhunderts einander ums Leben bringen,
bildet einen der wichtigsten Gewerbszweige, insbesondere für die
Stadt Birmingham. In einer der Sitzungen der British Asso-
ciation gab I. D. Goodmann über denselben eingehende Nach-
richten. Die Stadt zählte 1685 nur erst etwa 4000 Einwohner;
England bezog früher seinen Bedarf an Schießwaffen Vorzugs-
weise aus Lüttich; in Birmingham wurde die Massenfabrikation
1689 durch König Wilhelm Iii. eingeführt; fünf Meister bekamen
den Auftrag 200 Musketen mit Schnapphähnen zu liefern; für
jede derselben erhielten sie 17 Schillinge.
Jetzt gilt bei der Verfertigung der Waffen das System der
Vertheilung der Arbeit; Lauf, Schloß u\ werden von verschie-
denen Leuten geliefert, und der Gewehrmacher setzt dann die ein-
zelnen Theile zusammen. In der Mitte des Jahres 1865 waren
599 Meister in den verschiedenen Zweigen beschäftigt und 7340
Arbeitsleute; von den letzteren beschaffen 3420 die'Materialien
(etwa 700 liefern die Läufe, 1200 das Schloß, 500 das Bayon-
nett k.). Die Arbeitslöhne sind höher als in irgend einem
andern Gewerbe; man bezahlt stückweis. Neuerdings werden
mehr und mehr Maschinen angewandt, und zwar nach dem
„interchangeabie System", welches schon vor einem Vierteljahr-
hundert in der Waffenfabrik zu Springsteld in Massachusetts
eingeführt worden ist. In England kam es zuerst in Enfield
in Anwendung, wo eine Muskete, ehe sie als fertig abgeliefert
wird, nahezu 600 Prozesse durchmacht. Die Small arms Com-
pany zu Birmingham hat jetzt Vorkehrungen getroffen, in jeder
Woche 1000 Gewehre fertig zu liefern.
Alle Gewehre unterliegen jetzt, ehe sie ins Publikum ge-
langen, einer zweimaligen Prüfung; in Birmingham ist ein
besonderes Probirhaus, und alljährlich werden ani 9. März die
Probirmeister gewählt.
In den 10 Jahren 1855 bis 1864 sind in Eng-
land 6,116,305 Gewehre und Pistolen geprüft wor-
den; davon im birminghamer trade Proof house 3,277,815,
und im dortigen Regierungs Proof house 978,249; diese letzteren
waren alle für Landheer und Flotte bestimmt. Sodann in
London 1,325,139, in der Fabrik zu Enfield 505,102. Die
jährliche Waffenproduktion stellt sich so: Birmingham
trade Proof house 327,781; im Probirhause der Regierung 97,824;
London trade Proof house 135,513, Enfield 72,154, — ini Ganzen
633,272.
Während der vier Jahre des Krieges in Nordamerika sind
1,027,336 „smallarms" dorthin verschickt worden; davon 682,534
aus Birmingham, die übrigen ans London. England hat wäh-
rend der letztverflossenen 10 Jahre etwa 6 Millionen Stück
Waffen erzeugt, und Lüttich in Belgien noch viel mehr, näm-
lich 6,842,264, deren Geldwerth jedoch beträchtlich geringer war.
Die Belgier verfertigen nämlich eine große Menge' von Taschen-
Pistolen,' nämlich 2,305,176 in jenen 10 Jahren. Die Waffen-
fabrikation für diesen Zeitraum repräsentirt in Belgien einen
Geldwerth von 8,609,849 Pf. St., in England von 10,772,156
Pf. St. Znsammen also für beide Länder 130 Mill. Thlr. für
Mordgewehre; alle anderen Länder zusammengenommen haben
gewiß für eben fo viel erzeugt, uud das in einer Zeit, in wel-
eher so oft verkündet wird, daß die fortschreitende Eivilisation
und die technischen Erfindungen und die Erleichterung des Ver-
kehrs „den Krieg unmöglich machen müssen". Als ob die mensch-
liche Natur nicht dieselbe bliebe mit ihren Wallungen und Leiden-
schaften, die von einer Generation auf die andere übergehen.
Steinkohlen in der Türke». Dteosmanische Regierung
hat in Kleinasien nach Kohlen suchen lasten, und jüngst ist am
Fuße des Berges „Olympus" ein sehr reichhaltiges Lager auf-
gefunden worden. Die Kohle soll vortrefflich sein; ob aber die
Türken dieselbe auch gehörig ausbeuten werden? Die Gruben
am Schwarzen Meere werden von ihnen arg vernachlässigt.
v":fr
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Erl
Schilderungen aus dem äquatorialen Westasrika.
i.
Zur Kennzeichnung des äquatorialen Afrika. -- Die Niederlassung der Franzosen am Gabon. — Das Klima und dessen Einlvir-
langen; die Regenzeit. — Naturschilderungen. — Grisson du 'Beilay und du Chailln. ^— Die Portugiesen und der Sklaven-
Handel. — Handelsprodukte. — Die Völkerschaften in der Gabom-egion. — Die Mpongue. — Völkerwanderungen. — Unbesieg-
bare Trägheit; die Frauen als Lastthiere. — Wohnungen, Hausrath und Schinuck. —' Der Hausherr und sein Hausgesinde. —
Polygamie und deren Ursachen. — Der Handel nnd die Mäkler. — Die Frauen und das Cicisbeat. — Sklaverei. — Die Häupt-
linge. — König Denis.
Ein Blick auf die Karte zeigt, daß in Afrika zu beiden wird, bevor ein Jahrhundert in den Schoos der Zeiten
Seiten des Aequators eine weite, reichlich 20 Breitengrade hinabrollt.
umfassende Region sich ausdehnt, von welcher wir theil- Von Osten her ist der vortreffliche Burton nach Westen
Die französische Faktorei am Gabon, aus der Vogelschau. (Nach einer Zeichnung von Ballon.)
weife nur erst wenig, theilweise gar nichts wissen. In hin bis au den Tanganyika- See vorgedrungen, weiter im
unseren Tagen wurden jedoch erfolgreiche Versuche gemacht, Süden Livingstone bis an den Nyassa-See; auf seinen
in dieselbe einzudringen, und es unterliegt kaum einem früheren Reifen hat er bekanntlich das ganze afrikanische
Zweifel, daß die Lücke auf unseren Karten ausgefüllt sein Festland zwischen- den Mündungen des Sambesi und San
Globus IX. Nr. G. 21
162 Schilderungen aus dem
Paulo de Loanda durchmessen. Auf der Westseite ist vom
portugiesischen Beuguela aus Ladislaus Magyar tief bis
ins Innere der Ganguella-Länder gekommen. Was aber
nördlich von den Ländern des Watiamvo und des Cazembe
liegt, nach Norden hin bis zum Lande der Nyam Nyam
und bis nach Baghirmi, das wissen wir nicht. Jur aqua-
torialeu Westafrika keuueu wir lediglich die Küstengegend
und diese nicht einmal bis weit ins Land hinein. Was
liegt östlich von der Biafrabay, von der Serra do Cristal
und von Loango? Bis an- das Crystallgebirge ist Paul
du Chaillu gekommen, und eben jetzt ist er auf seiner ge-
fahrvollen Wanderung in derAequatorialgegeud uach Osteu
hin begriffen; er will das afrikanische Festland in diesen
Breiten durchziehen und hofft bis an einen der westlichen
Hauptzuflüsse des Nils zu gelangen.
Ueber die Küstenstrecke im Süden der Nigermündungen,
- namentlich über das Camerouesgebirge, die Corisco-
bay und den Gabon haben wir seit etwa zehn Jahren
manche Nachrichten erhalten, und wir kennen die Flußläufe
bis zum Crystallgebirge. Katholische und protestantische
Missionäre sind eifrig genug, aber ihr Bekehruugswerk hat
in dieser Gegeud ebeu so geringe Erfolge wie anderwärts
in Afrika. Sodauu haben die Engländer verschiedene Fak-
toreien angelegt, uud die Franzosen haben sich am Gabou
festgesetzt.
Interessant genng ist diese äquatoriale Küstenregion
Westafrika's, uud haben wir schon im VI. und VII. Bande
des „Globus" kulturgeographische Betrachtuugeu au die-
selbe geknüpft. Jetzt trifft es sich, daß wir im Le Tour
du Monde (Nr. 304) einen sehr lehrreichen Bericht über
deu Gabon finden, welchen wir unseren Lesern nicht vor-
enthalten dürfen. Verfasser ist ein Arzt der kaiserlichen
Kriegsmarine, Dr. Gri.ffou du Bellay, derselbe, wel-
cher mit dem Schiffslieutenant Serval von der Küste
einige Fahrten ins Innere unternahm, und von 1861 bis
1864 in diesen Gegenden verweilte. Wir geben feine Mit-
teilungen in freier Bearbeitung.
Vor nun 22 Jahren erschienen drei französische Kriegs-
schiffe in der Bay des Gabon, der ein großes Aesiuarium
bildet, uud nahmen von derselben Besitz. Sie hatten im
Jahre vorher das Land durch Verträge mit deu Häupt-
lingeu erworben, bauten eine Festuug und gaben den ver-
schiedeneu Oertlichkeiten französische Benennungen, die
aber wieder vergessen worden sind.
Es handelte sich lediglich darum, eiue gute Schiffs-
statiou zu erwerben. Vou Ackerbau kouute iu einer solchen
Gegend keine Rede sein, denn die Eingebornen sind zu
allem Möglichen aufgelegt, nur nicht zum Arbeiten, und
ein Europäer, der auf freiem Felde thätig fein wollte,
begiuge ohne Weiteres Selbstmord. „In dieser Gegend
ist die Arbeit für unsere weiße Rasse geradezu tödtlich." _
Die Frauzoseu hatten allerdings eine sichere Rhede in
diesen Regionen nöthig. Damals spielte die Verhinde-
rung der Sklavenverschiffung aus Afrika eine große Rolle.
Frankreich hatte darüber Verträge mit England uud unter-
hielt an den afrikanischen Küsten 26 Schiffe, die zumeist
klein waren und nicht viel Proviant an Bord nehmen
konnten. Die nächste französische Besitzung, Goree, lag
860 Seelieues vom Gabon entfernt, uud nun wollte man
an dem letztem eiue sichere und bequeme Statiou haben.
Für eine solche ist denn auch die Gaboubay sehr wohl ge-
eignet; sie reicht 86 Miles landeinwärts, ist am Eingange
unter 36' N. und 7° O. etwa 7 Miles breit uud bildet
den Kern eines kleinen hydrographischen Systems, das im
äquatorialen Westafrika.
Osten von dem Crystallgebirge begrenzt wird. Von diesem
kommen mehre Flüsse herab. Im Süden nnd Osten zieht
sich ein großer Fluß um deu Gabou herum, der Ogowa'i,
der mit mehren Mündungen in den Ocean fällt.
Das Land gehört vertragsmäßig, wie fchon bemerkt,
den Franzosen, tatsächlich sind sie aber nur im Besitze der
Bay. Am rechten Ufer derselben haben sie ihre befestigte
Faktorei; dort liegt anch die katholische Mission nnd beim
Dorfe Glaß die amerikanische Mission. In Glaß macheu
euglische uud amerikanische Handelsleute belangreiche Ge-
schäfte, uud auf der tiefen uud sichern Rhede liegt immer
ein französisches Kriegsschiff. Uebrigens ist die fchöne,
weite Bucht unr wenig belebt; dann nnd wann kommen
Handelsfahrzenge vom Ocean heran, oder Flußschiffe uud
Pirogueu, deren schwarze Mannschaft den Nuderschlag mit
eintönigen Gesängen begleitet.
Alles ist still und öde. Diese völlige Abgeschiedenheit
von der Außenwelt wirkt sehr niederschlagend auf das Ge-
müth der Europäer, welche das Mißgeschick haben, ain
Gabon leben zu müssen. Für den Mangel an gesellschaft-
lichem Verkehr nnd Zerstrennng kann die schöne Natur nicht
entschädigen. Der öde Anblick der afrikanischen Küste ist
sprüchwörtlich nnd mit Recht, aber der Gabon macht eine
Ausnahme. Denn dort reicht der üppige Pflanzenwnchs
bis dicht ans Wasser, nnd die Dörfer liegen im Grün
gleichsam vergraben.
Im Allgemeinen ist die Gegend flach, aber im Norden
erhebt sich ein hoher Hügel, der Bonet; ans der Südseite
sind einige.Punkte des Strandes nicht geradezu, niedrig; in
der Mitte der Bucht steigen die Ovendospitze, die Insel Co-
niqnet und das Papageyeneiland ans dem Wasser empor
uud siud mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckt. Am Strande
wuchert in. dem sumpfigen Boden Mangrovegebüsch, nnd
etwas landein tritt der sogenannte Gabontulpenbaum auf,
der jährlich zweimal eine große Fülle orangefarbiger Blü-
then trägt. Aber dieser prächtigen Natur fehlt das Leben;
nur bei Glaß uud bei der französischen Faktorei findet man
einige Beweglichkeit. In der letztern wohnen der Comman-
dant, die Beamten und die in der Faktorei beschäftigten
Leute; auch haben Nonnen dort ein Erziehungshaus, und
ganz in der Nähe liegt Libreville. In diesem Dorfe
wurden im Jahre 1849 eine Anzahl Congo- Neger ange-
siedelt, welche man einem Sklavenhändler abgenommen
hatte. Die Kriegsbesatzuug besteht aus senegambischen
Negern; sie wäre aber entbehrlich, weil die Eingebornen
an Auflehnung gar nicht denken. Und der Handel der
Franzosen bedarf hier ohnehin des Schutzes nicht, denn er
fehlt fast gänzlich, während die Engländer und Amerikaner
gute Geschäfte machen.
Die Region des Gabon wird vom Aequator durch-
schnitten. Als Griffon du Bellay im Anfange ^des Sep-
tembers 1861 dort ankam, ging eben die gute Jahreszeit
zu Ende. Die Hitze, sagt er, war gerade nicht übermäßig,
sie wurde Abends durch den Seewind gemildert, die Nächte
waren frisch intb nicht feucht, das Klima erschien demnach
ganz leidlich. Zum Unglück hatte aber diese gute Jahres-
zeit schon drei Monate angehalten, und man erwartete den
Eintritt des Regens am 15. September, weil er sich drei
Jahre hintereinander an diesem -ag eingestellt hatte. Er
kam denn auch richtig au, _ anfangs fein und nicht über-
mäßig stark, dann aber hielt er bis in die ersten Tage
Januars an; nun folgte fechs Wochen lang die kleine
trockene Jahreszeit, die aber sehr feucht und ungesund ist.
Nachher fällt wieder Regen und zwar in gewaltigen Güssen
mit prächtigen Donnerwettern, die einander rasch folgen.
Das Ganze hat einen höchst nachtheiligen Einfluß auf die
Dorf der senegambischen Scharfschützen am Gabon. (Nach einer Photographie.)
äquatorialen Westafrika. 163
vielleicht mit dem Leben büßen, und sicherlich würde ihre
Nachkommenschaft unfruchtbar sein." —
Die Portugiesen hatten schon in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts die Insel Coniquet in Besitz genommen,
zogen aber wieder ab und ließen zwei kleine, noch vorhan-
dene Kanonen iu einem Fort zurück, von welchem man jetzt
kaum noch Trümmer sieht. Doch bleiben sie des Sklaven-
Handels wegen in Verbindung mit dem Gabou. Dieser
Handel brachte ihnen großen Gewinn, und in Angola hatten
die Patres Jesuiteu mehr als 12,000 Sklaven. Jetzt sind
Angola und dessen Hauptstadt Sau Paulo de Loanda im
Verfall; aber aiu Strande zeigt man noch den Lehnsessel,
von welchem herab der Bischof den Sklaven, natürlich gegen
Bezahlung einer Summe für jeden Kopf, den Segen gab,
bevor sie ius Schiff getrieben und über See gebracht wur-
den. Jetzt steht dieser bischöfliche Sitz leer, aber die Por-
Schilderungen aus den:
Gesundheit. Während der dann folgenden drei trockenen
Monate verschwindet jedes Atom von Feuchtigkeit. Also:
sieben Monate Regen, und zwar während voller sechszehn
Wochen sündflutlicher Regeu. So ist das böse Klima am
Gabon. —
Die Hitze ist nicht allzu übermäßig, aber andauernd.
Der Thermometer steigt selten über 33 Grad, fällt aber
auch selten unter 23, und der mittlere Stand ist 28 Grad.
Diese Temperatur wird durch die Feuchtigkeit und^ die
elektrische Spannung unerträglich; das Unbehagen steigert
sich während der Regenzeit, und der erschlaffte Körper wird
immer mehr abgespannt; er ruhet sich nicht aus, wenn er
auch unbeweglich bleibt, und der Schlaf bringt keine Er-
qnickung. Die geistigen Kräfte ermatten und schlummern
ein, auch verliert sich die Lust zum Essen. Die Hitze allein
bringt diese Erscheinungen nicht hervor, es wirken noch
mehre andere Ursachen dabei mit. Dem Menschen kommt
die Harmonie abhanden.
Also dieses Klima, in welchem die Schwankungen des
Thermometers 10 Grad uicht übersteigen, ist sehr gleich-
mäßig, aber es wirkt auch gleichmäßig abschwächend, und die-
ser Charakter zeigt .sich auch iu den Krankheiten; Dysenterien
und Sonnenstiche kommen nicht oft vor, aber viel perniciöfe
Fieber. Denn das Land ist sumpfig, und der Blutmangel
hat Erschlaffung, schmerzhafte Empfindungen und völlige
Abschwächung im Gefolge.
„Iu einem solchen Lande kann der Europäer Wohl
zeitweilig campiren, aber er kann sich nicht ansie-
deln, und ich glaube, daß er keine Aussicht hat
sich zu akklimatisiren. Allerdings wohnen hier
manche Missionäre seit langen Jahren, ste haben aber bei
ihrem einförmigen und eingezogenen Leben nicht direkt
gegen das Klima zn kämpfen, was bei den Seelenten und
beim Handelsmann allerdings der Fall ist. In: günstig-
stenFalle werden nur einzelne Europäer sich eingewöhnen
können, die Weiße Rasse als solche kann es niemals, am
allerwenigsten eine Weiße Frau. Und wenn eine
solche den Gefahren trotzen wollte, Welche das Mutter-
werden hier mit stch bringt, so würden sie das Wagniß
wgiesen in Angola denken Wohl noch an die frühere Zeit,
welche für sie eine goldene war.
Bei den Schwarzen am Gabon fallen die Begriffe Por-
tugiese und Sklavenhändler allemal zusammen, und wenn
ein Häuptling einem seiner Unterthanen Furcht einjagen
will, drohet er, ihn an die Portugiesen zu verkaufen. Manch-
mal geschieht das auch wirklich, denn der Sklavenhandel
hat nicht etwa gänzlich aufgehört, sondern wird, trotz aller
Ueberwachnng, unter der Hand immer noch fortgetrieben.
Aber der Sklavenhandel hat aufgehört einen regel-
mäßigen Gewerbszweig zu bilden, und die Eingebornen
empfinden das. Sie haben sich daran gewöhnt, von den
Europäern eine Menge von Maaren einzuhandeln, die
ihnen unentbehrlich geworden sind, und früher bestritten
sie die Ausgaben von dem Profit, welchen der Sklaven-
Handel abwarf. Sie haben aber nicht einmal den Versuch
gemacht, den Ausfall durch nutzbringenden Anbau des
Bodens zu decken, weil sie so entsetzlich faul sind; und so
bringen sie es zu nichts. In: innern Lande sind mehre
Erzeugnisse vorhanden, welche iin Handel gesucht werden,
21.*
Schilderungen aus dem
z. B. Färbehölzer, Ebenholz und Elephantenzähne. Die
Gaboneseu nun treten als Mäkler zwischen den Europäern
und den Stämmen im Innern auf, doch der gauze Betrieb
ist unvernünftig. An den Flußläufen stehen jetzt gar keine
werthvollen Hölzer mehr und sie müssen von weit landein-
Wärts her geholt werden. So erschöpft man das Land.
Vor einigen Jahren riefen die Franzosen den Handel
mit Kautschuk ins Leben. Dasselbe wird aus drei oder
vier verschiedenen Lianen gewonnen, die man unter der
Benennung N d a m b o zusammenfaßt (Carpodinus, Familie
der Apocyneen). Man kann den Saft in jedem Jahre
abzapfen, und der Gewinn könnte ein regelmäßiger sein.
Aber die Neger hauen ohne Sinn und Verstand in die Lia-
nen hinein, richten dieselben zu Grunde und denken nicht
an die Zukunft.
Für den Freund der Völkerkunde liegt ein nicht geringer
Reiz darin, die Menschen am Gabon zu studireu. Sie
äquatorialen Westafrika. 165
päischen Einflüssen sind; auch ist der Mohammedanismus,
welcher im Norden und Westen so tiefe Wurzeln geschlagen
hat, noch nicht bis zu ihnen gedrungen. Der südliche Theil
jener Region ist bekanntlich von dem kühnen Jäger B ello-
nie du Chaillu durchstreift worden.*)
Die vier Volksstämme am Gabon reden vier ver-
schiedene Sprachen. Es sind die Mpongues (Pon-
gos) oder eigentlichen Gaboneseu; sie sitzen am Meere und
an den Flußmündungen. Die Schekanis wohnen in den
umliegenden Wäldern und werden deshalb von den Mpon-
gnes als Bulus, d. h. Menschen des Waldes, bezeichnet.
Sodann die Bakala'is und endlich die Fans oder Pa-
huins. Alle vier gehören diesem Lande nicht
ursprünglich an, sondern sind aus dem Innern
gekom men.
Es ist nur allzuwahr, daß die Pahuins Menschen
fressen. Sie sind in diesen Gegenden erst vor Kurzem ans-
getreten und geraden Weges von Osten her gekommen. Sie
Ein Mpongue vom Gabon.
(Nach Phl
sind wahrscheinlich eben so lange auf der Welt wie wir
weißen Leute und doch sind sie noch nicht einmal in den
Anfängen der Kultur; sie sind, wie man sich oftmals mit
einer sehr ungeeigneten Redensart auszudrücken pflegt, so
zu sagen noch im „Naturzustande", sie sind gesellschaftlich un-
reis. „Die Temperaturverhältnisse und die Leichtigkeit sich zu
ernähren mögen Einiges dazu beigetragen haben, doch liegt
das Hauptmoment darin, daß ihre Rasse von Anbeginn
an ursprünglicher Impotenz leidet; wir finden, daß sie
überall, wo sie auch gelebt habeu mag, au einer unheilbaren
UnVollkommenheit krankt."
Man sieht, daß die praktischen Beobachter, welche Land
und Leute aus eigener Anschauung kennen, anders urtheilen
als die Buckle, die Mill, die Philanthropen und Phan-
tasten.
®ec^ett des Gabon wohnen mehre kleine Völker-
stamme, welche Stoff genug zur Betrachtung darbieten.
Es wird aber noch interessanter sein, jene am Ogowa'i zu
beobachten, weil diese noch völlig unberührt von euro-
Tau, Typus eines Kruman.
graph-een.)
trieben die Bakala'is vor sich her und werden künftighin die
wichtigste Bevölkerung im Gebiete der Franzosen bilden.
Derartige Wanderungen sind an der afri-
kanischeu Küste gewöhnlich. Anlaß dazu gibt der
Wunsch, unmittelbar mit den Europäern in Handelsver-
kehr zu treten; die Stämme drängen sich nach dem Meere
hin, das auch für sie eine Ouelle des Reichthums bildet.
*) Glisson du Bellay sagt: „Er ist ein Creole vom
Senegal und Mitglied unsrer kleinen europäischen Colonie
am Gabon gewesen; "er ist aber plötzlich ein amerikanischer, für
sein neues Vaterland glühender Bürger geworden und einAngli-
ferner, der große Inbrunst für die Bibel hat." — In amerik.
Blättern las ich du Chaillu sei von jüdischer Abstammung.
Glisson du Bellay bemerkt, er wolle nicht sagen, daß du Chaillu
so weit ins Innere vorgedrungen sei, wie er selber behaupte,
und viele Geräthe, welche er augeblich von wert eutserut
wohnenden Völkern mitgebracht haben wolle, seien notorisch
solche, welche bei den Stämmen am Gabon vorkommeu. „Aber
sein Buch enthält viele Einzelnheiten, die durchaus genau sind,
und manche Sittenschildernngen, welche er dem Leben entnommen
hat." A.
166 Schilderungen aus dem äquatorialen Westafrika.
Für den Beobachter erwächst daraus der Vortheil, daß er thier des schwarzen Mannes; sie trägt schwere
verschiedenartige Stämme betrachten kann; diese selber ver- Bürden, er geht hinter ihr her und raucht gemächlich seine
lieren jedoch in der Küstengegend durch Berührung mit den Pfeife TabaÄ. Bei jedem, der ihm begegnet, bleibt er
Fremden bald Vieles von ihrer alten Ureigenthümlichkeit, stehen, denn Zeit versäumt er nicht; den Europäer begrüßt
und manche ihrer charakteristischen Gebräuche und Fertig- er mit einem Mbolo, d. h. „freundschaftlich",
keiten kommen in Abgang, weil die Leute ihre Bedürfnisse Die Mpougue sind hübsche Leute; groß und gut
in neuer Weise befriedigen können. gewachsen, von kräftigem Muskelbau, auch ist das Bein
______besser gestaltet, als sonst bei den Schwarzen der Fall; der
Fuß platt> aber die Fußbiege geschweift, die Haud kleiu, der
Ein Europäer, welcher in den Gabon einfährt, kommt Oberarm im Verhältuiß zum Unterarm zu kurz. Das
nicht sofort mit den Mpougues in Berührung, sondern mit Auge hübsch und voll Ausdruck, die Nase wenig oder gar
den Krumen, welche an der Westküste von Afrika von nicht geplätscht, der Mund mittelmäßig gespalten, die
Sierra Leone bis zum Aequator als Schiffsleute und Last- Unterlippe dick, doch nicht allzusehr herabhängend, die
träger dienen. Grifson du Bellay lobt sie als rechtschaffen Zähne hübsch und gut gestellt, prognathe Gestalt des Ge-
und thätig. sichts sehr selten, die Farbe mehr bronce als schwarz; das
Dagegen ist der Gabonese ein trager Mensch ohne Haarsystem relativ entwickelt. Die meisten scheeren einen
jede Spannkraft. Wenn man ihm ein Stück Arbeit zu- Theil des Kopfhaars ab, und zwar so, daß sie verschiedene
mnthet, wird er zur Antwort geben: „Das ist Arbeit Muster hervorbringen; Viele haben gar keinen Bart; die
für den Krnman;" oder auch: „Das ist Arbeit Brust ist breit und wohl entwickelt. Die Frauen sind
Drei Töchter des Königs Louis. (Nach einer Photographie.)
zumeist klein, haben zarte Gliedmaßen, und die Hand ist
manchmal sehr elegant. Beide Geschlechter tragen die
Brust entblößt; das weibliche Geschlecht behängt den Hals
mit Perlenschnüren, an welche kleine Fetische befestigt
werden; die Hauptfrau, welche Gebieterin im Hause ist,
hängt die Schlüssel ihrer Koffer an diese Perlenschnüre!
Dazu kommen große Ohrringe und Kupferringe, die nicht
blos an den Fingern, sondern auch au der großen Zehe
getragen werden.
Die Küsten an der Bat) des Gabon sind sehr spärlich
bewohnt. Auf weiten Strecken gewahrt man Hütten in
den Lichtungen, und unweit der katholischen Mission liegt
das Dorf des Königs Louis, -das aus zwei langen Hütten-
reihen besteht. Iu der Straße stehen einige Bäume;
hinter den Häusern hat man mit Hacke und Feuer einen
Fleck Landes vom Gebüsche gesäubert, und dort wachsen
Bananen, Maniok und Papayas. Am Strande liegen
die Kähne; die aus Ananasfasern bereiteten Fischnetze
trocknen iu der Sonne; einige Haufen Roth- und Ebenholz
für den Weißen." Er ist der festen Ueberzeugnng, daß
der Weltschöpfer dm Mpougue keine Arbeit znmuthet.
Er treibt sich am Strand herum, denn dort tritt er als
Mäkler ans, wenn er überhaupt sich mit irgend einem Ge-
schäfte befaßt. Sein Dorf liegt am Wasser, sein Kahn ist
gleichsam sein Pferd und Wagen, der Strand seine Ver-
kehrsstraße.
Dort treiben sich auch die Negerinnen umher itud
schwatzen. Die jungen Mädchen sind hurtig genug, da sie
in ihren Bewegungen durch Kleidungsstücke nicht behindert
werden. Sie tragen ein Stück Baumwollenzeuges um die
Hüften, das ist Alles, und wenn sie in Gala erscheinen, werfen
sie eiu zweites Stück über die Schultern. Die verheirateten
Frauen erkennt man auf den ersten Blick, denn von den
Fußknöcheln bis zu deu Kniegelenken sind ihre Beine mit
dicken Kupferringen belastet. Diefe, Metallstiefel kann
man sagen, sind schwer und gewiß sehr lästig; aber sie sind
Mode, obwohl sie gar nicht selten schmerzhafte Hautkrank-
Helten erzeugen. Uebrigens ist die Frau das Last-
Schilderungen aus dem
liegen zun: Verkaufe da, und iu der Straße laufen Hühner
umher. So ist das Dorf des Königs Louis ititb ihm
gleichen alle anderen. Uebrigens hat der Mpongue auch
noch eine Hütte im Walde. Die Dörfer unterscheiden sich
vortheilhaft von anderen afrikanischen, weil sie ein sauberes,
reinliches Ansehen haben. Die Hütteu werden aus Palm-
zweigen errichtet und sehen recht hübsch aus, aber das In-
nere entspricht dem Aeußern nicht; der Gabonese ist
unsauber. In der Hütte stehen ein paar Cauapes, die auch
aus Zweigen der Enimbapalme geflochteu worden sind,
Stühle, europäisches Geschirr, und recht viele Koffer, wenn
auch nichts darin ist. Der Hausherr liegt auf dem Kanape
und raucht oder fchläft.
Wir treten ein. Der Herr steht vielleicht auf, um uns
äquatorialen Westafrika. . 167
brennt. Der Rauch vertreibt die Mücken; an demselben
werden Thierhäute getrocknet, Fische oder Stücke Fleisch
geräuchert, oder Speisen gekocht. Neben dem Heerde kauern
auch einige Frauen; sie reinigen Bananen und Jgnamen,
bereiten Maniok zu oder kratzen mit einem Messer die Fasern
aus den Ananasblättern; andere putzen ihre kupferneu
Ringe mit Citroueusast; auch kann man sehen, wie eine
Schwarze die andere kämmt und den Haarputz ordnet.
Der letztere spielt bei den Gabonesinueu eine große
Rolle und der man kann wohl sagen Aufbau des Haares
erfordert eines ganzen Tages Arbeit. Aber wenn er ein-
mal steht, dann hält er auch eiu paar Wochen. Das Photo-
graphisch getreue Porträt der Hauptfrau des Königs Denis
gibt eine Vorstellung dieser Coiffure; eiue andere Mode,
Die katholische Mission am
Ehre zu erzeigen; ist er aber ein Häuptling, so fühlt er
seine Würde und deraugirt sich nicht. Er sitzt mit unter-
geschlagenen Beinen da, ist von einer Anzahl Dienern um-
geben, die ihm nur mit gekrümmten Rücken nahen und
streckt dem Besuchenden die eine Hand entgegen, denn mit
der andern knetet er unfehlbar an einem Fuß herum. Er
macht eine würdige Bewegung und ladet damit zum Sitzen
ein. Der Besuch eiues Weißeu gibt ihm allemal eiu
erhöhtes Ansehen im Dorfe und wirft auch eiu Gefcheuk
ab. Wer ihm ein paar Pfeifen Taback verehrt, gewinnt
sicherlich feine Gunst, und für Branntwein würde er seine
Familie verkaufen.
_ Aber das Hausgesinde rührt und regt sich nicht; das
bleibt am Heerde sitzen, auf welchem stets das Feuer
n. (Nach einer Photographie.)
welcher die Tochter des Köuigs Louis huldigte, hat viel
Ähnlichkeit mit europäischer Haartracht.
Sämmtliche Frauen des Mannes wohnen in einer und
derselben Hütte, die für ihn eiu Serail mit Harem bildet.
Griffen du Bellay stimmt mit Burton und anderen gründ-
lichen Kennern und Beobachtern des urafrikanifcheu Lebens
darin überein, daß die Polygamie ihre guten Gründe
und gewichtigen Ursachen habe. Dahin, sagt er, gehört
die kurze Zeit der, Fruchtbarkeit der Weiber, die freilich
zumeist daher rührt, daß sie so unvernünftig früh ver-
heiratet werden, oft schon im ze'huteu Jahre; im vier-
zehnten ist dauu solch eiu armes Geschöpf Mutter und im
zwanzigsten ein altes Weib. Außerdem scheint es, als ob
in ganz Afrika ein starkes Mißverhältniß zwischen der
Schilderungen aus dem äquatorialen Westafrika.
Zahl der Männer und jener der Frauen stattfinde. Am
Gabon wenigstens kommen nur drei männliche Geburten
auf fünf weibliche; und dieselbe Thatsache ist auch an an-
deren Punkten beobachtet worden.
Der Abschluß einer Ehe ist ganz einfach ein Handels-
geschäft, das manchmal eine geraume Zeit in Anspruch
nimmt. Der Mann braucht sich nicht zu übereilen, denn
nicht selten ist das Mädchm noch ein kleines Kind und wird
dann unter die Obhut der Hauptfrau gegeben. Manchmal
macht ein Vater
allzugroße An-
sprüche; dann
wendet sich der
Bewerber an
den Fetischmann,
dessen Zauber-
formeln natür-
lich unfehlbar
sind. Auch Lie-
bestränke wer-
den manchmal
angewandt; und
der Pflanze Ode-
pu schreibt mau
eine ganz beson-
dere Fähigkeit
zu, das Herz
eines Schwieger-
vaters zu erwei-
cheu. Bei deu
Heiratsabschlüs-
seu kommt es,
einer alten Sitte
gemäß, oftmals
vor, daß der
Schwiegervater
vom Schwieger-
söhn eine der
Schwestern die-
ses letztern er-
hält, und daß
er diese seiner-
seits heiratet.
Uebrigens heirci-
ten die Bewoh-
ner eines Dorfes
unter sich nicht,
weil sie zu nahe
mit einander ver-
wandt sind, und
diese Strenge in
Betreff der Eon-
fanguinität,
der Blutsver-
Wandtschaft, ist Akira, ein junges Mponguemädchen am
bemerkenswert)
bei einem der Wildheit so nahe stehenden Volke. Uebrigens
spielt beim Weibernehmen (denn von Ehe kann ja doch
eigentlich keine Rede sein) auch das Handelsinteresse eine
Rolle. Ein Mann nimmt sich eine Frau cuts dem Innern;
ein Schwiegervater ist, kaufmännisch zu r eben, eiu schätz-
barer Korrespondent, und eiu gewürfelter, eiu „coulauter"
Geschäftsmann verfehlt selten, sich in allen Dörfern, mit
denen er Handelsverkehr unterhält, eine Frau zu kaufen.
Denn seine Mittel erlauben ihm das. Je mehr
Weiber, um so größer das Auseheu und der Wohlstand;
jede einzelne Frau ersetzt ihm ja einen Sklaven. So
lange sie jung ist, macht sie ihm Pläsir, und manchmal ver-
mischet er ihre Reize an andere Leute und streicht den
Profit ein. Sobald sie aufgehört hat frisch zu sein, wird
sie tatsächlich Sklavin und hat schwer zu arbeiten, während
der Herr Gemahl raucht oder schläft. Manchmal macht
er Ausflüge und dann schließt er alle Frauen, welche er
nicht mitnimmt, ein. Allerdings gehört keine große An-
strengung dazu, die Bambuswände zu durchbrechen, aber
es kommt doch
nur sehr selteu
vor, daß eine
Frau fortläuft.
Die armen Ge-
schöpfe wissen es
nicht besser und
finden die stren-
ge Behandlung
ganz erklärlich
und als sich von
selbst verstehend;
eben so, daß sie
die Stelle der
Lastthiere vertre-
ten, die ja in
jenem Lande feh-
len. Uebrigens
findet man die-
selben oder ganz
ähnliche Verhält-
nisse bei allen
schwarzen Völ-
kern Asrika's.
Merkwürdi-
gerweise gibt es
bei diesen Völ-
kern am Gabon
ein Cicisbeat.
Der Mann ist ei-
fersüchtig, wenn
auch nicht gerade
auf feine Frau,
so doch auf seine
Rechte, aber ei-
nen Congnieh
muß er sich ge-
fallenlassen; das
alte Herkommen
will es einmal
so haben. Der
Brauch schützt
auch die Frau in
gewissen delika-
teu Fällen gegen
Gabon. (Nach einer Photographie.) den Mann, und
sie kann, wenn
sie von demselben anhaltend vernachlässigt wird, wieder zu
ihren Eltern gehen, und wird von ihnen nur dann wieder
herausgegeben, wenn der Mann verspricht, künftig weniger
nachlässig zu feilt, uud nachdem er dem Schwiegervater ein
Geschenk gemacht hat. Manchmal wendet sich eine solche
Frau auch geradezu an den Häuptling des Dorfes, der,
gleich deu muselmännischen Kadis, manchmal über gar
seltsame Fälle zu entscheiden hat.
Die Hauptfrau, das heißt diejenige, welche der Mann
zuerst geheiratet hat, erfreut sich gewisser Privilegien; sie
Schilderungen aus dem äquatorialen Weflafrika.
16S
leitet das Hauswesen, arbeitet wenig und trägt nur selten
eine Last. In der Hütte eines reichen Mannes, also eines
solchen, der eine mehr oder weniger beträchtliche Anzahl
von Frauen besitzt, übt sie die Hauspolizei, und selbst die
Feldarbeiten werden von ihr geleitet; denn der Mann
bleibt faullenzend im Dorfe. Man sieht, die Frauen sind
bei diesen Schwärzen sehr niedrig gestellt, aber trotzdem
dreht sich eigentlich Alles mit sie. Ist doch das Weib
ein Kapital, das der Besitzer so gut als mög-
lich auszunützen sucht. Er gibt z. B. eine Frau als
Unterpfand für Waaren, die ihm anvertraut werden; wenn
er Forderungen hat, sucht er vor allen Dingen einer Frau
seines Schuldners habhaft zu werden. Den Congnieh
duldet er, aber kein anderer Mann darf ihm in seine Rechte
eingreifen; wer das thut, muß ihm Strafe zahlen und
wird manchmal obendrein tüchtig ausgeprügelt. Manch-
mal gehört der Uebelthäter einem andern Dorf an, entflieht
dorthin, wird verfolgt und dann entspinnt sich eine Fehde.
Griffon du Bellay sah einst am Ogowa! einen solchen
päern gemacht, und der Mann fährt anch wohl in See, um
Fische zu fangen. Das thut er, weil es gar keine leichtere
Arbeit geben kann. Die Felder werden von den Frauen
bestellt, und das Einsammeln des Kautschuk, die Entgegen-
nahine des Eben- und Färbeholzes verursacht keine Mühe.
Der Fischfang wird jetzt mit Netzen betrieben, die man von
den Europäern bekam; früher betäubte man die Fische;
man warf Onono-Lianen oder eine fchöne Legnminose
mit gelben Blüthen, die Jgongo, ins Wasser. Die
letztere wird ans den Feldern angebaut und ist gewiß mit
den Mpougue aus dem Innern gekommen. Die Betän-
bnng beeinträchtigt den Wohlgeschmack der Fische nicht im
Mindesten; natürlich kann sie aus der See nicht stattfinden,
und man muß sich der Netze bedienen. Die Schwarzen
haben das Stricken derselben von den weißen Leuten
gelernt; die Faser der Ananas gibt ein treffliches
Material für die Netze; die Seile werden ans dem Ev o-
nneh-Hibisens verfertigt; diese Pflanze wächst am
Meeresufer in großer Menge. Ueberhanpt sind viele Faser-
Die Hütte des Königs Denis. (Nach einer Photographie.)
Galan. Er war ein stattlicher Bnrsch mit olivengelber
Hautfarbe und hatte nur sehr wenig vom eigentlichen
Negertypus. Zu seinem Mißgeschick hatte er nicht nur eine
schwarze Helena entführt, sondern auch den Nachen ihres
Mannes mitgenommen; dieser hatte ihn verfolgt, ertappt
und an einen Pfahl gebunden. An diesem stand er nun
schon seit einigen Tagen und hatte Zeit genug, über sein
Abenteuer nachzudenken. Hinterher mußte er ein erheb-
liches Sühngeld zahlen, sonst hätte der Beeinträchtigte ihn
als Sklaven verkauft. Der schwarzen Helena erging es
auch schlimm genug; man hatte ihr das Haupthaar abge-
scheren, ein Bein durch einen schweren Klotz gesteckt und sie
allein in eine Hütte gesperrt, wo sie dann und wann
empfindliche Denkzettel erhielt.
Also der Mann faullenzt und alle anderen helfen ihm
dabei; die Frauen müssen für ihn arbeiten; beide Ge-
schlechter rauchen Taback. Die Leute besuchen einander in
den Hütten oder am Strande und das Schwatzen nimmt
kein Ende. Dann und wann wird ein Geschäft mit Euro-
Globus IX. Nr. 6.
pflanzen vorhanden; aus dem Ojono werden Matten
verfertigt; der Hanf gedeiht vortrefflich und die Schwarzen
rauchen die Blätter, um sich zu berauschen.
Im Handelsverkehr ist, wie schon bemerkt, der
Mpongne lediglich Mäkler zwischen den Europäern und den
Stämmen des Innern. Gerade dieses Mäklerwesen ist
ein großes Unheil an der ganzen afrikanischen Küste. Die
Leute im Binnenlande, welche Waaren zu verkaufen haben,
sind uicht im Stande, in unmittelbaren Verkehr mit den
Europäern zu gelangen, über welche die Strandbewohner
ihnen allerlei abenteuerliche und grauenhafte Dinge erzählt
haben. Sie lügen unverschämt, bieten aber doch ihre Ver-
mittluug au; allein die Waare wird dadurch ungemein ver-
thenert, daß bei jedem Stamme, dessen Gebiet sie zu
Yassiren hat, etwas hängen bleibt. Ein Elephanteuzahn
kommt zum Beispiel vierzig Meilen weit aus dem Innern
her und geht von Hand zu Hand; er wird aber unterwegs
nicht etwa verkauft, sondern der jeweilige Inhaber schlägt
eine Commissionsgebühr auf deu Zahn, der endlich an die
Küste gelangt und dort theuer zu stehen kommt, weil so
32
170 Schilderungen aus dem
viele Mäklerabgaben auf ihm lasten. Dem letzten Inhaber
kauft der Europäer ihn dann ab und bezahlt ihn nicht mit
Geld, sondern mit Waaren, welche dann unterwegs wieder
den Eommissionsgebühren unterliegen, so daß der eigentliche
Prodncent des Zahns das Allerwenigste bekommt.
Also: die Pahuins oder Bakala'is, von welchen die
Waaren eigentlich herstammen, werden unverschämt betro-
gen, und der europäische Handelsmann wird eben so uuver-
schämt bestohlen. Die Kaufleute, welche in den Faktoreien
ansässig sind, können allerdings wohl zuwarten, nicht aber
die Kapitäne, welche mit ihren Schiffen auf der Rhede
liegen. Manche derselben stehen in laufender Rechnung
mit ihren Mäklern und schießen ihnen Waare vor, wogegen
diese sich verpflichten, gewisse Artikel zu bestimmter Zeit zur
Ablieferung bereit zu halten. Das geschieht aber nur in
seltenen Fällen. Wenn der Kapitän wieder erscheint, sindet
er nicht das bedungene Quantum; der Rest, z. B. Färbe-
holz oder Ebenholz ist noch unterwegs. Der Schwarze
trödelt alle Geschäfte hin und her, der weiße Kapitän liegt
vor Anker in der bösen Regenzeit und verliert Zeit und
Gesundheit. So weit die französischen Behörden wirksam
eingreifen können, ist diesem argen Gewohnheitsuufuge der
Mäkler allerdings vielfach gesteuert worden, aber ander-
wärts geht es desto schlimmer her.
Angenommen, der Kapitän will gegen baar kaufen.
Dann erklärt der Mäkler, er habe nur geringen Vorrath,
und läßt dann jenen warten und immer wieder warten, in-
dem er ihn mit Versprechungen tröstet. Am Ende wird
ihm die Zeit zu lang, die Mannschaft erkrankt, die Regen-
zeit mit ihren Orkanen bricht herein, und zuletzt muß er
jeden Preis bezahlen, um nur fortzukommen. Trotz alle-
dein erwirbt der Mponguehalunke nicht viel, weil er zu
träg ist, selbst ein solches Maklergeschäft mit einer gewissen
Ausdauer zu betreiben.
Nun einige Bemerkungen über die gesellschaftlichen
Einrichtungen. Die Sklaverei ist von sehr milder Art
und ein Abstand im Unkulturgrade zwischen Herrn und
Sklaven nicht vorhanden. Die letzteren werden keineswegs
überbürdet (dafür sind die Frauen da) und als zur Familie
gehörig betrachtet. Der Herr ist abergläubig, glaubt au
Zauberei und auch au Vergiftung. So kommt es wohl,
daß der Sklav das Opfer eines religiösen Wahnes und
als Sühnopfer geschlachtet wird. Die Sklaven der
Mpongue stammen zumeist vom Ogowaü und sind am Kap
Lopez gekauft worden; gewöhnlich von Portugiesen. Kin-
der, welche der Herr mit einer Sklavin erzeugt, sind nicht
vollberechtigt mit den übrigen; man gibt ihnen nicht gern
ein Mpongnemädchen zur Frau, sie erhalten nur schwer
Credit zu Handelsunternehmungen und werden in der Ge-
sellschaft nicht für voll angesehen. Denn selbst unter diesen
Barbaren gibt es gesellschaftlichen Hochmuth. Die Mpon-
gues rühmen sich, daß sie unter ihren Vorfahren keine Bulus
und keine Sklaven gehabt haben, doch ist das nur bei einigen
wenigen Häuptlingsfamilien der Fall.
Jedes Dorf hat seinen besondern Häuptling. Er
nennt sich König, lebt aber sonst wie seine Unterthanen,
war vielleicht vormals ein ehrsamer Sklavenhändler und
macht jetzt Geschäfte in anderen Waaren. Zwei oder drei
dieser Häuptlinge sind von etwas mehr Gewicht als die
anderen, und haben über diese eine Art von Oberherrschaft,
die aber lediglich auf moralischem Ansehen ittxb nicht etwa
aus Rechtstiteln beruht. Die Würde ist nicht erblich, son-
dern das Volk wählt den Häuptling ans der Königsfamilie.
Dabei fallen manchmal stürmische Auftritte vor, aber im
Allgemeinen sind die Mpongue nicht kriegerisch, und die
äquatorialen Westafrika.
französischen Behörden reden auch ein Wort mit. Der
neugewählte König wird am Abend vor seiner Einsetzung
vom Volke derb ausgescholten; man hält ihm alle seine
Fehler und Sünden vor, und dabei bekommt er manchen
harten Puff. Am andern Tage aber leistet ihin Jeder Ge-
horfam. Seine Autorität ist übrigens nicht von großem
Belang, besonders jetzt, weil die Franzosen nicht leiden,
daß ein Dorf Krieg gegen das andere führe. Jndeß hat
der König die Ausübung der Polizei und schlichtet Streitig-
keiten, namentlich über Mein und Dein. Seine Unter-
thanen betrügen und bestehlen gar zu gern Leute aus
anderen Dörfern.
Der bedeutendste unter den Häuptlingen am Gabon
ist dermalen König Denis. Dieser Dionysius ist ein
Greis, der bei Eingeborneu und Europäern in Achtung
steht. Er spricht etwas Französisch, Englisch, Portugiesisch,
versteht auch noch einige Brocken Spanisch und hat den
Seefahrern verschiedener Nationen manchen guten Dienst
erwiesen. Den Franzosen war er bei der Gründung ihrer
Faktoreien behülflich und vermittelte den Verkehr derselben
mit seinen Landsleuten. Der Gouverneur belobte ihn
deshalb, und er trägt das Kreuz der Ehrenlegion; auch hat
er vom Papst eine Medaille bekommen, weil er sich der
katholischen Mission förderlich zeigte und einige seiner
Kinder in derselben erziehen ließ. Er selber ist aber ein
Fetischanbeter geblieben, und Griffon du Bellay meint, daß
er dann und wann unter der Hand wohl auch noch ein
Bischen Sklavenhandel treibe. Die Engländer haben ihm
auch eine Medaille und obendrein einige Uniformen
geschenkt; die Franzosen thaten dann ein Gleiches, so daß
König Denis als ein stattlich gekleideter Mann erscheint.
Vor einigen Jahren war er den letzteren behülflich, die
Stämme am Kap Lopez unter das kaiserliche Protektorat
zu bringen, und die Leute dort waren nicht wenig erstaunt,
ihn zwei Wochen lang an jedem Tage mit einer andern
Uniform ansstaffirt zu sehen; heute war er General,
morgen wie ein Marquis aus dem vorigen Jahrhundert,
übermorgen trug er einen englischen Admiralshut und so
fort. Aber am meisten legt er Werth auf seine Perrücke!
Ersieht gar nicht so übel aus; aus seinen Zügen spricht
Schlauheit und Gutmüthigkeit, und er hat, was man bei
Schwarzen so sehr selten sindet, etwas Würdiges. Seine
Einnahmen sind nicht von Belang, aber trotzdem ist er gast-
frei und man hat ihn gern. Er wohnt auf der linken Seite
der Bay und ist demnach ziemlich unabhängig von den
Europäern, die ihre Faktorei aus dem rechten Ufer haben.
Mit seiner Hauptfrau lebt er im besten Einvernehmen,
aber feine große Hütte ist nicht gerade im besten Zustande;
er bleibt jedoch in derselben und hat ein halbes Dutzend
Frauen bei sich; seine Söhne haben ihm ganz in der Nähe
eine recht behagliche Wohnung gebaut, er mag aber die-
selbe nicht beziehen. Einst war er durch den Sklaven-
Handel reich geworden, jetzt unterstützt ihn die französische
Regierung. ^
Die Mpongue schmelzen in Folge der Be-
rühruug mit den Europäern rasch zusammen.
Und doch führen sie keiue Kriege, Seuchen kommen nicht
vor, Mangel leiden sie nicht; aber grundverderblich wirken
der Branntwein und die zügellosesten Ausschweifungen.
Die Abnahme der Bevölkerung geht sehr schnell vor sich
und ist auffallend zu verspüren. Sie beschränkt sich aber
nicht allein auf die Mpongue, sondern ist bei den Bulus
nicht minder bemerkbar. Glücklicherweise dringt aber
das Volk der Pahuins aus dem Innern unaufhaltsam bis
an den Oeean vor und wird die Lücken ausfülleu.
E. Schlagintweit: Die Lage von Bonga x.
171
Die Lage von Bonga, der katholischen Missions-Station in Tibet.
Von Emil Schlagintweit.
Im Globus, Bd. III, S. 245 und 341 wurden aus-
führliche Reiseberichte der französischen Missionare mit-
getheilt, die vonMn-nan aus, der südlichsten Grenzprovinz
China's, über die Wasserscheide, welche den Jang tse kiang
von dem Jrawaddi und Saluan trennt, nach Tibet vor-
drangen. Ju dem tibetischen Bezirke Tsarong gründete
Renou, der erste und zugleich der energischste der srauzö-
fischen Missionäre, welche in jene Gegenden vordrangen,
imJahre1854 eineMissionscolonie in demThale Bonga.
Er war im Oktober 1858 genöthigt, die Ansiedlnng zu
verlassen, um sein Leben Vörden räuberischen Angriffen der
umliegenden tibetanischen Lamas zu retten, und kehrte schon
im Spätherbste 1859 nach Kiang-Ka zurück (Kieng tsa
bei den Chinesen, Mangan: bei den Tibetern und aus der
Klaprothschen Karte unterm 29"25^nördl. Br. 98° 25'
östl. von Greenwich), dem nächsten Sitze eines tibetischen
und chinesischen höhern Beamten.
Seitdem Tibet im Ansänge des vorigen Jahrhunderts
seine Selbstständigkeit verlor, hat jeder tibetische höhere
Beamte einen chinesischen Mandarinen zur Coutrole neben
sich. Renon's fortwährende Vorstellungen um Bestrafung
der Räuber und Wiederznlassnng zur Mission wurden
wesentlich dadurch unterstützt, daß nach den Verträgen der
Westmächte mit dem Hose zu Pekiug die Mandarinen für
ihr Amt zu fürchten begannen, wenn sie der Aufforderung
der Fremden, den Vertrag zu vollziehen, nicht entsprechen.
Renou und seine Collegen brauchten Jahre, um es so weit
zu bringen. Man glaube aber nicht, daß bereits eiue Um-
stimmung der chinesischen Gewalten stattgesunden habe; sie
werden sich auch in Zukunft so lange als möglich dagegen
stemmen; in Tibet behaupteten die Behörden, die Verträge
gälten gar nicht für sie, nur bestimmten Weisungen der
Obermandarinen gaben sie nach.
Erst ini Frühjahre 1863, also nach fast fünfjähriger
steter Erneuerung des Verlangens um Zulassung, hatten die
Missionäre wieder dieGenngthuung, nach Bonga sich bege-
ben zu können. Leider sollte Renou uicht mehr uach Bonga
zurückkehren; er erlag 51 Jahre alt, am 18. Okt. 1863 in
Kiang - Ka einem langjährigen Leiden. Sein Verlust ist
eiu äußerst empfindlicher; er hatte große Umsicht bewiesen
in der Behandlung der Beamten, auch die Wiederherstel-
lung der Mission von Bonga ist ganz allein sein Verdienst;
er ist der Einzige gewesen, welcher die tibetische Sprache
und die Volksdialekte vollkommen inne hatte. Er hinter-
ließ eine Übersetzung des Katechismus von Grenoble, eiue
Lebensgeschichte Jesu, Gebete an die Mutter Gottes. das
Pater noster und Anderes. Das ist eine wichtige Hinter-
lassenschast. Hoffen wir, daß diese Übertragungen bald
gedruckt werden; die von H. de la Penna vor mehr als
IM Jahren besorgte Übersetzung des Pater noster ist eine
sehr unvollkommene Arbeit. Den Namen Christus gibt
Renou durch „Herr des Himmels" wieder, im Tibe-
tischen lautet es Nam-khye-da-po, geschrieben Wirdes
nam-mkha-bdag-po. Die Schreibart der tibetischen Worte
ist bekanntlich sehr verschieden von der Aussprache.
Ueber die Wiederaufrichtung der Missiousanlagen in
Bonga liegen ausführliche Briefe vor. Die besten Berichte
gab D es g o d i us, ein im Reisen in jenen Ländern erfahrener
Mann, von dem sich auch erwarten läßt, daß er mehr als
seine Vorfahren der Erforschung des Landes seine Auf-
merksamkeit zuwenden werde. Ju dieser Beziehung hat
Renou viel versäumt; noch 1863 hatten die Missionäre
kein Thermometer; über den weitern Verlauf der Flüsse,
welche sie passirteu,. beruhen ihre Anschauungen lediglich
auf sehr mangelhaften chinesischen Karten; die Schilderung
der Wege und der Schwierigkeiten der Reise ist sehr über-
trieben; der kirchlichen Literatur, die über Fragen der Reli-
gion, der Geschichte und Geographie so viel, auch für Euro-
päer belehrenden, Stoffes enthält, erwähnen sie nirgends.
Für die Vorbildung in sprachlicher Beziehung geschieht
jetzt mehr als früher. Am College de France ist Herr
Fe er") mit dem Kursus des Tibetischeu betraut worden;
Herr Foucaux lehrte in den Missions 6trangöres.**)
Eine Beschreibung der Gegend um Bonga, der Lebens-
weise der Bewohner, Details über die religiösen Anschau-
ungen der Bon-Sekte erhalten wir erst durch Des g od ins.
Weitere Nachrichten gab Durand; wenn auch die An-
gaben der Entfernung Bonga's von bekannten Punkten
nicht vollkommen ausreichen für eine ganz sichere Bestim-
mung der Lage, so läßt sie sich doch, ohne große Fehler
zu machen, jetzt annähernd genau begrenzen. Die
neuesten Berichte der Missionäre sind mitgetheilt in
Nr. 215, 220, 221 der Annales de la Propagation de la
foi; zur Feststellung der geographischen 'Positionen sind
benützl das Wei tsang tn schi, eine chinesische Schilderung
der tibetischeu Provinzen U (chinesisch Wei) und Tsang,
noch immer die wichtigste Quelle der Belehrung für das
östliche Tibet, deren Übersetzung wir 1828 von Bitschn-
rinski und 1831 von Klaproth erhielten; ferner die Klap-
rothsche Karte von China, und eine sehr schöne Manuskript-
karte von Oberassam und Bhutan von Herm. v. Schlagint-
weit, im Maßstabe von 8 engl. Meilen auf 1 Zoll.
Bonga wird beschrieben als ein sechs Stunden langes
Seitenthal, dessen Abhänge mit Wald nnd niederm Gestrüpp
überwuchert sind; ganze He erden von Moschusthieren, Anti-
lopen und Affen, auch Bären und Panther halten sich
darin ans. Sehr reich ist es an eßbaren Wurzeln; davon
wird es auch den Namen haben, denn bong-nga (dessen
zweites n g in der Aussprache sich uicht bemerkbar macht)
ist im Tibetischen ein allgemeiner Name für aromatische,
schmackhafte Wurzel. Von Getreide gedeihen alle in Tibet
gezogenen Arten, von Obstbäumen kommt nur die Wall-
miß vor. Ein kleiner Bach durchfließt das Thal der ganzen
Längenach; er ergießt sich in den Ln tse kiang. Die
Missionäre identificiren ihn ganz fälschlich mit dem
*) Der Vortrag, mit welchem Leo Fe er seinen Kursus
über die tibetanische'Sprache und Literatur au der kaiserlichen
Bibliothek zu Paris eröffnet hat: lo Tibet, le Buddhisme et la
langue tibetaine, ist ganz vortrefflich. Ich werde in einer fol-
gendeu Nummer des „Globus" Auszüge aus demselben geben.
**) Durch die vor einigen Jahren.erschieneneu vortrefflichen
Werke von Emil Schlagintweit über den „Buddhismus in
Tibet", und durch die Köpven'sche Darstellung „der Religion des
Buddha" sind ihnen ebenfalls wesentliche Erleichterungen geboten.
22*
172 K. v, Koseritz: Die
Saluan, der sich bei MnlmZn in den Busen von Martaban
ergießt. Auch in dieser Beziehung zeigen sie sich voll-
kommen unbekannt mit den europäischen Forschungen; schon
längst haben englische Offiziere nachgewiesen, daß der
Jrawaddi und der Saluan nicht in Tibet ent-
springen, sondern südlich des Brahmaputra;
dieser dagegen kommt aus Tibet, er ist der
Lan tsau kiaug der Chinesen; in ihn ergießt sich bei
Sadya, Oberassam, der Lu tse kiang, hier Dibong ge-
uauut. In diesen, und nicht in den Saluan mündet der
Bach, an dem die Mission liegt. Daß Bonga ein sehr
warmes Klima hat, zeigt das Vorkommen von Affen,
welche nach den Zusammenstellungen in Bd. II, S. 501
des großen Schlagintweitfchen Reisewerkes auch in den
südlichsten Theilen des Himalaya nur bis zu 11,000 engl.
Fuß beobachtet wurden; auch für die Kultur der Obst-
bäume ist dieses die oberste Grenze.
Der Distrikt, in welchem Bonga liegt, wird Tsarong
genannt; der Name ist wohl von den Salzquellen, den
Tshas, hergenommen, deren dort sehr ergiebige ange-
troffen wurden, und Tsarong (eig. mit einem aspirirten
ts) bedeutet dann „Salz-Schlucht". Der Bezirk, wel-
cher sich wie alle Thäler im Südeu einer gewissen Selbst-
ständigkeit erfreut, zählt 22 Ortschaften; die nächste ist von
Bonga eine Tagreise entfernt. NachAssam, dem Südlande,
rechnet man von Bonga 10 Tagreisen; nach Tscha-mu-
tong, an der Grenze von Mnnan, dem Ostlande, brauchten
die Missionäre 3 Tage, nach Kiang -ka 10 Tage. Den
Weg nach Tscha-mu-tong beschreiben die Missionäre viel
zn gefährlich; wenigstens zeigen die Berichte von Reisenden
unter den Abors und Mischmis, daß der Missionär
Krik, der dreimal den Versuch machte, aus Assam nach
Tibet zu gelaugeu, aber von den Mischmis ermordet wurde,
uur schlechte Bergpfade und Brücken ohne Geländer zu
pafsiren harte, obwohl er von gigantischen Abgründen,
schwindelerregenden Uebergängen redet; Durand schildert
den Weg nach Tscha-mu-toug als eiue Reise ,,zu Land,
zu Wasser und durch die Lust"!
Wichtiger ist für die Bestimmung von Bonga die Route
nach Kiang - ka. Bonga zunächst liegt östlich ein hoher,
den größten Theil des Jahres mit Schnee bedeckter Kamm,
weiterhin ist der Brahmaputra zu überschreiten, dann führt
der Weg in der tibetischen Provinz Ba-thang auf die
große Straße uach Lhassa, der man drei Tage lang folgt,
ehe man nach Kiang-ka gelangt. Nach der Klaprothscheu
itabt Porto Alegre x.
Karte wäre nach dem schneebedeckten Kamme ein größerer
Fluß zu erwarten gewesen; daß dieser, ein östlicher Zufluß
des Diboug, bei Klaproth viel zu nördlich gerückt ist, zeigt
die Schlagintweitsche Mcmnskriptkarte, auf welcher er in
einer fast gerade östlichen Richtung eingetragen ist. Be-
rücksichtigen wir diese Daten, so erhalten wir für Bonga
ungefähr 28° 30' uördl. Br. und 96° 20' östl. Länge von
Greenwich, nach der Schlagintweitfchen Berechnung der
Lage von Lhassa, — 96° 45' nach derKlaprothschen Länge
von Lhassa.
Die Missionäre, welche sich 1863 in Bonga ver-
einigten, verwendeten viel Eifer auf den bessern Bau der
Wohnungen und der Kapelle; in der Bekehrung der um-
liegenden Orte waren sie nicht ganz unglücklich. Die
Stellung, die sie dort errungen haben, dürfen wir wohl
als eiue gesicherte betrachten; dafür bürgt die Sicherheit,
mit welcher die französischen Missionäre in Mn-nan und
im nördlichen Su-tschnen sich bewegen. Noch lange wird
es aber dauern, bis die Bekehrung die Grenzen des abge-
schlossenen Bezirkes von Tsa-rong überschreitet; Bonga
wird auch für die nächsten Generationen noch ein wichtiger
Stützpunkt bleiben, ja für die kommenden Jahre sogar der
einzige Ort, wo es den Missionären möglich ist, sich aufzu-
halten und zu predigen. Ihre Bestrebungen, nach Lhassa
zu gelaugeu, scheiterteu bisher au dem Uebelwolleu der Be-
Hörden; der Bericht aus Schanghai 1864, welcher im Glo-
bus Bd. V, S. 254 mitgetheilt wurde, daß Missionare
nach Lhassa gelangt seien, dort mit großer Auszeichnung
behandelt wurden und selbst mit Aufträgen des Dalai Lama
an die große Karawane sich hätten anschließen dürfen, die
mit dem Tribute jährlich einmal nach Peking geht, ist nicht
bestätigt worden. Aus dem Oriente kommen häufig Nach-
richten, die lange erwartet sind, in der günstigsten Form
nach Europa. So wurde 1859 aus Calcutta gemeldet,
der so lange vermißteAdolfSchlagintweit fei auf britischem
Gebiete angelaugt; die nächste Post ergänzte dann den
Bericht dahin, daß der Kopf des Erschlagenen gebracht
worden sei. Aehnlich war es mit Vogel der Fall, so ist
auch die Nachricht aus Schanghai ganz vereinzelt; eine
folche freundliche Behandlung widerspricht den bisherigen
Erfahrungen; die Missionäre betonen oft, daß das Volk
für sie sei, die Beamten aber ihre Gegner wären. Lhassa
ist nach wie vor das anzustrebende Ziel der Missionäre,
erreicht ist es nicht mehr geworden, seit 1845 Hnc und
Gäbet dort waren.
Die Stadt Porto Ategre in der brasil
Von Karl
Keine Stadt des südamerikanischen Continentes ist in
so hohem Grade des Interesses des deutschen Publikums
würdig, wie die Hauptstadt der brasilianischen Provinz
Rio Grande do Snl, Porto Alegre, denn keine andere
erfreut sich einer so kräftigen Entwicklung des Deutsche
thums wie diese. Porto Alegre ist eine zum großen Theile
von Deutschen erbaute Stadt; sie verdankt ihre Entwick-
lnng und ihr schnelles Erblühen ausschließlich den deutschen
Colonien, welche an den Ufern des Cahy, Rio dos Sinos
mischen Provinz Rio Grande do Snt.
llt Koseritz.
und Taqnary sich bis zum Fuße der Serra Geral, welche
die Greuzscheide zwischen Rio Grande und Santa Catharina
bildet, erstrecken, und in denen 40,000 Bewohner germa-
nischer Abkunft viele Meilen Urwald gelichtet und in
fruchtbare Landgüter verwandelt haben, auf denen der
deutsche Fleiß dem Bode» die Produkte aller Zonen ab-
gewinnt, und mit welchen er den Markt von Porto Alegre
zur Vorrathskammer Brasiliens macht.
Auch steht das deutsche Element in keiner andern Stadt
K, v. Koseritz: Die
von Südamerika so selbstständig da und übt nirgends einen
so hervorragenden Einfluß auf die eingeborne Bevölkerung
aus, wie hier in Porto Alegre. Das erscheint auch ganz
natürlich, wenn man bedenkt, daß ein Viertheil der Be-
völkernng der Stadt deutscher Abkunft ist.
Hier ersteht ein „Neu-Deutschland". Anderwärts,
z. B. in den großen Empörten der hispano-amerikanischen
Republiken am La Plata, ist das deutsche Element noch
nicht so zahlreich vertreten; hier aber hingegen ist dasselbe
zwar mit seinen Mängeln, aber auch mit all seinen hohen
Tugenden und eminenten Vorzügen fast in ganzer Reinheit
vorhanden und macht außerdem uoch Propaganda unter den
Eingebornen, die gelernt haben, den Fleiß, die Ausdauer
und Intelligenz der Deutschen, welchen sie ihren Reichthum
zum größten Theile danken, zu achten und hochzuhalten,
die Vorzüge der deutschen Sitten und Gebräuche anzuer-
kennen. Die Steifheit und ceremoniöse Gezwnngenheit
des portugiesischen und spanischen Elementes verschwindet
hier nach und nach und wird bald ganz aufgehen in der
freien, ungezwungenen und gemüthlichen Lebensart der
Deutschen.
Da nun dem hiesigen Dentschthnme die hohe knltur-
geschichtliche Mission gestellt ist, diese unendlich reiche und
wichtige Provinz mit der Zeit zu germanisiren, ein wahres
„Neu-Deutschland" aus ihr zu bilden, um so dem Vater-
lande in Südamerika einen Stützpunkt für seinen Handel
und seine Schifffahrt zu bieten, wie er in keinem andern
überseeischen Lande verlangt werden kann, so glaube ich,
es werde angemessen sein, wenn ich in gedrängter Kürze
ein Bild von Porto Alegre, diesem Eentralpnnkte, in dem
das Leben der wichtigen riograndenser Eolonien ausläuft,
entwerfe, und dieses Bild wird um so ansprechender sein,
da die Stadt eiue ungemein malerische Lage hat.
Porto Alegre wurde gegründet im Jahre 1743,
unter dem Namen Porto das Casaes, und war ein nn-
bedeutender Ort, bis im Jahre 1822 der Sitz der Pro-
vinzialregiernng hierher verlegt wurde und kurz nachher,
Dank den Anstrengungen des Kaisers Dou Pedro I., die
ersten deutscheu Ansiedler nach S. Leopolds kamen und mit
Feuer und Art das Dunkel der Urwälder am Rio dos
Sinos und am Cahy lichteten, wo nach Vertreibung der
wilden Jndianerstämme reiche Eolonien erblühten. Von
da an wuchs die Stadt täglich an Einwohnern und Reich-
thnm, doch drückte ihr auch das deutsche Element, welches
fast allein die Entwicklung bedingte, seinen Stempel sowohl
in materieller Beziehung, d. h. Bauart :e., sowie in der
gesellschaftlichen Entwicklung.auf. Der Reisende, der noch
ermüdet von dem traurigen Anblicke der endlosen Sand-
wüsten, welche die Ufer des Rio Grande von der Barra
der Provinz an, und die des Entensees (Lagoa dos Patos)
bilden, gelangt nun endlich, vom schnellen Dampfer getragen,
an das nördliche Ende des großen Salzwassersees, und an
das Vorgebirge von Hapoam, einen höchst malerischen Fel-
sen, wo auf den Ruinen ehemaliger Befestigungen ein zier-
licherLeuchtthurm sich erhebt. Vorbei rauscht der Dampfer
hinein in den breiten Strom Gnayba, der den Eanal bildet,
welcher das mächtige Wasserbecken vor Porto Alegre, in
das sich der Jacnhy mit seinen Zuflüssen Cahy, Taquary
und Rio dos Sinos und andere Flüsse ergießen, mit der
Lagoa dos Patos in Verbindung setzt. Man fährt einige
Meilen in dem schönen Strom hinauf, welchen auf beiden
Seiten malerische Gebirgsketten umgeben; auf diesen
erblickt mau schöne Landhäuser und manche Estaneias
(Viehzucht-Etablissements); man sieht Urwälder. Hier
ist ehemals, während der traurigen Revolutionszeit, viel
Blut geflossen, als Garibaldi, damals noch in Europa
Stadt Porto Alegre x. 173
unbekannt, mit seiner kleinen Kahn-Flotte die Einfahrt in
das Bassin des Gnayba erzwingen wollte.
Immer breiter wird der Strom, immer glänzender
werden die Landhäuser, die das Gebirge am Ufer bedecken,
bis endlich, sobald man um Pedras-Brancas (einen Fel-
sen, der mitten im Guayba einen Pulverthurm trägt) vor-
bei gekommen ist, wie mit einem Zauberschlage sich das
herrliche Panorama von Porto Alegre vor unseren Blicken
entwickelt.
Terrassenförmig zieht sich die Stadt den Granitfelfen
hinan, auf dem sie erbaut ist, und bietet deu Reisenden den
Anblick ihrer beiden Fronten. Die erste, welche den Blick
des ankommenden Fremden überrascht, ist die Hinterseite,
welche nach der Vorstadt Riacho hinunter ausläuft. Sobald
man aber die Landspitze umschifft hat, auf welcher das Ge-
fängnißgebände liegt, bietet sich uns der Anblick der Haupt-
front dar, deren Ansicht mit dem weltberühmten Panorama
von Rio Janeiro sich messen kann.
Wie schon gesagt, steigt die Stadt, Straße über Straße,
terrassenförmig anf und fällt nachher cmf der Südseite nach
dem Riacho da Azenha, einem in den Gnayba mündenden
Flüßchen, und auf der Ostseite nach einer großen mit Rasen
bedeckten Ebene, der Varzea, ab. Diese Ebene ist von
schönen Landhäusern umgeben und wird von amphitheatra-
lisch aufsteigenden Bergen begrenzt, während auf der andern
Seite, am Ufer des Guayba entlang, sich die meilenlange,
von schönen Villas gebildete Straße Caminho novo hinzieht.
Die Straßen der Stadt sind unregelmäßig und schlecht
gepflastert, aber man sieht in denselben viele schöne und
ansehnliche Gebäude. Die hübscheste Straße ist die Rua da
Praia, die sich von einem Ende der Stadt zum andern
erstreckt und fast nur Etage-Häuser enthält. Hier und
in der parallellaufenden Rua da Alfandega ist der Mittel-
punkt des Handels und Verkehrs; dort sieht man Magazin
neben Magazin und allerwärts neue Aushängeschilder,
deutsche Namen; denn hier wohnt der größte Theil der
deutschen Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker, und fast
alle leben in blühendem Wohlstände. Die Rua da Alfau-
dega erstreckt sich an: Kai entlang, der den ganzen Hafen
umschließt und eben so solid wie elegant aufgeführt ist. Am
alten Marktgebäude läuft der Kai in ein Dock aus, in dem
die Dampf- und Frachtschiffe von S. Leopoldo, vom Cahy
und vom Taquary anlegen; die angrenzende Häuserreihe
enthält große Magazine, in denen die Produkte der deut-
schen Eolonien aufgestapelt liegen: Mais, Bohnen, Man-
diokmehl, Kartoffeln, Erbsen, Linsen, Reis, Hirse, Taback,
Mat6-Thee, Baumwolle, Wolle, Speck, Rauchfleisch, Fett,
Amendoim-Oel ?e. Am Dock löschen täglich 20, 30 und
mehr, auf deutsche Art gezimmerte Frachtkähue obige
Produkte, Mastvieh, Schweine, Hühner, Eier, Butter, Käse,
Holzkohlen, Brenn- und Bauholz, Alles endlich, was der
deutsche Fleiß dem jungfräulich üppigen Boden hat abge-
Winnen können. Da herrscht ein reges Leben; der deutsche
Bauer in seiner altmodischen Tracht verwerthet dort mit
der ihm eigenen Schlauheit die Frucht seines Schweißes.
Käufer drängen sich um ihn herum, vom eleganten deut-
schen und brasilianischen Kaufmanne bis zur Mina- und
Congo-Negerin mit ihrer abenteuerlichen Tracht und
kreischenden Stimme. Dampfschiffe kommen und gehen
von und nach S. Leopoldo, Rio Pardo, Triumphe, Cahy,
Taquary, Barra :e. k., und gegenüber dehnt sich der schöne
Wasserspiegel des Gnayba aus, begrenzt von grünen und
waldigen Inseln und durchschnitten von Dampfbooten, von
Frachtschiffen, Ruderbooten und Cauoes. Weiter hinab,
den palastähnlichen Gebäuden der Rua d'Alfandega gegen-
über, dehnt sich der Hafen ans, in dem neben brasiliani-
174 K, v, Koseritz: Die
scheu Kriegsschiffen, den Passagierdampfern und den leichten
Jachten vom Entensee große Seeschiffe vor Anker liegen,
denn der Hafen ist gut und kann Fahrzeuge von 500 bis
600 Tonnen halten.
Mit der Rua da Praia läuft parallel, jedoch aus dem
Kamme des Hügels, die uicht minder schöne Rua da Jgreja,
wo weniger Verkehr herrscht; hier wohnen die meisten vom
Geschäft zurückgezogenen reichen Leute. In dieser Straße
befindet sich auch das Polizeiamt, der Palast des Bischofs,
der des Marschalls Baron von Porto Alegre k. Die Rua
de Jgreja mündet ans den Palastplatz, Pra?a do Palaeio,
wo oben auf dem Kamme des Hügels die Kathedrale (ein
altes und nicht sehr schönes Gebäude) neben dem Regierungs-
Palast und dem eleganten Hause der Provinzial- Kammer
steht. Wenn der Palast des Präsidenten und die Kirche
alte und unansehnliche Gebäude sind, so ist doch die Aus-
ficht, die man von dort genießt, desto wundervoller. Zu
unseren Füßen entrollt sich das ganze reiche Panorama
dieser paradiesischen Gegend. Sieht man rückwärts, so
schweift der Blick den Guayba hinab bis Haguam, beherrscht
die reizende Vorstadt Riacho mit ihren Gärten und Land-
Häusern und verliert sich weiter links in den blauen Höhen
des Gebirges. Rechts liegt der Hafen, begrenzt von wal-
digen Inseln, auf denen der Pulverthurm sich zeigt, und
weiter hinauf über die reichen Villas des Caminho Novo
weg verfolgt man das Bassin des Guayba bis zu seinem
Ende, wo Strom neben Strom sich in denselben ergießt.
Bei klarem Wetter dringt der Blick bis nach S. Leopolde
und den Colonien, und wenn man sich nun hierzu noch den
reinen Himmel des Südens denkt, der wie ein blaues Zelt
über dieses reizende Bild ausgespannt ist, so kann auch eine
glühende Phantasie nichts Schöneres erfinden. Die Stadt
fällt terrassenförmig ab bis zum Flusse, und die hübschen
Gärten, mit Palmen und Bananenbäumen geziert, geben dem
Ganzen ein gar liebliches Aussehen. Am untern Ende des
Platzes steht das große und in korrektem Styl aufgeführte
Theater S. Pedro, eiu elegautes Gebäude, dessen Plan von
uuserm Landsmanns PH. von Normann entworfen und aus-
geführt wurde, und mit dem manches Theater zweiten Ran-
ges in Europa au Größe und Pracht nicht rivalifiren kann.
Außer der Cathedrale hat die Stadt noch fünf andere katho-
lifche Kirchen, die keine besonderen Schönheiten aufzuweisen
haben, und von denen nur die eiue (Jgreja das Dores)
durch einen neuen Anbau größere Proportionen erreicht
hat. Wenn auch uicht groß, so doch in hübschem gothischem
Style erbaut, erhebt sich im Ausgange einer aus der untern
Seite nach dein Marktplatz führenden Straße die prote-
stantische Kirche , welche am 8. Januar 1865 feierlichst ein-
geweiht wurde; sie steht auf einer kleinen Anhöhe von Pal-
men umgebeu und gewährt einen gar reizenden Anblick.
Unfere Deutschen haben sie aus eigenen Mitteln erbaut, und
diese Kirche wird von Generation zu Generation ihren Nach-
kommen als Heiligthum und Erinnerung an die Zeit der Auf-
opferuug uud des Kampfes dienen, in welcher hier der Grund
zum Aufblühen eines neuen Deutschlands gelegt wurde.
Den ersten Rang unter den öffentlichen Gebäuden der
Stadt nimmt ohne Zweifel das Hospital, die Santa Casa
da Misericordia, ein, ein wahrhaft imposantes Gebäude,
welches, auf einem Hügel mit wundervoller Aussicht gelegen,
ein Prachtwerk ist. Hunderte von Kranken finden in dem-
selben Platz, trotzdem ein Theil des Raumes von dem
Provinzial-Jrrenhanse und ein anderer von der Kirche ein-
genommen wird. Etwas weiter nach dem Innern der
Stadt zu liegt mit der Front nach dem Unabhängigkeits-
platze, der terrassenförmig nach der obengenannten Varzea
zu abfällt, eine große Caserne, die auch zu den besten
tadt Porto Alegre:c.
öffentlichen Gebäuden von Porto Alegre zählt. Das alte
Marktgebäude, welches in der Nähe des Dock liegt, ist
klein und schmutzig, doch so ebeu ist der Bau eiues neuen
in Angriff genommen, - welches an Eleganz und Größe mit
den ersten Gebäuden dieser Art in Südamerika wird wett-
eifern können. Ebenfo ist das Staatsgefängniß, von
Herrn v. Normann im Style des Mittelalters erbaut, ein
geräumiges und folides Gebäude, welches über 800 Ge-
fangene enthält. Das Zollhaus (Alfaudega) ist nicht
schön, hingegen zeigen fast alle Straßen palastähnliche
Privathäuser, die mit äußerstem Luxus erbaut und ausge-
stattet siud. Außer dem obengenannten Unabhängigkeits-
platze hat die Stadt noch verschiedene andere, unter denen
die „Pra?a da Harmoma", deren untere Seite auf den
Fluß hinausgeht und die mit Anlagen, Rampen, Bänken:c.
versehen ist, sowohl ihrer Größe, wie ihrer schönen Aussicht
halber, deu ersten Rang einnimmt. In ihrer Nachbar-
schaft befinden sich die Arsenale.
Im Ganzen also bietet Porto Alegre ein wahrhaft
großartiges Panorama, hauptsächlich wenn es bei Ankunft
vom Hafen oder vom Caminho Novo aus betrachtet wird,
und es kann fast, wie schon gesagt, den Vergleich mit Rio
Janeiro aushalten.
Hinsichtlich der Umgebungen jedoch steht es über Rio.
Nach welcher Seite man sich auch wenden mag, überall
findet man reizende Spaziergänge. Am Riacho entlang
kommt man nach der % Meile entfernten Kapelle des
Gotteskindes, wo alljährlich ein brillantes Kirchenfest
gefeiert wird, welches Wochen lang dauert. Am Fuße des
Berges und von den Wassern des Guayba bespült, liegt die
kleine reizende Kapelle in Mitten des frisches Grünes der
Palmen - und Bananenhaine und macht einen feltsam lieb-
lichen Eindruck. Aus der andern Seite, über die Varzea
hinweg, längs einem neugebauten Tramwege, führt der
Pfad nach dem Flüßchen Asensa, wo die deutschen Ver-
gnügnngsörter „Harmonie" und „Sanssouci" liegen, und
im Hintergrunde erhebt sich der Berg, auf welchem sich die
Kirchhöfe befinden, und von wo man eine in der That ent-
zückende Aussicht genießt.
Der katholische Kirchhos, nach südländischer Manier
durch übereinander stehende Katakomben gebildet, ist groß
und geräumig. Dorthin pilgern am Allerseelentage tau-
sende und aber tauseude von Menschen, um an den Grä-
bern ihrer Dahingeschiedenen zu beten und diese mit Jm-
mortellenkränzen zu schmücken. Hinter dem katholischen
Campo Santo ist der Platz, auf dem 1855, während der
fürchterlichen Cholerazeit, tausende von Körpern in ein
großes Grab gebettet wurden, und nur weuige Familien
von Porto Alegre haben nicht irgend ein Glied ihrer Fa-
milie auf dieser großen Hekatombe zu beweinen. An den
Cholerabegräbnißplatz schließt sich in einfacher Umfriedi-
gung der protestantische Kirchhof der hiesigen Deutschen,
die in seinem Schooße ihre Lieben zum ewigen Schlafe
betten. An den Campo Santos vorbei führt die Straße
ius Gebirge; in Mitten von reizenden Landhäusern zwischen
blühenden Orangenhainen und von Palmen - und Bananen-
bäumen beschattet, zieht sie sich bis zum Flecken Belem,
der zwei Meilen von Porto Alegre entfernt liegt.
Parallel mit dem fchon beschriebenen Caminho Novo,
in dessen eleganten Häusern und Parken die Aristokratie
von Porto Älegre ihre Villeggiatura macht, läuft die
„Estrada do Muro", welche in die Ebene des Gravatasy, eines
Zuflusses des Guayba, mündet, von wo die Straße nach
unserm echt deutschen S. Leopoldo führt. Unten am Waffer
bietet der Riacho mit seinen Gärten und Alleen Gelegenheit
zu Spaziergängen, während sich am Strande des Guayba
K. v, Köstritz: Die
Villa an Villa reihet, unter denen die des deutschen Kauf-
mannes Friedrich Bier an Glauz und Reichthnm alle anderen
überstrahlt. In den Sommernächten erfrischen dort hun-
derte von Familien die in der Tageshitze erschlafften Glie-
der iu den Wellen des Stromes, ohne sich sonderlich von
den nur wenig gefährlichen Jaearss (brasil. Krokodilen),
welche hie uud da im Flusse vorkonuueu, zurückschrecken zu
lassen. Auch auf der andern Seite des Gnayba, wohin
ein kleines Dampfboot eiues Deutschen tägliche Spazier-
fahrten macht, bietet die grünende Insel Pintada, aus der
sich die Pulverfabrik befindet, Gelegenheit zu ländlichen
Vergnügungen, und im Allgemeinen, wohin man sich auch
wenden mag, ist die Natur gleich reizend und malerisch.
Doch auch in kommerzieller Beziehung ist Porto Alegre
heute schon ein blühender und wichtiger Platz. Es zählt
zwischen 23 und 24,999 Einwohner, von denen, wie schon
bemerkt, ein Viertheil germanischer Abkunft ist, und macht
bedeutende Geschäfte mit den Häfen des Kaiserreiches,
Montevideo, Buenos Ayres, den Vereinigten Staaten,
England und Deutschland (vorzugsweise mit Hamburg).
Seine Lage ist der Art, daß ihm eine sehr bedeutende Zn-
kuuft sicher ist. In der unmittelbaren Nachbarschaft der
blühenden deutschen Colouieu gelegen, öffnen ihr diese den
Handel mit dein Kamme der hohen „Serra Geral", die Rio
Grande do Snl vou Santa Cathariua und S. Paulo trennt.
Auf einigen Punkten sind die Colonisten bereits bis aus
sieben Meileu an den Kamm der Serra gedrungen und
haben durch den Urwald Straßen nach demselben geöffnet.
Nun wird fernerhin soeben in London eine Gesellschaft zum
Baue einer Eiseubahu von Porto Alegre nach Santa
Catharina (Desterro) gebildet und das Dampfroß von
hier nach Desterro sausen und unsere Stadt mit jenem vor-
züglichen Hasen in Verbindung setzen; denn augenblicklich
nimmt der hiesige Haudel uoch keinen so bedeutenden Auf-
schwung, weil wir vou der Barre von Rio Grande abhängig
sind, deren Versandung die Einfahrt für größere Schisse
unmöglich, für alle aber gefährlich macht. Die strategische
Lage vou Porto Alegre ist ebenfalls vortrefflich; ohne
befestigt zu sein, ist es fast uneinnehmbar dadurch, daß es
auf schroff abfallenden Hügeln liegt und der Engpaß einen
Angriff von der Wasserseite unmöglich macht.
Was nun das Leben in der Stadt betrifft, so ist es viel
freier, angenehmer und zwangloser, als in anderen brasi-
lianischen Städten. Der überwiegende Einfluß des deut-
scheu Elementes hat den hispano-amerikanischen Formalis-
mus selbst unter den Brasilianern ziemlich verdrängt. Hier
gehen selbst eingeborne Damen allein auf der Straße, und
der gesellschaftliche Ton ist keineswegs steif.
Da Porto Alegre der Sitz der Provinzialregieruug,
des Bischofs uud der höchsten Behörden ist, so herrscht im
Allgemeinen viel Leben und Verkehr; diesen Umständen
verdankt die Stadt auch manche Verbesserungen, die man
in anderen Städten der Provinz nicht antrifft; so z. B.
wird jetzt eine Wasserleitung angelegt, die das Wasser drei
Meilen weit herführt; wir haben Gasbeleuchtung imd
mancherlei andere Vortheile und Genüsse, die Porto Alegre
seiner Eigenschaft als Hauptstadt der Provinz dankt. Was
uns jedoch hier am meisten interessiren muß, ist das Leben
der deutschen Bevölkerung, die, wie schon gesagt, ihren
heimischen Sitten und Gebräuchen auch im fremden Lande
treu blieb, wenn auch nicht in fo hohem Grade, wie auf
deu Colouieu, wo man in Mitten eines deutschen Dorfes,
oder im Ort S. Leopolde in den Mauern einer echt deut-
scheu Stadt zn sein meint. Hier nimmt unser Leben einige
Resten der fremden Gesellschaft an, bewahrt aber in den
Hauptsachen den alteu deutschen Stpl.
Stadt Porto Alegre ic. 175
Die hiesigen Deutschen theilen sich, wie natürlich, in
zwei Hauptgrnppen, — Kaufleute und Handwerker, die
jedoch so ziemlich zusammenhalten, denn beide Elemente
vereinigen sich in denselben geschlossenen Cirkeln. Das
Vereins- und Gesellschaftswesen, welches den Deutschen
überall hin begleitet, steht auch hier in Flor. Da gibt es zwei
philharmonische Gesellschaften „Gesangverein" uud „Lieder-
tasel", von denen der erste ein schönes eigenes Lokal hat,
und beide geben außer ihren Concerten monatlich auch
Bälle. Die „Germania" ist ein anderer geselliger Verein,
mit Clublokal, Billard und Lesekabinet, der ebenfalls
monatlich einen Ball gibt; dort verkehrt der reiche Kauf-
mann mit dem anständigen Handwerker, und diese Verschmel-
zung der Stände ist ein Zeichen des gesunden uud kräftigen
Geistes, der das hiesige Deutschthum beseelt. Ein kleiner
Schützenverein hat seinen Schießstand; die „Leopoldina"
ist eine Ballgesellschaft, die schon mehr in das Brasilianische
hinüber spielt, da ihre Mitglieder ausschließlich hier
geborene Kinder deutscher Eltern sind, doch schließt sich
dieser Verein niemals von allgemeinen deutschen Festeu aus,
betheiligt sich vielmehr mit aller Kraft an denselben und
hält mit ganzem Herzen zum Deutschthume. Früher gab
es sogar ein deutsches Liebhabertheater, welches aber bald
wieder einging.
Ungleich wichtiger als diese geselligen Vereine ist der
„Deutsche Hülfs-Verein", ein wackeres Institut,
welchem die Unterstützung und Verpflegung kranker Deut-
scher, ihr Begräbniß in Todesfällen, die Unterstützimg von
Wittwen uud Erziehung von Waisen obliegen; er zählt
einige hundert Mitglieder und hat dem Deutschthume sehr
erhebliche Dienste geleistet. Dieser Verein verfügt bereits
über ein ganz erhebliches Kapital, vielleicht 9999 bis
19,999 Dollars und wird nächstens ein eigenes Kranken-
haus erbauen. Ein anderes nützliches uud notwendiges
Unternehmen ist die auf Aktien gegründete Deutsche
Zeitung, die nun bereits seit sechs Jahren besteht und iu
ziemlich großem Formate zweimal wöchentlich erscheint.
Sie vertritt mit Energie die Interessen des hiesigen Deutsch-
thuins und bildet so zu sagen den Sprechsaal der Deutschen,
die in ihr auch eiue Vertreterin dem Auslande gegenüber
finden. Zwei deutsche Gemeinden, eine katholische und
eine Protestantische, bestehen in der Stadt. Jene bedient
sich für ihren Gottesdienst einer brasilianischen Kirche, und
diese hat die oben erwähnte hübsche Kirche erbaut, deren
Vollendung der schönste Beweis des Geistes ist, der die
hiesigen Deutschen zum gemeinsamen Handeln anfacht und
belebt. Der Gemeinsinn ist ziemlich rege unter den hiesigen
Deutschen und findet Nahrung in patriotischen Festen uud
bei anderen Gelegenheiten. So wurde z. B. der 18. Okt.
1863 mit großem Enthusiasmus gefeiert. Ueber 29 Ver-
eine aus der Stadt und von deu Colouieu betheiligten sich,
und mehr denn 2999 Deutsche bildeteu deu Festzug. Auch
das „Allgemeine deutsche Sängerfest", welches im Februar
eines jeden Jahres in S. Leopolde abgehalten wird, zieht
dort tausende von Deutschen und einige deutsche Gesang-
vereine zusammen, die in Lust und Freude einige Tage dem
Gesänge und der Geselligkeit weihen. Patriotische Kollekten
für Zwecke des deutschen Vaterlandes, Sammlungen für
Schleswig-Holstein, für Flottengelder, für das Hermanns-
denkmal, für den kölner Dom?c., finden stets allgemeine
Theilnahme und fallen oft reichlich aus. Deutsche Elementar-
schulen und höhere Lehranstalten bieten der Jugend die
nöthige Bildung, deutsche Leihbibliotheken, Agenturen für
überseeische Zeitungen, Leseklubs :c., geben deu Erwachsenen
geistige Nahrung; deutsche Aerzte und Apotheker sorgen
für das Wohl des Leibes, deutsche Priester beider Eon-
176 H. Birnbaum: Der Golfstrom ur
fessionen für das der Seele. Mit einem Worte, wenn man
aus anderen Theilen Brasiliens in Porto Alegre anlangt,
so weht Einen ein wahrhaft heimischer Geist an, man fühlt
sich wirklich glücklich und vergißt für den Augenblick, daß
man im fernen Süden von Amerika lebt. Man fühlt, daß
das deutsche Element vorherrscht, und daß das reizende
Porto Alegre einst eine vorzugsweise deutsche Stadt sein
wird. An Vergnügungsorten fehlt es natürlich auch nicht;
da haben wir eine „Orangerie", wo neben importirtem
bayerschen, Hamburger, kitzinger und englischem Biere ein
hier gebrautes, ganz vortreffliches Nationalbier ausgeschenkt
wird; ein „Sanssouci", prächtige Gartenwirtschaft mit
Schießstand; eine Erholung im Freien bei der „Kapelle
des Gotteskindes"; ein „Belle Vne" mit Kegelbahn und
Gartenwirthfchaft; eine „Harmonie" mit Billard :c., wo
häufig Gartenkonzerte abgehalten werden :c. An deutschen
Gasthäusern, Restaurants, Hotels, Bierhallen?e. hat die
Stadt Ueberfluß, und auch der Tisch ist hier echt deutsch
(eine große Seltenheit in Brasilien); Roggenbrot, deutscher
Käse, frische Butter, billiges Bier, hier gezogener und ge-
seine Bedeutung für den Verkehr x.
kelterter Colonie - Wein und alle anderen deutschen Gerichte,
von denen man sonst in Südamerika nicht einmal eine Idee
hat, erlauben hier auf deutsche Art zu leben. In Bezug
auf häusliche Einrichtung k. geschieht dasselbe, denn
es gibt kein Handwerk, welches hier nicht von Deutscheu
ausgeübt wird; Haus neben Haus wohnen die braven
deutschen Arbeiter: Lithographen, Gold- und Silber-
schmiede, Cigarrenfabrikanten, Hutmacher, Schneider,
Schuhmacher, Tischler, Wagenbauer, Anstreicher, Vergolder,
Tapezierer, Schmiede, Lackirer, Maschinenbauer, Klempner,
Gerber, Bäcker, Schlachter k. k., — alles sind Deutsche,
und man wird in jeder Beziehung auf deutsche» Art
bedieut.
So möge es denn fortdauern und freudig erblühen, das
junge Deutschthum von Porto Alegre, auf daß es einst der
Halt- und Mittelpunkt des kräftigen „Nendentfchlands"
werden könne, welches als zukünftiger Stützpunkt für
Handel und Schifffahrt des gefammten Vaterlandes sich
hier im fernen Süden von Amerika entwickelt!
Der Golfstrom und seine Bedeutung für da
Von Dr. H
Das Meer besitzt ebenso wie die Atmosphäre einen
systematisch geordneten Kreislauf in feinen Bewegungen
und ist auch ebenso an physikalische, durch Erfahrung fest-
zustellende Gefetze gebunden. Auf dieses Postulat kommen
in neuerer Zeit alle Geographen von Fach. Es ist ein
Resultat der Forschungen, zugleich aber auch wieder die
Grundlage zu allen künftigen Untersuchungen. Man darf
darin nicht mehr als eine auf große Wahrscheinlichkeit ge-
stützte Hypothese erkennen wollen, wodurch natürlich die
Notwendigkeit zu immer höher gesteigerter Bewahrheitung
nicht ausgeschlossen wird. Das Newton'sche Princip der
allgemeinen Gravitation ist eine ganz ähnliche Hypothese,
und wenn diese auch schon der Wahrheit unendlich viel
näher gebracht worden ist, so bleibt sie dennoch ihrem Cha-
rakter der steten Fortentwicklung getreu, sie wird nie zu
einem Endabschluß gelangen, der alles fernere Prüfen, alles
fernere Forscheu überflüssig machen könnte.
Unter denMeeresströmungen hat der Golfstrom den
Naturforschern den reichsten Stoff zum Nachdenken gegeben.
Man weiß jetzt ganz genau, daß er nur einen Theil des
eben bezeichneten Kreislaufs des ganzen Meeres ausmacht,
man weiß aber auch, wie wichtig er ist, wie wesentlich von
ihm Handel und Wandel abhängt, wie durch ihn die nach-
Heiligen Extreme des Klimas ausgeglichen werden. Aber,
wie bedeutend auch feine Wichtigkeit für das praktische
Leben sein mag, sie wird doch noch um Vieles überstrahlt
durch den Reichthum an Phänomenen und Merkwürdig-
feiten für die Wissenschaft. Seit feiner ersten Entdeckung,
welche nur um wenige Jahre jünger ist als die der Neuen
Welt durch Columbus, hat man unablässig daran geforscht
und aufgeklärt, man hat auch Vieles erreicht, sicher befestigt
und ins klare Licht gestellt, aber dennoch warten noch viele
Verkehr und die klimatische Ausgleichung.
Birnbaum.
Punkte auf die Fortsetzung einer noch gründlichem Unter-
suchung. Manches ist mit oberflächlichen Ansichten und
Vermuthungen abgefertigt worden und harrt auf eine noch
zuverlässigere Begründung. Anderes ist noch mit Aber-
glauben und Übertreibung durchwoben. Wir dürfen und
wollen aber darüber nicht klagen, denn im Ganzen genom-
men ist dies das Schicksal aller wissenschaftlichen Forschung,
wobei das Einsammeln von Erfahrungen und das Auf-
stellen von Theorien sich einmüthig die Hände reichen sollten,
um friedlich ein gemeinsames Ziel zu erreichen, aber in der
That eine Uneinigkeit und bittere Feindschaft vorherrscht,
als sei in der Welt nichts mehr zu fürchten als ein Zu-
sammeutrefsen an demselben Ziele. Diese Schattenseiten
fehlen leider auch der Geographie nicht; sie kommen auch
bei der Untersuchung des Golfstroms vor. Wir werden
Gelegenheit haben darauf hinzuweisen. Zunächst beab-
sichtigen wir jedoch eine wissenschaftliche Charakterskizze von
dem Golfstrom zu entwerfen, welche genau den neuesten
Beobachtungen, Ausmessungen und Ansichten entspricht.
Der Golfstrom ist ein im Weltmeere eben so fest und
scharf ausgeprägter Fluß, wie wir ihn eigentlich ^ nur auf
den (kontinenten anzutreffen gewohnt sind. Seine Ufer
und fein Bett sind Wasser, und zwar Wasser von derselben
Art wie er selbst, ja sogar beweglich wie er selbst, aber
dennoch herrscht darin eine auffallende Verschiedenheit und
eine Beständigkeit neben der unaufhörlichen Beweglichkeit,
daß derselbe Gegensatz dabei vorzukommen scheint wie zwi-
schen der festen Erde und dem beweglichen Wasser. Dieser
Charakterzug eines Continentalstroms ist ihm
aber nicht blos in seinem Ursprünge und auf eine kleine
Strecke feiner Weiterentwicklung eigen, fondern er zeigt ihn
noch 500 bis 600 geogr. Meilen von Florida entfernt
H, Birnbaum: Der Golfstrom m
ganz entschieden, und Verliert ihn eigentlich nie ganz, ob-
gleich die allmälige Abnahme zuletzt sehr wahrnehmbar ist.
Fehlt ihm nun aber der Charakter eines Continentalstroms
nicht, so übertrifft dieser alle bei weitem in allen Größen-
Verhältnissen. Er ist reißender, tiefer, breiter, länger und
daher auch wasserreicher als der größte Strom der festen
Erde. Der Amazonenstrom, der Mississippi und
andere sogenannte Riesenströme sind im Vergleich mit ihm
sehr untergeordnete Fküßchen. Nach den Messungen und
Berechnungen, welche Kapitän Livingstone in dieser Hin-
sicht durchgeführt hat, besitzt der Golfstrom fchon in feinem
Ursprünge bei Florida mehr als tausendmal so viel Wasser
als der Mississippi bei seinem Endausflusse ins Meer.
Das ist ein staunenswertes Resultat. Damit wurde auch
der alte Aberglaube aus dem Felde geschlagen, daß der
Golfstrom nichts anderes sei als eine maritime Fortsetzung
der Wasserfluten des Mississippi.
Auch in der Farbe besitzt dieser Strom des Oeeans
seine hervorragende Eigentümlichkeit; er ist durchsichtig,
klar, aber tief indigoblau gefärbt, und dadurch sondert er
sich noch bis Cap Hatteras hinauf von dem gewöhnlichen
Meergrün so charakteristisch ab, daß man bei einem seine
Wasserufer durchschneidenden Fahrzeuge ganz deutlich sehen
kann, wie die eine Hälfte im Golfwasser, die andere da-
gegen im Meereswasser schwimmt. Daraus folgt nun
einmal, daß zwischen dem Stromwasser und dem Userwasser
ehte sehr geringe chemische Vermischung vorkommen muß;
zugleich liegt darin aber anch ein zweiter Grund, daß die
Golsstromwasser nicht von dem Mississippi herrühren
können, da dieser bekanntlich besonders an seiner Mi'mdnng
trübe austritt und von der Jndigofarbe auch keiue Spur
besitzt.
Sorgfältig durchgeführte Analysen haben ergeben, daß
der Golfstrom in seinem ganzen Lause längs der Küste
Nordamerikas fehr falzreich sei, daß er ein wirkliches Meer-
Wasser ist, aber merklich mehr Salzgehalt als seine Oeean-
nfer besitzt. An der Küste Florida's beträgt der Salz-
gehalt noch etwas über 3% Procent, so daß sein Wasser
hier sast ebenso gesättigt ist, wie das Meer in dem südlichen
Becken des Mericanischen Meerbusens, welches nach Gay-
Lussacs Untersuchung 3% Procent im Marimo enthält.
Und so wie überhaupt das Meer in höheren Breiten an
Salzgehalt verliert, so zeigt sich dies auch bei dem Gols-
ström, aber doch hier nie so rasch wie in dem angrenzenden
Oceanuser. Deshalb bleibt die Differenz auch selbst da
noch wahrnehmbar, wo der Strom weit von dem Festlande
entfernt einen gegen Osten gerichteten Weg verfolgt. Der
Mississippi behält fein süßes Flußwasser auch noch da
bei, wo er von dem Strudel des Mericanischen Meerbusens
mit fortgerissen ist; er kann also auch aus diesem Gruude
nicht für die Quelle und Ursache des Golfstroms an-
gesehen werden.
Die größte Merkwürdigkeit zeigt aber dieserOceanflnß
in seiner verhältnismäßig sehr hohen Temperatur. M a ury
fand in der Nähe des Eap Hatteras an einem kalten
Wintertage durch unmittelbares Messen, daß die Temperatur
des Stromes 8° R. höher stand als die seiner Wasserufer,
und er bemerkt im Allgemeinen, daß diese Differenz sich
sogar bis zu 14° R. steigern könne. Unser A. v. Hnm-
boldt hat in der Nähe der Bank von Neufundland
sehr viele Thermometermessnngen dieser Art durchgeführt
und gefunden, daß der Golfstrom daselbst durchschnittlich
2 bis 3« R. höhere Wärme besitzt als das angrenzende
Meer. Der berühmte deutsche Gelehrte sieht gerade hierin
den Hauptgrund, daß die merkwürdigen fliegenden Fische,
welche doch eigentlich in der Aequiuoctialzone ihre Heimat
Globus IX. Nr. 6.
seine Bedeutung für den Verkehr :e. 177
hätten, in dem warmen Golfstrome selbst bis zu den höheren
Breiten der gemäßigten Zone noch anzutreffen seien. Das
Wasser des Mississippi ist überall viel kälter als das des
Golfstroms. Die Annahme, daß dieser aus jenem ent-
sprangen sei, findet daher auch hierin einen kräftigen Ge-
gengrund.
Der Strom ist sehr breit. Schon bei seinem Beginn
in der Floridastraße hat er die Breite von 24 geogr.
Meilen. In dieser Hinsicht läßt er alle Eontinentalströme
weit hinter sich zurück. Der Rio de la Plata, welcher
bekanntlich der breiteste Fluß der festen Erde ist, hat in
seiner Mündung nur 23 geogr. Meilen Breite. Weiter
hinauf wird die Breite des Golfstroms rasch beträchtlicher.
Schon in der Nähe von Eap Hatteras ist sie zu 58 geogr.
Meileu herangewachsen. Und seine Tiefe überrascht noch
viel mehr. Nach den Messungen beträgt dieselbe in den
Narrows von Bemini 1200 Fuß und in der Nähe von
Hatteras noch 684 Fuß. Der Abstand zwischen diesen
beiden Punkten ist 150 geogr. Meilen. Der Strom fließt
daher in einem bergansteigenden Bette, es kann also seine
Flußbewegung nicht wie bei den Continentalströmen durch
eine geneigte Bahn veranlaßt worden sein, wie früher auch
wohl angenommen wurde. Die Steigung des Bettes ist
aber sehr gering; nehmen wir an, wie es wahrscheinlich
ist, daß dieselbe im Anfange ganz gleichförmig fei, so
betrüge sie auf jede Meile nur 4 Fuß, oder auf je 599
Fuß nur 1 Zoll. Die Eifeubahueu mit einer so geringen
Erhebung setzen dem gewöhnlichen Betrieb kein Hinderniß
entgegen.
Ueber die Geschwindigkeit des Stroms sind jetzt
auch Untersuchungen angestellt. In den Narrows von
Bemini, wo für gewöhnlich sein Anfang angenommen
wird, haben die Seeleute die Durchschnittsgeschwindigkeit
4 Knoten gesunden. Die Länge eines Knotens beträgt
59 Fuß, und die Zeit, nach welcher das Abwickeln der
Knotenlinie gemessen wird, ist eine halbe Minute, daher
legt der Strom in einer halben Minute 4 mal 59 oder 299
Fuß zurück, also in einer Minute 499 Fuß, und in einer
Stuude eine geogr. Meile. Die mittlere Geschwindigkeit
der schiffbaren Eontinentalströme wird gewöhnlich zu 3V-
Fuß in der Sekunde angenommen; das gibt in einer Stunde
nicht viel über eine halbe Meile. Da aber die Bewegung
eine ziemlich gleichförmige ist, so eignet sie sich vortrefflich
zum Befahren. Die Geschwindigkeit des Golfstroms ist
im Anfange dieselbe wie die des Rheins bei Basel oder
der Donau bei Ulm. Weiter hinaus vermindert sich die
Geschwindigkeit des Golfstroms in Etwas, aber doch nur
sehr wenig; denn in einer Entfernung von 159 geogr.
Meilen in der Nähe des Eap Hatteras beträgt sie in
einer Stunde doch immer noch recht gut dreiviertel Meilen.
Seine Bahn schmiegt sich Anfangs der Ostküste Nord-
amerika's genau an, verläßt aber fchon bei Hatteras
ziemlich merklich das Festland und neigt sich dann immer
mehr und mehr östlich, bis er unter dem 41° nördl. Br. in
seiner Hauptare ganz gegen Osten gerichtet ist. Aber, wenn
er auch im Ansang durch die Ostgestade Amerika's gelenkt
wirdso macht er sich doch bald ganz frei von dieser vor-
geschriebenen Bahn und verfolgt frei und selbstständig seinen
eigenen Weg; ja es ist bekannt, daß zwischen ihm und dem
Festlande eine gerade entgegengesetzteOceanströmnng statt-
findet. Man hat dies längere Zeit für ein ungelöstes
Problem angesehen. Jetzt kennt man aber die Ursache
ganz genau, und sie beruhet in nichts Andern: als in dem
Conflict mit der Rotation unserer Erde. Denn der ursprüng-
lich nach Norden gerichtete Strom bringt durch die Aren-
drehung der Erde von den niederen Breiten fortwährend
23
178 H. Birnbaum: Der Golfstrom un
eine größere Geschwindigkeit gegen Osten mit als die Orte
höherer Breitengrade besitzen, über welche er hinweg fließt;
er muß also diesen Orten gegen Osten vorauf eilen und
mithin einen immer mehr östlich gerichteten Weg einschlagen.
Darin liegt nun aber auch der Grund, daß der beständig
östlich gerichtete Lauf des Golfstroms als ein Beweis
für die Tagesdrehung der Erde angesehen wird. Die Nei-
gnng aller Continentalströme, deren Lage von Süd nach Nord
oder umgekehrt gerichtet ist, nach rechts abzulenken ist
übrigens seitdem vielfach beobachtet worden. Die Sache
steht also durchaus nicht allein da. Auch weiß man von
den ebenso gerichteten Eisenbahnzügen, daß die darauf fah-
reuden Wagenreihen sehr leicht rechts von den Schienen
abspringen oder doch wenigstens immer stärker an die
rechte Seite drücken als an die linke. Das sind That-
fachen, welche alle ihren Erklärungsgrund in der Differenz
der mitgebrachten und der angetroffenen Rotationsgeschwin-
digkeit der Erde finden. Daraus erklärt es sich aber auch,
daß die Schiffe, welche in den höheren Breiten auf dem
Golfstrome fahren, fortwährend ein Streben äußern nach
rechts aus dem Strome abzulenken. Die Menge See-
tang, welche er aus dem Mexieanischen Meerbusen mit
sich empor führte, setzt er iu höheren Breiten immer rechts
ab und liefert daher einen inuuer neuen Beitrag zu dem
ausgedehnten dicht mit Tang überdeckten Sargasso
Meere. Als die Gefährten des Columbus diese un-
endlich weit ausgedehnte Tangwiese zuerst erblickten und
sich darin tagelang bewegten, flößte sie ihnen einen
gewaltigen Schrecken ein, denn sie glaubten nun an das
Ende der schiffbaren Welt gelangt zu sein, von wo an ein
Zurückkommen in die geliebte Heimat nicht mehr zu den-
ken sei.
Wir kommen zu einem Hauptpunkte unserer Erörte-
ruug, zur Beantwortung der Frage nach der eigentlichen
Ursache dieser großartigen oeeanischen Naturerscheinung.
Wenn wir bisher den Anfang derselben in die Narrows
(Engen) von Florida gesetzt haben, so wollten wir damit
eigentlich nur andeuteu, daß sich gerade an diesem Punkte
die erste charakteristische Spur des stromartigen Zusammen-
Haltens im Meere erkennen lasse, auf keinen Fall haben wir
aber damit ausdrücken wollen, daß an derselben Stelle auch
die Ursache des Phänomens liege. Diese liegt viel weiter
entfernt, und wir werden uns überzeugen, daß sie eigentlich
mit zu dem System der gesammten Kreisbewegung der
Oeeanwasser aus Erden gehört. Der erste, welcher in dieser
Hinsicht eine der Wahrheit sehr naheliegende Vermuthung
aussprach, war Humphry Gilbert; er sagte schon 1560,
daß der Golfstrom eine Rückströmnug des Atlan-
tischen Meeres sei, welches iu der Region der
Passate fortwährend uach dem Mexieauifchen
Meerbuseu hingetrieben werde. Damals kannte
man die Passate nur als eine Ersahruugsthatsache; an eine
befriedigende Erklärung dachten erst hundert Jahre später
Halley und Hadley. Auch sah man zu jener Zeit die
Meeresströmungen noch als eine Folge der Luftströmungen
an; daß eine Ursache denkbar sei, welche beide zugleich ins
Leben rufen könne, war damals noch gar nicht erkannt.
Gilberts Ansicht ist nach und nach immer mehr ausge-
bildet und den neuesten Ansichten über Meeresströmungen
fortwährend besser angepaßt worden, aber Niemand hat bei
dieser allmäligen Vervollkommnung mehr Verdienst als
Nennell. In seiner berühmten Schrift „Investigation of
the Currents of the Atlantic Oeean", welche er 1832 her-
ausgegeben , führt er die Ursache des Golfstromes auf
die iu alleu Weltmeeren herrschende Aequatorial-
strömuug zurück. Im Atlantischen Oeean sei diese
feine Bedeutung für den Verkehr ic.
Strömung zuerst von Columbus entdeckt, es sei dieselbe,
welche den Gefährten dieses genialen Geistes einen so furcht-
bareu Schreckeu eingejagt habe, weil sie die Fahrzeuge mit
einer so unwiderstehlichen Kraft reißend schnell gegen Westen
forttrieb, als sollten sie nie wieder nach Spanien zurück-
kehren. Sie fehlt aber auch dem Indischen Meere
nicht, und hier ist es, wo Renne l l den ersten Impuls zu
der später so charakteristisch auftretenden Golfströmung
annimmt. Die dort entwickelte Aequatorialströmung treibt
die heißen Wassermassen zwischen der Ostküste Afrika's
und Madagaskar hindurch und bildet so den viel gefürch-
tetenMozambiquestrom, gehtumdasBorgeb irg e der
guteu Hoffnung herum und verfolgt den gegen Norden
gerichteten Küstenweg längs Afrika, bis er in der Nähe des
Aeqnators sich wieder mit der atlantischen Aeqna-
torialströmung vereinigt.
Dies ist Rennells Ansicht, und wir werden bald
sehen, welche triftigen Erfahrungsgründe dafür sprechen.
Die so verbundene ungeheuere Menge von tropisch heißem
Wasser, fährt Rennell fort, treibt nach Amerika hinüber,,
stößt in Guyana zuerst ans Land, verfolgt mit fo unwider-
stehlicher Kraft den Weg in das Earaibische Meer, daß
die Seefahrer es nicht für möglich halten, direkt dagegen
zusteuern, auch weiß Alexander v. Humboldt aus
eigener Erfahrung, daß au eine Seereise von Eartagena
nach Cnmana auf diesem Wege gar uicht zu deukeu ist.
Deu ersteu Damm findet dieser ungestüm gegen Westen
vordringende Meeresstrom au dem Isthmus vou Pa-
nama. Durch dies Hiuderuiß und durch den andauernden
mächtigen Druck der nachdrängenden Wasserfluten ist der
Strom gezwungen, nach Norden auszuweichen und der
Krümmung der Festlandsküste zu folgeu, bis er zwischen
Cap Catoche auf Uneatau uud dem Cap Antonio
auf Euba einen Ausweg in den Mexikanischen Meer-
buseu findet. Aber auch hier lassen ihn die nachströmenden
Wassermaffen noch nicht in Ruhe, er ist gezwungen, in dem
Golf von Mexico eine großartige Wirbelbewegung
durchzuführen. In der Straße von Florida tritt ihm die
große Bank von Bahama und ein anderer Zweig der
Aequatorialströmung behindernd entgegen, er wird
abermals gezwungen gegen Norden auszuweichen, es ist
aber das letzte Mal, denn nun gewinnt er als Golfstrom
seine oeeauische Freiheit. Diese benutzt er zu einem weit
ausgedehnten Kreislauf im Atlantischen Oeean und
kommt in seiner Hauptmasse zuletzt wieder mit dem Aequa-
torialstrome zusammen, um den Weltweg aufs Neue
zu beginnen. Das ist das Bild, welches Rennell von
dieser wunderbaren Meeresströmung entwirft. Es ist ein
erhabenes Schauspiel; er läßt es eben so wenig an erheben-
den Worten als an überzeugenden Gründen fehlen , um
dasselbe zur lebendigen Anschauung und zur festen Ueber-
zeuguug zu bringen. Er zeigt dabei eine große Meister-
schaft und befriedigt nicht blos die Männer von Fach,
sondern alle gebildeten Denker uud alle praktischen See-
fahrer.
Unter dem Einflüsse der Tagesdrehung unserer Erde
verfolgt der ursprünglich genau nach Norden gerichtete
Golfstrom einen immer mehr östlich abgelenkten Weg,
berührt fast den Südsaum der großen Bank von Neu-
sundland uud geht dann ziemlich ganz östlich nach
den Azoren. Hier theilt er sich in zwei Zweige, von
denen der eine um Britanniens Inselgruppe herum
bis Norwegen gelangt, ja zuweilen sogar den Weg um
die Nordgrenze Europa's und Asiens verfolgt; wäh-
rend der andere viel mächtigere Zweig sich südöstlich nach
der Westküste Frankreichs und Portugals hinabneigt
H. Birnbaum: Der Golfstrom m
und dem hier schon beginnenden Zuge der Atlantischen
Aeqnatorialströmuug längs Nordafrika folgt.
Wir wollen einige Beweise auch für diese Theorie zur
Sprache bringen. Der große Mast des englischen Kriegs-
schiffes „Tilbury", welches im amerikanischen sieben-
jährigen Seekriege an der Küste von Santo Domingo
in Brand gerieth, ist an Schottlands Nordküste ans Land
getrieben; seine Reise dahin kann er nicht anders als mit
Hülfe des Golfstroms durchgeführt haben. Dicht unter
dem Aeqnator in Afrika's Niederguinea, am Cap
Lopez, scheiterte ein englisches Handelsschiffs das Vorzugs-
weise mit Palmöl befrachtet war, ein Theil dieser Oelfässer
wurde ebenfalls in Nordschottland ans Land getrieben;
auch hier kann der Neiseweg wohl kein anderer gewesen
sein, als der von Rennell bezeichnete äquatoriale
Golfstrom, so daß die Fässer erst zweimal den Atlan-
tischen Ocean zu durchwandern hatten, ehe sie ihr Ziel
erreichen konnten. Von dein englischen Schiffe „New-
castle" wurde unter 38° 52' n. Br. und 66° 21' w. L.
am 20. Januar 1819 eine mit Inschriften versehene, wohl-
verkorkte und versiegelte Flasche iu den Golfstrom gewör-
fen, welche am 2. Juni 1829 bei der Insel Arran wieder
aufgefischt wurde. Sie hatte also im Golfstrom die
Reise durch deu nördlichen Atlantischen Ocean gemacht,
und sicher geschwinder als es den ersten Anschein gewinnt,
denn es ist sehr zu bezweifeln, daß man ihre Ankunft
sogleich bemerkt haben sollte. Berghans gibt in seiner
„allgemeinen Länder und Völkerkunde" den Lauf
von 21 solcher Flaschen an, in denen der Ort und die
näheren Umstände aufgezeichnet waren, unter denen sie
ausgesetzt wurden, so daß man bei ihrer Wiederauffindung
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit den durchwanderten Reise-
weg bestimmen konnte; Admiral Beechey hat sogar von
mehr als 100 solcher Flaschen die Reisewege aus der Karte
verzeichnet. Zwei davon waren in südlicher Breite in der
Nähe der Westküste Afrika's zugleich ins Meer geworfen,
die eine von ihnen kam bei der Insel Trinidad wieder
ans Land, sie hatte also nur die äquatoriale Vorbe-
reitung zum Golfstrom zu ihrer Ueberfahrt benutzt;
die andere dagegen wurde bei der Insel Gueruseh im
englischen Kanal wieder aus dem Wasser gezogen und
hatte daher den ganzen Weltwirbel des Golfstroms zu
ihrer Meeresfahrt benutzt.
Alexander von Humboldt erzählt, daß kurz vor
seiner Ankunft auf Teneriffa in der Rhede von Santa
Cruz der zugeschwommene Stamm einer südamerikanischen
Ceder aus dem Wasser gezogeu worden sei, von dem man
mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen dürfe, daß er eine
sehr große Oceanreise auf dem Golfstrom durchgeführt
habe. Derselbe Strom hat auch dem genialen Columbus
sichere Anzeichen von dem Dasein westlich gelegener großer
i seine Bedeutung für den Verkehr:c. 179
Länder gegeben. Zwei Leichname, deren Züge eine ganz
unbekannte Menschenrasse verriethen, wurden gegen das
Ende des 15. Jahrhunderts an die Küste der Azoren
geworfen, und fast um dieselbe Zeit sammelte sein Schwager,
Gouverueur von Porto Santo, am Strande dieser Insel
Stücke Bambus vou uugeheuerer Größe, welche die Meeres-
strömungen und die Westwinde dahin gebracht hatten.
Leichname und Bambus erregten die Aufmerksamkeit des
großen Genuesen; er errieth, daß beide von einem großen
im Westen gelegenen Continente, von „Indien", herüber-
geschwommen seien. Künstlich geschnitzte Hölzer, Samen
und Früchte von Pflanzen, welche nur auf den Antillen
ihre Heimat haben, werden noch jetzt eben so wie früher
an die Küsten der Inseln Ferro und Gomera geworfen
und als Merkwürdigkeiten gesammelt und vorgezeigt. In
dem „Account of the Islands of Orkney" (1700 S. 60)
erzählt James Wallace, daß im Jahre 1682 an der
Südspitze der Insel Eda ein Grönländer in seinem Kahn
von vielen Menschen gesehen wurde. Man habe sich
bemüht, ihn zu faugeu; es sei nicht geglückt. 1684 sei
ebenfalls ein grönländischer Fischer bei der Insel Westrom
gesehen worden. Auf Burra war in der Kirche ein Kahn
der Eskimos aufgehangen, den die Golfströmuug und
Sturm angetrieben hatten. „In der Geschichte von Vene-
dig des Cardinal Bembo", sagt Humboldt, „finde
ich die Nachricht, daß im Jahre 1508 nahe an der eng-
lischen Küste ein kleines Boot mit sieben Menschen fremd-
artigen Ansehens von einem französischen Schiffe gekapert
wurde. Die Beschreibung paßt ganz auf die Gestalt der
Eskimos (horaines erant septem mediocri sta-
tuta, colore subobscuro, lato et patente
vultu, cicatriceque una violacea signato). Niemand
verstand ihre Sprache. Ihre Kleidung war aus Fischhäuten
zusammengesetzt. Auf dem Kopfe trugen sie coronam
e culmo pictam, Septem quasi auriculis intextam. Sie
aßen rohes Fleisch und tranken Blut wie Wein. Sechs
dieser Männer starben auf der Reise; der siebeute, ein
Jüngling, wurde dem König von Frankreich, welcher da-
mals in Orleans war, vorgestellt. Das Erscheinen
sogenannter Inder an den westlichen deutschen Küsten
unter den Ottonen und unter Friedrich dem Roth-
bart siudet feine Erklärung in ähnlichen Wirkungen der
Meeresströmung und lang anhaltender Nordwestwinde."
Sartorius von Waltershausen berichtet in seiner
„physisch-geographischen Skizze von Island",
daß der Golfstrom besonders früher hier so viel Baum-
stamme aus Amerika angeschwemmt habe, daß man die-
selben zu allerlei Bauten benutzt hätte.
In einem zweiten Artikel soll der Einfluß des Golf-
stroms aus die Seefahrt und auf die Ausgleichung des
Klimas erörtert werden.
23
180
W. Hausmann: Neisebild aus der Walachei.
Neisebild aus
Von Wilhelm Hav!
Man dürfte sich wundern, wo in einer sonst so einsamen
Gegend, wo meilenweit kein Dorf in der Nähe ist, diese
Leute hergekommen seien. Doch ist die Erklärung sehr ein-
fach. Es sind Csobauen— Berghirten. Ihr Geschäft
ist ausschließlich Schafzucht und Käsebereitung. Die Be-
nennung Senne, wie in der Schweiz, wäre hier gar nicht
bezeichnend, obgleich ihr Geschäftsleben viele Ähnlichkeit
mit diesen hat. Nur werden hier niemals Kühe zur Alpen-
wirthschast benutzt, souderu ausschließlich die grobwolligen
walachischen Bergschafe. Vom Frühling bis in den Herbst
sitzen sie da oben in den Hochwiesen, wo an einer geeigneten
Stelle — meist in der Nähe einer der höchsten Quellen —
ein armseliges Blockhaus erbaut ist; aber lauge nicht in
der oft komfortablen Weife der schweizer Sennhütten.
Einige eiserne Kessel, mehre Holzkübel und ein Melkschemel
bilden das Inventar. Dicht an der Holzwand brennt in der
Hütte auf der Erde stets ein tüchtiges Waldfeuer vou gauzen
Klötzen. Ueber dieses werden an einem hölzernen Arme
die Kessel gehängt, worin die Milch zum Gerinnen gebracht
wird, und später kommt der Kessel, worin der Palukes
gekocht wird. Der größern Bequemlichkeit und Zeiterspar-
uiß wegen wird dieser Kessel nie gewaschen. Die antrock-
nende Ninde verengt zwar nach und nach den innern Raum
desselben, aber was thnt das? Die armen halbverhungerten
Hunde der Hirten wollen auch lebeu. Nachdem die Herr-
schaft behaglich am Boden sitzend gespeist hat, wird der
Kessel beiseite gestellt. Die Hunde warten kaum, bis er
kalt ist und nagen mit Appetit die von früheren Mahlzeiten
restirende Riude ab. Zwar haben die Walachen diefe Ge-
meinfchaft nicht gern, und mancher arme Näfcher bekommt
einen tüchtigen Prügelhieb übers Kreuz, aber was hilft
es? in zehn Minuten ist er doch wieder da. Abends ver-
sammeln sich die Hirten in der Hütte; dann ertheilt wohl
der Aelteste den Befehl, den Kessel zu waschen. Aber
lieber Himmel! wenn man die Hände ansieht, die dies
Geschäft verrichten sollen, so denkt jeder Freund der Rein-
lichkeit gewiß, daß es doch besser wäre, den Kessel unge-
waschen zu lassen. Die Schase, eine höchst abgehärtete
Rasse, bleiben des Nachts um die Hütte gelagert; die
jüngeren machen sichs auch wohl in der Hütte bequem, wobei
sie natürlich den Boden derselben bedeutend düngen.
Mit dem Frühmorgen erheben sich die treuen Hirten,
hängen eine eisbärpelzartige Kotzen um sich und stehen
gähnend auf, kratzen sich hinter den Ohren, kriechen zu der
engen Thüre hinaus und zählen mit ungefährem Ueberblick
die Häupter ihrer Lieben, beobachten auch mit kundigem
Blick die meteorischen Eonstellationen und ziehen sich dann
noch einen Augenblick zurück, um ihren Sack mit etwas
kaltem Palukes, den ewigen Zwiebeln, etwas Käse, und als
Luxus manchmal einem kleinen Stückchen geräucherten
Specks, umzuhängen. Die Heerde wird nach Bedürfniß in
zwei bis drei Haufen getheilt, ein zottiger Wolfshund schließt
sich freudig belleud und schwanzwedelnd an, und mit
lautem: bläh! und mäh! trappelt die Heerde bergan,
irgend einer bekannten grasreichen Alpenwiese zu.
der Walachei.
\\\U in Kronstadt.
Der orientalische Ritus verlangt die Errichtung zahl-
reicher Betstationen, zu welchem Zweck an geeigneten
Punkten bis hoch ins Gebirge hinauf hie und da große
Holzkreuze aufgestellt werden, die in cyrillischen Lettern meist
einen frommen Spruch eingefchnitzt zeigen; die Buchstaben
sind roth ausgemalt, eben fo sonstige Verzierungen, welche
ost in sehr barocker Weise allsgeschnitzt werden. Hier hält
jeder Hirt einige Augenblicke still und murmelt, sich viel-
fach bekreuzend, ein kurzes Gebet.
An Ort und Stelle angekommen, fetzt er sich auf einen
die Aussicht beherrschenden Stein, von dem er mit strenger
Miene auf seiue wolligen Pfleglinge herabschaut; mit eiser-
ner Eousequenz achtet er darauf, daß Friede und Ordnung
herrsche, und kein Schäslein vom Wege der Pflicht sich
verirre.
Oft regt sich bei diesen Natursöhnen der Sinn für
Poesie und Musik. In stillen Nachmittagstnnden, wenn
die Heerde gesättigt vom fetten Alpengrase ruht, nimmt er
aus seinem Sacke eine Art Flötenpfeife; auf dieser bläst er,
oft in elegische Schwärmerei versinkend, seine einfachen
Melodien. Das Alphorn ist hier gänzlich unbekannt, nur
diefe Löcherpfeife das einzig herrschende musikalische Justru-
ment. Fühlt das Herz des einsamen Musikers vielleicht
auch Liebeskummer, Sehnsucht nach den Eltern oder ähn-
liche Regungen, so genügt ihm bald die Pfeife nicht mehr;
er setzt sie ab und singt einige Verse seiner Nationallieder,
die namentlich in der Melodie sich alle sehr ähnlich sind,
aber in ihrer Einfachheit zu dieser Umgebung passen. Eine
kleine Probe erlauben wir uns hier im Original und in
der Übersetzung einzuschalten:
Eata! chora se porneschte
Sub steschar la redetschina.
Eata! chora se'nverteschte . . .
Vine, puiko, vine!
Willst du nicht zur Hora gehen,
Unter jenem Eichendome,
Schau, wie sich die Tänzer drehen,
Komm, o Liebchen, komme!
Sinkt die Sonne am westlichen Horizont hinunter,
rauschen unten unheimlich die Wipsel der Tannen, blöken
die Schafe unruhig und wollen nicht mehr fressen, dann
erhebt sich der Sänger und treibt seine Heerde wieder hin-
unter zur Steuue. Dort liegen große Salzstücke auf der
Erde, an denen die Schafe gierig lecken; nachdem man
sie gemolken hat, geht eins nach dem andern in die Ver-
zäunung und legt sich befriedigt nieder, um ruhig die
Nacht zu erwarten, die dann auch bald still und sanft den
blitzenden Sternenschleier über die friedliche Seene aus-
breitet. Tag für Tag vom Frühling bis zum Herbste
wiederholt sich dasselbe Treiben.
Daß die Langweile diese Leute nicht umbringt, ist sehr
zu verwundern. Da ist denn der Wunsch nach zeitweiliger
Veränderung sehr zu verzeihen, um einmal auch wieder
andere, als die eigenen langweiligen Gesichter zu sehen,
und gestehen wir es nur, auch der Durst nach herzerquicken-
W. Hausmann: Ne
den Spirituosen zieht sie mächtig in die Tiefe. Sie nehmen
Urlaub vom Aeltesten oder Aufseher, langen aus dem ver-
borgensten Winkel ihres Sackes ein verschrnmpftes Leder-
beutelchen hervor, dessen geringen Inhalt sie sorglich
mustern, und siehe da! zwischen den dicken schmutzigen
Kupfermünzen lächelt sie noch ein neugemünzter Zwanziger
an. Dies genügt für alle Fälle. Auf wohlbekannten
Steigen eilen sie mit Schnelligkeit thalabwärts und plötzlich
erscheinen sie im einsamen Wirthshause, wo man ihre Be-
dürfnisse schon kennt und ihnen ohne zu fragen gleich die
ersehnte Herzstärkung bringt. Ist ihr Urlaub kurz, so
nehmen sie oft fchon in der Dämmerung ihre Säcke, stürzen
zum Abschied noch ein Glas hinunter und eilen auf ver-
schlungenen Berg- und Felspfaden oft in dunkler Nacht
ihrer Stenne zu. — Geistige Getränke reizen bekanntlich
den Appetit und stumpfen ihn gegen einfachere Genüsse ab.
Den zurückgelassenen Kameraden bringen sie ein Fläschchen
Branntwein in der Tasche mit. — Wie durch Inspiration
begeistert äußern Alle den Appetit nach Fleisch. Woher
aber hier Fleisch bekommen? Alberne Frage, liegen nicht
draußen vor der Hütte mehre hundert Schafe und Lämmer?
Ja, aber die gehören dem weit in der Stadt wohnenden
Bojaren, der sie alle gezählt und selbst den Nachwuchs
schon im Voraus berechnet hat. Aber fragt da der Wolf
danach, nimmt der nicht, was er erwischt? Also her da mit
dein fetten schwarzen Lamm. In wenig Minuten blutet
das arme Thier unter dem Messer; noch rauchend wird es
zerstückt und an Holzspießen über der furchtbaren Kohlen-
glut geröstet. Bald ist es fertig. Gabeln sind hier ganz
unnöthig; Jeder trägt sein Messer im Gürtel. Mit gierig
funkelnden Blicken beobachten die Hunde — die der unge-
wohnte delikate Geruch alle herbeilockte — das Treiben
ihrer Herren; kaum fliegt eiu abgenagter Knochen über
die Achsel, so klappt haifischartig ein Rachen zu und schlingt
ihn hinunter, oder zermalmt ihn krachend im glasharten
Gebiß. Das verzehrte Lamm kommt bei der spätem Zäh-
lnng auf Rechnung des ersten besten Wolfes; und weh-
müthiq heuchelnd zeigt der Hirte das absichtlich zerfetzte
Fell als Beweisstück vor. —
Als der Abend weiter vorrückte, schickten sich in nnserm
Gasthause Alle seufzend und zögernd an, die fatalen
harten Pritschen als Schlafstellen herzurichten. Aber die
wenigen nassen Shawls und Mäntel waren sehr unge-
nügend, und Stroh ist hier nirgends zu bekommen. Nur
die Kinder schliefen auch auf den harten Brettern den glück-
lichen Schlaf der Jugend. Die Frauen warfen allerdings
bedenklich genirte Blicke auf die wilden Bergsöhne, die es
sich schon ringsum bequem gemacht hatten. Aber hier gibt
es keine abgesonderten Schlafkabinette; Alle ruhen im Ver-
trauen auf gegenseitige Diskretion aus derselben Pritsche;
an keiner Thüre ist ein Schloß, höchstens ein Holzriegel,
der mit Bindfaden zurückgezogen wird.
Das monotone Schnarchen meiner Schlafgenossen hielt
mich noch lange wach. Der unangenehme Weindunst, der
hier herrschte, war gleichfalls peinlich. Draußen rauschte
wieder der Regen in Strömen nieder, in der Stille der
stocksinstern Nacht ertönte um so lauter das wütheude
Brausen der ganz nahe vorbeifließenden Praova.
Mit welchen Gefühlen sahen wir aber auch dem Mor-
gen entgegen? Der Fuhrmann erklärte schon am Abend,
daß wir trotz aller Gefahr von hier fort müßten, denn selbst
für die Pferde war kein Futter zu bekommen, und weit
umher kein Brod, nichts, gar nichts für civilisirte Menschen
Genießbares aufzutreiben. Die näher wohnenden einzelnen
Walachen wollten von ihren geringen Mehlvorräthen durch-
aus nichts verkaufen, da sie ganz richtig voraussahen, daß
bild aus der Walachei. 181
sie vielleicht wochenlang zehren müßten, ohne zu der manche
Meilen weit entfernten Mühle gelangen zu können, die
aber auch von den Fluten längst weggerissen war. Andere
Fuhrleute in ähnlicher Lage hatten ihre Wagen stehen
lassen, mit allen Kaufmannsgütern darauf, und waren mit
ihren Pferden zurückgeflüchtet. Diese waren freilich nicht
wie wir gerade zwischen den tiefsten Abgründen festgesetzt
worden.
In solchen Lagen lernt der Mensch erst, wie vieler
ertragen und überwinden kann. Der Uebermüthigste wird
bescheiden; der Verwöhnteste findet Geschmack an den ein-
sachsten Speisen. Den ersten Tag wollten Alle, Kinder
und Erwachsene, nur frisches, weiches Brod essen, ver-
schmähten den Kaffee ohne Milch und ließen den mitge-
brachten Speck unberührt. Am dritten Tage nagten sie
mit Behagen an trocknen, aus den Reisetaschen Hervorgesuch-
teil Brodrinden und aßen gierig den warmen Palnkes aus
den Kesseln der Bauern, ohne Milch, ohne Fett, nur mit
etwas bröslichem fcharffalzigem Schafkäse gewürzt.
Um 4 Uhr Morgens ertönten rauhe zankende Stimmen
auf dem Hofe vor dem Fenster. Blaß und zitternd stürzte der
Fuhrmann herein und sagte: „Jetzt schanns, wie Sie mit den
Frauen und Kindern fortkommen, ich kann Ihnen nicht helfen
und rathen: Die Walachen sind da niit acht Paar Ochsen;
sie sagen, den leeren Wagen nur mit dem uöthigsteu Gepäck
darauf könnten sie anf sonst völlig ungangbaren Wegen
auf weiten Umwegen durchs Gebirge schleppen, und ich soll
versuchen, ob ich die ausgespannten Pferde ohne zu stürzen
über die steilen Abhänge bringe; aber die Passagiere müßten
sehen, wie sie fortkommen, Niemand traut sich einen Rath
zu geben, weil aus jedem Wege nur mit Lebensgefahr
fortzukommen ist. Aber schnell müssenSie sich entschließen,
denn der Berg bei den sogenanuteu Krümmungen stürzt
durch den furchtbaren Regen immer niehr zusammen, und
bis morgen kann vielleicht kein Mensch mehr auch zu Fuß
hinüber kommen.
Diese Nachricht war allerdings betrübend genug. Ganz
allein mit einigen Frauen und den kleinen Kindern, ohne
Lebensmittel, in einem elenden Blockhause, im tiefsten
Waldgebirge zu stehen! Die Koffer, mit allem Schmuck,
Kleideru und Papieren in den Händen dieser Ochsentreiber,
die sich auf nie betretenen Wegen fchon lange damit ent-
fernt hatten. Jndeß ein Entschluß mußte gefaßt werden.
Ich schnitt einige tüchtige Haselstöcke zu, die ich als impro-
visirte Alpenstöcke vertheilte. Einige Hirtenburschen ent-
schlössen sich nach langem Zureden, gegen gute Bezahlung
Jeder ein Kind aus deu Rücken zu nehmen; und fo schickten
wir uns an, der Straße zu solgen uud dann jene berüch-
tigten Schluchten zu durchklettern, wodurch einen Berg-
stürz drei große gewölbte Steinbrücken, die auf thurmtiefen
Pfeilern gestanden, total zertrümmert waren.
Mit Ängstlicher Besorgniß blickte ich nach den ringsum
starrenden Bergriesen empor, die, in düstre Wolken gehüllt,
finster und erbarmungslos auf die armen Fremdlinge her-
abzusehen schienen. Eine eisige Verdunstungskühle durch-
fröstelte die leichtgekleideten Wanderer.
Zum Glück regnete es nur sehr wenig. Dicht am Ein-
gange der ersten Schlucht erklärten die Führer, die Kinder
nicht weiter tragen zu wollen, wenn ihre Bezahlung nicht
verdoppelt würde. Was war da zu machen? Hätten sie
das Letzte verlangt, wir hätten es geben müssen. Außer
meinem Dolchmesser hatte ich keine Waffe; übrigens wäre
ich auch mit einer Waffe gegen die langen eisenbeschlagenen
Stöcke der Bergwalacheu nicht aufgekommen. Wir zogen
darum lieber die Börse und zählten Jedem das verlangte
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182
Eduard Polaks Charakteristik des Volks in Persien.
Geld in die Hand, wonach sie heiter und wohlgelaunt ihre
kleine Bürde wieder auf den Rücken luden und laut das
Glück priesen, welches ihnen dieses Wetter gesandt, wodurch
sie iit einem Tage aus leichte Art mehr Geld verdienten,
als sonst in Monaten. So gibt es also auch Leute, die sich
über Wolkenbrüche und Bergstürze freuen können, dachte ich.
Die Durchpassirung dieser Schluchten nahm übrigens
bedeutende Zeit in Anspruch. Es gehörte ein eigenes Ge-
schick dazu, den in sehr kurzen Pausen herabrollenden Stein-
trümmern und Thonklumpen auszuweichen. An einigen
Stellen hatte sich knietiefer Schlamm angehäuft, den zu
durchwaten feine leichte Aufgabe war.
Endlich erreichten wir doch nach erschöpfendem Marsch
eine bessere Wegstrecke, und gegen Mittag ein anderes
Wirthshaus, Va le Bog dann genannt, wo auch eine
Eilwagenstation ist. Hier war doch wenigstens etwas
Milch und grobes Brod zu bekommen, sowie ein viel besserer
Wein. Nach langer Zeit erschien auch unser Wagen, den
wir oben über den Berg kommen sahen. Alle vier Räder
mit Ketten gehemmt, ließen ihn die Walachen wie einen
Schlitten heruntergleiten; während einige starke Hebel
durch die Speicher steckten, lenkten andere die erschöpften,
schweißtriefenden Zugthiere. Früher waren unsere Pferde
angelangt, die als echte siebenbürger Bergrasse sich auch
hier glücklich durchgearbeitet hatten. Nach langsamer Fahrt
erreichten wir, mehrmals die Praova durchkreuzend, glück-
lich den höhern Theil der Straße und bald das österreichische
Gebiet. Aber lange noch werden alle Betheiligten mit
gelindem Schauer an den Aufenthalt im Wirthshanse an
der Praova denken.
Eduard Polaks Charakteristik des Volks in Persien/-)
;■v :
Wenn wir doch über sämmtliche Länder so vortreffliche
Darstellungen hätten! Herr Polak hat manches Jahr im
Lande des Schah gelebt nnd die allseitigen Lebensverhältnisse
des Volkes gründlich kennen gelernt. Und was er sah und
erfuhr, das stellt er mit lichtvoller Klarheit dar; werden
verdienten und gründlich gebildeten Mann auch nicht per-
fönlich kennt, fühlt doch sofort heraus, daß es ihm vor alleu
Dingen um eine wahrheitsgetreue Schilderung zu thuu ist,
und diese gibt er. Man kann sich auf ihn verlassen, und
wenn er iu der Vorrede äußert, daß er sich bemüht habe,
die Verhältnisse frei von aller Voreingenommenheit mög-
liehst gegenständlich zu schildern, so sagt er das Richtige.
Er hat alle Gegenden des großen Reiches und dessen ver-
schiedenartige Bewohner genau betrachtet, und als Arzt
war er im Stande, über die Frauen und das Familienleben
interessante Beobachtungen zn machen.
Schon der erste Band ist von ungemein reichem Inhalte,
und wir empfehlen das Buch recht dringend Allen, welche
einen richtigen Einblick in die orientalischen Zustände sich
verschaffen wollen. Zwar Persien ist ties gesunken, der
alte Glanz der Achämeniden ist seit Jahrtausenden er-
loschen; von den Sassaniden, unter denen das iranische
Kulturleben noch einmal aufflackerte und die Macht des
Reiches gemehrt wurde, blieb kaum eine Spur übrig. Der
Islam hat Persien überflutet, das heilige Feuer in den
Tempeln ausgelöscht, die Anhänger der zoroastrischen Lehre
bis auf wenige tausende aus dem Lande getrieben nnd die
Masse des Volkes zur Annahme des Mohammedanismus
gezwungen. Aber der Islam hat in Persien eine eigen-
thümliche Gestalt gewonnen, er ist anders geworden als bei
den übrigen Völkern, und das alt-arische Element macht
sich in ihm geltend, wie es ja anch bei den europäischeil
Völkern im Christenthume sich geltend macht. Herrn Polak
ist jene Erscheinung nicht entgangen, wie denn überhaupt
*) Persien. Das Land und seine Bewohner. Ethnogra-
phische Schilderungen von Dr. Jakob Eduard Polak, ehemali-
gem Leibärzte des Schahs vou Persien und Lehrer au der medi-
ciuischen Schule zu Teheran. Leipzig hei Brockhaus. 1865.
Bd. I.
sein Werk eine Menge feiner und zutreffender Bemerkungen
enthält.*)
Mit Recht rühmen sich die Perser, daß ihr Land „sieben
Klimate" habe. Es ist heute eiu Zwischenland geworden,
in welchem sich die Einflüsse der europäischen Diplomatie
geltend machen. Es liegt zwischen dem russischen Gebiet
und dem britischen Indien; nur allein Afghanistan bildet
eine Schranke, durch welche es vom Indus getrennt wird.
Deshalb erscheint es als ein wichtiger Faktor in der großeil
Politik, und obwohl es heute schwach genug ist, kann es,
wenn auch mehr iu passiver Weise, unter Umständen eine
wichtige Rolle spielen. Das wäre schon allein durch die
geographische Lage bedingt. Aus einem Flächenranme
von etwa 22,099 Geviertmeilen leben nicht mehr als
9 bis 10 Millionen Menschen. Weite Strecken sind völlig
öde und viele Dörfer zerstört, aber manche Gegenden
liegen, nach vorderasiatischem Maßstabe, verhältnißmäßig
gut bewohnt.
Mau zählt nicht weniger als 15 verschiedene Bestand-
theile der Bevölkerung: altiranische Perser und Meder;
türkisch-tatarische Stämme; Mischlinge zwischen jenen
beiden; Kurden, Araber im Elwendgebirge und am Kas-
pischen Meere; Armenier nnd allerlei Kaukasier; Misch-
linge von Armeniern und altiranischen Persern; Nejto-
rianer oder Ehaldäer um den Urmiehsee und zerstreut in
Kurdistan; Juden; Afghanen und Beludschen; Turko-
manen rein mongolischer Abkunft; Mischlinge mit den-
selben; Zigeunerstämme; Afrikaner von der Ostküste und
aus Abyfsiuien; Nachkömmlinge von Russen und Polen
und zuletzt eiue geringe Anzahl von Europäern.
Alle diese schildert Herr Polak mit plastischer Anschau-
*) Die zwölf Kapitel, welche der erste Band enthält, schil-
dem: Volkszahl, Abstammung und Stande. — Wohnhäuser,
Städte, Sommerhitze und Zeltlager^ Speisen und Mahl-
Zeiten. — Kleidung, Schmuck und Waffen. — Ruhe und Be-
wegung; Jagd, Gymnastik. Das Familien- und Geschlechts-
leben. — Diener, Sklaven und Eunuchen. — Bildung, Wissen-
schaften und Künste. —; Versuche zur Einführung der europäischen
Eivilisation. — Religion und Gesetz. — Bäder und Begräbuiß-
stätten. — Der Nauruz, d. h. das Neujahrsfest.
Eduard Polaks Charakter
lichkeit. Der Ureinwohner (Perser und Meder) bietet in
seiner Körperbildung den schönen kaukasischen Typus dar,
und in seinem ganzen Wesen ist nichts von dem, was den
Südländer und Semiten zu charakterisireu pflegt. Unter
den höheren Klassen, unter den Beamten und Schrift-
gelehrten, sodann unter den zahlreichen Luxusdienern begeg-
net man häufig Charakteren, deren Prototyp in Moriers
Roman „Hadschi-Baba" unübertrefflich geschildert ist.
Der Perser bezeichnet sie als Fuzul. Ein solcher weiß sich
allen Verhältnissen anzupassen und überall aus seine Weise
Profit zu machen; er versteht nach persischem Ausdruck „zu
essen", d. h. fremdes Gnt an sich zu ziehen. Er ist vor-
witzig, zudringlich, kennt alle Stadtneuigkeiten und beutet
sie aus. Vor dem Höhergestellten kriecht er wie ein Wurm,
gegen Niedere ist er voll Anmaßung; er lügt ans System,
spricht nur dann die Wahrheit, wenn sie ihm von Nutzen
sein kann, verbreitet falsche Nachrichten, intrignirt und
verleumdet; Dankbarkeit ist ihm fremd und er kann es
nicht ertragen, gegen irgend Jemand eine Verpflichtung zu
haben. Er kann Gedichte, Verfe und Epigramme anführen,
hat immer eine Antwort in Bereitschaft, weiß sich in alle
Lebenslagen zu schicken und ist zu Allem brauchbar, zum
Minister wie zum Pferdeknecht. Jedes Wort betheuert er
durch einen Eid, und wenn man ihn auf der Unwahrheit
ertappt, dann bekennt er ohne Scheu und ruft: „Ich aß
Koch!"
Folgendes ist eine Kennzeichnung der Perser:
Er ist, sagt Polak, im Allgemeinen habgierig, er will gern
viel Geld erwerben und prüft die Rechtmäßigkeit der Er-
werbsquelle nicht genau. Er gibt aber viel Geld aus, um
Luxus zu entfalten. In gewisser Beziehung ist er geizig,
aber in Sachen der Liebe kennt er keine Sparsamkeit. Er
klammert sich fest an seine Familie, seinen Stamm, denn
jedes Unglück oder Glück, jede Erhöhung oder Erniedrigung
betrachtet er als solidarisch. Verrath iu der Familie ist fast
unerhört und findet, selbst wenn er zum allgemeinen Besten
diente, allgemeine Verachtung. Für Tugend, Dank-
barkeit, Reue, Ehre und Gewissen hat die per-
sische Sprache kein Wort, obwohl sie sonst sehr fein
ausgebildet ist. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht
genau, obfchon er jedes Wort betheuert, und seitdem Sadi
gesungen: „Lüge zu gutem Zweck ist der Wahrheit vorzu-
ziehen, welche Hader erregt", wird jede Unwahrheit sür
Nothlüge ausgegeben. Freilich macht er auch keine An-
sprüche daraus, daß man ihm glauben solle. Ein Groß-
Wesir sagte zu einem englischen Diplomaten, der sich über
die Unzuverlässigkeit seiner Worte beklagte: „Nimm als
Regel an: Alles, was ich sage, ist gelogen; das
aber, was ich schreibe, mag wahr sein."
Der Perser ist mäßig und genügsam, aber er liebt auch
geistige Getränke und aufregende Mittel; er liebt Ruhe und
Bequemlichkeit, ist jedoch unter Umständen arbeitsam und
unermüdlich, und erträgt Hitze und Durst, Hunger und
Kälte, Glück oder Unglück mit vollkommenem Gleichmuth.
In hohem Grade vermag er seine Leidenschaft zu beherrschen,
und seine Gesichtszüge verrathen nicht, was in seiner Seele
vorgeht. Groll kann er lange in sich verschließen, bis end-
lich der günstige Moment der Abzahlung und Rache ein-
tritt. ^ Bewunderung läßt er nicht merken. Er hat Sinn
für Poesie, Musik und Gesang, aber häufig opfert er den
Gedanken dem Wort und dem Rhythmus auf. Witzig ist
er, ftber in seinem Denken unlogisch. Mau legt ihm z. B.
den Satz vor: Alle Menschen sind sterblich, Eajns ist ein
Mensch, also —; der Perser wird folgern; alfo ist Eajns
kein Pferd oder Esel. Er haßt jede Autorität und versteht
es doch, sich jeder zu fügen. Er ist wenig kriegerisch,
ik dcs Volks in Persim. 183
duldet lange den heftigsten Druck, bricht ihn dann aber
endlich mit roher Faust und läßt den Gegner feine Rache
zunächst durch Entehrung der Familie empfinden. Er
spricht stets von Tugend und Gerechtigkeit, von seinem Ab-
scheu vor Unterdrückung und Willkür, aber sobald sich ihm
Gelegenheit bietet, ist er der ärgste Tyrann und eignet sich
unbedenklich Gut und Vermögen Anderer zu. Der Perser,
seines Schicksals für den nächsten Tag nicht sicher, lebt nur
in der Gegenwart; der König wie der Chan baut sein
Haus nur für einige Jahre, der Bauer pflanzt nur so viele
und nur solche Bäume, daß er in kürzester Frist die Früchte
genießen kann. Von Natur ist der Perser nicht gransam,
aber die Thiere behandelt er mit mehr Nachsicht als den
Menschen. Der stete Anblick despotischer Willkür stumpft
sein Mitgefühl ab. Er bewirthet gern Gäste; der niedrigste
Knecht ist im Stande, seinen Monatslohn auf eine Ein-
ladung der Freunde zu verwenden. Dennoch geht ihm der
Begriff wahrer Gastfreundschaft ab; er empfängt seine
Gäste nur deshalb, um wieder von ihnen eingeladen zu
werden, oder weil es ihn langweilt, sein Brot allein zu
essen. Ueber die Maßen ergötzen ihn theatralische Vor-
stellnngen, Fareeit, Tänze und Feuerwerke; er ist selber ein
geborner Schauspieler, jedes Spektakel zieht ihn an.
Erfinderisch ist er nicht, aber tüchtig in der Nach-
ahmung; er faßt rafch auf, lernt schnell/bleibt aber bald
stehen und begnügt sich, das Aufgefaßte zu verwerthen.
Seinen heimatlichen Boden liebt er, aber nur wenig das
Vaterland. Er ist leicht dnrch Geld zu gewinnen, doch
fällt die Bestechung zumeist aus sehr zweideutigen Boden.
Fanatisch ist er durchaus nicht, aber er will für fromm und
glaubenseifrig gelten. Im Umgang ist er angenehm; er
versteht es, immer etwas Verbindliches zu sagen und
erwartet von Anderen dasselbe, wenn auch Beide sich glühend
Haffen und einander zu verderben suchen. Er wird nie
eine Bitte oder ein an ihn gestelltes Ansuchen rund ab-
schlagen^; er verspricht, um uicht zu halten. Das ist nicht
immer Falschheit, sondern rührt aus einer ihm inne woh-
nenden Schwäche her, er will deu Bittsteller nicht hosfnuugs-
los entlassen; deshalb sucht er die Sache lieber in die Länge
zu ziehen und den Elienten zu ermüden.
Einen eigenthümlichen Hang hat er zur Spekulation,
zum Geheimen und Räthselhasten. Jede geheime Gesell-
schaft erregt sein Interesse, jede neue Religionssekte gewinnt
bald zahlreiche Anhänger, z. B. das Freimaurerthum
findet bei ihm große Sympathie. Dieses heißt auf
Persisch Faramusch chatte, Haus der Vergessenheit. Zu-
fällig ist das französische Wort frima?on dem persischen
Faramusch (Vergessenheit) ähnlich; daher entstand die
Sage, daß Jeder mit dein Eintritt in die Loge das frühere
Leben vergeffe.--
Wir gehen nicht näher ein auf die Art des Grüßens,
bemerken aber, daß die Schimpfworte und Flüche
charakteristisch sind. Sie betreffen selten das Individuum,
sondern gewöhnlich dessen Familie, besonders den Vater,
die Frau oder das Grab der Vorfahren, weil nach dem Be-
griffe des Familienlebens die Beschimpfung der Familie
weit härter trifft, als die dcs Individuums. Die gebräuch-
lichsten sind das Peder (Pater) suchle, d. h. dein Vater
wurde verbrannt, will sagen er war ein Heide, und Peder
sek,^dein Vater war ein Hund. Die meisten Flüche, welche
die Frauen betreffen, sind so obseön, daß sie keine Ueber-
setznng erlauben, und doch hört man sie oft im Munde
kleiner Kinder, von denen sie mechanisch nachgesprochen
werden.
Der Perser betheuert gern seine Aussage; er schwört
beim Kopse Ali's, Mohatntneds, des Schah; er wiederholt
184 Die Schanars und die P
Wallah, Villah, Tillah; doch ist der Schwur: bei deinem
Kops! der häufigste. Für Bejahung hat er keine
besondere Kopfbewegung; die Verneinung be-
zeichnet er dadurch, daß er den Kopf auf- und rück-
wärts bewegt. —
Zahlreich im Lande sind die Turko-Tataren. Diese
tapferen und entschlossenen Leute sehen mit Verachtung aus
den Perser herab, welchen sie für feig halten. Polak
berichtet als Augenzeuge" Folgendes: — Ein Perser war
im Streit mit einem Türken und überhäufte denselben mit
einem Schwall von Schimpfwörtern. Der Türk saß ruhig
und rauchte sein Tschibuk. Endlich löste er sorgfältig das
Rohr, als ob er dasselbe putzen wolle, versetzte dem Perser,
dem er ein „Hundesohn" zurief, einen Schlag über den
Kopf, setzte sich wieder hin, prüfte das Rohr und rauchte
Weiter, als ob gar nichts vorgefallen sei.
Ueber die Juden erhalten wir durch Dr. Polak manche
interessante Angaben. Sie waren einst in Südpersien
zahlreich und mächtig, erlitten dann aber harten Druck und
sollen jetzt nur etwa 2000 Familien zählen. In Schirls, Js-
sahan und Kaschan bilden sie große Gemeinden; kleinere in
Teheran, Demavend, Balasrnsch und Kaserau; einige leben
versprengt in kurdischen Ortschaften. In dem Wallfahrts-
orte Meschhed waren sie mit Ausrottung durch die moham-
medanischen Priester bedroht; viele bekehrten sich scheinbar
zum Islam, bilden aber noch jetzt eine geheime Juden-
gemeinde, und andere flüchteten nach Herat, wo sie viele
Glaubensbrüder fanden. Die Judeu sprechen ein Patois,
das viel mit Altpersisch untermischt ist. Sie sind der ein-
zige Stamm in Persien, welcher Zischlaute spricht, die
der Perser trotz aller Anstrengung kaum hervorbringen
kann. Während des Sprechens gesticulireu sie viel mit
den Händen und setzen die Gesichtsmuskeln in Bewegung;
die gebildete Klasse schreibt und spricht Hebräisch nach rich-
tiger Art. Sie schreiben gewöhnliche Briefe in persischer
Sprache, bedienen sich jedoch dabei der hebräischen Targum-
buchstaben.
„Bekanntlich gibt es unter den Juden zwei
Typen: den rein arabischen mit feiner Adlernase,
schwarzen glänzenden Augen und zierlichen Extremitäten;
sodann eine zweite, in alten Zeiten mit Chamiten
gekreuzte Rasse, mit dicker Nase, tiefen Nasen- und
Mundfurchen und Kraushaar, welches oft dem Negerhaare
gleichkommt. Beide Typen findet man in Persien. Ueber-
Haupt haben Klima und sociale Verhältnisse
nicht im Mindesten auf sie eingewirkt, so daß
sie von Juden anderer Länder durch nichts zu
unterscheiden sind." Hier haben wir wieder einen
Beleg dafür, wie andauernd das Rassenverhältniß
lmyrapalme in Ostindien.
wirkt, welches Leute wie Buckle und Mill :c. für gar
nichts achten, weil sie von Anthropologie nichts verstehen.
Bei den persischen Inden ist die Polygamie
erlaubt, sie kommt.aber, wegen der gedrückten Verhält-
nisse, in welchen diese Leute leben, nur selten in Anweu-
dnng. Sie sind aus einen besondern Stadttheil angewiesen,
den Mahale joehud, also auf ein Ghetto, und müssen
die Hausthür fo niedrig machen, daß sie nur in gebückter
Stellung eintreten können. Manchmal werden ganze
Gemeinden willkürlich gebrandschatzt und alle müssen Kops-
stener bezahlen. Wegen des schweren Druckes, welcher auf
den Juden lastet, sind viele in die Türkei und die östlichen
Länder ausgewandert, und in Afghanistan und Türkistan
haben sie eine viel bessere Stellung. Dort sind sie oftmals
die einzigen Leute, welche zwischen den einander befehdenden
Stämmen den Austausch vermitteln.
Sie beschäftigen sich mit Seidenspinnen, Glasschleifen,
Gold-, Silber- und Juwelierarbeiten, brennen Alkohol,
Branntwein, machen Wein, Ammoniak, Salz-, Schwefel-
und Salpetersäure, verstehen sich auf die Scheidekunst und
leiten die technischen Arbeiten in der Münze, wo sie unent-
behrlich sind. Viele sind renommirte Aerzte, Sänger und
Musiker. „Im Jahre 1859 veranstaltete der Polizei-
meister von Schiras mir zu Ehren ein Fest in seinem
Garten. Er hatte dazu die besten Judenmusikanten ge-
miethet; die Ausführung, welche die persischen Gäste ent-
zückte, war genau uach Art des polnischen Juden-
gesauges, nicht einmal die Gurgel- und Nasenlaute
fehlten."
Die Juden pilgern seit uudeuklichen Zeiten nach dem
Grabmal Esthers in Hamadan, dem alten Ekbatana.
Dort steht im Judeuviertel ein kleines Gebäude mit einer
Kuppel; der Eingang ist zum größten Theil vermauert;
man kann nur ganz unten, durch eiue kleine Oeffnnng, ge-
bückt eintreten ; sie wird, statt der Thüre, durch eiue beweg-
liche Steiuplatte abgesperrt; diese Vorkehrung hat man
wegen der häufigen Uebersälle angebracht. Erst kommt
man in eine Vorhalle, dann in einen kleinen, spärlich durch
schmale Fenster beleuchteten Saal; in diesem befinden sich
zwei hohe Schreine von Eichenholz, die Grabmäler der
Esther und des Mordechai. Rings um dieselben sind in
hebräischer Sprache die Verse aus dem letzten Kapitel des
Buches Esther nebst den Namen dreier Aerzte gravirt, aus
deren Kosten das Grab restanrirt wurde.
Dr. Polak spricht sich entschieden für die Echtheit der
Efthersage aus und bringt (S. 26 ff.) triftige Gründe für
seine Ansicht vor.
Wir werden aus dem vortrefflichen Buche noch einige
Auszüge geben, namentlich über den Schiismus, welchen
Polak sehr gut charakterisirt.
Die Schanars und die PalmiMpalinc in Dstindien.
Wenn der Wanderer einen der Thürme besteigt, die
über den District von Tinnevelly (im südlichen Indien,
am Golf von Manar) zerstreut sind, dann breitet sich vor
ihm eine wellenförmige Ebene von feuriger Farbe aus, die
größteutheils mit steifen Palmyrapalmen bedeckt ist,
zwischen denen sich hier und da Streifen einer glänzend
grünen Vegetation hinziehen. Diese dürren Regionen hei-
ßen Teris. Ein Ten ist ein sanft abfallender Hügel, der
ganz aus rothem Sand besteht, und auf dem nur die Pal-
myrapalme gedeiht. Am AbHange des Hügels braucht
man jedoch nicht sehr tief zu graben, um auf Wasser zu
stoßen ; da bauen denn die Landleute ihre Bauanen, welche
Die Schanars und die P
das öde Bild der Landschaft einigermaßen beleben. Diese
Beschreibung paßt jedoch nur ans den südlichen Theil der
Provinz, die durch den Tamravarni oder kupferfarbigen
Fluß iu zwei Hälften getrennt wird. Dieser Strom ent-
springt in den Ghats und geht an den Städten Tinnevelly,
wo ein großer Siwaternpel steht, und Palarneotta vor-
über, nur etwas südlich von Tnticorin in die Bay von
Bengalen auszumünden. Durch die Lage seiner Quellen
wirken die Regengüsse beider Monsune auf ihn ein,
versehen ihn reichlich mit Wasser und machen es so mög-
lich, daß in dein Mittlern Theile Tinnevelly's wegen der
möglichen Bewässerung jährlich zwei gute Reisernten
gehalten werden können. Im Norden dieses Frucht-
barkeit spendenden Stromes ändert sich die Landschaft,
und wir kommen auf deu schwarzen Boden der Baum-
Wollengegend.
Doch wenden wir uns wieder nach der sandigen Ge-
gend, südlich vom Tamravarni, wo die Missionäre der eng-
tischen Hochkirche ein weites Feld für ihreBekehrnngsthätig-
keit gesunden zu haben glauben. Denn es scheint nach
dem Ausspruche des Dr. Caldwell wahr zu fein, daß da,
wo die Palmyrapalme vorkommt, ein ergiebiger Boden für
die Ausbreitung des Christenthums vorhanden ist, während
überall, wo sie verschwindet, auch das Christenthum nicht
mehr gedeiht.
Die Palmyrapalme wird von den Schanars knl-
tivirt, und unter diesen haben die Missionäre die meisten
Proselyten gemacht. Die Schauars sind wahrscheinlich
nicht arischen Ursprungs und gehören zu deu uicht brahmi-
uischen, zu den dravidischeuUreinwohnern Indiens, die ihre
nächsten Verwandten unter den Mongolen und Finnen
finden- Ihre Wohnsitze erstrecken sich nur über Tinnevelly
und Süd - Travaucore. Ihre Sprache ist die tamilische,
der am meisten ausgebildete und am weitesten gesprochene
Zweig der dravidischen Sprachen.
Als die Brahminen in Südindien einwanderten, ver-
breiteten sie unter den Einwohnern die ersten Elemente
der Civilisation und theilten dieselben zugleich iu verschie-
deue Kasten, welche in zwei wesentlich von einander ab-
weichende Theile zerfallen. Diejenigen Kasten, welche
unter dem Namen Sudra bekannt sind, umfassen die mitt-
leren Kasten des Südens, die Kaufleute, Handwerker und
Künstler, welche deu wichtigsten Theil der Bevölkerung
ausmachen. In der zweiten Abtheilung, die hauptsächlich
aus Ackerbauern besteht, nehmen die Schanars den ersten
Platz eiu. Nach ihnen kommen noch einige andere tiefer
stehende Kasten, herab bis zn den Parias und den wan-
dernden Zigeunern. Obgleich das Christenthum meistens
nur von den Schanars angenommen worden ist, so sind
doch auch manche ans den niederen Kasten, namentlich
Parias, und einige aus den Sudras und Brahminen
bekehrt worden.
Die reicheren Schanars sind Eigenthümer der Palmyra-
Palmen, die ärmeren knltiviren dieselben, und nur wenige
sind zugleich Besitzer und Bearbeiter der Bäume. Die
Palmyrapalme (Borassus flabelliformis £.) gehört zu
deu nützlichsten und zugleich am weitesten verbreiteten
Bäumen. Ihre Region liegt zwischen dem 10" ftidl. Br.
und dem 30° nördl. Br., sowie 54° bis 140° östl. L.
Eine ausgewachsene Palme hat 60 bis 7 0 Fuß Höhe, ihr
Stamm mißt am Grunde etwa 57a Fuß, nach dein Gipfel
zu 2% Fuß im Umfange und ist gewöhnlich einfach, bis-
weilen jedoch mehr oder minder verzweigt, so daß er vier,
sechs und mehr Kronen trägt. Jeder Baum besitzt 25 bis
40 frische grüne Blätter, während die Blattstiele der alten
und verwelkten im wilden Zustande den Stamm mit einer
Globus IX. Nr. G.
lmyrapalme in Ostindien. 185
Spirallinie von riesigen Stacheln umgeben. Die Eiuge-
bornen pflegeu jährlich 12 bis 15 Blätter abzuschneiden, so-
Wohl um sie zu verschiedenem Gebrauche zu verwenden, als
auch, um das Reifen der Frucht zu beschleunigen.
Weuige Bäume gewähren Thieren aller Art bessern
Schutz als die Palmyra, denn sie dient Nachts vielen Vö-
geln, bei Tage Ratten, Eichhörnchen und Affen zum Zu-
flnchtsorte. Die Menge der Fledermäuse anf denselben ist
oft unglaublich groß. Die Furchen der Blattstiele, der
ganze Bau des Blattes sind dazu geeignet, den Regen
aufzufangen. Jeder Tropfen, der ans die Krone fällt,
riefelt dem Stamme zu. Deshalb ernähren diese Bäume
zahlreiche Schmarotzerpflanzen, namentlich Orchideen und
Ficusarten.
Alle Theile dieser Palme, mit Ausnahme der Wurzel,
werden mannichfach benutzt. Die jungen Pflanzen von
zwei bis drei Monaten sind unter dem Namen Keliugus
eiu beliebtes Nahrungsmittel und werden zu diesem Zwecke
gezogeu. Man genießt sie frisch, gekocht, getrocknet, ge-
röstet oder in Scheiben geschnitten und wie Brodfrucht iu
der Pfanne gebackeu.
Das Holz der ausgewachsenen Bäume wird Vorzugs-
weise zu Bauten, namentlich auch zum Schiffsbau ver-
wendet. Mit deu Blättern werden die Dächer gedeckt,
obwohl sie weniger dazu geeignet sind als die dauerhafteren
und netteren Cocosblätter. Dagegen geben sie sehr hübsche
Umzäunungen und einen vorzüglichen Dünger für die
Reisfelder. Auch werden Matten aus ihnen verfertigt,
die man als Fußdecken, zum Trocknen von Kaffee, zum
Verpacken der Ausfuhrartikel benutzt. Säcke, Körbe,
Wasserkörbe, Hüte, Mützen, Fächer, Schirme, — das Alles
wird aus diesen Blättern gemacht. Einer der seltsamsten
Zwecke aber, zu welchen sie dienen, ist der, daß man darauf
schreibt, ein Gebrauch, der nach dcm Zeugniß des ältesten
Hindllschriftstellers, Paninyrische, über 4000 Jahre alt ist.
Die Schrift wird mit einem Griffel auf die Blattfläche
eingegraben und durch das Einreiben einer Mischung von
Kohle und Oel leserlich gemacht. So schreiben die Ein-
gebornen ihre Briefe darauf, welche nett znfamengerollt und
bisweilen mit etwas Gummi versiegelt durch das Postamt
gehen.
Aber das werthvollste Produkt der Palmyrapalme ist
ihr Zuckersaft, welcher gauz Tinnevelly mit Nahrung ver-
sieht. Frisch vom Bamne weg bildet er das Frühstück der
Familie; zu einer harten schwarzen Masse, demJaggery,
eingekocht dient er als Mittagsessen. Zu weißem Zucker
rafsiuirt hat er als Handelsartikel den Vorzug selbst vor
dem Rohrzucker; der Gährung überlassen dient er als
Hefe zur Darstellung von Palmwein oder Toddy und
Weinessig.
Um diesen Saft zn gewinnen, muß der Baum erklettert
werden, denn er fließt nur aus den Blütheustengelu, die
unmittelbar unter den Blättern sitzen. Jeden Tag bewaff-
nen sich die Schanararbeitslente mit einenl Stocke, an dem
ewige Eimer von Paliuyrablättern befestigt sind, einigen
irdenen Töpfen und anderen Gerätschaften, die in einem
Beutel hängen. Dann klettert der Manu schnell den
Stamm hinauf und quetscht die Blumenstengel, an welche
er seine kleinen Töpfe befestigt. Die von früheren Hin-
aufkletterern oben befindlichen Töpfe werden in die Eimer
geleert. Jeder Baum muß täglich mindestens zweimal
erstiegen werden, zuweilen anch dreimal, denn wenn der
angesammelte Saft lange in den kleinen Töpfen bleibt,
geht er in Gährung über. Die Schanars haben hiernach
tüchtig mit Armen und Füßen zu arbeiten. Wenigstens
50 Bäume muß ein Mann täglich versehen, und diese An-
21
186 Eine Fahrt von Elbing
strengung dauert acht Monate des Jahres hindurch. Ihre
große Behendigkeit wird auch vou allen Reisenden, die
Tinnevelly besuchen, bewundert, und wer die im Palmen-
Walde aus- und niederkletternden Menschen gesehen hat,
vergißt dieses merkwürdige Schauspiel nicht.
Die Früchte der Palmyra sind verschieden, je nach den
Bäumen an Form, Farbe, Geruch und Geschmack, und
werden von den Eiugeborueu als Varietäten betrachtet,
deren jede einen besondern Namen führt. Die reif abge-
fallene Frucht wird mitunter roh gegessen, weit häufiger
aber geröstet und als sogenanntes Punatu eingemacht.
Das letztere, vou dem iu früheren Zeiten bedeutende
Quantitäten nach Java und deu Niederlanden ausgeführt
wurden, wird mattenweise für drei bis sechs Schilling ver-
kauft. Tausend Früchte ungefähr reichen für eiue Matte
aus. Diese Frucht macht den Hauptlebensunterhalt von
sechs bis sieben Millionen Jndiern und anderen Asiaten aus.
So stellt sich die Palmyra Palme als eines der
wichtigsten Gewächse der Erde heraus; sie wett-
eifert mit der Dattelpalme und steht nur der
Cocospalme an Nützlichkeit nach.
Die Religion der Schanars war, ehe christliche Mis-
siouäre zu ihnen kamen, eine Art Teufelsanbetung. Dies
ist eiu Beweis ihres vorbrahminischen Ursprunges; denn
ihre abergläubigen Vorstellungen sind identisch mit dem
Schamanismus der alten Mongolen und Tataren; er
herrscht noch unter den Ostjaken Sibiriens; theilweise auch
ch dem Seebad Kahlberg.
in Ceylon, wo er jedoch mit dem edlern Buddhaglauben
vermischt ist. Die Dämonolatrie ist eine Religion der
Furcht; blutige Opfer werden dargebracht, um deu Zorn
übelgesinnter Geister'abzuwenden, die eine Freude an der
Zerstörung der Ernten habenden Regen zurückhalten,
Viehseuchen veranlassen und die Menschen mit Epilepsie
und Sonnenstich heimsuchen. Sie haben keine Tempel,
aber man errichtet ihnen Pyramiden aus Erde, die mit Kalk
geweißt, oder strohgedeckte offene Schuppen, welche mit
häßlichen ochsenköpsigen Ungeheuern und kinderfressenden
Hexen geschmückt sind. Solch' ein Bauwerk heißt Pei
Kovil oder „Teufelshaus", und rund um diese herum
kann man die „Teufelsanbeter" sich zu eigenen Tänzen
versammeln sehen, welche den wesentlichsten Theil ihres
Gottesdienstes ausmachen.
Der eelebrirende Priester oder Teufelstänzer, wel-
cher deu Dämon repräsentirt, singt und tauzt sich iu einen
wilden fanatischen Zustand hinein nnd macht das Volk
glauben, daß der Teufel in ihn gefahren sei, worauf er
denjenigen, die ihn um Rath bitten, die Entschließungen
des Teufels mittheilt. Die fanatische Erregung, welche
durch den Teufelstanz herbeigeführt wird, bildet die Haupt-
sächliche Kraft und den Reiz des ganzen Systems und ist
besonders wirksam bei deu niederen Stämmen, die nament-
lich in Nothzeiten, wenu Cholera herrscht, diese Dämonen
vorzugsweise verehren. (Nach einem Berichte des Bischofs
von Caleutta in der „Calcntta Review".).
Eine Fahrt von Elbing i
Auch Elbing fühlte das Bedürfniß nach einem See-
bade. Im Hafs konnte es dasselbe nicht befriedigen, man
mußte erst über Hasf nach der Frischen Nehrung segeln und
dann über Sanddünen klettern, um sich jenseits am
Strande eiu Plätzchen zu suchen, wo man untertauche, was
Alles vor der Zeit der Dampfschiffe seine Schwierigkeiten
hatte. Aber die Roth zwang zum Versuche. In den
Hütten dürftiger Fischerdörfer siedelten sich zur Sommer-
zeit Familien aus Elbing an, mit vielen Mühseligkeiten.
UeberHass mußten die Lebensmittel herbeigeschafft werden.
Bei stürmischer Witterung blieben diese Tage lang aus und
man hätte nur Fische und kaum einige Kartoffeln. Die lange
hohe Dünenreihe, ein Werk alter Fluten, war, wie die
Kurische Nehrung, eiust mit wildreichem Walde bestanden.
Unter Friedrich I. jedoch wurden diese Bollwerke gegen
Versandung niedergehauen. Um einer augenblicklichen
finanziellen Roth zu begegnen, ward ein Schaden ange-
richtet, den Jahrhunderte nicht wieder ersetzen können. Von
den lang hingestreckten kahlen Sandhöhen weht der Nord-
wind stets große Massen Sandes in das Hafs hinein, wo-
durch das Hafs immer mehr flach wurde. Es gab Zeiten,
da die Badegäste kein Wasser zu trinken hatten, der Sturm
verschüttete den einzigen Brunnen. Welche Dürstig-
keit auf dieser Nehrung herrscht, dafür zeugt der Umstand,
daß die Fischerdörfer ihrem Pfarrer eine Anzahl Krähen
als Kalende in die Küche liefern. Und mitten unter diesen
Dünen erhebt sich jetzt der blühende Badeort Kahlberg
als Colonie von Elbing.
Statten wir ihm einen kurzen Besuch ab.
ch dem Seebad Kahlberg.
Wir bestiegen zur Fahrt von'Elbing hinüber die gold-
beschwingte „Schwalbe". Die Dampfpfeife schrillt, und
das Dampfboot, von geschickterHand geleitet, durchschneidet
die Fluten des Elbing flusses. Dieser ist phlegmatisch,
wie ein holländischer Kanal, und sieht aus, als könne er
kein Wasser trüben, sein eigenes ausgenommen. Erst ein
Dampfschiff regt das sonst so stille Wasser einigermaßen
aus seiner Mynheerbeqnemlichkeit auf. Lange gegen die
Uferdämme prallende Wellenzüge wälzen sich von der Furche
aus, die der Schwalbe spitze Brust aufwühlt. Die Binsen
der Ufer nicken uns zu, zum steten Gruße sich verneigend,
und die kleinen Fischerbarken tanzen bei dein Begegnen gar
lustig auf den Wellen, die dem Schiffe folgen. Links sieht
man hinein in das ,,Land Gosen" in die gesegnete Elb in-
ger Niederung. Auf deu frischen duftigen Wiesen wei-
den Rinder und Pferde bis an die Brust im hohen Grase
stehend; sie drehen eben so neugierig nach dem vorüber-
brausenden Dampfschiffe die Köpfe hin, wie die Landleute,
welche aus ihren zierlichen Holzhäusern heraustreten, um
die Passagiere besser zu mustern.
Die ganze Niederung erscheint dein Vorüberfahrenden
wie eine heitere Idylle, in die man sich nur zu gerne ein-
lebt. Auch auf der rechten Seite erstrecken sich vonHeerden
belebte Wiesen bis an den üppig bewaldeten Hügelzug
des Hintergrundes htit, in dessen Mitte das liebliche
Vogelsang liegt, Elbings beliebtester Lustort. Mau
passirt aus dieser Flußfahrt auch eiue Besitzung in der
Niederung, die Terra nova genannt wird, die einzige
Besitzung, welche Preußen in der neuen Welt hat; doch
Eine Fahrt von Elbin g
trägt sie eben keine Spuren der jenseitigen Hemisphären an
sich. Nun wird der Fluß etwas breiter. Wir Passiren
die Steinmolen am Ausgange des Elbings, sehen vor uns
das bläulich-weiße Haff, wenden ein wenig rechts und
sind im rechten Fahrwasser.
Freier athmet die Brust auf; es umweht uns die kräf-
tige Seelnft der nahen Ostsee; aber gleichzeitig wird der
Wind immer heftiger, daß es Spulwasser in Menge gibt,
und ein Theil der Passagiere die Kajüte sucht. „Das ist
die Opposition des Haffes gegen den Neuerungsgeist uu-
serer Zeit, gegen die Herrschaft der Dampfkraft", meinte
einer der Herren.
Vom Boot aus hatten wir nun ein immer prächtigeres
Panorama, eine reizende Uferlandschaft. Schroff senkt
sich das Gestade anf der gegenüber liegenden Ostseite in
das Haff, von alten Eichen überwipfelt, und Quellen fprn-
deln aus ihren Thongeschieben hervor. Anmnthig liegt
hier eine reich aufblühende Kaltwasser-Heilanstalt Rein-
namsfelde. Nebenbei, nur etwas höher hinauf,
blinkt ans dnnkelm Gebüsch hervor ein blendend Weißes
stattliches Schloß mit der romantischen Ruine eines ehe-
maligen Klosters. Das ist Kadionen, ein überaus
freundlicher Ort. Der zwischen Haff und Schloß befind-
liche Laubwald hat eine Lichtung, damit wir von dem
Schiffe aus das Vergnügen haben, die schönen Gebäude
mitten im grünen Wald zu erblicken. Und das Städtchen
daneben, welches sich mit seinen schmalen Gassen behaglich
an das Haff hinstreckt, ist Tolkemit; es erscheint ganz
schwarz in Rauch gehüllt; deuu es werden dort die Töpfe
gebrannt, in welchen die reichen Bauern des nahen Erm-
landes jeden Sonntag „ihr Huhn kochen", wie Heinrich IV.
es seinen Landsleuten wünschte; für gewöhnlich aber sin-
den sie in ihnen graue Erbsen mit Speck, Preußens Manna.
Berühmt ist das kleine Städtchen seines Drosselfangs
wegen. Der Fang, so sagt man, beläuft sich iu günstigen
Jahren wohl auf eine Million dieser Vögel. Man bewerk-
stelligt ihn durch Aufstellung von Schlingen, Dohnen, im
nahen Walde. Dieser wird von der Stadt verpachtet, und
das kleiue Waldrevier wirft trotz des sehr geringen Preises
dieser Vögel (49 Drosseln kosten 1 Thlr.) über 100 Thlr.
Pacht ab. Aber Tolkemit hat (neben Do mm au uud
Mühlhausen, seinen würdigen Rivalen) als preußisches
Krähwinkel von jeher auch von dem Volkswitze zu leiden
gehabt. Jedermann in Preußen weiß, daß es iu Tolkemit
keine geschlosseueu Häuserreihen gibt, sondern jedes Haus
eiu Eckhaus ist. Berühmt noch ist des Städtchens Hafen
und der Kirschbaum auf der Kirche. Die größte Berühmt-
heit aber hat der tolkemiter Aal erlangt, welcher einst
die Stadt von dem Haff aus bedrohte, nunmehr aber ge-
fangen an der Kette liegt. Nach anderer Sage ist es ein
Stintenheer gewesen, welches die Stadt belagerte, und von
dessen grausigerNiedermetzlnng die Tolkemiter bis heutigen
Tages „Stintenstecher" heißen.
Unter den Sehenswürdigkeiten in den Umgebungen des
Haffes nimmt Frauenburg einen bedeutenden Platz ein.
Es ist Sitz des Bischofs vou Ermland, und in der hoch
gelegenen Kirche mit sechs Thürmlein ruhet der Welt-
berühmte Copernikns, der hier als Domherr starb.
ich dem Seebad Kahlberg. 187
Mau zeigt noch einen Thurm iu der Stadt, in welchem er
„seine Liebäugeleieu mit den Sternen" getrieben, auch das
Haus, iu welchem er gewohnt hat. Der D o m steht auf
hohem Berge; er ist umgeben von der bischöflichen Curie
und den Wohnungen der Domherren; zn seinen Füßen
liegt das Städtchen so katholisch gläubig hingelagert, als
fühle es sich erst recht sicher unter dem Schutze der aus dem
Felsen gebauten Kirche. Aus der Ferne betrachtet, bietet
das Ganze ein höchst anziehendes Bild dar. Aber nun
biegt das Dampfschiff liuks ab uud steuert geradezu auf
die Nehrung hin, einem aus den Meereswogen sich erheben-
den dunkelgrünen Flecken zu. Um ein Kleines noch —
und die „Schwalbe" ruht aus von ihrem Fluge. Vom
Dünenstrande kommen Boote zur Aufnahme der landenden
Gäste; wir befinden uns bei Kahlberg.
Ein aumuthiges Schweizerdorf empfängt uns mitten
im Sande. Bemittelte Kauf- und Privatleute Elbings
siedelten sich dort an, bauten mittelalterlich und modern;
Kiosks und lachende Villen, Garteuanlagen mit Statuen,
Rasenteppiche, künstlich angelegte Gehölze, erotische Ge-
wächst und Terrassen aus Granitsteinen, die, wie die
Gartenerde, erst zu Schiffe von weit herangefahren
werdeil mußtet, geben dem Ganzen etwas Märchenartiges.
Auf einem höhern Hügel, unfern dem Meeresstrande,
erhebt sich ein im griechischen Styl erbautes Belvedere,
in welchem Gäste Unterkommen finden. Von dem freien
Platze vor dem Hanfe, und aus den oberen Fenstern der
Villa hat man einen Ueberblick nach den terrassenartig sich
herabsenkenden Gartenpartien und über den weiten Meer-
busen. Höchst anmnthig sind auch die Baumpflanzungen,
obwohl sie zumeist nur aus Nadelholz bestehen. Unzählige
Pfade winden sich durch die dichtgedrängten Föhren, die
hoch über dem einsamen Wanderer ihre Gipfel wiegen.
Durch mehre Lichtungen gewinnt man Fernsichten nach
einzelnen freundlichen Anlagen und nach dem Meere hin;
nur Schade, daß bis jetzt noch keine der vielen Villen hier
die Doppelaussicht nach dem Meere und dem Haffe von
ihren Zinnen aus gewährt. Etwa 40 Schritte von dem
Strande entfernt, stehen die Badehäuser.
Schwerlich ist eine Gegend geeigneter zum Seebade als
diese. Durch hohe Dünen gegen die Nordwinde geschützt,
ist das Klima hier so mild, daß auf der Terrasse Melonen
reifen und selbst der Wein gedeiht. Dabei genießt
man hier noch eines Vortheils, nämlich den der Morgen-
und Abendwinde, zweier Luftzüge, die schon nach Hippo-
krates Meinung durch ihre mäßige Temperatur und Trocken-
heit die organische Welt beleben uud Leib und Seele srisch
erhalten.
Den meisten Zauber übt Kahlberg Abends aus. Wir
haben gebadet, uns gekräftigt, und stehen nun sinnend am
Meeresstrande, das majestätische Schauspiel eines Sonnen-
Unterganges betrachtend. Die Sonne versinkt allmälig in
die Tiefe des Meeres. Das rothe Gewölk am Himmel
erlischt mehr und mehr; ein fenchter Nebel steigt heraus
aus der rauschenden Flut, iu allerhand buntgespenstige
Luftgebilde sich gestaltend, während eine tiefe, heilige Stille
gleichzeitig durch das Gebraust der See geht.
188
Aus allen Erdtheileu.
Aus allen
vi-. Heinrich Barth.
Eine freudige Bewegung ging durch Europa, als am 8. Sep-
tember 1855 der Telegraph meldete, H. Barth sei iu Marseille
augelaugt. Mau hatte ihn längst verloren gegeben, uud nnu
wurde uns die freudige Ueberraschung, daß ei» gnädiges Ge-
schick ihm jeues traurige Loos erspart habe, welches deu meisten
afrikanischen Reisenden zu Theil geworden. Ihm war es nicht
beschieden, im heißen Sande der'Wüste zu sterben oder unter
Palmen seinen hochstrebenden Geist auszuhaucheu; auch deu
Fiebern bot er Trotz und aller Anstrengungen und Eutbehruu-
gm ungeachtet kehrte er frisch und gesund heim.
Als ich ihn 1857 in Dresden zuerst sah, trat er mir eut-
gegen in voller Manneskraft, kanm noch gebräunt von der tro-
pischen Sonne, und geistig ungemein regsam. Es war von
hohem Juteresse aus seinen: Munde zu hören, wie er seine
wissenschaftlichen Pläne entwickelte; die Arbeitskraft uud die
geistige Rührigkeit dieses unermüdlichen Mannes verdienten Be-
wunderung. Audere würdeu, uach einer solchen Reise, sich
eine Weile Ruhe gegöuut habeu, Barth aber ging sofort au die
Ausarbeitung seines großen Werkes, nachdem er nur wenige
Wochen europäischen Boden unter seinen Füßen gehabt hatte.
Er war volle fünf Jahre lang vom allem Verkehr mit der ge-
bildeten Welt abgeschlossen; er stand, nachdem Richardson und
Overweg als Opfer des afrikanischen Klimas gefallen waren,
ganz allein; er sah keinen Europäer, außer Eduard Vogel, der
ihm uuverhofst im Walde von Bundi begegnete. Die tropische
Sonne hatte seinen Körper mürbe gemacht, die böse Fieberluft
war ihm in Knochen und Niereu gedruugeu; leibliche Abspan-
nung wechselte mit einer fast krankhaften geistigen Aufregung;
oftmals war er der größten Roth und empfindlichen Entbeh-
ruugeu ausgesetzt, aber dieser vielgeprüfte Manu wankte keinen
Augenblick. „Selbstvertrauen besiegt alle Hindernisse, und das
hatte ich."
Semper bonos laudesque manebunt, köuueu wir von UU-
serm ausgezeichneten Landsmanns sagen. Er steht in der vor-
dersten Reihe uuter den berühmtesten Reisenden aller Zeiten, und
ein ehrenvoller Weltrus ist ihm für immer gesichert. Er unter-
nahm seine Reise zum Theil aus eigeue Kosteu (der vorige König
von Preußeu gab — 1000 Thaler! —), das Uebrige bestritten
die Engländer. Großmüthig haben sich nicht alle Stimmführer
auf deu britische» Inseln gegen Barth gezeigt; mehr als Einer
hat ihm Neid und Kleinlichkeit entgegen getragen, aber Manche
waren doch gerecht genug, die vollen Verdienste des ausgezeich-
ueten Mannes nach Gebuhr auzuerkeuueu. Der deutsche Rei-
sende sah die Dinge klarer au, als ein Engländer es gethan habeu
würde, und würdigte sie vorurtheilsloser. Barth kam nicht mit
der bloßen Fachbildung wie Offiziere, z. B. Clapperton und
Denham in den innern Sudan, „sondern mit der ganzen Vor-
bildung eines Philologen, Historikers, Geographen und Ethno-
logen. Er redete seit Jahren das Arabische geläufig, erlerute die
Spracheu der Eiugebornen und konnte mit ihnen sich unter-
halten. Und dann war er ein Deutscher, mit eiuem mehr kos-
unpolitischen uud toleranten Geiste, als die Briten haben, und
dadurch war er besser geeignet als ein Engländer, die Dinge in
ihrem richtigen Verhältnisse ausznsasseu uud zu würdigen. Sein
Werk enthält die bei weiten: besteu Ncclji'ichte:: über den innern
Sudan; er selber ist geradezu ein Muster eines Reisenden, der
auf Erforschung ausgeht, geduldig, beharrlich, ausdauernd, ent-
schlössen und genügsam."
Wir stimmen vollkommen mit diesem Urtheil eines Eng-
länders (im „Spectator" 16. Mai 1857) überein. Barth drang
in Gegenden vor, welche vor ihm keines Enropäers Fnß betrat,
und mit seiner leuchtenden Fackel hat er Helles Licht verbreitet
über Regionen Jnnerasrika's, über denen bisher das Dnnkel
der Nacht gelegen hatte. Die Gefahren, welche seiner harrten,
kannte er wohl; schon bei einer frühern Wanderung an den
südlichen Gestaden des Mittelmeeres hatten räuberische Beduinen
ihn ausgeplündert und verwundet, aber sein Much wurde da-
durch nicht etwa gebrochen, sondern aufs Neue angefeuert.
Wir können hier nicht auf die Eiuzelnheiten seiner langen
Reise eingehen; uns kommt es nur darauf au, ihn unseren
Lesern menschlich nahe zu rücken und daran zu erinnern, wie
groß Barths Verdienste nin die Erdkunde sind, wie viel er ins-
Erdtheilen.
besondere auch für Sprachforschung und die Geschichte, — so
weit in Jnnerafrika bei den schwarzen Völkern von Geschichte
die Rede sein kann, — geleistet hat. Bekanntlich ging er mit
Richardson und Overweg vou Tripoli uach Mursuk in Fessan,
also in das Land der alten Garananten uud drang mit seinen
beideu Gefährten bis nach Taghelel vor, das unweit der Grenze
von Haussa liegt. Seine Absicht war, auch deu Lauf des Niger
zu erforschen und bis Timbuktu vorzudringen. Am 11. Januar
1851 trennte er sich von jenen uud zog gegen Südwesten. Er
fand, daß die berberischeu Tuarek sich bis Damergn verbreitet
haben, und iu der Sahara bis au die Greuzeu der Haussa-
läuder und von Bornu herrschen. Er bemerkte weiter, daß im
Süden des 15. Breitengrades das Karawanenleben, wie es für
ganz Nordafrika charakterisirt ist, aufhört; deuu im Süden der
angegebenen Länder brauchen sich die Reisenden nicht mehr gegeu
Räuber zu schützen, weil die Fnlbe, deren Herrschaft nun be-
ginnt, strenges Regiment führen. Barth betrat das Gebiet
dieses in hohem Grade merkwürdigen Volksstammes, der sich
vom Senegal bis über den untern Niger und Venne verbreitet
hat, in der Provinz Katsena, welche zum Fnlbereiche So-
kotn gehört. Dieselbe liegt auf der Wasserscheide zwischen dem
Niger'und Tsad-See, etwa 1500 Fuß über dem Meere, ist reich
au' verschiedenen werthvollen Erzenguissen und hat Dumpalmen,
Fächerpalmen und deu Affenbrotbaum. Auf deu Wiesen weiden
zahlreiche, weißfarbige Rinderheerden. Von der Stadt Katsena
will Barth nach Kano, dem sogenannten sudanesischen London,
einen: Hauptstapelplatz des innerafrikanischen Verkehrs mit sehr
bewegtem Handelsleben. Die eingeborne Haussabevö lkerung
wird'von den Fulbe beherrscht, die als Eroberer ins Land
kamen. Kano war sür Barth der Ausgangspunkt zu weiteren
Unternehmungen, namentlich für die Erforschung des sogenaun-
ten Tschadda.' In Kano, wohin Barth Waaren vorausgesandt
hatte, welche er mit guten: Nutzen zu verkaufen gedachte,' wurde
er von seinem Agenten betrogen und befand sich in gedrückten
Umständen, ohne irgendwelches Geld; seine Gläubiger verfolg-
ten, seine Diener verhöhnten ihn, uud die Machthaber forderte::
Geschenke! Dazukam, daß eiu heftiges Fieber ihn aufs Kranken-
lager warf uud aller Kraft beraubte. Nach uud nach erholte er
sich. Wir haben von ihm eine treffliche Schilderung jener Stadt,
eine der besten, die in seinen: großen Werke vorkommen. Die
Landschaft Kano schildert er als'eine der glücklichsten Gegenden;
Ackerbau, Viehzucht, Gewerbe und Handel blühen. Ans den:
Bazar fand er viele Säbelklingen aus Soliugeu und Scheer-
mesftr ans Steyerinark.
Am 9. März 1851 trat er seine Wanderung von Kano
nach Kukaua an; unterwegs, in Gimmel, überbrachte ihm
ein Araber Briefe aus Europa; seit 10 Monate» hatte er selbst
aus Tripoli kerne Nachricht erhalten. Aber er stand nun, an
der Grenze von Haussa uud Bornu, ohne alle Geldmittel; nur
zwei spanische Thaler besaß er. Trotzdem ritt er sürbas, durch
die Provinz Machena, besuchte Alan:ei und Bundi und
war nun in: Herzen des Sultanats Bornu, völlig in: Bereiche
der Dumpalme uud des Tamarindenbaums; er hatte den Fluß
Komädugu erreicht, welchen mau bis dahin irrig als Neu
dezeichnet hatte. Derselbe ergießt sich iu den Tsad-See.
Reisende, welche ihm unterwegs begegnete«:, erzählten ihm
die Trauerbotschaft, daß R i ch a r d f ö u bei Ngnrntna am 28. Febr.
gestorben uad desseu gesammte Habe verschleudert worden sei.
Die Mohammedaner hatten ihm uuter einen: schatttgeu Baume
die Ruhestätte bereitet. Barth stand, mit welchen Gefühle:: können
wir uns denke::, neben diesen: Grabe, war aber so arm, daß er
uicht einmal Almosen spenden konnte. Zwar :n gedruckter Stiin-
mung, aber, wie er selber sagte, immer voll Muth und Znver-
sicht, ritt er weiter gegeu Osten nach Kukaua, der Hauptstadt
von Bornu, welche er am 2. April errnchte.^ Hier zog er von
vielgereisten Arabern werthvolle Nachrichten über manche inner-
afrikanische Gegenden ein. Kukaua :st gleichfalls eiu wichtiger
Handelsort, an welchem auch We:zen auf den Markt kommt.
Von Kukaua aus unternahm Barth einen Ausflug uach
den: nahen Tsad-See, dieser Ungeheuern Sumpffläche, welche
sehr unregelmäßige und unbest:mmte Ufer hat, und rüstete sich
dann zur Weiterreise nach Adamaua. Vorher traf er in Kukaua
mit Overweg zusammen, den er vor etwa vier Monaten ver-
lassen hatte; derselbe war inzwischen in Gober und Marad i
Aus eilten
gewesen, wo er mit den dort wohnenden, heidnischen Hanssa-
Völkern in ungezwungenem Verkehr gestanden hatte. _ Barth
glaubte, seine Forschungen bis an den Aeqnator fortsetzen zu
können. Auf seiner Wanderung nach Südeu verkehrte er mit
Schnas, d. h. mit Arabern, die in Bornu ansässig sind; anch
in Baghirmi wohnen Araber und dort bezeichnet man sie als
Schiwa, jene in Wadai als Aramka, während jeder Araber
aus dem Küstenlande als Wassili bezeichnet wird. Diese Ära-
ber im Innern stammen aus dem fernen Osten, aus Nnbieu und
Kordofan, und sie stoßen in diesen eben genannten Landschaften,
welche Barth zuerst besucht hat, mit einem andern, vorzugsweise
der Viehzucht obliegenden Volke zusammen, das aus dem fernen
Westen stammt, nämlich den Fulde. Der Reisende fand Ge-
legenheit zn manchen wichtigen Beobachtungen; er traf einen
Pilgerkaufmann aus Massina am obern Niger, der mit Büchern
handelte, und gelangte ungefährdet nach Marghi, einer ver-
ödeten Grenzlandschaft, deren Bewohner ihren alten Fetischdienst
gegen die andrängenden Mohammedaner standhaft vertheidigen.
Von diesen Leuten hatten viele wenig oder nichts vom Neger-
typus, außer aufgeworfenen Lippen. Die Stirn war nicht
niedrig, das Haar kraus aber uieht wollig. Bemerkenswerth
bleibt, daß die Hautfarbe große Mannigfaltigkeit zeigte; bei
einigen war sie glänzend schwarz, bei anderen glich'sie dem
Rhabarber oder gelblichen Kupfer; zwischen inne liegende
Schattiruugeu fehlten. Ich habe mündlich mein Bedauern
gegen Barth ausgesprochen, daß er über eine so wichtige und
interessante Erscheinung nicht speeiellere Untersuchungen ange-
stellt habe; die Anthropologie war indessen nicht die starke Seite
des Reisenden. Er begnügte sich hier, wie auch sonst oft, mit
der einfachen äußern Wahrnehmung. Diese Marghi gehen bei-
nahe völlig nackt; ihre Götzen werden in heiligen Hainen
verehrt.
Auf Marghi folgt die Landschaft Jsge, und die schöne
Waldgegend mit den malerisch ausgezackten Höhenkämmen über-
raschle unsern Landsmann so angenehm, daß er bei Schilderung
derselben in eine Art von poetischer Wallung geräth, die ihm,
der ein sehr ruhiger Beobachter war, sonst fremd geblieben ist.
Auch hier hat das Volk eine rhabarbergelbe Farbe und geht
völlig unbekleidet. Der Berg Mendefi, welchen er hier sah,
bildet einen vereinzelten Kegel von etwa 5000 Fuß Höhe, ähn-
lich wie der Atlantik«, welchen Barth später in Fuiübiua sah.
Bemerkenswerth erschien anch der Kamalle, welcher hinter der
Mandarabergkette hervorragt; diese letztere hat etwa 3000 Fuß
Höhe über dem Meere und bildet mit ihren Wäldern einen
Schutz der heidnischen Völker gegen das Eindringen der Mo-
hammedaner.
Bald nachher stand Barth, nachdem er eine sehr unsichere
Gegend durchwandert hatte, auf der Wasserscheide zwischen dem
Tsad-See und dem Benue; sie liegt in etwa 2000 Fuß Höhe
über dem Meere, und nun befand er sich, der erste Europäer,
in der Landschaft Adamana oder Fumbiua, einem moham-
medanifchen Königreiche, das auf mancherlei heidnische Stämme
gepfropft ist; es wurde vom Fnlbehänptling Adaina gegründet,
welcher das Heidenland Fnmbina eroberte. Bis in diese süd-
liche Gegend kommt das Kameel nur selten; es kann die tro-
pischen Regelt und deu feuchten Boden nicht vertragen. Dort,
unter 10"' nördl. Br., tritt die Delebpalme in großer
Menge auf.
Am 17. Juni erreichte Barth das Flußthal des Venne,
nnweit von dem Punkte Taepe, wo der Faroflnß sich mit jenem
vereinigt; beide zusammen bilden einen Strom, welcher sich mit
dem Niger an Breite und Wasserfülle messen kann. Auch hier
nehmen Barths Gedanken einen höhern Flug und er schildert
vortrefflich seine Stimmung. Es war an einem herrlichen Mor-
gen, nach einem tropischen Gewitterregen. „Mein Geist war auf-
geweckter als je und schwelgte in enthusiastischen Gefühlen eines
endlich erlangten Triumphs. Sollte ich doch heute deu Fluß
sehen, von dem ich so Vieles gehört und nach dem ich so begierig
Verlangen getragen. Hingegeben und versunken in meine froh-
lockenden Gefühle, hörte ich kaum deu kleinlichen Wortwechsel
meiner Gefährten." Dann erzählt er, daß die Nähe der gewal-
tigen Wasserader zuerst durch eine große Menge hoher Ameisen-
Hügel angezeigt wurde. Als er aber vor einem kleinem Dorfe
vorbeikam, rief Einer seiner Begleiter: Siehe, siehe, das ist der
Berg Atlantika! Und so erblickte er zum ersten Male diesen
Gipfel, der sich zwischeu 8000 und 9000 Fuß erhob, betrat dann
eine grüne Savanue und stand an der Mündung des Faro in
den Benue!
„Wer je deu schrankenlosen Phantasien eines Jugendtraumes
sich überlassen hat und einem großen Plane nachgegangen ist,
wird sich leicht eine Vorstellung 'von den Gefühlen machen, die
mich bewegen mußten, als ich vom Ufer herab meine Blicke !
Erdtheilen. 189
über die Flußlandschaft schweifen ließ. Von stummem Entzücken
ergriffen, schaute ich sprachlos iu das reiche Land hinein. Das
Ganze trug den Charakter wüster Wildniß. Der Hauptstrom,
der Benue 'oder Benoe, floß hier von Ost nach West in majestä-
tischer Breite durch ein vollkommen offenes Land, aus welchem
nur hier und da vereinzelte B erghöben aufstiegen. Meinem
Standpunkte gegenüber stürzte hinter einer Sandspitze der Faro
hervor, der nicht viel kleiner zn sein schien als der Hauptfluß
selbst. Dieser kam iu schöngewuudenem Lause von Südosten
her und verlor sich in der Ebene, aber in Gedanken wurde er
von mir bis an den steilen, östlichen Fuß des Atlantik« ver-
fotßt.- -
Das letzte Bad hatte Barth in Kleinasien genommen, int
pamphylischen Enrymedon, da, wo einst der athenische Feldherr
Kuno» die Perser aufs Haupt geschlagen; jetzt stieg er hinab in
die klare Flut des Benue, um'seine heißen Glieder zu kühlen,
in einen Fluß, der Goldsand mit sich führt, wie nnser deutscher
Rhein. Er hat eine Breite etwa wie dieser letztere bei Mainz;
Barth fuhr hinüber und setzte dann auch über den Faro, der
zwar 900 Fuß breit, aber nur eine Elle tief war. Der Reisende
Mite nun ein großes Problem gelöst; das Strompaar des
Benue und Faro' war von ihm entdeckt worden! Dann ging er
nach der Hauptstadt von Adamaua, Bola, welche er am 19. Juli
erreichte. In diesem aus bienenkorb'artigen Lehmhütten bestehen-
den Orte erkrankte Barth; er hatte viele Widerwärtigkeiten zu
erfahren, auf welche wir nicht näher eingehen, wurde ausge-
wiesen, als ob er in Berlin unter Hink'eldeys Regiment sich
befunden hätte, und mußte ein Land verlassen, das er als eiues
der schönsten von Centralasrika schildert. Und dieses Mißgeschick
traf ihn mitten in der Regenzeit, unter heftigen Fieberanfällen,
bei fast unerträglicher Sonnenhitze. Er konnte sich kaum auf
feinem Pferde halten, mußte sich mehrmals auf die Erde werfen
und wurde zuweilen ohnmächtig. Und doch hielt er späterhin
seine Ausweisung für ein Glück, denn bei längerm Aufenthalt
in ?)ola würde unzweifelhaft das Fieber ihn hinweggerasst haben.
In Uola traf er einen Araber, welcher ihm allerlei Nach-
richte« über den bald nachher von Livingstone besuchten Nyassa-
@ee gab; der Mann hatte selber an den Ufern dieses Sees
gestanden. In Adamaua besitzt mancher Grundherr mehr als
1000 Sklaven; die herrschenden Fulbe sind vorzugsweise Rind-
Viehzüchter geblieben, und bei ihrer Begeisterung für die ein-
fache _ und leicht begreifliche Lehre Mohammeds 'dringen durch
sie Glaube uud Wissen der Araber immer weiter ins innere
Afrika vor.
Ans Adamana ging Barth nach Kukana in Bornn zurück;
seilten Plan, bis nach Mombas an der Ostküste vorzudringen,
mußte er aus Mangel an Geldmitteln ausgeben; anch er hatte
manchmal an das Problem der Nilquellen gedacht und gern
würde er es gelöst haben. Doch er leistete Ausgezeichnetes nach
anderen Richtungen hin. Er besuchte die Landschaften Kanem,
Kotoko, Loggene,' Mnsgo und das zwischen Bornn und Wadai
mitten inne liegende Baghirmi, wohin vor ihm auch noch kein
Europäer gekommen war. Bis Loggene war vor ihm Major
Denham vorgedrungen, weiter aber nicht; Barth erreichte die
Hauptstadt Baghirmis, Masena, und ging dann nach Kukana
zurück, in dessen Nähe er seinen specielleu Hamburger Landsmann
Overweg eigenhändig ins Grab legte, unter einem Baume zu
Maduari, „gegen Naubthiere wohl beschützt".
Nun stand Barth ganz allein mitten in Centralasrika! Wir
geheu, nicht weiter ein auf die Schilderung des Zuges, welchen
der Sultan von Bornn nach Mnsgo unternahm, um taufende
von Sklaven zn rauben, mit deren Ertrag der Herrscher Feuer-
waffen von den frommen Engländern kaufen wollte. Die Mnsgo
sind ein fast nackter, barbarischer Negerstamm, deren Hauptwaffe
ein scharfes Handeisen mit doppelten Spitzen ist; sie werfen
dasselbe sehr geschickt von der Seite gegen Menschen und Pferde.
Das Jahr 1852 kam heran. Barth befand sich damals
unfern vom westlichen User des Flusses von Loggene, den
man bisher mit Unrecht als Schari bezeichnet hatte. Erstellte
etwas weitgehende Betrachtungen über die von schiffbaren Flüssen
durchzogenen Länder Centralafrika's an und verstieg sich zu der
sehr kühnen Annahme, daß in 50 Jahren europäische Fahrzeuge
von der Biasrabucht aus regelmäßigen alljährlichen Verkehr mit
dem großen Becken des Tsad unterhalten würden. Die Zeit
wird lehren, ob er Recht behält.
Die Reise nach Baghirmi trat Barth zu Anfang des
März 1852 von Kukana an. Er kam zunächst durch die Land-
fchaft Kotoko im Süden des Tsad und fand dort fast alle
Städte in Trümmern In Loggcne gelangte er an das Ufer
des wirklichen Schariflnsses', welcher den oben erwähnten,
kleinern Fluß von Loggene ausnimmt, und so konnte er aber-
mals einen geographischen Jrrthum berichtigen. Es kostete ihn
190 Aus allen
große Mühe, die Erlanbniß zu weiterem Vordringen zu erhalten,
und er ward wie ein Gefangener geheilten. Dann kehrte er um,
wurde in Mele verhaftet, in Fesselu gelegt, und zum Tröste
sagte man ihm, alles Mißgeschick, welches den Menschen betreffe,
komme von Gott! Nach einiger Zeit gab man ihn frei, und er
durfte nach Massena aufbrechen. Diese halbmohammedanischen
Negerländer stecke» noch tief in der Barbarei; aber die Frauen
in Baghirmi gehören zu den schönsten im Sudan.
Ätitten in diesem Mißgeschick erhielt er iu Massena Briefe
aus Europa und anch eine Aufforderung Lord Palmerstons,
Alles aufzubieten, um Timbuktu zu erreichen. Nun hielt man
ihn für einen türkischen Spion. Nach längerm Zögern durste
er uach Kukaua zurückreisen, wo er sich zur Reise gegen Westen
vorbereitete. Im Frühjahr 1853 war er in den östlichen Fulbe-
Hauptstädten Wurno und Sokotu, und ging dann weiter
nach Gaudo, der Hauptstadt des Mittlern Fnlbereiches. Dort
gelang es ihm, bisher ganz unbekannte Quellen über die Ge-
schichte des eiust mächtigen, aber für jede Kulturentwicklung
unersprießlichen Sonrhay-Reiches aufzufinden. Das mitt-
lere Fulbereich traf Barth in ganz anarchischen Verhältnissen,
und die unterjochten Negervölker ertrugen die Herrschaft der
braunhäutigen Viehzüchter nnr mit großem Widerstreben.
Am Mittlern Niger fand er Alles in Verfall. Wir erhalten von
ihm manche wichtige Nachricht über die Landschaften an dem großen
Strome und über diesen selbst, der sehr verschiedene Namen führt
Jetzt traf er, am Nordufer, wieder Tuarek, die sich sehr freundlich
benahmen. Der Niger hat manche Nebenarme und sogenannte
Hinterwasser. Wie erfreut war der Reiseude, als er in Kabara,
dem Flußhafen von Timbuktu, Rast halten konnte! Er war
dem Ziele seiner höchsten Sehnsucht nun so nahe, und im
September befand er sich endlich iu dieser so vielbesprochenen,
sagenreichen Stadt, wo er am geistlichen Oberhaupt der Moham-
medaner, dem Scheich El Bakay, einen wohlwollenden Be-
schützer fand.
An den Aufenthalt des deutschen Reisenden in Timbuktu
knüpft sich ein Drama, wie es farbenreicher und spannender
nicht gedacht werden kann. Wir brauchen auf die Einzelheiten
nicht einzugehen, weil dieselben, mit Recht, schon in manche
Volksbücher übergegangen sind. Barth hatte allerdings ein Haupt-
ziel seines schwierigen "Unternehmens erreicht, er sah sich aber
gerade jetzt von größeren Gefahren bedroht, als je zuvor. In
Timbuktu waren vier verschiedene Volkselemente in Gegensatz
und Feindschaft: die schwarzen Sonrhay, welche die eigentliche
Laudesbevölkerung bilden, die berberischen Tuarek, die Fulde
und die Araber vom Marabntstamme der Knntah. Diesen
letzteren gehörte Barths Beschützer, das geistliche Oberhaupt der
Stadt, der Scheich El Bakay an, welchen die Fnlbe ingrimmig
haßten. Diese beschlossen, den Fremden um jeden Preis zu
tödten. Barth wurde sieberkrank und schwebte lauge Zeit in
Gefahr, vergiftet zu werden; der Fnlbekönig von Massina ver-
langte dreimal, daß mau ihm den Europäer todt oder lebendig
überantworte. Doch El Bakay blieb fest, und Barth kam uach
und nach iu freundlichen Verkehr mit den Tuarekhäuptlingen,
welchen er in ihrem Lager, in der Wüste, einen Besuch machte.
Diese, seine „liebenswürdigen und verschleierten Freunde", wnr-
den nun feine kriegerischen Stützen; am Ende des Jahres 1853
war seine Lage schon günstiger geworden, aber immerhin noch
sehr ungewiß in Betreff der Zukunft. Er fehiite sich das an
Ränkespiel so überreiche, durchaus zerrüttete Timbuktu zu ver-
lassen, wurde aber bis zum 18. März zurückgehalten und mußte
bis in die Mitte des Maimonats in der Umgegend verweilen.
Dann erst konnte er die Rückreife antreten.
Er ging auf das südliche Ufer des Niger bis nach SfaY,
wo er auf seinem Hinwege den großen Strom zuerst gesehen
hatte, und hielt eine möglichst östliche Richtung inne, um 'wieder
uach Kukaua zu gelaugeu. Er besuchte Sokoto, war aber erst
iu der Mitte Oktobers wieder in Kano. Weiterhin, in der
Waldöde östlich von Bnndi traf er dann uuvermuthet mit
Eduard Vogel zusammen. Am 14. Dezember erreichte er
Kukaua, wo er keiu Geld vorfaud, und wo eine Hitze von 45° E.
ihn wieder einmal ans das Krankenlager warf. ° Die Heimreise
gegen Norden durch die Wüste konnte er erst am 4. Mai an-
treten; sie nahm 5 Monate in Anspruch; am 14. Jnli war er
in Mursuk und gelangte glücklich nach Tripolis, wo er vor
sechsthalb Jahren zum letzten Male das Meer gesehen hatte. '
„So beschloß ich meine lange nnd erschöpfende Laufbahn
als afrikanischer Forscher.^ Vorbereitet zn einem solchen Unter-
nehmen an Geist nnd Körper, in Studien, Erfahrungen und
Strapazen, sowie durch eine ausgedehnte, aus cigeuc Kosten
unternommene Reise durch Nordafrika nnd Vorderasien, hatte
ich mich der englischen Erpedition Nichardsons als Freiwilliger
angeschlossen."
Erdth eilen.
Barths Reisewege sind auf alleu afrikanischen Karten ver-
zeichnet; seine Wanderung nahm kolossale Dimensionen an, und
er hat uus iu Nordafrika gleichsam eine neue Welt entdeckt.
Man kann die Ausbeute, welche er in Bezug auf Erdkunde und
Linguistik gemacht hat, 'nicht hoch genug Zuschlägen; er bearbei-
tete' in dieser Beziehung ein Felo, das bisher wenig oder gar
nicht beackert worden war. Manche werthvolle Arbeit hat er
vollendet, aber als er so recht inmitten des Einthuns der Ernte
stand, wurde seinen: nützlichen und ehrenvollen Leben ein Ziel
gesetzt.
Es steckte in ihm eine unbesiegbare Wanderlust, er war
zum Reisenden gleichsam prädestinirt. Nach seiner Rückkehr aus
Afrika hat er das nördliche Kleinasien durchzogeu, während der
letztverslossenen Jahre durchforschte er die Balkanhalbinsel, und
auch über diese Gegenden hat er Treffliches mitgetheilt. Barth
befaß für die Dinge, welche in seinem geistigen Striche lagen,
eine sichere und seine Beobachtungsgabe;'was er sah, das nahm
er treu in sich ans und schrieb es eben so treu und nüchtern
nieder. Der Phantasie hat er kaum jemals den Zügel schießen
lassen; ihm lag vor Allem an der Wahrheit. Auf das, was
er sagt, können wir uns verlassen, er thut nirgends etwas hinzu.
Das hängt überhaupt mit seinem durchaus ehrenwerthen Charakter
zusammen. Mit edler Leidenschaft war er feiner Wissenschaft
zugethan, in ihr lebte und webte er, und nach Kräften unter-
stützte er geographische Bestrebungen. Seinen Namen nennt man
allgemein mit Achtung; er war nicht so eitel, sich überall einzn-
mischen uud vorzudrängen, sich in jedem Jahre mit neuen
Projekten und Plänen vor dem Publikum zu zeigen. Er war
mehr der Mann des stillen, gediegenen Wirkens. „Ich liebe es
nicht, daß gewisse Lente sich immer so auspuffen uud keine ruhige
Nacht habe», wenn sie nicht immer vor dem Publikum herum-
slankireu körnten." Barth war sich feines vollen Werthes wohl
bewußt, und gerade deshalb war er bescheiden. Er verhehlte
sich gar nicht, 'daß seine Schriften nur von einem sehr kleinen
Kreise lesbar gefunden werden. Als er bei mir die fünf starken
Bände seiner Reise, welche er mir geschenkt hatte, durchblätterte
und das Exemplar von Anfang bis zu Ende mit Strichen und
Anmerkuugeu versehen fand, freute er sich sehr uud äußerte:
„Meinen Sie wohl, daß ein paar hundert Menschen das ganze
Werk lesen?" Ich verhehlte meine Zweifel nicht. Es ist in der
That allemal eine schwere Arbeit, Barths Schriften zn lesen.
Für eiue plastische Darstellung fehlte es ihm an der erforder-
lichen Sinnlichkeit; er beobachtete treu, verknüpfte verständig
und klar das Nächste mit dem Nächsten nnd damit begnügte er
sich. Philosophische Durchdringung, ästhetische Formgebung und
das Zusammenfassen der Dinge ist großem Styl, Eigenschaften
also, welche Humboldt iu so glänzender Weise bethätigte, fehlten
ihm. Und so wird er allerdings von nur Wenigen gelesen,
aber die Männer der Wissenschaft können den vollen Werth
dieses großen Reiseudeu und ausgezeichneten Gelehrten würdigen,
und wir Deutschen dürfen stolz darauf fein, daß Heinrich Barth
uns angehört! A.
' Gegen ein offenes Meer am Nordpol
haben sich nun anch die Mitglieder der wissenschaftlichen Expedition
ausgesprochen, welche von Schweden ans nach Spitzbergen ging
und diese Jusel so gründlich erforschte (Torrell:c.). Sie erklären die
Fahrt zum Pol, durch ein vermeintlich offenes Polarmeer, für
geradezu unmöglich. Dieses Meer ist, so sagen die
Männer, welche aus und um Spitzbergen so gründliche For-
fchuugen augestellt habe», fast immer mit festem, ohne
Unterbrechung zusammenhängendem Eise bedeckt;
wenn irgendwo offene Stellen vorkommen, so
reichen diese doch nur auf eiue kurze Strecke weit
iu der Richtung nach dem Pole zu. Mau hat das
Frühjahr und die Route im Osten von Spitzbergen
für eine Erpedition empfohlen; aber in dieser Iah-
reszeit und auf diesem Wege würde es sehr schwie-
rig, weun nicht geradezu unmöglich seilt, selbst nur
den 78. Grad nördlicher Breite zu erreichen. —
Der Ausspruch dieser Männer, denen tu Bezug ans Spitz-
bergen das erste Wort gebührt, ist von entschiedener Bedeutung.
Es bleibt nun abzuwarten, ob man trotz dieser Warnung noch
dabei beharren werde, die vielbesprochene Expedition zur Er-
reichung des Nordpols in Deutschland auszurüsten. Die Theil-
nähme für ein solches Unternehmen ist, wie wir ans eigener
Beobachtung wissen, selbst unter den praktischen Seelenten sehr
gering, und wir kennen nautische Sachverständige, welche sich in
sehr scharfer Weise über das ganze Projekt äußern.
Aus allen Eroth eilen.
191
Samuel Bakers Reise zum Luta Nzige.
Wir unsererseits bleiben dabei, uns auf den Namen Albert
Nyauza gar nicht einzulassen, und eben so wenig ans den
Victoria Nyauza. Ju der londoner geographischen Gesellschaft
vom 13. November wurde eiu Bericht Bakers verleseu, und wir
geben nach dem Athenänm einige Auszüge.
Baker traf 1861 Vorbereitungen zu seiner Expedition, um
wo möglich mit Speke und Grant an den Quellen des Nils
zusammen zu treffen. Etwa ein Jahr lang erforschte er die
Zuflüsse des Atbarah und ging dann nach Chartnm, von wo er
im Dezember 1862 den Weißen Nil aufwärts fuhr; er hatte
drei Schiffe und 29 Transportiere: Kameele, Pferde und Esel.
Nach einiger Zeit verlor er seinen einzigen europäischen Diener
am Fieber, gelaugte aber ohne weitern Unfall nach Goudokoro
und wartete dort anf eine Gesellschaft von Kaufleuten, mit denen
er weiter nach Süden reisen wollte. Gondokoro fand er als
ein elendes Nest, wohin zuweilen Handelsleute kommen, welche
Sklaven und Elfenbein kaufen.
Etwa 14 Tage blieb Baker dort. Fliuteuschüsse verkündeten
das Herannahen neuer Ankömmlinge; es waren Speke und
Grant, die in sehr abgerissenem Aufzug erschienen. Speke
erzählte ihm, nach Aussagen der Eingebornen, daß gegen Westen
hin ein großer See liege, den er für eine zweite Quelle des
Nils halte; er selber habe den Strom bis 2° 20' Br. verfolgt;
dort nehme er seine Richtung nach Westen, aber Speke habe
ihn nicht weiter verfolgen können. Baker fuhr danu weiter
stromau und traf Anstalten, um mit Handelsleuten weiter gen
Süden zu reisen.
Was wir aus vielen anderen Quellen wissen, wird von
Baker bestätigt: die chartumer Kaufleute sind ein nichtswürdiges
Gesindel; ihr Handel besteht in Vieh- und Sklavenraub, und
Mörder sind sie nebenbei auch. Die Leute, welche Baker in
Chartum annahm, bestanden ans einer schandbaren Rotte. Er
hatte durch den britischen Cousul in Alexandria die ägyptische
Regierung um eiu Geleite Soldaten bitten lassen; er bekam
aber keine, während auf Fürsprache des französischen Consuls
den Damen Tinne ein solches bewilligt wurde.
Als Speke und Graut von Gondokoro nilabwärts gefahren
waren, fingen Bakers Leute zu meutern an. damit er nicht weiter
ins Innere dringen solle; die Sklavenhändler, welche sich nicht
ganz in ihre Karten sehen lassen wollten, steckten dahinter. Seine
40 Bewaffneten drohten ihm mit Todtschießen, und die türkischen
Handelsleute, die er gern begleitet hätte, schlugen ihm das rund
ab. Damals hatte Baker nur einen einzigen zuverlässigen
Diener. Seiue muthige Frau war bei ihm. Er wußte durch
kluges Verfahren den Meuterern die Waffen abzulockeu und
überredete 17 Mann mit ihm nach Osten zu gehen, denn nach
Süden hin wollten sie um keinen Preis. Späterhin erfuhr er,
daß es ihre Absicht gewesen, ihn sieben Tagereisen weit von
Gondokoro zu verlassen und sich den Kaufleuten anzuschließen.
Baker folgte der Spur der Kaufleute, obwohl dieselben
gedroht hatten, ihn anzugreifen und deu Stamm der Ellyria
feindselig gegen ihn zu stimmen, und durch dessen Land mußte
er doch ziehen. Es gelang der Frau Baker, den Obmann der
Kaufleute günstig zu stimmen, und so kam man am 17. März
in das Land Latnka, 110 Miles östlich von Gondokoro. Baker
schildert dasselbe als eines der schönsten, welche er je gesehen;
es sei reich an Getreide und großen Viehheerden. Die Ort-
schaften sind groß und stark bevölkert, die Leute kriegerisch, aber
nicht unfreundlich; sie gehen nackt und tragen einen helmartigen
Haarputz. Wer im Gefechte fällt, wird nicht begraben, die aber
eines natürlichen Todes sterben, begräbt man vor ihrem Wohn-
Hanfe, scharrt sie nach zwei Wochen wieder aus, nimmt das Fleisch
weg und thut die Knochen in irdene Töpfe, die an: Eingange
zum Dorfe aufgestellt werden. Die Latnkos, übereinstimmend
mit den übrigen Völkern am Weißen Nil, haben keine Vor-
stelluug vou einem höchsten Wesen; „der einzige Unterschied
zwischen ihnen und den wilden Thieren ist, daß sie
Feuer anmachen und kochen können". In den Wäldern
sind viele Stephanien, Rindvieh kann aber wegen der Tsetse-
fliege nicht gehalten werden (die oben angegebenen Heerden
wären demnach Kleinvieh). Der Häuptling, eiu alter Mann,
konnte vermittelst einer Zauberpfeife Regen machen; als Baker
laut auf deu Fingern pfiff, wähnten sie, er habe Macht über die
Elemente. J
Von Latuka ging Baker in Kamrasis Land, das wir
durch Speke ausführlich kennen; auf der Wanderung dorthin
kam er über ein Hochland welches die Wasserscheide zwischen
dem Sobat und dem Weißen Nil bildet, und stieg so in das Thal
des Asua hinab. Dieser Fluß sollte, nach Burtons Meinung,
der Hauptstrom des Weißen Nils sein, aber als Baker ihn im
Januar durchschritt, war er kaum kniehoch. Ju Schua liefen
ihm viele seiner Leute fort, er ging aber trotzdem weiter nach
den Karumafällen und fuhr über den Strom in denselben
Boote, welches auch Speke benutzt hatte. Kamrasi will nicht
gern, daß Fremde überfahren, und Baker bekam erst Erlaubuiß,
als er sich in vollem europäische» Anputz am Ufer gezeigt hatte.
Es schien ihm, als ob Kaufleute, deren Obmann der vielgenannte
Maltese Debono war, derselbe, welcher Speke und Grant eine
Strecke weit geleitete, sich in König Kamrasis Land schlecht auf-
geführt hatten; daher das Mißtrauen.
Vou deu Karnmafällen ab nimmt der Nil, als rascher, von
Bäumen eingesäumter Strom, seine Richtung nach Westen.
Kamrasi war' sauber und gut gekleidet, aber sehr feig und miß-
trauisch. Um den Europäer vou der Weiterreise abzuhalten,
sagte er, man müsse bis zum See sechs Monate lang unterwegs
feilt. Baker befand sich unwohl, feine Frau lag am Fieber
darnieder, feine Lente benahmen sich widerborstig. Ein Salz-
Händler erzählte, daß man den See in zelm Tagen erreichen
könne. Baker verehrte dem König einen Säbel; der Obmann
seiner Lente trank mit Kamrasi das Blnt der Verbrüderung,
und so konnte die Reise vorwärts gehen. Baker überschritt den
Karan, seiue Frau bekam einen Sonnenstich; sie war eine
Woche lang ohne Bewußtsein, und dabei siel der Regen in
Strömen aus deu Wolken.
Am 18. Tage kam er an den See, der sich als nnabseh-
bares blaues Wasser iu einer tiefen Depression hindehnte. Baker
mußte '1500 Fuß au einem steilen Abfall hinuntergehen, bevor
er am Ufer war und von dem klaren, süßen Wasser trinken
konnte. Das etwa 60 Miles entfernte westliche Ufer bestand aus
Bergketten, die sich bis zu 7000 Fuß erheben.
Baker hält Speke's Nyauza uud seinen Luta Nzige für
die großen Speisebeckcn des Nils. Er fuhr iu Kähueu auf dem
See und zwar 13 Tage lang bis zu dem Punkte, wo der von den
Karnmafällen herkommende Strom sder Weiße Nil Speke's) mit
fast unmerklicher Strömung in den See mündet, während dieser
letztere plötzlich eiue Biegung nach Westen macht; wie weit er
sich in dieser Richtung und auch nach Süden hin erstreckt, weiß
Baker uicht. Der Nil fließt aus dem Luta Nzige genau au
der Stelle ab, welche die Eingebornen dem Kapitäu Speke als
Ausmündungspunkt bezeichnet hatten. Von diesem ab ist er
dann schiffbar bis zn den engen Stellen, welche in der Nähe
seiner Vereinigung mit dein Äsua auftreten.
Neue Funde in den Pfahlbauten im Torfmoore von
Robenhausen.
Im September und Oktober hat dort Messikomer wie-
der Ausgrabungen veranstaltet. Die tiefste Fnndfchicht lag
12 Fuß unter der Oberfläche des Torfmoors und 10 Fuß unter
dem Wasserspiegel des Kanals; deshalb mußte immer gepumpt
werden. An solchen Stellen wird die genaue Auseiuaudersolge
verschiedener Perioden, selbst aus der sogenannten Steinzeit,
sicher ermittelt, während Ausbaggerungen bei dcn im Seegrnnde
stehenden Pfahlbauten häufig zu Jrrthümern in Bezug anf das
Alter der Fundstücke führen. Iu deu Pfahlbauten der Torf-
moore hat man noch niemals Knnstgegenstände der Römerzeit
oder gar des Mittelalters gesunden, während nahe den Seenfern
dergleichen 'im obersten Schlamme des Seebodens nicht selten
vorkommen und dann irrthümlich als Gegenstände der Pfahl-
banten mit den älteren Artefacten der tiefern Fnndfchicht her-
vorgehoben wurden. Messikomer hat nach einem Bericht in der
„Allgemeinen Zeitung" einen Raum von 100 Fuß Länge und
60 Fuß Breite ausgegraben; er fand namentlich neue Muster
von Geflechten und Geweben jener uralten Niederlassung,
der einzigen, wo sich die frühesten Erzeugnisse des Webstuhls
durch Verkohlung bei einem großen Brande, der den ältesten
Pfahlbau vernichtete, sehr gut erhalten haben._ Der interessan-
teste Fund war eine sogenannte Werpse, wie sie von der Hand
des Zettlers aus dem' Webstuhle kommt. Außerdem wurden
auch zum ersten Male Pfeilspitzen von Bergkrystall nebst
vielen anderen Pfeilspitzen von Feuerstein, sowie einige schöne
durchbohrte Steinhämmer gefunden, welche einen merkwürdigen
Fortschritt in der spätem'Periode der Steinzeit beweisen, da
die ältesten Steinhämmer und Beile durchaus kein Schastloch
haben. Außerdem wurden Schüsseln von Ahornholz und
Messer von Eiben holz, ferner auch ganz neue Formen
aus Hirschhorn und Knochen gesundem Von den Geflechten
und Geweben scheinen einige Stücke sogar unverkohlt zu seiu.
Vou Metallgegenständen ist in diesen Pfahlbauten, die
sicher eine Dauer'von mehren Jahrtausenden haben, noch immer
keine Spur nachgewiesen worden.
192 Aus allen
Eine Zeitung am Amurstrome. Unter dein Titel „Das
östliche Küstenland" ist am 5. Juni 1865 die erste Nummer
einer neuen Zeitung in Nikolajewsk am Amur erschienen.
Außer meteorologischen Beobachtungen und den Nachweisen über
die Bewegung der russischen Fahrzeuge im Japanischen Meere ent-
hält diese Zeitschrift noch einige Artikel, die uns interessante Auf-
schlüsse über die Zustände in jenen entfernten Landestheilen geben.
Aus dem Artikel; „Unglückliche Folgen des Aufganges
der Flüsse" erfahren wir, daß der Amur feit der Gründung
von Nikolajewsk stets zwischen dem 6. und 13. Mai ausgegan-
gen ist. In dem Artikel /Gegenwärtiger Znstand Nikolajewsks
und des Amurs" wird auf die Nachtheile hingewiesen, welche
sich aus der Rauhheit des Klimas für die Stadt ergeben. Die
letzte Sommerpost geht am 15. September aus Nikolajewsk ab,
und dann besteht bis zum Anfange des Dezember, wo sich der
Winterweg etablirt, keine Postverbindung. Im Frühlinge geht
die letzte Winterpost am 5. März ab, und dann ist bis zur Eröff-
nung der Schifffahrt, d. h. bis Mitte Mai's, abermals die Kom-
munikation gehemmt. Interessant sind auch die Nachrichten
über die Tiger iu deu südlicheren Strichen des Landes. Fast
jedes Jahr kommen Unglücksfälle vor, welche durch Tiger ver-
anlaßt worden sind. Die Felle dieser Thiere bilden sogar einen
Handelsartikel. In den Läden von Nikolajewsk kostet ein solches
Fell 30 bis 60 Rbl.; in den südlichen Häfen kann man es jedoch
für 10 bis 30 RbL kaufen.
Aus Ostsibirien. Ueber deu Weg von Urga nach
dem Onon, welchen eine auf Anordnung des Generalgouver-
neurs von Ostsibirien unter Mitwirkung der sibirischen Äbthei-
lung der kaiserlich russischen geographischen Gesellschaft unter-
nommene Erpedition unter Leitung des russischen Konsuls in
Urga (Schischmaroff, dessen wir im „Globus" mehrfach er-
wähnt haben) zurückgelegt, finden wir im 9. Heft der „Nach-
richten der kaiferl. russischen geographischen Gesellschaft" nähere
Auskunft. Die Expedition hatte die Aufgabe, den Weg zwischen
Urga und dem Onon, den Lauf dieses Flusses von dein Punkte,
wo er das russische Gebiet betritt,_ bis zu feiner Quelle zu erfor-
schen, und, wenn irgend möglich, eine bequeme Verbindung
zwischen Urga, dem Hauptcentrum der nördlichen Mongolei,
und dem Onon und Argun und somit auch mit dem Amur
aufzufinden.
Das Resultat der ganzen Erpedition war in der Hauptsache
folgendes: Die Entfernung von Urga bis zum Werchne uchu-
luskischen Wachtposten beträgt 368 Werst. Der Weg ist für eine
Telege bequem fahrbar. Nur auf dem ersten Drittel desselben
ist die Gegend gebirgig; dann kommt ebene Steppe und sodann
die ziemlich hohe Kette des Jren-daba, die jedoch nicht be-
sonders schwierig zu passiren ist. An Futtergras ist besonders
in der Nähe des Onon Ueberfluß. Wasser ist überall vorhan-
den, obgleich es keine großen Flüsse gibt. Von Urga bis zum
Onon, wo dieser die Ehurcha aufnimmt, und'von wel-
chem Punkte aus die Frachten zu Wasser befördert
werden können, sind 250Werst. Von Urga bis zum Aschin-
ginskischen Piket sind 300 Werst; dieser Weg ist jedoch weniger
bequem als der zum Werchne uchulufkifchen Posten; er ist theils
gebirgig, theils sumpfig, man findet ans ihm aber eine dichtere
Bevölkerung, als auf dem erstern.
Di'. Ludwin Beckers Grabstätte. Melbourne, 20. Sept.
Die „Germauia" schreibt: In der letzten monatlichen General-
Versammlung des Deutschen Vereins zu Melbourne theilte der
Vorsitzende, Hr. Dr. Lilienfeld, der Versammlung die von
Menindie eingetroffene betrübende Nachricht mit, daß 'die Gebeine
eines verdienstvollen Mitgliedes der Victorianischen Erforfchnngs-
Erpedition (jener Burke's), unseres unglücklichen Landsmannes,
i)r. Ludwig Becker, welche wahrscheinlich von wilden Hunden
ausgescharrt,' zerstreut nm seine Ruhestätte, die jedenfalls von
Mr. Wrights Leuten nicht tief genug gegraben wurde, herum-
gelegen hätten, jedoch durch die Fürsorge des in jener Gegend
wohnenden Heerdenbesitzers Mr. Lloyd Jones von den Leuten
desselben wieder vergraben worden seien. Die Versammlung
beschloß einstimmig, ohne daß sonst eine andere Aeußerung von
irgend einem Mitglieds gefallen wäre, Ol'. Becker einen Grab-
stein zu setze», damit seine Gebeine in Frieden ruhen.
f. v. h. Neue Ausgrabungen in Mexico. Einem aus
Mexico vom 28. Juni 1865 datirten Schreiben entnehmen wir
Erdtheilen.
die Notiz, daß in der unmittelbaren Nähe der Stadt Morelia,
an: Cerro de Santa Maria, Ausgrabungen mit ganz besonderem
Erfolge vorgenommen wurden, da man auf eine bedeutende
Anzahl mericanifcher Alterthümer stieß, die theilweise ins Mu-
seum gebracht wurden. Es waren dies meistens Götzenbilder,
Masken, Ohrgehänge, Halsbänder, Schellen, Schmucknadeln,
Obsidianlanzen, Wurfspieße, Messer, Rollen, Ringe, Flitter-
gegenstände und Küchengeräthe. Es finden derartige Nachfor-
schungen meistens auf Veranlassung der kais. geogr.-statistischen
Gesellschaft in Merico statt, welche überhaupt ein äußerst leb-
Haftes Streben an den Tag legt, das Material zu einer um-
fassenden Geschichte des alten Aztekenreiches zusammen zu bringen.
Das südamerikanische Rindfleisch. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß Südamerika einen großen Theil Europa's mit
billigem und gesundem Rindfleische versorgen kann. Ohne
Zweifel wird die Zeit kommen, da wir alljährlich hunderte mit
diesen wichtigen Lebensmitteln befrachtete Schiffe vom La Plata,
ans Brasilien und vielleicht auch aus Venezuela erhalten werden.
Bis jetzt lag es nur an der für den europäischen Markt mangel-
haften Zubereitung, daß derselbe nicht zu einem allgemeinen
Verbrauchsartikel geworden ist.
In den La Platagegenden endet die jährliche Schlachtperiode
gegen Ende des südlichen Winters, etwa in der Mitte des
August. Im Jahr 1864 sind während derselben geschlachtet
worden in den Saladeros von Montevideo 305,000 Stück
Rindvieh; in Buenos Ayres 330.000; in Uruguay, Pa-
rana und Rosario 512,000; in Rio Grande 450,000; in
Summe 1,600,000, gegen 1,800,000 in 1864.
Schon vor Monaten wiesen wir darauf hin, daß man in
England den Versuch gemacht habe, das südamerikanische Rind-
fleisch dort einzuführen; derselbe gelang aber nur bedingt,
weil die Waare theilweise nicht gut ausgefallen war. Seitdem
aber die Viehseuche deu Preis der Ochsen so sehr vertheuert, ist
mau wieder auf das südamerikanische Charqne zurückgekommen.
In Buenos Ayres :c. hat sich nun die Wissenschaftler Sache
bemächtigt und bessere Methoden der Zubereitung und Aufbe-
Wahrung ausfindig gemacht. Durch eine von einem Hrn. Mo r-
gan erfundene Methode hat dasselbe nicht blos ein gutes Aus-
sehen bekommen, sondern auch an Schmackhaftigkeit gewonnen;
die Fleischer iu Liverpool schneiden dasselbe nun eben so aus,
wie frisches. Es kommt jetzt wohlverpackt in Fässern und be-
hält Geschmack und Farbe, als ob es eben aus dem Schlacht-
Hause komme. In Liverpool kamen im August zwei Ladungen
von 300 uud 400 Tons an; der Schiffsraum war in große
Behälter abgetheilt, in welchen das mit einer Flüssigkeit be-
gossene Fleisch wohl verpackt war.
Wahrscheinlich geht es mit dieser Waare, wie mit dem
nordamerikanischen Schweineschmalz, gegen welches im Anfang
ein großes Vorurtheil herrschte. Die Sache ist sehr wichtig. In
Südamerika habe« bis jetzt die Rinder vorzugsweise nur Werth
wegen der Häute, Hörner und Klauen. Es' ist noch gar nicht
so lange her, daß man in den argentinischen Gegenden dann
und wann Kalköfen mit Schafen heizte.
f. v. h. Witterung in dcr Habana. In Havana sind
durchschnittlich 285 klare und 80 trübe oder regnerische Tage im
Jahre, welche in der feuchtesten Jahreszeit 50 wiener Zoll, in
der trockensten hingegen 32 wiener Zoll Regenmenge geben. Dcr
mittlere Barometerstand erreicht 759,29 Millimeter, der höchste
770,42, der tiefste 747,85 Millimeter. Der kälteste Monat ist in
Havana noch nicht um 4°,53 R. kälter als der wärmste.
Ueber Spitzbergen hat die schwedische Ersorschungserpe-
dition sehr werthvolle Arbeiten veröffentlicht, namentlich eine
treffliche Karte, eine Tabelle der Länge und Breite der Hafen-
Plätze, und die Küstenlinien sind genau verzeichnet. Die Erpe-
dition hat an 80 verschiedenen Punkten und zwar auf dem
festen Laude astronomische Beobachtungen angestellt.
Das Innere der großen Insel bildet ein flaches Eisplateau,
welches dann und wann von Felsbergen unterbrochen wird, die
sich bis zu 1500 und 2000 Fuß über das Meer erheben. Es
bildet die Ursprungsstätten der gewaltigen Gletscher,
welche überall vou deu Küsten Spitzbergens herab in die See
vordringen. Die ganze Küste von Nordostland besteht aus einem
einzigen Gletscher. Außer dem Eise kommen auch große Strecken
stark'magnetischen Gesteins vor, und dadurch werden zuverlässige
Beobachtungen über den Erdmagnetismus ungemein erschwert,
wenn nicht'ganz unmöglich gemacht.
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Schilderungen aus dem äquatorialen Westafrika.
ii.
Das Wesen der Fetischverehrung am Gabon. — Die Bedeutung des Moondah. — Fetischbilder, -Hütten und Bäume. — Die
Fetischpriester und Priesteriunen. — Wie man den Geist sieht.' — Einfluß des Oganga. — Beschwörungen und Heilung der
Kranken. — Gespenster. — Logik der Neger. — Allerlei Aberglauben. — Charakter üud Anlage der schwarzen Rasse. — Das
Alltagsleben und der süße Müssiggang. — Pflanzenwuchs. — Die Bntus und Bakalais. — Thierleben. — Schlangen und
Ameisen.
Die Negervölker, welche in der Region des Gabon glauben an böse Geister und fürchten die Seelen der Ver-
wohnen, sind Fetischverehrer. storbenen. Von höheren Wesen haben sie freilich eine nur
Das ganze Fetischwesen ist eine sehr verwickelte Sache, sehr dürftige und unvollkommene Vorstellung. Sie denken
Wohnung des französischen Cominandanten am Gallon. (Nach einer Photographie.)
die mancherlei Seiten darbietet. Die Verehrung oder An- sich dieselben in einer greifbaren Gestalt, und zu dem ab-
betung lebloser Gegenstände kommt ganz gewiß nur selten stracten Gedanken einer körperlosen Seele haben sie sich nicht
vor, der nncivilisirte Mensch knüpft vielmehr irgend einen erhoben.
symbolischen Begriff an dieselben. Die Gabonesen nun Die umherschweifenden Seelen der Abgeschiedenen flößen
Globus IX. Nr. 7. 25
194 Schilderungen aus dem
ihnen Furcht ein; die bösen Geister bringen den Menschen
nur Schaden, und Gutes kommt ihnen aus der Geisterwelt
niemals. Dagegen hat der Gabouese eine Menge von
Talismanen, die er für sehr wirksam hält, Fetische, die ihn
vor Krankheiten bewahren und im Kriege vor Wunden oder
Tod schützen. Durch die Berührung mit den Europäern
ist freilich an der Küste der selsenfeste Glaube an solche
Dinge abgeschwächt worden, nach dem Innern hin hat er
jedoch an seiner Kraft nichts verloren. Aber die Küsten-
bewohuer haben statt des verlorenen Fetischglaubens keinen
andern angenommen; sie haben eigentlich gar keine Reli-
gion mehr, wohl aber vielerlei Aberglauben beibehalten.
Jeden Augenblick kommt das Wort Moondah vor,
denn so werden Fetisch und Fetischwesen bezeichnet. Die
Frauen tragen als Schmuck cnu Halse Tigerkrallen;
diese sind Moondah; die Kräuter, welche an den Fischerei-
geräthen befestigt werden, sind Moondah. Der Krieger
trägt calcinirtes Leopardenhirn bei sich und spricht zu dem-
selben, bevor er iu den Kampf geht. Das ist ein mächtiger
Fetisch, aber noch viel wirksamer ist jener, welcher ans
den verbrannten Knochen eines weißen Men-
sch en verfertigt wird; dieser gilt im Kriege für einen ganz
unfehlbaren Talisman.
Das Alles sind aber nur Anmiete oder sogenannte G r i s -
gris. Die wahren Götter werden unter irgend einer gro-
tesken Menschengestalt Versinnlicht, die zuweilen eine krumme
Nase, dünne Lippen und ein weißes Gesicht hat; sie soll
dann offenbar einen Europäer vorstellen. Vielleicht tritt
auch darin die Thatsache hervor, daß der Schwarze, in ganz
richtigem Instinkte, die Ueberlegeuheit des Weißen an-
erkennt.
In manchen Hütten, namentlich jenen der Häuptlinge,
werden die Fetischbilder etwa in ähnlicher Weise be-
trachtet, wie bei den alten Römern die Laren, als eine Art
von Hausgöttern; doch kommt das nicht sehr häufig vor.
Jedes Dorf hat ein kleines Fetischhaus, das freilich oftmals
einen sehr bescheidenen Tempel bildet, denn der Eingang
ist in vielen Fällen so niedrig, daß der Gläubige hinein
kriechen muß; in größeren Dörfern sind diese Gebäude
allerdings geräumiger. Der Neger läßt den Europäer
nicht gern in diese Fetischhütten, aber Griffon du Bellay
fand doch in einem von Gabonesen bewohnten Dorf am
Ogowa! Gelegenheit, eine folche näher zu betrachten. Ein
Häuptling, der zum ersten Male mit Europäern in Be-
ruhrung kam und darüber sehr glücklich war, verschaffte ihm
die Gelegenheit.
Die Hütte war ganz hübsch hergerichtet; in derselben
waren drei Fetische: ein Gott und zwei Göttinnen; ihr
Gesicht war mit Roth und Weiß bepinselt, der Leib reinlich
bekleidet uud zwar mit europäischem Baumwollcnzenge.
Alle drei Fetischbilder lagen auf einer Art von Ruhebett
oder Altar; ringsumher hatte man Baumwollenzeug und
Thierfelle aufgehängt, lauter friedliche Dinge und nichts,
was von erschlagenen Feinden herrühren konnte. Das
Gesicht des Häuptlings erheiterte sich, als er seine bemalten,
hölzernen Götter betrachtete, etwa so, wie wenn ein Kind
sich über seine Puppen freut.
Ohne Zweifel werden in der Fetischhütte feierliche
Handlungen vorgenommen; man betet, ruft den Gott um
seinen Schutz an, damit er Krankheiten abwende, vor allen
Dingen aber, damit die Handelsgeschäfte gedeihen
mögen. Manchmal werden die Götterbilder mit großem
Pomp im Dorfe umhergetragen. Dann bemalen sich die
Leute in ganz wunderlicher Art den Körper und singen in
herzzerbrechenden und ohrenzerreißenden Tönen das heraus,
was sie wünschen. Wenn auf solche Weise „großer
äquatorialen Westafrika.
Fetisch gemacht" wird, eröffnet der Häuptling, der
„Königs, den Zug, denn bei den Negern gilt der Cäsaro-
papismus, und das Oberhaupt hat neben der höchsten Welt-
lichen Gewalt auch die geistliche. Eine lange Schelle,
die an einem etwas gekrümmten Stiele befestigt ist, dient
als Zeichen seiner Würde; vor diesem verneigt sich
Jedermann, und nicht viele böse Geister können der Macht
widerstehen, welche dieser heiligen Glockenschelle inne wohnt.
Der König also ist eine Art von Oberpriester, aber der
schwarze Mensch hat auch regelrechte F e t i s ch p r i e st e r,
welche neben dem geistlichen Handwerke auch das Geschäft
des Beschwörens und des Heilens erkrankter Körper treiben.
Das Volk glaubt, — was glaubt überhaupt iu der ganzen
Welt das Volk nicht? — sie könnten ganz nach ihrem Be-
lieben mit dem „Geist" in Verbindung treten, und sie wer-
den auch wohl herbeigerufen, wenn Zank und Streit
geschlichtet werden sollen. In diesem Falle schließt der
Priester sich in das Fetischhaus ein, oder geht tief in den
dichtesten Wald zu einem Moondah bäume, wo er
stundenlang iu Sammlung und Nachsinnen verweilt und
dann sein Orakel spendet. Auch iu ehelichen Zwistigkeiten
wird sein Rath verlangt, und bei den nächtlichen Beschwö-
rungeu spielt die Bauchredner ei nicht die geringste Rolle.
Griffon du Bellay schlief eines Nachts in einem Dorf
am Flusse Ramboeh, plötzlich erhob sich ein Geschrei und
die Töne hatten nichts Menschliches an sich; dann wurde
Alles still. Aber nach einer kleinen Weile vernahm man eine
sehr tiefe, drohende Baßstimme. Du Bellay begriff wohl,
daß eine Beschwörung im Werke war und stand auf, um
der Sache näher auf die Spur zu kommen, aber fein Wirth
hielt ihn zurück: „Bleib nur hier, es ist gar nichts, mein
Nachbar macht Fetisch für seine Frau." Dabei
durfte kein Europäer zugegen sein, denn „das Gesicht der
Weißen vertreibt die Geister". Eigentlich hatte der
Nachbar die Abreise des Europäers erwarten wollen, um
erst dann einen Fetisch für seine Frau zu machen; die Ge-
schichte konnte aber nicht aufgeschoben werden, weil ein sehr
renommirter Fetischpriester, dessen man sich bedienen wollte,
nur auf der Durchreise war und am andern Tage weiter
wandern wollte. Der würdige Mann ließ eine gute Viertel-
stunde lang seinen drohenden und grimmigen Brummbaß
ertönen; er sprach entsetzliche Dinge, welche die Weiber im
Dorfe sich hinters Ohr schreiben konnten. Denn die Frau
des Nachbars hatte sich eine Untreue zu Schulden kommen
lassen, und sie wurde, nachdem der Brummbaß verklungen
war, furchtbar von dein frommen Priester geprügelt; man
konnte in der stillen Nacht ihr Heulen und Schreien weithin
hören, und andere Frauen mochten sich an dieser Züchtigung
ein Erenipel nehmen. Der alte Häuptling, bei welchem
du Bellay wohnte, gab diesem ausführliche Erläuterungen
über diesen Vorgang; der Mann war aber schon ein Frei-
geist geworden, denn er äußerte: die Fetischpriester seien
auf der Welt zu nichts weiter gut, als um den Weibern
gebührenden Respekt vor de« Männern einzuschärfen.
Es gibt auch Fetisch priesterinnen. Unser Ge-
währsmann hat aber nur eine einzige gesehen, und zwar
am Ogowa'i, wohin bis jetzt die europäische Freigeisterei
noch nicht gedrungen ist. Das Dorf hieß Avenga wiri;
du Bellay und der Schiffslieutenant Serval waren die
ersten Europäer, welche dort austraten. Trotzdem erregte
ihr Erscheinen kaum einiges Aussehen. 'Bei einer Hütte
war eine Menschenmenge versammelt, die sich nach den
Weißen Leuten kaum umsah, sondern auf ein Lärmen und
Schreien hörte, das ans jener Hütte kam. Es gelang den
beiden Europäern in dieselbe einzudringen, und sie waren
nun Zeugen eines eben so widerwärtigen als seltsamen
Schilderungen aus dem
Austrittes. Inmitten der geräumigen Hütte stand ein noch
junges Frauenzimmer fast nackt und über und über unregel-
mäßig mit allerlei Farben beschmiert, das heißt am Körper,
denn das Gesicht war sorgfältig in schräggestellten Würfeln
mit vier Farben bepinselt. Sie tanzte wie toll und wild
nach den Tönen eines Tamtam. Dann und wann trat
ein junger Neger aus dem Kreise der Umstehenden hervor,
trat ihr gegenüber, beobachtete aufmerksam ihre unzüchtigen
Bewegungen und ahmte dann dieselben nach. Sobald er
müde war, nahm ein Anderer seine Stelle ein; aber die
Priesterin war unermüdlich und machte auch diesen matt —
denn „sie sah den Geists.
Der Neger steckt durch und durch voll von Aberglaube«,
und es ist deshalb begreiflich, daß er sich keine richtige und
einfache Vorstellung von Krankheiten machen kann. Er
leitet sie her aus Vergiftung, Hexerei oder aus der Rache
eiues beleidigten Geistes. Deshalb muß der Fetischpriester
sein Arzt sein, denn der heilige Mann versteht mit den
Geistern umzugehen, besonders einer, der ein geheimnis-
volles Dasein im Waldesdunkel führt. Solche Priester
liefert namentlich das Volk der Bulus; sie gelten für ganz
besonders geschickt. Ein verwundeter Gabonese wird sich
gern einen europäischen Arzt gefallen lassen, aber für
innere Krankheiten wendet er sich ganz gewiß nur an einen
eingebornen Doctor. Darin steckt allerdings Logik; denn
wenn die Krankheit dnrch einen bösen Geist verursacht
wordeu ist, so kauu sie nur durch Beschwörungen und
Zauberformeln beseirigt werden.
Ein Oganga, das heißt ein Fetischmann, ist immer
eine wichtige Person, und au Schlauheit fehlt es ihm sicher-
lich nicht. Er sucht so rasch als möglich den Kranken zu
heilen uud in leichteren Fällen gelingt ihm dies auch; in
anderen Fällen sucht er Zeit zu gewinnen. Er läßt eine
große Hütte errichten, in welcher eine Anzahl von Lager-
stätten aus Bambus aufgeschlagen uud mit Vorhängen zur
Abwehr der Stechmücken versehen werden. Dort liegen
die Kranken, zumeist weiblichen Geschlechts, uud die Hütte
wird den ganzen Tag nicht leer von weiblichem Besuche.
Der Kranken wird der Körper bemalt und mit allerlei
Pulver bestreut. Dieser Ueberzug muß alle Tage erneuert
werden. Am Abend und am Morgen führt man die
Kranke erst im Dorf umher und späterhin außerhalb dessen.
Bei Einbruch der Dnnkclheit wird ein Tamtam geschlagen
und sie muß tauzen. Von Zeit zu Zeit fängt der Fetisch-
Priester ihr Bild iu einem Spiegel auf uud betrachtet das-
selbe; die Geister befragt er erst, wenn die Krankheit
einen bedenklicher,: Charakter annimmt, uud sobald er das
Schlimmste besorgen muß, erklärt er, der Tod werde ersol-
geu, weil eine Vergiftung stattgefunden habe. Uebrigens
kennt der Ogauga auch wirksame Arzneimittel und erhält
durch Anwendung derselben manchmal eine glückliche
Heilung.
Nach dem Tode eines Mannes scheeren seine Frauen,
zum Zeichen der Trauer, das Haar ab und tragen in den
nächsten paar Wochen keinerlei Schmuck. Drei Tage lang
verbleibt der Abgeschiedene in seiner Hütte und empfängt
die Besuche aller seiner Bekannten; sie kommen, um ihn
zu tadelu, daß er aus dem Leben uud von seinen Ange-
hörigen geschieden sei. Dabei wird tapfer Branntwein
getrunken und viel Pulver verknallt. Den Sarg bereitet
man aus den Koffern des Verstorbenen, legt einen Theil
seines Hausraths hinein und vergißt insbesondere sein
Trinkglas und seine Tabakspfeife nicht. Am dritten Tage
bringt man ihn zum Begräbuiß tief in den Wald, und nur
seine nächsten Verwandten uud eiuige Sklaven geben ihm
das Geleit; denn die anderen Leute, uud namentlich die
Äquatorialen Westafrika. 195
Europäer, sollen nicht wissen, wo man ihn beisetzt. In
Dörfern, welche unweit von: Meere liegen, gehen alle Be-
wohner während des Begräbnisses an den Strand, uud
Flintenschüsse zeigen an, wann der Sarg zur Erde bestattet
wird. Dann werfen sich Alle ins Wasser und zwar so,
daß sie mit dem Rücken zuerst hineinfallen.
Ehemals wurden jedem irgend wichtigen Mann einige
Sklaven mit ins Grab gegeben, aber seitdem Europäer im
Lande sind, hat dieser barbarische Brauch, au der Küste
wenigstens, aufgehört.
Der Fetischmann hält darauf, daß er für unfehlbar-
gelte. Es wurde schou obeu gesagt, wie er sich aus der
Klemme hilft, sobald es mit dein Kranken bergab geht; er
sagt, derselbe sei vergiftet oder behext worden. Nach dem
Begräbnisse kommt es für ihn darauf au, eiueu Schuldigen
ausfindig zu machen, uud das ist nicht schwer, weil die
Leute so leichtgläubig sind und er selber ein schlauer Patron
ist. Bei den Faktoreien der Europäer glauben die Neger
wohl noch an Behexungen, aber den vermeintlichen Hexen-
meistern darf nichts zn Leide geschehen.
Kapitän Vignon hat eine Beschwörung geschildert. Am
Abend des Begräbnißtages wird das Haus des Verstor-
benen mit Fackelu umstellt, die Dorfbewohner versammeln
sich und der Fetischmann stellt sich iu die Mitte. Dann
wird eiu Tamtam geschlagen und Alle fangen an zu singen,
während der Priester allein tanzt. Nach Verlauf einiger
Zeit befiehlt er, die Fackeln auszulöschen, und wenu es
dunkel ist, ruft er die Geister an, damit sie ihm den Schul-
digen offenbaren. Nach der Beschwörung werden die
Fackeln wieder angezündet, Gesänge und Tänze dauern
bis zu Tagesanbruch, und dann erst zieht der Priester-
unter seinem Rocke den Balg eines kleinen Thieres hervor,
das Eninka heißt. Mit diesem in der Hand umschreitet
er alle Versammelten uud läßt ihn dann vor dem, welchen
er im Voraus zum Opfer erkoren hat, hinfallen. Er-
ruft ihn laut bei Namen und spricht: „Hier ist der Ver-
gifter!"
Gewöhnlich ist solch ein Unglücklicher ein Sklav. In
diesem Falle wird er sogleich ergriffen und in die Felder
geführt, wo man ihn an einen Baum bindet und mit Messer-
stichen tödtet, oder auch deu Bulus überantwortet, welche
ihn lebendig verbrennen!
Einem Nichtsklaven ist vergönnt, durch eine „Probe"
sich zu reinigeu, durch ein Ordale der allergefährlichsteu
Art, denn er muß eiu heftig wirkendes Gift trinken. Er
gilt für schuldig, wenn dasselbe ihn umbringt, und für uu-
schuldig, falls er die Probe übersteht. Das Gift kommt
von einem Strauche, der am Gabon Jkaja, am Cap
Lopez Mb und u heißt; er scheint zu derselben Pflanzen-
sippe zu gehören, wie der Strauch, vou welchem die Nur
vomiea und die St. Jgnatinsbohne kommen. Dn Beilay
hat den Strauch in den sumpfigen Wäldern am Gabon
gesehen; er ist etwa 8 Fuß hoch, hat einige Zweige und
nur spärlich Blätter. Die lange Hauptwurzel hat eine
Hellrothe Rinde und diese letztere enthält ein sehr starkes
Gift, welches dem Strychnin ähnelt. Sie wird geraspelt
und in ein Gefäß gethan , fo daß sie etwa ein Drittel des-
selben füllt; dann thut man ungefähr ein Pfund Wasser
hinzu, das sich rasch ebeu so roth färbt, wie die Riude selbst.
Das Gift ist dann fertig. . .
Du Chaillu ist der einzige Reisende, welcher bei einer
solchen Probe zugegen gewesen ist. In einem Falle, von
welchen: er Zeuge gewesen sein will, habe das Gift nach
fünf Minuten gewirkt, und dein Unglücklichen sei das Blut
aus Augen und Ohren hervorgequollen, — was wenigstens
sehr seltsam erscheint. Derselbe Reisende erzählt, er habe
25*
196 Schilderungen aus bei
einen alten Ogango gesehen, welcher das Gift trank, ohne daß
es ihn getödtet hätte. Er bekam aber heftige Ausleerungen
und lag lange Zeit wie völlig betrunken und ganz bewußt-
los da. Aber er hat, weun der Fall eiue Thatsache ist,
gewiß keiue so starke Dosis genommen, wie bei den „Pro-
ben" verabreicht wird, und wahrscheinlich vorher viel Palm-
denke nur an den Tanghin auf Madagaskar und an das
Nigerdelta, wo die Calabarbohne eine große Rolle spielt.
Die Europäer dulden solche Mordthaten nicht, aber sie
köuneu dem Neger seinen Aberglauben und seine Leicht-
gläubigkeit nicht austreiben. Nur sehr wenige, die in
Europa erzogen worden sind und in Afrika stets mit Euro-
König Kringer und seine Familie. (Nach einer Photographie.)
Oel verschluckt, als wodurch die Wirkung des Jkaja stark
abgeschwächt werden soll.
Diese Art von juristischer oder ofsieieller Vergistuug
ist nicht etwa auf die Region am Gabon beschränkt, son-
dern kommt in den meisten Ländern der Schwarzen vor, so
weit diese nicht Mohammedaner geworden sind. Man
päern in engem Verkehr bleiben, haben sich von dem Wahne
gänzlich frei gemacht.
Der Neger glaubt, wie bemerkt, auch an Hexerei.
Selbst wenn er von früher Jugend an bei weißen Leuten in
die Schule gegangen und im Christenthum unterrichtet
worden ist, muß man ihn doch für und für vom Umgange
198 Schilderungen aus dem
mit anderen Schwarzen fern halten, sonst bleibt er steif und
fest dabei, daß es Zombis gebe, Gespenster, und trägt
einen Fetisch am Leibe. Sobald die katholischen Priester,
auf den Antillen zum Beispiel, einen solchen Talisman
bemerken, nehmen sie ihn dem Neger ab und geben ihm
dafür ein Marienbild oder eine Heiligenmedaille. Aber
von der symbolischen Bedeutung, welche diesen Gegen-
ständen beigelegt wird, begreift er doch gar nichts. So-
bald er findet, daß Marienbild oder Heiligenmedaille ihn
nicht vor Krankheit oder andern: Ungemach sicher stellt,
wendet er sich gewiß und sicherlich seinen: afrikanischen
Fetisch wieder zu, ohne deshalb in den guten Glauben des
katholischen Priesters Zweifel zu setzen. Er ist nur über-
zeugt, daß dessen Mittel recht gut für weiße Leute, aber
bei Schwarzen völlig unwirksam seien. Das ist abermals
von seiner Seite ganz logisch gefolgert, da er sich überzeugt
hält, daß der Gott, welcher deu Weißen so viel Reichthum
imd Macht gegeben hat, nicht auch der Gott des schwarzen
Volkes sein könne.
Andererseits hält er dafür, daß die weißen Menschen
für seine, der Schwarzen, Götter durchaus gleichgiltig
seieu, und daß die Macht, welche seinen Fetischen inne
wohne, auf die Weißeu nicht übertragen werden könne.
Gerade deshalb gibt er an sie nicht gerade ungern Fetische
ab. Griffen du Bellay kaufte einen solchen für ein paar
Blätter Taback; es war eine Art von Menschengestalt,
hatte Vogelfedern nach Art eines Strahlenkranzes auf dem
Kopfe uud iu der Brust eiu Stück Glas. Dieser liebe
Gott der Schwarzen war am Ende eines Stabes befestigt
uud galt für einen gewaltigen Kriegsfetisch, der sich in
mehr als einem Gefechte bewährt hatte. Der Krieger,
in dessen Besitz er war, steckte ihn, wenn er schlafen wollte,
vor sich in die Erde und gab sich dann sicher und sorglos
dem Schlummer hin. Man begreift, daß dieser Krieger
sich nicht gern von einem so mächtigen Schutzgeist trennen
mochte; um keinen Preis in der Welt würde er ein so un-
schätzbares Kleinod einem schwarzen Manne abgetreten
haben; aber einem Weißen konnte ja dieser Fetisch nichts
nützen!
Der Glaube, daß es für die verschiedenen
Rassen auch verschiedene Götter gebe, thnt dem
Schwarzen wohl und schmeichelt ihm sogar. Die Ueber-
legenheit des Europäers iu allen materiellen Dingen ist
allerdings greifbar genug für ihn, uud er fühlt sie in er-
drückender Weise; im Uebrigen aber erkennt er dieselbe
nicht an. Ersieht, wie wir ungläubig lächeln, wenn er
uns irgend eines der Wahngebilde seiner Phantasie erzählt,
gibt dann aber mit einem gewissen Stolze zn verstehen,
daß der Gott der Weißen, der gegen letztere allerdings sehr
freigebig und großmüthig sei, ihnen doch manche Geheim-
nisse vorenthalte, auf welche sich der schwarze Mann sehr
gut verstehe.
Hier erzählen wir einen merkwürdigen Fall. Der Ma-
rinelieutenant Serval befehligte das kleine Avisoschiff Pio-
nier, dessen Bemannung zum großen Theil aus Schwarzen
bestand, aber nicht ans fetifchgläubigeu Gaboueseu, son-
dern aus mohammedanischen Senegambiern, die jenen in
all und jeder Beziehung weit überlegen sind. Diese
schwarzen Matrosen von: Senegal werden gewöhnlich als
Laptots bezeichnet. Nun badete einer dieser Laptots in
den Rädern des kleinen Dampfers, wurde aber vou einem
Haifisch gepackt imi) starb bald nachher.
Ein paar Tage später harpunirten die Laptots eiu
solches Ungeheuer der Tiefe und waren fest überzeugt, daß
sie den Mörder ihres Kameraden gefangen hätten. Schon
waren sie daran, ihn an Bord zu hissen, als plötzlich einer
äquatorialen Westafrika.
der ihrigen auf Deck kam und einen Schrei der Freude und
Ueberraschnng ausstieß. In demselben Augenblicke machte
der Haifisch sich mit einem gewaltigen Rucke los uud siel
wieder iu See. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen
zugegangen sein! Der Laptot, welcher zu so ungelegener
Zeit auf Deck gekommen war, mußte die Schuld gehabt
haben. Zufällig gehörte er auch einem Stamme an, der
im Gerüche der Zauberei stand; sein plötzliches Erscheinen,
der Schrei, welchen er ausgestoßen, waren nicht zu miß-
deuten; sein Einverstäudniß mit dem Haifisch war außer
allem Zweifel, das Seeungeheuer war ein Vetter, der einst
in einen Fisch verwandelt wurde, um ein Verbrechen abzn-
büßen!
Die Wuth der Laptots kannte keine Grenzen; sie
wollten den Missethäter sofort ins Wasser werfen, und nur
mit Mühe konnte der Gurmet ihn retten. So heißt der
Hauptmann, welcher über jede Schiffsbeniannnng von
Laptots gesetzt wird und den sie insgemein selber wählen.
Gewöhnlich ist er der iutelligeuteste unter ihnen und genießt
großes Ansehen; aber hier wurde dasselbe nicht geachtet.
Er mochte wohl sofort das Vorurtheil der Uebrigen theilen
uud griff nicht sofort ein, sondern zeigte den Vorfall dem
Lieutenant an. Serval suchte ihm den ganzen Unsinn
klar zu machen, aber der Gurmet entgegnete: „Die
Weißen wissen viel mehr Dinge als die Schwarzen, ver-
stehen aber vieles nicht, wovon die Schwarzen etwas
wissen." Er meinte die Zanberwirthschast. Serval nahm
den Verdächtigen in Schutz, die Aufregung unter deu Lap-
tots war aber so groß, daß er ihn entlassen uud heimschicken
mußte.
Griffen du Bellay macht, als gründlicher Kenner afri-
kanifchen Lebens und Wesens, folgende Bemerkungen, die
von den philanthropischen Phantasten und jenen stupiden
Geistern beherzigt zu werden verdienen, welche über alle
Schwierigkeiten in der Negerfrage mit dem albernen Aus-
spruche: „Eiu Mensch ist gerade so gut wie alle
anderen" hinwegzukommen suchen.
,,So sind die Schwarzen, uud ich rede von bcit
Besseren. Civilisirt sie nur, so lauge und so viel ihr
wollt uud vervollkommnet oder entwickelt, was sie an guten
Eigenschaften iu sich haben. Aber wenn ihr sie nicht dem
Einfluß ihrer eigenen Nasse entzieht, dann, so fürchte ich,
werdet ihr nicht viel ausrichten. Ihr macht dann weiter
nichts aus ihnen, als was ohnehin schon viele an und für
sich sind: ganz gute und friedliche Leute, einfältig an Geist,
sehr mittelmäßig an Erfindungsgabe, der Anhänglichkeit
nicht unfähig, mit einer großen Dosis von Nachahmungs-
vermögen begabt, uud dann und wann nicht ohne Muth.
Aber unter der schwarzen Haut steckt immer derselbe alte
Mensch, und ihr dürft euch nicht wundern, wenn er euch
eines schönen Tages entschlüpft, namentlich wenn irgend
ein durch Aberglauben hervorgerufener Schrecken in ihn
fährt. Dann wird er wieder, was er immer war: leicht-
gläubig wie ein Kind und grausam."
Das Alltagsleben dieser Völker bietet nicht viel In-
teressantes dar. Der Verkehr mit den Europäern hat sie
mit mancherlei Gegenständen bekannt gemacht, welche ihnen
nun zum Bedürsniß geworden sind, aber in Bezug auf ihre
Nahrungsmittel hat sich wenig oder nichts verändert. Sie
wohnen in einer Gegend, wo der Pflanzenwuchs von
Ueppigkeit strotzt, aber sie wissen weder für sich noch für
Fremde Nutzen daraus zu ziehen. Bei den Dörfern werden
Bananen und Maniok, 'aber nie größerer Menge, ge-
Pflanzt; im Dorfe selbst stehen einige heilige Bäume bei
Schilderungen aus dem
der Fetischhütte und einige Jlangas, Liliaeeen, welche,
wie man meint, den Blitz abhalten. Der Mangobaum ist
von den Europäern eingeführt worden, aber aus dem
Brotfruchtbaume machen die Schwarzen sich nichts, so große
Mühe sich auch die Missionare geben, ihnen den Nutzen
desselben zu zeigeu. Auf den sogenannten Feldern, meist
Lichtungen im Walde, werden Bananen, Maniok, Jgna-
men, Erdnüsse, Mais, Zuckerrohr und einige Gewürzarten
angebaut; eine bedeutende Ausdehnung haben jedoch diese
Aecker niemals. Man wechselt sehr oft mit den Stellen,
und das Urbarmachen im Walde ist leicht geschehen. Die
Einwohnerschaft eines ganzen Dorfes zieht hinaus, schlägt
aus Gezweig eine Anzahl von Hütten auf und lagert im
Freien. Einige Weiber müssen kochen, andere helfen, die
äquatorialen Westcifrika, 199
Maniok ist der amerikanischen Art bei weitem vorzuziehen,
denn er enthält nicht, wie dieser, giftige Bestandtheile. Zu
diesen beiden Pflanzenspeisen kommen dann, für die tägliche
Nahrung, noch getrocknete Fische.
An Oelpflanzen ist geradezu Ueberfluß, aber sie
werden von den Schwarzen vernachlässigt. Wir wollen
die einzelnen Arten hier nicht auszählen und nur bemerken,
daß die Oelpalme in der Gegend am Gabon nicht häufig
vorkommt. Um die so werthvolle Erdnuß (Araclris) küm-
mert man sich nur wenig, weil ihre Gewinnung doch ein
klein wenig Arbeit erfordert. Als Aphrodisiaenm hat hier
der Schwarze die Wurzel der I b o g a (Taberna ventricosa,
aus der Familie der Apoeyneen), eiu Reizmittel, das viel-
leicht in gewisser Beziehung den Kaffee ersetzen könnte.
Der Elfenbeinhändler Uassengo und dl
Kinder auf dem Rücken tragend, den Männern beim Fort-
schaffen der niedergehauenen Bäume.
Nach Sonnenuntergang beginnt der Tanz; an vielen
Stelleu lodert ein Helles Feuer, dessen Flammen eine grelle
Beleuchtung auf die in unzüchtigen Sprüngen sich bewegen-
den und vom Schweiße triefenden schwarzen Gestalten
werfen. Am Tage jedoch ist Alles in großer Thätigkeit,
und man erkennt den für gewöhnlich so trägen Neger gar
nicht wieder. Aber nach gethaucr Arbeit zieht er ins
Dorf zurück, und das Faullenzen tritt abermals in seine
Rechte ein.
Bananen und Maniok scheinen am Gabou ursprüug-
lich zu sein; allerdings trifft man die ersteren nirgends
wild, sondern nur au'Stelleu, an welchen einmal Anbau
stattgefunden hat. Sie kommen in 19 Arten vor. Der
n Familie. (Nach einer Photographie.)
Die Neger nehmen davon, wenn sie lange Wasserfahrten
machen und den Schlaf abhalten wollen. Ein Gleiches
geschieht mit einigen Arten von Sterculieu, z. B. der
rothen O reu de, sodann mit der Ombene; letztere ist
hie Stei-culia acuminata, welche als Kola- oder Guru-
Nuß auch im Sudan einen sehr gesuchten Handelsartikel
bildet.
Die Wälder bieten eine unglaubliche Mannigfaltigkeit
des üppigsten Pflanzenwuchses dar, und der Europäer,
welcher sie zum ersten Male betritt, ist vor Allem erstaunt
über die Unzahl von Schlingpflanzen, welche an den riesigen
Waldbälunen emporklettern und, in Gewinden von einem
zum andern reichend, ein wuudersames Gewirre bilden.
Unter denselben enthalten einige, z.B. dieJneeh, ein
sehr starkes Gift; manche geben Kautschuk und, wie der
Schilderungen aus dem äquatorialen Westafrika.
Globus IX. Nr. 7.
Bakalcüfrau und Kinder. (Nach einer Photographie.)
26
202 Schilderungen aus dem äquatorialen Westafrika.
N d am b o, zugleich schmackhafte Früchte. Auffallend erschei- Anblick und der Horizont erweitert sich. Der Ag iri g i
nen besonders der Ogiua giua, welcher Gummi gutta (Avicennia tomentosa) bildet gleichsam einen Ueb ergang
liefert, der Oknme oder Lichterbaum, aus welchem hell- von dem Mangrove zur gewöhnlichen Vegetation. Gleich
brennendes Harz iu großer Menge hervorquillt, und aus nachher treten die Enimb as aus; diese großen Palmbäume
dessen Stamme große Kähne verfertigt werden. Merkwürdig haben eine sehr trockene, eine geringe Quantität Oels ent-
ist auch der Owouutschua, eiu Ficus, von welchem wir haltende Frucht; aus ihr bauen sich die Bakalais ihre
eine Abbildung mittheilen. Hütten, denn die Zweige der Enimba sind zwischen 15 bis
._20 Fuß lang, dick, schmal, auf einer Seite glatt, ganz
gerade, und so hat der Bakalcü die schönsten Bretter, welche
Wie gebeu noch einige Bemerkungen über die Völker ihm die Natur ohne Weiteres schenkt; er braucht nur die
am Gabon. Hier an diesem Aestuarinm wurde dem weitern Blätter abzupflücken, und diese bilden dann ein vortreff-
Vordringen der Bnlus oder Schekianis Halt geboten. liches Dach!
Sie sind einst mächtig gewesen (natürlich uach afrikanischen Von: Bau einer Hütte kann eigentlich gar keine Rede
Begriffen und Verhältnissen) und werden von den Mpongue sein; denn bei dem Aufschlagen derselben bedarf man weder
noch jetzt gefürchtet, daneben aber auch verachtet. Denn eines Nagels noch eines Hammers, sondern man befestigt
sie, die mit den Europäern direkt verkehren, sind daraus eiu Stück an das andere vermittelst einer langen Schling-
stolz, und der Bulu, der Mann der Wälder, gilt ihnen pflanze, des Ojouo. Der Reisende trifft die ersten Dörfer
für einen Wilden, mit dein sie nicht gern etwas zn thun der Bakalais in der Gegend dieser Enimbas. Die Blatt-
haben, und aus dessen Stamm sie nur dann ein Weib breiter derselben, etwas Ebenholz und Sandelholz sind
nehmen, wenn gerade einmal großer Profit dabei ist. die einzigen Handelsartikel und werden an die Gabonesen
Der Bulu ist schwärzer als der Mpongue, seine Haut verkauft. Die Bakalais siud an Zahl schwach, gleichsam
fühlt sich erdig imd rauh an, seine Kinnbacken treten die Vorhut eines am weitern Vordringen gehinderten
weiter hervor, und aus seinen Gesichtszügen spricht sehr oft Stammes, der am Ogowa'i wohnt. Gegenwärtig weichen
eine große Stupidität, mit einem Wort: er ist äußerst sie zurück, weil die Pahuius (Fans) sich zwischenein drängen,
häßlich. Er liebt das Umherschwärmen, hat nur wenig Sie sind ebemso unschön wie die Bnlns, eben solche Vaga-
Hausrath, kümmert sich um das Bestellen des Feldes nicht bunden und Diebe, aber nicht ganz so faul, denn sie flechten
viel und kann ohne Beschwerden den Ort wechseln; er ist sehr hübsche Matten.
Landstreicher und Dieb und wohnt in kleinen Hütten, die Für einen Jäger bieten die Wälder dieser Region keine
höchst unbequem und so unsauber sind, wie der Inhaber erhebliche Ausbeute. Man sindet sechs Arten von Anti-
selbst. Der Mpongue hat doch ein klein wenig Ackerbau lopeu, von der kleinen und äußerst zierlichen, die nicht
und das Meer liefert ihm Fische; trotzdem hat er manch- größer als ein Hase ist, bis zu der weißgestreiften Bango,
mal Mangel; der noch trägere Bulu hilft sich mit dem, welche die Größe eines Damhirsches erreicht. Auf den
was der Wald ihm gibt. Griffon du Bellay erzählt, daß Hügeln im Hintergründe des großen Gabon -Aestnariums
der Bulu Speiseöl dadurch gewinnt, daß er in einen läßt sich zuweilen der Niare blicken, der wilde Büffel,
Kochkessel Massen einer schwarzköpfigen Ameise wirft; und manchmal auch der Eber mit weißer Stirn, von
sie hat einen bläulichen Leib und aus ihr kocht man ein welchem du Bellay eiu gezähmtes Exemplar gesehen hat.
O el, das schön klar und opalgelb ist, auch gar nicht nnan- Der mit Warzen besetzte Rüssel, die mit langenBorsten um-
genehm schmeckt. Unser Gewährsmann hat dasselbe ge- gebenen Augen, die langen Ohren, an deren Spitze ein
kostet, aber bevor er wußte, welche Beschaffenheit es mit langer Haarbüschel hängt, das Alles gibt diesem Thier
der Sache hatte. ein seltsames Aussehen. Dazu kommen ein Faulthier
An die vereinsamt in tiefen Wäldern umherstreifenden (Ferodicticus Poto), das im Land Ekanda heißt, und der
Bnlns knüpft sich für die anderen Schwarzen etwas Ge- Nuko, ein nächtliches Kletterthier; diese sind aber sehr
heimnißvolles. Sie sind Aerzte und Zauberer und große schwer zn bekommen und in den europäischen Sammlungen
Fetischmänner. selteu. Ferner: Pangoline, Zibeththier, eine Ratte,
Die Bakalais (Bakele) oder Akala'is wohnen an Ameisenlöwe, Affen, Panther und noch einige andere,
den Ufern der Flüsse, hinter' den Bulus; die Fahrt zu ihnen Elephant und Gorilla findet man jetzt nur in den entlegenen
ist unangenehm, weil Man von den Faktoreien aus zunächst Wäldern der Pahuius; der Panther ist nicht häufig und
die breite Zone alluvialeu Schlammes Passiren muß, die greift nur selten Menschen an, obwohl er ihnen nachschleicht.
Region, wo salziges und süßes Wasser sich miteinander Die vielen Schlangen sind alle giftig mit Ausnahme der
mischen. Dort wächst weit und breit nur Mangrove- großen Boa Python. Sie kommen zu den Hütten, um
gebüsch; es bildet mit seinen Millionen Wurzeln, die zur Geflügel zu erschnappen, und klettern den Natten bis in die
Ebbezeit bloß liegeu, an den Flüssen undurchdringliche Dächer nach. Am bemerkenswerthesten ist die Echidua
graugrüne Wälle oder Mauern von trostloser Einförmigkeit, gabouica, eine große Viper mit kurzen Hörnern und ohne
und man sieht dort kaum einen Vogel; nur dauu uud wann Schwanz; sie wird mehr als 6 Fuß lang, ihre prächtigen
schreit eiu Papagey, oder eiu Tauchervogel holt einen Fisch Schuppeu bilden große, zierlich gestellte Rauten,
aus dem Wasser. Die Natur scheint zu stagnireu und das _ Eine wahre Landplage siud die Ameisen. Einige
Klima ist geradezu mörderisch, außer für Krabben und lind winzig klein und können sich in die feinsten Spalten
sonstiges Ungethier. Sobald Ebbe eintritt, entwickelt sich eines Tisches verkriechen, andere sind groß, und die rothe
Schwefelwasserstoffes in großer Menge ans diesem faulen Art wird selbst den Thieren des Waldes gefährlich. Man
Schlamme, quillt wie Seifenblasen empor und entwickelt zählt etwa 20 verschiedene Arten.^ Manche derselben
einen pestilentialischen Gestank. Während der Nacht ist treiben sich in den Häusern, in den Hütten und auf Schiffeu
die fiebergeschwängerte Luft naßkalt und durchschauert den umher und werden insofern nicht ungern gesehen, weil sie
Menschen, indeß gleichzeitig Millionen Mücken schwär- viele UnreinlichkeiteN vertilgen. Andere sind nicht blos
men und Blut saugen. Hier wird selbst der schwarze Ein- lästig. In den Wäldern sindet man eine große Art, von
geborne eine Beute des Fiebers. blonder Farbe, welche ihr Nest auf Bäumen bereitet, indem
Weiter landeinwärts gewinnt die Gegend einen andern sie die Endblätter der Zweige, unter großen Anstrengungen,
Schilderungen aus dein
durch ihr Gespinnst aneinander befestigt und daraus lange
Taschen bildet. Solcher Nester sindet man zu lausenden.
Diese Thiere sind ungemein tapfer. Die große rothe
Ameise Wandertin förmlichen Heersäulen ganz regelmäßig.
Ein Theil bildet zwei geschlossene Reihen und zwar so, daß
diese Ameisen sich eine an die andere befestigen. Wenn
man mit einem Stecken unter die Colonne fährt, kann man
allemal einen ganzen Klumpen aufheben, so fest halten sie
äquatorialen Westafrika. 203
oder Nachzügler ein und bieten jedem Angreifer Trotz.
Aber schwerlich wird Mensch oder Thier sich an sie wagen;
sie sind mit Recht gefürchtet.
Auch in Bezug auf die Ameifeu hat der Neger seinen
Aberglauben. Dil Beilay ging mit eiuem Häuptling im
Walde, als eben eine Schaar Wanderameisen vorüber zog;
der Schwarze blieb stehen, brach ein Blatt vom nächsten
Baume, legte dasselbe bedächtig hin und trat zur Seite.
Der Owvuntschuabaum int Lande der
zusammen. Die Armee bildet zwei lange geschlossene
Mauern; in dem Räume zwischen beiden wimmelt es dann
von anderen, welche alle Futter oder Larven tragen. In-
mitten dieser Arbeiterinnen gehen in allen Richtungen
Männchen umher, Thiere mit dicken Köpfen, die keine Last
tragen, sondern als Offiziere das Ganze in Ordnung halten,
mit ihren mächtigen Zangen Polizei üben und für die
Sicherheit aller Sorge tragen. Außerhalb der lebeudigeu
Mauer gehen sie auf Kundschaft aus, bringen Flüchtlinge
Bakalais. (Nach einer Photographie.)
Auf die Frage, weshalb er das gethan, antwortete er:
„Meine Frau ist der Niederkunft nahe, und nun wird ihr
während derselben kein Unfall zustoßen." Als der Euro-
päer darüber lächelte, wurde der Afrikaner empfindlich und
sagte: „Ihr Weißen braucht euch freilich vor den Ameisen
nicht zu fürchten, denn ihr bringt eure Frauen nicht mit in
unfer Land."
Manchmal fällt eine Armee über eiue Hütte her und
vertilgt Alles, was lebendig ist: Kakerlaken, Skorpione,
26*
204 K, v. Koseritz: Die brasil
Hundertfüße, Ungeziefer jeder Art. Wunderbar schnell
macht sie reine Tafel, läßt aber alle Vegetabilien unberührt.
Der Ameisen grimmigster Feind ist die Termite, und das
ist ein Glück; denn wenn beide gemeinschaftliche Sache
gegen ein Dorf machten, dann bliebe rein gar nichts übrig.
Unter den verschiedenen Termiten richten einige große Ver-
heernngen an; bekannt ist, daß manche große Hügel auf-
bauen, gegen welche, verhältuißmäßig genommen, die
Pyramiden Aegyptens doch als sehr winzige Machwerke
usche Provinz Gran-Para,
erscheinen. Eine Art baut in Baumzweigen große kngel-
runde Nester aus Holz und Erde, und eine andere errichtet
auf dem platten Boden anderthalb Fuß hohe Cylinder, die
alle ein ausgezacktes Kapital haben. Diese Termitenwalze
sieht aus wie eiu gewaltiger Champignon und hat im In-
nern eine große Menge von Zellen.
In einem folgenden Aufsatze wollen wir die menschen-
fressenden Pahuins schildern, welche ohne alle Frage unter
den Völkern am Gabon das interessanteste sind.
Die brasilianische Provinz Gran-Para.
Von Karl von Koseritz.
Für die Zukunft des südamerikanischen Kaiserreichs,
sowie für den Welthandel ist die unendlich reiche, im
Stromgebiet des Amazonas gelegene Provinz Gran-Para
von äußerster Wichtigkeit, und da wir jüngst im Berichte
des Präsidenten Conto Magelhaens sehr wichtige Angaben
über dieselbe gefunden haben, wird es für die Leser dieser
Blätter von Interesse sein, eine Beschreibung jener Ge-
gend zu erhalten, welche durch die Eröffnung des Amazonen-
stromes für die Flaggen aller Völker von großer Wichtig-
feit für Handel und Schifffahrt werden muß.
Die Provinz Para, welche srüher zu dem Staate
von Maranhao gehörte, zählt gegenwärtig etwa 300,000
Einwohner; sie importirt für 3 Millionen Dollars und
erportirt für 3Y2 Million. Der Ackerbau ist noch weit
zurück; ein Pflanzer, der in den Vereinigten Staaten oder
in Euba 300 oder 350 Arroben (32 Pfund die Arrobe)
erzielt, erzeugt in Para nur 100 Arroben. Auch die Be-
völkeruug von Gran-Para ist am meisten zurück, da sie
vor der Hand noch keines der Bedürfnisse fühlt, welche
einem civilisirten Menschen fast uueutbehrlich sind. Man
trifft in Para auf zahllose Familien, in deren Hütten nichts
vorgefunden wird als Canos, Hunde, Messer, Angelhaken
und einiges Zeug. Die Menschen leben fast ohne Arbeit,
denn die Natur dieser zauberischen Gegend ist so unendlich
reich, daß ihre Bewohner nur die wilden Früchte zu sam-
mein, die Thiere des Waldes zu jagen und in den Strömen
zu fischen brauchen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen;
sie haben nichts nöthig, als das, was ihnen die Natur
bietet; deshalb auch ist von Ackerbau und Industrie gar
keine Rede. Dieser sehr vorweltliche Zustand ist ohne
Zweifel dem abfoluteu Mangel au Kenntnissen und Unter-
richt zuzuschreiben, denn nur civilisirte Völker haben Be-
dürfniffe, welche über das hinaus gehen, was ihnen die
Natur bietet. Der Mangel an Kenntnissen, Civilisation
und Volksunterricht ist in Para unglaublich; bei der Lebens-
weise der Bevölkerung, die nicht einmal Bedürfnisse kennt
und sechs Monate im UrWalde zubringt, während sie die an-
deren sechs auf der Bärenhaut liegt, ist natürlich von Volks-
Unterricht keine Rede; wild wie die Rothhäute wachsen die
Kinder auf, itub es ist ohne Zweifel die wichtigste Aufgabe
der brasilianischen Regierung, den Zustand der Provinz zu
heben, indem sie durch den Volksunterricht der Civilisation
die Bahn bricht.
Wie oben erwähnt, beschränkt sich der Bewohner des
Innern von Para aus die Gewinnung natürlicher Produkte
und pflanzt nur so viel, wie zu seinem Familienunterhalte
durchaus nöthig ist. Deshalb ist auch der Ackerbau noch
in kindlichen Anfängen und der Gebranch der einfachsten
Gerätschaften, z. B. des Pfluges und der Egge:e. noch
ganz unbekannt.
Der Präsident, Couto Magelhaens, ist der Meinung,
daß die Regierung darauf hinarbeiten müsse, daß die Be-
wohner des Innern, nachdem sie die sechs Sommermonate
im Walde und an den Flüssen zugebracht haben, sich in der
andern Hälfte des Jahres dein Ackerbau, überhaupt der
Thätigkeit widmen und ihre Kinder in die Schnle schicken
sollen.
Die Hauptbeschäftigung der Bewohner des Innern
besteht in dem Einsammeln des Kautschuk (seringa);
zwei Drittel der Bevölkerung sind Seringueiros. Da
nun die Entfernung von den Märkten und der widersinnige
Umstand, daß ein hoher Zoll auf den Verbrauch des
Kautschuk gelegt ist, diese Industrie hemmen, so fallen die
Seringneiros gewöhnlich kühnen Schmugglern in die Hände,
welche ihnen ihre Waare für den zehnten Theil des Werthes
abnehmen. Der neue Präsident Couto Magelhaens schlägt
deshalb vor, den Zoll zu erniedrigen und energische Maß-
regeln gegen die Contrebandisten zu ergreifen.
Von Bedeutung ist die sehr starke indianische Be-
völkernng, welche theilweise im Urzustände in denWäl-
dern, theilweise in „Aldeas" (Niederlassungen) wohnt, doch
hat die Organisation und Verwaltung dieser Aldeas so
viele Mängel und Uebelstände, daß Para nicht den hundert-
sten Theil des Nutzens aus seinen Indianern zieht, den es
haben könnte, wenn dieselben auf vernünftige Weife ver-
wendet würden; unter den jetzigen Verhältnissen ziehen
gewöhnlich nur die Direktoren der Niederlassungen Vor-
theil aus denselben, indem sie ausschließlich mit den In-
dianern handeln und deren Produkte monopolisiren. Diesem
Uebelstände will man jetzt abhelfen, indem man die India-
ner unbehindert in ihren Wäldern leben läßt und ihnen
keine Zwangsverordnungen aufdringt, unter deren Drucke
sie nur leiden können, ohne Vortheile daraus zu ziehen.
Andererseits wird die Regierung ihnen Märkte eröffnen
und den Verkehr der Käufer mit ihnen überwachen, damit
der Indianer nicht mehr wie bisher geschunden und betro-
gen werde.
Der Ackerbau der Provinz leidet hauptsächlich unter
dem Umstände, daß nur der große Landbesitzer sich
demselben widmet, während der kleine nur das zum Haus-
K. v. Koseritz: Die brasili
halt Alleruothweudigste pflanzt. Da der große Landbesitzer
sich der Kultur von Exportartikeln, wie Zucker, Kaffee,
Baumwollek. widmet, so kommt es, daß alle Lebensiuittel
in Para einen unglaublich hohen Preis haben, und dieses
Verhältniß wird nicht anders werden, bis der ärmere Theil
der Bevölkerung, wie oben bereits angedeutet, einen Theil
des Jahres auf die Kultur von Brotfrüchten ?c. verwendet.
Das wäre leicht, da die Einsammlung des Gummi, die
Ernte des Cacao, der Castanha und die Bereitung von
vegetabilischen Oeleu nur in sechs Monaten des Jahres
geschehen, während das Klima in den anderen sechs Mo-
naten den Anbau von Cerealien und anderen zu den Nah-
rnngsmitteln zählenden Produkten erlaubt.
Was nun die Verbindungswege der Provinz betrifft,
so befinden sich dieselben in einem wahrhaft traurigen Zu-
staude. Damit Para den Platz einnehmen könne, der ihm
im Welthandel gebührt, muß es einen Arm nach Goyaz
und Matto grosso, und den andern bis nach den Vereinigten
Staaten ausstrecken. Die Verbindung mit den Provinzen
Goyaz und Matto grosso, sowie mit Maranhao, kann nur
dadurch hergestellt werden, daß der Tocantins und der
Aragnaya durch Hinwegräumen der iu denselben befind-
lichen Riffe der Dampfschifffahrt zugänglich gemacht werden.
Was nun die Verbindung Paras mit den Vereinigten
Staaten betrifft, so schlägt der Präsident die Errichtung
einer regelmäßigen Dampfschifffahrt zwischen der Haupt-
stadt Belem (die auch Para heißt) und Demerara vor,
zu deren Unterhaltung die Regierung eiue Unterstützung
von 25,000 Dollar per Jahr geben wird. (Die Dampf-
schifffahrt zwischen Brasilien und Nordamerika ist gesichert.)
Die finanzielle Lage der Provinz ist gut zu
nennen, da aber die Einnahmen fast ausschließlich aus
dem Zoll auf Kautschuk herrühren, dessen Preis den
Schwankungen des Marktes unterworfen ist, fo kann diese
günstige Lage sich ändern.
In der ganzen Provinz zählt man gegenwärtig nur 92
öffentliche Elementarschulen, von denen 66 für Knaben
und 26 für Mädchen bestimmt sind; 75 dieser Schulen
wurden im Jahre 1864 von 3582 Schülern besucht, näm-
lich von 2908 Knaben und 674 Mädchen. An höheren
Bildungsanstalten sind nur 3 vorhanden und zwar nur für
Knaben. Das „Collegio Paraense" in Belem erhält von
der Regierung einigen Zuschuß; im Jahre 1864 zählte
dasselbe 108 Schüler. Die Unterrichtsgegenstände sind
Lateinisch, Französisch, Englisch, Geschichte, Geographie,
Mathematik, Buchführung, allgemeine Grammatik, Philo-
sophie, Rhetorik, Zeichnen und Musik. Privatschulen für
Elementarunterricht existiren in Belem 35; sie sollen ziem-
lich stark besucht sein. Außerdem hat die Provinz noch
eine Ackerbauschule, mit der eine Art von Musterfarm in
Verbindung steht; dieselbe zählt 24 Schüler, welche dort
praktisch unterrichtet, gekleidet und ernährt werden.
Gesängnisse, welche diesen Namen verdienen, besitzt die
Provinz nur in Belem und Santarem, doch, werden der-
artige Einrichtungen für manche andere Punkte des Innern
projektirt. Das öffentliche Hospital von Belem ist wichtig,
denn im Jahre 1864 wurden 435 Kranke gratis behandelt
und verpflegt.
nsche Provinz Gran-Parci. 205
Wenn wir nun zumHaudel übergehen, so finden wir,
daß die Provinz im Jahre 1864 Waaren im Werthe von
3,518,236 Dollars eingeführt und Produkte im Werthe
von 3,430,433 Dollars ausgeführt hat. Es liefen ein
138 und ans 132Schiffe von und nach überseeischen (frem-
den) Häfen. Die eingelaufenen fremden Schiffe gehörten
folgenden Flaggen an: 68 Engländer, 23 Franzosen,
26 Portugiesen, 3 Schweden, 4 Peruaner, 1 Hamburger,
6 Brasilianer, 1 Spanier, 4 Dänen, 1 Hannoveraner und
1 Amerikaner; die ausgelaufenen waren folgende: 64 Eng-
länder, 23 Franzosen, 23 Portugiesen, 3 Schweden, 4 Pe-
ruaner, 1 Hamburger, 6 Brasilianer, 1 Spanier, 4 Dä-
neu, 1 Hannoveraner und 2 Amerikaner. Zwischen Para
und deu verschiedenen Häfen des Kaiserreiches fuhren
57 Schiffe unter brasilianischer Flagge. Die Ausfuhr
beschränkt sich auf folgende Produkte: Gummi aller Sorten,
Cacao, Baumwolle, Reis, Zucker, Fischleim, Sassaparille,
Kastanien, Piassava, getrocknete und gesalzene Felle, Co-
pahybaöl, Urucu und Rehfelle. Die Kultur der Baum-
wolle ist bedeutend gestiegen, und im Jahre 1864 exportirte
die Provinz bereits 5586 Arroben (zu 32 Pfund), im
Werthe von 53,757 Dollars.
Iu Para existiren zwei Bankgeschäfte, nämlich eine
Filiale der brasilianischen Landesbank und eine andere der
Bank Maua Mac Gregor & Cie., welche Geld zu 9 Prix,
gaben, während früher stets 12 Proc. gezahlt wurden. Die
wichtigste Anstalt der Provinz ist jedoch die „Schiff-
sahrts-Compagnie des Amazonas", welche 8
Dampfschiffe hat und eine regelmäßige Fahrt zwischen
Belem und Mauaos (d.h. Para und Barra de Rio Negro),
Mauaos und Tabatinga, Belem und Cameta, Belem und
Souza, Belem und Chaves und von Belem zum Arary
unterhält. Ehemals machten die Dampfschiffe Reisen bis
zumHuallaga, auf dem sie manchmal noch bis Laguna und
Purinaguas hinaufgingen, so daß sie eine Strecke von
761 brasiliauischeu Meilen (zu 13 auf deu Grad) durch-
ltefcn. Leider hat das jetzt aufgehört, weil der auf diese
Fahrten bezügliche Vertrag mit Peru abgelaufen ist. Daß
nun die bevorstehende Eröffnung des Amazonas für alle
Flaggen ein ungemeiner Hebel für die Entwicklung dieser
unendlich reichen Provinz sein wird, unterliegt keinem
Zweifel.
Wie aus diesen Angaben hervorgeht, befindet sich Para
fast noch im Urzustände, itnb erst die Freiheit der Schiff-
fahrt auf dem Amazonenstrom kann den unbegrenzten
Prodnktenreichthnm der Provinz zu seiner vollen Geltung
bringen. Wenn einst Schiffe aller Flaggen sich ans dem
Stromriesen kreuzen, und der Tocantins und der Ära-
gnaya bis nach Goyaz und Matto Grosso schiffbar sind,
dann wird keine Gegend Brasiliens so wichtig sein , wie
Gran-Para. Aber sie wird nie 311 einem Zielpunkte der
Auswanderung werden, da ihr heißes Klima die Einwände-
rnng fast unmöglich macht. Aber sie kann dennoch durch ihre
eigene Bevölkerung noch mächtig genug werden, fobald die
Civilisation dort weiter vorgedrungen ist und sobald man
die zahlreichen Judiauerstämme durch eiue verständige Be-
handlung einigermaßen nützlich zu verwenden weiß.
20G
H. Birnbcnlm: Der Golfstrom und seine Bedeutung für den Verkehr x.
Der Golfstrom und seine Bedeutung für da
Von Dr. H.
Wir wollen den Einfluß dieses merkwürdigen Oeean-
stroms auf die Schifffahrt, den Handel und überhaupt
den Verkehr zwischen Europa und Nordamerika nach-
weisen. In den Zeiten, da man diese Strömung mehr
fürchtete als kannte, dieselbe uicht sorgfältig genug umging,
auch nicht verständig genug benutzte, war die Seefahrt auf
der nördlichen Hälfte des Atlantischen Oceans nicht
blos eine verhältnißmäßig beschränkte. Ganz besonders
fürchtete man die Winterfahrten, die geschicktesten Kapitäne
verloren oft allen Halt zu einer genauenLängeubestimmung,
und es fehlte uicht an Beispielen, daß ihre Feststellung um
8 bis Ii) Grad falsch ausfiel, und daß sie zwei volle Monate
länger zur Ueberfahrt gebrauchten, als die Durchschnittszeit
erwarten ließ. Der Verlust an Schiffen, an Menschenleben
und Gütern war aus dieser Tour entsetzlich; Manry
behauptet, daß man noch in der letzten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts auf täglich drei Schiffbrüche rechneu konnte.
Man suchte den Grund in den unvollkommenen In-
strnmenten und in den unzuverlässigen Methoden der Orts-
bestimmnng; an den Golfstrom und au eine Beherrschung
und Benutzung dieses verborgenen Oeeaufürsten dachte noch
Niemand. Die besten Seefahrer waren zufrieden, wenn
sie aus einer Reise von London nach Boston zunächst die
Küste von Neil York in Sicht bekamen. Ihre Chrono-
meter leisteten wenig Hülfe, und selbst die astronomisch
berechneten Schiffsephemerideu, welche sie mit auf die Reise
nahmen, enthielten grobe Fehler; das Fernrohr ließ noch
viel zu wünschen übrig, die Gesetze der atmosphärischen
Strahlenbrechung kannte man wohl, aber es fehlte ihnen
noch der praktische Zuschnitt zum Gebrauch auf der See;
der alte Iakobsstab, der Quadrant, der Seering
und alle anderen Winkelmeßapparate ergaben unverläßliche
Resultate; der Hadley'sche Spiegelsertant war
allerdings schon erfunden, aber noch wenig in wirklichen:
Gebrauche.
Eine Parlameutsakte von 1714 setzte einen Preis von
20,000 Pfund Sterling aus für bewährte Hülfsmittel
zum Bestimmen der geographischen Länge aus offener See.
Man legte die Entscheidung in die Hand unparteiischer
Sachverständiger und ließ nicht blos die Zeit der Bewer-
buug offen, sondern gestattete auch ohne Ausnahme allen
Nationen gleiche Rechte zur Mitbewerbung. Für das
Mittel, durch welches zur See die Längenbestimmung bis zu
einem halben Grade durchzuführen sei, sollte der ganze
Preis zuerkannt werden, für Vz Grad Genauigkeit wollte
man 15,000 Pfund, und selbst für 1 Grad Genauigkeit
noch 10,000 Pfund geben; ja es war dem Urtheil der
Commission überlassen, nach ihrem freien Ermessen auch
noch weltiger glückliche Bemühungen nach Verdienst zu
belohnen. Diesem Beispiele folgten auch die Franzosen.
Sie schrieben einen ähnlichen Preis für denselben Zweck aus.
Der Erste, welcher in dieser Hinsicht etwas Namhaftes
leistete, war John Harrison, ein schlichter, aber den-
kender Z i m m e r m an n. Er verfertigte eine S ch i ff s u h r,
welche von der Commission zwar öffentlich belobt wurde,
Verkehr und die klimatische Ausgleichung.
Birnbaum.
aber doch noch uicht derart war, daß ein Preis dafür fest-
gestellt werden konnte. Was indeß dem Vater zu erreichen
noch uicht möglich war, das gelang dem Sohne, William
Harrison, der gerade zu diesen: Zwecke von Jugend auf
sich der Uhrmacherkunst gewidmet hatte. Mit der von ihm
zu Stande gebrachten Uhr reiste er 1761 nach Jamaica
hin und zurück, und sie gab die Längeubestimmung kaum
V2 Grad fehlerhaft; es war aber an ihr noch Allerlei aus-
zusetzeu. Er ward vorläufig mit 2500 Pfund belohnt.
Im Jahr 1764 reiste er mit eiller verbesserten Uhr nach
Barbados und zurück, der Längenfehler betrug jetzt kaum
tloch 14 Minuten. Diesmal bekam er 10,000 Pfund und
die Zusicherung für den ganzen Preis, wenn er noch zwei
solcher Uhren von derselben Zuverlässigkeit anfertigen könne.
Darin war er weniger glücklich, und mittlerweile erhielt er
auch Coneurrenteu an Berthond, Leroi, Arnold,
Kendel u. A.
Johann Tobias Mayer in Göttingen hatte im
Jahr 1700 seine weltberühmten Mondestafeln zu
Stande gebracht; vermittelst derselben konnte die Längen-
bestimmnng auf dem Meere viel genauer vorgenommen
werden als früher. Die Vortrefflichkeit dieser Arbeit hatte
Maskelyne, ein Mitglied der Commission, auf einer
Reisenach St. Helena selbst erprobt; er trug deshalb
darauf au, daß man diesen ausgezeichneten deutschen Ge-
lehrten für feine meisterhafte Leistung würdig belohnen
möge. Der Antrag wurde augenomnien und ein Ehren-
preis von 5000 Pfund festgestellt. Mayer lebte aber
nicht mehr; die Ehrengabe wurde der hiuterlassenen Familie
überreicht. — Auf diese Weise wurde die Seefahrtskunde
rasch vervollkommnet, aber für die Fahrten zwischen Eng-
land und seinen Eolonien in Nordamerika blieb Vieles
zu wünschen übrig. Die Sache beruhte hier nicht blos auf
der Verbesserung der Uhren und anderer Hülfsmittel zur
Ortsbestimmung; man brachte den Golfstrom noch nicht in
Anschlag.
Es ist bekannt, daß die englischen Eolonien Arne-
rika's von der Regierung des Mutterlandes sehr verkehrt
behandelt wurden; sie empörten sich und fielen ab. Die
Unzufriedenheit wuchs am raschesten unter dem häufigen
Ministerwechsel des schwachen Georg III., welcher 1760
den englischen Thron bestiegen hatte. In Amerika ver-
einigten sich mehre Eolonien zum Beschicken eines Eon-
gresses von Bevollmächtigten. Benjamin Franklin
vertrat die Interessen Pennsylvaniens so beredt und
zur Zufriedenheit der ganzen Versammlung , daß man ihn
zum Gesandten nach London wählte, damit die Beschwer-
den mit Klarheit und Nachdruck vor den königlichen Thron
gebracht würden. So kam es denn, daß Franklin seit
1764 zu wiederholten Malen zur Durchführung wichtiger
Staatsgeschäfte in London war. Im Jahre 1770 hatte
das Zollamt zu Boston ein Memorial an die Lords der
londoner Schatzkammer gerichtet, worin bemerkt wurde,
daß man es unerklärlich fände, warum die königlichen
Packetboote zur Reise voll Falmouth nach Boston fast
H, Birnbaum: Der Golfstrom ui
immer 14 Tage länger unterwegs wären, als die amerika-
nischen Kauffahrer vou London nach Providence auf
Rhode-Island; falls darin weiter keine Aenderuug
möglich sein solle, erlaube man sich den Vorschlag, daß es
den Packetbooten zur Pflicht gemacht werde, ihre Route ebeu-
falls nach Providence zu nehmen; denn für den Handel
sei ein solcher Zeitgewinn von der größten Wichtigkeit.
Die Herren der Schatzkammer konnten den erklärenden
Grund für dieses Paradoxon nicht auffinden. Sie wandten
sich daher au Franklin, aber auch diesem war die Sache
ein unlösbares Näthsel. Der Weg von London bis
Providence sei um die Strecke von London bis Fal-
month länger als der andere von Falmonth bis
Boston; wenn also dennoch jener in kürzerer Zeit zurück-
gelegt würde, als dieser, so könne die Ursache wohl nur in
der verschiedenen Art der Durchführung, in der bessern
Kenntniß und Berücksichtigung der Luft- und Wasser-
strömung zu suchen sein; in dieser Hinsicht sei es rathsam,
bei den Kapitänen der Kauffahrteischiffe die sorgfältigsten
Erkundigungen einzuziehen.
Der Gegenstand interessirte ihn sehr, und er suchte
durch wiederholte Nachfrage bei tüchtigen Seefahrern sich
Aufklärung zu verschaffen. Eines Tages kam er auch mit
dem Kapitän Folger, einem Walfiscksahrer, auf dies
Kapitel zu sprechen und war erstaunt zu hören, daß dieser
in der Sache gar nichts Räthselhaftes finde. „Die Haupt-
Ursache", sagt dieser Seemann, „liegt in dein allbekannten
Hochmuth der Lenker der königlichen Fahrzeuge; sie ver-
schmähen es, sich von uns belehren zu lassen. So existirt
z. B. für diese Herrn der Golfstrom nur an der Küste
Amerika's; daß derselbe sein Regiment auch uoch weiter,
durch das gauze Atlantische Meer fortsetze, ist ihnen
unbekannt, oder sie sind eigensinnig genug, dies zu igno-
riren. Wenn sie auf ihrer Reise in diesen Strom gerathen,
kann es recht gut kommen, daß sie täglich um 12 bis 15
geogr. Meilen zurückgetrieben werden, ohne nur einmal
eine Ahnung davon zn haben, denn obgleich ihnen das
Logmaß eiu tägliches Vorwärtsschreiten von 20 bis 30
solcher Meilen angibt, sind sie in der Wirklichkeit doch
immer nur um die Halste weiter gekommen; das gesammte
Wasser, auf dem sie fahren und messen, behält nicht, wie
es deu Anschein hat, den festen Ort, sondern es bewegt sich
gegen Osten. Dies wissen die Herren nicht, oder wollen
es nicht wissen. Uns praktischen Leuten ist das aber durch
unsere erfahrenen alten Lehrmeister und durch eigene Wahr-
nehmung bekannt; wir vermeiden bei der Auffahrt deu
Golfstrom eben fo sorgfältig, wie wir ihn bei der Nieder-
fahrt eifrig benutzen."
Das war für Franklin ein wichtiger Fingerzeig, den
er rasch benutzte. Folger wurde veranlaßt, den Weg des
Golfstroms durch deu Atlautischeu Oceau näher
anzugeben; er verstand sich dazu, eiue Zeichnung aus dem
Gedächtnisse zu entwerfen , und es ist zu bewundern, wie
dies rohe Bild mit der Wirklichkeit schon so genau überein-
stimmte, daß es später zur Grundlage aller genaueren
Ausmessungen dienen konnte. Franklin ließ diese merk-
würdige Folger's che Seekarte auf Tower-Hill iu
Loudou stechen und übersandte davon mehre Exemplare
nach Falmouth, damit die Führer der Packetboote sie
benutzen möchten; dort zeigte sich aber wieder der von
Folger schon scharf gerügte Hochmuth. Mau nahm davon
gar keine Notiz, und dies um so weniger, als die Sache
von Franklin warm empfohlen wurde, der jetzt anfing,
in England sehr mißliebig zu werden; man hatte ihm im
Jahre 1773 sogar das königliche Amt eines Oberpostauf-
sehers von Pennsylvanien genommen, weil er eifriger,
seine Bedeutung für den Verkehr :c. 207
als man wünschte, die Interessen seiner Landsleute ver-
sochten hatte.
Franklin kehrte nach Amerika zurück, verarbeitete mit
Hülfe sachverständiger Landsleute den Folger'scheu Entwurf
zu einer Seekarte noch genauer und sorgte dafür, daß die-
felbe zunächst nur für die Amerikaner von Nutzen fei.
Der bald darauf ausbrechende Krieg mit England machte
ohnehin ein Verschweigen dieses Geheimnisses zu einer
politischen Notwendigkeit. So kam es, daß diese See-
karte für England bis zum Jahre 1790 so gut wie gar
nicht existirte. Erst jetzt, nachdem der Frieden schon acht
Jahre abgeschlossen war, hielt man es für beide Parteien
gerathen, das Geheimniß zu veröffentlichen, und es ist
bekannt geuug, wie segensreich dies für den gegenseitigen
Verkehr geworden ist.
Bei der Bearbeitung der atlantischen Seekarten, welche
unter Berücksichtigung des Golfstroms den Schiffen für
die Ueberfahrt uach Europa und zurück eiue eben so große
Zeitersparnng als Sicherstellung vor Unglück bringen
sollten, kam Benjamin Franklin noch ans einen wich-
tigen zweiten Punkt, welcher der Beachtung fast uoch mehr
als der soeben besprochene erste verdient. Der Golf-
ström besitzt nicht bloß eine größere Geschwindigkeit als
das angrenzende Meer, sondern auch eine merklich höhere
Temperatur. Dies wollte Franklin benutzen, damit die
Seefahrer durch bloße Thermometermessungen sich von der
Gegenwart des Golfstroms überzeugen konnten, zugleich
aber auch ein Mittel erhielten, eine ungefähre Ortsbestim-
mnng darnach vornehmen zu können. Vor 1790, wo den
europäischen Seefahrern noch beide Eigenschaften des Golf-
stroms unbekannt waren, gab es für sie kaum einen
Winterverkehr mit den nördlichen Hafenplätzen Ame-
r i k a' s. Nordweststürme und Kälte brachten manche Fahr-
zeuge und ihre Mannschaften in die Gefahr des Unter-
gangs- Viele mußten iu südlichen Häfen überwintern,
weitste es für unmöglich fanden, in den nördlicheren sicher
einzufahren, uud manche andere sind bei diesem Versuche
gescheitert. Franklin selbst bemerkt iu seiner damals
von ihm herausgegebenen „Peuusylvauischeu Zeitung":
„daß es bei Schiffen, deren Kurs nach den Vorgebirgen
Delawares ging, im Winter nicht selten vorkam, daß
sie von dein Sturm? bis nach Westindien verschlagen
wurden und dort des Frühjahrs harrten, um erst danu deu
Versuch von Neuem zu wagen, sich der bezeichneten Küste
zu nähern."
Die Sache ist jetzt eine gauz andere geworden. Seit-
dem mau den Golfstrom geuau kennt, suchen die von den
Weststürmen uud von der Kälte Überfallenen Fahrzeuge
jedesmal in fernem warmen Bette eine Zufluchtsstätte;
mau briugt sie darin „zum Steheu", wie der Seemann sich
ausdrückt, sucht die Glieder der Mannschaft durch die
warme Frühliugsluft, welche beständig über dem Strome
lagert, zu erquicken und neu zu stärken, und wartet ganz
in der "Nähe einen güustigern Moment zum Landen ab.
Man weiß schou ans Erfahrung, daß dort das Wetter rasch
wechselt, und im Fall dies auch nicht einträfe, hat doch eine
solche Einkehr in das behaglich durchwärmte Golfshaus
jedesmal die Wirkuug auf die Matrosen, daß sie sich wie
neugestärkt gern in die Kälte wagen. Besonders hilft dabei
das Baden in dem stets warmen Strome.
Auf diese uach dem Thermometer regierte Seesahrt
machte besonders Jonathan Williams in einer von
ihm 1799 herausgegebenen Schrist aufmerksam. Wir
lernen den Werth derselben am besten aus einem Schreiben
des Co mm od vre Truxtou kennen: „Ihre Schrift wird
der Schifffahrt von Nutzen sein, indem sie die Seereisen
208 H, Birnbaum: Der Golfstrom in
noch weit sicherer macht, als dies bisher durch unmittelbare
Ausrechnung zu ermöglichen war; denn ich habe, seitdem
wir zusammen segelten, die Brauchbarkeit des Thermo-
Meters sehr oft bewährt gefunden. Es wird in den Hän-
den solcher Seeleute, welche mit astronomischen Beobach-
tungen unbekannt sind, ein sehr werthvolles Instrument
seht. Diese besonders haben eine einfache Methode, sich
ihrer Annäherung an oder ihrer Entfernung von der Küste
vorzüglich im Winter zu versichern, höchst nöthig; denn
gerade dann zieht sich die Ueberfahrt oft in die Länge, die
Schiffe werden durch starke Westwinde von der Küste weg-
getrieben und geratheu ohne ihr Wissen in den Golf-
ström; deshalb suchen die Kapitäne iu solchen Fällen ihr
Schiff zum Stehen zu bringen, da sie sich der Küste nahe
glauben, währeud sie in der That weit ab verschlagen sind.
Andererseits werden die Schiffe oft an die Küste geworfen,
indem sie iu der Springflut des Stromes segeln, die den
berechneten Kurs überschreiten läßt. Jedes Jahr führt
uns neue Belege zu diesen Thatsachen uub damit verbun-
dene Unglücksfälle vor."
So gewann man nach und uach die feste Ueberzeuguug,
daß die zuverlässigsten und allgemein brauchbarsten Hülfs-
mittel zur Erleichterung und Sicherstellung der uordameri-
kanischen Seefahrt in der genauen Erforschung des Golf-
stro ms ihren Haupthalt finden. Seitdem hat sich die Schiff-
fahrt im nördlichen Atlantischen Ocean immer mehr belebt
und sicher gestellt vor Gefahren; die Furcht vor diesen Reisen,
welche früher eben so allgemein als tief begründet war, hat
sich in unseren Tagen ganz verloren, und durch das Hinzu-
bringen der Dampfmaschinen ist sowohl die Fahrt nach
Amerika als nach Europa auf eiu ziemlich konstantes
Minimum der Zeit von 10 bis \ 2 Tagen zurückgeführt.
Das ist erstaunenswerth, denn noch vor 70 Jahren pries
man sich glücklich, wenn die Dauer der Reise nach Amerika
20 Wochen nicht überstieg. Seume erzählt, daß der
Trausport der verkauften deutschen Seelen von England
nach Halifax 23 Wochen gedauert habe. Und bei der
Rückfahrt von Amerika uach England hätten sie sehr
viel Glück gehabt, denn die Reise sei in 40 Tagen zurück-
gelegt worden.
Diese Verbesserung der Schifffahrt hat einen sehr gün-
stigeu Einfluß auf die Steigerung der Bevölkerung des
Handels und Wandels gehabt. Vis 1769 war der uord-
atlantische Seehandel Nordamerikas fast ausschließlich
auf Charleston beschränkt, seine Größe überstieg sogar
die Gesammtsumme aller anderen Hafenplätze; selbst Neu-
York machte damals noch kaum halb so viel Geschäfte und
Peunsylvauien kaum den dritten Theil. Das Hiuder-
niß lag unverkennbar in dem Nichtkeunen oder Unbeachtet-
lassen des Golfstroms. Kaum aber war derselbe praktisch
nutzbar gemacht worden, so zeigte sich gleich die Aussicht
zur direkten Umkehr dieses Verhältnisses. Schon 1796
besaß der Seehandel Pennsylvaniens eine dreimal so
große Bedeutung als der von Nord- und Süd-Caro-
lina, und in Nenyork war er doppelt so groß geworden,
als in Charleston. Dies Verhältniß wurde rasch eiu
noch viel günstigeres für die nördlicheren Hafenplätze, fo daß
jetzt das früher so sehr begünstigte Charleston viel von
seiner Bedeutung verlor, und Manry hat Recht, wenn er
sagt: „es wurde aus seiner Stellung wie ein auf halbem
Wege liegendes Haus entfernt und in die Kategorie einer
Anßenstation gerückt."
Gegenwärtig ist Nenyork der Centralpunkt des See-
Handels für ganz Nordamerika; es hat alle anderen über-
flügelt.
seine Bedeutung für den Verkehr 5C.
Wir gehen nun zur Bedeutung des Golfstroms als
Grundlage der Ausgleichung des Klimas in Amerika und
Europa über. Es ist bekannt, daß die fpeeifische Wärme des
Wassers einen sehr, hohen Werth besitzt, daß sie fast alle
anderen Stoffe weit hinter sich zurück läßt und nur von
sehr wenigen überstiegen wird. Darin liegt der Grund,
daß man in neuerer Zeit der Wasserheiznng den Vorzng
vor allen anderen gibt. Und bei genauerer Betrachtung
stellt sich sogleich heraus, daß die große Kreisbewegung des
Golfstroms im Atlantischen Ocean fast nichts an-
deres ist, als eiu zweckmäßig eingerichtetes Heizungsmittel
für Europa und Amerika. Der mit Wasser gefüllte
Kessel ist das Caraibische Meer und der Meriea-
nische Meerbusen; das Heizmittel die äquatoriale
Souneuglut, und das Rohr zum Emporführeu der Wärme
der Golfstrom. Auch ist dies Rohr mit Wasser gefüllt,
wie bei den Wasserheizapparaten, besitzt zum bessern Ab-
geben der mitgebrachten Wärme eine sich steigernde Aus-
dehuuug und eine allmälige Krümmung zum Zurückfließen
des uach und nach abgekühlten Wassers in den untern
Kessel. Das sind die Hauptpunkte des Vergleichs, welche
sich dann durch speeiellere Untersuchung noch viel weiter
treiben lassen. Jeder Westwind des Atlantischen Oceans
durchdringt die wasserreiche, stark erwärmte Lustschicht,
welche beständig über dein Golfstrome lagert, uud führt
dieselbe nach Europa, um Pflanzen, Thiere uud Menschen
mit Wasser und Wärme zn erquicken, zu beleben. Und
jeder Ostwind thut dies aus gleiche Weise für Amerika.
Gewöhnlich wechseln diese beiden Luftströmungen und es
fehlt fo der Segen für beide Welttheile nicht. Zuweilen
kommt es aber vor, daß der Wechsel ausbleibt; dann mnß
natürlich auch das Glück einseitig ausfallen, und Europa
hat den Erntesegen, während Amerika Mißwachs beklagt,
oder nmgekehrt. In diesem Falle ist es aber auch wieder
der Golfstrom, welcher durch die Verkehrsbegünstigung
eine Ausgleichung zwischen Ueberflnß nnd Mangel zn
Stande bringt.
Ist der Luftstrom, der über deu Atlantischen Ocean
hinwegzieht, ursprünglich ein von Norden kommender,
so verwandelt ihn die Tagesdrehung der Erde nach und
nach in einen Nordost und Oft, so daß er bei dem Durch-
kreuzen des Golfstroms Wasser- und wärmereich wird
und als solcher dem amerikanischen Festlande sehr will-
kommen ist. Die ursprünglichen Südwinde verwandeln
sich durch die Rotation der Erde in Südwest nnd West
und bringen Wasser und Wärme nach Europa, sie durch-
kreuzen deu Golfstrom weniger, als daß sie sich seinem
Laufe anschmiegen, auch siud sie weniger geneigt, ihm
Wärme und Wasser zu nehmen, weil sie damit schon selbst
reich gesegnet eintreffen; sie dienen also viel mehr zur
Ersparung der Schätze des Golfstroms als zur Ver-
zehrung derselben.
Man hat gefunden, daß die Isothermen in Enropa
eine viel nördlichere Lage haben, als in Nordamerika,
nnd sieht den Grund dazu iu dem Golfstrom, der dort eine
viel ausgedehntere Oberfläche als hier besitze und daher zu
dem Verduustuugsprozefse uud der Wärmenüttheilung viel
günstiger eingerichtet sei, auch gehen seine Wasser und die
daraus lagernden Luftschichten viel eher von Amerika hin-
weg, als zu ihm hin, während dies für Europa gerade um-
gekehrt ist. Daher ist auch das Klima Irlands und
Englands durchschnittlich so milde, daß die Fluren ein
immergrünes Gewand tragen, während die Küsten von
Labrador sich sehr schwer von der andauernden Schnee-
nnd Eisdecke befreien können. Redfield berichtet, daß
1831 der Hafen von St. Johns in Neufundland noch
G. Ebers: Die Eutzi
bis zum Monat Juni durch Eis gesperrt war; wer hat
aber je gehört, daß der Hafeu Liverpools je zugefroren
sei, obgleich dieser noch um 2 Grad nördlicher liegt als
jener? Dove bemerkt im Allgemeinen, daß die Sommer-
wärme in Amerika unter gleichen Breiten stets niedriger
sei als in Europa; so sei z. B. die mittlere Jahrestempe-
ratur von St. Petersburg (Br. 59° 56') erst mit den
Orten Amerikas gleich, welche 47° 50' n. 9Sr. besäßen,
also 12Va Breitengrade südlicher lägen; das Klima von
Königsberg (54° 48' n. Br.) stimme mit dem von
Halisar (44° 39' n. Br.) überein; Toulouse (43°
36' n. Br.) passe in dieser Hinsicht zu Washington
(38° 53' n. Br.).
Wir ersehen hieraus, daß der Golsstrom zur Mil-
derung des Klimas für Europa viel günstiger ist als für
Amerika. „Einer der wohltätigsten Dienste des Golf-
stroms besteht darin", sagt Manry in seiner Physik des
Meeres, „Wärme aus dem Golf von Mexico fortzu-
schaffen, wo sie sonst übermäßig anwachsen würde, und sie
in den Regionen jenseits des Atlantischen Meeres zur Ver-
besserung des Klimas der Britischen Inseln und des
gesammten Westeuropa's zu zerstreuen. Kaltes Wasser ist
aber bekanntlich einer der besten Nichtleiter der Wärme,
und wenn das warme Wasser des Golfstroms auf seiner
Bahn quer durch den Atlantischen Oeean mit der
festen Erdrinde — einem verhältnißmäßig guten Wärme-
mng der Hieroglyphen. 209
leiter — in Berührung käme, anstatt durch die schlecht-
leitende Schicht kalten Wassers gleichsam isolirt zu sein, so
würde alle Wärme schon ans dem ersten Theile des Wegs
verloren gehen, und die milden Himmelsstriche von Frank-
reich und England würden in dem äußerst strengen und
eisigen Klima Labradors erstarren."
Durch Berechnung hat man gefunden, daß die Qnan-
tität der täglich vom Golfstrome ausgehenden und über
das Atlantische Meer verbreiteten Wärme ausreichen würde,
ganze Gebirgsmassen von Eisen von Null bis zum Schmelz-
punkte zu erhitzen und einen Strom von diesem geschmol-
zenen Metalle im Flusse zu erhalten, der in Hinsicht aller
Dimensionen dem Mississippi gleich wäre. Bliebe alle
diese Wärme, welche der Golfstrom täglich frei werden
läßt, beisammen, und würde beständig nur über Britan-
nien und Frankreich gleichmäßig vertheilt, so wäre sie
im Stande, hier einen ewigen Sommer zu bewirken, denn
sie vermöchte diese Länder selbst im Winter von Null bis
zu 15 bis 16° R. zu erwärmen. Das sind allerdings nur
hypothetische Folgerungen, die aber dennoch insofern Werth
besitzen, daß man von der Größe der erwärmenden Kraft
eine faßbarere Vorstellung gewinnen kann.
Damit haben wir auf einige der wichtigsten Punkte der
Anwendung unserer Kenntniß des Golfstroms aufmerk-
sam gemacht. Erschöpft ist natürlich dieser durchweg in-
teressante Gegenstand noch nicht. Wir wollten nur anregen.
Dir Entzifferung der Hieroglyphen.
Von Dr. Georg Ebers.
I.
Die ersten Versuche (Kircher, Zoega, Jablonski), — Der Stein von Rosette. — Die Entzifferung der demotischen Schrift (S. de
Sacy, Akerblad). — Die Schreibarten der Aegypter.
Griechische Kunst und römisches Recht haben bisher
mit gutem Grunde für das Fuudament der antiquarischen
Studien gegolten. Homerische Gesänge durchwebten die
Jugenderinnerungen des humanistisch gebildeten Mannes,
und Griechenlands Helden und Weise, römische Thatkrast
uud Großheit weckten in ihm die ersten veredelnden Gefühle
der Vaterlandsliebe.
Aber Homer selbst mahnt uns schon an Griechen-
lands Verbindung mit dem Orient, und es knüpft
sich hieran das Gedächtniß der mannigfaltigenBeziehuugen,
welche zwischen beiden stattfanden. VomOrient her empfing
Griechenland wenigstens theilweise seine Kultur. Den
Syrern verdankt es die so mächtig wirkende cursive
Schreibekunst und aus Aegypten stammten, wie uns zahl-
reiche Gewährsmänner versichern, ein guter Theil seiner
gesetzlichen Weisheit, viele seiner religiösen Anschauungen,
wichtige Colouieu und durch diese wohl auch manche seiner
Sprachwurzeln. Ja selbst die bildende Kuust der Griechen
ist ein Kind der ägyptischen zu nennen.
Alles dies wurde von dein Hellenenthum gut verarbeitet
und sein wahrhaftes Eigenthum; aber deuuoch wirkte es
wohlerkennbar in ihm fort. Vor unseren Blicken steht ein
vollendetes Bild. Das Griechenthum zeichnete selbst mit
Globus IX. Nr. 7.
edlem Geiste die sinnigen Eontonren, während der phan-
tastische Orient die Farben darbot.
Erst nachdem im 6. und 7. Jahrh. v. Chr. Griechen-
land in nahe Beziehung zu den Asiaten tritt und auch
Aegypten seine fesiverfchloffenen Thore „den Herren des
Nordens", den Hellenen, öffnet, entfaltet die griechische
Kunst und Wissenschaft ihre höchste Blüthe. Wie nach dm
Kreuzzügen die orientalische Phantasie und Farbenglut auf
das Germanenthum, so wirkten damals dieselben Momente
aus das griechische Lebeu. Asien wurde die lachende Verführe-
rin, Aegypten der ernsteLehrer des germanischenStammes;
denn als Griechenland noch ein Kind war, trat Aegypten
bereits in die Greisenjahre; als Hellas sein kräftiges
Mannesalter erreicht hatte, konnte ein ägyptischer Priester
seinem besten Sohn zurufen: „Solon, ihr Griechen seid
uoch Kinder!" —
Aber die Schatzgrube, aus welcher die Hellenen uud die
anderen Kulturvölker des Alterthums so Vieles schöpften,
ging an jenem Tage verloren, an welchem der letzte Aegyp-
ter, der die Schriftzeichen seines Volkes zu lesen verstand,
die Augen schloß. Erst den Gelehrten unserer Zeit blieb
es vorbehalten, die verschütteten Gruben von Neuem zu öss-
nen. Nachzuweisen, wie weit und durch welche Mittel ihnen
27
210 G. Ebers: Die Entzi
gelungen ist, dieses Werk in historischer Folge zu entwickeln,
soll die Aufgabe dieser Abhandlung sein.
Nachdem mehr als ein Jahrtausend Niemand an das
Studium der ägyptischen Alterthümer gedacht hatte, kamen
aus dem Haudelswege einige Mumien, Papyrosrollen und
viele kleine Gegenstände aus den Trümmern von Memphis
und den bei den Pyramiden gelegenen Gräbern nach Europa
und wurden in die Sammlungen fürstlicher Häuser als
Raritäten eingereiht, weit mehr um die Neugier, als den
Forschungssinn derjenigen, denen sie zugänglich waren,
anzuregen. Erst der zu Rom lebeude Polyhistor, der bei
Fulda geborue Jesuit P. Athanasius Kircher scheute
nicht den Versuch, die Zeichen, welche die aus Aegypteu
kommenden Alterthümer bedeckten, zu entziffern. Leider
ließ er sich von den griechischen Schriftstellern, welche von
den Hieroglyphen erzählen, daß sie bloße Symbole und keine
Lautschrift seien, hinreißen, mit den ihm zugänglichen Texten
eine Art von Rebusspiel zu treiben und z. B. das mit
Hieroglyphen geschriebeue Wort „autocrator" zu über-
setzen: Der Urheber der Fruchtbarkeit und aller Vegetation
ist Osiris, dessen zeugende Kraft aus dem Himmel gezogen
wird in seinem Reiche durch den heiligen Mophtha.
In ähnlichen Unsinn verfällt er überall, wo er Hiero-
glyphen zu entziffern versucht, wogegeu er sich als Kenner
der koptischen Sprache, namentlich durch seine gramma-
tischen und lexikalischen Arbeiten, große Verdienste erwor-
ben hat.
Auf letzterm Felde zeichuete sich kurze Zeit darauf Fürst
Jablonsky, ein Schüler von Lacroze, aus, der mit wissen-
schaftlichem Ernste, angezogen von dem eigenthümlichen
Reize, welcher das ägyptische Alterthum umweht, aus den
Klassikern und den ihm zugänglichen koptischen Schriften,
in seinem Pantheon aegyptiacum, die ägyptische Mytho-
logie zu recoustruireu versuchte. Nicht minder tüchtig und
eifrig als er, widmete sich der Däne Zosga, welcher in
Roni aus Liebe zu einer schönen Malerstochter zur katho-
lischeu Kirche übertrat (sein eigenthümlicher Lebenslauf ist
von Welcker beschrieben worden), dem Studium des ägYP-
tischen Alterthums. Seiu Buch: „De obeliscis" ist ein
ungemein fleißiges Sammelwerk; sein Ruhm, aus die im
Hermapion enthaltene Uebersetznng der Inschrift der
Obelisken an der Porta del popnlo zu Rom hingewiesen
zu haben, unbestritten.
So hatte zwar das Interesse an den ägyptischen Alter-
thümern zu erwachen, aber keineswegs brauchbare Früchte
zu tragen begonnen, als Napoleon I. int letzten Jahre des
vergangenen Jahrhunderts seine berühmte Expedition nach
Aegypten unternahm.
Der Zug Bonapartes war keine eigentliche Eroberungs-
fahrt. Er follte vielmehr jeue Idee zur Wahrheit machen,
die fchon Leibnitz Ludwig dem Vierzehnten entwickelt und
welche Bossnet in seiner Weltgeschichte dringend empfohlen
hatte. Aegypten sollte der europäischen Kolonisation geöff-
net und durch diese zu einem neuen Kulturstaate erhobeu
werden. Der alte Lehrer sollte jetzt in die Schule seines
ehemaligen Zöglings gehen und das, was er ihm vor
Jahrtausenden gegeben, von Europa wieder empfangen.
Für diese Idee und noch vielmehr, um deu verhaßten Eng-
ländern ein Paroli zu biegen, führte Napoleon feine Trnp-
Pen nach Aegypten, schlug er die phantastische Schlacht bei
den Pyramiden, opferte er tausende von Menschenleben,
würde er endlich ohne den geringsten Erfolg nach Frankreich
heimgezogen sein, wenn nicht durch diesen Krieg ein Schatz
zu Tage gefördert worden wäre, der, obgleich er nur aus
einem uuedlen, halbzerbrochenen Steine besteht, eines Feld-
zugs Werth erscheint.
?rung der Hieroglyphen.
Ein französischer Artillerielieutenant vom Ingenieur-
corps, Bouchard, hatte im heißen August des Jahres
1799 den Auftrag erhalteu, die Schanze St. Julien in
Rosette (Reschid) zu vergrößern. So war er zugegen,
als am 17. August 1799 unter Sand und Schutt eine
große zerbrochene Platte von basaltähnlichem Granit auf-
gefunden wurde, welche eine lange, dreispaltige Inschrift
trug. In den obersten Buchstaben erkannte schon Bou-
chard alt-ägyptische Hieroglyphen, in den untersten grie-
chische Lettern. Was er aus deu mittleren machen sollte,
wußte er nicht. Dennoch war es ihm klar, daß er einen
wichtigen Fund gemacht, daß er einen Hieroglyphentext mit
griechischer Uebexsetzuug gesunden habe. Schon in dem-
selben Jahxe wurden die Inschriften zu Kairo facsimilirt
und Abdrücke nach Paris an die Akademie gesendet; den
Stein selber nahmen, nach der Schlacht von Alexandrien,
die Engländer in Besitz und zwar zunächst im Namen der
britischen Nation William Hamilton, der treffliche Ver-
fasser der „Aegyptiaca", welcher auch für gelungene Zeich-
nnngen und Abdrücke persönlich Sorge trug. Der Stein
von Rosette war jedenfalls, wie ähnliche Platten, welche
vielfach unversehrt erhalten sind, von länglich viereckiger,
oben abgerundeter Form, ist aber jetzt leider oben und
unten abgebrochen und so beschädigt, daß aus der Prisma-
tischen eiue dreieckige Form geworden ist. Oben sind
14 Zeilen Hieroglyphen ziemlich wohl erhalten; von der
nächstfolgenden Schreibart 32, während von der griechischen
Inschrift, obgleich viele Stellen Schaden gelitten haben,
keine einzige Linie gänzlich fehlt und 27 ohne jeden Makel
erhalten sind. Fast alle vorkommenden Lücken sind durch
die abgebrochene rechte Seite entstanden.
Der von Heyne, Porson, Ameilhon, Drnmann, Le-
tronne k. wohlhergestellte Text besagt, daß dex Stein in
den exsten Jahren der Regierung des Königs Epiphanes
zu seiner und seiner Gemahlin Ehre durch die versammelte
Priesterschaft gestiftet und aufgestellt worden fei. Die
schmeichelnden Diener der Gottheit preisen die Eigenschaften
und Thaten des Königs; unter anderen die Verminderung
der Steuern, die Amnestie der Gefangenen und die Erledi-
gung der damals schwebenden Marine-Frage von Aegyp-
ten (Erlaß des Beitrags zur Vergrößerung der Flotte),
loben besonders seine den Tempeln und Priestern erwie-
senen Wohlthateu, um deretwillen er von den Göttern
Gesundheit, Sieg und Kraft erhalten hat und ihm und
seinen Nachkommen das Reich verbleiben soll immerdar;
sie beschließen endlich, neben dem Bilde der Hauptgottheit
in jedem Tempel eine Statue zu errichten, eine Kapelle zu
weihen, dieselbe reich zu schmücken, sie nach Brauch bei den
hohen Festen in Procession einherzntragen, ihm ein beson-
deres im ganzen Lande zu begehendes Fest zu stiften, und
damit dieser Beschluß überall bekannt werde, ihn aus Gra-
"it in heiliger, demotischer und griechischer Schrift zu gra-
ben und diese Steine neben der Bildsäule des Gottes iu
jedem Tempel von Aegypten aufzustellen. Durch die in
der Inschrift ausdrücklich vorkommenden Worte:
tols öf isQoli v.cd tyycouiois y.ccl EXlrjvtxoiq yQKfi^aziv,
(In heiliger, Volks - und griechischer Schrift)
war jeder Zweisel über die Art der auf dem Stein vor-
kommenden Zeichen gehoben und namentlich der Aker-
bladfche Jrrthnm, der mittlere Theil der Inschrift sei Hiera-
tisch und nicht demotisch, beseitigt worden.
Diejenigen, welche sich nun an die Entzifferung des
ägyptischen Theils unsrer Inschrift machten, hatten einen
mühevollern Weg zu wandern, als Heyne, Porson und
Ameilhon; denn wenn sie bei den demotischen Zeilen von
G. Ebers: Die Entzifferung der Hieroglyphen.
211
der Ansicht, dieselbe müsse ganz und gar ohne Ausnahme
alphabetisch sein, irre geleitet wurden, so täuschte sie, den
Hieroglyphenbildern gegenüber, der von Horapollon und
anderen Alten bezeugte aber schon von Zoega angefochtene
Wahn, diese Zeichen seien rein symbolischer und ideogra-
phischer Natur.
So irrte die Forschung auf Abwegen hin und her, bis
der große Sylvestre de Saey den scheinbar naheliegen-
den, aber voit Keinem vor ihm entdeckten Zauber fand, die
Sphinx ihres Geheimnisses zu berauben. Er suchte nach
den Eigennamen, sand dieselben und schrieb im Jahre
1802 jenen berühmten Brief an den hochgebildeten Minister
der französischen Republik, Chaptal, in welchem er bewies,
daß er demetisch geschriebene Namen richtig gelesen
habe. — Seine Resultate verdankt er zunächst einem absolut
rechnenden Verfahren, nämlich der Abzählung der einzelnen
in der Inschrift vorkommenden Wörter und Zeilen, durch
welche es ihm möglich wurde erst die Namen Ptolemäns,
Arsinoe und Alexander, dann die Grnppen Epiphanes,
Alerandria, Isis, Osiris, Aegypten (Chemi) und das
griechische ©sog in demotischerSchrift zu lesen. — Leider ge-
langte er noch zu gar keiner Genauigkeit, konnte auch nicht
dazu kommen; war es doch z.B. ganz natürlich, daß er die
in der demotischen Schrift wie in der hieroglyphischen vor-
kommenden Königsnamen (in erstem' wird die Cartouche
nur durch hakenartige Zeichen angedeutet) für Buch-
r/""
In.
33rn
>
Hierogliiphisches Königsschild-
Hieratische und demotische Andeutungszeichen
der Königsnamen.
staben halten und
}«M5? »KS
r V- ^ lesen mußte.
Der Name des Ptolemäus ans der 22. Linie des Der Schwede
demotischen Textes der Inschrift von Rosette. Uf^ hsad kam
schon bedeutend weiter als sein großer Vorgänger. Mit
Bewunderung müssen wir constatiren, daß es ihm schon in
seiner 1802 geschriebenen lettre sur l'inscription de Rosette
ä Mr. de Sacy geluugeit ist, eine ziemliche Anzahl von
Gruppen richtig zu lesen und zu erklären, ja selbst einige
allgemeine, heilte noch für die demotische Schreibart gültige
Gesetze festzustellen.
Wenn beide Gelehrten auch noch lange nicht dahin ge-
kommen waren, einen fortlaufenden Text selbstständig lesen
zu können, so hatten doch die Saeyschen und Akerbladschen
Forschungen das unschätzbare Resultat geliefert, daß die
d e m o t i s ch e S ch r i st größtentheils aus L a u t z e i ch e u und
nicht, wie man bis dahin geglaubt hatte, aus Symbolen
und ideographischen, nun unkenntlich gewordenen Figureu
oder lediglich aus alphabetische,: Buchstaben bestehe. Was
von späteren Gelehrten ans diesem Felde geleistet worden
ist, rankt sich besonders an den Akerbladschen Resultaten
empor.
Ehe wir aber fortschreitend auf die Lüftung des Schleiers
übergehen, der die hieroglyphische und hieratische Schrift
bedeckt, liegt es uns ob, einen Blick auf die verschiedenen
Arten der altägyptischen Schrift zu werfen. —
Gewöhnlich werden drei genannt: die hierogly-
phische, hieratische und demotische. Eine vierte,
wenn auch aus späterer Zeit stammende, die koptische,
läßt sich aber mit gutem Rechte hinzufügen, wenn man es
nicht vorzieht mit Herodot nur zwei Klassen: die heilige
und die Volksschreibart, anzunehmen.
Die erste, deren Zeichen mehr oder minder erkenn-
bare Gegenstände darstellen, wurde besonders zu Inschriften,
so zu sagen als „Lapidarschrift" verwendet und findet sich
überall, wo man Stein, Metall oder Holz zu einem Denk-
male verwendete; sehr häufig auch auf Papyrosrollen reli-
giösen Inhalts, während man die Buchstaben der zweiten
Art fast nur auf Papyros schrieb. Dennoch finden wir
auch diese, aber nur in späterer Zeit, z. B. auf den von
Mariette entdeckten Apisgräbern, auf dem Stein von
Rosette k. auf Granit geschrieben.
An Stelle einer
zweiten Schreibweise
nennt Clemens von
Alexandrien zwei:
die hieratische
oder Priesterschrift Der Name des Ptolemäns in hieratischer
(tEßcmx// piO-odo;) @d)rift.
und die Briefschreibeschrift (_ijtiavoXoQacf.wn).
Von der koptischen Schrift hier nur so viel, daß sie seit
dem dritten Jahrh. n. Chr. es versucht,
die Hieroglyphenzeichen durch griechische t Y Y V
Buchstaben zu ersetzen, und da, wo ihr das IT I
nicht auszureichen- scheint, einige Hiera- z flf
tische Figureu, wie deu Weg als „scha"
zu adoptiren. v
Die Unterabtheilung des Clemens sind sa — •scha;.
von Vielen nicht gebilligt worden iutb £; K"°WÄd'
Lepsins u. A. haben, wie ich glaube mit koptisch.
Recht, versucht, die hieroglyphische und hieratische Schrift
einer gemeinsamen, die demotische und koptische einer an-
dem Klasse unterzuordnen.
Auf die formelle Frage näher einzugehen, ist hier nicht
der Ort. Den stichhaltigsten Grund für diese Ansicht
müssen wir aber dennoch erwähnen, da derselbe das cigent-
liche Wesen der Verschiedenartigkeit jener Schreibweisen in
sich schließt. Zunächst constatiren wir die Erfahrung, daß
die alten Aegypter in koptischer Sprache ge-
schrieben, dann daß sie zwei verschiedene, schon von
Clemens erwähnte Dialekte, den „heiligen" und den
„Volksdialekt" gesprochen haben. Die Hieroglyphen-
und hieratische Schrift enthält nur immer in dem heiligen
Dialekt verfaßte, die demotische und koptische in dem Volks-
dialekt geschriebene Worte.
Schon alis dem Ende des zweiten Jahrtausends finden
sich hieratische, aus der Mitte des vierten Hieroglyphen-
schriften, die alle in demselben unveränderten Dialekte bis
in die Römerzeit hinein geschrieben wurden, während die
Sprechweise des Volkes iu so langen Zeitstrecken nicht
immer gleich geblieben sein kann, und darum das Ver-
langen, die cursive Schreibart mit der Mundart des Volkes
in Uebereinstinlnluug zu briugeu, erwacht seht muß. ^ So
wurde denn im siebenteu Jahrhundert v. Chr. zur Zeit der
Psamtikiden eine neue Schreibart für das Volk und
die Sprechweise desselben von den Priestern znsam-
mengestellt uud später zu bürgerlichen Zwecken fast ans-
schließlich benutzt.
Daß die hieroglyphische und hieratische Schreibart
dialektisch durchaus uicht verschieden sei, beweisen die zahl-
reichen Todtenpapyros, welche in beiden Weisen hergestellt
wurden und die gleichen, nur mit verschiedenen Zeichen
geschriebenen Worte enthalten. Dasselbe läßt sich von der
demotischen und koptischen Schrift behauupten.
Das Aeußere der HieroglyPhenschrist können wir
27*
212 Der Negeraufst
kurz charakterisiren, wenn wir sagen, ihre Zeichen seien
erkennbare bildliche Darstellungen concreter Gegenstände.
Die demotische ist ans den ersten Blick nicht von der
hieratischen Schrift zu unterscheiden. Beide bestehen aus
abgekürzten Hieroglyphenbildern und haben den Zweck, die
Arbeit des Schreibers müheloser zu machen und zu beschleu-
uigeu. Die zweite, noch weit abgekürzter als die erste, hat
weniger Zeichen als die hieratische und ist fast ganz alpha-
betisch, während die Priestercursivschrift noch immer reich
genug an sogenannten Determinativzeichen genannt wer-
den muß.
Die letzten reinen Hieroglyphen, die wir kennen,
begleiten den Namen des Kaisers Caracalla; die jüngste
hieratisch - demotische Schrift ist wohl der zu Leyden befind-
liche Papyros Nr. 65 u. 75, der nach Reuvens, dem Vor-
gänger des trefflichen Leemans, dem Anfange des dritten
Jahrhunderts angehört. Bald darnach beginnt die kop-
tische Literatur, und erst im elften oder zwölften Jahrhundert
hörte jene Sprache, welche heute noch von den in Aegypten
d auf Jamaika.
weilenden jakobitifchen Christen zu gottesdienstlichen Zwecken.
gebraucht wird, auf, eiue lebende zu sein.
Die Erlangung einer vollkommenen Kenntniß aller
drei Schreibarten scheint selbst zur Pharaonenzeit mit
großen Schwierigkeiten verbunden gewesen zu sein. So
hoheBilduug die Priesterkaste besessen haben muß, so gewiß
ist es doch, daß ein vorzüglich bewanderter Schreiber zu
den gepriesenen Ausnahmen gehörte. Wir lesen z. B. in
dem von Chabas trefflich übersetzten Papyros Anastasy 5:
„Ein Schreiber, der in allen Schreibarten hoch erfahren ist,
wird mächtig werden. Uebe Dich darum stets in der
Schreibekunst. Widme keinen Tag fruchtloser Ausschwei-
fuug, sonst mußt Du geschlagen werden! Die Ohren des
Schülers sind auf seinem Rücken; er hört nur, wenn man
ihn schlägt. Man lehrt ein Thier Reisen zu machen, man
bändigt eiu Roß, der Vogel lerut sein Nest bauen, man
richtet den Falken und Sperber ab. So groß ist die Macht
der Lehre! Darum vernachlässige auch Du nicht die Bücher
und laß Dich mit Geduld im Schreiben üben!" —
Drr Neger»ufsta
Seit einer Reihe von Monaten hören wir von einem
Aufstand, welcher einen Theil der Insel Hayti beun-
ruhigte. Die Insurgenten hatten die Stadt Cap Haytien
besetzt und räumten dieselbe erst, als nordamerikanische
Kriegsschiffe im Hafen erschienen und ernstlich drohten. Es
stellte sich heraus, daß die Aufständischen damit umgingen,
alle Mulatten zu beseitigeu; sie wollten das reine, ur-
wüchsige Negerelement, welches unter Faustin Sonlonque
auf dem Throue saß und die Herrschaft ausübte, wieder
zur Geltung bringen. Die schwarze Rasse wollte die
gelben Mischlinge verdrängen, denn zwischen beiden
herrscht eine tiefe Abneigung.
Nun erfahren wir auch von einem Aufstande der Neger
auf Jamaika. Wären die Abolitionisten und die Pseudo-
Philanthropen für Vernuuftgründe und für die Lehren,
welche aus den Thatsachen herausspringen, irgendwie
zugänglich, fo würden sie zur Besinnung kommen. Aber
sie haben nur einige allgemeine abstraete Formeln und an
diesen halten sie fest. Sie begreifen nicht, daß die Sklaven-
emancipation, welche England vor nun 30 Jahren ins
Leben treten ließ, in der Art, wie sie ins Leben geführt
wurde, eine abscheuliche Grausamkeit war; einVer-
brechen nicht blos gegen die Weißen, sondern vor allen
Dingen gegen die Schwarzen, mit denen man in einer
heillosen Art experimentirte. Man war, trotz tausend-
jähriger Erfahrungen, in dem Wahne befangen, daß der
schwarze Mensch eben so geartet sei, wie der weiße, und
daß er die Freiheit in derselben Weise benutzen werde, wie
dieser. „Freiheit", — das war genug für Leute, die vom
anthropologischen, permanenten Unterschiede der einzelnen
großen Stammgruppen in der Menschheit keine Ahnung
hatten. In geradezu stupider Weise kehrten sie Allem,
was ihrer hohlen Floskel nicht entsprach, den Rücken, und
wir sehen schon seit Jahrzehnten die Bescheernng.
Daß Methode in der Tollheit ist, dafür liefern auch
die Abolitionsradikalen im Nankeelande wieder Beweise in
Hülle und Fülle. Wenn einst die Geschichte dieser Tage
n d auf Jamaika.
geschrieben wird, dann wird es heißen, daß es nie einen
verderblichem Fanatismus gegeben habe, als jenen der nord-
amerikanischen Abolitionisten. Jene in England, welche
zuerst ein Experiment wagten, das auf Barbarisiruug und
Verwilderung der Schwarzen hinauslaufen mußte, können
wenigstens anführen, daß sie in gutem Glauben handelten,
und mögen sich mit ihrer Unkunde entschuldigen. Das
können aber die Erterminatoren im Uankeelande eben so
wenig,, wie die Formelgläubigen in Deutschland, welche
nach derselben Melodie pfeifen.
Künftige Zeiten werden kaum begreifen, daß der Abo-
litionswahnsinn Millionen von Menschen den Kopf ver-
wirrt hat. Aber haben wir nicht auch erlebt, daß mau ein
ganzes Jahrhundert und länger an Heren glaubte und
unglückliche alte Weiber verbrannte? Das Wirtschaften
der Abolitionisten geht aus einer ähnlichen geistigen Ab-
spurigkeit hervor; der Abolitionismus, in feiner nordame-
rikanischen Form, ist eine psychische Seuche, eiue pseudo-
philanthropische Cholera, welcher hunderttausende von
Schwarzen erliegen, während die übrigen der Roth und
dem Rückfall in die Barbarei überantwortet werden.
Welch ein Jubel ging durch die Welt, als England
20 Millionen Pfund Sterling opferte, um feine schwarzen
Sklaven zu emaucipiren, denn von den weißen war keine
Rede. Und das Mitgefühl, das die Welt zeigte, war in
der That schön und menschlich, denn welche humane Seele
sollte nicht freudig erregt werden, wenn fo viele unserer
Mitgeschöpfe aufhören, anderer Menschen Sklaven, das
heißt willenlose Werkzeuge zu sein? Wie löblich ist, sie in
ihre gekräukte Menschenwürde wieder einzusetzen und ihnen
das Recht eigener, völliger Selbstbestimmung zu verleihen!
Leider spielte in dieses schöne und edle Gefühl ein
verhängnißvoller Wahn hinein. Man vergaß das
Wahrwort, daß Eines nicht für Alle paffe und
daß der Neger ein eigenartiger Mensch sei, auf den die
aus dem Leben uud der Geschichte der weißen Menschen
abstrahlten Formeln durchaus nicht passen. Der Ausspruch:
Der Negeraufst
„ein Mensch ist wie der andere", erscheint im Hinblick auf
die Geschichte, diese Lehrmeisterin des Lebens, ganz einfach
als eine platte Unwahrheit und auf diese Lüge hat man das
System des Abolitionismus gebaut! Die Folgen liegen
vor Augen.
Die erste und beste Emaueipation ist, daß
der Neger aus Afrika hinweggeführt wird, aus
dem Coutinente der Ursklaverei, des Fetischdienstes und
der Anthropophagie. Auf der westlichen Erdhalbe hat man
ihn auch als Sklaven behandelt, aber er ist unter andere
Menschen gekommen und hat arbeiten und auch seinen
Fetischdienst und seine Menschenfresserei aufgeben müssen,
denn er stand unter Controle. Uns fällt auch uicht eut-
fernt ein, die Sklaverei vertheidigen zu wollen, aber für
den Neger ist jene in Amerika gegenüber seinem afrika-
nischen Leben und Treiben ein wahrer Hochgewinn gewesen,
denn unter der, oftmals gewiß sehr harten, Aufsicht der
Weißeu ist er zum Menschen und, soweit sein Wesen es
erlaubt, auch zum Christen geworden. Und er, der in
Afrika unbesiegbar träge, wurde zur Arbeit angehalten
und erst dadurch zu einem nützlichen Gliede der menschlichen
Gesellschaft. Ich bin ferner weit entfernt, großen Werth
aus Heller und Pfennig und Thaler zu legen, oder den
Werth des Menschen nach den Pfunden Kaffee oder Baum-
wolle zu schätzen, welche zu produciren er mithilft; aber der
Satz steht fest: ohne Arbeit ist ein Mensch nicht nützlich;
und weiter steht fest, daß in tropischen Gegenden der Neger
nicht arbeitet ohne Zwang. Afrika und Amerika liefern die
Beweise dafür.
In allen heißen Gegenden, wo man den Neger der
Aufsicht der Weißen und dem Zwange zur Arbeit euthoben
hat, ist er mehr und mehr in einen Zustand der Barbarei
zurückgefallen und urafrikanisch geworden.
Welchen Gewinn hat nun der Neger selber, welchen
der weiße Mensch, welchen die (Zivilisation und Kultur
davon, daß der Neger wieder zum Afrikaner wird, mit seiner
Schlangenanbetung und allem Aberglauben des Fetisch-
Wesens, mit seinem Menschensressen, mit seiner Berwilde-
rung und seiner unbesiegbaren Trägheit?
Ist es eine Aufgabe für die civilisirten Menschen des
neunzehnten Jahrhunderts, Millionen von der Natur-
eigenartig geschaffener schwarzer Menschen, die im Laufe
einer sechstausendjährigen Geschichte gezeigt haben, daß sie
selber unfähig sind, sich zu bestimmen und zu Höherem
emporzuarbeiten, — ist es eine würdige, humane, recht-
schaffene Aufgabe, diefe schwarzen Menschen wieder
in die Barbarei zurückznschleudern? Sie wieder
zu Wilden werden zu lassen, weil eine abstraete, ganz und
gar unberechtigte und widersinnige Formel durchaus zur
Geltung kommen soll? Liegt darin Humanität? Geht
weg mit eurer bornirten oder erheuchelten Menschenfreund-
lichkeit, die noch weiter nichts gut Folge gehabt hat, als
schauderhaftes Unheil und Menschenopfer in ganzen Heka-
tomben!
Westiudieu ist seit der unheilvollen Emancipation zu
mehr als drei Viertheilen afrikanisirt worden. Die
Zahl der Weißen verringert sich in jedem Jahre, und was
producirt wird, verdankt man der Sklavenarbeit auf Euba
und theilweise Puerto rico, und ans den „freien" Inseln
vorzugsweise den asiatischen Kulis. Doch wir fassen
heute nur Jamaika ins Auge. Die englische Philan-
thropie und Politik wollte gerade dort „einen Staat
von Schwarzen für Schwarze" ins Leben rufen und
den Beweis liefern, daß die Emancipation nicht etwa eine
verfehlte gewesen sei. Die Neger wurden mit den Weißen
absolut gleichgestellt; reichlich vier Fünftel aller Aemter
id auf Jamaika. 213
sind mit Schwarzen und Farbigen besetzt; sie haben die
Mehrheit in der Legislatur; was sie sagen, thnn und an-
ordnen, das gilt, sie sind in der That und Wahrheit die
Herren.
Seit dreißig Jahren sind sie in jeder Beziehung voll-
frei und das Land kommt mehr nnd mehr in ihren Besitz;
alle Wünsche der Abolitionisten sind in so weit durchaus in
Erfüllung gegangen.
Aber was sind die Folgen gewesen? Lassen wir vorerst
die „Times" antworten, welche einst so heftig für die
unbedingte Emancipation gewirkt hatte.
„Der Neger hat zwar die Freiheit, aber nicht die Ge-
wohnheit des Fleißes und die Moralität erlangt. Seine
Unabhängigkeit ist wenig besser als die eines uneinge-
fangenen wilden Thieres. Indem er sich nur wenige Be-
schränkungen der (Zivilisation angeeignet hat, ist er nur
wenigen ihrer Anforderungen zugänglich. Die Bedürfnisse
seiner Natur siud so leicht befriedigt, daß bei den hohen
Arbeitslöhnen er nur gelegentlich und je nach Laune zu
arbeiten braucht. Die Schwarzen sind daher nicht intelli-
gente Landwirthe, sondern Landstreicher und Squat-
ters geworden. Es wird jetzt (1853) befürchtet, daß
durch Mangel an der gehörigen Bebauung der Insel auch
Mangel au deu uöthigeu Mitteln eintreten werde, um ihre
Bevölkerung zu erziehen und zu coutroliren."
Jamaika kam immer tiefer herunter und war nicht
mehr fähig, selbstständig seinen Bedarf für Verwaltung ?e.
aufzubringen. Der Abolitionismus hatte sich verrechnet,
und die Times gestand das auch ein:
„Zwanzig Millionen Pfund Sterling sind
ans dem Gehirn und den Muskeln der freien
englischen Arbeiter jeden Grades destillirt wor-
den, um den westindischen Neger in einen
freien unabhängigen Arbeiter zu verwandeln.
Frei und unabhängig genug ist er geworden,
das weiß Gott; aber ein Arbeiter ist er nicht
und wird es nie sein. Er singt Hymnen und
eitirt Bibelsprüche, aber ehrlichen ausdaueru-
den Fleiß hat er nicht, sondern den verab-
scheut er."
Jamaika hat etwa 440,000 Bewohner; davon sind nur
13,000 Weiße, 81,000 Mischlinge und 346,000 Voll-
blutneger. Ueber diese lauten die Urtheile gleichmäßig.
Hier sind einige derselben.
Anthony Trollope schrieb vor vier Jahren in seinem
bekannten Buch über Westindien: „Der Neger ist stolz auf
seine Kinder, wenn man sie lobt; aber er ist bereit, seine
Tochter für einen Dollar zu verkaufen."
Ein Gouverneur des uichtfklavenhaltenden Staates
Ohio, Wood, war 1853 auf Jamaika. Er sagt: „Seit-
dem die Schwarzen der Vollfreiheit genießen, sind sie
träge, unverschämt, entartet und unehrlich geworden. Sie
sind eine rohe, bestialische Menge von Vagabunden, die,
kaum bekleidet, auf den Straßen herumliegt, schmutziger
als die Hottentoten und ich glaube auch schlimmer als
diese."
Schon vor beinahe zehn Jahren habe ich nachgewiesen,
wie jammervolle Folgen gerade auf Jamaika die Emanci-
pation gehabt hat. (Eotta's deutsche Vierteljahrs-
schrift, 1856, I, S. 209 bis 244: „Umwandlungen im
Weltverkehr der Neuzeit; Eolouialwaareu, Eolo-
uialarbeiter und Sklaverei.) Ich schloß die Ab-
Handlung mit den Worten: „Wir sind, auch aus Philan-
thropie, ganz entschiedene Gegner der Abolitionisten, die
selber in einer kolossalen Lüge stecken und leider das
214 Der Negerausst,
Publikum mit dieser unheilvollen Lüge in einer wahrhaft
kläglichen Weise berückt haben."
Ich halte es für geeignet, gerade jetzt an einige That-
fachen wieder zu erinnern. Jamaika erntete 1801 an
Zucker 136,036 Hogsheads, 1808 schon 152,352. Bald
nach der Sklavenemancipation war, 1844, diese Ziffer auf
34,444 Hogsheads gesunken; weil die Neger nicht arbei-
teten; sie kam auch uie wieder über 45,000.
In Glasgow hielten im September 1852 viele Kapi-
talisten eine Besprechung über die westindischen Zustände;
auch Geistliche von der Insel waren zugegen. Man schickte
mir damals den Bericht zu: Depressed condition of our
Westindia Colonies; report of the proceedings at a public
meeting held in Glasgow, September 22, 1852. Gerade
die eifrigsten Abolitionisten machten lehrreiche Geständnisse.
Den früher erheblichen Anbau von Indigo, Kaffee und
Kakao hatte'man aufgeben müssen, weil die Neger theils
gar nicht, theils an ein paar Wochentagen nur einige
Stunden arbeiten wollten. Der Bürgermeister von Glas-
gow sagte in seiner Eröffnungsrede, die Zustände in West-
indien seien freilich über alle Maßen beklagenswerth: es
komme aber darauf au, dafür zu forgeu, daß
nicht andere Länder aus einer so kläglichen
Lage Vortheil zögen.
Ein Geistlicher schilderte diese Zustände: „Viele Pflan-
znngen sind ganz verlassen worden; die, welche noch be-
bestehen, hoffen aus bessere Zeiten, werden aber gleichfalls
in kurzer Zeit außer Betrieb fein, wenn nicht bessere Tage
kommen. Inzwischen wird keine Straße und kein Weg
ausgebessert; sie werden ungangbar; Abgaben sind nicht
zu erheben. Die Geistlichen und Lehrer ziehen sich zurück;
die Obiah- und Meiall-Männer, d. h. die Fe-
tischpriester, legen den Negern das Joch des
afrikanischen Aberglaubens wieder auf, und
wenn uicht eine gütige Vorsehung ins Mittel
tritt, so werden alle Missionsarbeiten und
Antisklavereibemühnngen ganz unfehlbar kei-
ueu andern Ausgang nehmen als Verwüstung
und Barbarei."
Für Jamaika stellten sich, wie aus amtlichen Berichten
nachgewiesen wurde, folgende Ziffern für die Ausfuhr
heraus:
Zucker. Rum. Kaffee. Werth.
Hogsheads Puncheons Pfund Pf. St.
1823 . . 110,924 . 41,046 . 18,792,000 . 3,192,637
1833 . . 95,353 . 35,505 . 17,645,602 . 2,791,778
1843 . . 42,453 . 14,185 . 17,412,498 . 1,213,024
Seitdem sind die Dinge noch viel schlimmer geworden,
selbst der Kaffeebau hat zumeist aufgehört, und die Einfuhren
sind kaum der Rede Werth.
„Wir sind erschrocken, zu sehen, wie das Volk (die
Neger) sich täglich mehr von der Erfüllung seiner religiösen
Pflichten abwendet, wie die Kinder in Trägheit heran-
wachsen, die zu Verbrechen führt; und nur mit tiefer
> auf Jamaika.
Betrübuiß können wir daran denken, welch ein
Gefchlecht jetzt heranwachst." So sprach in Glas-
gow ein abolitionistischer Geistlicher; er fügte hinzu: „at
tilg root of the whole matter is the indolence of the emau-
cipated population of the Westindies. Die Felder liegen
wüst, die Häuser verfallen, die Umzäunungen sind weg-
gerissen, die Maschinen stocken, und ich bin meilenweit über
Strecken geritten, die vor zehn Jahren in blühendem Anbau
waren. Jetzt bilden sie eine weite Einöde. Und so nnge-
mein rasch ist Alles zurückgegangen, die Ueppigkeit der
tropischen Natur hat schou dermaßen Alles überwuchert,
daß buchstäblich an manchen Stellen die Neger im Busche
suchen müssen, um den Eingang zu ihrer Hütte zu
finden. Der lahmgelegte Anbau und der schwindende
Handelsverkehr hat Verdummung, Raubsucht, Verbrechen,
kurz eine gesellschaftliche Degradation, eine unabwendbare
Barbarei im Gefolge, die fchon jetzt in kläglicher Weise
hervortritt."
So schilderte ein Abolitionist die Triumphe, welcher
die Abolitionisten sich rühmen können. Ist das eine Hnma-
nität, ist das eine Philanthropie! Jetzt haben die Neger
aus Jamaika keine Steuern zahlen wollen, Mulatten und
Weiße abgeschlachtet, und dann sind englische Solduten
gekommen und haben die beklagenswerthen Opfer des
pfeudophilautropifcheu Wahus und einer hirnlosen Politik
zu Hunderten niedergeschossen. Dadurch werden sie den Fort-
gang der Barbarisirnng Westindiens nicht aufhalten, und
in Nordamerika werden sich, in Folge der abolitionistifchen
Verrücktheit, ähnliche Auftritte wiederholen.
Bei dem Unheil, welches die Fanatiker und die von
ihnen bethörten Unkundigen anrichten, und gegenüber den
unklaren und verschwommenen Ansichten, die auch in einem
Theile des durch hohle Phrasen und Floskeln irre geleiteten
Publikums bei uns in Deutschland herrschen, und bei der
bedauernswertheu Unknnde, durch welche sich der bei weitem
größte Theil unserer Tagespresse kennzeichnet, sobald es
sich um ethnologische und anthropologische Fragen handelt,
muß, gerade von liberaler Seite her, betont werden, wie
unheilvoll für die Kulturentwicklung die abolitionistische
Seuche schon gewirkt hat.
„Ich lasse mich durch salbungsvolle Redensarten nicht
irre führen; ich bin in innerster Seele von der Ueber-
zeugung tief durchdrungen, daß nie ein frevelhafteres Spiel
getrieben worden ist, als das, in welchem die Abolitio-
nisten sich gefallen; diese „Negerfreunde", welche
aber in der That und Wahrheit die ärgsten
Feinde sind, welche der arme afrikanische
Mensch jemals gehabt hat, und die er ver-
wünschen müßte, wenn er verständig genug
wäre, die Diuge in ihrem rechten Zusammen-
hange zu überblicken."
So schrieb ich vor zehn Jahren und so denke ich noch
heute. Und welche Bestätigung für diefen Ausspruch
liefern jetzt die Staaten von Nordamerika! — A.
Die ostrussische Eisenbahn zwischen Europa und Sibirien von Perm nach Tjumen.
215
Die ostrussische Eisenbahn zwischen Euro
Wir verdanken der Güte des Herrn Staatsraths von
Schiefner in St. Petersburg die Zusendung einer Schrift,
die sehr interessante Mittheilungen enthält. Sie führt deu
Titel: „Russische Landschafts- und Lebensbilder", ist zu
Reval in Esthland gedruckt und von F. Russow verfaßt
worden. Der Verfasser unternahm eine Reise zu berg-
männischen Zwecken vom Finnischen Meerbusen bis zur
Ostseite des Ural, ging dann gegen Südwesten bis zur
Mündung des Don und kehrte nordwärts über Moskau in
seine Heimat zurück. Insbesondere wandte er fein Augen-
merk auf die unerschöpflichen Erzreichthümer des Ural, auf
die endlosen Wälder dieses Gebirges, auf das über hunderte
von Meilen weit verzweigte Flußsystem, welches dem
Hüttenbetriebe nicht nur die wohlfeilste Arbeitskraft dar-
bietet, fondern auch dessen Erzeugnisse zweien Welttheilen
zuträgt.
Die uralischen E isenerze begleiten das Gebirge in
seiner ganzen Längenerstreckung uud zwar die Magneteisen-
erze mit einem Metallgehalte von 55 bis 72 Procent vor-
wiegend am Ostabhang, die übrigen Eisenerze dagegen mit
30 bis 69 Procent Gehalt bilden den Hauptreichthum des
Ural und liefern jetzt 27 Millionen Pud (zu je 40 russ.
Pfund), während jene nur etwa 7 Millionen Pud geben.
Neben dem Waldreichthum sind fchon vor 50 Jahren Stein-
kohlen entdeckt, aber bis jetzt fo sehr vernachlässigt worden,
daß 1863 auf deu die Kama befahreudeu Dampfern noch
keine Kohle verwendet wurde.
Die uralischen Metalle werden noch immer auf den
alten zeitraubenden intb gefährlichen Wegen nach Europa
verführt, uud zwar aus deu nördlichen und mittleren Berg-
bezirken längs der Tfchuffowaja, aus den südlichen auf
der Bje'faja. Die Metalle werden im Winter bis zu den
an beiden Flüssen liegenden Landungsplätzen gefahren,
oder auf weit oberhalb derselben gezimmerten Barken, deren
jede ein Gewicht bis zu 10,000 Pfund trägt, rechtzeitig
befrachtet, damit sie die kurze Zeit des Hochwassers benutzen
können.
Besonders wichtig ist die T f ch n f f o w a j a, auf
welcher nicht nur die größten Massen der uralischen Metalle,
sondern auch die Ausfuhrwaren Westsibiriens befördert
werden, insbesondere der Talg. Aber fo gefahrvoll ist die
Flußfahrt, daß eiu Zwölftel der Fahrzeuge Schiffbruch
leidet oder untergeht. Der Strom zieht zwischen steilen,
mehr als 200 Fuß hohen Felsenufern hin und hat mehr als
einhundert Untiefen; das Frühlingshochwasser schwindet in
zwei bis drei Tagen, und doch i]t diese Zeit die einzige, in
welcher die großen Lasten stromabwärts befördert werden
können. Leute, welche auf diesen Barken-Karawanen
gewesen sind, bezeichnen die Fahrt als ein „Gott versuchen",
und alle Schiffsführer bekreuzen sich freudig zum letzten
Male, wenn sie nach etwa achttägiger Fahrt der Thürme
von Perm ansichtig werden.
Hier strömt die Kama; hier werden auch die sibirischen
und uralischen Erzeugnisse aus größere Fahrzeuge gebracht
und zumeist von Schleppdampfern weiter gezogen. Sie
können nach Kasan in 27 bis 30 Tagen, Wolga aufwärts
bis Nischni Nowgorod in 45 bis 48, uud bis Petersburg
auf dem Marienkanale in 106 bis 140 Tagen gelangen;
und Sibirien von Perm nach Tjumen.
jene, welche Wolga abwärts gehen', kommen in 75 bis 80
Tagen nach Astrachan.
Bei solchen Transportverhältnissen ist der Gedanke an
die Herstellung einer uralischen Eisenbahn unabweis-
lich. Die Richtung ist von der Natur uud dem Maaren-
zuge vorgezeichnet. Im Westen muß sie bei Perm an
der Kama beginnen, mehre Gebirgsdistrikte durch-
ziehe« uud bei Tjumen an der Turä auslaufen.
Sobald man die Metalle das ganze Jahr hindurch nach
beiden Punkten schaffen kann, ist es möglich die Schifffahrt
auf Kama, Wolga und den uralischen Gewässern vollständig
auszunützen und so einen regelmäßigen und raschen Absatz
zu erzielen, während jetzt das auf deu Betrieb verwandte
Kapital erst nach 18 Monaten umgesetzt ist. Der Hütten-
betrieb wird erleichtert, die Hütten erhalten wohlfeilern
Brennstoff, die Kohlengruben können ausgebeutet werden,
Kohlen selbst vom Don und vom Jrtysch zu ihnen gelangen,
denn nördlich von Semipalätinsk sind ausgezeichnete Lager
gefunden worden.
Die Uralbahn würde auf europäischer Seite durch
Kama, Wolga und Don mit dem Baltischen, Kaspischen
und Schwarzen Meer in Verbindung treten, aus der asia-
tischen Seite den Anschluß an die Flüsse Tnrä, Tvbol,
Jrtysch uud Ob vermitteln. Sobald der nur 90 Werst
breite Landstrich zwischen Ket und Angara durch einen
Kanal oder eine Eisenbahn überwunden ist, kann sie auch
den Baikalsee nebst der Selenga bis Selenginsk in das
Bereich ihres Verkehrs ziehen. Dann bliebe nur noch eine
Strecke von 726 Werst, also etwa 100 deutschen Meilen,
von Werchne udiusk bis Nsrtschiusk zu überschienen,
um durch die Schilka uud den Amur die großartige
Verbindungslinie am Stillen Weltmeer ausmünden zu
lassen.
Welch eine Perspective!
Der russische Nordosten hat „Zukunftsstädte", die aber
schon in der Gegenwart ihre Bedeutung haben. Den
Centralpunkt der Uralbahn wird Tagil bilden; die End-
punkte werden, wie schon bemerkt, westlich Perm, östlich
Tjumen sein; der berühmte Meßort Jrbit foll eine etwa
10 Werst lange Zweigbahn erhalten. Der letztere und
Tjumen sind Rivalen. Es handelt sich darum, ob die
Niza, an welcher Jrbit liegt, und die feit eiu paar Jahren
von Dampfern befahren wird, sich für eine regelmäßige
Schifffahrt brauchbar bewährt. Tjumen aber ist durch
feine Lage am Knotenpunkt aller Wasferver-
bindungen Sibiriens mit dem Westen Haupt-
stapelplatz für die über Rußland gehenden
sibirischen und chinesischen Waaren. Werden nun
die beiden Wasserstraßen, Kama uud Tur-i, welche die
asiatischen und europäischen Waaren einander zum Aus-
tausch entgegen führen, durch die Uralbahn verbunden, so
liegt für Jrbit die Befürchtung nahe, daß die Messe,
welche bisher diesen eolossalen Austausch vermittelte , nach
Tjumen hinübergezogen werden könnte. Denn es ist ja
lediglich die Folge der gegenwärtigen Eommunicationsver-
Hältnisse, daß die beiderseitigen Waarenzüge sich im Februar
in Jrbit treffen und Anlaß zu der großen Meffe geben.
216 R. v. Dürrfeld: Ausflr
Im Jahr 1860 wurde der Entwurf zur Uralbahn
bekannt. Sofort wurde der wasserreiche Frühling von 1861
von irbiter Dampfern benutzt, um die Niza, welche schon
vor 39 Jahren einmal officiell unter die schiffbaren Flüsse
gerechnet worden war, in diesem Range zu rehabilitiren.
In der That setzte ein kleiner Dampfer ohne Unglücksfälle
über Mühlwehre und andere Hindernisse hinweg, und die
Riza wurde abermals für schiffbar erklärt, und 1863
eröffnete eine Eompagni'e regelmäßige Fahrten bis
Tobolsk und Tomsk. DieTjumeneraberintriguirten,
und in Folge dessen erhielten die beiden Dampfer ihre
Rückfrachten im Herbste viel zu fpät, so daß sie vor dem
Zufrieren der Flüsse Jrbit nicht mehr erreichen sollten.
Da aber der Ruf von Tjumen nnd ein fo großes Interesse
auf dem Spiele stand, so erzwang wenigstens einer der
Dampfer, indem er sich den Weg durch das neue Eis
bahnte, die Fahrt, obwohl mit Verlust eines Schaufelrades.
,,Es ist freilich ein Kampf um das Leben, denn Jrbit
existirt seit seinem zweihundertjährigen Bestehen nur durch
die Messe. Tragen doch die 800 Häuser der Stadt, wo-
von nur etwa ein Fünftel aus Stein aufgeführt sind, statt
der gewöhnlichen Monatsmieten von 3 Rubel für ein
ganzes möblirtes Haus (!) den etwa 3400 Einwohnern
zur Meßzeit die Summe von mehr als 50,000 Rubel
ein, während der Stadtkasse an Budeumiethen über 26,000
Rubel zufließen."
Die Bedeutung der Messe für eine Uralbahn ist nicht
: im nördlichen Kleinasien.
gering zu schätzen. Von 1820 bis 1840 ist die Summe
der nach Jrbit angeführten Waaren von 2 bis auf 10 Mil-
lionen gewachsen, bis 1845 hatte sich diese Summe schon
verdoppelt, und obwohl auch in Tjumßn ein Jahrmarkt
begründet wurde, ist dieser Waarenstrom in stetem Wachsen
begriffen, so daß gegenwärtig die Ziffer von mehr als
50 Bällionen erreicht worden ist.
Perm, auf der Westseite des Ural, liegt etwas unter-
halb der Tschussowaja-Mündung und vermitttelt den An-
schluß der Kamaschifffahrt an den Landtransport über
Katharinenburg, das, 1723, gleichzeitig mit ihm gegründet
wurde. Beide sind ans einem Sawod hervorgegangen,
indem die benachbarten Kupfersandsteinlager die Veran-
lassung zum Anlegen einer Hütte boten. Allmälig wurde
die Stadt größer, aber die Bevölkerung ist noch jetzt eine
fluetuirende und der Anblick des Ganzen ist der einer
Landstadt. Die Fußwege sind Bohlenwege, sogenannte
Klavierstraßen. In der schönen Kathedrale befindet sich
ein von der Stadt zum Gedächtniß an die Emancipation
der Bauern gestiftetes Crueifir, das aus einem einzigen,
mit allen Edelsteinen des Ural umsäumten Rauchtopas von
seltener Größe besteht und einen 18 Pfund schweren, silber-
nen Fuß hat. An der Kama herrscht reges Leben. —
Für Rußland kommt Alles darauf an, Verbindnngs-
Wege herzustellen. Sobald es sich diese in großartiger Aus-
dehnung schafft, kann es mehr als ein Californien in sich
erschließen.
Ausflüge im nör
Von Richard
Lidjeny bei Karahissar, August 1865.
Von Konstantinopel und dem herrlichen Bosporus
schweige ich: Das ist zu bekannt, und ich beginne mit dem
Hasen Kerasunt, von wo der hierher führende Weg sich
ins Innere wendet. Dieses Städtchen ist, vom Meer aus
gesehen, eines der hübschesten an der Küste und auch im
Innern freundlicher und reinlicher, als die übrigen tür-
kischen Ortschaften.
Es liegt in einer weiten Bucht, die aber durch ein hohes
Vorgebirge in zwei Theile getheilt wird; alfo eigentlich ans
einer kleinen Halbinsel. Am steilen Gesels thronen die
Ruinen des alten genuesischen Forts, und das Städtchen
breitet sich zu beiden Seiten desselben an den Buchten aus.
Als Hafen dient die westliche; er hat aber als solcher wenig
Werth, so daß bei herrschendem Nordwind oder bei stür-
Mischer See selbst die Dampfer nicht anzulaufen wagen,
und daher die für Kerasunt bestimmten Briese und Waaren
oft mit nach Trapeznnt wandern und erst bei der Rückkehr
abgeliefert werden. Manchmal gehen sie sogar wieder bis
Samsun, von wo endlich ein anderes Schiff sie an ihren
*) Herr v. Dürrfeld aus Dresden verweilt seit einiger
Zeit im nördlichen Kleinasien. Er ist ein ausgezeichneter Berg-
mann, welcher früher in Peru die Arbeiten in der berühmten
Silbergrube von Morococha leitete. Dem größern Publikum
wurde sein Name in Folge der bekannten Katastrophe des ham-
burger Dampfers „Austria" bekannt. Herr v. Dürrfeld war
einer der Wenigen, welche gerettet wurden; er war fast 39
Stunden im Ocean umhergetrieben worden. A.
lichen Klrinasien.
Dürrfeld.*)
Bestimmungsort bringt, wenn es kann, sonst spielt dasselbe
Stück von Neuem. Die Landung selbst ist beschwerlich
Wegendes seichten Ufers, und gewöhnlich muß man sich
ans dem Kahne tragen lassen; denn Landungstreppen oder
dergleichen gibt es gar nicht. Um den Hafen herum liegt
der bessere, meist von Armeniern bewohnte Theil der Stadt,
während der östliche eine fast ausschließlich türkische Bevöl-
kerung hat; ein dritter, am Fuße des Vorgebirges gelegener
Theil war früher mit von den Mauern der Festung ein-
geschlossen, wahrscheinlich die ursprüngliche Stadt, und
wird jetzt ausschließlich von Griechen, meist Fischern, be-
wohnt. Hier sind auch zwei alte interessante Kirchen: die
eine in einer Höhle am Fuße des Schlosses wird noch zum
griechischen Gottesdienst benutzt. Sie steht durch einen
unterirdischen Gang, der hinter dem Altar beginnt, mit
einer in Felsen gehauenen Halle in Verbindung, die wäh-
rend der Zeit der türkischen Verfolgungen wohl als Betsaal
und Zufluchtsort gedient haben mag; die andere ist eine
kleine in rein byzantinischem Styl erbaute Kapelle. Ob-
gleich dieselbe jetzt leider nur noch eine Ruine genannt
werden kann, sieht man doch noch einige zierlich geschnörkelte
Säulen an den Altarplätzen, hie und da halbverwischte
byzantinische Wandgemälde und Arabesken auf Thon-
platten, die an die Alhambra erinnern. Jetzt ist Alles
dies mit Ephen überwachsen, was viel zur Schönheit der
Ruine beiträgt.—
Als Handelsplatz ist Kerasunt unbedeutend, da wegen
R. v. Dürrfeld: Ausfl
der immer mehr sich verschlechternden Wege von hier nach
dem Innern selbst der Transit sich sast gänzlich nach Tra-
peznnt gezogen hat. Die Ausfuhr ist ganz unbedeutend.
Wälsche- und Haselnüsse sind die Hauptartikel, welche hier
allerdings in ausgezeichneter Güte wachsen. Die Bevöl-
kernng mag 2500 Seelen betragen und besteht meistens
aus Fischern und Landbauern. Von türkischen Behörden
hat ein Kaimakan mit seinem Rath hier seinen Sitz, eben
so die nöthigen Zollbeamten; von Fremden leben nur die
Agenten der russischen und französischen Dampfschiffe,
sowie ein französischer Doetor und Apotheker in Kerasunt.
Nach Karahissar gibt es zwei Wege; der eine im
Thal des Karasu hinauf, der andere, wie man sagt bessere,
aus den Höhen sich hinziehend; doch ist derselbe nur int
vollen Sommer zu benutzen, da er die Höhen von Karajöl
zu passiren hat, die bis in den Juli mit tiefem Schnee
bedeckt sind. Ich mußte deshalb denjenigen wählen, welcher
am Fluß hinaus führt. Anfangs zieht er sich eine Stunde
lang östlich am Meeresufer hin, meist zwischen Plantagen
von Haselnüssen, und ist da noch ziemlich gut; sobald man
aber in das Thal des Karasu einbiegt, den man sechszehn
Stunden bis an seine Quellen verfolgt, beginnt die berüch-
tigte Beschaffenheit der Straße. In der Türkei selbst ist
sie als die schlechteste in Kleinasien verrufen! Was das
heißt, davon kann sich ein Europäer keinen Begriff machen.
Bald geht es so bergans, daß man in Gefahr schwebt,
hinten vom Maulthiere hinabzugleiten, bald wieder bergab,
fo daß man über den Kopf herunterfallen möchte, jetzt hoch
am Felsen auf wenig Fuß breiten Pfaden, dann wieder
unten am Flusse über sumpfige Wiesen. Dazu ist der
größte Theil des Weges einst gepflastert gewesen, — wahr-
scheinlich zur Zeit als die Genuesen ihn als ihre Straße
nach Persien benutzten, — jetzt sind davon nur einzelne
Felsblöcke übrig, und neben diesen gähnen tiefe Löcher,
ungefähr wie auf der Straße über die Landenge von
Panama.
Aber nun erst gar im Walde! Da liegen hunderte von
Stämmen quer über den Weg und man muß darüber weg-
klettern, wenn nicht etwa ein mitleidiger Maulthiertreiber
ein Stück aus dem oft 3 und 4 Fuß starken Stamme her-
ansgehanen hat, gerade weit genug, daß man hindurch
kann. Dreimal überschreitet man den Fluß auf steinernen
Brücken, die aber im volleu Zirkel, einige sogar im Spitz-
bogeu gewölbt sind, so daß sie sich nnnöthig weit über den
Fluß erheben und eine mühsam zu passtrende Höhe bilden.
Da das Thal meist sehr eng ist, ja sogar im höheren Theile
nur eiue Schlucht genannt werden kann, so ist wenig Boden
für den Ackerbau vorhanden; doch das Wenige ist ziemlich
sorgfältig angebaut und bewässert. Dagegen trifft man
viele und schöne Obstbäume, namentlich Nüsse, Kirschen
und Birnen. Dörfer und Weiler sind spärlich. Als die
hauptsächlichsten nenne ich Arpa, Ditreikair, Kntülmusch,
Samailkene k.
Desto mehr Khans findet man am Wege, diese soge-
nannten Einkehrhäuser, die natürlich nichts bieten, als ein
oft sehr problematisches Unterkommen gegen den Regen.
Alles muß man bei sich führen; als Seltenheit gibts etwas
Reis zum Pillaw und eine Art sauerer Milch. Dagegen
fehlt es nie an jeder Art von Ungeziefer, und im Sommer
zieht man innner vor, im Freien 311 campiren. Sonst
sehen die Häuser von fern oftmals sehr nett aus und erin-
nern an die bekannten Tyrolerhütten. Dieselbe Einrich-
tung findet sich hier wie dort. Unten der Viehstall, darüber
die Zimmer, von einem überspringenden Gang umgeben,
und das flache Dach mit Brettchen gedeckt, die aus Mangel
an Nägeln durch daraufgelegte Steine festgehalten werden.
Globus IX. Nr. 7.
e in: nördlichen Kleinasien. 217
Ueberhaupt haben viele Stellen dieses Thales Aehnlichkeit
mit den schönen tyroler Felspartien. Bald zeigen sich
sorgfältig den Gehängen abgewonnene Felder, bald der-
gleichen Wälder von Nadelholz auf den Höhen, dann,
wenigstens aus der Ferne nett erscheinende, Häuschen an
den Hängen zerstreut, und auch grasende, mit Glocken
behängte Rindviehheerden fehlen nicht. Dagegen fehlen
die Gletscher und der Wohlstand, der dort herrscht.
Statt der Tyroler mit breitem Hut sieht man Türken
mit dem abscheulichen Fes, oder sonstiges Gesindel vorüber
gehen, und die Blumen, welche man hier sieht, versetzen
uns in ein südlicheres Land. Fast alle unsere Garten-
blumen, wie Tulpen, Päonien, Lilien:c. wachsen wild, die
Obstbäume sind schlanker und nicht so knorrig wie bei uns,
und die Sonne brennt mächtig heiß in diesen: engen Thale.
Man passirt viele hübsche Punkte und Aussichten,
doch läßt der schlechte Weg nicht viel Zeit zu Naturbetrach-
tungen; man muß immer auf sein Thier Acht geben, seinen
Körper durch die überhängenden Sträucher hindurch manöv-
riren, und oft zieht man es selbst vor, lieber zu Fuß zu
gehen, als zu reiten, weil der langsame Schritt der Maul-
thiere mit der Zeit sehr ermüdend wird.
So geht es im Thale vierzehn Stunden hinaus, bis
man sich dem Gebirge nähert und der Wald beginnt. An-
fangs fand ich Eichen, dann Buchen und zuletzt Nadelhölzer.
Die Rücken des Gebirges selbst sind kahl. Aber was für
Bäume sah ich dort: Buchen von 5 und 6 Fuß Durch-
messer, Fichten, die von vier Mann nicht umspannt werden
können, und Kiefern, aus denen freiwillig die Harze her-
ausrinnen. Man möchte es Urwald nennen. Und Alles
dies bleibt unbenutzt, etwas Weniges fällen die Dorf-
bewohner zu Bau - und Feuerholz, oder höchstens haut ein
Türke den schönsten Baum nieder, um daraus ein paar
Bretter zu spalten, der Rest bleibt liegeu und verfault.
Tausende und aber tausende der schönsten Bäume, vom
Wind oder Alter niedergebrochen, liegeu so da, denn des
Weges halber ist an Transport nach der Küste nicht zu
denken. Wollte aber Jemand Theerfabrikation oder Pot-
aschesiederei anlegen, so würde die Regierung, welche sich
alle diese Wälder aneignet, eine Unsumme als Pacht ver-
langen, das ist einmal türkischer Brauch. Mau läßt Alles
gern zu Grunde gehen, wenn der Schatz des Kaisers nicht
viel bei einer Verwerthnng gewinnen kann.
Drei Stunden reitet man durch deu Wald, begleitet
von Kawassen (Gensdarmen), weil die Gegend nicht ganz
sicher ist. Kürzlich erst wurde eiu für Kerasunt bestimmter
Geldtransport von Räubern, wahrscheinlich Kurden, ange-
fallen und nur durch die gute Haltung der ihn begleitenden
zehn Kawassen gerettet; zwei davon sind geblieben, dagegen
auch vier Räuber verwundet und dadurch gefangen worden;
sie erwarten ihr Urtheil in Kerasunt. Der Weg ist hier
das Non plus ultra des Schlechteu. Größlentheils besteht
er aus halbverfaulten Knüppelstämmen, auf denen die
Thiere oft bis an die Sattelgurte in den rothen Lehm ver-
sinken. Man dankt seinem Schicksal, wenn man das Hoch-
gebirge erreicht hat, wo der Pfad zwar steinig, aber fest ist.
Noch einmal muß man in ein Thal niedersteigen, worin
das kleine Dorf Gümpst liegt; dann erklimmt man den
höchsten Rücken, der hier eine beinahe zwei Stunden breite
fast ebene Fläche bildet und Kasakayanea heißt. Seine
Höhe über dem Meere mag gegen 6000 Fuß betragen.
Dieser Gebirgszug läuft ungefähr von Südwest gegen Ost-
Nordost, also fast parallel dem Antitaurus, von dem er
durch deu später zu erwähnenden Fluß von Karahissar
getrennt ist. Aus allen Karten ist der Lauf der
Flüsse und Gebirge in diesem Theile ganz
218
R. v. Dürrfeld: Ausflüge im nördlichen Kleinasien.
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H». M,
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falsch, und ich bin dabei, eine kleine Karte
dieser Gegend aufzunehmen.
Wie schon gesagt sind die Höhen ganz kahl, dagegen
mußten wir im Juni noch manche Strecken Schnee Yassiren,
welcher an manchen noch höheren Punkten erst im August
(manche Jahre auch gar nicht) fortschmelzen soll. Vom
Hauptrücken senken sich nun eine Unzahl kleinerer Thäler
hinab, deren Wasser alle dem großen Fluß von Karahissar
zufallen, der, nachdem er einen Ungeheuern Bogeu beschrie-
beu hat (seine Richtung ist hier bei Lidjessy südlich, bei
Karahissar selbst südwestlich, später westlich und zuletzt
nördlich), sich östlich von Samsun unter dem Namen
Jeschyl Jrmak ins Meer ergießt. Auf dieser Seite fehlen
die Wälder fast gänzlich, wohl wegen der vielen Dörfer,
die hier herumliegen. Wenn die Bevölkerung im Thal
des Karasu, wie fast an allen Hauptstraßen und allen
Plätzen von Bedeutung ausschließlich Türken sind, so besteht
sie hier fast nur ans Griechen, die sich früher in diefe Thäler
und Schluchten geflüchtet haben mögen. Bon Erhaltung
eines Waldes, oder gar Anpflanzen desselben besitzen sie
aber keine Ahnung, so daß die Thäler kahl und monoton
und hübsche Aussichten sehr selteu sind.
In einem dieser Seitenthäler, % Stunden vom Dorfe
Lidjessy, liegeu die Gruben und Werke, deren Eiurich-
tung mir setzt obliegt. Die Lagerstätte ist ein ziemlich
mächtiger Gang, der in durch Porphyre metamorphisirtem
Sandstein aufsetzt; die Erze sind grobe Geschicke, wie man
sie in Freiberg nennt, d.h. Bleiglanz mit Blende und aller-
Hand Kiesen, mit einem durchschnittlichen Gehalt von
50 Pfd. Blei und 12 Pfd. Silber im Centner.
Die Förderung ist jetzt circa 59 Cutr. per 7 Ngr.,
kann aber leicht verdoppelt werden. In jedem andern
Lande als hier wären also die Aussichten sehr gut, allein
wir sind eben in der Türkei! Selbst die neuen
Berggesetze treten unserm Gewerbe störend in den Weg,
andere Hindernisse sind aber von noch größerm Einfluß:
vor allen: das Brennmaterial. Das Holz nmß gegen fünf
Stunden weit auf Maulthieren hertransportirt werden, die
Wege nach dem Walde sind sehr schlecht und nur vom Mai
bis Oktober, des Schnees halber, ausnutzbar.
In diesen fünf Monaten muß also der Bedarf für das
ganze Jahr herbeigeschafft werden. Brannkohlenlager,
die ich kürzlich bei Karahissar entdeckt habe,
werden viel helfen, doch bleibt immer die Schwierigkeit des
Transportes. Die Arbeiter sind knapp und schlecht; außer
Holz nichts in der Nähe zn bekommen. Alles muß von
Konstantinopel verschrieben werden, selbst der größte Thcil
der Lebensnüttel. Maschinen sind kaum zu beschaffen;
kurz, es ist von allen Ländern, die ich kenne, das, wo am
schwierigsten zu arbeiten ist; es ist hier ärger als selbst in
Peru. Fängt aber das Geld zu fehlen an, so ist gar nichts
zu thun.
Das Dorf Lidjessy selbst bietet einen eigentümlichen
Anblick dar; die Häuser haben alle flache Dächer, was in
einem solchen Klima, wo über sechs Monate im Jahr
Schnee fällt, wirklich Wunder nimmt. Freilich werden sie
an Abhängen erbaut und sind halb in denselben vergraben;
die Wände bestehen aus rohen mit Erde verbundenen
Steinen, auf denen, sowie auf den im Innern befindlichen
Säulen das Dach ruht, welches als Deckung nur eine leh-
mige Erde hat, die durch eine steinerne Walze, welche darauf
herumgerollt wird, wasserdicht gehalteu werden soll, was
aber meistens nur stellenweise gelingt.
Ganz trocken sind die Dächer nie, und ich begreife nicht,
wie so viele Menschen in einem solchen Hanse zusammen
leben können, ohne öfter krank zu werden. Gewöhnlich
findet man die ganze Familie darin vereinigt: Großeltern,
Kinder, Enkel, Schafe, Ziegen k., nebst allem Hausrath,
der allerdiugs höchst spärlich ist. Ein paar alte Teppiche
oder Matten, einige mit Stroh gefüllte Matrazen, das
Milchgeschirr, ein paar kupferne Kessel, eine oder mehre
Wiegen und höchstens ein kleiner niedriger Tisch, der aus
einem Stück gearbeitet ist, bilden das ganze Hansgeräth.
Einige Steine in einer Ecke vertreten den Kochheerd, von
dein sich der Rauch durch eius der kleinen viereckigen Löcher,
die als Fenster dienen, einen Ausweg sucht. Warm sind
diese Häuser allerdiugs im Winter und kühl im Sommer.
Das ist aber auch sehr nothwendig, denn ersterer ist aus-
nehmend streng und letzterer zu gewissen Zeiten gewaltig
heiß; im Allgemeinen muß man aber das Klima sehr rauh
nennen, wozu hauptsächlich die fast immer wehenden starken
Winde beitragen. Bis Mittag bläst gewöhnlich der Süd,
kurz nach Mittag beginnt aber fast alltäglich der Nordwind,
der immer sehr heftig ist und oft als förmlicher Sturm
daherbraust. So sehen alle griechischen Dörfer
aus, die hier herum liegen. Ich nenne von ihnen nur
Asalchik, Göneck, Katahor :e. Die bedeutendsten türkischen
Ortschaften nach Karahissar hin heißen Tamsara, Kara-
keni und Seders; sie machen einen angenehmen Eindruck
und sind reinlicher als die der Griechen, aber die Bauart
der Häuser bleibt sich bei beiden gleich. Diese Dorf-
bewohner beschäftigen sich hauptsächlich mit Viehzucht und
Ackerbau, so viel die steilen Hänge der Thäler es erlauben,
doch verdienen sie auch etwas Geld als Maulthiertreiber.
In den Dörfern um uns herum gibt es über 400 dieser
Thiere. Trotzdem bleiben die Bauern arm, deun die Ab-
gaben au die Regierung sind für sie kaum zu erschwingen;
da gibt es Steuer auf alle Lebeusmittel, aus Vieh und
Pferde, bei jedem Kauf muß sowohl Käufer als Verkäufer
eiue Abgabe entrichten, ja selbst beim Tausche streckt der
Steuereintreiber seine Hand aus> vom Getreide wird der
Zehnte in natura erhoben, und dabei herrscht noch das Ge-
setz, daß dasselbe uicht vom Felde fortgeführt werden darf,
bis dies geschehen, wodurch die Bauern oft die ganze Ernte
verlieren. Daher wird auch nicht mehr angebaut, als was
jede Familie braucht. Selbst jedes Hufeisen muß
Steuer zahleu; es ist so arg wie jetzt in Nordamerika.
Unsere Landleute leben daher sehr schlecht. Ihre Haupt-
sächlichste Nahrung ist Brod und Milch, da aber nach ihrer
Religion, nämlich der griechischen, beinahe 200 Fasttage
i>u Jahr sind, so bleiben sie gewöhnlich nur auf ersteres
augewiesen, das sie dann durch Honig oder Oel genießbar
machen. Gemüse gibt es fast gar nicht, Fleisch kommt nur
bei besonderen Gelegenheiten vor. Von Spirituosen wird
ein Schnaps aus Maulbeeren gebrannt (Raki), der aber
einen unangenehmen süßlichen Geschmack hat. Alle Lebens-
niittel sind im Ganzen billig, hier haben sie, seit der Berg-
bau begonnen hat, den doppelten Preis erreicht. Daß bei
solcher Lebensweise die Arbeiter nicht viel Kräfte und Aus-
dauer haben können, ist natürlich, wie ich leider alltäglich
in Erfahrung bringe.
Was die Kleidung anlangt, so tragen die Männer
Jacken und kurze Hoseu aus grobem braunen Wollenzeug,
das sie selbst verfertigen, hohe wollene Strümpfe und als
Schuhe ein Stück Rohhaut mit Riemchen um den Knöchel
befestigt. Auf dem Kopse sitzt das Fes, welches durch ein
darum gelegtes Tuch einem Turban gleich erscheint. Die
Frauen tragen weite Pumphosen, darüber eiuen kurzen
Rock, einen Spenser und um den Kopf ein Tuch, das bis
in die Taille und noch weiter hinabreicht. Männer und
Weiber führen gleicherweise einen dicken Shawl um den
Leib. Für gewöhnlich besteht der Anzug iu Lumpen, und
R. v. Dürrfeld: Ausfli
nur bei festlichen Gelegenheiten, wie beim Feste von Peter
und Paul, gehen sie rein und nett gekleidet. Die Burschen
haben dann hübsche gestickte Wämser, Hosen von feinem
Zeug, neue Shawls zc. Die Frauen aber nehmen sich
wirklich nett ans. Die Höschen sind von krapprothem
Zeug, der Rock ist von Seide, eben so Shawl und Kopf-
tnch, und eine Menge Geschmeide von Münzen aus Gold,
Silber und anderm Metall bis zu nürnberger Rechen-
Pfennigen, hängt und klirrt amKopf, Hals und am Gürtel.
Daun sind sie auch nicht so verhüllt wie gewöhnlich und
man sieht viele hübsche Gesichter, während sie sich sonst bei
der Annäherung jedes Fremden vermummen und ihm
sogar den Rücken zukehren. Sie stehen überhaupt auf
einer sehr Niedern Stufe und werden von ihren Männern
gänzlich als Sklavinnen behandelt. Niemals essen sie mit
denselben an einem Tisch, und in Gegenwart von älteren
Männern dürfen sie gar nicht sprechen; Alles geht durch
Zeichen, so daß ich sie anfangs für stumm hielt. Bei einem
Fest hingegen dürfen sie etwas freier sein; kein Wunder
also, daß sie Alle dabei erscheinen.
Aus dem Peter und Paulsfeste waren wohl 300 Frauen
und Mädchen gegen halb so viele Männer erschienen. Es
wurde aus einem Berg gefeiert, wo vor Zeiten ein altes
Kloster gestanden hat. Früh von 4 bis 6 Uhr hatten die
drei Popen Messen gehalten, bei denen sich Männer uud
Frauen durch große Andacht auszeichneten; sodann wurden
zwei Ochsen verzehrt, die von uns und dem Richter des
Dorfes geschenkt worden waren, und die, schon zubereitet,
in großen kupfernen Kesseln herbeigeschafft wurden. Außer-
dem hatte noch jede Familie Proviant mitgebracht, der
hauptsächlich in süßer und sauerer Milch und eingekochtem
Rahm bestand. Das ist die Hauptpointe des Festes, denn
es ist der erste Tag, au dem, uach einem vierzigtägigen
Fasten, wieder Alles genossen werden kann. Etwas
Branntwein fehlte auch nicht, und so wurde das Volk bald
lustig und beschloß das Fest durch Tänze. An diesen
nahmen aber nur die Männer Theil, indem sie einen großen
Ring bildeten und nach einer Art Clarinette und einer
großen Trommel sich im Kreise bewegten und dabei aller-
Hand Sprünge machten. Die Frauen und Mädchen sahen
nur zu, wie sie sich denn auch immer abgesondert von den
Männern hielten. Das erste Mal macht es Spaß, ein solches
Fest zu sehen, öfter würde ich aber kaum hingehen, beson-
ders da der Weg ziemlich steil und lang und die Kuppe
selbst schattenlos ist. Von derselben genießt man übrigens
eine ganz hübsche Aussicht auf dieses Gewirr von Berg und
Thal, das jetzt im schönsten Grün prangt; man kann den
Lauf unseres Flusses bis über Karahissar hinaus verfolgen,
während die Ortschaft selbst durch vorspringende Felsen
gedeckt wird.
Nach der andern Seite hin nimmt sich das Dors Lid-
jessy mit seinen platten zwischen den Obstbäumen hervor-
schimmernden Dächern ganz nett aus. Der Weg von hier
nach Karahissar, der einzigen Stadt in meiner Nähe,
geht anfangs am Ufer nnsres Baches hin; das Thal ist
öde: spärliches Grün und wenig Wald an den Gehängen,
einige Pappelweiden am Bach und hie und da zerstreute
Stückchen Feld sind das einzige Grün, das man erblickt,
sonst begegnen nur Felseu und wieder Felsen dem ermüde-
ten Auge. Zwei Stunden von hier liegen am Gehänge
die Alaungruben (Schab Maden), von denen Kara-
hifsar, zum Unterschied von anderen Oertern gleichen Na-
mens, den Beinamen Schab erhalten hat. Der Alaunstein
bricht auf einem mächtigen Gange und seine Verarbeitung
ist sehr einfach: er wird gebrannt, dann längere Zeit, oft
Jahre lang der Verwitterung ausgesetzt, sodann in schmiede-
! im nördlichen Kleinasien. 219
eisernen Kesseln mit Holzasche versotten, geklärt und in
Gruben zum Kristallisiren gebracht. Das Produkt ist
schön und wie mir scheint sehr rein, dagegen der Preis
davon jetzt sehr niedrig: 1 Oka (ungefähr 2*4 Pfund)
1 Piaster ~ 1 Sgr. 9 Pf.; früher galt er 3 und 4 Piaster
die Oka. Ausbeute ist also nicht viel zu erwarten, und
die Dorfschaften arbeiten nur, weil sie eines Kontrakts
wegen nicht anders können. Eine kleine Strecke hinter
Schab Maden zieht sich der Weg steil an: linken Gehänge
hinauf, da der Fluß hier in einer engen Schlucht die hohen
Felsen durchbricht.
. Nachdem man die Höhe mühselig erreicht hat, wird
man dnrch ein herrliches Panorama entzückt. Der erste
Anblick ist wirklich magisch, da man ein solches Bild nicht
erwartet. Der Fluß, sobald er die Felsen verläßt, tritt in
ein weiteres Thal, das nach Karahissar zu eine weite Ebene
bildet. Zu unseren Füßen liegt das türkische Dorf Tam-
sara, desseu bunte mit Schindeln gedeckte Häuschen zwischen
großen Gärteu mit Maulbeeren, durch welche sich der Fluß
schlängelt, anmnthig daliegt; dahinter ragen steile Porphyr-
felsen, auf deren letztem Ausläufer nach dem Fluß zu die
alte Festung von Karahissar und an deren Fuße sich das
Städtchen selbst, welches, sich von hier ganz stattlich ans-
nimmt, amphitheatralisch erhebt. Um diese Art Vor-
gebirge schlängelt sich nun der Fluß; nachdem er von links
einen Bogen gemacht hat, wendet er seinen Lauf durch das
weite ebeue Thal, das jetzt nüt fast reifen Weizenfeldern
prangt, gegen Westen; bald nachdem er die Flüsse von
Esbider und Enderas, zwei bedeutenden Dörfern südlich von
Karahissar, aufgenommen hat, schlägt er eine nordwestliche
Richtung ein. Als Hintergrund des Bildes dienen die Ge-
hänge dieser Flüsse, welche wieder vom Güsel-dagh, d. h.
dem schönen Gebirge, überragt werden. Dieser Name
scheint wegen der malerischen Eontnren gut gewählt.
Steigt mau aber hinab nach Tamsara und dann wieder
hinauf nach Karahissar, so findet man sich gewaltig ent-
täuscht: die Gärten sind schlecht gehaltene Gemüse- und
Grasgärten, und ihre einzige Zier schöne Maulbeer-, Nuß-
und Birnbäume. Die Straßen sind eng und krumm, das
Pflaster ist abscheulich, die Wohnungen sind meistens halbe
Ruinen, welche gegen die wenigen neueren uud besseren
Häuser gewaltig abstechen, und die Ortschaften, mit Aus-
nähme des Montags, wo in Karahissar Wochenmarkt
(Bazar) gehalten wird, wie ausgestorben. An diesem Tage
aber kommen die Dorfbewohner aus einem Umkreis von
10 bis 12 Stunden zusammen und bringen ihre Waaren
zum Verkauf: Gemüse, Obst, Vieh, Holz, Bretter und die
daraus gefertigten Gefäße und Werkzeuge, z. B. Schau-
feln, Heugabeln:c. Alle Verkaufslädeu sind dann geöffnet
und bieten Sättel und Lederzeug, Schuhe, baumwollene
Zenge, Taback, Drognen u. s. w. feil.' Es ist dann wirk-
lich ein tolles Treiben anf dem kleinen Marktplatz und in
den angrenzenden Straßen, aber im Ganzen geht es dabei
ruhig her, da die Bevölkerung ziemlich nüchtern ist. Dicht
am Markt befindet sich ein kleines Cafe, von dessen Bal-
kon ich oft diesem Gewirr von Menschen, Manlthieren und
Eseln zugesehen habe. Noch mehre andere Cafes liegen an
verschiedenen Punkten der Stadt; Kaffee ist so ziemlich das
einzige Getränk, welches man hier genießen kann; der
sogen. Sorbet und der aus Maulbeeren gebrannte Raki
wollen einem europäischen Gaumen nicht munden.
Die Bevölkerungszahl der Stadt mag 3000 Seelen
betragen und besteht fast zu gleichen Theilen aus Arme-
niern und Türken nebst sehr wenigen Griechen. Erstere
sind meist Kaufleute und Handwerker, z. B. Schmiede,
Kupferschmiede, Silberarbeiter :c., die Türken hingegen
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II
220
Aus allen Erdtheilen.
fast alle Landbauer, einzelne auch Professionisten, Schuh-
macher, Sattler, Töpfer k. Bemerkeuswerthes wird hier
nicht erzeugt, dagegen hat seit einigen Jahren die Seiden-
zncht begonnen und soll Karahissar jährlich 150 bis 200
Okas Seide liefern. Von oberen Behörden wohnt hier ein
Kaimakan, der 30 Gensdarmen (Kawassen) unter seinen
Befehlen hat; ebenso ein armenischer und ein griechischer
Bischof, der aber fast nie am Ort ist, sondern sich in einem
der griechischen Dörfer, oder in dem nahen Kloster aufhält.
Eine griechische Kirche soll erst erbaut werden; dagegen
haben die Armenier deren zwei sehr hübsche und eine neue
Schule, die mir der Bischof mit großen: Wohlgefallen
zeigte. Die Türken besitzen zwei oder drei Moscheen, aber
alle halb verfallen und ohne architektonischen Werth; sonst
sticht noch das Gerichtshaus und der Palast des Kaimakans
sowie ein großer, massiver Khan aus der Masse von Hütten
und schlechten Häusern hervor.
Das Interessanteste ist die hoch über dem Städtchen
auf einem steilen Felsen thronende alte Festung, die nach
einer halbleserlichen alten Inschrift aus der Zeit der
griechischen Kaiser stammt. Mächtige Mauern schützen ste
da, wo die fast senkrechten Felsen etwa erstiegen werden
könnten, und ein einziger Weg führt zu dem im byzanti-
nischen Styl erbauten Thore, das als gedrückter Spitzbogen
mit einigen Arabesken und dein Adler noch ziemlich wohl
erhalten ist. Durch dasselbe tritt man in den ziemlich be-
deutenden äußern Raum der Festung, iu welchen: noch die
Reste einiger massiven Häuser, sowie die Ruinen einer
griechischen Kirche und eiue halbverfallene Moschee sich
befinden. Jetzt dient dieser Burghof einem Bauern, der
auch eiuige Felder darin angebaut hat, als Gehöfte. Der
höhere Felsen ist durch eine zweite starke Ringmauer ver-
theidigt, und auf seiner Kuppe steht, wenn man so sagen
darf, die Citadelle, eine viereckige mächtige Burg, an deren
der Stadt zugekehrteu-Seite sich der massive achteckige Thurm
erhebt, welcher derselben ihren Namen (schwarzer Thurm)
gegeben hat. Auf einer etwas gefährlichen Wendeltreppe
kann man auf die Zinnen derselben gelangen, von denen
aus man auch eine hübsche Aussicht geuießt, namentlich
aus das unten liegende Städtchen und das weite Flußthal
nach der andern Seite hin, sowie auf die vielen Gebirge,
welche ringsherum liegen, gegen Osten bis zum Giamdagh,
der die Wasserscheide des Flusses von Tiresole und des
Jeschyl Jrmak bildet.
Weiter südlich bin ich nur bis zum Dorfe Karakeui
gekommen, das drei Stunden vou Karahissar liegt. Das
Bemerkenswert^ desselben sind die in der Nähe liegenden
mächtigen Brannkohlenflötze, deren Bearbeitung ich
begonnen habe, sowie der Umstand, daß die Bewohner
desselben zu den Kistlbasch gehören, einer Sekte, die von den
wirklichen Türken als Ketzer angesehen werden. Sie halten
keine Fasten, erkennen den Ulema in Konstantinopel nicht
an, heiraten ihre nächsten Verwandten, selbst Brüder und
Schwestern, und solleu höchst obscöue Feste feiern; sonst
habe ich nichts über ihre Religion erfahren können. So
große Feindschaft zwischen ihnen und den Türken herrscht,
so leicht sind sie Freunde mit den Christen, und ich habe
sehr gute Aufnahme bei ihnen gefunden.
Von Karakeui aus sieht man in das fruchtbare Thal
vou Esbider hinab. Sobald ich diesen Ort, sowie das
eine Stunde weiter entfernte Endeses und einige andere
Punkte iu der Nähe gesehen habe und etwas Interessantes
finde, schreibe ich Ihnen wieder.
Aus allen Erdtheilen.
Die große Messe zu Rostow am Don.
Rostow am untern Don ist eine der wichtigsten Städte
Südrußlands und unter den sogenannten Getreidehäfen des
Asowschen Meeres einer der bedeutendsten. Der Ort ist im
Aufblühen; er entstand aus der 1761 erbauten kleinen Festung
des heiligen Demetrius vou Rostow, zählte aber gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts erst ungefähr 1500 Einwohner, um
1835 erst 7000, aber 1864 hatte er 25,000 Seelen, 3123 Ge-
bände. Von den beiden Handelsmessen fällt die eine auf den
Himmelfahrtstag, die andere auf den 8. September. Auf den
Markt werden vorzugsweise gebracht: Rinderund Pferde, Seiden-
und Baumwollenwaaren, Leinwand, Eisen, Leder-, Eolonial-
und Galanteriewaaren. F. Russow, welcher 1864 die Herbst-
messe besuchte, entwirft in seinen „Russischen Landschafts- und
Lebensbildern" folgende Schilderung:
Gleich beim ersten Blick gewährt Rostow das Bild einer
aufblühenden Stadt der Zukunft. Schon verschwindet der Kern
der älteren, meist einstöckigen Häuser vor den stolzen Neubauten,
zwischen denen hinter einer Menge von Baugerüsten ein nicht
minder stattlicher Nachwuchs vielversprechend hervorblickt. Wohl
die beste Illustration zu der merkantilischen Bedeutung der Stadt
bietet ein Gang an die große Floßbrücke über'den Don,
wo sich Fahrzeuge aller Art längs der langen Reihe von Ma-
gazinen und Stapelplätzen drängen, welche der Stadt eine zu-
verlässigere Garantie für die Zukunft bieten, als der schwindet-
erregende Handelsverkehr auf dem Meßplatz. Droht doch der
Messe von'Rostow dasselbe Schicksal wie der vou Jrbit bei der
noch schwebenden Frage, ob Rostow oder Taganrog zum Aus-
gangspunkt der Charkow-Asowschen Bahn zu wählen
sei,' wodurch denn auch beide Nachbarstädte in eine ähnliche
leidenschaftliche Concurrenzfehde gerathen sind, wie Jrbit und
Tjumen.
Der Markt wurde zwar erst am 8. September mit einer
Kirchenprocefsion feierlich eröffnet, doch war das geschäftliche
Treiben schon mehre Tage vorher iu vollem Gange. Trat man
aus der Stadt, so sah man in einiger Entfernung durch eine
schwere graugelbe Staubwolke, welche unbeweglich auf der an-
grenzenden Steppe lagerte, eine unendliche Reihe bunter Flaggen
und Fahnen, hinter denen, nur von dumpfen Paukenschlägen
übertönt, das Gebrause des Marktverkehrs hervordrang. Hatte
man sich durch die Menschenmasse Bahn gebrochen, die am Rande
des Marktplatzes vor den Kunsthallen aschgrau bestäubter Seil-
tänzer und Akrobaten, vor den Panoramen und Wachsfiguren-
kabinetten und den Dutzenden ähnlicher Schaubuden sich gestaut,
so hatte man die Wahl zwischen ein paar Hauptstraßen, die den
mächtigen mit Buden und offenen Waarenniederlagen bedeckten
Platz rechtwinklich durchschnitten, und man that wohl daran,
sich bei einem ersten Besuch nur auf die Hauptrichtungen zu
beschränken. Die Neben- und Quergäßchen, dre vielen Durch-
gänge und Schlupfwege zwischen den einzelnen aus Bastmatten-,
Leinwand- und Filzwänden aufgebauteu und nnt breitenLinden-
rindentafeln bedeckten Buden und Baracken bilden ein sinn-
verwirrendes Netz für den Neuling, der sich bald verfangen
kann. Gehen wir die erste der Hauptstraßen hinab, so fallen
uns ganze Berge vou insektennmschwärmten Honigfässern auf,
dicht "dabei wie durch eine ironische Laune des Zufalls eine
lange Reihe von ebenso dicht umdrängten Schnapsläden. Ge-
genüber ragt aus der Reihe vou Metallniederlagen ein Gerüst
voll Kirchenglocken, und die Vorübergehenden können es sich
nicht versagen, denselben einen kleinen Schneller zn versetzen, so
daß fortwährend ein leises Geläute sich in das dumpfe Stim-
Aus allen Erdtheilen.
221
mengewirre mengt. Den Bretter-Fußsieg zu beiden Seiten der
Straße bedeckt die kleine Industrie, Tabuletkrämer und Frucht-
Händler. So unansehnlich die Trauben und Arbuseu in ihrer
Staubkruste aussehen, so lechzt man, vor Staub und Hitze ver-
dürstend, immer wieder darnach, ob mau sie auch mit knirschen-
den Zahnen hinunterwürgen muß.
Die zwischen den Hauptstraßen liegenden Quadrate zerfallen
nach den verschiedenen Waarengattungen iu gesonderte Gruppen,
unter denen dem Fremden aber höchstens etwa die Reihe von
Gold und Silber strahlender Heiligenbilder-Buden auffällt.
Vergeblich sah ich mich nach den erwarteten asiatischen Eostümen
und' Physiognomien um; außer deu schönen Armenierinnen aus
dem benachbarten Nachitschewan und ein paar kaukasischen Silber-
Händlern stieß ich nur auf eine beunruhigende Masse vou jüdi-
scheu Physiognomien, welche durch das Gewühl huschten. An-
dererseits muß ich erwähnen, daß eine sonst unvermeidliche
Speeies vou europäischen Costümen und Physiognomien hier
gänzlich zu fehlen schien, — die Polizei. Ebenso erinnere ich
mich aber auch kaum eines Auflaufs oder einer Schlägerei, —
trotz der Menge der Betrunkenen. _ Doch ist ja der Russe im
Rausche durchweg friedliebend und jovial, und bei der wahrhaft
schmelzenden Hitze mag jede stärkere Emotion sich ganz von
selbst verboten haben.
Tritt man aus der für die Marktzeit nur eben nothdürstig
aufgenestelten Barackenstadt aufs freie Feld hinaus, so findet
man sich zwischen Hügeln von Zwiebeln, Knoblauch, türkischem
Pfeffer, Hausgeräth, Töpfer- und Holzwaaren, worunter, für
uns eine fremdartige Erscheinung, die Menge von Jochen für
Zugochsen und Rädern, deren Felgen nur aus einem kreisrund
gebogenen Stück Eichenholz bestehen.
Doch bald hat sich der nicht durch Marktgeschäfte interessirte
Besucher müde gesehen und sucht einen Ruheplatz. Nur flüchtig
eilt er noch dre „Freß-Reihe" entlang, um sich an dieser
heitern Eigentümlichkeit der russischen Messen zu
ergötzen. Es ist das eine Reihe in Erdlöchern angelegter Heerde,
ans denen in großen eisernen Grapen Kohlsuppe kocht. Auf der
Oberfläche schwimmt gewöhnlich eine rothe Schicht türkischen
Pfeffers, während rings um den Heerd allerhand von Staub
unkenntliche Fleisch- und andere Speisen aufgetischt sind, zu
deren Genüsse eine ebenso bestäubte, vou Schweiß triefende
Matrone mit allen Künsten der Beredsamkeit einlädt.
Das Gegenstück dazu bietet eine Reihe von verhältnißmäßig
ganz hübsch eingerichteten Restaurationen, aus denen Musik jeder
nur möglichen Gattung hervortönt. An der Thür steht wohl,
wie zufällig, um Luft zu schöpfen, eine niedliche Tyrolerin
mit ausfallend orientalischem Teint und Schnitt des Gesichts,
während drinnen die Genossen Darm und Draht feilen
oder Wimmerholz hacken, oder sonstige musikalische Tage-
löhnerarbeit verrichten und dabei nach Roten ums liebe Brod
schreien.
Endlich kehrt man ausgedörrt und zugleich völlig ausge-
weicht zur Stadt zurück, um nach kurzer Ruhe sich wieder und
immer wieder in das tosende Gewimmel zu stürzen, denn bei
jedem neue» Besuche gibt es neue interessante Züge in dem
großartigen Ameisenhaufen zn entdecken.
Der Volksmund in Deutschland. Sonst und Jetzt.
Unter diesem Titel ist, als „Wegweiser im deutschen Vater-
land fürs Volk und seine Lehrer" in Nordhausen von einem
Dr. lueä., Herrn C. F. Riecke, ein recht eurioses Buch
erschienen. Nachdem der Verfasser eine Anzahl von Büchern:
„über Zunehmen der Quellen der Armuth; über Reform der
Lehre von den Contagionen, Epidemien je.; über deu Tod durch
deu Sonnenstich oder Hitzschlag; über das sogenannte Befallen
der Kulturpflanzen, insbesondere der Kartoffeln; über den
Futterbau für Seidenraupen" — geschrieben, hat er jetzt über-
nommen, der gelehrten Welt zu zeigen, wie man etymologi-
siren müsse. ' Er hofft, „daß sich iu Deutschland mehre w ei b-
liehe Wesen finden, welche sähig sind, die Sachen zu begreifen
und sich dafür zu interefsireu, während un Gegentheil bei den
männlichen, sogenannten gelehrten Individuen, solche
höchst selten gesunden werden. Es würde also eine sehr vergeh-
liche Arbeit gewesen sein, für solche ein Buch zu schreiben".
Deshalb hat'er dasselbe e'inem Fräulein gewidmet, welches ein-
mal geäußert, die keltischen Forschungen müßten sehr lehrreich
und augenehm sein. , Prüfen Sie, mein hochgeschätztes Fräulein
und Ihre vielen tausend deutschen Schwestern, die in
dieser Schrift mitgeteilten Thatsachen in Ihrer Umgebung."
Mit den Gelehrten steht Herr Riecke auf sehr schlechtem
Fuße. Er meint, sie hätte» die keltische Literatur todtgeschwiegeu;
er haßt die „Zopfwickler", und er thut wohl daran. Er ist
ein dreister Autodidakt, der einzelne Bücher über Keltisches
gelesen hat, und er „fühlt ein unnennbares Sehnen, das nur
im Blute liegen kann, nach der unbekannten keltischen Vor-
zeit". Er wurde ein Keltomane, wie es schwerlich je zuvor
einen solchen in so bedenklicher Weise gegeben hat. Hoffentlich ist
er der letzte. Vom heutigen Standpunkts der Sprachwissenschaft
und vou den Forschungen ans dem Gebiete derselben weiß er
nichts, und was er etwa gelesen hat, gefällt ihm nicht.
Sein Buch ist eine erheiternde Lektüre für „Zopfwickler"
und nicht ^— Gelehrte. Die ersteren werden sich freuen, so viele
Seltsamkeiten zu finden uud zu erfahren, was Alles in der Welt
keltisch istseigentlich ist Herrn R. Alles keltisch), und die zweiten
werden sich freuen, daß es noch solche Art von Erudition in der
Welt gibt. Die Art und Weise, wie ein „Nichtzopfwickler"
etymologisirt, wird aus einigen Proben klar werden, die wir
aus dem Ungeheuern Wust' ähnlicher Dinge herausgreifen.
Schade, daß Jakob Grimm nicht' mehr lebt.
Herr Riecke weiß, was Fürst bedeutet (S 56). „Unser
Fürst hat seinen Namen von First — Spitze eines Ber-
ges, eines Hauses; daher liegen die Fürstenburgeu au der
Werra und Weser auf Bergesspitzeu; der First eines Daches
hat sich in Gibel, Spitze verwandelt; das arabische Dschebel ist
dasselbe; der Kehllaut wurde zum Zungenlaut. Das indostanische
Ssirr, Sserr, zigeunerisch Schero, Tschero, cheru — Kopf, hat
ebenfalls die Bedeutung Herr, wie das Sir der Engländer und
das Sire und Sieur der Franzosen. Das persische Ssar, Sserr,
ossetisch serr, essar ^ Kops, ist dasselbe, und der russische Czar
ist auch das Oberhaupt, wie eiu türkischer Seraskier Haupt der
Krieger ist. Serra, Sierra, heißen die zackigen Felsenberge in
Spanien. Der Dalai lama — Haupt der Priester iu Tibet,
ist auch ein Haupt und Anführer, tamulisch heißt Dalei —
Kopf; taugutifch go — Kopf wird in Deutschland noch für
hohe Berge gebraucht, und die alteu Götzen oder Götter der
Heiden waren auch ihre höchsten Wesen und wurden auf Berg-
spitzen, Go, verehrt."
Das ist prächtig; nicht minder Folgendes: „Gälisch eeap,
cap =; Chaff, Kapf', Kopf, bezeichnet das Haupt der Menschen
und die Spitze hoher Berge, daher der Ausdruck Bergkopf; die
vielcu Kapf, Kappen, Eha'f, Schaff und endlich Schaf — Berge,
die in der Regel über alle übrigen wie die Könige hervorragen,
erinnern an das Tfchah der Asiaten. Die Thiere erhielten ihren
Namen von einer hervorstechenden uud hervorragenden Eigen-
schast. Da nun der Kopf aus der Wolle des Schafes
hervorragt, so erhielt es deu Namen Chaff, Kapf
und endlich Schaf. Eben so wurde aus Cap-, Caps-, Chaf-
endlich Schafhansen, die eben so an Bergspitzeu liegen, wie die
Königsdörfer. Schafberge sind hohe Berge, z. B. der. Schafberg
im Salzburgischen, der 'Rigi dortiger Gegend; die Schafleite im
Thale der Thyra, Schafberg, Schafheim, — stedt, — feld tc.
Küf, Kuf sind Umbildungen; Kyshausen ist dasselbe
was Chafhaufen uud Kufstein — Schaf stein. Das
Wort Schafskopf ist eine Tautologie und wird gewöhnlich
als eine niedrige Bezeichnung betrachtet, obgleich es einen
'o erhabenen Ursprung hat; aber es geht hier wie mit
digkeit; gerade wie'Menschen, die beständig gegängelt werden,
auch zur Selbstständigkeit unfähig und Schafsköpfe werden. Wie
die Slawen das Biber in Bober umgewandelt haben, so das
Chas, Schaf in Schöps, womit wir heute auch eiu Schaf (so?)
bezeichnen. Aus einem Hügel am Flusse Schöps bei Bautzen
liegt eiu alter Ringwall, unter dem jetzt das Dorf Schöps ent-
standen ist. Hier wurde das Chas iu Schöps entstellt, denn
die Ringburg aus der Spitze des Hngels erhielt deu Namen
Chas, Schöps, wie bei Schafhausen. Weil sie ein Hauptort
war, so erhielten Fluß und Dorf von ihr den Namen!" Und
so weiter.
Ganz kapital und für alle „Zopfwickler" überraschend ist
das Folgende:
„Eiu der Menschheit ureigenes Wort ist ur; es entstand
durch die Quelle, Mur, Murmnr, uud bezeichnete im Allge-
meinen den Ursprung, den Anfang der Dinge, die Schöpfung
jeder Art. Es bezeichnete auch den Wasserquell und das Wasser
selbst. Baskisch nra — Wasser, bretonisch dur, dour, wälsch:
dwsrr, gäl. curr alle haben das ur behalten. Das Murmeln
des Quells ist seine Sprache, der Lippenlaut trat nach denselben
Regeln ein wie bei Ma und Mama. Die Qnelle hat sich, wie
der Kuckuk, ihren Namen selbst gegeben. Das lat. Snsurrum,
unser Murmeln, bezeichnet sowohl das Geräusch des Quells, als
auch das des Waldes, wenn der Wind denselben reden läßt
222 Aus allen
Tropisch bezeichnet es den Ohrenbläser, der ja auch ins Ohr
zischelt. Die Hebräer haben ur als das Symbol für das Feuer,
die Flamme, den Heerd und Feuerraum. Der Lateiner hat
urere, brennen; der Brennstoff, Gas, entsteht aus dem erhitzten
Brennmaterial eben so jeden Augenblick neu, wie das Wasser
aus der Erde im Quell. Mit der Umlantung in or wurde
lateinisch orire, entstehen, oriens, das neue Entstehende, also
unser Ursprung, origo. Mit ur bezeichnet der Ire auch das
Grün der Wiesen, das in jedem Frühjahre neu entsteht; auch
die Hitze, das Erste, das Noble, wie das Böse, kurz das aus
Nichts neu Entstehende. Ur, der Urochs, lat. nrns, eben
so die Ursache. Ob die Lateiner den ursus, Bär,
für ein Urschwein gehalten, steht dahin. Nach Dar-
win allerdings möglich; Bärenschinken sind noch
beliebt. Der Ur-an war der Urmann, griech. lat. Uranus,
Vater des Saturn, Großvater der übrigen Götter. Uranus, der
Himmel, als das, woher alles Geschaffene kam; auch Sitz der
Götter und der Regenspender, also die Urquelle des Wassers;
Urania die Himmlische. Die Urne, urna, von ur und umge-
kehrtem au — Wasser, also eine Tautologie, war ursprünglich
das erste künstliche Wassergefäß, wie unser Topf, der ebenfalls
vom irischen dob, dop seinen Namen hat." (©. 66.)
Mit derartigen Phantasien hat der rüstige Gegner der Ge-
lehrsamkeit mehr als 300 enggedruckte Seiten gefüllt. Ob das
Lesen derselben für deutsche Jungfrauen, für welche das Buch
geschrieben wurde, eben so erheiternd ist, wie für uns Zopf-
Wickler und Nichtjungfrauen, möge dahingestellt bleiben.
„Wälsch lam, gäl. lenm, der Quell, Spring; das Wort
bezeichnet überhaupt das Auf-und Hervorspringen, das Hüpfen,
wie der Quell thut. Daher bezeichnet lamm den Sprung, und
indem die Jungen von Schafen, Ziegen x. gleich nach der Ge-
burt zu hüpfen und zu springen pflegen, werden sie Lamm und
Lämmer genannt. Andere Jungen führen diesen Namen nicht.
Wälsch Llamb, das Lamm, Llamwr, der Springer, Tänzer, gäl.
leumadair. Indem zwei- und vierbeinige Thiere, wenn ihnen
ein Bein unbrauchbar wird, zum Springen genöthigt sind, um
sich fortzubewegen, fo erhielten sie die Bezeichnung lahm, Holl,
läm. Lahmsein an den Füßen macht zum Springer. Das
Wörterbuch der Natur war die erste Sprache." (©. 76.)
Diese Art von erhabener Etymologie wird auch in aller-
ausgiebigster und ungemein lustiger Weise auf Orts - und Länder-
namen angewandt.
„Wälsch: bot, ein runder Körper, runde Erhöhung des
Bodens, irbot, ein Buckel, Flasche, Bot-er, ein großer Äuckel;
daher die vieleu Botterberge in Deutschland. Da nun im Nieder-
deutschen die Butter auch Botter genannt wird, so hat man
diese Berge hochdeutsch Butterberge genannt. Die Ortsnamen
Botterfleth, Botterröed, Bottorp führen davon den Namen. Ost
ist das r in n übergegangen; indem t in l überging, wurde
Bollenberg, Bollmannsmühlejc. daraus. Halberstadt hat einen
Bullerberg. In Süddeutschland und in der Schweiz heißt die
Butter auch Anke. Da nun das Botter in Butter über-
gegangen, so folgte auch die Übersetzung in Anke; daher ist
Ankenberg gleich Butterberg. Dorf Anken bei Hoya (— das
freilich ganz im plattdeutschen Lande liegt, und wo der Land-
bewohner nie gewußt hat und noch heute nicht weiß, daß Anke
Butter bedeutet!!—). Dorf Anker bei Ratzeburg. Im Osten von
Deutschlaud wird die Butter Schmand genannt; daher wurde
das Botter in Schmand übersetzt. Dorf Schmans ist gleich
Butter; Schmantevitz, Schmandbruch. Indem nun Schmand
und Schmalz dasselbe bezeichnen, so haben wir auch Schmält,
Schmalzenthin, Schmalzerode." (S. 185.)
Noch ein paar Proben und dann genug. „Wälsch hyu,
heißt eiu Vorvater, Ahn, grab ist Haufen, Gruppe; Hyn-grab
also ein Haufen Vorväter, die darin begraben, und so
einfach die Bezeichnung der Sache. Jetzt sind Hühnen daraus
gemacht, und das Volk denkt dabei an Riesen, ohne zu wissen,
daß es seine Vorväter waren." (S. 248.)
_ Auf der folgenden Seite wieder eine kapitale Entdeckung.
„Die Steinaltäre, welche sich oft in der Nähe der Steinringe
finden, hießen Dol men, vom wälsch. Dol, Ring (!) und
maen, Stein, also zum Steinring gehörig. Der Ring selbst,
caer, wurde im Niederdeutschen zu Kerke, hochdeutsch Kirche;
er vertrat den geweihten Versammlungsort; iv. toll, Höhle,
tol, Kirchplatz; die Steinaltäre, Dolmen, bildeten Höhlen (Ü)
in denen Heiligthümer eben so aufbewahrt wurden, wie später
in den Altären die Reliquien, und die Monstranz im Altar-
schrei«. Die Decke der Höhle war ein breiter Stein wie unsere
Altardecken."
„G ret, kr et, kr ew t ist eine Umlantung des wälschen
gyrhynt, Fluß. Aus krewt, kret, wurde durch hochdeutsche
Umlautung Krebs, und dies wurde ebenfalls für Fluß ge-
Erdtheilen.
braucht; daher haben wir Krebsbäche überall. Indem der
Krebs ein Flußbewohner ist, erhielt er davon den
Namen."
Vortrefflich! Man 'sieht, daß Herr R. alle Ursache hat, mit
den „Zopfwicklern" auf schlechtem Fuße zu stehen; auch mit der
„Grammatik", die ihm nicht passen will, liegt er in Fehde. Ihm
ist die „Keltensprache die Sprache der alten Kulturvölker überhaupt,
und sie verbreitete sich natürlich mit der Kultur. Wir haben
in Berlin und überall Sirenen".
„Nach den Gelehrten stammen die Deutschen vom Halb-
gotte Teut; eine Mutter hatten sie nicht, wenigstens kein Symbol
dafür, denn das Wort Mutter sollen die Deutschen, wie die
Etymologen lehren, vom lat. mater erhalten haben. Echte
Deutsche' sind also nur Halbblut. Dagegen berichtet der Ver-
fasser des Etymologieum magnum, der vor etwa 900 Jahren
lebte, ans älteren Schriften:Kelto, die Tochter des Pretanus,
verliebte sich in den Hercules und wohnte ihm bei. Darauf
hinterließ ihr Hercules seinen Bogen, ihr sagend: würde ein
Knabe geboren, so solle er König werden, wenn er vermöchte,
den Bogen zu spannen, und es wurde der Knabe Keltos
geboren. Von diesem die Völker der Kelten. — Der Vater,
fügt Herr R. hinzu, also göttlicher Abkunft vom Herkules.
Ferner: „Keltica vom Keltos, Sohn des Herkules und der
Sterope, Tochter des Atlas." — Das also die Mutter der Kelten.
Da nun Atlas ein Titane oder Himmelsstürmer, also mindestens
ein Halbgott, so waren die Kelten echtes Vollblut. Es braucht
sich also selbst ein Junker der keltischen Abkunft nicht zu schä-
men." (S. 273.)
Quod erat demonstrandum. Es geht nichts Über die
Dreistigkeit eines in dem Irrgarten der Etymologie phantastisch
umhertaumelnden uuwisfeuschastlicheu Autodidakten.
Von der Deckens und du Chailln's Reisepläne geschei-
tert. Gegen Ende Novembers kam diese unwillkommene Kunde
nach England. Herr von der Decken war, wie von Man-
chen im Voraus befürchtet wurde, an der Ostküste Afrika's mit
den Eingebornen in feindselige Berührungen gekommen, und
seine beiden Dampfer waren' auf der Barre, welche an der
Mündung des D schnb liegt (den er hinaufzufahren gedachte) zu
Schaden gekommen. Nähere Nachrichten haben wir noch nicht
gelesen; die obigen sind aus Sansibar an den dortigen britischen
Eonsnl Playfair gelangt, welcher sich gegenwärtig in London
befindet, und wurden von ihm sofort der'„Geographischen Ge-
sellschaft" mitgetheilt.
Auch Paul du Chailln hat umkehren müssen. Es war,
wie wir früher im „Globus" mitgetheilt haben, sein Plan, von
Westen nach Osten durch deu Coutinent zu wandern, wo mög-
lich bis zum obkrn Laufe der Zuflüsse, welche der Nil von
Westen her erhält. Seinen Ausgangspunkt, an welchem er sorg-
fältige Vorbereitungen zur Reife getroffen hatte, bildete der
Fernand Vaz in der Gabonregion. Er war eine beträchtliche
Strecke weit ins Innere gedrungen, wie weit wissen wir jetzt
noch nicht; dann wurden die Eingebornen feindselig, und der
Reisende mußte sich mit den Waffen in der Hand bis zur Küste
durchschlagen. Seine Tagebücher nebst den astronomischen Beob-
achtuugen hat er gerettet'
Durch dieses Mißgeschick wird die Aufmerksamkeit Wieder-
aus diese Regionen des äquatorialen Westafrika gelenkt, und es
trifft sich recht gut, daß wir über dieselben eingehende Schilde-
rungen im „Globus" mittheilen.
Großer Reichthum an Petroleum auch in Kalifornien
und Canada. Das Gold-, Kupfer-, Silber- und Quecksilber-
laud ist nun auch eiu Oellaud geworden. Man hat in dem
Gebirge, das sich als Monte Gobillan im Süden von San
Francisco hinzieht, sehr reiche Petroleumquellen entdeckt; die
reichsten liegen in Santa Clara County unweit von Gilroy, in
der Nähe der Straße, die von San Juan nach Monterey führt,
an beiden Seiten einer Schlucht, durch welche der Pajaro
fließt. Dort ist Alles mit Petroleum durchschwängert; es dringt
an vielen Stellen so dick wie Syrnp ans dem Gestein, aus
manchen Quellen kommt es aber auch rascher vor, und mau bat
vom Wasser des Flusses Oel geschöpft, das sehr gut brennt und
beinahe geruchlos ist. Diese Oelgrubeu siud nun in Angriff
genommen worden.
Ueber jene in Canada haben wir schon früher gesprochen.
Wir finden aber jetzt noch einige neue Notizen. Petroleum quillt
auf einer Insel im Hnronsee; be: Packenham in Obercanada,
und unweit vom Niagara; ber Pomt Gaspe, unweit von der
Mündung des St.. Lorenz, wo Holz in Fülle vorhanden ist, so
daß Mangel an Fässern nicht eintreten wird. Die Haüptölregion
in Canada ist aber immer noch die von den Seen Erie und
Aus allen
Huron und vom St. Clairflusse gebildete Halbinsel, durch welche
die Thames fließt. Hier ist „Pe'trolia"; die Brunnen am Flusse
geben reichen Ertrag, und den Centralpnnkt bildet die Stadt
Oil Springs, in Enniskillen County. Dort gewinnt man
Petroleum „in ungeheurer Menge". Sechs Meilen nach Norden
hin liegt die Stadt Petrolia.' In Pennsylvanien und West-
virginien kommt das Oel in unebenem Gelände vor, dagegen ist
die canadische Petroleumregion völliges Flachland, von den Flüssen
bis zu 20 oder 30 Fuß ausgehöhlt, ohne jede Bodenwelle. Die
Oberfläche ist durch Thon aus der Driftperiode gebildet, und an
manchen Stellen liegt in ihm Petroleum; unter dem Thon liegt
Kalkstein. Die als Lot Nr. 18 bezeichneten zwei Brunnen ergaben
anfangs 2000 Fässer Oel im Tage; als diese mit einer Röhre
ausgekleidet worden waren, betrug die Ausbeute ein volles Jahr-
lang zwischen 400 und 500 Faß. Lot Nr. 17 gibt wöchentlich
60 Faß, quillt aber nur an den drei letzten Wochentagen, gewöhn-
lich am Sonnabend 40 Faß. Berühmt ist der 237 Fuß tiefe
Bruce-Brunnen; als man so tief gekommen war, trieb das
Gas die Pumpe hinaus, und volle 40 Stunden lang sprang
das Oel wie eine Fontaine sieben bis acht Fuß hoch. Dieser
Brunnen ergab eine Zeitlang täglich 7000 Faß Oel; der Boden
war fußhoch damit bedeckt. Jedenfalls kann Canada als ein
Hanptölland betrachtet werden.
Ein Anglobrafilianer über die deutschen Arbeiter. Wir
wiesen neulich nach, daß ein Aankeeabolitionist den Neger über
die Deutschen stellt. Jetzt finden wir in der „Deutschen Zei-
tung" vou Porto Alegre (9. September), daß ein Engländer in
Rio sich in ähnlicher Weise ausläßt. Es ist immerhin gut, daß
man bei uns weiß, wie manche Ausländer sich gegen uns
benehmen; es kann das dazu beitragen, die übergroße Nachsicht
vieler Leute gegen die Fremden ein wenig abzuschwächen'und
ihnen einen Wink darüber zu geben, daß deutsche Höflichkeit
und Zuvorkommenheit keineswegs immer richtig gewürdigt wird.
Also: das genannte deutsch-brasilianische Blatt schreibt:
In Rio erscheint eine englische Zeitung „The Anglo-Bra-
zilian Times", die sich vorzugsweise den Handelsinteressen der
englischen Banken- und Kaufmannshäuser widmet. — In Num-
mer 13 jener Zeitung hat nun ein „Eingesandt" das Licht der
Öffentlichkeit erblickt, dessen anonymer Verfasser eine ganze
Masse Unsinn in die Welt sendet. Er redet nämlich der ein-
heimischen Eolonisation, vermittelst der Verwendung der
wilden Indianer und der gemischten Bevölkeruug
Brasiliens (die er merkwürdiger Weise zur mongolischen (!!)
Rasse zählt), das Wort, und nachdem er die schönen Eigen-
schaften dieser urwüchsigen Staatsbürger genügend gewürdigt
und sich in einer Verklärung derselben gefallen, sowie die Nach-
lässigkeit und stiefmütterliche Gesinnung der Regierung in Be-
zug 'auf diese wichtigen Faktoren von Brasiliens Zukunft in der
Tonart des Propheten Jeremias beklagt hat. geht er zu pathe-
tischen Ausrufen über: „Man verdamme den brasilianischen
Arbeiter nicht und werfe ihn nicht auf die Seite! Gönnet ihm
einen Versuch — öffnet ihm eine Aussicht, und wir sind der
Meinung, er wird sich als ein so guter Arbeiter ausweisen,
wie der Deutsche oder der Schweizer. Wenn er träge ist,
so hat er Grund dazu; er ist aber kein Trunkenbold wie
der Deutsche (but he is not a drunkard like the German),
der keine so gute Entschuldigung für seine Fehler finden kann!"
— Und das hat ein Engländer geschrieben!!
Die Deutschen am La Plata. Eine „deutsche Zei-
tung am La Plata" erscheint zu Buenos Ayres. Sie ent-
wirft ein recht erfreuliches Bild von den Verhältnissen der
dortigen Deutschen und beschäftigt sich eingehend mit den süd-
amerikanischen, insbesondere mit den argentinischen Handelsver-
Hältnissen. Wir entlehnen ihr Folgendes:
Es ist bekannt, welch' großartigen Aufschwung die La Plata
Länder seit den letzten 15 bis 20Jahren genommen haben, d.h.
seitdem die europäische Einwanderung ans den verschie-
densten Ländern immer mehr und mehr ihre Schritte nach den-
selben lenkt, und ist bestimmt anzunehmen, daß dieser Zufluß,
der so segensreich ist, auch fortdauern und sich bedeutend ver-
mehren wird, weil man sich in Europa immer mehr davon über-
zeugt, daß die La Plata Staaten durch ihr gesundes Klima,
durch die Leichtigkeit, mit welcher der arbeitsame, sparsame Ein-
wanderer es bald zu etwas bringen kann, durch die liberale
Regierungsweise, die hier zur Anwendung gebracht wird, sowie
durch manche audere Vorgänge es wohl verdienen, als einer
der wichtigsten Punkte' für den Strom der Aus-
Wanderung empfohlen zu werden
Spanier und Italiener sind unstreitig das größte Eon-
Erdtheilen. 223
tingent unserer Einwanderer; dann kommen Franzosen, wozu
auch die französischen Basken (die hier schon zahlreich
sind) gezählt werden müssen; darauf folgen Jrländer und
Engländer, endlich Deutsche, zuletzt Nordamerikaner,
Schweizer, Portugiesen, Brasilianer :c. Alle je nach
Stärke der Einwanderung auf einander folgend. Wie viele
Deutsche in den La Plata'Staaten, d.h. in der Band a Oriental
(Republik Uruguay) und der argentinischen Republik leben, ist
uns nicht genau bekannt, indessen kann man deren Zahl mit
Einschluß der deutschredenden Schweizer auf ca. 5000 bis 6000
veranschlagen, wovon 2500 in der Stadt Buenos Ayres leben.
Die Deutschen und damit verwandte Nationen sind hanpt-
sächlich vertreten im Großhandel, Import- und Exportgeschäft,
ferner sind sie Land- und Heerdenbesitz-er, Schafzüchter, Barra-
queros, Handwerker, vorzüglich Tischler und Möbelhändler,
Tapezierer, Buchbinder, Kuchenbäcker.
Was die Vereinigungspunkte, die Clubs der Fremden be-
trifft, so existirt hier in Buenos Ayres für die fremden
Kaufleute jeder Nation eine gemeinsame Gesellschaft, der söge-
nannte „Fremden-Club" in der Calle San Martiu 36, der seit
20 Jahren besteht und sehr stark besucht wird. Wie schon der
Name sagt, haben Eingeborne durchaus keinen Zutritt, was in
Hinsicht aus die vielen politischen Störungen und Kämpfe, die
in diesen Ländern tagtäglich vorfallen, gewiß als eine richtige
Maßregel gelten kann. ' Der Eintritt kostet 2000 Papierthaler;
der monatliche Beitrag 100 desgl. Die Mitgliederzahl beträgt
etwa 340, größtenteils Deutsche und Engländer, und die Mit-
glieder finden dort eiue Auswahl von über 60 verschiedenen
Zeitungen aus allen Ländern vor.
Sonstige wirkliche Clubs besitzen von allen Fremden nur
die Deutscheu, uämlich: drei musikalische, die „Teutonia", die
„Germania" und die „Coucordia", welche alle Musik und Ge-
sang als ihr Gruudelement betrachten und ihren Mitgliedern
die angenehmste Erheiterung und Geselligkeit bieten. Dann der
Turn b und, gegründet 1855, der sich des besten Bestehens
erfreut und vielleicht nicht anstehen wird, bei einem etwaigen
in Deutfchlaud Statt findenden deutschen Nationalturneu auch
seine Deputation dorthin abzusenden, trotz der weiten Reise.
Jede fremde Nation hier, auch die Deutschen, hat ihre
wohlthätigen Vereine: Krankenkassen, Unterstützungsgesellschaf-
ten, Hospitäler x. Ein letzteres fehlt uns Deutfcheu uoch, doch
wird dessen Gründung vielleicht nicht mehr lange auf sich war-
ten lasseu.
In Montevideo existirt ebenfalls ein solcher „Fremden-
Club" sowie, für Deutsche bestimmt, ein Gesangverein „Froh-
sinn". Die Anzahl der dort lebenden Deutschen ist bei weitem
nicht so stark, als diejenige der in Buenos Ayres wohnenden.
Möge diese kurze Skizze dazu dienen, unseren europäischen
Freunden einen Ueberblick über das Leben und Treiben der
Fremden am La Plata zu gewähren! Sie werden immer-
hin daraus ersehen, daß, wer von Deutschland
kommt, sich wohl eines srenndlicheu Empfanges
und reger Theilnahme seitens der hier lebenden
Deutschen gewärtigen mag.
Die Zahl der Indianer in Nordamerika ist in der jüng-
sten Zeit in wahrhaft grauenerregender Weife zusammengeschmol-
zen. Während der Census von 1850 für die Vereinigten
Staaten noch etwa 400,000 Köpfe annahn?, gibt jener von 1860
nur noch 283,385 auf, und seitdem hat sich die Zahl um min-
bestens 20,000 Köpfe vermindert.
Im Jahre 1860 waren die Indianer in folgender Weise
vertheilt: Abgesehen von einigen Hunderten, die in den Staaten
von Neu-England leben, kamen auf: Neuyork 3785; Colorado-
gebiet 6000; westlich vom Arkansas im Jndianergebiete 65,680;
Gebiet Neumexico 55,100; Dakotah 39,664; Territorium
Washington 31,000; Utah 20,000; Minnesota 1^,900; Kali-
fornien 13,540; Kansas 8189; Michigan 777,; Nevada 7750
und Oregon etwa 7000.
Kriege, Branntwein, Blattern und andere den Indianern
von den Weißen zugebrachte Laster und Krankheiten räumen
unter den braunrothe'n Leuten entsetzlich auf. Dazu kommt dann
noch die Brutalität der „civilisirten" Menschen. Der Ameri-
kaner Josiah Gregg schildert in seinem bekannten Werke über
den Karawanenhandel aus den Prairien, in wie kaltblütiger Weise
Indianer ermordet werden, blos weil sie Indianer sind. Julius
Fröbel schreibt in seinem lehrreichen Werke: „Aus Amerika;
Erfahrungen, Reisen und Studien", Leipzig 1855, im 2. Bande
S. 109:
„Es ist eine Thatsache, daß der Versuch, ganze
Jndianerstämme zu vergiften, von weißen Leuten
gemacht worden ist, und ich selbst habe mehrmals
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224
Aus allen Erdtheilen.
die Frage discutiren hören, wie das am Besten zu
machen sei." _
Italien, in einer lettischen Geographie geschildert. Die
Zahl der Letten mag etwa 1,05t),WO betragen. Sie wohnen
(500,000) in Kurland, in der südlichen Hälfte von Livland, in
den westlichen Kreisen des Gouvernements Witepsk und in einem
kleinen Theile des Gouvernements Kowno. Bekanntlich gehören
sie zu den sogenannten passiven Rassen und haben nie eine ge-
schichtliche Rolle gespielt. Ihre Literatur ist nicht von Belang,
und die für das lettische Volk bestimmten Schulbücher sind fast
alle von deutschen Predigern verfaßt worden. Einer derselben,
Schulz iu Mitau, hat eine Geographie für die Letten geschrieben,
die als eine Cnriosität betrachtet werden kann. Wir heben, nach
der Übersetzung des Herrn Kaspar Beesbardis, der die
Letten dem Slaventhum vindicirt, folgende Schilderung Jta-
liens aus:
„Italien ist ein ganz warmes Land, von Gott reichlich ge-
segnet, es wachsen da :e. ic. Ohne Schweiß des Menschen und
das ganze Jahr gibts auf manchen Bäumen Früchte. Auch
Weizeu und Reis gedeihen wohl, und die Menschen haben ohne
große Mühe au Früchten und gutem Fischfang ihr Auskommen.
Auch hat man in solchem Lande weder viel Holz nöthig noch
feste Häuser und dicke Kleidung, deshalb ist das Leben leicht,
und es gibt schrecklich viel Menschen, aber sie sind besonders
nach Süden träge und faul. Es ist ausgemacht, wer bei der
Arbeit faul ist, ist bei allem Unfug schnell dabei. Es gefällt
ihnen zu bummeln, zu betteln, mit unnützen: Kram zu handeln
und sich zu belustigen; sie sind auch große, sehr verwegene
Räuber und Mörder, so daß die Reisenden Gefahr laufen; denn
die Regierung ist schwach und vermag nicht, sie aus deu Ge-
birgen, Wäldern und Morästen zu vertreiben. Alle sind starke
Katholiken, aber in großer Finsterniß, ungebildete Menschen,
beobachten zwar sorgfaltig den äußerlichen Gottesdienst, aber
sie sind voll von der Sünde. Wenn dn nur gut zahlen willst,
dann wirst du bald solche finden, die deinem Feinde meuchlerisch
das Messer in die Brust oder in den Rücken stoßen. Solche
Mordthaten geschehen häufig in den Städten. Sonst haben sie
helle Köpfe und Fähigkeiten und sind große Meister im Ge-
sänge und im Schauspiele, auch tüchtig iu der Maler-, Bild-
Hauer- und Baukunst, so daß aus der ganzen Welt die, welche
solche Künste sehen oder gründlich sich aneignen wollen, nach
Italien reisen. So ist nun zwar das Land wie ein Paradies
von Gott geschaffen, aber auch durch die Sünden der Menschen
und durch Aberglaube:: verderbt, und Gott hat ihnen gesetzt
(über sie verhängt) eine große Strafe, sowohl durch allerlei
tödtliche Schlangen und Insekten, als auch durch die zwei furcht-
baren feuerspeienden Berge, Vesuv bei Neapel und Aetna in
Sieilien, durch welche die schrecklichen Erdbeben entstehen, welche
manchmal Städte, große Landstriche und viele tausend Menschen
durch schreckliche::, fürchterlichen Tod verderben.--Gott sc:
gelobt, daß wir in uuserm Ländchen, wenngleich auch ein Jeder
seine Beschwerde zu tragen hat, solche Schrecken und solche
Mordthaten nicht kennen, sondern durch die Hand des barm-
herzigen Gottes und des starken Kaisers regiert und beschützt,
sicher und ruhig leben können und wohl auskommen, wenn wir
nur in: Schweiße unseres Angesichts, wie der Herr selbst be-
stimmt, unser Brod mit herzlicher Dankbarkeit essen. Möge
ihnen bleiben ihr heißes, reiches, aber mit Gefahren gefülltes
Land und Finsterniß. Wollen wir wie Kinder des Lichts wan-
deln, die Wege des Herrn liebend, alsdann wird es uns nicht
an den: rechten Gute fehlen."
Die pragmatische Vergleichung und Schlußmoral am Ende
des Büchleins lautet: „Wir können gewiß glücklich und mit
gutem Auskommen leben, wenn wir nur selbst sind gottessürch-
tige, treue, gehorsame Unterthanen, ehrsame Arbeiter, und wenn
wir erkennen und vernünftig gebrauchen das Gnte, das wir in
der Haud haben. Nachdem du dieses Buch mit Nachdenken
gelesen und gehört hast, wie es in den fremden Ländern geht,
wirst du gewiß oftmals gesagt haben: Gott sei Dank, daß wir
in solchem Lande und bei solchen Menschen nicht leben! Und
wem: ich dir noch erzählen würde, welchen schweren Broderwerb,
welches theure Brod und welche schwere Arbeiten die Fabrik-
arbeite:', Bergleute und viele Andere haben; was für große Ab-
gaben und Kronzahlungen in anderen Ländern, besonders in
Deutschland, Frankreich und dem stolzen England vorhanden
sind, so würdest d:t_ es nicht einmal glauben. Dennoch ist es
dort so, so daß du nicht einmal ein Los Getreide, nicht ein Ei,,
nicht ein Küchlein oder ein Thierchen verkaufen oder schlachten
oder verschenken kannst, für das dn nicht zuvor an die Krone
eine große Summe bezahlt hast; und wenn ich sage, daß für
jedes Pferd, auch jeden Hund, den du im Hause hältst, alljährlich
an die Krone zn zahlen'ist, daß auch für jedes Fenster und jede
Thür deines Hauses Abgaben und für jede Werst Wegegelder
zu zahlen sind^ und demnach Abgaben ohne Zahl, wenigstens
zehnmal größere als dir oder mir zu leisten sind; alsdann
würdest du wohl Hände und Gemüth erheben, Gott und dem
lieben Kaiser herzlich dankend ic."
Slavisches aus der sächsischen Lausitz. In Bautzen
erscheint (oder erschien bis zum Herbst 1865) eine „Zeitschrift
für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft", herausgegeben
von I. E. Schmaler, der sich slavisch Smoler nennt. Es
ist diesen: Manne Ernst mit der Pflege des slavischen Elementes
in seiner Heimat, er ist als Schriftsteller und Buchhändler thä-
tig dafür, und seine Bemühungen sind anch von Seiten Ruß-
lauds durch Verleihung eines Ordens anerkannt worden. In der
genannten Zeitschrift' (II. Heft 4) finden wir eine „Reise-
erinnernng an Bautzen", welche aus den: tschechischen Blatte
„Narod" übersetzt worden ist. Der Verfasser heißt Joseph
Kolarsch. Er wundert sich, daß er ans der Fahrt von Dres-
dm nach Bautzen nicht ein einziges slavisches Wörtchen ge-
hört habe.
„Es war schon finster, als ich in Bautzen ankam, und ich
begab mich in den Gasthof zur „Goldenen Krone", weil daselbst
die bautzener Serben ihre Bjeseda (d. h. Verein zur geselligen
Unterhaltung) zu halten pflegen. Ich glaubte, es wäre da wie
bei uns in der prager Bjeseda. Aber wie wurde ich getäuscht!
Der Wirth, ein Deutscher, erklärte mir, daß die Mitglieder nur
einmal in der Woche zusammen kämen." Der Tscheche ging
dann auf deu Stadtkeller, wo er Herrn „Smoler" und den
Bulgaren Petrow traf, der iu Bautzen ein bulgarisch-deutsches
Wörterbuch drucken läßt; dann kamen noch zwei lausitzische
Serben: ein Gerichtsaktuar und ein Kaplan. „Wir unterhielten
uns vortrefflich, und unsere Eonversationssprache war — Rus-
sisch! Herr Smoler hat sich vor einigen Jahren 11 Monate
in Rußland aufgehalten, Herr Petrow aber einige Zeit in Kiew
siudirt. Man sieht, daß die deutsche Sprache nicht gerade die
„panslavistische" sein muß, sondern daß hier wie bei den Slowaken
bereits die russische Sprache als diplomatische eristirt, d. h.
als Mittel des gegenseitigen Verständnisses. Wie leicht könnten
wir uns verständigen, wenn jeder gebildete Slave nur einen
slavischen Dialekt'und zwar den wichtigsten, den russischen,
erlernte!"
Die lausitzer Serbeu zerfalle:: iu einen preußischen und
sächsischen Antheil und auch sprachlich iu Ober- und Nieder-
Lausitzer, und dann noch in Protestanten und Katholiken. In
zwei kleinen Kirchen Bautzens wird serbisch gepredigt.
F. v. h. Bevölkerung Wiens am 1. Dezember 1864.
Nach den Ergebnissen der ani 1. Dezember 1864 vorgenommenen
Volkszählung belief sich die Einwohnerzahl Wiens am oben-
genannten Tage ans 550,241 Seelen. Diese Summe, welche
blos die innerhalb der Linienwälle Wohnenden begreift, ver-
theilte sich wie folgt auf die einzelnen Bezirke: Innere Stadt
58,634, Leopoldstadt 70,100, Landstraße 73,115, Wieden 58,939,
Margarethen 49,142, Mariahilf 62,419, Neubau 71,961, Joseph-
stadt 50,002, Alsergrund 55,926 Einwohner, woraus hervorgeht,
daß der Bezirk Landstraße der größte, Margarethen aber der
kleinste ist. Rechnet man zn der Totalsumme noch die an:
1. Dezember 1864 in Wien befindliche Garnison mit 28,284
Mann hinzu, so ergibt sich im Ganzen eine Summe vou 578,525
Seelen. Wien ist somit die sünstgrößte Stadt in Europa, uud
zwar wird es von Berlin nur um wenige tausende ubertroffen.
Wenn man die Zunahme der Bevölkerung Wiens näher unter-
sucht, so ergebe:: sich die sehr befriedigenden Verhältnisse von
1 : 2,30 für das verflossene halbe Jahrhundert 1815 bis 1864,
und vou 1 : 1,34 sür die letzten 25 Jahre 1840 b:s 1864;
jedoch steht der Bevölkerungszuwachs der mneru Stadt bei wei-
ten: in keinem Verhältnisse zn jenem der .^orstadte; so betrug
iu der letztern Periode (1845 bis 1864) die Zunahme der innen:
Stadt Mos 7%, jene der Vorstädte hingegen 3 6°/^. Wollte man in
die Einwohnerzahl Wiens anch die Bevölkerung der zum wiener
Polizeirayon gehörigen, dicht an d:e Vorstädte anstoßenden Ort-
schaften aufnehmen,'so würde sich d:e Gesammtsumme wohl mit
mehr denn 700,000 Seelen bez:ffern.
von
karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
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Schilderungen aus dem äquatorialen Weflasrika.
Nähe derselben wohnen. Mit diesem dritten Artikel > Dann folgen wir dem Dr. Griffou du Bellay ans seiner
bringen wir die Darstellung zum Abschluß. Wir führen I Fahrtauf dem Ogowa-flusse zum Volke der Aschiras
Globus IX. Nr. 8. 29
III.
Aeußere Erscheinung der Fans. — Besuch in ihren Dörfern. —Putz der Frauen; das Jto. — Waffen; Bearbeitung des Eisens.—
Armbrust und vergiftete Pfeile. — Friedliche Täuze und Kriegsspiele. — Wie es sich init dem Kannibalismus verhält. — Der
Gorilla. — Elephauteujagdeu. — Das Delta des Ogowa'i. '— Der Häuptling von Dambo. — Der Stamm der Galos. —
Sandbänke im Strom, — Fahrt zn den heiligen Inseln im Jonanga-See. — Die Aschaukoloberge und das Volk der Aschiras. —
Insel Antritte. — Aondogowiro der Priesterkönig und seine Gemahlin. — Fetischseininaristeiü — Beschwörung der Geister. —
Der Anengue-See. — Ausflug auf dem Ranlboe.
I. Die Pahuins oder Fans. unsereLeser in dasGebietderFans oderPahuins, welche
Wir haben in zwei Aufsätzen das Laud am Gabon die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch uehmeu, seitdem
geschildert und die Völker, welche an der Küste oder in der sie durch Paul du Chaillu einigermaßen bekannt wurden.
Häuptimg und Krieger der Pahuins. (Nach einer Photographie.)
226 Schilderungen aus dem
und bis zum Jonanga-See, in welchem heilige Inseln
liegen.
Die Dörfer der Bakala'is und jene der Pahuins liegen
nicht weit von einander. Als unser Gewährsmann im
Jahr 1862 zum ersten Mal ein Dorf der letzteren besuchte,
hatten die Pahuins sich erst ganz vor Kurzem an einem sehr
gekrümmten Nebenflusse des Como angesiedelt. Auf einem
Hügel stand, gleichsam als Vorposten, eine vereinzelte
Hütte; das Dorf selber lag zwischen Bäumen versteckt.
Die Pahuins sind sehr streitbar, immer auf der Hut und
vorbereitet, einem etwaigen Ueberfalle zu begegnen. Als
der Weiße Arzt und die beiden ihn begleitenden Seeoffiziere
in Sicht kamen, trat urplötzlich eine ganze Schaar von
Kriegern hervor, selbst die Knaben schwangen ihre Wurf-
speere, und der Häuptling war mit einem förmlichen Arse-
nal von Waffen bedeckt, namentlich Hassagayen und langen
Messern. Dieser starkgebaute Mann mochte etwa 40 Jahre
alt sein, hatte ein knochiges Gesicht, vorspringende Stirn,
abgeplattete Schläfen, sehr lange, hagere Arme und war
auf der Brust mit häßlichen Narben tättowirt. Von Be-
kleidung keine Spur, außer einem Thierfell, das den Unter-
leib bedeckte.
Die weißen Männer wurden sehr kühl empfangen; die
Sache nahm aber eine andere Wendung, nachdem der Dol-
metscher seine Anrede gehalten hatte und allerlei Geschenke
ausgepackt wurden. Diese Pahuins hatten nie zuvor einen
Europäer gesehen, wußten aber, daß dergleichen an der
Küste leben, und so war ihre Ueberrafchuug nicht allzu groß.
Als Taback vertheilt wurde, geriethen Alle in die beste
Laune. Während sie grinsend lächelten, kamen ihre spitz-
gefeilten Zähne zum Vorschein, und wer diese Wilden so
sah, zweifelte gewiß keinen Augenblick daran, daß sie Kan-
nibalen feien. Das Dorf glich einer Art von Festung; die
Hütten, ungefähr 309 an der Zahl, bildeten zwei ganz
parallel laufende Reihen; diese lange Gasse hatte an beiden
Enden Verrammelungen, welche gnt bewacht wurden. Auf
den ersten Blick überzeugt man sich, daß man es mit einem
eigentümlichen Volksschlage zu thun hat.
Die Kinder tummeln sich munter umher und treiben
allerlei Possen; sie sind recht hübsch gestaltet und erscheinen
nicht unintelligent. Das ändert sich aber, sobald sie mann-
bar werden, und mit dem fünfzehnten Jahre kommt der
Rassentypus stärker hervor, die Wohlbeleibtheit verschwin-
det, die Backenknochen treten ungemein stark heraus, die
Schläfen fallen ein, die Stirn tritt in einer besondern
Weise hervor, welche man nur bei den Pahuins findet.
Man unterscheidet sie sofort von den Mpongue oder irgend
einem andern Stamm am Gabou.
Auch die Frauen haben einen langen Kopf und stark
vortretende Stirn, sind sehr fleischig, doch kommt eiu Dick-
werden bei ihnen nicht vor; dasselbe ist überhaupt bei den
schwarzen Völkern nicht häufig. Ihr Gesicht ist nicht so
knochig und mager wie jenes der Männer, ihre Hand oft
überraschend seiu und zart; sie behängen sich mit Glas-
perlen auch auf dem Kopfe, so daß dieser Schmuck vor den
Augen hin und her sich bewegt; Arme und Beine sind mit
Reifen von geglättetem Eisen und Kupfer geziert. Junge
Mütter machen sich dadurch schön, daß sie sich mit einer
rothen Farbe von unten bis oben beschmieren; das Kind
wird in einem mit Kaurimuschelu verzierten Gehänge
getragen. Mit Kleidung befassen sich diese schwärzen
Damen nicht, denn schwerlich können wir den Jto dafür
gelten lassen.
Was aber ist ein Jto? Ein Stück zusammengefalteter
rother Rinde, welches unter dem Gürtel hinweg gezogen
äquatorialen Westafrika.
wird, und dessen eines Ende sich auf dem Rücken fächer-
artig ausbreitet, etwa so, wie der Schweif eines Puter-
Hahns. Diefe „Bekleidung" ist einem Feigenbaume, dem
Emvien, entlehnt, mit dessen Blatte sich ja auch Vater
Adam und seine Ehehälfte bekleidet haben sollen.
Je näher die Pahuins den europäischen Faktoreien
rücken, um so mehr verlieren sie schon jetzt und sehr schnell
Manches von ihren Eigentümlichkeiten. Von Haus aus
sind sie Jäger und Krieger; deshalb haben sie von den
Weißen zuerst Feuergewehre angenommen und dann Baum-
wollenzeuge nebst allerlei Flittertand, nach welchem ja alle
schwarzen Völker so begierig sind.
Wir geben photographisch-treue Abbildungen der
Pahuins; es liegt ungeheuer viel Barbarei in diesen Ge-
sichtern.
„Die Waffen sind charakteristisch. Der Pahuin versteht
sich auf die Bearbeitung des Eiseus, was bei den anderen
Stämmen der Gabongegend nicht der Fall ist; er verfertigt
Wurfspeere, große Kampfmesser mit sehr scharfer Spitze
und von sehr hübscher Zeichnung. Solch eine Waffe muß
iu den Händen dieser Leute furchtbar sein. Kürzere Messer
sind zu verschiedenem Gebrauche bestimmt; auch verfertigt
man Hohlbeile und vortreffliche Aexte vou einer eigenthüm-
lichen Gestalt, denn sie bilden einen Vogelkopf, der auf
einem gebogenen Stiele sitzt. Dn Chaillu fagt, daß diese
Waffe aus der Entfernung gegen Feinde geschleudert werde;
mir sagte man, sie sei eine Art von Opfermesser, mit
welchem man Menschen abschlachtet, die dann in aller Ge-
müthsrnhe mit bestem Appetite verspeist werden. Ein
Schlag mit dem Vogelkopf, welcher gegen die Schläfe geführt
wird, ist unmittelbar tödtlich; mit dem gekrümmten Theile
wird dann der Kopf abgerissen.
Alle Klingen sind gut gearbeitet und viel besser als
die meisten Säbel und Messer, welche durch den euro-
päischen Handel nach Afrika gelangen; auch verziert man
sie mit gravirten Mustern, man rippt sie aus uud
manchmal werden sie mit Kupfer eingelegt. Dabei tritt
zuweilen ein recht guter Geschmack zu Tage. Die
Schmiede ist sehr einfach, wie überhaupt in Afrika, in wel-
chem auch der Blasbalg seit langer, lieber Zeit allgemein
bekannt ist.
Als die gefährlichste Waffe des Pahuin erscheint aber
eine kleine Armbrust, vermittelst welcher er stark vergiftete
Bambuspfeile fchießt. Die Handhabung erfordert eine
nicht geringe Kraft; die Sehne schnellt aber bei sehr leichtem
Druck ab; man handhabt die Waffe wie eine Flinte und
kann mit derselben recht gut zielen. Das Gift wirkt ent-
schlich; mehre Pfeile sind in Paris chemisch untersucht
worden uud es hat sich herausgestellt, daß dasselbe un-
mittelbar auf das Herz wirkt. Die Pahuins gewinnen
den Saft aus einer Kletterpflanze, der Ine eh oder
Anay e; sie gehört zur Familie der Apoeyneen. Uebrigens
ist diese Armbrust mit den vergifteten Pfeilen mehr eine
Jagd- als Kriegswaffe."
Die weißen Männer betrachteten sich eine große An-
zahl von Hütten und fanden in denselben mancherlei
Gegenstände, welche bei deu Gaboueseu nicht vorkommen.
Als sie den Häuptling besuchten, kamen Spielleute herbei,
schlugen auf Tamtams und das ganze Dorf begann zu
tanzen. Dabei nahmen sich die Frauen mit dem Jto selt-
sam genug aus; der Fächerschweif mußte ununterbrochen
hin und her wackeln. Uebrigens ist der Tanz sehr einfach;
doch haben die Pahuins auch Kriegstänze. Zwei streitbare
Männer treten einander gegenüber; sie tragen allerlei
Waffen; das Haupt ist mit Federn geschmückt; am Halse
Schilderungen ans dem äquatorialen Westafrika.
227
haben sie auf eine Schnur gereihte Tigerzähne hängen;
über der linken Schulter ein gewaltiges Kriegsmesser in
einer Scheide von Schlangenhaut, um den Gürtel schlingen
sie das Fell eines wilden Thieres, und in demselben steckt
ein Dolch; in der linken Hand halten sie mehre Wurfspeere
und iu der rechten einen großen und dicken Schild aus
Elephantenhant. Solchergestalt ausgerüstet, liefern sich
die beiden Kämpfer ein Scheingefecht; sie treten einander
gegenüber mit weit geöffneten Nüstern, und anch der Mund
baren Spuren von Anthropophagie. In den Dörfern,
welche in der Nähe der europäischen Faktoreien liegen,
wurde Menfcheufleisch insgeheim verzehrt; nicht aus Furcht
vor den Franzosen, deren Einfluß jetzt noch nicht weit
genug reicht, sondern weil sie die Sache selbst nicht vor
Seilten merken lassen wollen, welche dieselbe nicht billigen;
selbst ihre Kinder dürfen bei solch einem Mahle nicht zu-
gegen sein. Aehnliche Auruckhaltung ist anch bei einigen
Anthropophagen der Südsee beobachtet worden. Man
Junge Pahuinfrau mit ihrem Kinde. (Nach einer Photographie.)
wird so weit als irgend möglich geöffnet, damit die spitz-
gefeilten Zähne zum Vorschein kommen.
Alle Europäer, welche iu Berührung mit den Fans
gekommen sind, stellen dieselben, trotz des Kannibalis-
mus, über die Gaboueseu. Menschenfresser sind sie, das
steht fest; Griffen du Bellay meint aber, die Sache sei von
du Chaillu doch übertrieben worden. Derselbe wolle in
den Dörfern gesehen haben, daß Menschenkuochen umher-
liegeu, aber die französischen Offiziere, welche doch in
manchen Ortschaften gewesen sind', fanden keine ficht-
scheint zu fühlen, daß es unnatürlich ist, seinesgleichen zu
verzehren.
Die Fans sind weither aus dem Innern gekommen;
sie find sehr gewandte Jäger, haben aber gar keine An-
stelligkeit und kein Geschick, Kähne zu lenken; sie werden
wohl ihre ursprüngliche Heimat auf einer stark bewaldeten
Hochebene gehabt haben, wo kein Ueberfluß an Lebens-
Mitteln war. (Der Gedanke an Arbeit uud Feldbau war
ihnen natürlich vollkommen fremd.) Noch jetzt, also in
der Nähe der Küste, verzehren sie Schlangen, Insekten, ver-
29*
Frauen der Pahuins-
Was ihre übrigen Sitten und Gebräuche anlangt,
so heben wir hervor, daß Blutvergießen nicht mit Blut
gebüßt wird, sondern, wie wir sagen würden, mit einer
Geldstrafe. Vielweiberei geht nicht so arg im Schwange
wie bei den Mpongne; man heiratet nicht so früh und die
Ausschweifungen sind auch nicht ganz so arg. Statt einer
Religion haben sie Fetischismus.
ach einer Photographie.)
zösischen Aerzten und Offizieren ein paar Exemplare nach
Brest und an beit pariser Jardin des Plantes geschickt
worden. Dieser Riesenaffe ist allerdings so groß wie ein
ausgewachsener Mann und manchmal noch größer, aber
seine Schultern sind doppelt so breite und deshalb hat die
Brust eine so gewaltige Ausdehnung. Der sehr dicke
Kopf steckt tief in den Schultern, doch das Gehirn ist unver-
228 Schilderungen aus dem
dorbeues Fleisch, kein Abfall ist ihnen zn schlecht, und in
der Roth haben diese trägen Menschen dann auch Menschen-
fleisch genossen. Dasselbe ist der Fall bei den
Bakalais. Indessen verschwindet diese Barbarei nach
und nach in dem Maaße, als die Wilden in der Nachbar-
sckiaft der Europäer seßbaft werden.
äquatorialen Westafrika.
Bis jetzt haben sie sich kaum zum spärlichen Anbau
einiger wenigen Pflanzen verstanden; sie gehen lieber in
den Wald auf die Jagd. In ihrem Gebiete findet man den
erst vor nicht vielen Jahren bekannt gewordenen und fo viel
besprochenen Dg in na oder Gorilla. Bevor dn Chailln
seine Berichte gab, waren übrigens schon von einigen fran-
230 Schilderungen aus dem
hältnißmäßig klein. Auf der Hirnschale befindet sich ein
hoher Kamm, mit welchem die starken Muskeln zusammen
hängen, vermöge deren er die Kinnladen bewegt. Diese
haben eine fabelhafte Kraft. Die Nase ist abgeplattet, die
Stirn tritt nach hinten zurück, das Hirn, wie schon gesagt,
ist klein und unvollkommen; dagegen sind die Arme, welche
bis zu deu Kuieen hinabreichen, sehr stark; die unteren
Gliedmaßen zu kurz, sonst-aber wohlgestaltet; der vordere
Theil des Fußes ist nicht gehörig entwickelt, und deshalb
kann das Thier nicht lange gerade aufrecht stehen; das
schwarze, glatte Haar wächst über den ganzen Körper.
Die Schwarzen haben große Furcht vor diesem gewal-
tigen Affen, der in ihren Sagen, Erzählungen und im
Aberglauben eine große Nolle fpielt. Er ist nicht etwa
ein fleischfressendes Thier, und es scheiut, daß er Menschen
nur dann angreife, wenn sie feindlich gegen ihn auftreteu.
Der Jäger kann ihm ganz nahe kommen, ist aber unrettbar
verloren, wenn sein Schuß nicht auf der Stelle tödtet. Es
scheiut, als ob das Leben aus diesem ungeheueru Körper
sehr rasch entweiche; alle Gorillas, welche Griffen dn Bellay
gesehen hat, waren an Wunden gestorben, welche den Tod
eines Menschen nicht unmittelbar zur Folge gehabt haben
würden. Eiue eigentümliche Vorrichtung im Kehlkopfe
ermöglicht, daß dieser Affe feiner Stimme eine erschreckliche
Stärke geben kann; das Geschrei eines jungen Gorilla
gleicht aber auf eiu Haar dem eines menschlichen Kindes,
und man könnte auf den ersten Blick folch ein Gorillachen
mit einem Negerlein verwechseln, wenn nicht die Haare
wären. Es ist niemals geluugeu, solch eiu Junges auf-
zuziehen und zn zähmen, und es kann gar keine Rede
davon sein, einen ausgewachsenen Gorilla lebendig einzn-
fangen.
Der Elephant dieser Gegenden hat außerordentlich
stark entwickelte Zähne. Man sieht Proben davon aus
unserm Bilde, welches den schwarzen Elfenbeinhändler
Uasfengo darstellt. (Siehe S. 199.) Die Pahuins lie-
fern, unter den verschiedenen Stämmen, jetzt das meiste
Elfenbein. Früher, als sie zuerst am Como erschienen,
jagten sie für Rechnung der Bakalaüs, von denen sie
Flinten bekamen; sie mußten die Zähne abliefern, durf-
ten aber das Fleisch für sich behalten. Jetzt haben sie
selber Schießgewehre und verwerthen ihre Jagdbeute für
sich. Der Pahnin versteht sich vortrefflich auf die Eigen-
thümlichkeiteu des Elephauteu, der truppweis iu deu Wal-
dern lebt und sich so ziemlich iu derselben Gegend hält.
Man veranstaltet eine Art von Treiben, beunruhigt die
Thiere und richtet Alles dabei so ein, daß sie sich ans einen
verhältnismäßig kleinen Raum zusammendrängen. Dieser
wird dann mit Schlingpflanzen und Gesträuch umschlossen;
eiu solcher Zaun kann natürlich die Elephanten nicht am
Durchbrechen hindern, bildet aber immerhin einHinderniß,
und zu rechter Zeit wird ein Angriff mit Speeren und
Flinten gemacht. Dann und wann werden Elephanten
vergiftet, auch wohl iu Fallen gefangen, oder vermittelst
einer besondern Vorkehrung eines gewaltigen, zugespitzten
Balkens erschlagen. Dieser wird an einem Punkt im Wald
angebracht, welchen der Elephant aus der Flucht uothweudig
berühren muß; der Balkeu stürzt herab und zerschmettert
den Rückenwirbel.
Die Franzosen sehen ganz gern, daß die Pahuins der
Küste immer näher kommen. Was sie aber „zum Nutzen
des Landes" mit solchen trägen Barbaren anfangen wollen,
ist Uns wenigstens unklar. „Sie werden unruhige Unter-
thanen sein und Hülfsgenoffen, die mau nur mit Mühe
im Zaume halten kann. Für gewöhnlich erscheinen sie
ziemlich sanft und gastlich, dabei ist aber ihr Charakter auch
äquatorialen Westafrika.
mißtrauisch und wankelmüthig. Aber eine Energie steckt
in ihnen, welche sonst bei den Schwarzen nur selten vor-
kommt." Also die vollen, leibhaftigen, für die Welt ganz
unnützen Barbaren.
II. Eine Fahrt aus demOgowa'i zu den heiligen
Inseln im Jonanga-See.
Im Jahr 1862 wurden die Häuptlinge am Kap
Lopez durch Verträge den Frauzoseu uuterthan. Dieses
Vorgebirge liegt zwischen dem Aequator und dem 1° südl.
Br., iu dem Delta, welches durch die Verbreiterung und das
Auseinanderweichen der Münduugeu des Ogowai gebildet
wird. Der Strom war damals nur erst sehr wenig bekannt.
Sein nördlicher Deltaarm, derNazar«, wurde damals
ganz französisch. Der befehligende Admiral wollte die
Flagge seines Landes zeigen, den Ogowai untersuchen
lassen und wo möglich ermitteln, ob zwischen diesem und
den Zuflüssen des Gabon eine Wasserverbindung vorhanden
sei. Der Schiffslieutenant Serval unternahm die Fahrt
mit dem „Pionier", und Griffon du Bellay ging mit ihm.
Am 18. Juli, mitten in der trocknen Jahreszeit, kamen
sie in den Nazar6, der um niehr als 6 Fuß gefallen war
uud noch immer seichter wurde. Am andern Morgen saß
der Pionier, etwa 60 Miles von der Einfahrt, aus einer
Sandbank fest, fchou im Ogowai selbst. Das in den
sumpfigen Stromniederungen wuchernde Maugrovegebüsch
war verschwunden; jetzt traten Pandauus und Puccas auf,
dann auch Oelpalmeu uud Euimbas, kurz, die gauze üppige
Vegetation, wie wir sie iu der vorigen Nummer geschildert
haben. Aber im Flußbett überall Inseln und Sandbänke,
und der Pionier wurde nur durch große Anstrengungen
wieder flott. Etwa 16 Miles weiter aufwärts lag das
Dorf Dambo, und weiter konnte der Pionier nicht kom-
men; er hätte sonst bis zur nächsten Regenzeit fest liegen
müssen.
So blieb nichts übrig, als einen Kahn zn besteigen.
Mit einem solchen konnte man natürlich nur langsam vor-
wärts kommen und war von dem guten oder bösen Willen
der Eingebornen abhängig.
Der Häuptling in Dambo hieß Ngowa Akaga; er
benahm sich sehr gut uud besuchte am Abend den Watan g a,
d. h. das große Schiff der Weißen. Sein Erstaunen über
Alles, was er sah, war doch nur mäßig, auch iu seinen
Lobeserhebungen lag einige Zurückhaltung, und das war
sehr löblich; denn was der Schwarze sehr lobt, danach ist
er habgierig. Er gab eine seiner größten Pirogueu her
uud dazu uoch einige Matrosen. Und dann begann eine
Fahrt, die volle drei Wochen dauerte uud auf welcher die
Reifenden nur selten einige Ruhe hatten.
Gewöhnlich wurde Morgens sehr früh aufgebrochen,
während der heißesten Tagesstunden bei einem Dorf ange-
legt, nachher bis Abends weiter gerudert uud bei der ersten
besten Ortschaft übernachtet. Weit und breit am Flusse
waren die Leute in Bewegung; neugierig waren sie sehr
und Geschenke wollten sie auch haben; jeder Häuptling
machte Anspruch daraus, die Weißen bei sich zu sehen;
Nichtbeachtung galt für Beleidiguug. Die weißen Männer
waren an dem wichtigen Dorf Arumbe vorübergerudert,
weil sie dasselbe nicht bemerkt hatten, itub rasteten dann
etwas weiter stromauf. Bald erschienen ein halbes Dutzend
Nachen mit Bewaffneten; sie verlangten, daß umgekehrt
werden solle; sast gleichzeitig kam eine Flottille von oben
her aus einem andern Dorfe, an welchem die Europäer
Schilderungen aus dem
vorüber fahren mußten. Zwischen beiden Theilen erhob
sich ein sehr lautes und heftiges Palaver, das aber am
Ende ruhig ablies. Man einigte sich dahin, daß Arumbe
während der Rückfahrt besucht werden solle; aber so viel
war nun ausgemacht, daß in jedem Dorfe vorgesprochen
werden mußte. So geschah es iu Gamby, Atschanka und
Jganeh, alle von Leuten bewohnt, die von der Küste stam-
men und vermittelst des südlichen Mündungsarmes laud-
äquatorialen Westafrika. 231
hübsche Tabackspstanzen vorhanden; sie waren aus Cougo
gekommen und die Galos wußten die Blätter nicht zu
benutzen! Doch ist der Feldbau ungemein spärlich; nur
dann und wann wird der Boden ein wenig ausgekratzt und
besamt. Die Eingebornen kennen gar kein Mineral, nicht
einmal Eisen. Ihre Waffen und Werkzeuge bekommen sie
durch Vermittlung der Handelsleute au der Küste aus deu
Schiffen und Faktoreien der Europäer, oder von den oft-
König Yondogowiro als Geisterbeschwörer.
einwärts gekommen sind, während andererseits jene von
Dambo und Arumbe offenbare Verwandtschaft mit den
Gabouefeu haben und am nördlichen Mündungsarme, dem
Nazare, stromauf gedrungen siud.
Die Reisenden befanden sich nun inmitten des Stam-
mes der Galos (Galois). Er ist der wichtigste am
Ogowa'i, scheint von den übrigen verschieden zu sein, redet
aber so ziemlich dieselbe Sprache. Was an Ackerbau vor-
handen ist, gleicht genau dein am Gabou; doch waren einige
(Nach einer Zeichnung von Griffon du Bellas)
wärts wohnenden Aschebas, welche, gleich den Fau's, Eisen
zu schmelzen und zu bearbeiten verstehen.
Die Sandbänke am Ufer boteu eine eigenthümliche Er-
scheinung dar, kreisrunde Aushöhlungen von merkwürdiger
Regelmäßigkeit, von etwa 4 Fuß Durchmesser und 1Y2 Fuß
Tiefe. Die meisten lagen, des niedrigen Wasserstandes
wegen, frei. Diese Löcher gräbt ein hier sehr gemeiner
Fisch, der Cendo, mit seiner gehörnten Schnauze, um
seineu Rogen darin abzulegen.
Si'r '■■■'
Mm-
II
WbßHV
llg
S:'H
«Iii
232
Schilderungen aus dem äquatorialen Westafrika.
Serval wollte den Ogowai bis zu dem Punkt hinauf-
fahren, wo er durch die Vereinigung des Okanda und des
N'guniai gebildet wird. Dort hoffte er neuen Stämmen
zu begegnen, z. B. den Eninkas, welche direkte Verbin-
dnng mit den Zuflüssen des Gabon zu haben scheinen, und
vielleicht auch mit den Oschebas, welche manches Ueber-
einstimmende mit den Fans aufweisen. Aber die Reise
Wurde immer unsicherer, das Volk immer gieriger nach den
verschiedenen europäischen Maaren, welche in der Pirogne
geborgen waren. Schon in Arumbe hatten die Neger
Nachts in allem Ernste berathen, ob sie zu offener Gewalt
schreiten und den Kahn plündern sollten; sie beschlossen,
mit den Leuten im großen Dorfe Bombolieh gemein-
daran nichts, vielmehr sei die weiße Haut doppelt gefähr-
lich. Diese und ähnliche Dinge wurden weit und breit
erzählt, auch am 3t g nur, dem Fluß oder Kanal, vermittelst
dessen der Jonanga-See seinen Abfluß iu den Ogowai
hat; derselbe ist etwa drei Viertelstunden Weges lang. Zu-
erst im See kommt mau nach der Insel Asinghibuiri,
wo übernachtet wurde.
Der See bietet eiu unbeschreibliches Schauspiel dar;
er ist aus ungemein mannigfaltige Weise aus- und einge-
zackt, und tu jeder Bucht fällt von den Uferbergen ein Gieß-
bach hinab, welcher das Wasser der umliegenden Höhen
dem See zuführt. Aber fein einziger von den vielen Zu-
slüsseu ist irgendwie bedeutend; sie alle sind klein. In der
Ngowa und Agneille, Frauen vom Stamme der Galoö. (Nach einer Zeichnung von Griffon du Bellay.)
schaftliche Sache zu machen und mit ihnen den Raub zu
theilen.
Von weiterm Vordringen konnte nun keine Rede mehr
sein, und Serval fuhr zurück, um deu See Eliva oder
Jonanga zn besuchen, von welchem die Leute am Ogowai,
namentlich die Galos, so viele wunderbare Dinge erzählten.
Dort ist das eigentliche Heiligthum ihrer Religion; dort
könne man seltsame Erscheinungen sehen. In den Wolken
schwimmen große Fahrzeuge der Weißen, welche am Kap
Lopez vorüberfahren, also in einer Entfernung von etwa
35 deutschen Meilen. Dort wohnen gewaltige, mißtrauische
Geister, und wenn ein Nichteingeweihter sich den heiligen
Inseln, auf welchen sie Hausen, nahen will, dann schlägt
sein Fahrzeug um und er selber findet seinen Tod. Daß
die Reisenden Tang an is, weiße Leute seieu, ändere
trockenen Jahreszeit hat der See etwa 12 bis 18 Fuß Tiefe
und das Wasser ist vollkommen klar und durchsichtig, wäh-
rend jenes im Ogowai überall eine ganz eigentümliche,
röthliche Färbung zeigt. Auf der Ostseite steigt das Ge-
läude rasch empor und in mehren Stufen bis zu deu
Aschaukolobergen an, welche den Horizont schließen;
durch diese bricht sich der Ogowai seine Bahn.
Der Pstanzenwuchs an deu Ufern ist wunderbar präch-
tig, die Obasbänme sind herrlich-und Kautschuk-Lianen in
Menge vorhanden; dagegen erscheint die Oelpalme selten.
Der Uferrand ist grasbewachsen, dicht am Wasser steht eiue
niedliche Hemeroeallis mit weißer Blüthe; nirgends Schils,
Binsen oder andere derartige Gewächse, welche stagnirendes
Wasser und schlammigen Boden andeuten. Wahrschein-
lich ist die Gegeud am See gesund.
©djifbenutzen ans dein äqitafoviafcu Westafrika.
233
Aber ste wird mit* spärlich bewohnt, vonGalos; weiter-
hin jenseits der Aschankoloberge wohnen die Aschiras.
Mit zweien von diesen trafen die Reisenden zusammen;
die Stirn war schmal nnd trat weit zurück, das Gesicht
knochig und ohne allen Ausdruck von Intelligenz. Nebri-
gens verfertigen sie den größten Theil der feinen und
weichen Matten, welche im Handel als Matten von
Loango oder Loanda vorkommen. Die Aschiras feilen die
Zähne spitz.
Hüstenschurz von sehr zweifelhafter Sauberkeit und einen
uralten, ganz abgegriffenen weißen Hut von europäischem
Ursprung.
Die Insel Arumbe umschließt die heiligen Stätten
der Galos-Religion; sie allein ist bewohnt und erfreut
sich eiues besonderu Vorrechtes. Auf ihr werdeu die Fetisch-
Priester für das gauze Volk erzogeu und gebildet; dort ist
das Seminar für die Geistlichen, und der König. hat in
religiösen Dingen viel zu sagen. Die Fremden wnrden bei
Cj"fA/V
Ein Zögling aus demISeminar der Fetischpriester auf Arumbe im Jonanga-See. (Nach einer Photographie.)
Auf deu bewaldeten Abhängen der Aschankoloberge
wohnen die schon früher erwähnten Bakalais. Sie sind
kriegerisch, schleppen den Sklavenhändlern manche Aschiras
zu und lassen die Anwohner des Flusses nur in Ruhe, weil
sie dieser als Mittelsleute für den Verkehr mit der Küste
bedürfen. Sie haben nur zwei Dörfer am See inne;
Asinghibniri wird vonGalos bewohnt, und dort fanden
die Fremden eine recht gute Aufnahme. Der König hatte
seinen besten Staat angelegt; er trug einen baumwollenen
Globus IX. Nr. 8.
ihrer Laudnng von etwa zehn solcher Seminaristenknaben
empfangen; diese sahen ganz intelligent aus, waren aber
sonderbar aufgeputzt. (Siehe unsere Abbildung.) Sie trn-
gen einen Schurz wie die Bakalais, der über den Hüften
vermittelst eines aus weißen Perlen verfertigten Gürtels
befestigt war; auch hatte er Verzierungen von Perlen und
rother Chenille; von dem ausgeschweiften Rande hingen
Büschel blauer Glasperlen und Schellen herab. Den
übrigen Schmuck zeigt unser Bild sehr deutlich; die Ringe
234 Schilderungen aus dem
an Armen und Beinen sind von Messing. Diese Seminar-
kleiduug tragt der junge Fetifchlevit, bis er 17 oder
18 Jahre alt geworden ist; dann wird er in die Geheim-
nisse der Religion eingeweiht und „sieht den Fetisch".
Bis daher war es auch seine Pflicht, sich von allem weib-
lichen Umgange fern zu halten, nun aber, wenn er Priester
geworden ist, verläßt er die heilige Insel und verkehrt mit
der Welt wie jeder Andere.'
Die Reisenden erhielten zwei Fetischseminaristen zm'Be-
gleitung nach demDorfe Aru mb e, wo der König schon des
fremden Besuches harrte. Er prangte in seiner besten Gala-
kleiduug, welche auf uusrer Abbildung getreu wiedergegeben
ist. Der Himmel weiß, woher die Uuiformstücke gekommen
waren; Epauletteu von gelber Wolle mit spinatgrünen
Punkten; auf deu Messingknöpfen drei übereinanderliegende
Kanonen mit der Umschrift: Ubique! Seine Majestät trug
eine vor manchen Jahren schon in Ruhestand versetzte Kor-
poralsuniform, soweit die obere Körperhälfte in Betracht
kommt; weiter abwärts sahen allerdings die Sachen etwas
dürftiger aus, namentlich wenn man bedenkt, daß Nondo-
gowiro nicht bloß König, sondern zugleich eiue Art von
Papst oder mindestens Erzbischof in jenen Landen ist. Ein
zweiter Oberpriester, der in Religionsangelegenheiten eigent-
lich noch mehr zu sagen hat, wohnt in einem Dorf am
Ogowai und kommt nur felteu nach Arumbe. Er sowohl
wie der Köuig gehören Priesterfamilien an, und Bondo-
gowiro hat eine Base des Oberfetischpriesters zur Frau
genommen, während der letztere eine Tochter des Königs
zur Hauptfrau nahm. Beide vornehmen Damen sind sehr
genau dargestellt; was besonders au ihnen ausfällt, das ist
der eigeuthüuiliche Kopfputz, welcher sich von jenem der
Gabonesinueu ganz und gar unterscheidet.
König und Königin waren so freundlich, die weißen
Männer nach den heiligen Inseln zu begleiten, und trotz
der bösen Prophezeiungen nahm Alles den besten Verlauf.
Die Fahrt war fo angenehm, wie in einer Hitze von 39
bis 40°, bei bedecktem Himmel, möglich ist.
Die beiden Eilande prangen im üppigsten Grün und
spiegeln sich fast magisch ab in dem krystallklaren Wasser;
sie sind ein Paradies für die unzähligen Vögel, welche
dort ungestört nisten können. Auf dem Felsen steht der
große Ibis und rührt sich kaum, obwohl der Rachen kaum
ein paar Ellen von ihm vorübergleitet. Auch ein weiß-
gelblicher Geier, eiu Taucher und die Pelikane kümmern
sich gar nicht um die Menschen, welche von den geheimniß-
vollen Geistern freilich keine Spur bemerken konnten. Der
Galosdolmetscher war klüglich in Arumbe zurückgeblieben,
und selbst die Laptots, die sich doch als Mohammedaner
aus heidnischen Geisteru gar nichts machteu, hatten allerlei
bedenkliche Aeußernngen fallen lassen. Aber heute würden
die Geister eine schwere Aufgabe gehabt haben, — war
doch Nondogowiro, der große Fetischmann, an Ort und
Stelle; der konnte sie beschwören und in die gebührenden
Schranken zurückweisen.
Der kleine alte Mann mit seiner Kanonieruniform,
deren hoher Kragen ihm bis über die Ohren reichte und
deren Aermel etwas zu kurz waren, stand auf itnb streckte
seine Arme zunächst gegen die Pelikane aus, die auf folche
Weife eine religiöse Huldigung empfingen. In der linken
Hand hielt er die Schelle, das Zeichen seiner priesterlichen
Macht und Würde; mit der andern zerkrümelte er einen
Brotkuchen, warf die kleinen Stücke ins Wasser und redete
dann die Geister an: — „Hier sind weiße Leute. Sie sind
hergekommen, um euch git sehen. Macht sie nicht krank; sie
bringen euch Gescheuke. Laßt sie nicht sterben, sondern
gesund an den Gabon zurückkommen."
äquatorialen Westafvika,
Das einfache Gebet schien aufrichtig gemeint zu sein,
es half aber nicht in allen Stücken, denn Serval bekam
doch das Fieber. Räch der Zerkrümelung des Kuchens
füllte Bondogowiro seinen Mund mit Atugu, d. h. mit
Branntwein, welcher durch die Europäer in jene Gegenden
gelangt, und spritzte denselben dann in die Luft. Doch ist
es nur billig, zu bemerken, daß er auch seinen Magen
berücksichtigte, gleichsam, wie es sich für einen Priester
gebührt, sich den Zehnten aneignete. Uebrigens wurde
diefe Ceremonie mehrmals wiederholt, während Königin
Aguille gemüthlich am Boden faß und eine Pfeife Taback
rauchte.
Die Inseln selbst wurden von den Weißen Männern
nicht betreten, denn dieses Vorrecht gehört ausschließlich
den großen Fetischmännern. Sie fuhren im Kahn um
dieselben herum und kamen dann an den Eingang zn einem
Kanal, durch welchen der Jonanga mit noch einem kleinen
See, dem Eliva Widanga, in Verbindung steht. Bei
der Einfahrt in diesenKanal bemerkt man die oben erwähn-
ten nanskopischen Erscheinungen, welche aber, wie die Leute
sagen, nur während der Regenzeit vorkommen; ganz aus
der Luft ist die Sache nicht gegriffen. Wenn man sich
während der Regenzeit bald nach Sonnenaufgang vor deni
Eingange zum Kanal mit dem Gesicht nach Westen richtet,
dann bemerkt man in den Wolken weiße Gestalten, und
in diesen will man Schiffe erkennen, die am Eap Lopez
vorbeisegeln. Die Leute behaupten, man könne deutlich
sehen, wie sie manöveriren, die Segel einziehen und
Kanonen abfeuern. Plötzlich verschwinde Alles wieder.
Vielleicht erklärt sich das aus einer eigenthümlichen Luft-
spiegelung; jedenfalls handelt es sich um ein Phäno-
men, welches die Eingebornen mit abergläubiger Ehrfurcht
erfüllt.
Der Ausflug nach den heiligen Inseln war recht loh-
nend und dankbar gewesen. Die Reisenden nahmen Ab-
schied von den Leuten in N'Dembo, fuhren wieder den
Ogowai hinab und besuchten noch einen kleinen See, den
Nioge, welcher unweit vom Dorfe Avanga Wiri liegt.
Bis dorthin wohnen Galos; dann folgen Stämme, welche
in unmittelbarem Verkehr mit der Küste stehen. Allmälig
traten nun am Ufer wieder Binfen auf; alfo wurde der
Boden niedriger und bald nachher sumpfig.
Die Leute von Arumbe hatten sich verabredet, den
Weißen so viel als irgend möglich abzupressen und dem
Steuermann einen Denkzettel zu geben; denn sie wähnten,
es sei dessen Schuld geweseu, daß der Kahn ohne anzulegen
an ihrem Dorfe vorüberfuhr. Deshalb fuhr man nun
während der Nacht an Arumbe vorüber und war bei
Sonnenaufgang schon am Bandu oder Bango. Dieser
bildet den ersten großeil Flußarm, welcher sich am linken
^fer des Ogowai von diesem abzweigt und zum Meere
strömt. Er bildet die südliche Grenze des Delta.
^Einige Stunden später lag die Pirogue vor dem Dorfe
des freundlich gesinnten N'Gowa Akaga,^ der König von
Dambo ist. Er empfing die Weißen Männer mit nnge-
heuchelter Freude. Diefe bestiegen nun wieder ihr Schiffs-
boot, fuhren deu Afin Tongo hinauf, einen Zufluß des
Ogowai, dann einen noch engern Kanal, den Gongoni,
und gelangten durch diefeu in deu obenerwähntenBango.
Sie hatten gehört, daß diefer letztere mehre Verbindungen
mit dem Auengue-See habe, und als das Boot quer-
über fuhr, gelaugte es auch richtig in einen diefer Verbin-
dungskanäle, den kleinen ?vluß Guaib iri.
Im Bango wimmelte es von Flußpferden, die auch
im Ogowai nichts weniger als selten sind. Ueberall am Ufer
bemerkt man ihre Spuren; bisher aber waren sie nur in
Schilderungen ans dem
vereinzelten Paaren bemerkt worden und hatten nur Kopf
und Rücken über dem Wasser sehen lassen. Beim leisesten
Geräusch tauchten sie unter. Jetzt kamen sie in größeren
Rudeln vor, stoben aus einander, wenn eine Kngel geflogen
kam, erschienen aber bald wieder.
Vom Guaibiri aus wollte das Boot zum Anengue-See
fahren, mußte aber bald wieder umkehren, weil der Kanal
in einen sumpfigen Sack eudete. Am andern Tage ver-
suchten sie die Fahrt mit einer Pirogne, mußten dann aus-
steigen und drei Stunden weit theils im Schlamme waten,
die Pirogue hinter sich her ziehend. So fanden sie zuletzt
den Anengue-See, der eigentlich nichts weiter ist als
ein ungeheuerer Sumpf und Morast, seicht, ungemein
reich an Fischen und ein Paradies für die Krokodile. An
äquatorialen Westafrika. 235
So ging diefe Reise Griffen dn Bellay's und Servals
zu Ende. Einige Monate später unternahmen Beide wie-
der einen Ausflug, dessen wir kurz erwähnen wollen. Es
lag ihnen daran, die Wasserwege zu erforschen, welche von
einem der Zuflüsse des Gabon, dem Ramboeh, ausgehen
und denselben in unmittelbare Verbindung mit dem obern
Ogowai bringen. „Der Weg geht durch prächtige Wälder,
in denen mehr Gorillas und Elephanten als Menschen
leben." Derselbe war etwa 25 Lieues laug, auf beschwer-
Itcheu Pfaden; aber die Obdachhütten, welche an manchen
Stellen errichtet sind, beweisen, daß hier ein Verkehr statt-
findet, eine Handelsverbindung zwischen beiden Flüssen.
Griffen du Bellay litt noch an den Nachwehen einer Krank-
heit, bekam in einem Bakalaidorf einen Fieberrückfall und
Die heiligen Inseln im Io»anga-See. (Ä
der Südseite ist das Ufergelände hoch, und dort liegen
einige wenige Dörfer, deren Bewohner schon seit längerer
Zeit mit den Faktoreien am Fernand Vaz in Verbindung
stehen; sie verkaufen denselben Elephantenzähne, Palmöl
und Kautschuk.
Dieser Ausflug zum Anengue-See war bei der drücken-
den Hitze uub einer ganz stillen Luft äußerst angreifend.
Ohne Bedauern verließen die Reisenden diesen „traurigen
Sumpfmorast", an welchem Serval sich ein heftiges Fieber
holte. Mit der Phantasie du Chaillu's, der da wähnt, der
Anengue werde künftig einmal eine Menge von Reis in
den Handel liefern und von Dampfern befahren werden,
— ist es rein gar nichts, schon des pestilentialischen Klimas
wegen.
5) einer Zeichnung von Griffen dn Bellay.)
konnte deshalb nicht bis zum Ogowai vordringen. Serval
aber erreichte denselben an einer Stelle, die etwas höher
aufwärts lag, als der Punkt, welchen beide Reisenden aus
der oben geschilderten Fahrt in ihrer Pirogue erreicht
hatten. Der Fluß hat dort noch eine Breite von mehr
als 3000 Fuß, bildet also einen wichtigen Wasserlauf;
aber wir wissen nicht, von wannen er kommt.
Ein Blick aitf die neuesten Karten von Afrika zeigt, daß
im westlichen Theil zwischen 7° N. und 4° eine noch völlig
unbekannte Gegend liegt, welche während eines Theils im
Jahre eine große Menge feuchten Niederschlages erhalten
muß. Nach welcher Seite hin haben die Wasser ihren
Abzug? Nicht zum Tsad, denn wir wissen aus Barths
und Vogels Mittheilnngen, daß derselbe keine Zuflüsse
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236
Ein altphönieisches Bergwerk in Spanien entdeckt.
erhält, welche über den 7 hinausliegen. Vielleicht nach
Süden hin §itnt Congo. Aber wir haben noch keinen Be-
weis, daß derselbe so weit reiche. Griffon dn Bellay
meint, es sei wahrscheinlich, daß auch in Westafrika,
ähnlich wie im Osten des Erdtheils, eine Zone
großer Binnenseen liege. Ist nun der Ogowa'i,
der einzige große Strom dieser Region, der
Abzugskanal dieser S'een? Jedenfalls würde eine
nähere Erforschung lohnend sein, denn es handelt sich um
eiue, wie bemerkt, noch völlig unbekannte Gegend. Frei-
lich sind weder Straßen noch Transportinittel vorhanden.
Was das Land am Gabon betrifft, so fragt unser tress-
licher Gewährsmann: „Was sollen wir mit einem Land
ansangen, das gar keinen regelmäßigen Handelsartikel
liefert? Das Bischen Ebenholz, Färbeholz und Elfenbein
ist nicht von Belang, und ohnehin wird das Land erschöpft,
da nichts für Nachwuchs geschieht. Von Baumwollenbau
kann keine Rede sein, der Neger arbeitet nicht und der
Europäer kann in einem solchen Klima nicht arbeiten.
Vielleicht ließe sich durch Anbau von Oel gebenden Bäumen
Einiges erzielen. Vielleicht verständen sich die Eingebor-
nen zum Anpflanzen derselben. Mit ihrem ganzen Wesen
ist nur eine einzige Anstrengung verträglich: sie möchten
alle Jahre ernten, ohne gesäet oder gepflanzt zu haben!"
Ein altphönieisches Bergwerk in Spanien entdeckt.
Eiu pariser Blatt, La Presse, bringt folgenden Bericht
aus Hiendelaencina, einer Oertlichkeit, über welche
wir in den uns vorliegenden Werken über Spanien nichts
finden. Vielleicht handelt es sich um eine Silbergrnbe.
Wir gebeu den Bericht, wie wir ihn im Athenäum vom
2. Dezember finden.
„Bergleute, welche in der sogenannten Weißen Kiesel-
grübe, welche seit langer Zeit im Besitze der Familie Orfila
sich befindet, Silber grnben, haben jüngst eine Entdeckung
gemacht, welche für Archäologie und Kunst von großem
Interesse erscheint. Während sie in den Schächten arbei-
teten, kamen sie plötzlich an solche, welche ans den ältesten
Zeiten herrühren. Sie überzeugten sich, daß man damals
in sehr sachverständiger Weise und nach einem Wissenschaft-
liehen System Bergbau getrieben hat. Die Gerätschaften
und Werkzeuge waren so gut erhalten, daß man mit Be-
stimmtheit sagen kann, sie seien nicht römisch, sondern
karthagisch oder phöuieisch. Schlägel, Erzsiebe, ein
Schmelzofen und zwei Amboße erregen die Bewunderung
der spanischen Bergingenieure. Alles ist sorgfältig gefam-
utelt worden und wird eine genaue wissenschaftliche Prüfung
erfahren. Ein Gleiches wird der Fall sein mit den Kunst-
gegenständen, die, wie es heißt, in den Nischen einer Ro-
tunde, im Mittelpunkte der Gruben, gesunden worden sind.
Es scheint, als ob diese Rotunde den Göttern des Berg-
baues gewidmet war. Man fand darin drei Statuen; die
eine von halber Lebensgröße in sitzender Stellung; die
beiden anderen sind Standbilder und etwa 8 Fuß hoch.
Von griechischer oder römischer Kunst ist an ihnen keine
Spur zu finden, wohl aber erinnern sie an den Styl einer
Sknlptur, welche 1854 auf der andern Seite des Gebirges
(—• welches? —) gefunden wurde und die sich nun als
„kathagischer Herkules" in der Armeria zu Madrid befindet.
Dieselben Symbole fand man auf einem Dreifuße uud auf
einem Kasten, welche beide an den Wänden der Rotunde
standen. Schon jene Entdeckung vou 1854 hatte großes
Aufsehen in der wissenschaftlichen Welt erregt; die gegen-
wärtige wird es in noch höherm Grade. Geräthe, Werk-
zeuge uud Kunstgegenstände befinden sich im Cabiucte des
Herrn Lassery zu Valladolid."
So lautet die etwas dürftige Mittheilung der „Presse".
Wir dachten beim Lesen derselben unwillkürlich an die vor-
treffliche Schilderung, welche der alte Strabo von dem
Metallreichthum Spaniens uud dem Bergbau entwirft, und
wir erinnern uns, daß er namentlich vom Durchsieben des
Silbererzes gesprochen hat. Beim Nachschlagen fanden
wir die Stelle (Buch III, 2. 9). Strabo beruft sich auf
Polybius, welcher die Silbergruben bei Karthago (Cartha-
gena) schildert, uud bemerkt, daß dort 40,000 Arbeiter
beschäftigt seien, welche tagtäglich dem römischen Volke für
25,000 Drachmen Silber lieferten. „Der herange-
schlämmte Silberkies aber", sagt er, „wird gepocht und in
Sieben über Wasser durchgesiebt ö? ovQvrjv ßcdlov ztjv
UQyvQlr.iv t/rjGt. xo7iz£G!)-ai,, y.cxl xoGxivoig kl? vdtpQ diuv-
xe<aocu; — diese Lesart ist besser als die frühere ömqzccg-
—); der Bodensatz werde wieder gepocht, abermals
durchgeseihet und dauu noch einmal zerstampft, nachdem
man das Wasser abgegossen. Der fünfte Bodensatz erst
werde geschmolzen imd liefere das reine Silber, nachdem
man das Blei abgegossen." Strabo bemerkt, daß diese
Gruben noch zn seiner Zeit, also ungefähr zu Anfang
unserer Zeitrechnung, im Betrieb feien, aber nicht mehr als
Staatseigenthum; dagegen gehörten die meisten Goldgruben
iu Spanien dem Staate.
Einige Paragraphen früher erwähnt er, daß man
Grubenwasser mit ägyptischen Schueckeu auspumpe. Er
rühmt und bewundert den Reichthum an Metallen, „denn
das ganze Land der Iberer ist voll davon", und vonTnrde-
tanien (Bätica) insbesondere äußert er: „Weder Gold noch
Silber, weder Kupfer noch Eisen ist bis jetzt an irgend
einem Orte der Erde weder in so großer Menge noch von
so vortrefflicher Beschaffenheit gefunden worden. Das Gold
aber wird nicht blos gegraben, sondern anch geschlämmt;
denn die Flüsse und Waldbäche führen den Golofand herab,
welcher oft auch an wasserlosen Stellen gefunden wird."
Mau meint, der alte Geograph schildere australische oder
califoruifche Seencn, wenn er weiter meldet: „Dort ist
freilich der Goldsaud nicht zu bemerken, aber man leitet
Wasser dorthin, damit der Goldstaub glänze. Auch indem
man Brunnen gräbt und andere künstliche Mittel ersinnt,
erhält man Gold durch Abschlämmen des Sandes, und
gegenwärtig sind mehr Goldwäschen als Goldgruben vor-
Händen. In dem Goldstaube sollen bisweilen halbpfün-
dige Klumpen vorkommen (also „Nnggets"); man nennt
sie Palä, und sie bedürfen nur geringer Reinigung. Auch
in zerschlagenen Steinen, so wird versichert, fänden sich kleine
Klumpen, welche den Brustwarzen ähnlich sind. ----Die
Schmelzöfen des Silbers macht man hoch, damit der Dampf
:®!S
G, Ebers: Die Entzifferung der Hieroglyphen.
von den Erzmassen in die Höhe emporsteige, denn er ist
schädlich und kann sogar tödtlich werden."
Moritz Willkomm bemerkt in seiner geographischen
Darstellung des pyrenäischen Halbinsellandes, daß Spanien
237
1K59 nicht weniger als 12,077 Privatbergwerke gehabt
habe; davon waren 4477 Gruben abgegrenzt und in Be-
trieb (davon 2832 Silbergrubeu) und 7N62 nicht in eigcnt-
lichem Betrieb. A.
Die Entzifferung der Hieroglyphen.
Von I)r. Georg Ebers.
II.
Die Entzifferung der Hieroglyphenschrift (2ch. 9)oititg, F. Ehampollion und seine Nachfolger).
Die Inschrift von Rosette zeigt, wie wir wissen,
nur die demotische und hieroglyphische Schreibart. Nach
der theilweisen Entzifferung der elfter» machte sich lange
kein Gelehrter an das Studium der zweiten; glaubte man
doch mit Sicherheit diesen für Symbole gehaltenen Bildern
gegenüber nur eiu müssiges Rebnserrathespiel treiben zu
können, bis der Engländer Thomas Young mit seinen
ersten Entzifferungsversuchen in die Öffentlichkeit trat.
Durch einen Wust vou geistreichen Jrrthümern, Combina-
tionen und Vergleichnngen sich durcharbeitend, hatte der
seltsame Manu die Bedeutung der hieroglyphisch geschrie-
benen Namen Ptolemäns und Arsinoe gefunden, die
einzelnen Zeichen aber großeutheils falsch bestimmt und
auch den Wahn, die ganze Schreibart sei ideographischer
Natur, noch nicht aufgegeben. Nur die fremden Eigen-
namen hielt er für phonetisch und förderte schon durch
diesen Schritt die neben ihm versuchten Forschungen, wäh-
rend im Uebrigeu sciue rathende Art der Wissenschaft keine
goldenen Früchte trug. — Dennoch ist sein Name von uns
hochzuhalten, denn erstens lehrte er die Aegyptologen auch
andere Urkunden, als die Tafel von Rosette (besonders
aber das sogenannte „Todteubuch") zu benutzen, zweitens
veröffentlichte er mehre demotische Urkunden eontraetlicher
Art; drittens stellte er
l !l 11/ Ml
III III Hl IUI (fl II)
ss mi im in n
6 7 8 9 lo
no nnn nnnn
20 30 40
nnn nn^non
50 nn «•
$. <? ?. "
10,000,000
gleich unzählig
Die hieroglyphischcn Zahlen.
ein, nach seinem Tode
erschienenesLexicon zu-
sammen ; viertens fand
er die ägyptischen Zah-
lenzeichen und, möge er
außerdem erzielt haben,
was er wolle, den
Ruhm wird ihm Jeder
lassen müssen, daß er
vielleicht der energischste
n. arbeitskräftigste von
allen Menschen gewesen
ist, die in den letzten
Jahrzehnten gelebt ha-
ben. Sein eloge, eine
der schönsten jener schö-
nen Reden, welche der
große Arago zu Eh-
reu verstorbener Akade-
miker gehalten,' entfal-
tet ein beinahe unmög-
liches Menschenbild.—
Wenn wir den Arzt, Naturforscher und Mathematiker
Hieroglyphen entziffern sehen, so ist das stannenswerth,
wenn wir hören, derselbe habe, als er einen Kunstreiter
gesehen, der auf dem Rücken feines Pferdes stehend die
Geige spielte, ausgerufen: „Das muß ich auch lerneu!"
und binnen Kurzem diese brotlose Kunst auszuüben ver-
standen, so geht uns das hier vielleicht nichts au, kann
aber doch dazu dienen, die fabelhafte Energie jenes
Mannes zu kennzeichnen, der einem Ehampollion den
Ruhm, den ersten Schlüssel zu den Hieroglyphen gefunden
zu haben, streitig inachen wollte und demselben in der
That, besonders durch die glückliche Entzifferung des
Namens Ptolemäns, den ersten Stein zn jenem Wnu-
derbau gereicht hat, den er in späteren Jahren aufzu-
richten bestimmt war. Seiu Verdienst darf gewiß nicht
unterschätzt werden, dennoch aber konnte nur die bit-
terste Animosität gegen Champollions System, und
darum auch gegcu deu Gründer desselben, dem nnn
verstorbenen Uhlemann die Worte dictiren: „Th. Bonng
wird mit Recht bis ans den heutigen Tag als der erste
Begründer einer verständigen Hieroglyphenentziffernng
angesehen werden müssen, so sehr man anch diesen
Ruhm dem Franzosen Ehampollion zuzuschreiben geneigt
ist." Wie ernst diese Behauptung gemeint ist, geht
deutlich aus einem kanm eine Seite später zn hörenden
Ausrufe hervor, den ihm die Nonngfche Analyse der
Namen Ptolemäns und Berenike entlockt. Derselbe lautet
wörtlich: „Welch ein Gemisch von Buchstaben, Sylben-
zeichen und selbst überflüssigen Bildern!" — Der Eng-
länder war, das ist unsere Ansicht, ein beharrlich rächender
und sammelnderMensch; ein verständiges Entzifferungs-
princip, mie Uhlemann will, hat er aber ebenso sicher nie
gesunden, als Ehampollion in der That der Erste gewesen
ist, welcher s e h r l o g i s ch, s e h r v e r st ä n d i g, sehr regel-
recht nicht nur eine dünne Zahl von Namen halb falsch,
halb richtig, sondern vielmehr alle Namen ganz genau
zu lesen lehrte und jenen Schlüssel gefunden hat, mit
dessen Hülfe er, als er starb, der Gelehrtenwelt eine voll-
ständige Hieroglyphengrammatik hinterlassen konnte.
Jean Fr an 90 is Ehampollion, genannt le jeune,
(um ihn von seinem Bruder, dem gleichfalls als Aegyptolo-
gen bekannten Figeae zu unterscheiden), wurde 1790 iu der
Nähe von Greuoble geboren —, war, wenn Einer, präde-
stinirt, Licht in die tiefe ägyptische Finsterniß zu bringen,
welche damals die Bilderschrift vom Nilthal umhüllte. —
Die Eutwickluugsgeschichte des großen Franzosen, der
238
G. Ebers: Die Entzifferung der Hieroglyphen.
schon in seinem 17. Jahre, mächtig gefesselt von dem dle
Pyramiden, den Vater der Ströme und die Lotossänlen
umwebenden Zauber, eine große Arbeit über die Geogra-
phie des alten Aegyptens vollendet hatte, ist äußerst in-
teressaut und durch seine eigenen und seines Bruders Auf-
zeichuuugen federn Wißbegierigen zugänglich.
Im Jahre 1821 gab er seine „ecriture des anciens
Egyptiens" heraus, 1822 "verwarf er sie und gab au ihrer
Stelle in dem für unsere Wissenschast wichtigsten aller
Dokumente, der „lettre a Mr. Dacier" vom 22. September,
reichen Ersatz für dieselbe. Poungs Resultate mögen ihm,
wie gesagt, einen Anhalt gegeben haben; er gelangte aber
zu den seinen aus ebenso verschiedenen Wegen, als sie
größer wurden, wie die Erfolge des Engländers.
Die Lautzeichen in den Eigennamen zu suchen
war sein erstes Ziel, denn er hatte erkannt, daß die alpha-
betische Schreibart derselben kein „chinesischer Nothbehelf
sür Fremde", sondern das beste Mittel wäre, die Nichtigkeit
eines zu suchenden Hieroglyphenalphabets darzulegen; er
vermnthete mit stauueuswerther Sicherheit, die Hierogly-
phenschrist müsse verschiedene Zeichen für denselben Laut,
also Homophone gebrauchen, und begab sich nun an die
eigentliche Entzifferung, indem er von dein Sichern anf das
Wahrscheinliche schloß und das Wahrscheinliche durch das
Sichere zu belegen suchte.
Champollion besaß, außer in der Inschrift von Rosette,
durch einen Obelisken den Namen Ptolemäus. Dies auf
der Insel Philae gefundene Denkmal war nach London
gebracht worden, zeigte hinter dem des Ptolemäus noch em
anderes Königsschild und hatte an seinem Fuße eine grie-
chische Inschrift, welche die Neimen der Gattin und
Schwester des Ptolemäus, Cleopatra, erwähnte. So
war es denn wahrscheinlich, daß die zweite Eartouche den
Namen Cleopatra enthalte; und das um so mehr, da der
Halbkreis und das Ei, welches die fragliche Gruppe ab-
schlössen, schon bei mehren ans mechanischem Wege heraus-
gebrachten weiblichen
Namen, z. B. der „Arsi-
ttoe", „Isis" ic. be-
merkt worden waren. Die
Vergleichnng der einzelnen
Der hieroglliphische Name Ptolemäus. Buchstaben " der Worte
Ptolemäus und Cleopatra mußte zu einem Beweise führen,
denn durch eine glückliche Fügung finden sich in beiden fünf
gleiche Laute.
Die 1. Hieroglyphe im Namen Cleo-
patra, ein Winkel a (keli), mußte gleich
k sein uud durfte sich nicht im Ptole-
mäus finden, wie er sich denn auch nicht
faud.
Das 2. Zeichen, eine Löwin
(laboi), mußte 1 bedeuten,
und sand sich richtig im Ptole-
maus au der 4. Stelle.
Das 3. Zeichen, ein Schilfblatt
(ake), fand sich als 6. und 7. Buch- fi
stabe im Ptolemäus und schieu, wie ^
man richtig vermnthete als Rednpli-
cation des „e" in der Cleopatra, das
in dem griechischen molffiaio; darstellen
zu sollen. (Vielleicht ein neuer Beweis
für die Aussprache des Alpha-Jota.)
Das 4. Zeichen, über dessen
Bedeutung verschiedene Ansichten
herrschen (Champollion hielt es für
„uns fleur sur une tige recourbee", „eine Blume
Cleopatra.
an einem zurückgebogenen Stengel", mußte o bedeuten
und im Ptolemäus den 5. Platz einnehmen. Dies war
auch wirklich der Fall.'
Ebenso richtig fand sich das beinahe quadratische
Rechteck, welches an der 5. Stelle in der Cleopatra
ein p darstellen mußte, als erster Laut des Pto-
lemäus wieder.
Der 6. Buchstabe in dem ersten Namen, ein Adler,
- aus Koptisch „achom", muß, wie das schon aus
J$r einer später eonstatirten Regel aus dem Anfangs-
buchstaben geschlosseu werden darf, „a" ansgespro-
chen werden, findet sich natürlich nicht im Pto-
lemäus; wohl aber, als ueue Bestätigung, an
der letzten Stelle des Namens Cleopatra wieder.
Das 7. Zeichen, eine Hand, mußte t aus-
gesprochen werden; die Haud heißt auch auf
Koptisch „tot"; im Namen Ptole mäns fand sich
aber ein anderes „t", der Halbkreis, und dies hätte
den Entzifferer irre führen können, wenn er nicht
die Möglichkeit, daß ein Laut durch verschiedene
Zeichen ausgedrückt werden könne, geahnt, wenn er nicht
richtig geschlossen hätte, der am Ende des Namens Cleo-
patra vorkommende, alle weiblichen Nomina schließende
Halbkreis stelle den femininen Artikel dar, der auf Koptisch
,>te" Heißt, und müsse darum, als zweiter Buchstabe des
Ptolemäus, ebenso „t" ausgesprochen werden, wie die
Hand ein der 7. Stelle in der Cleopatra.
Das 8. Zeichen, ein Mund, heißt auf Koptisch
„ro"? entspricht also dem an diesem Platze zu
sucheuden r vollkommen und findet sich nicht
im Ptolemäus. Als 9. und Schlußbuchstaben hat der alte
Schreiber, wie gesagt, zum zweiten Male, einen Adler und
also das a in der Mitte und am Schlnße des Namens
mit dem gleichen Zeichen dargestellt. So blieb kein Laut
in der Cleopatra unerwiesen, während int Ptolemäus das
5. uud 9. Zeichen einer Erklärung bedurften, wenn es auch
auf der Hand lag, daß das 1. auch ein m, das 2. ein s dar-
zustellen bestimmt fein konnte.
In dieser Weise waren 11 oder (durch
den Artikel) 12 Hieroglyphenzeichen rich-
tig bestimmt worden, und es kam nun auf
den Versuch an, ob sich mit deren Hülfe
auch andere bekannte Eigennamen lesen
lassen würden. Champollion richtete seine
Aufmerksamkeit zunächst aus den Namen
Alexanders, den er in der großen de-
scription de l'Egypte entdeckt Hatte, fand
zu seiner Freude die Hieroglyphen a Adler,
1 Löwe, t Hand, r Mund in demselben an
den richtigen Stellen wieder und war nun
wohlberechtigt das 3. Zeichen, eine gehen-
kelte Schale, für eine andere
Schreibart **^11111^ des in Cleopatra
vorkommen den k'(x wird in
k und
zerlegt), das 4., den Riegel,
für ein mit der Stnhllene Alexandras,
im Ptolemäus vertausch- f|
bares s, die 5. Hieroglyphe, die | gezackte Stute,
für ein „n" zu erklären. ^ ^ Das s in der
Mitte und am Ende bestätigten einander zum
Ueberflnsse; auch fand man bald in einem andern Ptole-
mänsschilde den Riegel als Variante für die Stnhllene.
Durch diesen Vergleich waren aus deu 11 nun 14 bestä-
tigte Zeichen geworden.
Mit so vielen bekannten Größen ließ sich schon eine
G. Ebers: Die Entzifferung der Hieroglyphen.
239
Aufgabe lösen. Champollion fuhr auf dein betretenen
Wege fort, entzifferte zunächst nur die iu Cartouchen eiu-
geschlossenen Gruppen, von denen er sicher wissen konnte,
daß sie Eigennamen enthielten, las zunächst eiue Menge
römischer Kaiser- und Ptolemäerschilder, persischer Königs-
und Pharaonen-, Götter- und Städtenamen, suchte und
fand Varianten, verglich und operirte überall iu induetiver
analytischer Weise. Von dem Bekannten zum Unbekannten
übergehend, verfuhr er gewissermaßen „algebraisch" und
gebrauchte jede Elimination einer unbekannten Größe zur
Waffe, um gegeu die anderen x und y zu Felde zu ziehen.
Im Jahre 1824 war er schon so weit gekommen, daß
er in seinem „Precis du Systeme hieroglyphique" nicht
nur eine Menge von übersetzten Namen und Gruppen,
sondern auch viele Regeln der Hieroglyphenentzisserung,
welche bis heute ihre Gültigkeit erhalten haben, niederlegen
konnte. Hier findet sich auch die Behauptung, jede Hiero-
glyphe stelle deu Laut dar, mit welchem ihr Name beginne.
Als Champolliou, viel zu früh für die Wissenschaft,
43 Jahre alt, 1832 starb, hinterließ er das fertige Manu-
seript der besten Hieroglyphengrammatik, welche bis auf
diesen Tag geschrieben worden ist, und das Material zu
einem später von feinem Bruder herausgegebenen Lerieon.
Welchen Werth diese Arbeiten haben, können wir, wie
ich meine, am besten durch das Urtheil eines der gehässigsten
Feiude des großen Mannes erhärten. „Ich bekenne",
sagt Seisfarth, „daß die meisten grammatischen Regeln
und Formen Champollions fehlerfrei sind und das Stn-
dium der Hieroglyphik wesentlich gefördert haben."
Uhlemann, welcher schließlich zu dem Resultate ge-
laugte, daß ihm und seinem Lehrer Seifsarth der eigentliche
Lorbeer der Hieroglyphenentzifferung gebühre, sagt nichts
desto weniger: „Die Champolliousche Grammatik und sein
Lexijcon boten das erste, vollständig ausgebildete System,
sie enthielten eine vollständige Sprachlehre, sie erklärten
lexicalisch alle damals bekannten Hieroglyphen und Grup-
Pen, die aus Denkmälern und Papyrosrollen vorkom-
men :e." Denuoch bleibt uns, den Epigonen, immer noch
viel zu thun übrig, deuu die Schwierigkeit der Arbeit ist so
groß, als die Zahl der Zeichen. (Es gibt über 609 Hiero-
glyphen und nach der vor Kurzem erschienenen Arbeit des
Herrn Pleyte in Leydeu 369 hieratische Buchstaben.) Da
muß es deuu doppelt befremden, wenn viele Gelehrte,
welche die Mühe nicht gescheut haben, sich über den Stand
unserer Thätigkeit zu unterrichten, weniger erstauut gewesen
sind über die iu verhältuißmäßig kurzer Zeit erzielten Er-
folge der Aegyptologen, als über die großen Lücken, die
uns noch auszufüllen bleiben. Ein flüchtiger Blick auf die
wesentlichsten, bis zum heutigen Tage festgestellten Prin-
eipien mag genügen, um von der Schwierigkeit der Auf-
gäbe und dem „Wieviel" des Erreichten ein Bild zu geben.
Champolliou theilt alle Hieroglyphenschrift in drei,
schon von Lepsius bemängelten Arten ein:
1) Die Figurativa, welche einfach das Bild des Gegen-
standes sind, den sie darstellen sollen.
2) Die Symbole, welche das Object oder die Idee,
welche man bezeichnen will, auf indirectem
r 1 Wege wiedergeben; so daß z. B. um den Be-
griff der Nacht darzustellen, das Bild des
Himmels, ans dem ein Sternlein hängt, malen konnte.
3) Die Phonetischen oder Lautzeichen, welche rein alpha-
betische Buchstaben darstellen.
Seit den letzten Jahren steht es außerdem fest, daß
jedes consonantische Hieroglyphenzeichcn mit einem ihm
adhärirenden Vokale gedacht werden muß. Die zerbrochene
Linie und das kleine Wassergefäß
(1) sind z. B. beide nach Cham-
pollion „n" zu lesen, während wir
jetzt wissen, daß die erstere „na"
und letzteres „na" ausgesprochen
werden muß. In gleicher Weise ist
der flatternde Vogel (2) „pa", das
Viereck (3) „pu".
Eine Menge anderer Schriftzeichen sind von Chabas in
seinem trefflichen „Papyrosmagique Harris" aufs Ueber-
sichtlichste zusammengestellt worden, und die neue Zeitschrift
für ägyptische Alterthnmsknnde von Lepsins und Brugsch
nimmt nichts lieber auf, als die wohlbegründete Besinn-
mnng des Lautwerthes und der Bedeutung der einzelnen
Zeichen.
Ein anderer wesentlicher Fortschritt hat sich auch gegen-
über den vonChampollion „signrative" oder„symbolische"
Zeichen genannten Hieroglyphen geltend gemacht. Diese
beiden Klassen können wir mit dem einen Namen „deter-
minative" bezeichnen. Sie wurden zur Vermeidung von
Jrrthümern angewendet und bezeichnen den, wir möchten
sagen „Sammelbegriff", zu welchem das zu schreibende
Wort gehört. So malte man hinter jedes Wort, welches
eine Handlung mit dem Munde enthielt, einen Mann,
der seine Hand zum
Munde führt (1), hin-
ter jede die Thätigkeit
des Gehens bezeich-
nende Gruppe ein
paar schreitende Beine
s2), hinter jeden dem Pflanzenreiche zugehörenden Begriff
drei Blumen an einem Stengel (3), hinter alles Hölzerne
einen gezackten Ast (4), hinter jegliches mit der Thätigkeit des
Schreibens, Malens, Denkens, Sagens, mit dem Papyros ?c.
Zusammenhängende eine zngebnndene Papyrosrolle (5).
Diese orthographische Eigenheit wurde so weit getrie-
ben, daß man häufig das phonetisch geschriebeneWort ganz
fortließ und an seiner Stelle nur das Determinativum malte.
Die Schreiber sind zu der Einführung dieser Determina-
tiva, zur Anwendung derselben, um ganze Begriffe ohne
alphabetische Worte anszudrückeu und wiederum zu ihrer
Omittirung, um eine Gruppe mit reinen Lautzeichen darzu-
stellen, gekommen, weil sie in der edlen Schreibekunst zu
glänzen wünschten und sich als „fest in allen Sätteln be-
währen wollten". Die Hieroglyphenkalligraphie erlernte
sich eben schwerer, als unser gewöhnliches Schönschreiben!
Ja, ein großer Künstler, Jri-ti-sen, rühmte sich am Be-
ginn seiner jetzt in Paris befindlichen Grabstele, „gekannt
zu haben alle Geheimnisse der heiligen Schreibekunst".
Dieses, ich möchte sagen „Coquettiren" der Schreiber mit
der Fähigkeit, demBegriff möglichst angepaßte und möglichst
verschiedenartige Zeichen zu finden, hat die Arbeit des Ent-
zifferns von der einen Seite wesentlich erschwert, die
Aegyptologen aber von der andern Seite in den Stand
gesetzt, den ungefähren Inhalt eines Schriftstücks schnell zu
übersehen und sich niemals jenen Gefahren aussetzen zu
brauchen, denen die Entzifferer anderer alphabetischer
Schreibarten, besonders der phönieischen, anheimgefallen
sind. Champollion war schon vor der Vollendung seiner
Grammatik sicher vor dem Schicksale jenes Franzosen, der
aus einer phönieischen Inschrift zu Marseille, welche eine
Besteuerungsliste enthielt, einen zwischen Carthago und
Massilia geschlossenen Friedenstraetat herausgelesen hat.
Schou seit mehren Jahren ist unsere Wissenschaft so weit
gekommen, daß die Uebersetzung keines Satzes ohne eine
strenge Analyse angenommen wird, und ein Aegyptologe
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240
E. Schlagintweit: Die Märchen über den Thron des Königs Vikramädiiya Zt.
in Petersburg denselben Papyrus, mit unbedeutenden Ab-
weichungen , ebeuso übersetzen muß, wie fein College in
Kairo.
Zahlreiche Bekanntmachungen von Papyrosrollen und
Inschriften kommen alljährlich der Forschung zu Hülfe.
Alle Großstaateu, ja selbst das kleine Holland, und Sar-
dinien, ehe es sich zum Königreich Italien aufgeschwungen
hatte, haben sich freudig'den großen Kosten unterzogen,
welche die Vervielfältigung ägyptischer Schriftdenkmäler in
Anspruch nahm.
Die demotischen Rollen, welch? mehrfach von grie-
chischen Übersetzungen begleitet waren, sind mit Hülfe der
vorzüglichen Grammatik des Konsuls Brugsch für Jeden
lesbar. Endlich muß ich erwähnen, daß die Vervielsäl-
tiguug der Texte mit jedem Jahre geringere Opfer bean-
fprncht. In Paris, Berlin und Leipzig wird mit hiero-
glyphischen Typen gedruckt; Brugsch hat demotische Let-
tern anfertigen lassen, und vor Kurzem ist uns die
Anzeige zugegangen, daß Herr Dr. Pleyte iit Leydeu seiue
hieratischen Typen vollendet habe und bereit sei, sorg-
sam gefertigte Abgüsse derselben, für verhältnismäßig
geringe Preise, allen Aegyptologen zukommen zu lassen.
Wenn solche Hülssmittel zehn Jahre lang gewirkt
haben, wird jeder Gelehrte im Stande sein in seiner engen
Zelle sich das alte Aegypten zu recoustruiren, und das
Adjectivum „hieroglyphisch" nicht mehr dem Begriff des
„Geheimnißvollen", sondern dem des „Sonnenklaren"
gleich gesetzt werden dürfen.
Die Märchen über den Thron des Königs Vikmmadilya von Malva.
Bon Emil Schlagintweit.
I.
Bei allen Völkern finden wir die Geschichte derjenigen
Herrscher, welche durch Heldenthaten sich hervorthaten oder
die Begründer neuer wichtiger Einrichtungen im Staate
waren, mit Erzählungen ausgeschmückt, bestimmt ihre
außerordentliche Begabung, ihren Scharfsinn und ihre
Körperstärke zu verherrlichen. Stets sind diese Erzählnn-
gen in der Form wenigstens, in welcher sie austreten, vom
Historiker mit Vorsicht zu benutzen, denn nicht selten fehlt jede
historische Basis. Es dürfte nicht unpassend sein, hier auch
daran zu erinnern, daß es nicht blos die Völker des Alter-
thnins waren, welche solche ausschmückende Zusätze liebten;
um Beispiele aus der Gegenwart zn nennen, sei des Reich-
thnins an Anekdoten gedacht, besonders der „schlagenden
Antworten", welche wir berühmten Männern in den Mund
zu legen gewöhnt sind. —
In Indien ist einer der gefeiertesten Herrscher derKönig
Vikramkditya von Malva, im westlichen Indien. Er war
der erste König, welcher mit Glück den Jndoseythen ent-
gegen trat, jenen Horden tnranischer Abkunft, die im
2. Jahrh. v. Chr. Geb. nach dem westlichen Indien herein-
gebrochen waren und in Kaschmir ihren Hauptsitz aus?
schlugen, aber auch Radschastan und die Jndnsgegenden
bis zu seiner Mündung sich nntcrthan gemacht hatten. Cr
nahm der ^aka-Dynastie Kaschmir und Snrat ab, uud
zur Erinnerung daran stiftete er die Samvat-Aera, deren
Beginn, 57 v. Chr. Geb., mit der Zeit der Wiederher-
stellnng einheimischer Macht zusammenfällt; noch heute
ist diese Aera inMittel-Indien in Gebrauch, vonHindostan
bis nach Telingana. Außer dem Ruhme, erfolgreich im
Kriege gewesen zu sein, wird er aber auch als Beschützer
der Wissenschaften uud der Dichtkunst gepriesen; die aus-
gezeichnetsten Dichter lebten au seinem Hofe. Dadurch
wurde er natürlich ein Gegenstand der Verherrlichung in
ihren Poesien, und dieses, verbunden mit edlen Herrscher-
eigenschasten, wurde die Veranlassung, daß Vikramaditya den
Jndiern als der Inbegriff alles Gnten und Schönen galt.
Eine Folge davon ist, daß seinem Throne ein göttlicherUr-
sprung zugeschrieben wurde; seine vieljährige Erhaltung und
Wiederanffindnng unter dem Könige Bhodscha von Malva
(5. Jahrh. u. Chr. Geb.) bildet die Haupterzählung in
einer Sammlung von Volksmärchen. Ursprünglich im
Sanskrit verfaßt, wurden sie später in die meisten der
22 Volksdialekte Indiens übertragen, ja wir finden sie
sogar unter deu Völkern nördlich von Indien, anch die
Mongolen halten die Erzählungen über die Wiederanfsin-
dnng seines Thrones hoch in Ehren.
Jeder Uebersetzer hat aber in dem ursprünglichen Ju-
halte der Sammlung Neuerungen vorgenommen; schon in
den indischen Rezensionen sind einzelne Episoden in der-
schiedener Weise erzählt, noch viel weiter gehen aber die
Abweichungen in der mongolischen Ueberarbeitnng; hier
ist fast nur noch derjenige Theil beibehalten, welcher
erzählt, wie es denn kam, daß dem Könige Bhodscha eine
genaue Mitteilung ward über die Thaten seines erhabenen
Vorfahren. —
Die Sanskrit-Recension nennt sich bald Vikrama-
tscharitam „die Thaten Vikrams-ditya's", bald Sinhksana-
dvätrincati „die 32 (Erzählungen) des Thrones"/'') Der
Vater Vikramäditya's, beginnt das Manuskript, habe einst
von einem Brahmanen eine Frucht erhalten, deren Genuß
Unsterblichkeit gewährte; der König liebte jedoch seine Ge-
niahlin so innig, daß er ohne sie nicht leben zu. können
vermeinte, und so gab er die Frucht dieser, statt sie selbst
zu genießen. Die Königin war aber ein treuloses Weib,
sie beschenkte ihren Buhlen damit; dieser genoß sie aber auch
nicht, sondern verehrte sie einer andern seiner Schönen,
diese wieder einem Geliebten, und so fort, bis endlich eine
Sklavin sie verzehrt und dadurch Unsterblichkeit erlangt.
Der König erkennt, daß er hintergangen wurde; voll Knm-
mer über so grobe Täuschung über die Eigenschaften seiner
nächsten Umgebung, die er doch vermeint hatte genau zu
kennen, entsagte er dem Throne und zog sich in die Ein-
*) P,of. Roth in Tübingen, der sich im Verein mitBoeht-
lingk so große Verdienste erwirbt mn die Heransgabe des bände-
reichen Petersburger Sanskrit-Wörterbuchs, gab eine Analyse im
„Journal Asiatique" 1845, S, 278.
E. Schlagiutweit: Die Märchen über
samkeit zurück, Bußübungen sich widmend. Es folgen
nun Lobeserhebungen der Regierungsart seines Sohnes;
eingemengt ist dabei die Erzählung, Vikramaditya sei auch
vor deu Gott Jndra in den Himmel gerufen worden, einen
Wettstreit zu entscheiden zwischen zwei Göttern, die im
Tanze ausgezeichnet sind und ausersehen waren, einen
eifrig den Bußübungen obliegenden Brahmaneu zu der-
führen, „dessen Ausdauer selbst deu Göttern gefährlich zu
werden drohte". Der König erhält zum Danke vou Jndra
den Löwensitz mit 32 weiblichen Statnen; um auf deu
Thron zu gelangen, mußte man den Fuß auf ihre Häupter
setzen. (Löwenfitz ist ein bildlicher Ausdruck für „Thron",
weil er von ruhenden Löwen getragen wird; noch heute
werden in Centralasien diejenigen buddhistischen Götter,
welche bereits in Indien verehrt worden waren, aus solchen
Sitzen abgebildet.)
Aber noch eines anderen Geschenkes erfreut sich dieser
König; Gott ^iva hatte ihm einst bewilligt, nur von der
Hand eines Mannes zu sterben, der von einem zweijährigen
Kinde geboren worden sei. Ein dem büßenden Könige
übelgesinnter Dämon bewirkte dieses Wunder; der König
zog mit einem zahlreichen Heere zur Vertilgung des Neu-
gebornen aus, allem „das Scepter des Todes" traf ihn
vor dein Geburtsorte des Wunderkindes.
Dieser Feind wird Hklivähana genannt, dies ist aber
auch der Name eines historisch beglaubigten Herrschers,
des zweiten Nachfolgers Vikramkditya's, der seinen Sohn
vom Throne verjagt, zugleich aber den: Vater an Kriegs-
rühm gleich ward durch neue Siege über die Jndoseytheu;
auch dieses denkwürdige Ereigniß wird durch Stiftimg einer
neuen Zeitrechnung gefeiert (78 n. Chr. Geb.), der Qäka
Aera, die in Bengalen ihre Hauptverbreitung hat; die Mär-
chensammlung stellt ihn aber als einen Zeitgenossen Vikra-
maditya's hin und führt auch einen Brahmanen ^älivAhana
auf, der den König arg überlistet.
Nach dem Tode Vikranckditya's wurde der Thron auf
den Befehl einer übernatürlichen Stimme in die Erde ver-
graben. Die späteren Generationen hatten seiner bereits
vollkommen vergessen, da traf es sich, daß ein Brahmane,
so oft er auf einem äußerst ergiebigen Gemüseacker neben
seiner Behausung saß, Alles verschenkte, aber über Berau-
bung, Verarmung und Ungerechtigkeit klagte, wenn er die-
sen Platz wieder verlassen hatte. Dieses ereignete sich zur
Zeit des Königs Bhodscha. Da den Brahmanen die Be-
friedigung im Geben verließ, sobald er den Ort verlassen
hatte, dachte der König, der ihn aufmerksam beobachtete,
die Ursache müsse wohl im Orte liegen, nicht im freien
Willen des Brahmanen, und er befahl die Erde aufzu-
wühlen. Da fand sich denn ein prachtvoller Thron von
Gold und mit Edelsteinen eingelegt, darauf 32 Figuren;
ihn von der Stelle zu bewegen, follte aber erst gelingen
nach vielen Gebeten und reichen Opserspenden; unter
großer Eeremonie brachte man ihn in die Residenz Udesha-
yina (dem heutigen Udschein 23" 11' nördl. Br. 75" 35'
östl. Länge von Ferro), und vor großer Versammlung
wollte der König den Thron besteigen. Als er aber den
Fuß auf eine der Statuen setzte, welche den Thron trugen,
redete sie ihn mit übernatürlicher Stimme mit deu Worten
an: „Wenn Du den Heldenmuth, die Tapferkeit und
Milde des Königs Vikramaditya hast, dann magst Du
deu Thron besteigen."' Der König forderte nun die Spre-
cherin auf, ihm zu erzählen, wodurch sich denn dieser Vor-
fahre von ihm unterscheide. Die Figur beginnt darauf eiue
Geschichte zu erzählen, wie der König einst für einen Brah-
manen fein Leben habe lassen wollen, weil dieser durch
bloße Opfer von der Gottheit die Erfüllung eines Wunsches
Globus IX. Nr. 8.
r den Thron des Königs VikramÄdilyaic. 241
nicht erlangen konnte, ungeachtet er während 109 Jahre
so viele Brandopfer dargebracht hatte, daß ihre Asche einen
mächtigen Hügel bildete; die Gottheit sei durch die könig-
liche Opferfreudigkeit gerührt worden und habe auch dem
Könige das Leben geschenkt. Der ersten Erzählerin folgen
nun die übrigen 31 Statuen. Jede berichtet von einer andern
nachahmungswürdigen That dieses großen Königs. Was
immer er thut, er zeigt sich als gerechten Herrscher, zugleich
bestrebt, den Kummer der Unterthanen zu lindern und
durch reiche Gaben seine Verehrung für die Brahmanen zu
bezeigen; dabei läßt er sich aber in seiner Gutmüthigkeit
oft täuschen; andere Episoden bekuudeu dagegen ein war-
mes Gefühl für Frauen. Die interessantesten dieser Er-
Zählungen mögen hier folgen.
Einst wurde der König durch den Gedanken an die
Hinfälligkeit aller irdischen Güter so niedergedrückt, daß er
beschloß, all' sein Besitzthmn, feilte Schätze ititd Kleiuodieu
zu verscheukeu, selbst die Götter sollten davon erhalten,
auch an sie wurde Botschaft geschickt. Der Meeresgott
sandte dafür dem Könige durch einen Brahmanen vier
seltene Perlen; die eine gewährte alle Reichthümer, die
zweite Nahrungsmittel, die dritte stellte eine vollständige
Armee auf, die vierte konnte Kleider und Schmuck liefern.
Der König wollte den Ueberbringer fürstlich belohnen, .er
sollte sich eine der Perlen wählen; der Brahmane konnte
zu keinem Entschlüsse kommen, bat seine Angehörigen
berathen zu dürfen, kam aber sehr niedergeschlagen zurück,
denn sein Sohn, seine Schwiegertochter und seine Frau
hatten jede eine andere Perle gewollt. Da gab ihm der
König alle vier Perlen. — Zur Erklärung ist nur beizu-
fügen, daß die Dichtung dieser Erzählungen einer Zeit an-
gehört, wo sich bereits der Glaube befestigt hatte, daß die
Brahmanen näher als alle Uebrigen vom Brahma, dem
reinen Urquell, abstammten und die Fähigkeit hätten, die
Götter zu Wohlwollen oder Mißsallen zu bewege»; in den
jetzt entzifferten Inschriften uud Schenkungsurkunden sind
uns zahlreiche Beispiele enthalten, wie maßlose Forderun-
gen sie bewilligt erhielten, — an solche dem Seelenheile so
förderliche Freigebigkeit wird Köuig Bhodfcha hier erinnert.
Zu beachten ist auch noch, daß der Sohn uud die Schwieger-
tochter vor der eigenen Frau genannt werden. Dieser, von
unseren Anschauungen so abweichende Vorzug des Sohnes
und seiner Gattin beruht auf der religiösen Anschauung,
daß nur ein männlicher Nachkomme die Todtenopfer ver-
richten könne, diefe aber sind unumgänglich nothwendig
für einen glücklichen Zustand nach diesem Leben; deswegen
erbt auch schou uach altarischem Gesetze der Sohn das
väterliche Vermögen, mit Ausschluß der Töchter, und wenn
kein Sohn vorhanden ist, kann bestimmt werden, daß der
Sohn der verheirateten Tochter, also der Enkel, vor den
unverheirateten Töchtern das Erbe erhält. „Wenn in einer
Ehe Kinder beiderlei Geschlechts gezeugt werden, so ist der
eine der Vollzieher der heiligen Gebräuche, die anderen
erhalten eine Gabe"; so sagen schon die Bedas, uud dieses
ist selbst heute noch Regel.
Eine andere Figur erzählt: Ein Diener sei zur Em-
pfangnahme kostbarer Edelsteine nach einem weit entfernten
Orte gesandt worden, mit dem Tod war er bedroht, wenn
er nicht an einem bestimmten Tage eintreffen würde. Da
wollte der Unstern des Dieners, daß heftiger Regen die
Flüsse ungewöhnlich anschwoll; erst durch das Überlassen
der Hälfte feines Schatzes konnte er einen Fährmann
dingen. Der König belobt den Diener wegen feines Eifers,
den Termin nicht zu versäumen, und beschenkt ihn mit dem
Reste der Edelsteine. — Einen ähnlichen Gedanken hat
3l
242 Ein Urwald
bekanntlich Schiller in seiner „Bürgschaft" so meisterhaft
durchgeführt.
In anderen Erzählungen.befreit der König fchöne
Frauen von Dänionen, die über dieselben Gewalt erlangt
hatten, oder er nimmt Brahmanen die Last ab, schwere
Selbstpeinigungen fortzusetzen; mitunter verherrlicht die
Episode nur im Allgemeinen seinen Muth; solches ist der
Fall bei der Besteigung des°„wachsenden Thrones". Ans
dem Ganges stieg jeden Morgen ein Thron, der bis
zur Sonne empor sich streckte, gleichsam um sich ihr zum
Sitze anzubieten, denn Nachmittags verminderte sich seine
Größe, und der Sonne gleich tauchte er Abends in den
Ganges hinab, um den nächsten Morgen wieder zu er-
scheinen. Vikramaditya bestieg nun den Thron, aber in
der Nähe der Sonne entzog ihm ihre Hitze alles Blut und
verbrannte seinen Körper — ähnlich wie die Flügel des
Dädalus vor ihr zerflossen —, der Sonnengott gab ihm
aber einen neuen Körper irnfc) beschenkte ihn mit zwei Arm-
bändern, die Reichthum gewährten; der König aber
gab sie einem Brahmanen.
Sehr grob läßt sich oft der gutmüthige Monarch über-
listen. Die Perlenepisode ist bereits mitgetheilt; ein
andermal sagte ein Brahmane — seist stets sind diese die
Beschenkten —, ihm habe geträumt, der König werde ihm
ein Haus bauen und Grundstücke schenken; der König erfüllte
sofort den Traum, eiue ganze Stadt füllte es, was er dem
Brahmanen an edlen Frauen, Dienerschaft, Elephanten
und Häusern zum Geschenke machte. Ein andermal ist es
der König, der einen beunruhigenden Traum hat, dessen
Verwirklichung nur durch Schenkungen an die Brahmanen
abgewendet werdeu kann.
Am interessantesten ist die Episode vom Kampfe mit
£älivä,hana; hier ist aber nicht der spätere König dieses
Namens der Handelnde, der Dichter will nur durch die Wahl
dieses Namens den spätern Kampf um deu Vorrang an-
deutelt. — Ein reicher Vater, so lautet die dreiundzwanzigste
Erzählung, habe auf dein Sterbebette seinen Söhnen eröff-
net : wenn sie Streit bekämen um das Vermögen und es
theilen wollten, dann sollten sie so theilen, wie die Gegen-
stände ihnen kund thäten, die sie in den vier Ecken des
Lagers finden würden. Anfangs zeigte sich kein Bedürf-
nis^ zur Einrichtung gesonderter Haushaltung; aber die
Schwägerinnen konnten sich nicht vertragen, man durch-
suchte das Lager und fand vier Gefäße; das eine enthielt Erde,
das zweite Kohle, das dritte Knochen, das vierte ein Stroh-
büschel.^ Die Erben fragten erst die Brahmanen, dann den
König VikramZ.ditya um Rath, allein auch dieser konnte nicht
Auskunft geben. Der Brahmane yslivLhana hörte davon,
verließ seinen Geburtsort, giug zu deu Söhnen und ent-
in Thüringen.
schied: Durch Erde sei angedeutet, Einer solle das Grund-
eigenthnm erhalten; die Kohle bedeute Gold, Edelstein
und Schmuck; durch Knochen seien die Rinder angedeutet,
das Strohbüschel weise auf die Futtervorräthe. Alles staunte
und war voll Lob über den Brahmanen, nur Vikramkditya
war über feine Niederlage ärgerlich. Er entbot jedoch
den Weisen zu sich; dieser antwortete anfangs, wenn der
König ihn zu scheu wünsche, möge er zu ihm kommen,
später aber erklärte er sich bereit, den König aufzusuchen,
aber er werde sich mit einer großen Armee umgeben und
erwarte den König zur Schlacht gerichtet. Qälivähana's
Vater hatte das Töpferhandwerk betrieben; sein weiser, mit
übernatürlichen Fähigkeiten begabter Sohn formte aus
Thon eine Armee von Mannschaft, Pferden und Elephanten,
hauchte ihr Leben ein und zog dem Könige entgegen. Schon
war das Heer (Mivkhana's vernichtet, da rief er den
Schlangenkönig zum Beistande auf, dessen Schlangen das
ganze Heer des Gegners tobt bissen. Allein Vikramaditya
wußte sich vou einem Gotte Lebenswasser zu verschaffen, das
feine ganze Armee wieder zu Leben führen sollte; in der
Freude darüber versprach er einem Brahmanen, der ihn
eben um eine Gabe anflehte, zu geben, was er wünschen
werde'; dieser, ein Abgesandter Qälbäljcrnct's, erbat sich
das Lebenswasser, der König sah zu spät ein, daß er über-
listet sei, und sein Gegner blieb Sieger.
Die letzte Statne preist den König Bhodscha; sie dankt
ihm zugleich dafür, den Thron wieder zu Tage gebracht zu
haben, denn nun sei der Bann gelöst, der auf ihr und ihren
Gefährten laste. Sie feien himmlische Genien, wären aber
einmal vom heißen Liebesblick Indra's getroffen worden,
als sie eben die Stufen seines Thrones als Dienerinnen
umstanden, und von der eifersüchtigen Gemahlin Indra's
in unbelebte Weseu verwandelt worden. Leben solle erst
wieder in ihre Körper einziehen, nachdem der Thron Indra's
an VikramZ-ditya gekommen sei und von seinem Nachfolger
Bhodscha wieder aufgerichtet werde. Jetzt sei der Fluch von
ihnen genommen, und ihr Befreier möge über sie gebieten;
doch Bhodscha wollte Vikramkditya gleichen und gab deu
Genien die Erlaubniß in den Himmel zurückzukehren."
Damit endet die sanskritische Recension. Der Schluß
ist zu materiell, er zeigt zu deutlich das Bestreben der Er-
zählenden, oder wie wir sagen müssen des Dichters, den
König zu zwingen, aus Gründen der Standesehre zu thuu,
was man von ihm verlangt. Unzweifelhaft ist die eigent-
liehe Tendenz der Dichtung, die Freigebigkeit eines Fürsten
zn Gunsten der Brahmanen als die schönste Benützung
seiner erhabenen Stellung zu verherrlichen; die höhere
Einsicht der Brahmanen und die Notwendigkeit und Vor-
trefflichkeit ihres Rathes wird häufig betont; daneben erhält
persönliche Tapferkeit gebührendes Lob.
Ein Arwald in T h ü r i n g t n.
Der Wurzelberg.
Wir staunen die gewaltige Höhe und Dicke der Riesen-
bäume iu Kalifornien, auf der Norfolkinsel oder in Chile
an; Jedermann kennt die Welliugtonia gigantea, die
Douglastanne, oder die Arancaria imbricata und die Deo-
darafichte am Himalaya.
Solch ungeheuere Giganten des Pflanzenreiches fehlen
allerdings in unferni Deutschland, aber wir haben auch
heute noch manche Stämme in unseren Wäldern, die uns
imponiren und deren Anblick uns mit hoher Freude erfüllt.
Freilich darf man unsere Waldbäume nicht mit jenen ame-
Ein Urwald in Thüringen. 243
rikanischen oder indischen Kolossen vergleichen; aber welcher I Walde und in Thüringen, und auch dort kann die Benen-
verständige Mensch will denn auch immer vergleichen? I nung nur in sehr bedingter Weise gelten; sie will weiter
Der Wurzelberg (Urwaldreste). (Originalzeichnung von Plato Ahrens.)
Was Wir in Deutschland als Urwald bezeichnen, das sind ! nichts besagen, als daß jene Strecken seit Jahrhunderten
einige verhältnißnwßig kleine Waldbestände im bayerischen I von der Forstkultur — oder Verwüstung verschont geblieben
31*
......
244
Ein Urwald in Thüringen.
sind, und daß noch Bäume stehen, die hoch in die Jahr-
hunderte hinaufreichen, nicht in die Jahrtausende, über die
Arche Noah weit hinaus, wie die Wellingtonien.
Freuen wir uns nnsrer Wälder. Manche sind wieder
in gutem Zustande. Es ist eine Freude im Harze umher-
zuwandern, namentlich im stolbergifchen Gebiete, oder tut
braunschweiger Forste, oder im Schwarzathale, oder in
Badens Schwarzwald. Dort bilden die schlanken Nadel-
bäume eine unzählige Menge „heiliger Hallen", ja, der
Wald ist auf meilenweit eine einzige heilige Halle mit
vielen tausend Säulen, welche die Natur geschaffen hat.
Da sehen wir wunderbar gestaltete Kapitäler, weitgreifende
Arme, die sich in einander verschlingen und als die Wöl-
bnng der hohen Säulengänge erscheinen. Wie viele Gene-
rationen mögen vorher untergegangen sein? Wir wissen es
nicht, aber wir sehen, daß neues, grünes Leben aus deu
Pflanzentrümmern von Jahrtausenden aufsprießt.
Wie ehrwürdig erscheinen uns die Patriarchen des
Waldes, welche in einsamer Größe ihren Stamm hoch in
die Luft getrieben haben und über alle anderen hervor-
ragen! Solche Waldpatriarchen stellt, in naturgetreuer
Zeichnung, unser Bild dar.
Der freundliche Leser möge uns begleiten in das lieb-
liche, idyllische Thüringen. Mancher hat diese gesegnete
Landschaft vielleicht nach allen Seiten hin durchstreift, und
doch ist ihm eine Hauptmerkwürdigkeit derselben fremd
geblieben.
Wir meinen den Wurzelberg mit seinen gewaltigen
Bäumen.
Das goldführende Flüßchen Schwarza entspringt an
der Bilbersleite. Bald nachher vereinigt sie sich mit der
Katze und nimmt eine Richtung nach Osten. Dort erhebt
sich der Wurzelberg. Gleich allen Bergen des südöst-
lichen Thüringens, vom Wehstem bei Lehesten bis zum
Saar, wo die Stromgebiete des Rheins, der Weser und
der Elbe sich berühren, trägt auch er völlig den Charakter
des Frankenwaldes; — er bildet eine massige Kuppe von
silurischer Grauwacke mit breiter Platte.
An ihn: wachsen die Riesenbäume, und der Wanderer
kann ohne Beschwerde zu ihnen gelangen. In Langen-
b ach findet er stets einen des Weges kundigen Führer, mit
welchem er getrost fürbas ziehen kann.
Am Wnrzelberge selbst rastet er beim Jagdschlosse,
einem eigentümlichen Holzbau mit einem achteckigen
Thnrme. Dasselbe soll 1726 erbaut worden sein und ist
1748 ausgebessert worden. Man tritt ein. Der unter
dem Thurme liegende Saal empfängt fein Licht von oben.
Man steht Gedecktafeln, an welchen in den lustigen Jahren
von 1740 bis 1788 oftmals tapfer gebechert worden ist.
Denn zur Brunstzeit kam die schwarzbnrgische Herrschaft
von Rudolstadt her auf deu Wurzelberg, um dem edlen
Waidwerk obzuliegen. Um den Mittelbau liegen strahlen-
förmig 8 Zimmer. Einst war Alles reichlich mit Hirsch-
hörnern geschmückt, aber diese sind längst verschwunden.
Auch der einst sehr bedeutende Wildpark ist seit 1848 nicht
mehr vorhanden, und seitdem liegt das Jagdschlößchen ziem-
lich verwaist da. Der Hof erscheint selten dort, aber um
die schöne Pfingstzeit wallfahrten die Leute von weit und
breit auf deu Wurzelberg, lagern im Schatten der Bäume
und sind lustig und guter Dinge.
Doch wir wandern weiter, denn unser Ziel ist der
„Urwald". „Wo liegt er, werden wir ihn bald sehen?"
Der Führer bittet um etwas Geduld und geleitet uns zu
einer Bauk am nördlichen Abhänge; durch einen Wald-
anshieb gewinnen wir einen Blick auf den Gickelhahn,
den Goethe fo oft und gerne besucht hat. „Aber ist
das dort nicht der Blocksberg? Erliegt so klar da!"
Der Führer entgegnete: „Ja, leider der Brocken, Herr,
wer den hier sieht, thnt am besten, wenn er nach Hanse
geht; morgen haben wir Regen." Und so war es auch.
Bald waren wir nun am „UrWalde". An dem größten
Patriarchen las ich mit Freuden auf einer, an ihm befestigten
Tafel den Namen Humboldt. Mit welchem würdigern
Namen hätte man auch diesen Giganten der Pflanzenwelt
schmücken können? Von der Bank, auf welcher man gern
träumt, hat man einen hübschen Blick auf Scheibe und
Alsbach.
In der Nähe gewahren wir eine zweite gewaltige
Tanne; sie ragt unfern einer Buche weit über diese empor,
und auch andere mächtige Nadelbäume standen hier. Es
war ein schöner Gedanke des leider so früh verstorbenen
Arztes Berthold Siegismnnd in Rudolstadt, die größten
und schönsten Bäume nach unseren vorragenden Natur-
forfchern und Forstleuten zu benennen. So stehen denn
am Wurzelberge der
Humboldt, 150 Fuß hoch, 13 Fuß Umfang,
König, 159 „ „ 21 „ „
Cotta, 145 „ „ 17'/2 „ „
Pfeil, 136 „ „ 16% „ „
Hartig, l'JO „ „ 13V6 „
Die übrigen alten Tannen, etwa 150 an der Zahl,
stehen dem Hartig wenig nach; jede derselben würde
zwischen 22Ya und 24Ys Klafter Holz ausgeben, aber die
Bäume bleiben stehen. Siegismnnd war als Arzt
und Menschenfreund, als Lehrer und Schriftsteller ein ganz
vortrefflicher Mann, und es wäre nur gerecht, einen der
Waldriesen nach ihm zu benennen. Er hat sich ohnehin
um die Landeskunde von Schwarzburg große Verdienste
erworben.
Einst wird hier ein geschlossener Wald gestanden haben.
Merkwürdig, daß bis eine Höhe von 2500 Fuß, in einem
schon rauhen Klima, wo die Nebel nicht selten tagelang auf-
liegen, die Bnche noch so kräftig gedeiht; das ist ihr wohl
nur möglich gewesen unter dem Schutze, welchen ihr in der
Jugend die Tannen gewährten.
Diese sind frisch und kräftig; weiter iu die Höhe
wachsen sie nicht mehr, aber an Umfang nehmen ste zu;
das ist durch sorgfältige Untersuchungen außer allen Zweifel
gestellt.
Daß die Bäume weit über 800 Jahre zählen, ist rich-
tig; nach Manchen hätten sie schon vor länger als einem
halben Jahrtausend gestanden. Mögen ihre Wipfel noch
manches Jahrhundert lang in die Lüfte emporragen.
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7' i
Die Verbreitung der Bibel in verschiedenen Sprachen.
245
Die Verbreitung der Bibel
Aus dem 61. Jahresbericht der britischen und auslän-
dischen Bibelgesellschaft erhalten wir wiederum einen Be-
griff von der außerordentlichen Ausdehnung, welche besou-
ders in neuerer Zeit die Wirksamkeit dieser Gesellschaft und
der mit ihr Hand in Hand gehenden Missionsgesellschaften
in Verbreitung der Bibel iu allen Theilen der weiten Erde
gewonnen hat. Auf jeden Fall ist die Übersetzung der
Bibel in fo viele Sprachen ein großer Gewinn für die
Linguistik.
Im Jahre 1864 hat die britische Bibelgesellschaft nicht
weniger als 2,450,127 Bibeln und Testamente verbreitet,
und es wurden 59,000 Exemplare mehr vertheilt als im
Jahre 1863.
Indien befindet sich seit mehr als 100 Jahren im
Besitze der Engländer. Hier werden theils die ganze
Bibel, theils das Nene Testament, oder auch nur Theile
desselben in folgenden Sprachen verbreitet:
In der bengalischen, für die 40 Millionen Bewohner
von Bengalen und Behar, wo aber unter hundert nur fünf
bis sechs lesen können. Mit der Vermehrung der Missions-
anstalten geht allerdings die Zunahme des christlichen Ele-
ments im Lande Hand in Hand, besonders in Aude, Rohil-
kund und Rajputaua, wo die Bekehrung einiger indischen
Fürsten die Schätzung des Christenthums fördert.
In der Ur diu Sprache wird die Bibel in römischen
und arabischen Lettern, besonders in Allahabad, von den
Missionären stark verbreitet.
Persische, gnrmakhische und Hindu-Neue Testamente
finden in Lahore Absatz. Im bghai-karenischen Dialekte,
der von den Karens in Barmah gesprochen wird, existirt
bis jetzt nur die Bergpredigt. Einzelne Theile der Bibel
sind im Sanskrit und in der Orissa- Sprache erschienen.
Auch im Hindu -kaithischen Dialekte, der in den Behar-
Distrikten gesprochen wird, sind Evangelien im Drucke
erschienen. Mit einem Worte, die Hülssgesellschast in
Calattta hat das Nene Testament- und einzelne Theile in
35 neuen Sprachen übersetzen und drucken lassen, so daß
die verschiedenen Völkerschaften in ihren Sprachen mit
Bibeln versorgt werden können.
Eine Ausgabe der Tamil-Bibel findet großen Abgang
in Südindien, wo das „Arbeitsfeld" 335,315 Quadrat-
meilen mit 43 Millionen Seelen umfaßt, und wo über
50,000 Bibeln jährlich abgefetzt werden. Viel geringer ist
der Absatz in Bombay, wo nur zwei bis drei unter hundert
Menschen lesen können. In Madras wird die Bibel in
der Kuli-Sprache, in tamulischer Sprache, in der Telngn-
und in der canarensischen Sprache, zusammen in 160,000
Exemplaren gedruckt.
Aus Ceylon wird die Bibel in singhalesischer Sprache
mit nur geringem Erfolge verbreitet; die Abneigung der
Buddhisten gegen das "Christenthum ist daselbst immer
noch groß.
In China war die Wirksamkeit der britischen Bibel-
gesellschaft von keiner besondern Ausdehnung. Es gibt
etwa 1500 ummauerte Städte in China, die alle von vielen
Marktflecken und Dörfern umgeben sind. Einige dieser
Dörfer sind zu einer gewaltigen Größe angewachsen; in
der Provinz Tientsin finden sich dergleichen von 600,000
Einwohnern. Es werden wenige Bibeln in chinesischer,
in verschiedenen Sprachen.
mongolischer und in der Mandschn-Sprache verbreitet.
Das Neue Testament existirt in der Mandarinen-Sprache.
In der Hauptstadt Peking zn wohnen, ist bis jetzt keinem
protestantischen Missionär gestattet. In dieser Beziehung
haben die katholischen Priester einen entschiedenen Vorzug,
indem diese durch ausdrückliche Stipulation in dem Friedens-
traf tat mit Frankreich in ihrem Werke die freie Duldung
geuießcu. Unter der Cantonesisch sprechenden Bevölkerung
zu Hong-Kong sind etw» 1000, dagegen in Shanghai und
Canton viele Bibeln, aber meist an Amerikaner, Engländer,
Holländer und Deutsche verbreitet worden, die den Hafen
von Shanghai zu besuchen pflegen.
In Japan ist die Eifersucht der Japanesen gegen Ein-
führung des Christenthums noch immer rege, und dort bieten
sich selbst für die Verbreitung chinesischer Bibeln, welche
von den gebildeten Klassen gelesen werden können, wenig
Gelegenheiten dar, wogegen anzunehmen ist, daß die Ein-
führung der heiligen Schrift iu japanesischer Sprache
entschieden feindliche Handlungen der Regierung hervorrufen
würde. Auch die Missionäre sind hier noch auf einen sehr
kleinen Raum au den Ufern beschränkt und dürfen sich gar
nicht weit in das Innere wagen.
Auf der Halbinsel Malacca wird das malayische
Testament sowohl mit arabischen als lateinischen Lettern
ausgetheilt.
Nach Afrika übergehend, erwähnen wir, daß im
Hauptdepot von Südafrika, in der Capstadt, noch immer
meist nur englische und holländische Bücher verkauft werden,
es wird aber jetzt eine Ausgabe von 5000 Testamenten in
der Namaqua-Sprache gedruckt, welche von Hottentoten-
stammen gesprochen wird, die einst in der Capcolonie lebten,
aber sich seitdem vor den holländischen Ansiedlern zurück-
ziehen mußten und eine Heimat in den mehr centralen
Theilen von Südafrika gefunden haben. Diese Sprache
konnte nur nach jahrelangen Bemühungen und Studien
bewältigt werden. Die vier eigeuthümlicheu schnalzenden
Laute, welche die Namaqna-Sprache enthält, kann sich nur
selten ein Europäer aneignen. Die rheinische Missions-
gesellschaft hat unter diesen Hottentotenstämmen zehn Haupt-
statioueu, die sich von der Capstadt bis zur Walfischbay
erstrecken.
In Westafrika nehmen die Uebersetznngen der Bibel in
der Ga (Aura-) Sprache und in der Otschi-Sprache ihren
raschen Fortgang. Das Nene Testament hat der Prediger
Christaller in der Otschi- oder Tschi-Sprache vollendet,
und ein basler Missionär, Prediger Zimmermann, hat
mehre Bücher des Alten Testaments in der G-l-Sprache
zu Ende geführt. Die Übersetzungen der biblischen Bücher
in der Ewe-Sprache gehen nur langsam vorwärts, weil
die bremer Missionäre und Ueberfetzer rasch nach ein-
ander vom Tode hingerafft wurden. Das erste
Buch Mosis ist iu die Hauffa-Sprache vom Prediger-
Schön übersetzt und auf Kosten der Missionsgesellschaft
gedruckt worden. Ein cingeborner Prediger hat das Evern:
gelium Johannis in die Boruba- Sprache übersetzt, und in
der Jbo-Sprache wird eine Ausgabe der Evangelien von
Markus und Lukas besorgt. Ein Missionär, der in Europa
die Landwirtschaft gelernt, hat sich so ziemlich die Ga-
Sprache angeeignet und lehrt an der Goldküste Ackerbau
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Die Verbreitung der Bibel in verschiedenen Sprachen.
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und Viehzucht, um der Sklaverei uiti> dem Sklavenhandel
einen Damm entgegen zu setzen. Er fährt mit einem
Ochsenwagen, welcher bei den Ziegern Bewunderung erregt.
Die Palmhändler lassen noch immer ihre Oelfässer lächer-
licherweise durch Sklaven über Stock und Stein fortrollen,
und es sieht ein solcher Transport so aus, als wenn Ameisen
einen Wurm schleifen. Das Angewöhnen der Ochsen ist,
wie unser Missionär berichtet, nicht schwerer als das der
trägen Neger. Doch fahren einige Mulatten auch schon
mit Ochsen und wollen lieber diese, als Sklaven, halten.
Die Wagen werden von einen: deutschen Missionär, Bruder
Klaiber, verfertigt.
Ostafrika. Auf der Insel Madagaskar wird die
Bibel in vielen Exemplaren der malagasischen Sprache
verbreitet, und die Einwohner, sagt man, tragen Verlangen
darnach. Der König las die Bibel in englischer Sprache.
Nach Aussage der Gesandten der Königin von Madagaskar
(1862) können von den 4 Millionen Einwohnern nur
höchstens 10,000 lesen. Die Verschiedenheit der Dialekte
erfordert aber mehr als eine Übersetzung der Bibel.
Auf der Insel Mauritius werden französische, englische
und indische Bibeln abgesetzt. I>n östlichen Afrika sind
die Missionäre eifrig bemüht, die große Nation der Gallas,
welche sich über 12 Grade ausdehnt, zu bekehren; jetzt
wird die Bibel in der Galla-Sprache übersetzt und einzelne
Theile werden in amharischer Sprache gedruckt, welche von
Juden und Christen in Abyssinien gelesen wird. In
Abyssinien arbeiten gegenwärtig drei Missionsgesellschaften:
die jüdische, die schottische und die Pilgermisston, welche
letztere besonders die Bekehrung der Gallas bezweckt, wäh-
rend die ersteren sich mit den Juden und Christen beschaf-
tigen. Bischof Gobat zu Jerusalem hat beschlossen, zwischen
Jerusalem und Abyssinien 12 Missionsstationen zu gründen,
die eine 50 Stunden von der andern entfernt, von welchen
schon vier wirksam sind, nämlich zu Cairo, Matamma,
Chartuni und eine in Abyssinien selbst. Die britische
Bibelgesellschaft versorgt diese Stationen mit Bibeln.
JmWanika-Land ist die kirchliche Missiousgesellschast
thätig und sucht vom Süden aus mit deu Gallas in nähere
Berührung zu kommen.
In Australien hat die britische Bibelgesellschaft
mehre Hülfsgefellfchaften, von welchen dein Hauptagenten
erfreuliche Nachrichten zugekommen sind. In Sydney,
Adelaide, in Maitland, Tasmania sind Bibeln verkauft
worden und Beiträge eingelaufen.
In Neuseeland hat der schreckliche Krieg die Bestre-
bnngen der Engländer zum großen Theile erschüttert.
Die Bibel in der Maori-Sprache geht der Vollendung
entgegen. Der Absatz an Bibeln, welcher vor mehren
Jahren schon 1500 Exemplare jährlich erreichte, hat wäh-
rend des Krieges sehr abgenommen, „und die friedlichen
Triumphe des Evangeliums, die von den Schlacken der
Habsucht so sehr verunreinigt wurden, sind wieder ver-
schwnnden, obgleich sich scheu zwei Drittel der wilden
Kannibalen zum milden Christenthum bekannt hatten."
Auf deu Südsee-Inseln hat die Wirksamkeit der bn-
tischen Bibelgesellschaft erfreuliche Fortschritte gemacht. In
Tahiti sind aus England Bibeln in der tahitischen Sprache
angekommen, und es sind von derselben zwei Exemplare
an die Königin Pomare und ihren Gemahl übersandt wor-
deu, welche dann in einem Briefe ihre Freude und ihren
Dank für das Geschenk ausdrückten. Die Tahitier kauften
auch für beinahe 900 Dollars Bibeln.
Auf den Samoa-Inseln sind mit einem Schiffe aus
Sydney 20,000 Bibeleremplare in der Samoa-Sprache
angekommen, von welchen in einem Jahre für mehr als
1000 Pfund Sterling verkauft worden sind. Die Ein-
wohner verkaufen ihr Coeosnußöl, Arrowroot und andere
Früchte an die Magazine oder an die Handelsschiffe, und
bezahlen so, wie der Bericht der Bibelgesellschaft fagt,
ihre Bibeln. Auf Atafu fand der Prediger Bird das
christianisirte Volk schou äußerlich Vortheilhaft verändert
im Gegensatz zu den anderen Inseln der Tokelan- oder
Unionsgruppe. Sie lesen das samoanische Testament gern
und geläufig. Polygamie, Nachttänze:e. sind seit 1861
unter ihnen verschwunden.
Auf den Neuen Hebriden sind 2000 Exemplare des
Neuen Testaments in der Sprache der Aneitynm verbreitet,
und wie der Bericht sagt, vom Volke freudig begrüßt
worden. Auch in der Fiji- Sprache sind 2000 Testamente
auf deu Fiji-Inseln angekommen. Die Evangelien von
Matthäus und Markus, und die Apostelgeschichte in der
nengonösischen Sprache sind aus Nengon<5 angekommen.
Sie werden verschenkt oder gegen 3 Pfund Arrowroot oder
ein Quart Oel vertauscht.
Die Bewohuer der Savage-Juseln lesen einige Bücher
des Neuen Testaments in ihrem Dialekte. Es wird geklagt,
daß peruanische Sklavenhändler oft die Bewohner der
Südsee-Inseln unter dem Namen Auswanderer wegführen.
(Hat endlich aufgehört.)
In Südamerika sind die Erwartungen der britischen
Bibelgesellschaft nicht verwirklicht worden. Aber die Bibel
ist doch verbreitet worden, und es geht jetzt, was vorher nie
geschah, der Druck und die Herausgabe der Schrift auf dem
Continente Südamerikas vor sich. Eine Ausgabe von
5000 Neuen Testamenten ist in Bogota gedruckt und ini
Verlaufe eines Jahres ist dieselbe Anzahl verkauft worden.
Auch in Rio de Janeiro sind die beharrlichen Anstrengungen
des englischen Agenten, Corsield, von einigem Erfolge
gekrönt worden. Letzterer ist viel auf Reifeu, hat aber
sonst seinen Wohnsitz in Buenos - Ayres, wohin der Strom
der Einwanderung tansende von Europäern bringt, die
sich mit Bibeln ihrer vaterländischen Sprache versehen.
Doch die meisten Exemplare sind spanische, weil das die
Sprache des Landes ist.
■ In Westindien wird die Bibel ebenfalls durch die Hülfs-
gcfellfchaft in englischer, französischer, spanischer, portugie-
sischer, deutscher, chinesischer, aber für die Neger in der
Nornba- und dann für die eingewanderten Jndier in der
„Kuli-Sprache" verbreitet.
In den Vereinigten Staaten Nordamerikas hat die
amerikanische Bibelgesellschaft zu Neuyork in den letztver-
flossenen Jahren während des furchtbaren Krieges eine
enorme Thätigkeit entwickelt. Jeder Soldat der zahlreichen
Heere ist wenigstens mit einem Theile der Bibel versehen
worden, und es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die in
Neuyork galvauisirte Bibel in der Türkei unter den Arme-
niern verbreitet worden ist. Diese Gesellschaft hat auch in
Beirut eine Ausgabe des Neuen Testaments in arabischer
Sprache besorgen lassen. Die britische Bibelgesellschaft hat
für die Armeen der südlichen Staaten mit Hintansetzung
aller Erwägungen in politischer Beziehung einzig und allein
nur in Betreff des vorhandenen Maugels mehr als 300,000
Bibeln, oder Theile derselben ohne alle Bedingung be-
willigt.
In Britisch Nordamerika arbeiten unter der theils
Protestantischen, theils katholischen Bevölkerung für die
britische Bibelgefellschaft in Verbreitung der Bibel allein
19 Hülfsgefellfchaften mit 330 Zweigen. Die Frauen-
Hülfsvereine zu St. John in Neubrauuschweig, zu Halifax
in Neuschottland, auf Prinz Edwards Eiland und Neu-
fuudland wirken ebenfalls sehr eifrig. Für die Länder an
M
Alls Guarmani's Reise
der Hudsonsbai sind 5000 Exemplare in der Sprache der
Cr e es auf Bitte der kirchlichen Missionsgesellschaft besorgt
worden. Auch hat die britische Bibelgesellschaft die Kosten
für deu Druck einer Nebersetzung der Apostelgeschichte in
die Sprache der Miemac-Indianer bewilligt. Die Cree-
Indianer lesen die Bibel in der sogenannten Sylbeuschrist;
lesen können aber natürlich nur diejenigen, welche im Unter-
richte der Missionare gewesen sind. Aus der Prinz Edwards
im nördlichen Arabien. 247
Insel haben die Missionäre viele Schulen, in welchen die
Bibel gelesen wird.
Innerhalb der letzten drei Jahre hat die Gesellschaft
im Ganzen mehr als 7,000,000 Bibeln ausgegeben, was
mehr ist, als die Gesammtverbreitung während der ersten
26 Jahre ihrer Thätigkeit. Schon in sieben polyuesischen
Sprachen ist die Bibel vorhanden und in noch sieben an-
deren werden Uebersetznngen vorbereitet. L.
Aus Guarmani's Reife
Ein iu Jerusalem wohnender Italiener aus Livorno,
Guarmani, hat seit längerer Zeit Handel mit arabischen
Vollblutrossen getrieben nnd über diese edlen Thiere ein
Werk veröffentlicht, welches den Titel führt: „Kamsa;
das arabische Vollblutpferd. Sechszehujährige Forschungen
in Syrien, Palästina und Aegypten und den Wüsten Ära-
biens, Bologna 1864." Er bemerkt, daß er oftmals in
die Wüste vorgedrungen fei, welche im Norden das Nedsched
vomHedschs.s trennt; er habe sich bis zu den Stämmen der
Beni Safer und Tiaha gewagt und war mehrmals bis an
die Ostgrenze des Dschebel Schammar vorgedrungen. Wäh-
rend seiner vielen Wanderungen in der syrisch-arabischen
Wüste war er mit manchen Beduinen ans Eentralarabien
in Verbindung gekommen, aber sein Wunsch, bis in das
Nedsched selber zu gelangen, blieb immer noch unerfüllt.
Im September 1863 erhielt er vom französischen Minister
des Ackerbaues den Auftrag, für die Regierung arabische
Hengste anzukaufen, und auch für deu König Victor Ema-
nuel sollte er eine Auzahl derselben besorgen. Die Ver-
pslichtuug, die Hengste aus dem Nedsched selber zu holen,
ging er sehr gern ein; die dortigen Fürsten erhalten nicht
selten von den Beduinen ganz ausgezeichnete Beschäler und
Mutterpferde.
Der landeskundige Mauu reiste als Araber und er hat
seinen Zweck vollkommen erreicht. Sein Reisebericht steht
in den neuesteil Nummern des Bulletins der pariser geo-
graphischen Gesellschaft (September 1865 uud folgende);
sein Jtinerarinm, auf dessen Einzelnheiten wir nicht ein-
gehen, ist schon früher von der Zeitschrift für allgemeine
Erdkunde mitgetheilt worden. Wir wollen einzelne Züge
hervorheben, die für Land und Volk charakteristisch sind.
Mit den Beduinen ist Guarmani viel genauer bekaunt
als Gifford Palgrave, aus dessen vortrefflichem Buche wir
im vorigeu Bande ausführliche Mittheilungen gebracht
haben (Globus VIII, S. 312, 332, 362); der Italiener
ergänzt in mancher Hinsicht den Engländer.
Im Dezember 1863 trat Guarmani von Jerusalem
uach Südosteu hin seine gefahrvolle Wanderung an und
kam zunächst in Berührung mit den Beduinenstämmen
der Beni Hammed und Beni Saker. Hier finden wir
folgende Bemerkung, die anthropologisch von ganz entschie-
denem Interesse ist. „Die Beduininnen haben im All-
gemeinen schwarzes oder kastanienbraunes Haar. Ich sah,
wie eine Frau, die mit Holz ärger wie ein Lastvieh beladen
war, ins Lager zurückkehrte; sie hatte blondes Haar.
Blondinen fehlen bei den Beni Saker keines-
Wegs. Die Blondinen und Brünetten haben
alle einen fanftern Blick als die anderen Be-
im nördlichen Arabien.
dninen, so sehr, daß man sie fast für Bäuerinnen aus
Kerak und Salt halten könnte."
Echte, urwüchsige Araber sind schwerlich jemals blond;
hier wird, gleichviel wann, eine Mischung stattgefunden
haben, die nun , vielleicht nach Jahrhunderten durch Rück-
schlag im Blute, sich aus viele Generationen hinaus kennt-
lich macht, vielleicht ein paar Menschenalter latent bleibt,
dann aber wieder zum Vorschein kommt. Es wäre von
Belang, der Erscheinung weiter nachzuforschen; Guarmani
gibt leider blos die einfache Notiz.
Auch den Beni Saker ist der schwarze, bittere
Kaffee so nöthig wie die Luft, welche sie athrnen; aber sie
trinken auch „weißen Kaffee", d. h. einen Aufguß von
Kanneel, Gewürznelken und Zucker; zu diesem höchst auf-
regenden Getränke wird auch nicht eine Kaffeebohne ge-
nommen.
Der Reisende bestand mehr als einen Ueberfall ver-
schiedener Beduinen, wir übergehen aber diese Schilderungen
und wollen nur bemerken, daß er vollkommen Recht hat zu
sagen, in der Wüste sei die schlimmste Begegnung jene mit
dem Menschen. Man weiß nicht, was er beabsichtigt, ob er
allein kommt und wie viele Krieger im Hinterhalte liegen.
Wer kann, weicht ans. Ohnehin war im Anfange des
Jahres 1864 im nordwestlichen Arabien Alles in Ver-
wirrung nnd Streit. Uebrigens hatte Guarmani au deu,
unseren Lesern ans Palgrave's Darstellung wohlbekannten
Talal ibn Raschid, Herrscher von Dschebel Schammar, ein
Empfehlungsschreiben erhalten. Bis Dschanf kam er ohne
besondere Heirnsnchnngen, weiterhin waren aber Gefechte
zu bestehen; der Beschwerden wurde aber nicht weiter
geachtet, als es gelang, vier ganz ausgezeichnete Hengste
für einen sehr billigen Preis zu erwerben.
Er gelangte auf feinen Streifzügen auch nach Aneisch
(Oneizah), wohin Gifford Palgrave nicht gekommen ist.
Diese Stadt, die größte im Nedsched, wie Gnarmani sagt
(richtiger in Niederkasim), hat einen sehr einträglichen Ge-
werbszweig; die Bürger kaufen Füllen von den Beduinen
und bringen die Pferde nach Koweyt am Persischen Meer-
busen; von dort gehen sie dann weiter nach Persien oder
Indien. Der dortige Emir Säbel hielt den Italiener für
einen Muselmann und türkischen Beamten, er äußerte offen
feinen Unwillen gegeu die Tyrannei der Wahhabis, hatte
langes Haupthaar und Vollbart nnd trng sich mit Reform-
gedanken. alle Stämme des Nedsched zu der
altarabischen Urreligion Abrahams zurück führen. Sein
Haß gegeu deu Wahhabiherrfcher Feyffel sprach aus jedem
Worte. —
In Eentralarabien reist man, besonders während der
248 Aus Guannam's Reise
Frühlingsnionate, ani liebsten nach Sonnenuntergang, und
man rechnet nicht nach Tage-, sondern nach Nachtreisen.
Bereydah oder Bredah, welches Palgrave besuchte,
sand Guarmani zum Theil in Trümmern; trotzdem wohnen
dort mehre Fürsten und manche Kaufleute, die reicher sind,
als jeue von Aueisch; auch kommen weit mehr Pferde auf
deu Markt, sie sind aber nicht so ausgezeichnet wie dort.
Den Weiden, auf welchen die Mutterpferde grasen, darf
kein Fremder nahen, weil er möglicherweise durch den bösen
Blick ihnen Schaden zufügen könnte.
Von Bereydah ging Guarmani in nordwestlicher Rich-
tnng zurück nach Hail, oder wie er schreibt Kail. „Am
Thore lag der verwesende Leichnam eines persischen Juden.
Das Volk hatte ihn ermordet, weil er sich anfangs für
einen Mohammedaner ausgab und hinterher weigerte, die
bekannte Formel des Islam, von Gott und dem Propheten,
auszusprechen. Der Unglückliche war über Hammad in
das Nedsched gekommen und wollte Pferde für den Schah
von Persien kaufen. Er hatte zum Theil fein Schickfal
verdient. Wer sich in eine sehr schwierige Unternehmung
einläßt, muß alle Mittel des Geliugeus benutzen und selbst
das Unmögliche versuchen; von keinen: Hindernisse darf
man sich abschrecken lassen. In Aegypten und Palästina
glaubte man, ich sei ermordet worden, denn die Kunde
hatte sich auf allen Stationen der Mekkapilger verbreitet."
Jene Ermordung des Inden stimmt nicht zu dem, was
Palgrave über die große Toleranz und die Gleichgültigkeit
gegen den Islam aus Hail meldet. Dagegen läßt sich
das Bild, welches Guarmani von dem Emir Talal eut-
wirft, mit der Schilderung des Engländers wohl vereinigen.
Der Herrscher ist sehr gastfrei und hat eine große Anzahl
kleiner Häuser für seine Gastfreunde bauen laffen, einen
großen Hofraum für Dromedare und Pferde, eine große
Halle zum Kaffeetrinken und zum Empfauge der Besucheu-
den. Alles wird sehr reinlich gehalten; als Brennstoff
dient Palmholz; Matten, Teppiche und Polster fehlen
nicht, auch ist sonst allerlei Zimmergeräth vorhanden.
Ans dem Marktplatz siudet man Kaufleute aus Mcsched
Ali in der Euphratgegend, aus Bagdad, Basra und Irak
Arabi. Die gangbare Münze besteht in Medschidi-
Thalern, d. h. spanischen Säuleupiastern im Werth von
4 Francs 66 Centimes.
Um 10 Uhr Morgens werden die Buden geschlossen
und erst um 3 Uhr wieder geöffnet.
Der Emir Talal oder Talel benahm sich vortreff-
lich; schwarzes Blut ist nicht in ihm, denn er hat eine
Adlernase. Er ist etwa 40 Jahre alt, klein, wohlbeleibt,
bräunlich, und seine schwarzen Augen haben lebhaften Ein-
druck. Er sprach gerade Recht, als Guarmani ihn zuerst
sah. Er saß auf einer Bank von Erde an der östlichen
Mauer der Moschee; seiue höchsten Beamten hatten, der
Rangfolge nach, zur Linken Platz genommen. Vor ihm
faßeu auf der Erde im Halbkreise etwa 20 Sklaven und
Diener, alle sehr gut gekleidet. Jedermann in derVersamm-
lung, auch die Sklaven, hatte einen krummen Säbel mit
silberner Scheide iu der Haud. Mau schnallt die Waffe
nur um, wenn man zu Pferde steigt.
Vor dem Halbkreis erschien eine arme Frau, sprach
den Fürsten an und verlangte von ihm Recht und Gerechtig-
keit gegeu den Oberbeamten im Dorfe Ufseta. Er habe
wider ihren Willen einen ihr gehörenden Esel zu seinem
Vortheil benutzt und sie überdies schlecht behandelt. Aller-
dings verhielt sich die Sache so. Talal befahl zwei Reitern,
die Frau uach ihrem Dorfe zu geleiten, dem Beamten
seinen besten Esel wegzunehmen und der Frau zu geben,
und jenem außerdem als Strafe aufzuerlegen, daß er der
int nördlichen Arabien.
Frau einen völlig neuen Anzug einzuhändigen habe. In
einer solchen summarischen Weise wurden binnen zwei
Stunden acht Prozesse entschieden.
Gnarmani's erste Unterredung mit diesem trefflichen
Fürsten währte volle fünf Stunden. Er ließ dem Fremden
den Bart salben, auch weißen und schwarzen Kaffee vor-
setzen. Talal übt seine Herrscherpflichten in a/tbiblischer
Weise aus; er kennt keine krankhafte Civilifationsfentimen-
talität, welche den rechtlichen Mann jedem beliebigen
Schurken preisgiebt. Wer einen Neben menschen
gemordet hat, den läßt er hinrichten. Darin
liegt Billigkeit, Rechtsgefühl und gesunder Meuscheuver-
staud; er sagt: ein Mörder sei auf der Welt zu nichts
mehr nütze und müsse für immer uufchädlich gemacht wer-
den. Er habe ja das Morden bleiben lassen können. Wer
in einem Zank einen Andern gefährlich verwundet, dem
läßt er die Haud abhauen, mit welcher die That verübt
wurde; Verläumdern, böswilligen Lügnern und
falschen Zeugen läßt er den Bart abbrennen;
Diebe werden eingesperrt und den Rebellen confiscirt er,
nach Nankeemanier, ihr Eigenthum. Er sagte mehr als
einmal zn dem Italiener: „Die Wittwen und Waisen
liegen mir mehr am Herzen als meine eigene Familie!"
Alle seine Urtheile waren gerecht und von Billigkeit ein-
gegeben und seine Großmnth geht weit. Abends läßt er
Dichter'zu sich kommen. In Gnarmani's Beisein schenkte
er dem Poeten Ebn Schnd, der blind ist wie Homer, einen
vollständigen Anzug und 100 spanische Thaler, dazu noch
ein Pferd und ein Dromedar. Der Dichter hatte ein
Poem mit den Worten geschloffen: „Jbn Raschid hat ganz
Nedsched für sich." Wie barbarisch ist doch solch ein ara-
bischer Emir! Im civilisirten Europa weiß man kein Bei-
spiel von solcher Großmuth.
Auf der Rückreise nach Norden fand er in Tue'ie die
Leute in froh est er Laune, weil der Heuschreckensegen
sich eingestellt hatte. Man hatte die Gottesgabe in
tiefen Sandgruben geröstet. Guarmani kaufte vier Säcke
voll. Für den Ackerbauer, sagt er, siud die Heuschrecken
eine Plage, aber für den Bewohner der Wüste ein hoch-
willkommener Segen. Sobald die wolkengleichen
Schwärme sich an: Himmel zeigen, werden sie mit geradezu
gierigen Blicken verfolgt. Sie lassen sich nieder und Alles
stürmt dorthin, um sie rasch in Gruben zu werfen und zu
rösten. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß sie keine
Speise bilden, die ich empfehlen könnte, doch weiß ich sehr
wohl, daß die Feinschmecker im Oriente darüber ganz
anders denken. Gebraten sind sie unschmackhaft, wenn
gekocht klitschig, aber für die Pferde sind sie so gut
wie Gerste, dehnen ihnen die Gedärme aus, kräftigen
und vermehren die Muskelbildung, ohne daß sich Fett an-
setzt. Getrocknet zu Pulver gerieben, geben sie eine große
Menge Nahrungsstoff in kleinem Volumen und halten sich
Jahrelang, vorausgesetzt, daß man sie vor Feuchtigkeit
schützt. Ein Maß Heuschrecken ersetzt vollkommen zwei
Maß Gerste. Die Ackerbauer sollten dem Beispiel der
Leute in der Wüste folgen; wenn sie ihnen, nach dem
Rösten, Flügel und Beine ausreißen, hätten sie beim Vieh-
sntter vollkommen Ersatz der Gerste.
Mit den Dromedaren^hatte Guarmani manchmal
seine liebe Roth. Als er einst durch die Nesud (die
Sandwüste) ritt, kniete sein Thier nieder; alles Reißen mit
dem Zaum, alles Schlagen half nichts; es legte und wälzte
sich im Sande wie ein Schwein im Schlamme. Seinen
beiden Reisegefährten ging es nicht besser; als aber dann
einige Beduinen herbeikamen, lachten diese laut auf. Die
Reisenden waren an ein Sandbad der Kameele, an
Steinkohlen und
eine Meraga gekommen; eine solche ist ein großes Loch
im feinsten Sande. Das Kameel, welches sich dort nieder-
legte, läßt einen Geruch zurück, welchen der Mensch nicht
wittert; aber alle Kameele, welche an einer Meraga vor-
über kommen, wälzen sich in derselben. Die Sache hat
aber auch ihr Gutes; deun wenn sie wieder aufstehen,
scheinen sie sich in allen Gliedern leichter zu fühlen; wenig-
steus gehen sie dann sehr weite Strecken, ohne der Ruhe
bedürftig zu sein.
In Dschebel Schammar hatte Guarmani eine ganz
vorzügliche Aufnahme gefuuden. Palgrave (Globus
VIII, S. 315) sagt ausdrücklich: „Die Leute sind sehr
laue Mohammedaner, Gebete und Formeln erscheinen
mehr als Höflichkeitsbezeigungen, an die man sich einmal
gewöhnt hat; auch pflegt man nur iu den Moscheen *c. Ge-
brauch davon zu machen; sie sind weit mehr Sache der
Klugheit als des Glaubens." Dagegen schreibt Guar-
maui: „Der mohammedanische Fanatismus hat
einen hohen Grad erreicht; die Rückkehr zum alten
Glauben seit der Niederlage der Wahhabis hat begreif-
licherweise sie gezwungen, als eifrige Anhänger desselben
zu erscheinen; es möge dahin gestellt bleiben, ob diese An-
hänglichkeit aufrichtig gemeint oder nur scheinbar ist." Wir
haben also von zwei Augenzeugen zwei entgegengesetzte
Urtheile. Der Italiener bemerkt noch, daß die Sitten sehr
schlecht, die Männer ausschweifend, die Frauen putzsüchtig
seieu. Die letzteren haben eine bräunliche Hautfarbe, etwa
so wie die Aegypterinnen der am Nil gelegenen Dörfer,
große, mandelförmig gespaltene Augen, aus denen Feuer
blitzt, unvergleichlich schöne Hände und Füße und einen
Körperbau, der jedem Maler oder Bildhauer Bewunderung
abzwingen würde. Sie verfertigen aus feinzerstoßener
Palmenrinde und gereinigtem Hammelfett eine geruchlose
Pomade, die vortrefflich ist und dem Haar einen hübschen
Glanz verleiht. Unter diesen Schönheiten ragen ganz
besonders die Bäuerinnen von Usseta und Ekede hervor; sie
bringen Gemüse auf den Markt von Hall, haben sehr lockere
Sitten und sind nicht unbarmherzig „gegen die Kunden",
welche der Prophet ihnen zuschickt. Unter solchen Umständen
begreift man das Folgende: „Die Kinder werden niemals
von den Vätern anerkannt; sie bleiben bei der Mutter, die
ja mehr Verführerin als Verführte war, werden von den
Verwandten geduldet, denn, so sagen diese, das Haus ist
geöffnet für den Segen, welchen der Himmel
sendet, was in Prosa übersetzt so viel heißen will, als
daß man sich die Geldspenden und Geschenke des Lieb-
Habers gefallen läßt. Ein Vater darf sich nicht einfallen
Sonnenwärme. 249
lassen, seiner Tochter, die Aussicht hat, Mutter zu werden,
schlecht zu begegueu; er würde den allgemeinen Unwillen
der jungen Männer auf sich leukeu, ja vertrieben werden.
Das Mädchen aber fände dann trotz alledem einen Mann.
Manchmal, obwohl nicht oft, bleibt eiu Mädchen unver-
dorben. Wer solch eiue Schöne zur Frau uehrneu will,
zahlt eine kleine Summe in blanken Thalern; dadurch wird
er ihr Mann, kann sich aber nach Belieben wieder von ihr
scheiden. Die Frau hat vielleicht ein Kiud geboren, dann
aber in ähnlicher Weife noch einige Männer geheiratet.
Was wird mit dem Kinde? Sobald dasselbe etwas heran-
gewachsen ist, schickt sie dasselbe demjenigen Manne zu,
welchen sie für den Vater hält. Dieser nimmt auch das
Kind ohne Weiteres aus, denn er hat ja Datteln genug,
dasselbe zu füttern und die Blöße ist mit Lümpchen auch
bald bedeckt, und, Alles in Allem genommen, ist nicht der
Emir Talal da? Am Abend eines jeden Tages finden sich
hunderte, die nichts zu brechen und zu beißen haben, auf
dem Platz vor der Moschee ein und warten, bis ein Herold
ruft, sie möchten ins Schloß kommen. Dort überwacht
der Fürst persönlich die Austheilung der Lebensmittel,
welche er als gütiger Herr spendet.
In Dschebel Schammar gibt man eine Tochter gern dem
ersten besten Fremden zur Frau und nimmt sie wieder
zurück, wenn jener wegreist. Falls er in einer anberaumten
Zeit nicht wieder gekommen ist, gilt die Ehe für geschieden.
Wittwen finden weit eher einen Mann, als Mädchen; ein
solches kann nur mit Mühe untergebracht werden. Guar-
mani's Begleiter Mohammed wurde in Gobar stark ge-
drangt, ein hübsches Mädchen aus eiuer angesehenen Fa-
milie zu heiraten; die Eltern verlangten 15 spanische
Thaler nud außerdem für Nebenspesen noch 10 Thaler.
Mohammed wollte aber vorher die Schöne mit Augen
sehen, weil das, wie er sagte, in seinem Heimatlande Syrien
Brauch sei, und die Matronen willigten ein. Die Schöne
wurde vorgestellt, als keusche Jungfrau belobt; man öffnete
ihr den Mund, um zu zeigen, daß ihr kein Zahn fehle, und
man klopfte ihr stark auf deu Rücken und sie hustete nicht,
hatte also gesunde Brust und Lungen. Aber Mohammed
wich dennoch aus. „Am andern Morgen wurde mir die
Schöne von der Mutter zugeführt, die iu mich drang, ich
meinerseits solle das Mädchen heiraten; sie ließ auch von
jenen 25 Thalern noch etwas ab. Es lag ihr Alles daran,
ihrer Tochter zeitweilig einen Mann zu verschaffen, damit
sie dann bald Wittwe oder eine Geschiedene werde."
Ländlich, sittlich!
Steinkohlen un
Man nimmt an, daß jetzt alljährlich etwa 4000 Mil-
lionen Centner Stein - und Braunkohlen zu Tage gefördert
und verbraucht werden. Die Kohle ist gewissermaßen das
Lebensprincip der heutigen Kulturvölker geworden, und die
Nachfrage nach diesem durchaus unentbehrlichen Brenn-
stofse steigert sich immer fort. Wie soll das enden, werden
die Kohlengruben sich nicht erschöpfen? Diese Frage ist
schon sehr oft aufgeworfen worden. Schon jetzt ist die
Kohlenmasse, welche wir Menschen des neunzehnten Jahr-
Globus ix. Nr. 8.
Sonnen war m e.
Hunderts verbrauchen, eine kolossale, eine ganz ungeheuere
geworden, die ganze Welt ist abhängig von den schwarzen
Diamanten; man denke sich, was werden müßte, wenn
urplötzlich einmal keine Kohle mehr vorhanden wäre. Es
wäre so viel wie ein Einsturz des Himmels.
Großbritannien hat im Jahre 1864 nicht weniger als
92,787,873 Tonnen Kohlen verbraucht; multiplieirt man
diese Summe mit 20, so erhält man die Ziffer der Centner,
.welche dieses eine Land geliefert hat. Der deutsche Zoll-
32
250 Steinkohlen und
verein lieferte 1862 nahe an 263,009,000 Centner Stein-
kohlen und nahe an 100 Millioneil Centner Braunkohlen,
Belgien 170, Frankreich etwa 190, Nordamerika 300
Millionen Centner. Rechnet man Schweden, Rußland,
Oesterreich, Italien und noch einige andere Länder hinzu,
dann kommen für das genannte Jahr nahe an 3000 Mil-
lionen Centner Kohle heraus, aber heute kann man, wie
gesagt, nahe an 4000 Millionen annehmen. So großartig
und gewaltig ist der Kohlenverbrauch geworden.
Wird eine Erschöpfung stattfinden? Wird die
Kohle, um einen Ausdruck aus dem gewöhnlichen Leben
anzuwenden, „alle werden"? Einige Fachmänner behaup-
ten, das große Kohlenbecken von Neweastle z. B. werde
kaum noch 300 Jahre vorhalten, wenn die Förderung sich
auf dem gegenwärtigen Standpunkt behaupte; dagegen fagen
andere, man dürfe noch wenigstens 1700 Jahre auf eiue
ungeminderte Ausbeute rechnen. Das wäre ein Trost für
uns, die wir gegenwärtig leben. Aber man denkt doch auch
an das, was künftig einmal werden könne, und uner-
schöpflich ist die Kohle nicht; für einzelne Oertlich-
keiten läßt sich mit mathematischer Bestimmtheit angeben,
wann die Produktion ein Ende haben müsse. Was hat
später einmal Europa davon, wenn die ungeheuer ergiebigen
Kohlenfelder Nordamerikas, die wirklich über alle Maßen
reich sind, noch Vorräthe haben, wenn dieselben bei uns, in
unserer alten Welt „all' geworden" wären?
Der Gegenstand ist von hohem Interesse. Vor ein
paar Jahren (1863) hat der bekannte Kanonenbauer
W. Armstrong denselben in einer Sitzung der British
Association zu Neweastle zur Sprache gebracht, und jetzt
ist die Frage von einem französischen Ingenieur (Simo-
nin, in der Revue des deur Mondes, 1. November 1865)
wieder aufgenommen worden. Er setzt zunächst die man-
nigsache Verwendung der Kohle auseinander; da wir alle
dieselbe kennen, so wäre ein näheres Eingehen hierüber-
flüssig. Die Kohle ist für die Industrie das, was für den
Menschen das tägliche Brot. Ein Land gilt, in Bezug aus
seine materielle Entwicklung, genau uach dem Maßstäbe
seines Kohlenverbrauchs. Ueberall steigern sich Förderung
und Verbrauch der Kohle in einer Weise, von der man
früher keine Ahnung hatte; in England von 500 Millionen
Centner in 1854 auf mehr als 1800 Millionen in 1864.
Ein ähnliches Verhältniß findet in anderen Prodnctions-
ländern statt; kein einziges macht eine Ausnahme. Wenn
das, wie man wohl annehmen muß, in ähnlicher Weise
fortgeht,—was soll werden, nachdem die Gruben abgebaut
sind und ferner keinen Ertrag liefern?
Simonin meint, nach 500 oder 600 Jahren werde die
Erschöpfimg eine Thatsache sein, und in England, Deutsch-
land, Frankreich und Belgien werde sie schon nach etwa
250 bis 300 Jahren eintreten. Er beruft sich auf Arm-
strong, für dessen Ansichten sich auch Roderich Murchison
ausgesprochen hatte.
Amerika, so meint Simonin, könne sich wohl auf 1000
Jahre getrösten, fo lange würde dort die Kohle vorhalten.
In Afrika komme sie, ausgenommen an der westlichen Küste
von Madagaskar, durchaus nicht häufig vor. Indien,
Barma, China, Australien, Neuseeland, Nenealedonien und
Chile haben allerdings Kohle, sie kann aber dort immer
nur vorzugsweise für den Lokalbedarf verwandt werden.
Für Verweudung bei industriellen Unternehmungen kann
sie ohnehin keine allzuweiten Frachten ertragen; sie wird
dann zu theuer.
Manche Eisenhütten und Walzwerke werden vielleicht
außer Betrieb gesetzt werden, wenn einmal alle Eisenbahn-
netze in Europa hergestellt sind. Wahrscheinlich wird man
Sonnenwärme.
das Leuchtgas auch künftig aus einem andern Stoffe
bereiten. Aber durch das eine wie durch das andere wird
sich keine erhebliche Verminderung im Verbrauche der Kohle
herausstellen, denn der Bedarf der vermehrten Anzahl von
Lokomotiven und Dampfschiffen wird immerhin ein fehr
beträchtlicher sein. Selbst wenn alle ausgerodeten Wälder
wieder angepflanzt würden und eine beträchtliche Ausbeute
an Holz gäben, könnte doch das letztere die Kohle nicht
ersetzen. Die Gründe liegen nahe genug. Da und dort
wird man statt der Kohle Petroleum verwenden; wir wissen
aber nicht, wie lange dieser Stoff überhaupt vorhält.
Die Steinkohle also geht zu Eude; wir können
mit mathematischer Genauigkeit bestimmen, wann das
für jede einzelne Oertlichkeit der Fall fein werde. Nun
erhebt sich die Frage: was soll nachher werden? In
den Grubeureviereu wird sie oftmals aufgeworfen; man
sucht die Kohle jetzt schon aus einer Tiefe von 3000 Fuß
zu Tage zu fördern; man baut selbst sehr mittelmäßige
Lager ab, die man noch vor einem Menschenalter hätte
links liegen lassen; man gibt sich alle menschenmögliche
Mühe, so spät als irgend angeht, zu sterben.
Ohne die Dampfmaschine kann man nicht fertig
werden; sie ist und bleibt das letzte Wort der Mechanik
unserer Tage. Die neueren Untersuchungen über das
mechanische Äquivalent der Wärme haben dargethan, daß
die Kraft, welche der Dampfmaschine den Brennstoff
restituirt, das Produkt der im Kohlenstoff verdich-
teten Sonnenwärme sei, durch welche in geologischen
Zeiten die Steinkohle gebildet worden ist. Dieselben
Untersuchungen haben dargethan, daß Licht, Wärme und
Kraft nur die drei Dafeiusformen eines und desselben
Agens sind. Wer also bei der Heizung der Dampfkessel
die Steinkohle durch irgeud etwas Anderes ersetzen, oder auf
die Entdeckung eines neuen wohlfeilern Bewegungsnüttels
rechnen wollte, thäte weiter nichts, als daß er den Kohlen-
stoff an die Stelle des Kohlenstoffes setzte; er würde sich
also in einem Cirenlns vitiosus bewegen, wenn er nicht
etwa auf das Petroleum verfallen wollte. Als ein Bahn-
zug vorübersauste, sagte Georg Stephenfon: „Nicht
durch die Kraft des Dampfes wird diese Ma-
fchine vorwärts gezogen, sondern durch die
Kraft der Sonnen Wärme; diese hat den Kohlenstoff
in den Pflanzen sirirt und vor Millionen Jahren die
Steinkohlen gebildet." So gibt es nichts Neues in der
Natur und nichts geht in derselben verloren, weder Kraft
noch Stoff, und die Lokomotiven sind, wie gleichfalls
Stephenfon sagte, nur Sonnenrosse.
Es ist gewiß wohlgethau, bei der Erzeugung des
Dampfes mit dem Brennstoffe fo sparsam als möglich zu
verfahren und so wenig Kohlen als irgend angeht, zu ver-
brauchen. Jetzt geht ein großer Theil in Rauch verloren,
manchmal sogar 90 Procent! Die Ersparniß durch ver-
besserte Maschinen kann und wird sehr bedeutend sein, aber
die Erschöpfung der Kohlengruben wird dadurch höchstens
nur eine Weile verzögert. Die Kohlenbecken werden am
Ende nichts mehr ausgeben und wären sie noch zehnmal fo
mächtig wie sie sind, und dieser Tag, der nicht ausbleiben
kann, ist in der unendlichen Daner und Reihenfolge der
Zeiten wie eine Sekunde!
Es sind recht seltsame Projekte aufgetaucht, um dem
endlichen Mißgeschicke vorzubeugen und ihm gleichsam die.
Spitze abzubrechen. Hat man doch, und zwar nicht in
Spott oder Scherz, den Vorschlag gemacht, alle Maschi-
nen der Welt durch den Niagara in Bewegung setzen zu
lassen! Man müsse, wird gesagt, dazu theils das Wasser
unmittelbar benutzen, theils die durch den Katarakt erzeugte
Die Räuber-Gv
comprimirte Luft, und beide würde man umsonst haben.
Das mag in der Theorie Alles recht gut und schon sein, ist
aber leider uuthuulich. Mau kann doch nicht die ganze
Fabrikation für den Weltbedarf an jenem Wasserfalle zu-
sammen drängen!
Eine Zeit lang glaubte man, in den durch Eleetricität
in Bewegung gesetzten Maschinen einen Ersatz finden zn
können. Es hat sich aber gezeigt, daß die Sache aus ein
mechanisches Spielwerk hinausläuft, wie die Gasmaschinen
mit verdünnter Luft auch. Diese letzteren verbrauchen für
eine gegebene Kraft oft drei - bis viermal mehr Brennstoff,
als die gewöhnliche Dampfmaschine. Damit ist also rein
nichts gewonnen, und eben so wenig mit den sogenannten
Explosionsmaschinen, welche ohnehin nur für die Fort-
beweguug vou Geschossen anwendbar sind. Die Maschinen,
vermittelst welcher man den Dampf durch Reibung erzeugt,
verbrauchen mehr als sie geben, und in Betreff der söge-
nannten combinirten Dampfmaschinen liegen nur negative
Ergebnisse vor.
Bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse haben
wir an die Stelle der Dampfmaschine nichts zu setzen, das
einfacher und vollständiger wäre als diese. Wenn nun die
Steinkohle ausgeht, oder wenn sie so thener geworden ist,
daß man sie zu gewerblichen Zwecken nicht mehr verwenden
kann, — woher soll dann die mechanische Kraft genommen
werden? Diese Frage ist heute noch gar nicht zu beaut-
Worten, falls in an nicht dahin gelangt, die ungeheuere
Menge von Sonnenhitze, welche jetzt verloren geht, zu
verdichten und nutzbar zu machen, d. h. die Sonne auf
Fl ascheu zu ziehen. So lautet der Ausspruch eines
ausgezeichneten Physikers. „Die Kohle ist ohnehin
weiter nichts als Sonne im Keller, meinet-
wegen im Flaschenfutter." Man könnte vielleicht auf
die archimedischen Spiegel verfallen und die erstaunlichen
Verbrennungsversuche wiederholen, welche Bnffon und
seine Schüler nach den Anweisungen des griechischen Mathe-
matikers anstellten. Aber auch hier fragt sich, in wie weit
die Anwendung einen praktischen Werth haben würde.
Wenn man die Sonne vermittelst der concentrirten und
dann zurückgeworfenen Sonnenstrahlen in der Industrie
verwenden zu können meint, fo setzt das voraus, die Sonne
werde täglich scheinen, wo möglich ohne Unterbrechung, und
das ist bekanntlich nur in einigen wenigen regenlosen
Strichen der Fall; diese aber sind zumeist Wüsteneien.
illas in Mexico. 251
Man kann also an die archimedischen Spiegel eben so wenig
denken, wie an die Wasserfälle des Niagara.
Es wird sich aber, so meint Simonin weiter, am Ende
doch wohl herausstellen, daß der Brennstoff der Zu-
kunft in der Sonne liegt. Die neuesten Physika-
lischen Entdeckungen über die Wärme berechtigen zu dieser
Annahme. Ich biu überzeugt, daß uach Erschöpfung der
Kohlengruben das Ende der Welt noch lange nicht gekommen
ist. Es gibt in dieser Beziehung, wie für das Eisen auch,
überhaupt für alle Metalle, welche für die Civilisation
unentbehrlich sind, eine Art von prästabilirter Har-
monie, welche alle Dinge besser geregelt hat, als jene,
die einst der deutsche Philosoph (Leibnitz) ersann. Wenn
Eisen und Kohlen, welche doch seit so urlanger Zeit vor-
Händen sind, eigentlich erst in unseren Tagen umfassend und
ausgiebig ausgebeutet werden, und zwar in so kolossalen
Verhältnissen, daß man schon berechnen kann, wie lange
die Kohle noch vorhalten werde, — dann kann man sich
auch versichert halten, daß die ewige Weisheit, welche die
Welt regiert, uns einen Ersatz für die Kohle geben wird,
etwa in der Sonne.
Künftige Forscher müssen sich also diesem Himmels-
gestirn zuwenden. Solcher Forscher werden wir bald hun-
derte haben, wir können aber jetzt noch nicht sagen, in
welcher Art und Weise die Forschungen veranstaltet werden
müssen. Der Keim jeder großen Erfindung hat oft Jahr-
hunderte lang verborgen gelegen, bis er dann rechtzeitig
zum Vorschein kommt. Was ist einfacher als die Kraft
und Wirkung des Dampses, und wie lange hat es gewährt,
bis man lernte, sie zu verwenden!
Wird nun die Sonne der Brennstoff sein, dessen sich
unsere Urureukel bedienen? Werden die Länder der heißen
Zone, welche jetzt zum großen Theil verödet daliegen, ein
Zielpunkt für die Auswanderung civilisirterVölker werden?
Diese Fragen können parodor erscheinen, mir aber scheint
ausgemacht, daß die Welt uicht zu Grunde gehen wird,
wenn einmal die Kohlen ausgehen.--
Mein sieht, es handelt sich um Zweierlei: einmal um
die gewiß unbestreitbare Thatsache, daß die Kohlenlager
über kurz oder lang erschöpft fein werden; — fodauu um
eine Phantasie, welche keinen Anspruch aus Logik machen
kann. Aber sie ist nicht uninteressant, die Kohle ist ein
Hanptitem in der Welt geworden, und deshalb haben wir
diese Betrachtuugeu Simouins unseren Lesern nicht vorent-
halten wollen.
Die Räuber-Gue
Wir wissen keine passendere Bezeichnung für die
Banden von Uebelthätern, welche mehr oder weniger alle
Provinzen des mexicanischen Kaiserreichs nicht blos unsicher
machen, sondern theilweise verheeren. Die scheinbare poli-
tische Parteinahme ist lediglich ein Vorwand, denn diesen
Raubmördern liegt eben so wenig an der Republik und
dem Präsidenten Jnarez, wie am Kaiser Maximilian.
Dieser aber ist ihr Feind, weil er sofort alle Räuber, die
auf frischer That ergriffen werden, oder die ein Kriegs-
gericht für schuldig erkennt, hinrichten läßt. Es empfahl
sich also, die Maske des patriotischen Republikauismus vor-
illas in Mexico.
zunehmen, aber man würde Unrecht haben, diese merica-
nischen Banditen mit den tapferen vaterlandsliebenden
Guerillas der Spauier aus deu Zeiten der napoleouifcheu
Kriege zu verwechseln.
Wenn Mexico schon vor der Gründung des Kaiser-
reiches zwischen 80 bis 100,000 Handwerksräuber hatte,
so ist während der letzten Jahre diese Zahl schwerlich geringer
geworden, weil viele Soldaten, welche in den juristischen
Truppenkörpern dienten, nach Zerstreuung derselben sich
den Räuberbanden anschlössen.
Wir finden nun in der „Nenyork Tribüne" vom
252 Die Räuber-Gl
28. October Schilderungen eines Beobachters, der offenbar
die Zustände in Mexico genau kennt. Er meint, daß das
Räuberwesen gerade jetzt (Anfang Oktobers 1865) ärger
sei, als es je zuvor gewesen.
Das Bandenwesen ist vielfach zu einem Actien- und
Specnlationsgeschäst geworden. Irgend ein ehrgeiziger
oder raublustiger Gesell, der sich am liebsten als Oberst,
General und Gnerillero bezeichnet und keine Aussicht hat,
vom Kaiser mit Gnadenbezeigungen oder einer einträglichen
Stelle bedacht zu werden, spielt den patriotischen Repnbli-
kaner. Er hat etwas Geld oder borgt eine Summe und
bildet mit einigen anderen Leuten eine Genossenschast.
Diese sind seine Partner. Der Verein wirbt dann allerlei
farbiges Gesindel an, das in Menge zur Verfügung steht,
und beginnt das „Geschäft", sobald diese Patriotensch aar
50 bis 390 Köpfe zählt. Dann wird ein geeigneter Schau-
platz ausgewählt und das Rauben ganz systematisch be-
gönnen. Es ist diesen Patrioten ganz einerlei, ob sie einen
Juaristen oder einen Imperialisten plündern, und wenn
man die lebeusgetreueu Schilderungen aus Mexico liest, so
ist es Einem, als ob man einen jener Räuberromane vor
sich habe, die vor dreißig oder vierzig Jahren bei uns in
Deutschland grassirten. Aber in Mexico fehlt die Romantik
des Edelmuthes und des Weltschmerzes, womit der selige
Vulpius seinen Rinaldo und August Leibrock seine Aranzos
und Gonsalvo's ausschmückte. Die braunen mexicanischen
Banditen sind ganz einfach platte, gemeine, prosaische
Halunken; selbst für deu Verfasser des „Haarzopfes der
Hölle" wären sie zu schlecht und völlig unbrauchbar.
Die biederen Patrioten haben es zum Beispiel auf ein
Landgut, eine Hacienda, abgesehen. Sie umstellen die-
selbe, gleichviel ob am Tag oder bei Rächt, schlagen die
Thüren ein, plündern die ganze Wohnung rein aus, ver-
üben an den Männern Grausamkeiten und an den Frauen
Abscheulichkeiten, theils in brutaler, theils in raffinirter
Weise, treiben das Vieh weg, ziehen fort und wiederholen
dasselbe iu der nächsten Zeit auf einer andern Hacienda.
Aber auch iu den Städten treiben sie ihr Geschäft-
Häuser kann man dort nicht so ohne Weiteres ausrauben
und ausplündern, und deshalb muß ein anderes Verfahren
eingeschlagen werden. Das auserkorene Opfer wird genau
überwacht und bei passender Gelegenheit überfallen und
geknebelt. Dann muß der Unglückliche einen Schein aus-
stellen, in welchem er sich verpflichtet, an einem bestimmten
Tag eine Summe zu zahlen, je nach feinen Vermögensver-
Hältnissen, 500 oder 1000 oder auch mehr Dollars. Wehe
ihm, wenn er nicht Tag und Stunde einhält. Die
Gnerilleros lauern ihm auf und werfen ihm eine Fang-
schnür um den Hals; er wird erdolcht oder todtgeschossen.
In den verschiedenen Provinzen ist keine Landstraße
sicher. Die Patrioten legen sich am Eingang oder Aus-
gang von Gebirgsthälern oder Engpässen in Hinterhalt,
überfallen Posten und Condnctas, plündern die Reisenden
und treiben das Geschäft gründlich. Denn sie begnügen
sich nicht, ihren Opfern alle Habseligkeiten, ohne irgend
welche Ausnahme, zu rauben, sondern entkleiden sie auch
bis aufs Hemd. Ein Imperialist wird erstochen, ein Fran-
zose todtgeschossen, — das ist so der löbliche Brauch.
Präsident Jnarez hat vor einiger Zeit eine Prokla-
mation erlassen, worin er manche seiner Generale tadelte,
weil sie sich abscheuliche Barbareien und Grausamkeiten
hätten zu schulden kommen lassen; er ist unschuldig an
solchem Treiben. (Wir wollen hier beifügen, daß mehre
eifrige, am kaiserlichen Hof in Gunst stehende, imperia-
listische Generale, z. B. Mejia und Cobos auch weiter
illas in Mexico.
nichts waren als gemeine Räuberhauptleute, und von
Marqnez kann man dasselbe sagen. —)
Manchmal haben es die Patrioten auf eiu Dorf oder
eine kleiueStadt abgesehen. Sie überrumpeln den Ort und
gewöhnlich plündern sie ihn bis auf das letzte Haus aus.
Doch ist es auch vorgekommen, daß die Bewohner tapfere
Gegenwehr leisteten und den Feind verjagten. In solchen
Fällen wird niemals Quartier gegeben. Manchmal bringt
solch eiu Unternehmen großen Gewinn.
„General" Figneroa ist ein unermüdlicher Patriot,
— in seiner Weise. Er wollte der Stadt Tehnaran einen
Besuch machen; in seiner Weise. An der Spitze seiner
Schaar rückte er unter klingendem Spiel ein, schrieb
100,000 Dollars Zwangscontribntion aus, erbeutete 1300
Gewehre und ließ dann in allen Häusern das Silbergeschirr
wegnehmen. Dieses glänzende Geschäft ließ anderen Pa-
trioten keine Ruhe; sie eiferten ihren: Genossen in würdiger
Weise nach. und bald nachher hatten mehre kleine Städte
ähnlicher Heimsuchungen sich zn erfreuen.
Nun, der Patriot Figueroa wird ohne Zweifel jene
100,000 Dollars an feinen schwerbedrängten Präsidenten
Jnarez senden, der Geld sehr nöthig hat? Darandenkt
er nicht; er benutzt einen Theil der Summe, um das Ge-
schäft zu vergrößern, das heißt, er wirbt noch einige hundert
indianische Banditen an und zieht mit seiner nicht unerheb-
lich verstärkten Guerilla in die Gebirgsgegenden des Staates
Oaxaca, weil dort viele Reisende, Postwägen und Waareu-
züge auf deu Landstraßen zu finden sind. Alles, was sich
blicken läßt, fällt dem Patrioten Figueroa zur Beute. Das
Raubwesen nimmt coloffale Dimensionen an; aller Ver-
kehr stockt und kein Arbeiter wagt sich auf die Felder.
Niemand, der irgend welche Habe besitzt, fühlt sich sicher,
und Figueroa ist Gebieter weit und breit. Binnen drei
Monaten machte er ganz ausgezeichnete Geschäfte, so aus-
gezeichnet, daß er selber die Bilanz für sehr befriedigend
erklärte; die Speculation ist eingeschlagen, das Anlage-
kapital gibt eine gute Rente, und der Patriot ist in der
besten Laune.
Es wurde schon gesagt, daß diese glücklichen Spekn-
lationen zur Nacheiferuug anreizen. Die Raublust durch-
dringt alle Klassen. Wenn ein halbes Dutzend böse Buben
in einer Stadt sich zusammen thnn, um zu rauben und zu
morden, so nennen sie sich auch Guerillas; das klingt so
Patriotisch! Gewöhnlich überfallen sie irgend ein von ihnen
ausersehenes Opfer und lassen sich einen Schein über Geld
ausstellen. Sobald dieser in ihren Händen ist, wird der
Mann erstochen. Die Patrioten cassiren hinterher das
Geld ein.
In der Hauptstadt Mexico begab sich Folgendes. Am
22. September 1865 verließ der reiche Bäcker Castilla
seine Wohnung; er kam Abends nicht heim, und auch am
folgenden Tage war von ihm nichts zu sehen und zuhören.
Seine Familie wendet sich an die Polizei , welche Nach-
forfchungen anstellt. Inzwischen kommt ein in Castilla's
Hause beschäftigter Mann, Namens Treja, präsentirt einen
don jenem ausgestellten Schein über 8000 Dollars und
erzählt, Castilla sei bei Cruces von Guerillas aufgehoben
und er, Treja, sei abgesandt worden, um das Geld zu holen;
der Bäcker werde dann heimkommen.
Castilla's Geschäftsgenosse hatte seine Bedenken über
die Sache und nahm jenen Treja fest; bald nachher wurden
zwei andere Verdächtige, Pinedo und Guerrero, in Haft
gebracht. Castilla's Leiche wurde in Pinedo's Hause auf-
gefunden; man hatte sie aus der Hausflur beigescharrt; sie
hatte einen Dolchstich im Herzen und einen Strick um den
Aus allen
Hals. Die Mörder legten ein Geständniß ab. Sie hatten
ihn unter dem Vorwand eines Geschäfts aus dem Hanse
gelockt, ihm eine Fangschnur um den Hals geworfen, den
Schein abgepreßt und dann ermordet. Der Kaiser ließ alle
drei sofort vor ein Kriegsgericht stellen, abnrtheilen und
48 Stunden später auf öffentlichem Markte garottiren.
Charakteristisch für die Zustände ist auch die Ermor-
dung des Soldaten Bonifacio Soto. Er war aus Tamau-
lipas und auf Urlaub bei seiner Familie. In jener Pro-
vinz ist oder war General Eseobedo Befehlshaber der
juaristischen Streitkräfte. Von einem Lieutenant dieses
letztern, Ramirez, wurde Soto überfallen; man band ihm
an jedes Bein einen Strick und ließ ihn durch Pferde leben-
dig auseinander reißen.
Gemäß dem Grundsatze der Arbeitstheilung haben sich
die Banditen in vier verschiedene Klassen oder Gruppen
getheilt. Die einen überfallen Reisende und Posten; die
zweiten plündern Häuser und Haciendas; die dritten
erpressen Schuldscheine und tödten dann ihre Opfer; die
vierten verüben grausame Martern, ehe sie die Beraubten
ermorden. Nicht selten machen verschiedene Banden zeit-
weilig gemeinschaftliche Sache, besonders wenn es sich darum
handelt, kleinere Trupps von österreichischen oder belgischen
Soldaten zu überfallen. Diese sind gut uniformirt, die
Erdtheilcn. 353
Offiziere haben goldene Epauletteu, alle siud vortrefflich
bewaffnet, und jede Colonne führt Pulver und Schießbedarf
mit sich. Die Patrioten wagen sich aber nur an jene
Krieger, wenn ihre Banden denselben sechs- oder achtfach
überlegen sind.
Das Kaiserreich wäre ein Segen schon dann, wenn es
ihm gelänge, diesem Raub - und Banditenwesen in Mexico
ein Ende zu machen. An ernstlichem Willen fehlt es ihm
nicht. Unterm 2. Oktober hat Kaiser Maximilian eine
Proclamation erlassen, in welcher er verkündet, daß Benito
Jnarez besiegt worden und daß sein Präfidentschaststermin
ohnehin abgelaufen sei. Der Kamps sei nun von Seiten
der Gegner des Kaiserthums iu einen Räuberkrieg aus-
geartet; fortan könne man die Banden nicht mehr als
Kriegführende betrachten, sondern werde mit aller Strenge,
ohne jede Nachsicht gegen sie verfahren. „Sie stecken
Dörfer in Brand, ermorden ruhige Bürger und schwache
Weiber; sie sind ohne politische Principien, sind eine zügel-
lose Soldateska, die letzten Ueberbleibsel eines Bürgerkrieges.
Gegen sie soll keine Schonung mehr beobachtet werden."
Es wird aber sicherlich ein schweres Stück Arbeit sein,
einem Unwesen zu steuern, das während einer vierzig-
jährigen Anarchie, denn anders kann man die mexikanischen
Zustände seit 1826 nicht bezeichnen, so tief eingewurzelt ist.
Aus allen
Gerhard Rohlfs in Afrika. Sein Reiseplan nach Waday.
Wir erhalten von dem Bruder des Reifenden, Hrn. Dr. med.
Hermann Rohlfs in Bremen, soeben (20. Dezember) folgende
Mittheilung:
„Von Gerhard Rohlfs sind in diesen Tagen briefliche Mit-
Heilungen über den Fortgang seiner gegenwärtigen Reiseunter-
nehmungeu bei mir eingegangen. Ende Oktobers war er noch iu
Mursuk in Fessan angekommen, wo er etwa14 Tage zu verweilen
beabsichtigte, um von da aus Verbindungen iu Betreff seiner fer-
ueru Reife nach Bornn und Waday anzuknüpfen.
Rohlfs hatte im Frühling d. I. Tripoli mit einer eigenen
kleinen Karawane verlassen, um über Rhadames ins Hoggar-
gebirge und zu den Quellen des Jrara (des alten Niger) vor-
zudringen. Es war aber nicht möglich, über Rhadames hinaus
vorzugehen wegen der mittlerweile im Innern Afrika's ausgekro-
chenen kriegerischen Unruhen. S ch e i ch - e l -B a k ay von Tim-
buktu war gestorben, und dessen Sohn und Nachfolger war
mit seinem Oheim um die Herrschaft iu einen Krieg gerathen,
welcher sich allmälig _ weiter- nach Norden fortgepflanzt hatte;
denn auch die verschiedeneu Tuarekstämme gerietheu unterem-
ander in Fehde. Rohlfs konnte deshalb in Rhadames weder
Begleiter noch Kameele erhalten; seine eigenen Kameele und
Effekten mitzunehmen, durfte er nicht riskiren, da in jener Zeit
selbst größere Karawanen geplündert und die Menschen getödtet
oder gefangen fortgeführt wurden. Auch hatte er Nachricht
erhalten, daß Si Öttman, ein ihm befreundeter Tuarekhäupt-
liug, Bruder des Beherrschers von Tuat, verhindert war, ihn zu
begleiten. Er selbst wurde in Folge der großen Hitze (45° R.
im Schatten) ernstlich krank und sah sich nach seiner Herstellung
genöthigt, bis Misda wieder zurückzukehren und sich von da
nach Mursuk zu wenden. ^ ^
Er wollte uuu die östliche Reiseroute nach Tebn und Waday,
welche von vorne herein eventuell in seinen Plan aufgenommen
worden war, einschlagen. In Mursuk hat sich ihm derselbe
Neger zum Begleiter angeboten, welcher bei vr. Vogels Tode
zugegen war. Rohlfs sieht den Umstand, daß gerade dieser
Neger, der selbst einst in größter Todesgefahr gesteckt hat, es
wagen will, mit ihm nach Waday zurückzukehren, für ein Zei-
chen an, daß derselbe es gegenwärtig, da Bornu und Waday
in Frieden zu sein scheinen, für möglich hält, ohne allzu große
Erdtheilcn.
Gefahren dahin vordringen zu können. Er ist fest entschlossen
zu dieser Reise und wahrscheinlich gegenwärtig bereits auf dem
Wege dahin.
Ueber Herrn von Beurmann hat er sicher erfahren, daß
der Sultan von Waday an dessen Tode unschuldig sei; daß er
vielmehr, indem er das sichere Gebiet von Bornu allein oder
nur von wenigen Dienern begleitet verlassen habe, von Straßen-
räubern überfallen und getödtet worden sei.
Allgemeiner Ruin und Verwilderung auf den Kleinen
Antillen.
Die Zustände auf Haiti und Jamaica haben wir mehrfach
erörtert. Auf den sogenannten Kleinen Antillen hat die Bar-
barei zwar auch, wie nicht anders zu erwarten war, reißend
schnelle Fortschritte gemacht, aber Agenten der englischen Aboli-
tionisten, wie Sewell und Und er Hill, welche in deutschen
Zeitschriften als Autoritäten angeführt wurden, suchten das euro-
päische Publikum zu hintergehen, indem sie meinten, die Dinge
seien denn doch nicht so arg, wie die „Feinde der Freiheit"
behaupten. Wir haben seit nun länger als vier Jahren unab-
lässig vor den falschen Darstellungen geistesbeschränkter Frömmler
und hirnverbrannter Fanatiker gewarnt. Jetzt, da es zu spät
ist, das entsetzliche Unheil wieder gut zu machen, den schander-
haften Frevel, welchen der Abolitionismus an der weißen wie
an der schwarzen Menschheit begeht, zu sühnen und rückgängig zu
machen, jetzt gehen auch vielen Leuten in England, die bis vor
Kurzem so „stubborn" in die Negrolatrie sich verrannt hatten,
die Augen auf; jetzt schreien sie Ach und Wehe!
Doch wir haben hier mit diesen, endlich vom gesunden
Menschenverstand erleuchteten Engländern nichts zu schaffen, fon-
dem haben es mit unbefangenen katholischen Priestern zu thun,
welche auf den Kleinen Antillen, namentlich auf Dominica,
Montferrat, Antigua und anderen ihrem Seelsorgerberuf oblie-
gen, ohne sich um politische Streitfragen zu kümmern. Iu dem
Novemberhefte (1865) der „Annales de la Propagation de la
foi" lesen wir mehre Berichte, welche Poirier, Bischof von
Roseau, Hauptstadt der Insel Dominica, nach Lyon eingesandt
hat. Seine Diöeese wurde 1850 gegründet und umfaßt alle
kleinen nach Norden hin liegenden, englischen und dänischen
254 Aus allen
Antillen; außer den schon oben genannten noch: St. Christoph,
Nevis, Tortola, St. Croix, St.' Thomas und St. Jean. Der
Bischof schreibt an die Geistlichen in Lyon:
„Bekannt ist der rasche und tiefe Verfall, welchem die klei-
nen englischen Colonien seit der Negeremaneipation 1838
anheimgefallen sind. Zu dieser permanenten Ursache des
Elendes sind in den jüngsten Jahren noch andere gekommen,
insbesondere der Krieg in Nordamerika, die niedrigen Zucker-
preise und die Dürre von 1863. Die lokalen Hülssmittel waren
völlig versiecht."
Die „Annales" bringen dann weitere Auszüge aus Briefen
des Bischoses. Derselbe kaufte 1864 eine große Pflan-
zung, auf welcher allein die Gebäude mehr als
80,ODO Francs gekostet haben, und die früher weit
über 150,000 Francs Werth gewesen, für —- 7500
Francs, zahlbar in dreijährigen Raten. So ent-
werthet ist das Grundeigenthum. Weshalb? Der Bischof aut-
wortet: „Die Lage der Kleineu Antillen verschlechtert sich immer
mehr. Diese schöne, fruchtbare Colonie Dominica bringt jähr-
lich nicht einmal mehr 300,000 Francs Einnahme auf. Große
Plantagen haben wir so gut wie gar nicht mehr; es fehlt an
Arbeitskräften und Kapital; die besten Zucker-, Kaffee-
und Kakaopflanzungen sind aufgegeben und ver-
wildert. Die Neger (welche seit 30 Jahren absolut frei
siud und mit den Weißen völlig gleiche Rechte haben, und nach-
dem die früher an Arbeit gewöhnte schwarze Bevölkerung durch
vollfreien, keine Sklaverei kennenden Nachwuchs ersetzt wor-
den ist) wollen nicht arbeiten, außer für sich selbst
(d. h. ihre Weiber müssen arbeiten); und da sie die Arbeit
durchaus nicht lieben, so beschränken sie sich darauf,
nur so viele Lebensmittel zu bauen, wie sie eben
absolut nöthig haben, damit sie selber und ihre
Familien nicht verhungern. Die meisten gehen ber-
nahe völlig nackt. Seit dem amerikanischen Kriege sind dre
Baumwollenzeuge sehr theuer geworden, und so kann die Hälfte
unserer armen ' (erzfaullenzenden) Katholiken die Messe nicht
besuchen, und aus demselben Grunde nimmt auch der Schul-
besuch ab."
Welch eine Mittheilung! So faul sind diese Schooßkinder
des Abolitionismus, daß sie auf einer der fruchtbarsten Inseln
der Welt, wo der Taglohn wenigstens einen Dollar beträgt, nicht
einmal so viel arbeiten mögen, um sich Hemd, Hose und Jacke
zu kaufen! Welch ein Triumph für die biederen Philanthropen!
Aber noch mehr; der Bischof sagt weiter: „Auf unseren Inseln
gibt es keine Industrie, keinen Handel, durch welche dem Elend
gesteuert werden könnte. Sechs Schisse sind vollkommen
genügend, um den Zucker und Rum, welche im Laufe
eines Jahres auf der ganzen Insel erzeugt werden,
nach England zu schaffeu. Ein paar Fahrzeuge laden
Brennholz,' etwas Früchte und Colonialwaaren, die nur geringe
Preise bringen." (Die Neger sortiren zn schlecht.)
Der Geistliche schildert dann das Grundeigenthum, welches
er um den Spottpreis von 7500 Francs gekauft hat, um dort
eine Missionsstation zu gründen. „Dasselbe umsaßt eiu ganzes
Thal bis zum Gipfel zweier bewaldeter Hügel und wird durch
zwei klare Bäche bewässert, die iu eine prächtige Bucht münden;
die Ufer derselben gehören auch dazu. Welche Frische in diesen
Thälern! Hier ist ein irdisches Paradies."
Man sieht, was durch freie Neger und Abolitionisten aus
dem „Paradiese" gemacht worden ist. Welch ein Gewinn für
Kultur, Gesittung, Freiheit und Humanität!
Gesunder Menschenverstand in England.
In diesem Lande, wo dieVornrtheile eine ihrer festen Bur-
gen haben, hat sich die Presse lange sehr feig gezeigt, sobald es
sich nm die Negerfrage handelte. Die Radikalen und Liberalen
verwechselten die Sache der Barbarei mit jeuer der Humanität
und Freiheit, oder schlössen die Augen, welche ihnen freilich durch
die Ereignisse weit genug aufgerissen werden. Die„Eonservativen"
wollten den bornirten Frömmlern und Fanatikern, welche in der
Ereterhalle salbadern, nicht auf die Füße treten. Nun aber
wird das plötzlich anders uud die absolut Radikale,?, Pseudo-
liberalen uud Frömmler müssen sich Dinge sagen lassen, die
ihren Ohren bisher fremd waren.
Wir finden in der „Brazil and River Plate Mail", Lon-
don, 22. November, Betrachtungen, denen wir uns anschließen
können. Das Blatt sagt rund 'heraus, daß die Emaucipatiou
der Neger eiue höchst unüberlegte und durchaus übereilte Hand-
lung gewesen sei. „Schlimmes, so heißt es weiter, haben wir
allerdings immer besorgt, wir erwarteten aber kaum eine so
Erdtheilen.
grausenhafte Erläuterung, wie wir sie nun durch die verhätschel-
ten und verzogenen Neger in Westindien erhalten. Darin liegt
eine vollständige Rechtfertigung für die nordameri-
kanifchen Südstaaten; sie sehen klarer als Andere, welche
Gefahr ans einem raschen und übereilten Wechsel in der Lage
des Negers erwachsen mußte. Sie begriffen sehr richtig, daß
ihre Sicherheit und ihre ganze Zukunft bedroht sei, wenn sie
nicht mit einem Schlage von den wahnwitzigen und tollfana-
tischen Abolitionisten der Nordstaaten völlig getrennt würden.
Es war einDing, dem Sklavenhandel ein Ende zu machen;
es war aber ein ganz anderes Ding, Millionen von Schwarzen
urplötzlich für vollfrei zu erklären und ihnen ein Geschenk zu
geben, mit dem sie nichts Gutes anzufangen wußten. Es gibt
ja doch gar keine Möglichkeit, sie in ganz gleichartiger Weise in
die weiße Gesellschaft ein- und dieser aufzupfropfen; man kann
mit ihnen gar nicht anders fertig werden, als wenn sie dienen
und arbeiten. Man hätte immerhin ihre endliche Freilassung
im Auge behalten können, inzwischen aber wäre es Pflicht
gewesen, ihre Lage zn verbessern, sie so viel als möglich zn
erziehen und zu heben und die gegenseitigen Rechte und Pflich-
ten des Herrn und des Sklaven' genau zu bestimmeu. Aber
diese Millionen in der Art freizugeben, wie Lincoln es gethan
hat, — das war gleichbedeutend mit dem völligen
Ruin des Negers, der nun überhaupt keine Dienste mehr
leistet und nichts mehr Werth ist. Vielleicht ist das fürchterliche
Trauerspiel ans Jamaika eine rechtzeitige Warnung für das
Volk in den Vereinigten Staaten (—? ?'—), wo indessen die
überwiegende Volksmenge der Weißen einen leichten Sieg über
die Neger erfechten würde. Aber das Drama in Westindien
bildet den besten Commentar zu der verblendeten Tollheit der
Abolitionisten hier in England wie dort in Amerika. Die
Humanitarier der Ereter Hall haben durch jeue Gräuel auf
Jamaika doch etwas zu denken bekommen (Fanatiker denken
nicht), und doch sind diese Ereignisse lediglich die ganz natür-
lichen Resultate der Verwirklichung ihrer Lieblingsgrille. Sie
verwirklichten dieselbe nicht nur auf Kosten Anderer, sondern es
gingen auch viele, viele Menschenleben dadurch verloren. Sie
schleuderten den armen Neger in die weite Welt hinein, ihn. der
ohne Erziehung, ohne Industrie und ohne alle Eigenschaften ist,
durch welche er sich selbstständig und rechtschaffen durchbringen
oder unter weißen Mitbürgern' leben könnte! Diese Abolitio-
nisten hätten eben so wohl den Tigerzwinger im zoologischen
Garten aufsperren und erwarten inögen,' daß die Tiger sich
friedfertig zwischen den zahmen Thieren bewegen würden. Der
Vergleich mag denen stark erscheinen, welche den Negercharakter
nicht kennen. Wenn die Menschen Verstand haben, so nehmen
sie sich eine Lehre aus dem, was auf Jamaika nnd in Nord-
Amerika sich begibt. In Brasilien, wo viele Neger frei nnd
sehr viele noch Sklaven sind, wird man die Frage sehr delikat
behandeln müssen. Zum Glück verstehen unsere Abolitionisten
kein Portugiesisch, und deshalb werden sie in Brasilien nicht den
verderblichen und unheilvollen Einfluß ausüben können, durch
welchen sie anderwärts so viel Jammer und Elend in die Welt
gebracht haben. Die brasilianische Regierung geht ernsthaft mit
dem Plane um, die Lage der Schwarzen zu verbessern. Der
Himmel bewahre sie vor den abolitionistischen Don Quiroten,
welche keine andere Sympathie kennen als die für den Neger,
die aber von sich stoßen Alles, was da heißt Gerechtigkeit, Politik
und gesunder Menschenverstand. Die Sklaverei ist ein Aus-
wuchs, der beseitigt werden muß, aber auf andere Art als nach
der frevelhaften und unheilvollen Methode der Abolitionisten."
So eine Stimme aus England. Daß die Abolitionisten
die ärgsten Negermörder sind, haben wir schon oft gesagt. Alles
Blut kommt auf ihre hirnverbrannten Häupter!
r. Der Papyrus der Alten. Die berühmte 4 bis 10 Fuß
hohe Papierstaude der Alten, Cyperus Papyrus, wachst beson-
ders in Aegypten, am Nil entlang. Schon in den alten Zeiten
aßen die armen Aegypter den großen Wurzelstock, deshalb nannte
man diese Leute „Papyrophagen"; er dient noch heute theils
im rohen Zustande, theils gekocht oder auf Kohlen leicht geröstet
als Nahrungsmittel der ärmern Bevölkerung. Aus dem Holze
des Papyrusstrauches machte man Stncke, mit welchen Wein-
reben festgebunden wurden, Bänder, Kleider, Segel, Schiffe
(Naves papyraceae Plin.~), Gefäße; aus deu Fasern verfertigte
man anch Lichtdochte (Sellychnium papyraceum). Das aus der
Papyrusstaude verfertigte Papier wurde aus der vou dem Steu-
gel oder den Halmen cibgelosten Oberhaut hergestellt, indem
man die Blättchen aus einer Tafel ausbreitete, mit dem klebrigen
Nilwasser überstrich _ und dte Blätter formte. Auf solche Weise
wurde das Papier in Alexandrien bereitet, wo dasselbe einen
Aus allen Erdth eilen.
255
bedeutenden und einträglichen Handelsartikel bildete. Die Ale-
xandriner hatten dazu besondere Leuner (glutinatores); nach
dem Trocknen des Papiers wurde dasselbe, um es zu ebnen,
geklopft (malleatores), dann wurden die Blätter aufgewickelt,
in Rollenform versendet und verkauft. Mit Griffeln und Federn
aus demselben Papyrus wurden sie beschrieben mit Schrift-
zeichen, die gewöhnlich von schwarzer, selten von rother, uoch
seltener von blauer Farbe sind, in außerordentlich seltenen
Fällen auch vergoldet. Die schwarze Farbe ist Kohlenschwarz,
das uach einem ägyptischen Schriftsteller aus der Papyrusstaude
hergestellt wurde, von Metallen ist keine Spur darin. Die rothe
Farbe ist Zinnober, eine blaugrüne enthielt Kupferoryd, eine
lasurblaue Kobalt. Woher die alten Aegypter dieses Metall
entnahmen, ist unbekannt, auch in blauen Glasflüssen der
Aegypter findet sich Kobaltoryd. Die zum Schreiben dienenden
Farben oder Dinten wurden mit dem sogenannten Fischleim-
gnmmi, Gummi Sarkokollae, von einem im südlichen Afrika
und Aethiopien einheimischen Strauche, Penaea Sarkokolla, ab-
stammend, verdeckt nnd so verbraucht. Das Gummi Sai'kokoliae
kannte auch Dioscorides nnd leitete es von einem in Persien
vorkommenden Strauche ab; er schrieb demselben wundenheilende
und augenstärkende Kräfte zu; dieAraber benutzten dasselbe als
Purginnittel. Nach Hippokrates wurden aus den Häuten des
Schilfes (epidermide caulium) von Papyrus antiquorum Cyliu-
der gewickelt, die mau zur Erweiterung fistulöser Gänge in die-
selben steckte und aufquellen ließ.
Fortschritt und Ausschwung am La Plata. Wir haben
sehr oft auf die gemäßigten Regionen Südamerikas hingewiesen,
die unsrer volleü Ueberzeugung nach ein weit besseres nnd für
das deutsch -nationale Wesen viel geeigneteres Feld für unsere
Auswanderer bilden, als das vielfach zerrüttete nnd nun mit so
schweren Stenern überbürdete Nordamerika, welches unter allen
Ländern der Welt die höchsten Abgaben zu tragen hat. Die
Engländer, deren Kapitalisten einen fernen Spürsinn haben,
wissen die Vorzüge jener Länder schon seit mehren Jahren sehr
wohl zu würdigen und schaffen tausende von Emigranten dort-
hin, obwohl sie doch selber mehr als 50 eigene Colonien haben.
Der „Buenos Ayres Standard", ein englisches Blatt, gibt
eine Uebersicht der Forlschritte am La Plata während der letzt-
verflossenen fünf Jahre.
Wir hatten, so heißt es, 1860 erst 15 Miles Eisenbahn,
jetzt mehr als 200 in vollem Betrieb, mehr als 200 im Bau
und für 500 Miles ist die Genehmigung ertheilt.
Im Jahre 1860 hatte» wir nur eine Dampferverb in-
d uug mit Europa durch die Royal Mail; 1865 habeu wir vier
Dampferlinien mit Europa, und dazu kommt nun jene nach
den Vereinigten Staaten von Nordamerika und noch zwei andere
mit der Alten Welt.
Die Stadt Buenos Ayre? zählte 1860 kaum ein Dutzend
Privathäuser, deren jedes mehr als 10,000 Pfd. Sterl. Werth
war, jetzt hat sie mehr als 200 solcher Gebäude
Damals gab es keine andereBank als dreCasade moneda;
jetzt haben wir drei Banken in der Stadt, vier Zweigbanken im
Distrikte derselben und mehr als 20 in der Provinz.
Die Wollausfuhr betrug 1860 für ungefähr 1 Will.
Pfd. Sterl., 1865 für 2'/, Mill.'
Das Zollhaus in Buenos Ayres brachte 1860 nur3 Mill.
Dollars ein, 1865 nahe an 6 Mill. Silberdollars.
Einwanderer landeten 1860 nur etwa 6000, aber 1865
sind mehr als 12,000 gekommen.
Der Preis für Grund und Boden stellte sich damals
auf etwa 3000 Pfd. Sterl. für die Quadratlegua, jetzt steht der-
selbe mehr als doppelt so hoch.
Wir hatten 1860 2 Markte und 2 Theater, jetzt haben
wir der ersteren 6 nnd der letzteren 4.
Die Zeitungen setzten 1860 nur ungefähr 2000 Exem-
vlare im Ganzen ab (davon kamen auf den englischen „Stan-
dard" etwa 300); jetzt mehr als 10,000, wovon auf den „Stan-
dard" 1700 kommen. Auch erschaut eine deutsche Zeitung.
Feuer- uud Lebeusversicherungsanstalteu waren
1860 uoch unbekannte Dinge; jetzt arbeiten mehr als ein halbes
Dutzend englischer Assekuranzgesellschaften und jedes zweite Haus
in der Stadt ist versichert. „ . ^ ,
Von Aktiengesellschaften war 1860 keme Rede; jetzt
sind deren 6 vorhanden: London und River Plata Bauk, Kapital
2 Mill.Psd Sterl.; Great Southern Railway 750,000;_ Northern
Railway 160,000; Central Argentine Railway 1 Mill; Boea
und Ensenada Railway 150 000; San Juan Mining Com-
pany 100,000 Pfd. Sterl.
In der Gründung begriffen waren gegen Ende des Jahres
1865: Loudou-, Brazil- uud Maua-Bauk 5 Mill. Pfd. Sterl.;
Easteru Argeutiue Railway 1 Mill.; Dolores-Extension (Fort-
setzuug der Südbahn) 600,000; Cordova Landcompagnie 1 Mill.;
Morgan Beef Packing Company 150,000; River Plate Steam
boat Company 150,000 Pfd. Sterl.
Die Engländer legen also Kapitalien im Belauf von etwa
12 Mill. Pfd. Sterl. in der argentinischen Republik an.
Im Jahre 1861 kaufte eiu deutscher Kaufmann in Buenos
Ayres eine Estaneia im Süden, auf welcher 7000 Schafe vor-
haudeu waren; binnen 4 Jahren hatte sich diese Zahl auf 22,000
vermehrt, obwohl zwei schlechte Jahreszeiten iu diese Zeit falleu.
In Deutschland finden die La Platagegenden bei weitem
nicht die ihnen gebührende Beachtung; nur iu Hamburg wissen
mauche Geschäftsleute, was dort zu' holen ist; Bremen, das
ohnehin einer raschen Initiative nicht hold ist, sondern wo man
im Allgemeinen lieber längst gebahnte Pfade betritt, hat uur
sehr geringen Verkehr nach dem La Plata. Es wird aber wohl
auch hinter den Engländern und Italienern herkommen.
Das Petroleum in der argentinischen Provinz Jujny
kommt an drei verschiedenen Oertlichkeiten vor. Die eine liegt
15 Legnas vom Flusse Verniejo eutserut in der Richtuug uach
Esquina Arande, am Rand eines 800 Schritt laugen und 400
Schritt breiten Teiches; hier findet man es in festem Zustande
in drei Lagern übereinander. Auf dem Wafser schwimmt Oel
in Menge. _ Die beiden anderen Oertlichkeiten sind nicht weit
entfernt, die eine 5 Leguas vom San Francisco, der in den
Vermejo fällt, die andere etwas mehr als 20 Leguas oberhalb
dieser Mündung. Beide liegen iu trockenem Lande. Die Che-
miker an der Universität Buenos Ayres haben sich über die
ihnen abgelieferten Proben sehr günstig ausgesprochen.
Beklagenswert) ist das Schicksal des Spaniers Vila, wel-
cher das Petroleum entdeckte. Der argentinische Congreß schlug
ihm ein Patent ab, uud darüber ward er wahnsinnig. Er besaß
früher eine Steinölquelle iu Pennfylvanien, zog aber von dort
des Krieges wegen fort und ging uach Sau Domingo, wo die
aufständischen Neger ihm sein Haus verbranntem
Gold im Staate Minnesota. Das edle Metall ist im
Septembermouate am Lake Vermillion gefunden worden. Geo-
gnosten hatten schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, daß
man auch in diesem Staate Gold finden werde.
F. v. H. Die Prairien Nordamcrika's. Professor Alex.
Winchell stellt in Sillimans American Journal höchst interessante
und lesenswerthe Untersuchungen über die Entstehung der aus-
gedehnten Prairien Nordamerikas an und gelangt zu folgenden
Resultaten. Der Boden .der Prairien gehört einer laeustrinen
Bildung an; die laeustrinen Sedimente schließen nur sehr wenige
lebende Keime ein; Diluvialgebilde hingegen sind stets reich an
solchen lebenden Keimen, welche während der Eiszeit dorthin
begraben wurden. Nach Maßgabe des Hervortretens der dilu-
viäleu Oberfläche kam wieder die Flora der voreiszeitlichen
Epoche zum Vorscheiu. Die Vegetation, welche endlich ans dem
ausgetrockneten laeustrinen Boden erschien, trug wahrscheinlich
einen entschieden mehr gras- als baumartigen Charakter.
Nordamerikanische Poesie. Professor Agassiz befindet
sich bekanntlich in Südamerika, um den Amazonenstrom zn
befahren und in den Andes die Gletscher zu erforschen. Da-
durch hat sich nun eiu Yankeedichter, O. W. Holmes, poetisch
angeregt gefühlt. Unter unseren Lesern sind ohne Zweifel Viele,
die Englisch verstehen, uud diesen wird es sicherlich Spaß machen,
wie man in Nordamerika reimt. Das Gedicht, wenn der Aus-
druck erlaubt ist, steht im Novemberhefte des „Atlantic Monthly".
Also: -
How the mountains talked together
Looking down upon the weather
When they heard our friend had planned his
Little trip among the Andes!
How they'll bare their snowy sealps (!)
To the climber of the Alps
When the cry goes through their passes
„Here comes the great Agassiz!"
>,Yes, I am tall" says Cliimborazo
„But x wajt for him to say so —
Tliat's the only thing that laeks — ho
Must see nie, Cotopaxi!"
Und so geht es fort. Holmes reimt tdunäer und Condor,
— dagger und jaguar, — natur' Uttd alligator, — boa con-
256 Aus allen
strictor und pictur', — sogar fossils Itub apostles, — fertile
Und turtle, — professor und her. Er sagt:
God bless the great Professor,
And Madam too, god bless her,
God bless the great Professor
And the land, Iiis proud possesäor,
Bless tliem now and evermore.
r. Die Heimat der Wohlgerüche. Der Hauptplatz der
Blumen, deren Duft die Flaeons der Toilettentische aushauchen,
ist das südliche Frankreich und Piemont, namentlich Montpellier,
Grasse, Nismes, Cannes und Nizza. Letztere beide Orte sind
das Paradies der Veilchen, sie liefern jährlich gegen 13,000 Pfd.
Veilchenblüthen. Nizza erntet außerdem gegen 100,009 Pfd.
Orangenblüthen, ebenso anch Cannes, wo dieselben feineres
Parfüm haben. 500 Pfd. Orangenblüthen geben etwa 21 Pfd.
reines Neroli-Oel. Das Oel der noch unreifen Orange führt
den Namen „Efsence de petits grains", das Oel der Schale
reifer Früchte heißt „Essence de Portugal", das der Blüthe
„Neroli". Ferner erntet man zu Cannes jährlich gegen 9000Pfd.
Akazienblüthen.
Die Parfümerien werden destillirt. Eine solche Fabrck zu
Cannes verbrauchte in einem Jahre 140,000 Pfd. Orangen-
blüthen, 20,000 Pfd. Akazienblüthen, 140,000 Pfo. Jasnnn-
blütheu, 20,000 Pfd. Veilchen und 8000 Pfd. Tuberosen neben
einer großen Menge anderer wohlriechender Pflanzen und
Kräuter.
Die Operation, dnrch welche man mittelst eiues Fettes die
flüchtigen Oele und riechenden Stoffe der Blumeu erhalt, uennt
man Enfleurage. Die Blumeu tverdeu ans Haarsiebe gelegt,
die man übereinanderstellt, dazwischen Schichten des fetten Kor-
pers, der sich allmälig in der Atmosphäre der Blumen mit
ihrem Aroma sättigt. Diese Methode ist sehr theuer und lang-
sam, außerdem erleidet, wegen der langen Dauer der Operation,
das Parfüm an Lieblichkeit einen Verlust. Nach einer andern
Methode schließt man die Blumenrahmen mit deu zwischen-
gelagerte« Schichten eiues weichen Fettes in einen Schrank mit
Trageleisten ein bei gelinder Wärme, wo durch die in Bewe-
gung gesetzte Luft die Enfleurage in wenigen Stunden voll-
endet ist.
Ein Muttergottesbild auf den Ruinen des babylonischen
Thnrmes. Die Engländer hatten einst die Grille, auf einer der
höchsten Pyramiden Aegyptens Thee und Grog zu trinken, und
das fand man „sublim". Vor ein paar Jahren bestieg der
englische Gesandte Rutherford Alcock den Gipfel des Fusi yanw>
des heiligen Berges der Japaner, kochte hoch oben anch Thee
und bereitete sich Grog. Einige seiner Begleiter ließen an den
Stätten, welche den Japanern heilig sind, zerrissene Schuhe und
Stiefel stehen. Die „Barbaren" waren so uncivilisirt, das recht
übel zu nehmen. Das waren „profane" Dinge. Die Missionare
pflanzen bekanntlich überall, wohin sie kommen, ein Kreuz auf,
und das ist etwas Altes. Aber der Gedanke, auf dem babylo-
nischeu Thurm eiu Marienbild aufzustellen, der ist neu. Cut
Carmelitermönch aus der Mission zu Bagdad, Pater Maria
Joseph de Jesus, hatte sich vorgenommen/dem alten Babylon,
das in den Schriften der Juden mit so wenig schmeichelhaften
Ausdrücken belegt wird, einen recht tüchtigen Tort anzuthun, und
er führte auch sein Projekt aus. Die Statue „Unserer Lieben
Frau zur Wüste" bekam er vou einer frommen Genossenschaft
in Paris geschenkt. Er landete im Hasen von Aleraudrette m
Syrien, ging mit einer Karawane nach Diarbekir und schiffte
auf einem Balkenfloß, das aufgeblasene Ziegenhäute zur Unter-
lage hatte, den Tigris hinab über Mossul nach Bagdad, wo er
nach 17 tägiger Stromfahrt anlangte. Nachdem er sich ein weing
ausgeruht, machte er sich mit einigen eingeborenen Christen ans
den'Weg nach dem zwei Tagereisen entfernten Hella oder Hilleh,
einer kleinen Araberstadt, die in der Nähe des alten Babylon
liegt. Am 16. Februar 1865 gelangte er nach dreistündiger
Wanderung an den Fuß des babylonischen Thurmes, dessen
Trümmer einen Hügel bilden. Auf dem Gipfel desselbeu erhebt
sich eine etwa 72 Fuß hohe, vou einem tiefen Risse durchbrochene
Mauer, iu welcher der eifrige Pater schon im vorigen Jahr,
als ihm der Gedauke zu seinem Projekte kam, eine Marien-
medaille versteckt hatte. Seine Freude war groß, als er sie jetzt
wieder saud. Er las dort obeu eine Messe und ließ sich nicht
dadurch stören, daß eiu wildes Pantherthier in der Nähe sein
Lager hatte, und kletterte dann an der Mauer hinauf. Das war
Erdtheilen.
eine sauere Arbeit, die volle zwei Stunden in Anspruch nahm
und nur durch Anwendung von Seilen gelang. An solchen
wurde dann anch das Marienbild hinaufgezogen', das nun da-
steht als „Königin der Wüste". Der Pater 'hatte vorher alle
vier Himmelsgegenden gesegnet.
Deutsche Seefahrt in Ostasien. Mehrfach haben wir
darauf hingewiesen, wie bedeutend die ostasiatischen Häsen für
unsere Schifffahrt sind. Es scheint, als ob wir allmälig alle
anderen seefahrenden Völker in diesen Regionen überflügeln
würden. Im chinesischen Küstenhandel ist das bereits seit eini-
gen Jahren geschehen. Jetzt liegt ein Bericht aus Hongkong
vor, demzufolge im Jahre 1864 mehr als 500 deutsche Fahr-
zeuge jenen chinesischen Hafen besucht haben. Es waren aus:
Hamburg 315; — Bremen 101; — Lübeck 1; — Olden-
burg 20; — Hannover 41; — Mecklenburg 8; — Preußen
51 Schiffe.
Iu Summa 537 deutsche Fahrzeuge. Unsere Lands-
leute im Binnenlande werden schon aus dieser bloßen Ziffer
ersehen, was die Seefahrt für Deutschland zu bedeuten hat.
Wir stehen als Seefahrer nur allein den Engländern und Nord-
Amerikanern nach, allen übrigen aber weit voran.
Wie nöthig eine Kriegsflotte ist, begreift Jedermann, aber,
wohlverstanden^ eine deutsche, nicht eine hegemonisch partim-
laristische. Und nur unter schwarzrothgoldner Flagge und ja
unter keiner andern.
r. Eine seltene Mumie. Jn Havre deGrace ist ein eigen-
thümlicher Gegenstand zur öffentlichen Schaustellung gekommen.
Es ist ein zur Mumie oder vielmehr zu Stein' gewordener
menschlicher Körper, der auf einer Guano-Insel an der asrika-
nischen Küste gefunden wurde; ein zugleich aufgefundenes Scheit
Holz enthält die eingeschnittene Inschrift: „Christoph Delano.
1421." Der Leichnam lag unter einer 40 Meter starken Schicht
Guano, den mehr als 400 Jahre aufgehäuft haben mögen. Das
Haar und die Zähne sind vollständig erhalten und beweisen,
daß das Individuum der kaukasischen Rasse angehört. An der
Schulter bemerkt mau Spuren eines Lanzenstiches. Wahrschein-
lich war es ein Matrose, der von seineu Gefährten auf der
Insel begraben worden ist, die damals so einsam da lag wie
noch jetzt. — Die Mumificiruug der Leiche durch den Guano ist
eine sehr interessante Erscheinung.
r. Die Qnecksilverprodnktion der Erde. Man schätzt die
jährliche Gesammtproduktion der Erde an Quecksilber auf 61,000
Centner, wovon auf Spanien (Almaden) 20,000, auf Califor-
nien (Neu-Almaden) 28,000, auf andere kalifornische Gruben
7500, auf Peru 3000 und auf Deutschland mit Oesterreich und
Frankreich 2500 Centner gerechnet werden. Man nimmt an,
daß Mexico, Peru, Chile' und Bolivia jährlich zur Silber-
gewinnung 23,000, China und Japan zur Zinnoberfabrikation
und Silberertractiou 10,000, Australien und Californien zur
Silber- und Goldausscheidung, Europa und die Vereiuigteu
Staaten von Nordamerika für ihre Industrie 12,000 Centner
Quecksilber bedürfen, so daß also das jährliche Verbrauchs-
auantum aus wenigstens 51,000 Centner angenommen werden
darf, und mithin der Bedarf der alten und neuen Welt an
Quecksilber hinreichend gedeckt erscheint.
F. v. H. Großglockner. Ueber die Höhe dieses Berges
sind bis jetzt folgende Angaben gesammelt worden:
Wien. Fuß
Gipfelhöhe nach den früheren Generalstabsaufnahmen 11,991
„ „ Schlagintweit........12,158
„ Franz Keil . . ... • ■ • • 12,018
„ „ der letzten trigonometrischen Cataster-
vermessung durch Hru. Norb. Bauer 12,008
„ dem aus deu vorigen gezogenen Mittel 12,044
Relative Höhe von Heiligenblut am Fuße des Berges 7,998
„ Kals..........7,839
Höhe der Adlersruhe . ..........10,932
Fuß des Pasterzeukeesbodeus........4,030
Hohenwartscharte.............10,056
Romariswand..............11,223
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghansen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Von Arga im Lande der Kalkas-Mongolen bis Katharinenburg im Ural.
Betrachtungen über Sibiriens Gegenwart und Zukunft. — Der Aufschwung und die Weltlage des Landes. — Die Kalkas-
Mongolen/—' Schilderung der Stadt Rrga. — Frömmigkeit. — Friedliches Leben der Nomaden. — Der Baikal-See und die
Dampfschiffahrt. — Jrkutsk. — Die Verbannten. — Das Reisen mit der Post. — Die Barabinzen-Steppe. — Nach Omsk
und Katharinenburg.
Sibirien wird zu den Kulturländern gehören, bevor ein
halbes Jahrhundert abgelaufen ist. In unseren Tagen
des beschleunigten Verkehrs drängt Alles darauf hin, solche
Regionen, wie die, welche sich vom Ural bis zu den Gestaden
des Großen Weltmeeres erstreckt, in die allgemeine Bewe-
gung hineinzureißen.
Die früheren Vorurtheile gegen jenes Land schwinden
immer mehr. Zwar werden noch immer „Unglückliche"
dorthin verbannt, und dieses Eril betrifft manche recht
schwer. Aber man schlitzt ihnen nicht mehr die Nasenflügel
lange einsperrt, ohne sie für das Allgemeine nutzbar zu
machen und ohne sie zu bessern, ganz entschieden vorzn-
ziehen. In Sibirien werden viele tausende von Verbre-
chern, die anderwärts in den Kerkern erst recht schlecht ge-
worden und elend verkümmert wären, in nützliche Menschen
umgewandelt, und ihre Kinder nehmen eine achtbare Stelle
in der Gesellschaft ein. Man hat, wie billig, Vorkehrungen
getroffen, um jene zu überwachen und sie von neuen Ver-
brechen abzuhalten; bei den meisten ist aber schon nach kur-
zem Aufenthalt in dem neuen Lande kein Anlaß zu strenger
Die Hochebene Boro-Burak in der Gobi.
auf, und zu den schwersten Arbeiten in den Bergwerken
werden nur die allergefährlichsteu Verbrecher verurtheilt,
zumeist solche, welche uach dem Gesetze die Todesstrafe ver-
dient hätten. Alle anderen erfreuen sich einer milden Be-
Handlung und sind, da sie sich zumeist selbstständig in freier
Luft bewegen können, in Sibirien ungleich besser daran,
als wenn sie im europäischen Rußland in Gefängnissen ein-
gesperrt gehalten würden.
Es hat immerhin etwas Anstößiges, wenn Leute poli-
tischer Vergehen oder Verbrechen wegen in die Verbannung
geschickt werden, gleichviel ob nach Cayenne, Lambessa,
Sibirien oder wohin sonst es sein möge. Sieht man aber
von dieser politischen Kategorie ab, so ist das russische
Deportationssystem uuserm ganz erbärmlichen deut-
scheu System, demgemäß man die Verbrecher so oder so
Globus IX. Nr. 9.
(Nach einer Zeichnung von Bourboulon.)
Ueberwachnng fernerhin gegeben. Die Leute können auf
ehrliche Weife guten Lohu für ihre Arbeit erwerben, und es
fällt bei einigem Fleiße nicht schwer, daß sie Grund - und
Hausbesitzer werden. Leibeigenschaft hat Sibirien nie
gekannt, und fein Bauernstand wird als sehr fleißig und
tüchtig gelobt. Ranm zur weitesten Ausdehnung ist in
Hülle und Fülle gegeben, und jede Anlage uud Begabung
der verschiedenen Individuen findet nützliche Verwendung.
Sibiriens Weltlage ist gegen früher eine andere,
weit günstigere geworden. Es wird mehr und mehr aus
seiner Vereinsamung, ans der abgelegenen Ferne heraus-
gerissen und ist schon jetzt ein Passageland geworden.
Das aber erscheint von einer Bedeutung, die man nicht
hoch genug anschlagen kann. Bald wird eine Eisenbahn
über das Uralgebirge bis ins westliche Sibirien hinein zu
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258
Von Urga im Lande der Kalkas- Mongolen bis Katharinenburg im Ural.
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den wichtigen Handelsemporien Tjumßn und Jrbit führen;
dasScheidegeoirge, welches zwei Erdtheile trennt, wird über-
brückt. Unsere Leser erinnern sich, daß wir diesen Gegen-
stand neulich im Globus (IX, S. 215) erörtert haben. Die
russische Regierung begreift, daß Alles darauf ankommt,
Verbindungswege zu schaffen, und hätte Kaiser Nikolaus
nur ein Viertel der Summen, welche er unnützerweise auf
seine Armee verwandte, für deu Wegbau augewiesen, —
wie ganz anders würde sich schon jetzt die innere Entwick-
lung Rußlands gestaltet haben!
Seit den Verträgen mit China ist der Zug durch die
Mongolei den Reisenden gestattet, und noch heute, da
wir diese Zeilen schreiben (19. Dezember), hat Adolf
Bastian uns eine lebhafte Schilderung seiner Wanderung
von Peking in China nach Jrkntsk gegeben. Das erste in
deutscher Sprache gedruckte Werk, welches ihn: dort in die
Hände siel, war ein Band des Globus; bald nachher
fand er ein zweites Exemplar in Katharinenburg an: Ural
und las in demselben Nachrichten über seine Reisen in
Siam und Kambodscha. Doch das nur beiläufig.
Adolf Bastian telegraphirte seine Ankunft in Jrkntsk
durch den Telegraphen nach Bremen, und die Meldung
gelangte von der Angara bis zur Weser, ehe 24 Stuudeu
verlaufen waren. Der Telegraph soll aber bekanntlich
weiter geführt werden, einerseits durch die Mongolei nach
Peking, und dann bis zu allen großen chinesischen Handels-
empörten an der Küste, und weiterhin nach Osten bis zum
Großcu Oeean. Von Nikolajeffsk gen Westen waren in
der Mitte des Jahres 1865 schon mehr als 100 deutsche
Meilen Drähte vollendet, und man war emsig mit dem
Weiterbau beschäftigt. Diese sibirischen Drähte werden
bekanntlich eine Abtheilung des europäisch-asiatisch-ame-
rikanischen Welttelegraphen bilden, und wir lasen vor eini-
gen Tagen in neuyorker Blättern vom 3. Dezember, daß
das Schiff mit den erforderlichen Materialien vor Einbruch
des Winters einen sichern Hafen in der Nähe der Beh-
ringsstraße erreicht habe. Auch während der kalten Mo-
mite wollte man arbeiten.
Zu allem dem kommt, daß die Handelsverbindungen
zwischen Sibirien und Jnnerafien von Jahr zu Jahr be-
deutender werden. Rußland kontrolirt den ganzen Kara-
wanenverkehr zwischen dem Südeu und Norden. Es
kann namentlich als ein großer Gewinn betrachtet werden,
daß es mit den Kalkas-Mongolen, seinen Nachbarn
südöstlich vom Baikalsee, aus dem besten Fuße steht. Die-
ses wichtigste unter den Mongolenvölkern zählt nahe an
4 Millionen Seelen; in seiner Hauptstadt Urga oder
Kuren wohnt ein fleischgewordener Buddha, der Gnisou
Tamba, welcher über die mongolischen Völker, die ihn
gleichsam als ihren specifischen Papst betrachten, weit
größern Einfluß übt, als selbst der Dalai-Lama, der seinen
Vatikan zu Lhassa in Tibet hat.
i Wir haben über die Kalkas-Mongolen und Urga schon
früher (Bd. VIII, S. 1 f. u. 33 f.) eiuige Mittheilungen
gebracht, wollen hier aber auf den Gegenstand zurück-
kommen.
Die lange Reise durch die Wüste ermüdet am Ende, so
sehr auch einzelne Gegenden uud Landschaften das Auge
des Beschauers fesseln. Bald ist die Hochebene einförmig,
bald liegen in ihr spiegelklare Seen, dann ist sie wieder,
wie auf dem Boro-Burak-Plateau, dessen wir in unserm
frühern Bericht erwähnten, in seltsamer Weise uneben uud
gleichsam gebrochen. Auf der ganzen weiten Strecke von
Kalgan unweit der chinesischen Mauer hat der Wanderer
nirgends eine Ortschaft gesehen, nur Zelte und immer nur
Zelte, und er sehnt sich endlich einmal Häuser, feste Wohn-
sitze, Dörfer oder Städte zu erblicken. Als der französische
Gesandte Bourboulon und dessen Begleiter in der Nähe
von Urga Kosacken sahen, welche der russische Consul
Schischmareff ihnen entgegen geschickt hatte, glaubten sie
sich schon „inmitten der Zivilisation" und es war ihnen,
als ob sie europäische Lüfte athmeteu. Und doch waren
sie noch hunderte von Meilen vom wirklichen Europa
entfernt.
Je näher man Urga kommt, um so hübscher wird die
Gegend, aber einen gebahnten Weg gibt es nicht durch
diese Wieseuflureu. Auf der einen Seite erheben sich
steile Berge, die mit Fichten bestanden sind, auf der andern
Seite rinnen Bäche, welche sich in die Tula oder Tolla
ergießen. Dann wird das Thal enger und man kommt
an die klare, raschfließende Tnla, an die Stelle, wo der
Engländer Alexander Michie eine so merkwürdige Ueber-
fahrt hatte (VIII, S. 34). Der Anblick von dem Punkte
aus, an welchem mau durch deu Fluß reitet, ist prächtig.
Die Tula bildet eine Menge kleiner Inseln, die mit Wei-
den, Eschen und Pappeln bestanden sind, und die Ufer
gewähren einen malerischen Anblick. Auf deu grünen
. Wiesen weideten Rindvieh, Schafe und Ziegen; halbwilde
Pferde sprangen lustig umher; weiße Bäks (taugutische
Grunzochsen) waren inMenge da, am Ufer spielten Kinder,
und Fischer gingen ihrem Gewerbe uach. Mau sieht
Urga und fragt sich, ob es eine Stadt oder ein großesLager
sei? Aber die Kuppeln und Thürme der Tempel und die
beiden Paläste des fleischgewordenen Gottes deuten auf
eiue Stadt. Der heilige Berg aber, zu dem für und für
so viele tausende gläubiger Buddhaverehrer pilgern, ist mit
dichtem Gehölz bestanden, aus desseu Grün die weißen,
mit heiligen Sprüchen bedeckten Felsensteine sich scharf
abheben.
Alles in und um Urga gemahnt daran, daß die Bewoh-
ner Nomaden sind und sich mit städtischem Wesen und
städtischem Lebeu nicht ordentlich vertragen können. Aber
diese Kalkas sind in ihrer Art wackere Leute; sie haben eine
würdige Haltung uud eine, man kann sagen milde Höflich-
feit. Die Wol/lhabenden sind auch recht hübsch gekleidet.
Sie tragen eine mit Marderfell verbrämte rothseidene
Mütze, die gewöhnlich mit einer Pfauenfeder geschmückt ist,
einen gelbseidenen Pelzmantel, hohe Sammetstieseln und
einen chinesischen Säbel.
Der alte Palast des Gnison Tamba ist gegenwärtig
unbewohnt. Rings um deu Hügel stehen Zelte reicher
Kalkas uud Lamas innerhalb von Pfahlnmzäuuungen,
die mit einer gewissen Regelmäßigkeit vertheilt sind, so daß
sie krumme Straßen und große Plätze bilden. Am Ab-
hange des Hügels steht eiu Handelsquartier, wo russische
und chinesische Kaufleute ihre Buden aufgeschlagen haben.
Auf der entgegengesetzten Seite, weiter vom Flusse entfernt,
erhebt sich der neue, erst vor wenigen Jahren erbauete
Palast des Gnisou Tamba. Die Chinesenstadt liegt von
lh'$a fast eine halbe Stunde weit entfernt; dort wohnen
ausschließlich „Himmlische". An einem andern Hügel liegt
das russische Quartier; es besteht aus Holzbaracken und
Waarenlagern.
In der chinesischen Stadt herrscht reges Leben; die
Gärtner benutzen die Bäche zur Bewässerung ihrer Gärten
und Aecker; sie ziehen Spargel, Kohl, Möhren, Rüben,
Gurken, Melonen, Salat, Zwiebeln, Knoblauch und Kar-
toffeln. Auch den Obstbau haben sie eingeführt; Birnen,
Aepfel, Pfirsiche und selbst Wem kommen trefflich fort, fo
nachtheilig auch manchmal die Frühlingsfröste sind. Aber
durch Fleiß richtet der Chinese viel aus. Dieser Theil der
Mongolei kann ohne große Mühe in ein Ackerbauland um-
Von UM im Lande der Kalkas-N
gewandelt werden. Zwar der Winter ist streng, aber der
Boden fruchtbar; die Sonnenhitze wird durch öftere Regen-
schauer gemäßigt. Auch deu Fischfang betreiben die Chi-
nesen in den Flüssen, Bächen und umliegenden Seen; sie
trocknen und räuchern dieWaare, welche sie bis nach China
versenden. Die Kalkas sind als Nomaden dem Fischfang
abhold. Auch auf der Jagd sind die Chinesen schlau und
tüchtig; sie verstehen sich vortrefflich darauf, iu Fallen den
igolen bis Katharinenburg in: Ural. 259
Tamba nähert, wirft sich allemal zur Erde und drückt das
Gesicht in den Staub. Um das Gebäude ziehen alabasterne
Ringmauern; dieselben sind mit Thiergestalten verziert und
mit vergoldeten Ziegeln überdeckt. Im Garten des Pa-
lastes stehen hundertjährige Bäume, plätschern Bäche und
Springbrunnen, sieht man viele Statuen, Treppen von
Marmor und tausende von Zellen, in welchen Lamas ein
Obdach finden, welche aus weiter Ferne kommen, um deu
Straße in Urga, der Hauptstadt der Kalkas-Ml
Fischotter, den blauen Fuchs, das Hermelin, den Marder
und Zobel zu sangen. Man sieht, wie verschieden die
Naturanlagen und Begabungen in einer und derselben
großen Stammgruppe sind; Mongolen und Chinesen gehören
beide zur mongolischen Rasse und doch wie grundverschieden
und wie entgegengesetzt sind von Haus aus ihre beider-
seitigeu Anlagen, Begabungen und Neigungen.
Ein Mongole, welcher sich dem Palaste des Guison
i. (Nach einer Zeichnung von Bourboulon.).,
lebendigen Buddha zu verehren. Der Palast bietet einen
großartigen Anblick dar; der Stein ist Alabaster; Dächer,
Kuppeln, Kioske und Glockentürme sind mit vergoldeten
Ziegeln gedeckt. Ringsum liegt ein Gewirr enger Gassen,
die, wie unser Bild zeigt, ans Zelten bestehen, deren jedes
mit Tannenpfählen umzäunt ist. Uebrigens haben doch
schon einige Kalkas sich der Art der Russen anbequemt und
feste Holzhäuser oder eigentlich Buden aufgeführt. Neben
33*
260
Von Urga im Lande der Kalkas-Mongolen bis Katharinenburg im Ural.
den meisten Zelten stehen Bäume, so daß diese Mongolen-
stadt äußerlich ,ganz hübsch sich ausnimmt. Aber diese
Gassen sind unbeschreiblich unsauber!
Die Kalkas können nöthigensalls 40 bis 50,000 Reiter
ins Feld stellen, die aber für europäische Truppen nicht im
mindesten furchtbar wären. Denn diese Mongolen sind
schlecht bewaffnet mit allerlei unzweckmäßigen Säbeln,
kurzen Piken, Bogen und Pfeil und Luntenflinten; dazu
tragen sie Schilde, die mit Kupferblech beschlagen sind, und
Kettenpanzer. Jede Familie bereitet sich ihren Bedarf an
Pulver selbst, und man begreift, was für ein Korn dabei
reitet hinaus, um zu sehen, ob bei seinen Heerden Alles in
Ordnung ist, setzt einem oder dem andern Thiere nach, das
sich etwa während der Nacht allzuweit verlaufen hat, und
treibt dasselbe wieder zur Heerde. Während er über Wiese
oder Steppe sprengt, spähet sein Blick am Horizont umher,
ob nicht irgendwo Rauch aus einem Zelt emporsteigt oder
der Umriß eines Reiters sich sehen läßt, mit dem er eine
Unterhaltung anspinnen könnte. Nachdem er heimgekommen
ist, streckt er sich im Zelt aus, schläft, trinkt Thee mit
Butter und raucht eine Pfeife Taback. Seine Frauen
kochen, tragen Wasser herbei, melken die Kühe, suchen
Mongolen verrichten ihre Andacht an einem Obon. (Nach einer Zeichnung von Bourboulon.)
herauskommt. Auch ist die ganze militärische Einrichtung
sehr unzweckmäßig; während der Priesterherrschaft und des
langen, ungestörten Friedens kam auch der frühere kriege-
rifche Geist in Abgang. In der Mongolei herrscht so
große persönliche Sicherheit, daß kein Reisender Massen
trägt. Ueberfülle kommen nur an der westlichen Grenze
von Seiten räuberischer Kirgisen und Turkomauen vor.
Ueberhaupt verläuft das Lebeu eines Kalkasinongolen
in großer Ruhe. Morgens steht er vom Lager auf, trinkt
Thee, nimmt die Peitsche vom Haken an der Thür und
besteigt ein Pferd, das Tag und Nacht gesattelt steht. Er
Argols (trockenen Dünger, der als Brennstoff dient), berei-
ten Käse und verfertigen Kleider und Schuhwerk.
Diese Kalkas sind gastfreie und mäßige Leute; sie be-
sitzen noch alle guten Eigenschaften des gelben Menschenschla-
ges und haben noch keine Laster der (Zivilisation angenommen.
Aber sie stagnireu; es ist kein Trieb und Aufschwung in
ihnen; sie haben weder Kunstfleiß noch Handel, und Alles,
was sie bereiten, besteht in schlechtgegerbten Häuten, Leder
und einigen Stickereien. _ Was der Mongole an Rohstoffen
erzeugt, gibt er an russische und chinesische Kansleute, die
ihn entsetzlich betrügen. Als Münze und Werthmesser
Von Nrga im Lande der Kalkas-M
dient der bekannte Ziegelthee, der mit einem Zusatz von
Butter, oder auch mit Milch und Gerstenmehl genossen wird
und dann den sehr nahrhaften P an tan bildet. Auch in
Sibirien wird dieser wohlfeile Ziegelthee in Menge der-
braucht.
Das einförmige und ruhige Nomadenleben erfährt nur
selten eine Unterbrechung. Der Mann unternimmt viel-
leicht eine Wallfahrt zu einem Kloster, das im Rufe großer
Heiligkeit steht; oder ein reisender Lama spricht im Zelte
vor und wird, wie sich von selbst versteht, gastfreundlich
bewirthet; oder ein Barde, einer der umherziehenden Tol-
holos kommt und verherrlicht mit Saitenspiel und Gesang
die Großthaten der alten mongolischen Helden. Dazu
kommt dann und wann eine Hochzeits - oder eine Leichen-
golen bis Katharinenburg im Ural. 261
sieht dann schon Manches mehr oder Weniger abendländisch
aus, und neben dem Kittel des russischen Bauern oder
Kaufmanns kann man dann und wann auch Frack und
Cylinderhnt sehen, zwei Geschmacklosigkeiten, die über
das Herkommen derer, welche sie tragen, keinen Zweifel
mehr aufkommen lassen. Dann aber hat man immerhin
noch eine beträchtliche Strecke bis Jrkutsk, und von dort
nach Westen hin auch noch einen Raum von etwa 49 Längen-
graden zu durchmessen, ehe man an den Stein gelangt,
welcher im Uralgebirge aus seiner östlichen Seite den
Namen Asien trägt; auf der westlichen steht das Wort:
Europa. —
Zwischen Kiachta und Jrkutsk liegt der Baikal-See,
das heilige Meer der Mongolen, der in einer Höhe von
Am Baikal-See in Sibirien. (N
feier, und so verstießt das Leben des Mongolen. Er ist
schlicht und fromm, und versäumt niemals vor einem
Obon seine Andacht zu verrichten. Wir haben schon
früher erzählt, welche Bewandtniß es mit diesen Stein-
Haufen hat. Sie bilden eine Art von Altären und werden
vom Volke mit großer Ehrfurcht betrachtet. Ost liegen sie
an schwierigen oder gefährlichen Stellen des Weges, und
dort ruft man den guten Geist an.
Also schon in Urga, noch in der Mongolei, „wittert
man Europa", — weil man Kosacken und weiße Tisch-
tücher sieht! Wie bescheiden der Mensch der (Zivilisation
unter Umständen werden kann! Weiter hin, in Kiachta,
einer Zeichnung von Bourbonlon.)
mehr als 1300 Fuß über dem Meer einen tiefen Spalt
von reichlich 80 deutschen Meilen Länge und^ 2 bis reich-
lich 10 Meilen Breite ausfüllt. Er bedeckt einen Flächen-
räum von 582 Geviertmeilen, und wer, wie unser Lands-
mann Gustav Nadde gethau, ihn umwandert, hat nicht
weniger als 266 Meilen zu machen.
Wer aus der Mongolei nach Jrkutsk reiset, muß über
den See fahren, oder die Straße einschlagen, welche jetzt
von der russischen Regierung der südwestlichen Ecke des
Sees entlang gebaut wird. Die Schifffahrt auf dem See
ist im Sommer und Winter ohne alle Gefahren und durch-
aus regelmäßig, hat aber im Frühjahr und Herbst ihre
großen Schwierigkeiten. Wenn das Eis sich bildet, liegen
Dampfer und Segelschiffe in den Hafen; wenn dasselbe
262 Von Urga im Lande derKalkas-M
aufgeht, ist der Verkehr abermals unterbrochen. Während
der Wintermonate befinden sich förmliche Poststationen auf
dem Eise; es ist aber fchou vorgekommen, daß ein plötzlich
eintretender Eisgang diese Stationen mit Buden, Menschen,
Rossen und Schlitten im Nu verschlang. Daß unter solchen
Umständen die Beförderung von Menschen und Waaren
unsicher erscheint, leuchtet ein; und gerade um dieselben zu
beseitigen, hat man den Straßenbau iu Angriff genommen.
Das Unternehmen bietet jedoch große Schwierigkeiten und
Hindernisse dar. Bisher konnte auf der ganzen Strecke
von Wagentransporten gar keine Rede sein; schon Fuß-
gänger und Pferde hatten alle mögliche Mühe, hindurch
zu kommen, und im Winter ist die Passage, des hohen
Schnees wegen, nicht selten gesperrt. Nun muß die Straße
aus den Bergen und Felsen förmlich herausgesprengt
werden, und die nöthigen Arbeiter sind nur im Winter vor-
Händen, weil dann die Bauern nicht in den Bergwerken
beschäftigt werden. Bei einer Kälte von mehr als 30° R.
werfen sie ungeheuere Massen von Fichtenstämmen auf das
Gestein, welches in Folge der gewaltigen Hitze große Nisse
bekommt, und diese werden zum Absprengen benutzt. Dieser
Straßenbau geht natürlich sehr langsam von statten, und
es kann noch manches Jahr vergehen, bevor der Weg voll-
endet ist. Er wird aber die Entfernung zwischen Kiachta
und Jrkutsk bedeutend abkürzen.
Jetzt führt die Straße nach dem See über Tro'itzko-
savsk, Selenginsk und Werchne Udinsk; hier schlägt sie
dann die Richtung gerade nach Westen hin ein bis an den
See. Alexander Michie, den unsere Leser kennen, war
dort am 9. Oktober 1863 unterwegs, und schon hatte sich
bittere Kälte eingestellt. Auf der Poststation Polovine
traf er eine beträchtliche Anzahl von Reisenden, die sich
alle sehr ruhig benahmen, bis auf zwei Polen, die aus
Jrkutsk waren, auf Alles schimpften, namentlich auch auf
die russische Regierung, die Posteinrichtungen, auf Alles
und Jedes. Am Ende drohten sie, in Sibirien eine Repu-
blik zn gründen!
Michie erreichte den See bei Pasoilske, welches den
Endpunkt der transba'ikalischen Poststraße bildet. An
Betten und überhaupt an Bequemlichkeiten darf man in
einem sibirischen oder überhaupt russischen Posthause noch
gar nicht denken, und der europäische Reisende zieht es alle-
mal vor, sich dicht in seine Pelze zu hüllen und in seinem
Reisewagen, der Tarantasse, zu schlafen.
In den Baikal-See fällt die Seleuga, nachdem sie
früher den Orchon aufgenommen hat; sie bildet mehre
Mündungen und ist aufwärts eine Strecke weit schiffbar.
Die Anlände für die Schiffe liegt etwa zwei Wegstunden
von Pasoilske entfernt, und dorthin mußte Michie seinen
Wagen bringen. Die russischen Segelschiffe, welche dort
vor Anker^lagen, waren wie japanische Dschonken betakelt,
hatten nur einen, aber mächtig großen Mast und mochten
etwa 150 Tonnen Trächtigkeit haben; sie sind ganz roh
und plump, sehr breit, zumeist von Bnriäten bemannt, und
es ist sehr begreiflich, daß so unbeholfene Fahrzeuge bei deu
oft sehr plötzlich und mit großer Heftigkeit hereinbrechenden
Stürmen in große Gefahr gerathen. Vor Juni beginnt
die Schifffahrt nicht und zu Anfang Novembers ist sie
gewöhnlich geschlossen.
Michie fand am Strand eine Menge von Waarenballen
und Fässern aufgehäuft. Die Güter waren theils von
Westen her gekommen und warteten aus Weiterbeförderung
nach China oder in die Amurgegenden, theils kamen sie
aus China, um weiter verschifft zu werden. Der ganze
Verkehr mit dem Amur kreuzt hier den Baikal, eben so
jener mit den südöstlichen Provinzen Sibiriens , mit Aus-
golen bis Katharinenburg im Ural,
nähme der Güter, welche über Semipalatinsk gehen. Auf
der Poststraße sieht man ununterbrochen beladene Karren,
die von einem Ochsen gezogen werden.
Während die Reisenden ans den Dampfer warteten,
vernahmen sie eine Art von wildklingendem Chorgesang.
Gleich nachher kamen drei langhaarige, langbärtige Popen
in Sicht, traten in das Postgebände, verneigten sich vor
dem Heiligenbilde, besprengten das Zimmer mit Weih-
Wasser uitb entfernten sich wieder. Sie verrichteten diese
Ceremonie, weil Sonntag war.
Abends kam der Dampfer an, wollte aber liegen
bleiben, weil Sturm sei. Michie bemerkt, daß er kaum
eine leichte Brise verspürt habe. Die Fahrpreise betragen
8 Rubel für Kajüten- und 5 Rubel für Deckpassagiere;
Entfernung 70 englische Meilen. Speisen werden an
Bord nicht verabreicht. Auch der Dampfer ist zumeist mit
Bnriäten bemannt; er muß eine Viertelstunde vom Ufer
entfernt Anker werfen, denn am Gestade ist das Wasser
sehr seicht. Michie fand in dem „General Korsakoff" einen
so plumpen und armselig gearbeiteten Dampfer, daß der-
selbe anf einer Ausstellung als große Merkwürdigkeit
erschienen wäre. Nur die Maschinen, 50 Pferdekraft,
waren einigermaßen leidlich; ein Engländer in Westsibirien
hat dieselben verfertigt. „Es ist allerdings schon der Ehre
Werth, daß man überhaupt auf dem Baikal einen Dampfer
findet; aber die, welche ihn zurecht gezimmert, hätten doch
Wohl ein Ding herstellen können, das einem Schiff ähnlicher
sähe, als dieser General Korfakoff."
Die Fahrt ging ohne Unfall von statten. An der
Südostseite waren die Berge theilweise bis zum Wasser-
rande mit Schnee bedeckt, an der Südwestseite nicht. Den
Abzug des Sees bildet die Angara, welche sich späterhin
mit dem Jenisse'i vereinigt.
Der „General Korsakoff" hatte 18 Stunden nöthig,
um eine Strecke von 12 deutschen Meilen zurück zu legen!
Das Land im Westen des Baikal ist stark bewaldet,
aber viele Strecken sind gelichtet, und dort wohnt eine nicht
unbeträchtliche Anzahl russischer Bauern, die in Wohlstand
leben. Ueberhaupt macht die Gegend einen angenehmen
Eindruck; der Boden ist fruchtbar, die Bauernhäuser sehen
hübsch ans, und die Felder siud sorgfältig eingezäunt.
Allmälig verschwindet das Gebirge, und das Gelände wird
wellenförmig; Dörfer und Felder wechseln mit dem Wald
ab. Zwischen den Hügeln rauscht die spiegelklare Angara
hin, und die Straße ist in ganz vortrefflichem Stande. Vom
See bis Jrkutsk beträgt die Entfernung nicht ganz 10
deutsche Meilen.
Der Reisende athmet auf, fobald er Jrkutsk er-
reicht hat.
Nach dem vor mir liegenden, sehr reichhaltigen,
deutscheu Kalender von St. Petersburg für das Schaltjahr
1864 hatte die Gouvernementsstadt Jrkutsk 22,823 Be-
wohner im Jahr 1861; sie liegt 5779 Werst von
St. Petersburg und 5095 Werst von Moskau entfernt;
Breite 52° 17', Länge 121° 56' von Ferro.
Die Straßen der Stadt sind gerade, sehr breit und
nehmen sich deshalb etwas öde aus. Der Engländer klagt,
gewiß nicht mit Unrecht, über den Mangel an Sauberkeit
und Bequemlichkeit iu den Gasthöfen. Es geht in den-
selben vollkommen asiatisch zu. Zwar kann man Eotelettes
und „Bifstecks" haben; aber der Junge, welcher die-
selben aufträgt, bringt erst die Speise, hinterher Holter
Messer und Gabel, dann Brot, Alles ganz gemächlich, und
wenn man ansängt zu essen, ist das „Bissteck" eiskalt.
Von Nrga im Lande der Kalkas-M
Im ganzen Hause keine Klingel; „Alles schmutzig und
miserabel".
Immerhin kann aber Jrkutsk als eine hübsche Stadt
bezeichnet werden; die Häuser sind so hübsch, wie aus Holz
ausgeführte Gebäude nur sein können; die vielen Kirchen
mit ihren Kuppeln erhöhen den angenehmen Eindruck, und
in manchen Straßen findet man elegante Waarenläden, die
mit allen möglichen Luxuswaaren Europas augefüllt sind.
Im Kaufhofe, Gostino i dwor, sind Kaufmannsgüter in
Menge aufgestapelt, namentlich ist sibirisches Pelzwerk
aller Art vorhanden. Guter Congonthee ist für IV? Rubel
zu haben; das Brot sehr gut, denn die meisten Bäcker
sind Deutsche; die irkutsker Papiercigarren haben wenig-
Idolen bis Katharinenburg im Ural. 263
gesammelt haben, bis aus den letzten Rubel. Abgesehen
von diesen Leuten, ist der Ton in der Gesellschaft ganz
jener, wie im gesitteten Europa, und unter den vielen hohen
Beamten findet man sehr gebildete, unterrichtete Leute.
Der Generalstatthalter von Ostsibirien wohnt hier, und
sein Amt ist wahrhaftig keine Sineenre. Seine Regierung
erstreckt sich über einen weiten Raum und eine Anzahl sehr
verschiedener Völkerschaften. Es liegt in den Verhältnissen
selbst, daß in einem solchen Land und unter solchen gesell-
schaftlichen Verhältnissen die Initiative zu Fortschritt und
Aufklärung in die Hand der Regierung gelegt ist. Aus
dem Lande selbst kann ungemein viel werden. Es ist
unendlich reich an edlen Metallen, hat viele sehr fruchtbare
Eine Poststation in Sibirien. (9li
stens in Sibirien großen Ruf, doch ziehen Kenner jene aus
Moskau vor.
Mau treibt viel Luxus in der Hauptstadt Sibiriens;
wer irgend vermag, hält Wagen und Pferde; auch die
Miethdroschkeu siud gut. Au Buchhandlungen und wissen-
schaftlichen Vereinen ist kein Mangel; man hat ein Theater,
eine Zeitung und dergleichen mehr. _ Michie sagt, daß in
Jrkutsk alle Vornrtheile gegen Sibirien geschwunden seien;
„ich fand sehr geordnete Verhältnisse, alle Annehmlich-
keiten des eivilisirten Lebens und mehr Lurus, als vielleicht
wünschenswerth ist."
Im Winter, wenn kein Gold gewaschen werden kann,
erhält die Bevölkerung einen Zuwachs von etwa 4000
Köpfen. Diese Goldgräber vergeuden dann Alles, was
sie mit so saurer Mühe und so vielen Anstrengungen
einer Zeichnung iioit Bonrboulon.)
Gegenden und vortreffliche Wasserverbindungen. Manche
vielversprechende Anfänge zur Entwicklung sind schon
gemacht worden, es sind aber bis jetzt nur Anfänge. Jedoch
läßt sich ein Fortschreiten zu höherer Entwicklung nicht
verkennen.
Auch der Handel macht seinen belebenden Einfluß
geltend. Jrkutsk ist Mittelpunkt des Verkehrs für Ost-
sibirien, ein Stapelplatz zwischen Rußland und Westsibirien
einerseits, China und den Amurgegenden andererseits. Es
gibt in der Stadt sehr reiche Leute. An Handwerkern
aller Art ist kein Mangel, aber Fabriken sind, außer in
Leder und Seife, nicht vorhanden. Daß alle europäischen
Waaren schon des weiten und beschwerlichen Transports
wegen sehr hoch im.Preise stehen, ist leicht begreiflich.
Es verdient rühmlich hervorgehoben zu werden, daß
264 Von Urga im Lande derKalkas-M
alle reichen und wohlhabenden Leute sehr viel thun, um ihren
Kindern eine gute europäische Bildung zu geben; man
legt gerade darauf großen Werth. Manche Leute aus den
höheren Ständen kommen nach Sibirien, weil dort schneller
Carriere zu machen ist und das ganze Leben eine freiere
Beweglichkeit gestattet, als in den großen russischen Haupt-
städten. Unter den Besitzern der Goldgruben gehören
manche der hohen russischen Aristokratie an; die meisten
Beamten bringen ihre Familien mit nach Sibirien. Einen
nicht geringen und sehr wohlthätigen Einfluß haben bie
politischen Verbannten geübt, welche in Folge der Ver-
schwörung vom Dezember 1825 nach Sibirien geschickt
wurden. Czar Nikolaus ist sehr hart gegen diese Männer
verfahren; er entzog ihnen Rang, Titel und selbst den
Namen; die Kiuder durften jenen ihrer Eltern nicht führen,
Alle galten für politisch todt. Aber trotz alledem nahmen
diese Verbannten in der Gesellschaft einen hohen Rang ein
und übten Einstuß. Kaiser Alexander begnadigte Alle und
setzte sie in Rang und Namen wieder ein.
lgolen bis Katharinenburq im Ural.
torowsk nach Tjumon; Jekaterinbnrg nach Perm. Hier
war er dann wirklich in Europa.
Schnell genug ist die Beförderung. Binnen drei Tagen
und drei Nächten wurden von Irkntsk aus 638 Werst
(7 gleich 1 deutschen Meile) zurückgelegt. Auf der ganzen
Strecke lag nur eine einzige Stadt, Nischne Udinsk; die
Straße war an sehr vielen Stellen gut macadamisirt. Bei
Basailsk kam Michie au den Jemssei, der an sich ein präch-
tiger Strom ist, aber in dieser Gegend durchaus kahle Ufer
hat. Trotz eines heftigen Windes wurde derselbe in einem
Fährboot überschritten, aber am andern Ufer wurde eine
halbe Stunde Weges unterhalb der Stelle gelandet, von
welcher das Fahrzeug abgegangen war. In der Gegend
von Krasnojarsk schneite es die ganze Nacht hindurch, und
überall hatte man die Schlitten hervorgeholt. Der Wind
ließ nach, aber die Kälte fing an, etwas sibirisch zu werden.
Atschinsk steht auf der Grenze zwischen dem westlichen
und östlichen Sibirien. Die Gegend wird bewaldet und
man kommt nun in das Gouvernement Tomsk, wo die
In der Barabinzen-Steppe in West-Sid»
Also Jrkutsk ist ein Stück von Europa, aber man hat
noch hunderte von Meilen zurückzulegen, bevor man unsern
Erdtheil erreicht. Und beschwerlich genug ist das Reisen.
Man hüllt sich über und über in Pelze und sitzt ganz behag-
lich in der Tarantasse. Aber man muß au jeder Station
das Postgeld bezahlen, wird in jeder Nacht zwei oder drei-
mal nicht nur aus dein Schlafe geweckt, sondern auch aus
dem warmen Neste gerissen und hat mit Postmeistern und
Jämtschicks, Postillionen, zu thun. Die Taxe ist festge-
stellt; in dieser Beziehung ist keine Uebervortheilnng mög-
lich; aber das Trinkgeld darf man nicht zu gering bemessen,
wenn man gut fahren will, und mit kleiner Münze muß
man sich auch versorgen, weil man sonst beim Wechseln Um-
stände und Schaden hat.
Am 19. Oktober 1863 neuen Styls siel in Jrkutsk
Schnee, nachdem vorher fchon Frost eingetreten war. Michie
fuhr dann fast ohne Unterbrechung über Nischne Udinsk,
Krasnojarsk und Atschinsk nach Tomsk; von dort über
Kolywan und Kainsk nach Omsk; über Jschim und Balu-
; (Nach einer Zeichnung von Bonrboulon.)
Wege sehr schlecht gehalten werden und zu jenen im Gon-
vernement Jenifseisk einen sehr unvorteilhaften Gegensatz
bilden.
Am 28. Oktober wurde Mariiusk erreicht; die Kälte
war nun schon grimmig, aber die windstillen sibirischen
Nächte sind wunderschön; die Sterne leuchten im herrlich-
sten Glänze.
Von Tomsk aus durchzieht man nach Westen die berüch-
tigte Baraba-Steppe, die Steppe der Barabinzen.
Sie dehnt sich hin zwischen dem obern Ob und dem obern
Jrtysch. Der Theil zwischen Jrtysch und Om, Ob und
Alej, im Nordwesten des Altaigebirges, ist 100 Meilen
lang und eben so breit und schließt zahlreiche Sümpfe, Seen
und Bäche ein. Bei Hochwasser wird die Ebene weit und
breit überschwemmt und versumpft; manche Seen haben
salzhaltiges Wasser; im westlichen Theile liegen manche
fruchtbare, aber feuchte Landstrecken; auf höher gelegenen
Stellen wachsen Birken und Espen, der größte Theil der
Steppe aber ist mit Gras und Rohr bewachsen. Der
Oswald Heer über die
Winter setzt vor dem Dezember nicht streng ein; im Früh-
jähr werden die Insekten lästig. Seit etwa 130 Jahren sind
Theile dieser Baraba-Steppe nach und nach kolouisirt
worden.
Michie, der dieselbe im Anfange des Novembers auf
der großen Landstraße durchzog, schildert sie als eine wilde
Prairie. Das Gras, sagt er, ist lang und grob, und der
Erdboden ist so wasserreich, daß er wenigstens in den
Niederungen ein gutes Viehfutter uicht hergeben kann.
Nur dann und wann sahen wir verkrüppelte Birken; aber
es sind auch höher gelegene Oasen in dieser Graswüste, und
dort gedeihen die Bäume recht gut. Die Dörfer liegen
spärlich zerstreut, und die Bauern scheinen nicht den Wohl-
stand und die Behäbigkeit der übrigen Sibiriaken zu be-
sitzen; Alles hat einen ziemlich armseligen Anstrich.
Rindvieh - und Pferdezucht sind die Hauptbeschäftigungen.
In der Barabiuzeusteppe findet man den Posthalter
gewöhnlich nicht zu Hause; die Geschäfte werden von seiner
Frau und einem Oberknechte besorgt. Die Frauen in der
Steppe sind zumeist Kirgisinnen, werden aber von deu
Russen als Tatarinnen bezeichnet; sie sind insgemein
hübscher, als die russischen Weiber, reinlicher, und kleiden
sich besser. Mauche haben blaue Augen und sehr helle
Hautfarbe und bilden gegen die Frauen der Kalmücken und
Mongolen einen scharfen Gegensatz. Federwild ist in der
Steppe sehr häufig.
Charakteristisch sind die Windmühlen, deren man
einige bei jedem Dorfe findet. Sie können als die einzigen
Zeitdauer der Weltalter. 265
Landmarken angesehen werden, und an ihnen kann man schon
aus weiter Ferne abnehmen, wo ein Wohnort sich befinde.
Die Landstraße sieht aus wie ein Weg, den man durch eine
Wüstenei gepflügt hat. Sie war durch den Frost so uneben
geworden, daß aller Verkehr hätte ins Stocken gerathen
müssen, wenn derselbe auf sie allem sich angewiesen gesehen
hätte. Michie's Postillione ließen die sogenannte Straße
links liegen und fuhren ins Blaue hinein. Der gefrorene
Sumpf bildete einen bessern Weg; das aus dem Eis her-
vorragende Gras erlaubte den Pferden sichern Allstritt und
so giug es fort iu saufendem Galopp.
Uebrigens war das Wetter in der Steppe mild; Mit-
tags hatte die Sonne Kraft genug, um die dünne Schnee-
decke aufzuthaueu; auch die Nächte waren nicht allzukalt.
Am 11. November war Omsk erreicht. Diese Stadt
zählt 17,490 Einwohner und ist nur 3337 Werst von
St. Petersburg entfernt. Sie liegt am Om, der in den
Jrtysch mündet. Bald nachher war Michie in Katharinen-
bürg, das 21,400 Einwohner zählt, und von wo man nur
noch 2399 Werst bis zur russischen Hauptstadt zurückzulegen
hat. Bis zu dem Grenzobelisken, welcher auf der Scheide
zwischen Asien und Europa errichtet worden ist, hat man
nur 7 deutsche Meilen zurückzulegen. Die Stadt macht
den Eindruck des Modernen, des Saubern, des Wohl-
standes; sie liegt au dem zu einem See aufgestauten Flusse
Jssst, der in den Tobol mündet. Hier verlassen wir den
Reisenden.
Dswald Heer über die
In dem meisterhaften Werke: „Die Urwelt der
Schweiz" (Zürich, Schnltheß, 1865), stellt der ausge-
zeichnete Naturforscher folgende Betrachtungen an:
Der Schichtenbau unserer Alpen zeigt uns, daß in
ihrer Entwicklungsgeschichte Zeiten großer Ruhe mit solchen
großer Umwandlungen gewechselt haben.
Man wird aber vielleicht fragen: In welchem Verhält-
nifse stehen diese geologischen Zeiten zn denen der
menschlichen Geschichte? Läßt sich nicht die Zeitdauer
der verschiedenen Erdperioden und ihr Abstand von der
gegenwärtigen Welt in bestimmten Zahlen ausdrücken? —
Aber der Mensch geht von dem Zeitmaß aus, das ihm
augeboren und durch seine Lebensdaner bestimmt ist. Das
aber übt, wie K. F. von Baer nachgewiesen hat, Einfluß
auf die gesammte Auffassung der Natur. — Ein vernünf-
tiges Wesen, deffeu Leben nur einen Zeitraum von einem
einzigen Tag umfassen würde, bekäme eine ganz andere
Vorstellung von der Welt als ein solches, das 100 oder
gar 1000 Jahre leben könnte, und damit müßte anch der
Maßstab, welchen es dem Weltall gegenüber anlegen
würde, ein anderer werden.
Nun ist aber dieses angeborne menschliche Zeit-
maß, auf das Weltall angewendet, ein winzig kleines.
Wir werden dessen sogleich gewahr, wenn wir die zeit-
lichen mit den verwandten räumlichen Verhältnissen ver-
gleichen, und die Mittel, welche der Mensch hier anwendet,
um eine Vorstellung oder doch Vorahnung von der über-
wältigenden Großartigkeit derselben zu erhalten. Wir
Globus IX. Nr. 9.
Mlimucr der Wcllalltr.
haben uns zu erinnern, daß die Erde, mit uusermKörper
verglichen und gemessen, zwar sehr groß ist, aber unend-
lich klein im Verhältniß zum Weltall.
Die Entfernung bis nach Ehina scheint uns sehr groß
zu sein, allein was sind diese paar tausend Meilen gegen
die 20V- Millionen Meilen, welche die Erde von der
Sonne, oder gar gegen die 472 Billionen, welche sie vom
ersten Fixsterne trennen? Nun kennt man die Sterne,
welche durch drei bis sechs Sternweiten von uns getrennt
sind, und unzählige, welche der Meßarm des Astronomen
nicht zu erreichen vermag und von denen einzelne Distanzen
von 10,000 Sternweiten vermuthen lassen. (Von der
Ziffer, welche eine Sternweite ausdrückt, erhalten wir
eine Vorstellung, wenn wir bedenken, daß ein Mann
130,000 Jahre leben müßte, um ^/--Billionen Pulsschläge
zu machen.)
Ein Blick an den gestirnten Himmel zeigt uns daher
Sterne hinter Sternen, bis in unendliche, unfaßbare Fernen
hinaus. Und einer dieser Sterne ist der Planet, welcher
uns zur Wohnstätte angewiesen ist. Seine Entwick-
lungszeiten müssen mit einem ähnlichen Maß-
stabe gemessen werden, wie die räumlichen
Verhältnisse desWeltalls. Während aber die mache-
matische Astronomie die Mittel gefnnden hat, um wenig-
stens für die der Erde näheren Sterne dieselben durch
Zahlen auszudrücken, fehlen diese Mittel noch der Geologie.
Und so leicht es gegenwärtig ist, die Reihenfolge der Ge-
birgsformationen zu bestimmen und zu sagen, was jünger
34
266 Fr. Ewald: Aus demt
oder älter ist, so schwer oder vielmehr so unmöglich ist es,
die Zeitmaße auch nur annähernd in absoluten Zahlen
auszudrücken. Alle Versuche, die man bis jetzt gemacht
hat, um aus den Ablagerungen uud Abwaschungen der
Gewässer, aus der Bildung der Korallenriffe uud aus den
Schwankungen des Bodens absolute Zahleu zu gewinnen,
haben zu keinem befriedigenden Resultate geführt, weil in
früheren Zeiten die Verhältnisse anders gewesen sein können
als jetzt, und so der Maßstab, welchen wir mitbringen,
vielleicht eiu falscher ist.
Immerhin kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es
sich hier um sehr große Zahlen handelt. Mag auch die
Annahme von Morlot, daß seit der Ablagerung der aus
der Diluvialzeit stammenden Schuttkegel am Genfer See
wenigstens 190,000 Jahre verflossen seien, auf zu uu-
sicheren Grundlagen benchen, so weisen doch zahlreiche Er-
scheinungen auf viele, viele Jahrtausende hin. Auch die
diluviale Zeit muß ungemein lange gedauert Haben. Dies
geht hervor aus dem Wachsen und Zurückweichen der
Gletscher, aus der Ausbreitung der Findlinge über das
Tiesland, aus der Bildung der Flußbetten und aus der
Verbreitung der Pflanzen und Thiere.
Diese so äußerst mannigfaltigen uud merkwürdigen
Erscheinungen erfordern durchaus einen weiten Spielraum.
Damit siud wir aber erst bei der tertiären Zeit angelangt.
Durch die sturmvolle Epoche, welche unseren Alpen ihr
jetziges Relief gegeben, gelangen wir zur miocenen Periode.
Bedenken wir, was Alles während dieser, von der marinen
Molasse Basels bis zur Oeninger Bildung vor sich gegan-
gen, welche Schwankungen in den Niveauverhältnissen des
Bodens und welche Umbildungen in der ganzen Natur des
^»westdeutschen Flachlande.
Landes, — so werden wir zugeben müssen, daß solche Um-
gestaltungen sich nur im Laufe vieler Jahrtausende voll-
ziehen konnten.
Uud doch befinden wir uns hier noch auf einem Boden,
wo die Naturwelt im großen Ganzen einen ähnlichen Cha-
rakter wie jetzt gehabt hat. Blicken wir aber tiefer zurück
auf die Flysch- uud Nummulitenbildnugeu, auf die Kreide-
zeit uud das Jurameer, auf die Trias - uud Steinkohlen-
ablagerungen, auf das Uebergaugsgebirge und die urau-
fänglicheu Zeiten, wo die Erde noch wüst und leer war, —
dann schwebt ein fremdartiges Bild um das andere au
unferm geistigen Auge vorüber, etwa wie am Himmel in
unermeßlichen Fernen Sterne hinter Sternen hervortauchen,
und es entsinkt uns der Muth, nach den Jahr-
zahlen zu fragen, welche diese Zeitabstände ans-
drücken sollen.
Wenn man aber auch Zeit und Raum einem uferlosen
Meere vergleichen muß, das in unendliche, unserm Geist
unfaßbare Fernen sich verliert, so sind doch die Welt-
körper, welche in diesem Meere sich bewegen, endliche
Größen. Und wie die Entfernungen, wenigstens der
näheren, gemessen werden können, so wird auch der mensch-
liche Geist vielleicht einmal die Mittel entdecken, um die
Zeitentfernungen zu bestimmen, welche die Eutwicklungs-
stufen unseres Planeten von einander trennen. Jetzt aber
sind diese uns unbekannt; uud wenn man von tauseuden
und zehntansenden von Jahr-Millionen spricht, welche
einzelne Naturprozesse erfordert haben sollen, so bedenkt
man nicht, daß die Zahlen, in so maßloser Form äuge-
wandt, uns eben so unfaßbar sind, wie die Natnrerschei-
nungen, welche sie uns erklären sollen.
Aus dem nordwestdeutschen Flachlande.
Ethnographische Skizze von Friedrich Ewald.
I.
— „Wo der Backsteinbau ausschließlich vorherrscht,
werden Land und Leute fast immer nur nach breiten Massen
individualisirt sein. Der Backsteinbau und die ebenmäßigen
breiten Massen bedingen einander, und der Mensch ist
inniger mit seinem Haus verwachsen, als man denkt." —
Diese Worte des geistvollen Ethnographen uud Kultur-
Historikers Riehl werfen ein besonders Helles Schlaglicht
auf den Charakter jener großen nordwestdeutschen Niede-
rungen, welche von den letzten Ausläufern der Wesergebirge
uud des Harzes abwärts sich dem Meere zusenken. Es ist
in der That die Jndividualisirung nach breiten
Massen, welche hier nicht nur die Bodenverhältnisse,
sondern auch die Menschen kennzeichnet, ja, welche bis auf
die Flora uud Fauna herab sich erstreckt. Von der Mannig-
faltigkeit, wie sie das Gebirgsland nach allen diesen Nich-
tungen darbietet, von jenen oft so schroffen Gegensätzen,
wie Berg uud Thal sie bedingen, findet sich hier keine Spur.
Durch nichts gehindert schaut das Auge von jenen vorge-
schobenen Gebirgsposten aus über eine unabsehbar weite
Fläche, aus der oft in stundenweiter Entfernung keine irgend
nennenswerthe Erhebung des Bodens die Einförmigkeit
unterbricht — ein Anblick, der trotz seiner „Ungeheuern
Weite" dem in das Flachland hinabsteigenden Gebirgs-
bewohner ein Gefühl von Enge und Beklemmung zu ver-
Ursachen selten verfehlt.
Daß diesen Verhältnissen analog der Charakter des
Volkes, das diesen Boden bewohnt, sich entwickeln mußte
— wer wollte es leugnen? Sind wir auch weit entfernt,
mit dem Engländer Thomas Buckle das gesammte Geistes-
leben auf physische Prozesse und Bedingungen znrückzu-
führen, dergestalt, daß z. B. die Weltgeschichte nichts An-
deres wäre als ein Zweig, gewissermaßen eine Unterord-
nung der Naturgeschichte, so würde es andererseits sicherlich
eben so verkehrt sein, wollte man diesen physischen Potenzen
Sitz und Stimme vorenthalten, wo es sich um die Feststel-
lung der typischen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten
eines bestimmten Volksstammes handelt. Das Jndivi-
duum, der einzelne Mensch kann bis zu einem gewissen
Grade — und der Gebildete soll dies sogar thun — von
den Einflüssen, welche Gewöhnung, Erziehung und Lebens-
weise ans uns ausüben, sich emancipiren — das Volk im
Großen und Ganzen niemals. Und fügen wir hinzu: das
Fr. Ewald: Aus dem n
Volk soll dies auch nicht! Das Volk ist eben nicht gebildet
und kann es nicht sein. Aber in dem Festhalten an
Sprache und Sitte, an seinen nationalen Eigenthümlich-
leiten, wie sie ans dem heimatlichen Boden und durch ihn
bedingt, erwuchsen, setzt es jener Alles uivellireudeu Hyper-
kultur der großen Städte einen Damm entgegen, eben so
wirksam und segensreich, eben so unentbehrlich und durch
uichts Anderes zu ersetzen, als jene Bollwerke, welche
Menschenfleiß deu Alles verschlingenden Wasserwegen an
den Gestaden des Meeres entgegen warf.
Wenn die Phantasie der Bergbewohner die Thäler und
Schluchten, die unzugänglichen Grate und Höhlen, die
stillen Gebirgsseen und rauschenden Waldbäche mit Geistern,
Zwergen, Kobolden, Niren uud Wasserfeen bevölkerte,
wenn dort der ergiebigste Boden sich ansthnt für alle Arten
von Sagen, Märchen, Wunder- und Geistergeschichten, so
zeigt sich auch hierin der Charakter der Tiefebene dem des
Gebirgslandes diametral entgegen gesetzt. Die Phantasie
hat in ihr keinen Zielpunkt, keinen Anhalt; das Schauer-
liche, Romantische und Geheimnißvolle findet hier keine
Stätte, auf der es haften könnte, es ist Alles plau und
mit Einem Blicke zu überschauen. Wen wird es daher
Wunder nehmen, wenn der Flachlandsbewohner durch alles
Andere eher, als durch eiue reiche und schöpferische Phau-
taste sich auszeichnet? Ein Heller, klarer, praktischer, ja
meist nüchterner Verstand, große Ruhe des Gemüthes, die
nicht selten in Phlegma, und Beharrlichkeit, die manchmal
in Eigensinn ausartet, der fast gänzliche Mangel an
schöpferischer, frei aus sich gestaltender Thätigkeit —
diese Eigenschaften sind es vor Allem, welche dem nord-
deutschen Bauern — und er darf ja füglich als Typus der
Flachlandsbewohner gelten — zum Erbtheil geworden sind.
Sein Blut fließt weniger rasch durch die Adern, als das
seinem süddeutscheu Landsleute, uud wenn auch einerseits
das Schriftwort: „seid langsam zum Zorne" eine gute
Stätte bei ihm findet, so räumt er andererseits weichen Ge-
fühlen nur höchst selten und ungern Gewalt über sich ein,
wie ihm denn Zärtlichkeitsbeweise jeder Art gewöhnlich im
höchsten Grade zuwider sind.*) Eben so schließt er mit
einem gewissen Mißtrauen, einer oft unliebenswürdigen
Störrigkeit sich gegen Fremde ab und weist gern die Zu-
muthuug zur Anknüpfung einer nähern Bekanntschaft von
sich. Wer an die leichte, lebhafte, gewandte Art, welche
durchgehende die Süddeutschen kennzeichnet und die oft —
wenigstens äußerlich! — von Zuvorkommenheit förmlich
überfließt — wer, sagen wir, an diese Art des Verkehrs
gewöhnt ist, der fühlt durch diese Trockenheit, Kürze und
Einsilbigkeit sich nichts weniger als angenehm berührt, ja
manchmal förmlich zurückgestoßen, zumal da in diesem
Lande nur an sehr wenig Wiegen die Grazien sich einge-
fuudeu haben, und der Menschenschlag, ohne daß er im
Geringsten häßlich genannt zu werden verdient, doch in
seinem ganzen Habitus etwas Schwerfälliges zur Schau
trägt, das bis zum Derben und Plumpen sich steigern kann.
Indessen, man gebe sich nur die Mühe, näher auf feine
Interessen und Ansichten, Sitten und Gewohnheiten einzu-
gehen und man wird finden, daß in der Regel die unfchein-
bare Hülle einen gnten und gediegenen Kern umschließt,
dem man anf die Dauer den Mangel einer glänzenden uud
*) Sffiie eigenthümlich lautet nicht b. die (buchstäblich
wahre) Geschichte von jenem Bauern, der gegen seinen Prediger
sich über das schamlose Benehmen seiner Fran beklagte und auf
die Frage, worin sich denn dasselbe äußere, zögernd zur Ant-
wort gab: „Ja, sehn Se neelich, as ick ruhig in de Kök (Küche)
seet, do geef se mi mit eenmal, mit Erlaubnis; to seggen, 'n
Kuß!" —
^westdeutschen Flachland?. 267
bestechenden Außenseite, das Fehlen jeder Art von Zuvor-
kommenheit gern nachsteht, und zwar vor Allem wegen
einer Eigenschaft, von der man wohl leider nicht mit Unrecht
behauptet, daß sie heutzutage immer seltener zn finden sei.
Wir meinen die nachhaltige Treue, welche der nord-
deutsche Bauer dem einmal für recht und echt Erkannten
bewahrt, die tiefe Anhänglichkeit, welche ihn an diejenigen
bindet, denen er — sei es oft auch erst nach langem Zögern
uud Besiunen — sein Vertrauen und seine Zuneigung
geschenkt hat.
In dieser Art der Zusammensetzung iutellectueller nnd
gemüthlicher Eigenschaften wird es ohne Zweifel auch
begründet sein, daß Norddeutschland zwar eine namhafte
Zahl von Denkern und Gelehrten, von Männern der söge-
nannten eracten Wissenschaft aufzuweisen hat, die ans seiner
Mitte hervorgingen, daß dagegen die Poesie, Musik und
die bildenden Künste hier verhältnißmäßig wenig Vertreter
gefunden haben. Männer wie Achtermann und Mintrop,
welche das bergige Westphalenland aus dem Schooße des
eigentlichen Volkes hervorgehen sah (Achtermann hat bis zu
seinem dreißigsten Jahre bekanntlich die Pflugschar geführt),
dürften iu dem eigentlichen Flachlande 31t den größten
Seltenheiten gehören. Der Mangel an musikalischer Be-
gabung aber ist — wenigstens was die deutschen Nordsee-
küsten betrifft — schou seit Alters genugsam durch das
Sprichwort: „Frisia non cantat" gekeuuzeichnet, und dies
nichtmusikalische Gebiet erstreckt sich ohne Zweifel noch viel
tiefer landeinwärts über das Gebiet des alten Friesenreiches
hinaus.
Eines Zuges jedoch dürfen wir, wo es um eine Schil-
derung des niederdeutschen Volkscharakters sich handelt,
nicht unerwähnt lassen, und das ist der ihm innewohnende
tiefe und gesunde Humor, der seinerseits wiederum Zeug-
uiß dafür ablegt, daß das Gemüthsleben reicher ist, als
man auf den ersten Anblick vermnthen sollte; denn Humor
ist eben nicht denkbar ohne Gemüth. Man wird nach dem
Gesagten nicht erwarten, daß sich derselbe in übersprudeln-
der Sanne und Lebhaftigkeit äußere; anch hat er wenig von
eigentlichem Witz oder gar von Esprit an sich. Wohl aber
weiß er alles irgendwie Verkehrte, alles Gemachte, Gesuchte
und Großprahlerische mit schnellem und scharfem Blicke zu
erkennen und mit einem kurzen, gutmüthig-ironischen
Worte, das fast immer den Nagel auf den Kopf trifft, ab-
zufertigen. Zahllose Sprichwörter, von denen manche
allerdings derb uud drastisch genug sind, liefern hierfür den
Belegs Zur Probe mögen einige wenige in der über
ganz Norddeutschland verbreiteten plattdeutschen Mundart
(welche freilich viele Dialekte in sich begreift), hier ihren
Platz finden.
„Reihet euch! sä (sagte) Jan, do harr (hatte) he eene
Koh (Kuh) in 'n Stall."
„Beter 'nLns (Laus) iu 'n Kohl, as gar kien Fleesch."
geiht doch uix äwer (über) de Rendlichkeit (Rein-
lichkeit) sä de ole (alte) Fro (Frau) uu kehrde alle Wih-
nachtabend ähr Hemd um."
„Wat old is, dat ritt (reißt), sä deDüwel, do harr he
sieu Grotmoder dat Ohr af reten (abgerissen)."
„Elk sien Möge (Jedem, was er mag), sä de Düwel,
do eet (aß) he Torf mit Theer."
„Elk sien Möge, sä de Düwel, do he de Botter mit de
Heufork (Heugabel) eet."
„T'is man 'n Awergang, sä de Voß, as se em dat Fell
äwer de Ohren trocken (zogen)."
„Nur nicht ängstlich!" sä de Hase to'n Regenworm, do
fvcct he 'n up.
64*
268 Fr. Ewald: Aus dem n
„Gottlos, dat weer een van't Dusend, sä de Nadel-
maker, Jung' gah hen und hahl mi 'n Krövs (Krug) Beer."
Die Zahl solcher Schlagwörter ließe sich leicht bis auf
Hunderte vermehren. Namentlich gibt es eine nicht geringe
Anzahl von solchen, welche, wie das zuletzt angeführte, die
Langsamkeit und Bedächtigkeit, welche allerdings eine der
hervorstechendsten Eigenschaften des Norddeutschen bilden,
verspotten.
Die schönste und duftigste Blüthe hat in neuester Zeit
dieser Volkshumor in dein Mecklenburger Fritz Reuter
getrieben. Kein Anderer hat es so wie er verstanden, das
Leben des norddeutschen Bauern, des Taglöhuers uud des
sogenannten „kleinen Mannes" mit den frischesten, lebens-
wahrsten und ergötzlichsten Farben zu schildern. Ein Stück
Jung-Jochenthum steckt den meisten unserer nieder-
deutschen Bauern im Blute. Uud deunoch steht Reuters
Humor nicht ironisirend über seiuem Gegenstande, sondern
versenkt sich liebevoll in denselben, seineu Schilderungen
eben dadurch jene unübertreffliche Wärme und Lebenswahr-
heit verleihend, die den Dichter binnen wenigen Jahren zu
einem Liebling von ganz Norddentfchland gemacht haben.
Der Leser verzeihe uns diese kleine Abweichung, zu der
wir hauptsächlich durch deu Wuusch veraulaßt wurden, daß
unsere süddeutschen Landsleute die Schwierigkeiten nicht
scheuen möchten, welche das plattdeutsche Idiom der
Neuterschen Werke ihnen entgegen setzt. Durch eine Heber-
tragung in das Hochdeutsche würden sie zu viel von ihrer
Urwüchsigkeit uud Frische einbüßen; wer aber in diese
kernige, gedrungene Sprache sich hinein arbeitet, wird sich
sür seine Anstrengung belohnt finden und gewiß nicht um-
hin können, Land und Leute, wie sie hier so anschaulich und
treu geschildert werden, lieb zu gewinnen.
Fahren wir in dem Gange uuserer Schilderuug fort, so
siud es zunächst drei Gruppeu von Bodenbildungen, welche
wir in dem großen nordwestdeutschen Flachlande zu unter-
scheiden haben: die sogenannte Geest (das Wort hängt
nach der Erklärung der Etymologen eng mit dem Adjeetiv
güst, unfruchtbar, zusammen), mit Sand und Haide durch-
setzt, sodann das Moorland und endlich die Marschen
(conner mit dem englischen mavsh, morash, nnd dem fran-
zösischen marais), das fruchtbare Alluvialland der Flüsse.
Unter ihnen bietet unstreitig die „Geest" die größte
Mannigfaltigkeit, die meiste Abwechslung dar. Nicht blos,
daß ihr Terrain dnrchgehends leise wellenförmig, mitunter
sogar etwas hügelig gestaltet ist uud schon dadurch dem
Auge Ruhepunkte gewährt, sie allein bietet auch dem Holz-
wuchs günstige Bedingungen nnd hegt sogar an manchen
Stellen bedeutende Forsten. Schon aus diesem Umstände
läßt sich entnehmen, daß ihr Erdreich nicht ganz so steril
sein kann, als der Name vermutheu läßt; denn nicht nur
Birken und Kiefern, die Proletarier unter den Wald-
bäumen, siedeln aus ihr sich an, sondern auch mächtige
Tannen, Buchen und die herrlichsten Eichen finden hier ihre
Stätte. Wo der Boden etwas lehnt- und mergelhaltig ist,
da wird Acker- und Gartenbau wie auch Viehzucht mit
Erfolg betrieben. Selbst dein anscheinend so dürftigen
Haidelande wird Jahr um Jahr ein Stück nach dem andern
abgewonnen. Menschlicher Fleiß weiß auch diese armselige
Scholle durch fortgesetzte Mühe uud Arbeit in fruchtbares
Ackerland umzuwandeln. Nur der Flugsand, wo er nackt
zu Tage liegt, oder von einer so dünnen Haidekruste bedeckt
ist, daß oftmals ein Windstoß genügt, um sie zu zerreißen
und die Sandkörner aufwirbeln zu lassen — nur dieser
Boden spottet aller Anstrengungen und aller Kultivirungs-
versuche.
^westdeutschen Flachlande.
Das Moorland besteht aus einer compakten Masse
von Pflauzeuleicheu, welche, durch Jahrhunderte, ja Jahr-
tausende über einander gehäuft, der Zersetzung und Fänlniß
durch die Anwesenheit von Wasser bei mangelndem Luftzu-
tritt entgingen. Ihren Hauptbestandteil bildet das un-
scheinbare Torfmoos (Sphagnum), von welchem eine Gene-
ration über der andern sich ablagert, der Moorschicht eine
immer größere Mächtigkeit (dieselbe schwankt von einigen
bis zu 30 uud 40 Fuß) verleihend und in seinem endlichen
Produkt, dein Tors, eine so wichtige Rolle in dem Haushalt
des Meuscheu, namentlich dieser holzarmen Gegenden, spie-
lend. Die Art der Bildung und Entstehung des Moores
macht es erklärlich, daß in seinem Schooße so manche
Documeute einer längst entschwundenen Zeit niedergelegt
sind, welche hier der Veruichtuug entgingen. Wir erinnern
nur an die fossilen Thiere, welche man tief im Grnnde
desselben gefunden, an die zahlreichen Waffen und Geräthe,
welche einst im Besitze der Ureinwohner dieser Gegenden
gewesen sind, so wie an die Ueberreste jener merkwürdigen
Holzstraßen (Pontes longae), auf denen die Römer unter
Germanicus von den Niederlanden aus in die nord-
deutschen Küstenstriche vorzudringen suchten, und von deren
Auffindung in einem der großen hannoverschen Moore
(Aremberg-Meppen) der bekannte Reisende Kohl eine so
anziehende Schilderung entwirst. — Von den Niederlanden
ans ziehen sich diese Moore durch Ostsriesland, das Herzog-
thnm Oldenburg, die Grafschaft Hoya, die Herzogtümer
Bremen und Verden bis hinein nach Preußen und die ganze
Südküste des Baltischen Meeres entlang. Hänfig findet
sich unter dem Torfrasen eine Schicht fruchtbarer Damm-
erde, auf welcher, nachdem jener abgebaut ist, Getreide-
felder, von der Hand der Torsbauer und Eolouisteu auge-
legt, alsbald üppig emporgrünen. Ueberhanpt macht die
Eolonisation des Moores immer größere Fortschritte, je mehr
der industrielle Geist uusers Jahrhunderts die Schätze ans-
znbenten weiß, welche es in Gestalt des unscheinbaren
Brennmaterials in seinem Innern birgt, und je mehr die
Vervollkommnung der Transportmittel die Verwerthnng
dieses letztern gestatten.
Vielleicht am wenigsten bekannt in dem großen Um-
fange des deutschen Vaterlandes sind endlich wohl die an
den Ufern der Flüsse uud an den Gestaden des Meeres sich
ausbreitenden Marschländer eien, auf welche wir dem-
nach für diesmal die Aufmerksamkeit unserer Leser beson-
ders zu lenken wünschen. Ans den Allnvionen der Flüsse
entstanden, welche das in ihrem obern Laufe losgerissene
Erdreich, sowie das in den Gebirgen gebrochene Gerölle
und Geschiebe, immer mehr zerkleinert und zerrieben, in der
Gestalt eines zähen, fetten Schlammes an ihren Mün-
düngen absetzten — ein Prozeß, den wir noch täglich unter
unseren Augen vor sich gehen sehen — stehen diese Distrikte,
wenigstens ihrem bei weitem größten Theile nach, an
Fruchtbarkeit und Ergiebigkeit wohl kaum hinter irgend
welchen anderen der bewohnten Erde zurück. Unter einer
tropischen Sonne würden sie jene Riesen der Pflanzenwelt,
jenein strotzender Uebersülle prangende Vegetation erzeugen,
welche in den Flußniederungen der heißen Gegenden das
Staunen und oft auch die Verzweiflung der Reisenden bil-
den. Hier indessen sorgen das kältere Klima und der scharf
vom Meere herüberstreichende Nordwestwind schon dafür,
daß die Bäume nicht bis in den Himmel wachsen.
Baumreichthum ist es überhaupt nicht, wodurch sich die
Marschen auszeichnen, ja, nimmt man einige Distrikte in
den Elbmarschen aus, in denen bedeutender Obstbau
getrieben wird (vor Allem ist in dieser Beziehung das
Kaiser Theodor-
Alteland, „Oleland", mit seiner Kirschenzncht zu nennen),
so sind auch sie geradezu als baumarm zu bezeichnen.
Statt dessen dehnen sich in weiter, üppiger Reihe die fetten
Wiesengründe aus, auf denen das fast ausnahmslos schwarz
und weiß gefleckte schwere Rindvieh, der Stolz des Marsch-
banern, untermischt mit den kräftigen, glänzend braunen
Pferden weidet. Wie das Schlachtvieh, namentlich in
neuester Zeit, massenweise nach England geliefert wird, so
ist von Alters her die Pferdeausfuhr aus diesen Gegenden
bedeutend; auf die eiuzige Provinz Ostfriesland rechnet
man jährlich über viertausend Stück. Die oldenburgische
Chronik aber weiß schon aus der Zeit des dreißigjährigen
Krieges von Geschenken, aus Apfelschimmeln und anderen
kostbaren Pferden bestehend, zu berichten, mit denen der
damalige staatskluge Regent des Ländchens, Graf Anton
Günther, vom Kaiser, wie von verschiedenen anderen Fürsten
mehrfach eine Neutralitätsacte zu erlangen wußte. Noch
heutzutage sind die an mehren Orten des oldenburgischen
und hannoverischen Landes stattfindenden Pferdemärkte von
nicht geringer Bedeutung. Namentlich ist von Seiten
französischer Händler gewöhnlich große Nachfrage nach
Remontepferden, und als vor einigen Jahren in Folge der
drohenden Kriegsaussichten die refpectiven Regierungen ein
von Abyssinien. 269
Pferdeausfuhrverbot erließen, wurde der dadurch ent-
stehende Ausfall schwer empfunden.
Die Viehzucht iu den Marschen überwiegt den Getreide-
bau bei Weitem; nur die Elbmarschen Hadeln und Kedingen
machen darin eine Ausnahme, indem sie bedeutende Mengen
von Weizen ziehen. Durchgehends aber wird viel Raps
und Rübsamen (Rübsen) gebaut, mit dessen Gewinnung
es allerdings immer eiue Art von Hazardspiel ist, da einige
Nachtsröste, wie sie in diesen offenen Küstenländern spät
im Frühling und selbst mitten int Sommer häufig genug
vorkommen, die gauze Ernte mit einem Schlage vernichten
können. Ein günstiger Jahrgang deckt dann aber auch
möglicherweise reichlich mehre Mißernten, und das „Saat-
dreschen" (unter „Saat" wird in diesen Gegenden eben
nur Raps und Rübsen verstanden), welches meistens auf
freiem Felde geschieht, indem dort große, aus Werg ge-
sponnene Tücher (Saatlaken, Rappsaatsegel) ausgebreitet
werden, weil die Sprödigkeit der Fruchtschoten ihren weitern
Transport schwierig oder unmöglich macht, ist gewöhnlich
für die dabei beschäftigten Arbeiter, Knechte und Mägde
(„dat Volk") mit einer Lustbarkeit verbunden, da der
Bauer iu Aussicht auf den zu erzielenden Gewinn ein
besonderes „Tractament" dabei zu veranstalten Pflegt.
Kaiser Theodore
Mit diesem interessanten Halbbarbaren wissen die
Engländer rein gar nichts anzufangen. Schon seit länger
als einem Jahre hält er ihren Confnl Duncan Cameron
in Haft; er hat den Reverend Stern und noch einen andern
Missionär eingesperrt und scheint sich recht eigentlich ein
Vergnügen daraus zu machen, den Europäern ordent-
lich etwas aufzutrumpfen. Man verzeihe diesen Ausdruck
aus dem gemeinen Leben, weil kein anderer so gut passen
würde. Uns kommt der gewaltige Negns von Aethiopien
etwa so vor, wie ein ungezogener Jüngling, der sich darin
gefällt, den Leuten Trotz zu bieten und ihnen zu zeigen,
daß er sich aus ihnen gar nichts mache. Er weiß "sehr
wohl, daß englische Kauoueu nicht bis Gondar hinaufreichen,
und daß die Beherrscher Indiens sich mit ihm in keinen
Krieg einlassen werden, der zu unabsehbaren Weiterungen
führen müßte und von dem sie zuletzt gar keinen Vortheil
haben könnten. Also läßt er die Herren im auswärtigen
Amte zu London so viele diplomatische Noten und Briefe
schreiben, wie sie wollen; sie werden beantwortet oder auch
nicht beantwortet und ad Acta gelegt.
Wir haben sehr oft Veranlassung gehabt, uns im
Globus mit diesem äthiopischen Potentaten zu beschäftigen,
und die Schicksale Sterns und Eamerons siud unseren
Lesern eben so wohl bekannt, wie die Abenteuer des fran-
zösischen Consnls Wilhelm Lejean, welcher auch wider
Willen in Abyssinien festgehalten wurde. Dieser vortreff-
liehe Reisende ist jetzt nach Tnrkestan unterwegs; er soll
der französischen Regierung Bericht über die Stellung der
dortigen Chanate zu Rußland abstatten, und ohne Zweifel
wird er seine Austräge gut ausführen. Ehe er nach Central-
asien abging, veröffentlichte er noch eine Reihenfolge bunter
Mitteilungen in Aethiopien. Wir wollen Einiges aus
denselben mittheilen.
von Abyssinien.
Am 1. Januar 1863 verließ er Dschenda, um nach der
Festung Debra Tabor zu gehen, wo Theodoros sich auf-
hielt. Er durchzog die Provinz D6mbea, deren Hauptstadt
Gondar ist, und kam an der nordöstlichen Spitze des
Tana- oder Tzana-Sees vorüber nach der Stadt Em fr as,
die sehr hübsch liegt und recht gut gebaut ist. Die Häuser
sind durch immergrüne Hecken von einander getrennt und
die Straßen mit Bäumen bepflanzt. Der Kaiser hat dort
einen Palast. Emfras ist bekannt durch den ausgedehnten
Handel mit Sklaven und durch die Zucht vou Zibeth-
katzen. Vou diesen Thieren ist eine so große Menge vor-
Händen, daß manche Kaufleute deren mehr als 300 im
Hanfe halten. Die Thiere werfen einen nicht geringen
Nutzen ab. Die Zibethkatze bekommt als Futter dreimal in
der Woche rohes Rindfleisch und viermal einen Milchbrei;
sie wird dann und wann mit Wohlgerüchen beräuchert, und
in jeder Woche kratzt man ihr einmal eine salbenartige
Materie ab, das Zibeth, welches in wohlverwahrte Ochsen-
hörner gethan wird und einen einträglichen Handelsartikel
bildet. Im Februar ist die Weinlese; die Trauben sind
vortrefflich, aber die weißen werden, trotz ihres Wohl-
gefchmacks, wenig geachtet. Weshalb? Weil die äthio-
pischen Mönche den Gläubigen eine große Abneigung
gegen Alles, was weiß ist, beibringen; sind doch die Euro-
päer weiß!
Doch von den Zibethkatzen zum Negus und zu seinen
Löwen. Der Kaiser liebt Pomp und Schaugepränge und
versteht sich auch darauf. Manchmal gibt er Audienz,
wenn er von vier sehr zahmen Löwen umgeben ist. Die
Thiere sehen wirklich wild aus und haben auch wilde
Namen. Der eine> welcher auf unserm Bilde den Kopf
an den Knien des Kaisers reibt, heißt Knara, das ist der
Stürmische. Lejean hatte Gelegenheit, mit Seiner Majestät
272 Kaiser Theodoros
Bestien nähere Bekanntschaft zu machen. An einem hohen
Festtage wurden sie von ihren Wärtern in das Zimmer des
Fremden geführt, um ihre Aufwartung zumachen. Ein
paar blanke Thaler verfehlten die Wirkung nicht; Lejean
konnte seine Gäste mit aller Muße abzeichnen. Freilich
wurde er durch eine etwas aufdringliche Zutraulichkeit dabei
einigermaßen gestört. Der eine Löwe war von einem
Deutschen Namens Salmüller abgerichtet worden; dieser
hatte das Thier dem Negus verkaufen müssen; er zog
dann einen andern auf, der^sich auch ganz gut anließ, aber
die Leidenschaft hatte, den Leuten seine Tatzen in die Tasche
zu stecken und ihnen die Schenkel etwas kräftig zusammen
zu drücken.
Mein „schrecklicher Freund" Theodor, sagt Lejean, tst
gewiß ein Mann, an welchem sich Vielerlei aussetzen läßt;
wenn man aber seine Bedeutung würdigen will, so muß
man die trägen und unnützen Subjekte betrachten, welche
vor ihm regierten. Dawar z. B. Hatzi Tekla Giorgis,
der um 1820 auf dem Throne saß. Der Engländer
Pearee entwirft nach eigener Betrachtung von diesem
Kaiser oder König folgende Schilderung: Er that sich auf
seine Persou viel zu Gute, war eitel und putzsüchtig, trug
Spangen um Armgeleuke und Fußknöchel und einen Rosen-
kränz von goldenen und silbernen Kügelchen. In Bezug
auf seinen Charakter war er ein ganz miserabler Kerl,
liederlich und ein Lügner von Jugend auf. Ein solcher
Mensch war natürlich mißtrauisch; er ließ einen Mann,
der ihm irgendwie verdächtig vorkam, zu sich rufen, redete
demselben freundlich zu, seiu Vergeheu zu bekennen, und
leistete einen feierlichen Eid, daß er ihm nun und nimmer-
mehr etwas zu Leide thun wolle. Nachdem er geschworen,
küßte er ein Kreuz, welches ein Priester ihm vorhalten
mußte. Sobald aber der Mann sortgegaugen war, sprach
der edle König zu seinen Hofleuteu: „Nun guckt mal her!
Meine Zunge hat den Eid geleistet »lud ich habe das Kreuz
geküßt. Aber ich thue jetzt Alles fort, was dieselbe bedeckte."
Daun strich er die Zunge durch die Zähne und spie aus.
Dadurch hatte er sich mit seinem Gewissen abgefunden und
sagte weiter: „Sobald der Rebell kommt, werdet ihr eure
Schuldigkeit thun!" Dieser König war sehr belesen in der
heiligen Schrift und höchst fromm, aber den lieben guten
Christen gab er auch sonst noch allerlei anstößige Beispiele.
Er liebte die Vielweiberei, und an allen Ecken und Enden
seiner Staaten wimmelte es von Kindern, von einer Legion
Vagabunden aus „hohem Hause". —
Auf Theodors Weisung mußte Lejean in Gasat
wohnen, hatte aber Erlanbniß, von dort Ausflüge zu
machen, und er benutzte dieselbe, um die Hauptstadt Gon-
dar zu besuchen. Man sieht die Kirchen schon aus weiter
Ferne, aber wenn man schon längst in den Straßen ist,
merkt man, als Europäer wohlverstanden, noch nicht, daß
man sich in einer Stadt befindet. Diese besteht eigentlich
aus sechs großen Flecken, welche durch Getrümmer aller
Art von einander getrennt sind. Auf die Einzelschilde-
rnngen derselben gehen wir nicht ein, erwähnen aber des
Negns-Ghimp oder kaiserlichen Palastes, von
welchem wir eine ganz getreue Abbildung geben. Ein
Theil desselben fällt in Ruinen und Theodoros, der über-
Haupt die Stadt Goudar nicht gern hat, läßt nichts aus-
bessern.
Doch ist er nicht Schuld an dem Zerfallen des Ghimp.
Diese fällt auf die alte Königin Menene, die Mutter
des vorigen Herrschers Ras Ali, welche in der Erbitterung,
daß ihre Familie so unbeliebt war, einen großen Theil des
Schlosses zerstören ließ. Diese Frau hatte den ehevorletzten
König geheiratet, schied sich von ihm, behielt aber die
von Abyssinien.
Stadt Gondar nebst der Provinz für sich, regierte und
befehligte in eigener Person die Armee. Ein junger Abeu-
teurer, ein Glücksritter, Namens Kaffa, war von ihr
zuiu General erhoben worden und gerieth mit ihr in Streit,
— einer Kuh wegen. Der Streit zog Krieg nach sich; im
Kampfe versetzte Kassa der Menene einen Lanzenstich in
den Schenkel, nahm sie gefangen und ließ sie erst los, als
sie ihm Gondar abgetreten hatte. Dieser General Kassa
war Niemand anders als — Kaiser Theodoros.
Menene ging gern mit Europäern um. Sie hatte einen
Neapolitaner, Moutuori, um sich, der den Missionär spielte,
einen lustigen Abenteurer, welchem alle Rollen gerecht
waren und der insbesondere sehr heftig gegen die Mönche
deklamirte. Der Menene imponirte er dadurch, daß er
ihr fagte, wenn sie nicht brav sei, wolle er ganz Europa in
Kundesetzen, daß sie keine fromme und gerechte Fürstin,
fondern eine Agrippina sei! Was wußte Menene von
der Agrippina? Sie dachte, das sei eine Person wie die
Jesabel oder Herodias in der Bibel, und sie beschwor den
„frommen Pater" um Gottes Willen, solche abscheuliche
Dinge ja nicht nach Europa zu schreiben!
Halbbarbaren siud unberechenbarer als ganze Bar-
baren; das erfuhr auch Lejean. Theodor hatte Verdacht
gegen ihn geschöpft und mehr als einmal Drohungen aus-
gestoßen. Dann schrieb er einen Brief, dessen Inhalt im
Wesentlichen lautete: „Als Du zu mir kamst, stelltest Du
Dich mir als Freund vor. Aber bist Du nicht etwa
gekommen, um mit den Schefta's (Rebellen) gegen mich
zu conspiriren? Hast Du reine Absichten, so schreibe mirs;
bist Du meiu Feind, so sag mirs auch; ich kann dann meine
Maßregeln nehmen!"
Lejean antwortete sehr kurz und respeetvoll; das wirkte.
Der Ne$us schrieb ihm: „Gedulde Dich nur ein wenig,
und unter der Gnade der Dreieinigkeit wird sich
schon Alles machen. Ich habe Dich zurückgehalten, wie ich
das thun mußte; sobald aber mein Bevollmächtigter wieder
hier ist, werde ich Dich mit allen Ehren, welche Dir ge-
bühren, ziehen lassen."
Wie geringen Respeet übrigens der äthiopische Negus
vor den europäischen Potentaten hat, geht aus Folgendem
hervor.
Lejean erhielt am 30. September 1863 den Befehl,
Gondar und überhaupt Abyssinien in der kürzesten Zeit-
frist zu verlassen. Mit ihm ging ein Arzt, Dr. Lagarde.
Beide empfahlen sich in feierlicher Audienz. Nach der-
selben nahm der englische Consnl, Duncan Cameron,
seinen französischen Collegen am Arme und führte ihn in
sein Haus zum Frühstücken. Unterwegs fanden die beiden
Europäer in einer der engen Gassen von Gondar einen
todten Esel liegen.
„Sehen Sie, da liegt ein crepirter Consnl!"
sagte Cameron und schritt über das todte Thier hinweg.
Lejean fand den Ausdruck etwas stark; er war ihm
unverständlich. Dann gab Cameron eine Erläuterung.
Kaiser Theodor hatte vor einigen Tagen in sehr übler
Laune gesagt:
„Ich weiß nicht, weshalb mir meine lieben
Vettern Napoleon und Victoria solche Kerle
geschickt haben. Der Franzose ist ein Narr und
der Engländer ein Esel." (Franzis bnda, Jnglis
ahia.)
Manchmal mußte aber auch Seine Majestät sich allerlei
Derbheiten gefallen lassen. Cameron hatte zum Koch einen
Elsäßer, Namens Mack, einen vierschrötigen Burschen, der
einst Soldat gewesen war, und an welchem Theodor Wohl-
gefallen fand. Nun hatte dieser sich vor ein paar Jahren
E. Schlagintweit: Die Märchen über
von den protestantischen Missionären in Gasat einen söge-
nannten Kriegswagen bauen lassen, eine armselige Karrete,
die obendrein mit grüner Oelsarbe angepinselt war. Dem
Kaiser gefiel aber dieser Streitwagen über alle Maßen
und mit Stolz fragte er den Koch Mack, ob er in Europa
jemals etwas Aehnliches gesehen habe? Mack antwortete:
„Ja wohl; bei mir zu Lande, in Mühlhausen, lassen wir
ans solchen Dingern den Mist aus der Stadt wegfahren."
Auch Folgeudes ist bezeichnend. Der Missionär Stern,
welcher damals noch nicht in Ungnade war, hatte dem
Kaiser ein Stereoskop und mancherlei Ansichten geschenkt.
den Thron des Königs VikramädUya:c. 273
Unter diesen befand sich auch eiu Panorama von Jerusalem,
welches Theodor sich erklären ließ.
„Was ist das da?" —
„Die Moschee Omars."
„Eine Moschee in Jerusalem? Doch ja, es kann sein.
Jerusalem gehört deu Türken!" Dabei warf er in unbän-
diger Wuth das Stereoskop zur Erde und rief: „Das
heilige Grab ist in der Gewalt der Ungläubigen, Jerusalem
im Besitze der verfluchten Mohammedaner. Das leidet
Europa und will doch christlich fein!" j
Die Märchen über den Thron des
Von Emil £
Betrachten wir jetzt die h i n d o st anische Version der
Siughayau-battitschi „Die 32 Erzählungen", von welcher
Garcin de Tassy in seiner „Histoire des Hindus", Bd. II,
S. 273 einen Auszug gibt. In den Erzählungen findet
sich keine bemerkenswerthe Abweichung; nur die Verau-
lassung zur Auffindung des Thrones wird etwas verschieden
angegeben. Ein Mann aus dem Volke besaß eiu Gurken-
feld von seltener Ergiebigkeit, nur eiue Stelle blieb kahl.
So oft er sich hier niederließ, stieß er Beleidigungen gegeu
seinen König aus und forderte die Vorübergehenden auf,
deu König vor ihn zu bringen; aber wenn dann hinweg-
gerissen, wobei er tüchtig mit Ohrfeigen traktirt wird, zeigt
er die größte Reue und Niedergeschlagenheit, die aber stets
wieder der äußersten Unverschämtheit Platz macht, so oft er
diese kahle Stelle betritt. Die Nachgrabung führt zur Auf-
findung des Thrones.
Der Versuch, den Thron zu besteigen, wird so darge-
stellt, daß die Trägerinnen anfangs nur höhnisch grinsten
und erst ans die Ausforderung des darüber erbosten Königs
zu fprecheu begannen. Aber was er hörte, sollte ihn noch
mehr demüthigen. „Es ist richtig, Du beschützest das
Verdienst und zeigst Einsicht; aber überhebe Dich darüber
nicht, höre vielmehr eine Geschichte aus früherer Zeit. Die
taufende Male, die Du fchou auf Erdeu wandeltest, warst
Du stets ehrgeizig, eigenliebig, und verglichen mit dem-
jenigen, der diesen Thron früher besessen hatte, bist Du
nur einer seiner untersten Diener." Der König erboste
darüber noch mehr und befahl den Thron zu zertrümmern,
aber alle menschliche Kraft war umsonst, die Figur belehrte
ihn vielmehr, zuerst müsse er sie anhören. Als nun alle
32 Statuen gesprochen hatten, erkannte der König seine
UnWürdigkeit, er entsagte nicht nur Judra's Throne, der
wieder vergraben wird, sondern überließ sogar den Ministern
die Regierung und gab sich in Einsamkeit Bußübungen
hin. Der Hindu-Uebersetzer knüpft daran folgende Be-
merkung: „Unzweifelhaft fehlen diesem- Könige die
Herrschereigenschaften und die Möglichkeit, fein Volk zu
beglücken. Früher entsagte ein Solcher dem Throne, gegen-
wärtig aber bedrücken die Könige ihre gerechten Unterthanen
und die Schlechten finden Gnade." Nach Garcin de Tassy's
Bemerkungen sand die Uebertragung dieser Erzählung in
Globus IX. Nr. 9.
Königs Vikrmnaditya von Malm.
das Hiudostaui im 17. Jahrhunderte statt; dieses war aber
bereits die Zeit der drückendsten Willkürherrschaft der
Mufsalmaueu und ihrer Creaturen.
Sehr poetisch ist im Eingange der blühende Zustand
des Reiches zur Zeit der Herrschast vou Bhodscha geschildert;
Vieles ist in orientalischer Ruhmredigkeit übertrieben, wie
z. B. Sicherheit sei so allgemein gewesen, daß Tiger und
Ziegen ruhig neben einander aus demselben Wasser getrun-
keu hätten. Allein im Uebrigen entspricht die Schilderung
den Beschreibuugeu, wie sie die Dramen Kälidäsas geben;
nicht ohne Interesse ist anch, was die griechischen Geschicht-
schreiber berichten. Einige Bemerkungen darüber möchten
nicht ganz unpassend sein.
Die Wohnungen der Reichen waren mit Prunk einge-
richtet, ein Troß von Dienern, Pferden und Elephanten
harrte ihrer Befehle; doch werden auch Beispiele schlechter
Verwendung des Reichthums berichtet, nichtWenige brachten
ihre Zeit bei Spiel und Weibern zu. An den Höfen der
Großen herrschte edler Anstand und feine Sitte; den Gesetzen
bezeigten sie Achtung, den Priestern, denBrahmanen, sowie
den buddhistischen Bhikschns, den Bettelmönchen, wird von
ihnen wie vou ihren Unterthanen allgemeine Verehrung er-
wiesen, deren sich diese auch im Allgemeinen durch ein zu-
rückgezogenes Leben ititb das hohe Gefühl ihres Ansehens
würdig zeigen. Die Hofhaltung war prunkvoll. Neben
den reich ausgestatteten Palästen waren weit sich aus-
dehnende schattige Gärten mit schönen großen Wasser-
baslins; sehr ausfallend fanden es die Griechen, daß die
natürliche Form der Bäume durch Beschneiden uud abnorme
Stellung künstlich verändert wurde; auch grade Wege sind
eine alte Marke indischer Gartenkultur. Ungeachtet des
großen Neichthnms Indiens an wohlriechenden Pflanzen,
ließ man doch Weihrauch aus Afrika kommen, auch liebte
man den afrikanischen Lotus wegen der wohlschmeckenden
süßen Substanz, die der Stengel enthält. Aus Syrien
würde Wein eingeführt, doch sind die Angaben der grie-
chischen Berichterstatter darüber übertrieben. Als ganz
wesentlich zum Glänze des Fürsten, wenn er sich feierlich
dem Volke zeigte, wurde es betrachtet, daß er sich auf einem
schön gezierten Elephanten zeige, umgeben von einer zahl-
reichen Menge dieser gelehrigen Thiere; schon im 3. Jahr-
35
274
E. Sch lagintwcit: Die Märchen über den Thron des Königs Vikramäditya :c.
V l'f'
hundert v. Chr. berichtet der Grieche Megasthenes, daß die
Jndier in der Zähmung dieser Thiere sehr geschickt seien
und große Sorgsalt aus ihre Pflege verwenden. Man
benützte sie zum Reiten; wie heute, saßen auch damals
nur vier Personen auf einem Thiere; die kampflustigsten
Thiere brachte man mit in die Schlacht. Unter den Kriegs-
geräthen sind die Streitwagen zu erwähnen, von zwei
Pferden gezogen und mit zwei Streitern bemannt; früher
war nur eiu Kämpfer auf jedem. Die Pferde werden als
äußerst wild und schwer zu bciudigeu geschildert, auch gab
es ihrer nicht sehr viele. Eine besondere, als unrein
betrachtete Kaste gab sich mit der Bändigung ab; das Werk-
zeug, dessen sie sich am meisten dabei bedienten, war ein mit
stachligen Eisenspitzen versehener Zaum. Für Kampfspiele
zeigte sich großes Interesse; die kämpfenden Thiere waren
Ochsen, Pferde, Elephanten und Hyänen. Für die Ent-
scheidung von Rechtsstreitigkeiten gab es überall geregelte
Gerichtshöfe, in denen in öffentlicher Verhandlung nach
Anhörung des Beklagten und Vernehmung von Zeugen
oder Prüfung von Urkunden entschieden wurde.
Vou Udscheiu, welches auch Kälidäja im Meghadhüta
rühmt, berichtet der Hindu-Bearbeiter unserer Erzäh-
lung, daß alle nur erdenklichen Handwerke und Künste
dort gepflegt würden; der Marktplatz war überfüllt mit
allen möglichen Früchten und Erzeugnissen der Industrie
und des Landbaues. „Hier tauzte man, dort tönte Musik,
entfernt vom Geräusche verrichtete eiu Andächtiger seine
Gebete, in einer andern Ecke hatte ein Märchenerzähler
Zuhörer zu Bewunderung mit fortgerissen; putzsüchtige
Frauen zogen über den Markt, gefolgt von Anbetern.
Zum Lustwandeln gab es schattige Gartenanlagen, der
Lotus war in großen Bassins gepflegt, Blumen aller Art
hauchten ihre Wohlgerüche aus; Easeaden sprangen, nicht
selten von wohlriechenden Wassern gespeist. Zn geselligen
Vergnügungen gab es Säle, kleine Kioske, Eremiten-
Häuschen luden zur Ruhe ein, Teppiche und Divans standen
umher, lange Vorhänge vor den Thüren hielten das Innere
vor deu Blicken der Neugierigen und den heißen Strahlen
der Sonne geschützt. So war das Reich und der Souveraiu
vou Udscheiu."
Verlassen wir jetzt den Jndier und Udscheiu, die Ge-
burtsstätte unserer Erzählung, und wenden wir uns zu der
mongolischen Bearbeitung. Auch hier sind die Erzäh-
lerinnen Statuen vom Throne Vikrainü-ditya's; aber nicht
jede Statue erzählt eine Geschichte, auch werden sie zugleich
an Bhodscha's Gemahlin gerichtet; wichtiger ist noch, daß
hier ganz andere Erzählungen berichtet sind, und daß sie
vielfache Analogien zeigen mit Märchen anderer Länder,
wie mit der persischen Sammlung des Tnti-Nameh; auch
wäre noch zu erwähnen, daß hier statt der Brahmanen
Buddhaheilige die Verehrungswürdigen siud, wie über?
Haupt die Weisheit, Stärke und übernatürliche Macht der
Buddha-Nachstrebenden, der Bodhisattvas, gezeigt werden
soll. — Einen Auszug aus einem mongolischen Manu-
scripte gab 1857 Schiefner imBulletin der Petersburger
Akademie; der Buriäte Gombojew übersetzte die Erzäh-
lung in einer Petersburger Zeitung, von welcher Th.
Ben sey, der sich mit Kuhn um die Erforschung des orien-
talischen Märchen- und Sagenkreises bereits so große Ver-
dienste erwarb, eine deutsche Version gab im Ausland
1858, Nr. 34 ff. — Eine ausführliche Darstellung dieser
wichtigen Märchensammlung haben wir Wohl von v. d.
Gabelenz zu erwarten, der in seiner reichen Sammlung
eine mongolische Handschrift besitzt; bis jetzt gelangte nur
noch an die Petersburger Akademie ein Manuscript dieser
Sagen.
Die Veranlassung zur Auffindung, heißt es hier, hätten
die scharfsinnigen Entscheidungen gegeben von Rechtssachen
durch Kinder. Jugendliche Hirten hatten täglich einen von
ihnen zum Könige ausgerufen; dieser habe stets solche
Majestät von sich ausgeströmt, daß die Vorübergehenden
ihm unwillkürlich huldigen mußten und seinen Urtheilen
Folge leisteten. Da ereignete es sich einst, daß vor König
Bhodscha ein Mann der Unterschlagung eines Edelsteins an-
geklagt wurde, den er der Frau des Absenders hätte bringen
sollen; da jedoch zwei Beamte des Königs aussagten, bei
der Uebergabe des Edelsteins zugegen gewesen zu sein,
wurde der Beklagte vom Köuige sreigesprocheu. Aus dem
Heimwege hatten die beiden Parteien und die Zeugen den
Hügel zu Passiren; der Jugeudköuig hielt sie an, ließ sich
den ganzen Hergang erzählen, dann gab er Jedem je einen
Klumpen Thon „sie sollten daraus den Edelstein formen".
Da machte nun Kläger und Beklagter eine und dieselbe
Form, die der Zeugen aber waren unter sich und von der
Form der anderen ganz verschieden; darüber verwirrt,
gestanden sie ihr falsches Zengniß ein. — Ein andermal
hatte ein böfer Dämon die Gestalt eines schon seit Jahren
abwesenden Sohnes angenommen und die Eltern bethört;
da kam der wahre Sohn zurück, und da der Dämou ihm
nicht wich, sollte der König über die Echtheit der Beiden
entscheiden. Er forderte sie ans, von ihren Vorfahren zn
erzählen; der wahre Sohn wußte nur alle Details seiner
Eltern, der Dämon dagegen auch diejenigen der Großeltern
und früheren Vorfahren, deswegen sprach der König aus,
dieser sei als echter Sohn zu erachten. Der Jugendkönig
aber verlangte folgende Probe: „Wer sich in den neben
mir stehenden Krug verkriechen könne, der sei der wahre
Sohn." Eiligst löste sich der Dämon in Dunst auf, und
als dieser vollkommen in den Krug sich geseukt hatte, ver-
schloß er ihn, und König Bhodscha, dem er ihn übergab,
verbrannte Krug und Dämon. Denselben Erzählungen
begegnen wir in der Märchensammlung von 1091 Nacht.
Die erste derselben erinnert an die Geschichte von
Harun al Raschid, wo ein Knabe eine Unterschlagung von
anvertrauten Geldern ausdeckte: Eiu Kaufmann gab,
bevor er auf Reisen ging, einem Freunde einen Topf, an-
geblich mit Oliven gefüllt, der untere Theil enthielt jedoch
Gold; der Freund bedurfte später Geld, nahm das Gold
und that statt dessen Oliven in den Topf. Da kehrte der
Eigenthümer zurück; der Depositar leugnete deu Topf
geöffnet zn habeu, doch der Knabe befahl die Oliven zu
kosten, und da zeigte sich denn, daß ein Theil unmöglich so
lange darin gelegen habe, als der Kaufmann abwesend war.
Noch größere Analogien mit einer Erzählung aus
1901 Nacht gibt die Einsperrung eines Dämons in ein
kleines Gefäß durch Auflösung in Dunst, einzelne Details
scheinen in beiden Recensionen fast identisch.
König Bhodscha dachte nun: „Wäre es ein und derselbe
Knabe, der eine solche Klugheit entfaltet, so wäre es ein
Bodhisattva (d. i. Einer der, ursprünglich Mensch, durch
Energie und eifrige Befolgung der Buddhagebote der Er-
kenntniß des Buddha schon fast gleichgekommen ist und
feine Mitmenschen durch Lehre und Beispiel zu richtiger
That anleitet), da es aber an jedem Tage ein anderer ist,
so muß die Ursache im Hügel liegen; vielleicht ist der
Gipfel des Hügels der Sitz von Bodhisattvas gewesen, die
deu belebten Wesen die Lehre vorgetragen haben, oder es
befindet sich im Innern eine Kostbarkeit, die dem Menschen
Verstand verleiht." Bein: Oefsnen fand man den Thron;
die 32 Figuren sind aus 32 Stufen vertheilt. Als nun der
König ihn besteigen will, „da zieht ihn eine der Figuren
vou hinten an: Saume des Gewandes, die zweite stößt ihn
E. Schlag intweit: Die Märchen über
vor die Brust, eine dritte lacht höhnisch und eine vierte
redet ihn an" und erzählt ihm die uns bereits bekannte
Geschichte vom Ursprünge des Thrones.
Dann folgt die Erzählung von der Geburt und der
Jugendzeit VikramKditya's. Die unfruchtbare Gattiu des
Königs Gandharva wurde durch den Genuß vou Erde in
Rüböl gekocht, die Gabe eiues Einsiedlers, gesegneten
Leibes; aber sie hatte nicht das ganze Erdengericht genossen,
den Rest hatte eine neugierige Sklavin gegessen, beide
genasen eiues Sohnes. Ein Einsiedler, bei der Geburt
des Königssohnes um dessen Znknnst besragt, sagte: „er
werde, wenn herangewachsen, 1500 Wagen voll Salz zu
seiner Nahrung uöthig haben"; man schloß daraus, der
Sohu sei die Brut eines Dämons und setzt ihn aus. Doch
nun erklärt das Kiud deu Trägern, wie dies gemeint ist:
„er werde Herr des Himmels und der Erde werden; wenn
er dann alle Götter und Bodhisattvas zu einem Religions-
mahle vereinigen wolle, würden selbst 19,000 Wagen Salz
zu ihrer Bewirthnng nicht ausreichen." Man holt ihn
nun wieder zurück und erzieht ihn als König.
Ueber seine Thaten berichtet eine andere Figur. Seiueu
Vater verliert er schou bald darauf durch die Begehrlichkeit
der Gemahliu desselben. Als er nämlich einst gegen die
Dämonen zu Felde ziehen mußte, ließ er seinen irdischen
Leib bei der Statue eiues Gottes zurück und flog mit seiner
göttergleichen Seele empor. Die jüngere Gemahlin trat
zur ältern und machte ihr den Vorschlag, den znrückgeblie-
benen Leichnam zu verbrennen, damit der König, wenn er
zurückkehre, gezwungen wäre, in seiner schönen Lichtgestalt
bei ihnen zu verbleiben. Die ältere Gemahlin verweist
ihr ihr thörichtesBeginnen, die jüngere aber bringt es den-
noch zur Ausführung; als nun der König zurückkehrt und
seinen menschlichen Leib nicht mehr findet, mußte er in
Nirvana eingehen, d. i. sterben. Die Dämonen benützen
den Moment der Herrscherlosigkeit, und die Königin flüchtet
sich mit Vikramkditya zu einem befreundeten Fürsten, „dort
lernte er Weisheit von den Weisen, Stehlen von den
Dieben, und Handel von den Kaufleuten"; von diesen
dreierlei Fähigkeiten gab der Königssohn schon bald schöne
Proben. Folgendes erzählt eine Figur.
Während der Reise zu dem befreundeten Könige kam
die Sklavin, welche von dem Rüböl-Erdengericht gegessen
hatte, mit einem Sohne nieder; man ließ ihn in einer
Wolfshöhle zurück, Wölfe säugten ihn groß. In solcher
Gesellschaft fanden ihn später Kailfleute und nahmen ihn
mit sich. Als sie au das Ufer eines großen Flusses kamen,
heulten Wölfe und theilten ihren: Pflegkinde mit, daß
Nachts der Strom austreten werde, sie sollten sich deswegen
zurückziehen; man that so und alle wurden gerettet. In
der nächsten Nacht heulteu wieder Wölfe und berichteten
ihrem Pfleglinge, Nachts würde ein Leichnam stromabwärts
schwimmen, in dessen rechter Lende sich der Edelstein Tschin-
tamani befände; wer sich in den Besitz dieses Edelsteins
setzte, würde Herrscher der vier Weltgegenden; es lauere
aber ein Dieb, fügten sie bei. Damit war Vikramkditya
gemeint, der Alles gehört hatte. Er fing den Leichnam
auf, schnitt ihm den Edelstein ans, dann beschloß er sich
auch in den Besitz des Wolfsgünstlings zu setzen, „der kein
gewöhnlicher Mensch sein könne". Er verkleidete sich als
Kaufmann, feilschte mit den Kaufleuten, mengte dabei von
seinen Waaren unter die ihrigen und verklagte sie dann
beim Könige als Diebe; um ihr Leben zu erhalten, mußteu
sie ihren bisherigen Beschützer ausliefern, der sich dauu als
Sohn der Sklavin ausweist.
Es folgeu jetzt mehre Erzählungen von der Heroen-
kraft, der Opferfreudigkeit und dem Mitleid Vikramä-
l- den Thron des Königs Vikramaditya?c. 275
ditya's; feine Thaten beginnt er mit Verjagung der bösen
Dämonen aus seinem väterlichen Erbe. Nicht ohne In-
teresse ist der Ausspruch einer Däktui (gütiger weiblicher
Genien), die sich der junge König zur Gemahlin erwirbt,
indem er sie zum Sprecheu bringt. In ihrer Gegenwart
erzählt der König eine Geschichte von vier Knaben: der
eine formte aus Baumzweigen die Umrisse einer Jungfrau,
der zweite gab ihr Farbe, der dritte charakteristische Züge,
der vierte hauchte ihr die Seele eiu. Nun stritten die
Knaben um die Jungfrau: Wessen soll sie sein? Da ant-
werteten die Begleiter des Königs: „Demjenigen, der den
Anfang gemacht hat." Da entrüstet sich die Dälini und
spricht: „Wer den Anfang gemacht, ist der Vater; wer ihr
Farbe gab, das ist die Mutter; wer ihr charakteristische
Züge gab, das ist der Priester; wer ihr die Seele ein-
hauchte, das ist der Mann, diesem gehört sie."
In einer andern Sammlung, dem Vetala nantscha
vincati „25 Erzählungen eines Todtengeistes", wird dies so
erzählt: Vater, Mutter und Bruder hätten ihre Tochter
(oder Schwester) je einem Brahmanen versprochen; der eine
dieser drei Brahmanen sei Meister in Weisheit gewesen, der
andere in derBogenschießkunst, der dritte habe einen Wagen
von wunderbarer Schnelligkeit besessen. Während sie
darüber stritten, wem das Mädchen zur Frau zufalle,
wurde sie vou einem Dänion entführt; da berechnete der
weise Brahmane den Wohnort des Dämon, der schieß-
kundige tödtete ihn mit seinem weittreffenden Pfeile, der
dritte endlich setzte sich auf seineu Wagen und brachte das
Mädchen zur Stelle. Nun entstand wieder Streit über
den Besitz, er wurde dem Weisen zugesprochen.
Den Schluß der Sammlung bildet eine schöne Erzäh-
lung vom weisen Papagei. Mit 70 Gefährten, die er um-
sonst gewarnt hatte, das gewohnte Nachtlager zu ändern, da
ein Vogelfänger ihnen nachstelle, geräth er aus einen Felsen
in die Schlingen. Nun räth er, sich todt zu stellen, denn
wenn der Vogelfänger sie aus den Schlingen löse, werde er
sie vom Felsen hinabwerfen, wenn sie dann Alle unten
seien, flögen sie auf. So geschieht es auch; schon waren
70 ausgelöst und nur noch der weise Papagei hing in der
Schlinge, da fiel dem Fänger sein Schleifstein zu Boden,
die 70 Papageieu, durch den Ton getäuscht, halten das
Geräusch für das Niederfallen des einundsiebzigsten, und
fliegen auf. Den zurückgebliebenen Papagei will er zuerst
aus Rache kochen, dann aber verkauft er ihn sehr thener an
einen reichen Mann. Als dieser einmal verreiste, bat er
den Papagei, darauf zu achten, daß keine seiner Frauen
seine Habe verthue. Sein Mißtrauen war nicht unge-
gründet, denn bald nach seiner Abreise will eine Frau
geschmückt zu ihrem Liebsten eilen. Da erzählt er ihr
folgende Geschichte: Eiu Köuig habe einst einen grausamen
Befehl erlassen: wer feilte Tochter erblicke, dem werden die
Augen ausgestochen, wer in den Palast komme, verliere
seine Beine. Da bewilligte er ihr, einmal durch die Stadt
zu fahren; alle Männer schlössen sich ängstlich ein, nur eiu
einziger betrachtete die Königstochter vom Söller seines
Hauses. Die Zeichen, welche diese ihm machte, erklärte seine
Gattin ihrem iu Liebesangelegenheiten offenbar sehr blöden
Manne, und im Schloßgarten finden sich Beide; man
ergreift sie aber und wirft sie in einen gemeinschaftlichen
Kerker. Durch einen Edelstein, den die vorsorgliche Gattin
ihm mitgegeben hatte, gibt er ihr Kunde; sie dringt als
Almosenspenderin zu ihm, wechselt mit der Königstochter
die Kleider und diese entflieht glücklich. Dem Ehepaare
kann man nichts anhaben. Doch noch ist nicht alle Gefahr
vorüber. Da der Aufseher die Königstochter bestimmt
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27 G
Kiesselbach: Von Bremen nach Caraccas ic.
erkannt hatte, sollte sie über Gerstenkörnern den Reinigungs-
eid leisten — ein noch jetzt angewendetes Gottesurtheil —;
wenn diese beim Sprechen darüber unbewegt blieben, solle
dieses als Zeichen der Unschuld gelten. Dies sollte ösfent-
lich geschehen. Die kluge Gattin verkleidet ihren Mann
als Geistesschwachen, Alles weicht ihm scheu aus, und er
dringt bis vor die Königstochter; diese erkennt ihn und
spricht scherzend, über die Gerstenkörner gebeugt, daß sie
nur diesen liebe. Da dies die Wahrheit ist, blieben die
Gerstenkörner unbewegt. „Bist du (fuhr der Papagei
fort) Deinem Manne so ergeben, wie diese Frau, dann
gehe von Hanse"; die so Angesprochene blieb zu Hause. —■
Papageien als Wächter der Hausehre sind in indischen Er-
Zählungen oft gerühmt.
Das Mitgetheilte möge genügen, um zu zeigeu, wie
überraschend sich Erzählungen verändern können, wenn sie
zu Völkern anderer Sitten ltitb anderer Kultur gebracht
werden; unzweifelhaft hat die Sage von Vikramkditya's
Thron zu der mongolischen Sammlung den ersten Anstoß
gegeben, denn die Grundidee ist deutlich darin bewahrt,
aber die einzelnen Erzählungen sind fast bis zur Unkennt-
lichkeit umgearbeitet, oder selbst durch ganz neue ersetzt.
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Von Bremen nach Caraccas und der deutschen Niederlassung Tovar in Venezuela.
Von Wilhelm Kiesselbach.
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Es war eint 27. Oktober 18 .., als das Schiff „Her-
kules" in Bremerhafen die Anker lichtete, um bei gün-
stigem Winde die Weser hinunter zu gleiten. Ein Gottes-
fegen der Umstehenden am Strande begleitete es auf die
Reise; ich war mit einem heitern Kapitän der einzige
Passagier an Bord. Da konnte es denn an behaglicher
Bequemlichkeit nicht fehlen. Um 8 Uhr Morgens gingen
wir dann schon bei dem bremischen Feuerthurm aus dem
Mellnmer Saude vorbei, und bald waren wir bei der
Kreuztouue bereits in See. Immer aber, so oft ich die
wogende, grüne, schäumende Fläche des Meeres sehe, macht
sie auf mich einen erhebenden Eindruck. Nie nämlich bin
ich auf allen meinen Seereisen der Seekrankheit verfallen.
Es gibt ja ein sehr einfaches Mittel, derselben gründlich
vorzubeugen. Denn wenn auch der Schwiudel im Allge-
meinen dadurch entsteht, daß dem Auge alle gewohuteu
festen Anhalte fehlen, fo bietet doch die Grenzlinie zwischen
Himmel und Erde, die sogenannte Kimme, eine sichere
Linie dar, an der man die regelmäßige Bewegung des
Schiffes absolut messen kann. Außerdem hat man auf
der See durch ein Nachgeben mit den Knien, den Be-
wegungeu des Schiffes gemäß, deu Magert im Gleichgewicht
zu halten; denn nur durch das Hin- und Herschwanken
desselben entsteht die Uebelkeit.
Um acht Uhr waren wir in der offenen grünen See, der
Ostwind blähte alle Segel voll, selbst die Leefegel zogen
an, und der Tag ging in der nämlichen Weife hin. In
der Nacht dagegen zeigte sich ein helles Nordlicht am
Himmel, das einen goldenen magischen Schein auf die
Wogen warf. Auch die nächsten Tage verflossen in der-
selben Art. Bald jedoch erhob sich aus Südwesten ein
starker Sturm; die Segel wurden bis auf die Sturmsegel
alle eingerefft, das Schiff tanzte lebhaft auf den Wellen.
Eines Mittags, als wir gerade in der Kajüte bei Tische
saßen, kam der aufwartende Junge mit der Suppenschüssel
herunter, um sie auszusetzen; ein Hund wiegte neben ihm
hin und her. Plötzlich warf ein starker Wellenschlag das
Schiff heftig auf die Seite, Junge und Hund fielen beide
vor deu Tifch, der, da seine Beine abbrachen, an der Seite
einen Steuermann rücklings umwarf, und Alles stürzte
nun zum hohen Ergötzen der Uebrigen in die Ecke, um dort
gleichsam „zu Salat verarbeitet zu werden". Acht Tage
dauerte der starke Südweststurin in der Nordsee; erst
am neunten Tag setzte er nach Osten um. Nun konnten
wohl fast zweihundert Schiffe, die alle inzwischen in der
Nordsee festgehalten waren, zusammen in den Kanal ein-
laufen. Das gab dann auf den schäumenden Wogen ein
gar schönes Seebild. Die hunderte von weißen Segeln,
die bunten Flaggen erschienen anf dem Hintergrunde der
hohen Kreidefelsen von Dover, die von einer über der
französischen Küste untergehenden Oktobersonne violett
beleuchtet waren, wie tanzende Geister, und von den Kreide-
felfen, diesem stolzen Sockel der englischen Seemacht, grüßte
das Schloß von Dover herunter, dessen eine glänzende
Kanone die stolze Inschrift führt:
„Load me well and make me clean,
1 send my Lall for Calais green !"
Abends zündete man dann auf der großen Weltstraße
die Fenerthürme der englischen und französischen Küste als
weit hinausstrahlende Nachtlaternen an; wir konnten von
dieser Stelle sechs sehen.
Als bald nachher unser Schiff bei dem Schlachtfelde von
Hastings vorbei kam, ballten sich auf der Ebeue in der
bleichen Mondbelenchtnng so gewaltige Wolkenmassen gegen
einander aus, als ob dort die alteu Normannenhelden die
wilde Normauueuschlacht gegen König Harold noch einmal
durchkämpfen wollten.
War nun in der Nordsee und im britischen Kanäle die
Farbe des Meerwassers durchweg grüugelb, wie wenn der
Grund daraus durchscheine, so wurde sie in der Biskayischen
See durchweg schwarz und erst im offenen, grundlos tiefen
Ocean von einem Blau, reiner und klarer als die Bläue
des Mittagshimmels. Denn die Bläue ist ja in der
unendlichen Weite des Himmels wie bei dem tiefen Meere
nur der natürliche komplementäre Reflex des gelben
Sonnenlichts bei einem völlig farblosen Medium. Bald
kamen wir dann auch, nunmehr bestrichen vom regelmäßigen
Ostpassat, in die wärmeren Gegenden. Man konnte bereits
in leichten Sommerkleidern auf Deck sitzen, und täglich
wurde Morgens in einer Schiffstonne ein stärkendes See-
wafferbad genommen. Eigentümlich lagerten sich aber
in diesen Gegenden die Fäden des Seetangs wie Meridiane
über die Wasserfläche, und Abends spielte das Seeleuchten
mit weißem Feuer um den Bug des Schiffes und ließ
einen langen leuchtenden Streifen in dem hintern Fahr-
iii
st
II
W. Kiesselba ch: Von
Wasser zurück; ja das Feuer ward allinälig so hell, daß es
förmlich dunkle Schatteu aus die Weißen Segel warf.
Man soll doch ja nicht etwa glauben, daß es auf
dem Oeeane langweilig fei, wenn man auch nur als ein-
ziger Passagier allem mit dem Kapitän reist. Da thut
man Matrofendienste mit, dreht aus aufgepflückten Stricken
neue Taue, steht an: Steuer, mißt die Sonnenhöhe, malt
die Neelings an. Ein netter Zeitvertreib ist dann auch
der Fischfang, fei es mit der Angel oder mit der Harpune.
Die sogenannten Schweinsische und Delphine schwimmen
gewöhnlich in großen Heerden neben dem Schiffe her, die
sich dann leicht fangen lassen. Ganz wonnig ferner sind
auch die warmen Nächte iu der schaukelnden, zwischen zwei
Masten aufgeknüpften Hängematte. Namentlich schön
erscheint der helle Glanz des Sternenhimmels. Auf dem
17. Grade nördlicher Breite zeigte sich bereits das südliche
Kreuz, aus vier Sternen zweiter Größe gebildet, von denen
Dante in der göttlichen Komödie sagt, daß sie erst, der Er-
löfung wegen, am Himmel erschienen feien, nachdem die
ersten Menschen entstanden wären. Immer blauer wird
nun das Meer, immer wonniger die würzige Tropenluft.
Schon sind wir nach einer Reise von 49 Tagen aus der
Höhe der ersten westindischen Inseln; Barbados grüßt mit
seinen lockenden grünen Palmen freundlich herüber; dann
geht es zwischen den nicht minder schönen Eilanden Vincent
und Santa Lucia hindurch, um endlich der venezuelanischen
Hochküste bei dem Hafen von La Guayra zuznsegeln.
Am 54. Tage unserer Reise sagte mir Morgens der
Kapitän, wir würden in wenigen Stuudeu das Festland iu
Sicht haben; der Wunsch, endlich den Fuß auf die andere
Seite der Erde zu setzen, regte mich förmlich auf. Aber
noch deckte ciu dichter Morgeuuebel die hohe Bergwand
zur Linken, und man konnte nichts vom Lande fehen.
Erst als die Sonne höher stieg, zeigte sich unten ain
Strande der kleine Hafen La Gnayra; der Nebel ver-
flog, und es stieg eine ungeheuere hohe Bergwand steil vom
Wasser auf, fo daß der Kops sich weit zurück lehnen
mußte, um die Spitze der Höhen zu gewahren. Unmittel-
bar unten dehnten sich Palmenwälder aus, dann kam ein
Strich von Farren, ragenden Cactnspslanzen, bis endlich
der Kamm der hohen Spitze nur noch mit Gras bedeckt
war. Unten am Straude spielten die Wellen in zehn
langen weißschäumenden Reihen an das Ufer hinan, wäh-
rend rechts und links von La Guayra die Dörfer Macuto
und Maigurtia in malerischen Trümmern von dem
furchtbaren Erdbeben von Caraccas her, bedeckt mit frischen
grünen Bäumen, lagen. Dazu zeigten große Spalten in
der Bergwand die ungeheuere Gewalt jener Erderschütte-
ruug an.
Aber unter dem hohen Bergrücken von La Gnayra
war es viel zu heiß, um dort lange zu verweilen. Ein
guter Reitweg führte mich daher bald über deu 7000 Fuß
hohen Kamm der Silla vou Caraccas. Oben fütterte
ich mein Pferd mit Malojoblättern vor einer Posada, in
welcher im Jahre 1805 Alexander von Humboldt
bereits einige Ereolen sich über die kommende Lossagung
Eolnmbia's von der spanischen Herrschaft besprechen hörte.
Vor der Thüre des Gasthauses stand ein kleiner nackter
Negerjunge von höchstens einem Jahre, er rauchte aber
schon ganz lustig seine Cigarre, während er in der andern
Hand ein frisches Zuckerrohr hielt und benagte, das den
farbigen Kindern die bösen Leibeswürmer vertreiben soll.
Während aber die nördliche Seite der hohen Cordilleren-
wand mit dem üppigsten Laube bis oben hinauf bedeckt ist,
zeigt sich die südliche Seite ganz nackt und kahl. Auch hier
Bremen nach Caraccas ic. 277
sieht man wieder die großen Risse, die das furchtbare Erd-
beben vom Jahre 1812 iu die Felseu gesprengt hat.
Unten im Thale liegt dann Caraccas, die Residenz-
stadt von Venezuela, die ungefähr 35,900 Bewohner hatte.
Sie ist aber ebenfalls zur Hälfte mit Trümmern von jenem
Erdbeben her bedeckt, welche von malerischen Palmeil über-
schattet werden. Damals soll auch eine ganze Kaserne
mit den darin aufgestellten Soldaten von einem tief klaffen-
den Abgrund verschlungen worden sein. Caraccas nun ist
weit und breit wegen seiner schönen Frauen berühmt, die
sich dort in sechsfacher (?) Ueberzahl im Vergleich zu den
Männern befinden sollen! Namentlich graziös sind sie beim
Tanzen, wenn sie, die üppigen Gestalten, sich in der Cn-
bana, Cachncha und dem Bolero wiegen. Sie haben dabei
Füße so klein und fein, daß man sie mit einer Hand voll-
ständig zudecken kann.
Es herrschen aber in Caraccas zwischen den beiden
Geschlechtern ganz eigenthümliche Sitten. Im Anfange
jedes neuen Jahres wählt sich nämlich eine jede junge
Seüora einen Kavalier als Comp adre, während sie
die Comadre bleibt. Derselbe hat dann das ganze Jahr
hindurch bei seiner Dame Kavalierdienste zu thun. Er
begleitet sie zur Kirche, um dort mit ihr zu beteu, er geht
mit ihr auf die Bälle und auf die Morgenspaziergänge;
mißbraucht werdeu jedoch diefe poetischen Jugendverhält-
nifse fast nie; sie stehen unter dem Schutze der Gesellschaft.
Namentlich wonnig sind in Caraccas die täglichen
Morgenritte. Man hebt dabei mit der Hand, womit man
den kleinen Fuß der Dame erfaßt und sie dann auf das
eigene Knie bringt, die leichte Gestalt rasch aufs Pferd —
dann geht es im Galopp durch die würzig dufteudeu
Palmenwälder weiter. Die Pferde laufen allemal im foge-
nannten Paßtrott, der bei den meisten derselben oft so
weich ist, daß man ihnen ein volles Glas auf die Croupe
fetzen kann, woraus kein Tropfen verschüttet wird. Sehr
angenehm ist es dann auch, wenn man nach einem scharfen,
erhitzenden Morgenritt sich in dem kühlen Palmenwaldc
mit der Machete (Haumesser) eine noch unreife Cocusnuß
abhaut und die Weiße Milch des Kernes trinkt. Nach dein
Morgenritte wird gewöhnlich von den'Damen, die ihres
weißen Teints wegen nie an die Sonne kommen, das Früh-
stück eingenommen, darauf ein warmes „Bad bestiegen",
und schließlich gehen sie nach einem in der schaukelnden
Hängematte verträumten Tage Abends wieder zum ge-
wohnten Tauze.
Während meiner Anwesenheit zu Caraccas kam der
neue Präsident Jose Tadeo Monagas von La Guayra her-
unter, um in der Kathedrale den Eid auf die Verfassung
abzulegen. Ich fetzte dabei, als die Ceremonie vorüber
war, ohne Arg in der Kirche meinen Hnt auf, wurde aber
von einem neben mir stehenden Geistlichen bedeutet, daß
sich das nicht schicke. Um aber meinen Fehltritt wieder gut
zu machen, lud ich sofort deu strengen Mann auf ein Glas
Mintjnlip in der benachbarten Posada ein, was sich dann
für ihn wohl schickte. Abends war zu Ehren des neuen
Präsidenten auf einem öffentlichen Platz eine Art Stier-
gefecht; aber die Thiere wurden nicht mit der Degenspitze
erstochen, sondern man kam ihnen zu Pferde im Galopp
von hinten bei, um sie in einer scharfen Wendung beim
Schwänze zusammen zu reißen, worin namentlich der vorige
Präsident, der alte Llanero Paez, sich auszeichnete.
Die Stadt Caraccas ist nach Art der amerikanischen
Städte in lauter geraden sich rechtwinklig schneidenden
Straßen gebaut und besteht durchweg aus einstöckigen
Häusern, weil die häufigen Erdbeben einen schweren Ober-
bau sehr gefährlich machen. Dadurch wachsen dann die
278
Kiesselb ach: Von Bremen nach Caraccas jc.
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meisten Wohnungen nnt Raum zu gewinnen, natürlich sehr
in die Breite; gewöhnlich sind die reicheren Häuser in
Quadraten, mit einem offenen Hos in der Mitte, aufgebaut,
zu welchem unter einem Corridor die Thören der Zimmer
ausmünden. Der Hof enthält dann wohl einen Spring-
brunnen und kühlende Palmen, und dient mit als Gesell-
schastszinimer. Künstlerischen Schmuck erblickt man in-
dessen weder an noch in den Häusern; selbst die besten
Zimmer weisen keine Statuen oder Gemälde auf. Dagegen
sind sie durchgängig mit schönen europäischen Möbeln ver-
sehen. Bedeukt man aber, daß dieselben, weil damals noch
kein Fahrweg vou La Guayra uach Caraccas führte, aus
Maulthiereu über das hohe Gebirge gebracht werden
mußten, so läßt sich leicht abnehmen, was dabei an Trans-
portkostcn für die hohen, eine ganze Wand bedeckenden
Spiegel auflaufen mochte.
Die Geselligkeit in diesen sonst ziemlich leeren
Gemächern ist übrigens sehr graziöser Art; man wird
nicht eingeladen, sondern man macht Gesellschaft, indem
man sich mit seinen Freunden verabredet, die Dame vom
Hanse, die Abeuds stets offenen Salon hält, zu besuchen;
und da die Mittagstafel allgemein um 5 Uhr abgehalten
wird, so findet bei den späteren Besuchen keine eigentliche
Bewirthung mehr statt. Namentlich kommt kein Neger
in den Saal, indem die Herren selber den Damen die küh-
lenden Getränke reichen, und regelmäßig wird später nach
dein Clavier getanzt, bis zuletzt beim Abschiednehmen die
Damen sich herzlich umarmen und küssen, ohne indessen
dabei die umstehenden Herren mit gleichen Gottesgaben
weiter zu berücksichtigen.
Dabei herrscht übrigens in dem geselligen Verkehre
dieser Creolen eine sehr überschwengliche, blumenreiche
Sprache. Wie der gemeine Mann seinen Esel „Maul-
thier", sein Maulthier „Pferd" und sein Pferd „Mensch",
ombre, nennt, so werden auch iu deu Gesellsckafts-
beziehuugeu die verbindlichsten Complimente vierspännig
vorgefahren; selbst der kleinste Knabe erhält sogar von
seinem Vater die Anrede „senor", und wehe demjenigen,
der den Kleinen etwa Muchacho ueuueu wollte. Die selt-
samste Redensart aber, die in ganz Venezuela jeden Augen-
blick vorkommt, ist das „Völlig zu Ihrer Ver-
füguixg!" — muy ä su disposicion — obgleich es lU
Wirklichkeit eigentlich nichts sagen will. Wenn z. 23-
Jemand die Uhr, oder sonst einen Schmuck des Andern
lobt, so gebietet diesen: die venezuelanische Höflichkeit, ihm
alsbald den beregten Gegenstand „ganz zu seiner Ver-
fügung" zu stellen, was dann natürlicher Weise unter den
Eingebornen selber gar keiue weiteren Folgen hat. Fremde
dagegen nahmen die Sache oft ernsthaft. So lobte einst
auf Maroneire, der Haeienda des alteu Präsidenten
Jof6 Antonio Pasz, ein Engländer ein sehr schönes Euba-
Pferd; „es steht ganz zu Ihrer Verfügung", fagte der
General mit einer entsprechenden Handbewegung; John
Bull aber stieg alsbald iu deu Sattel, bedankte sich und
jagte zum großen Erstaunen seines Wirthes davon.
Ich selber wurde einmal durch diese Redensart in eine
sehr eigentümliche Lage versetzt. Bei den heißen Gewässern
von Jrincheras lernte ich einen Richter der ersten Instanz
kennen, mit dem ich dann nach Valencia am Taeurigua
ritt, wo er mich Abends in sein Hans einführte. Seine
Tochter, ein hübsches junges Mädchen, spielte sehr schön
Clavier, und als ich ihr darüber einige Artigkeiten sagte,
nahm sie der Vater bei der Hand mit den Worten: „Senor,
sie steht ganz zu Ihrer VerfügungV — was ich mir in-
dessen nur mit dem „Gehorsamster Diener!" verdeutschte.
So angenehm es sich indessen auch in Earaeeas lebt,
es tritt doch uns manchmal auf den Straßen eine grausige
Erscheinung entgegen, die das Blut geradezu erstarren
macht. Es gibt nämlich in der Stadt viele Menschen, die
mit der Lazaruskrankheit oder der sogenannten Elephan-
tiasis behaftet sind; letztere Bezeichnung rührt wohl daher,
daß deu Kranken alle Glieder wie Elephantenbeine an-
schwellen. Ein Franzose, Antonie, forderte mich eines
Tages anf, mit ihm nach dem Lazarinerviertel zureiten,
das, abgetrennt von den übrigen Häusern, seitwärts am
Berge liegt. Da saßen nun vor den Thören eine Menge
Personen beiderlei Geschlechts mit dick angeschwollenen
Köpfen und Gliedern, meistens auch mit verquollenen
Augen, abgefallenen Fingern und Zehen und einem völlig
irrsinnigen Ausdrucke iu dem verzogenen Gesichte. Mein
Franzose meinte nun zwar, dieses Leiden rühre von der
übermäßigen Schweinefleischnahrung her, und was die
Trichinen bedeuten, wissen auch wir; wie denn deßwegen
Moses den Inden das Schweinefleisch aus sanitätischen
Rücksichten streng verboten hat. Allein in Caraccas kommt
doch die Elephantiasis nicht blos in den unteren Volksklassen
vor, sie findet sich auch iu deu wohlhabenden Familien und
erbt da oft vom Großvater auf die Enkel mit Ueber-
springung der Eltern über. Mir wurde später eiu reiches
Haus gezeigt, in welchem alle Töchter mit dem 15. Jahre
der Lazarinerkrankheit trotz der größten Vorsicht verfallen
waren; die Jüngste, eine sehr liebliche Erscheinung, blieb
damals noch davon verschont, ihr Schicksal staud ihr aber
auch wohl unabwendbar bevor.
Wenn man jedoch sonst auf der Straße viele barfüßig
umhergehende Menschen ohne Zehen sieht, so rührt das
nicht vou der Lazaruskraukheit, sondern von einem kleinen,
weißen Erdfloh, dem Nigna, her, welcher seine Eier in das
Fleisch der Zehen steckt und sie so in Fänlniß bringt. Mir
hatte schou ein deutscher Arzt iu La Guayra deswegeu
Höllenstein auf die Reise mitgegeben, indem er mir sagte,
die Nignaeier zögen die Einwohner mit der Stecknadel
heraus und streuten dann Cigarrenasche in die Wunde; das
helfe aber nicht immer sicher. So brannte ich denn, als
ich eines Morgens ein solches Eiernest an meinem Fuße
entdeckte, dasselbe einfach mit Höllenstein aus — die Wunde
war in zwei Tagen wieder geheilt. Gegen die tausende
von Mosquitos, die den Menschen Nachts so unerträglich
quälen, Hilst dagegen nur ein über das Bett gespanntes
Haarnetz und inwendig iu der Umhüllung starker Cigarren-
dampf.
Ist die nach Süden gerichtete Seite des hohen Gebirgs-
znges, welcher sich zwischen der Küste und dem weiten Thale
von Caraccas erhebt, fast nur baumlos, zeigt sie eigentlich
nur kahle, durch tiefe Spalten zerrissene Felsmassen, wäh-
rend die Nordseite mit der üppigsten Vegetation bedeckt ist,
so bieten dagegen wieder die anderen Berge an der Süd-
grenze der ungefähr von Osten nach Westen sich erstrecken-
den Thalmulde einen ebenso lockenden Pflanzenwuchs dar,
weil die Abhänge, auf denen die Wälder stehen, ebenfalls
nach Norden gerichtet sind. Den Fremden aber, der sich
nach und nach mit dem Leben der Hauptstadt etwas mehr
vertraut gemacht hat, zieht es dann auch bald hinaus iu
die eigentliche Tropenwelt; er will, so weit Zeit und Kräfte
es erlauben, zugleich etwas von der südlichen Natur kennen
lernen. Nur soll er, namentlich so lange er die Sprache
des Landes nicht wenigstens einigermaßen versteht und
spricht, oder sich uoch nicht in die ihm immerhin anfangs
ja ganz unbekannten Sitten der Dörferbevölkerung etwas
eingelebt hat, nicht allein in die Weite hinausziehen. Denn
die örtliche Polizei läßt in denjenigen romanischen Repu-
W. Kiesselbach: Von
bliken Südamerikas, die so häufig der Herrschaft auf-
rührerischer Banden verfallen, doch im Betreff der Person-
lichen Sicherheit für den des Landes unkundigen Reisenden
immerhin Einiges zu wünschen übrig.
So traf es sich denn glücklich, daß ein dänischer Arzt,
der in Caraccas lebte, ins Innere nach Valencia gerufen
wurde, uiu dort eine Operation vorzunehmen; ich schloß
mich ihm aber um so lieber an, als er zugleich beabsichtigte,
die deutsche Colouie Tovar zu besuchen, welche
zwischen der Küste und dem Tacaryguasee oben im Gebirge
inmitten eines großen Palmenwaldes liegt. Die Reise
übrigens, die bei dem Mangel aller gebahnten Heerstraßen
im Lande nur zu Pserde gemacht werden konnte, dünkte
auch deßwegen länger, weil man wegen der starken Mittags-
Hitze nur Morgens und Abends, namentlich auf der bäum-
losen Ebene im Thale des Tacaryguasees, draußen sein
konnte. Die erste Station derselben war aber zu Maraeon
auf einer Plantage der Kirche, welche das damals noch
dankbare Vaterland seinem hochverdienten rüstigen Präsi-
denten Jos« Antonio Pavz für eine geringe Summe iu
Pacht gegeben hatte. Der alte General war kurz vorher
aus dem Innern zurückgekommen, wo es galt, einen Neger-
aufstand zu unterdrücken. Damals sah ich ihn, als er von
einem stattlichen Reiterzuge im Triumph nach Caraccas
geführt wurde, in seiner glänzenden Generalsuniform;
hier auf der Hacieuda dagegen erschien er als ein einfacher
Farmer in der landesüblichen Leinwandkleidung, dem es
wohl Niemand ansehen mochte, daß er seinen Namen in die
Geschichte seines Vaterlandes eingeschrieben hatte und da-
mals schon zweimal Präsident einer Republik gewesen
war, welche den doppelten Umfang von Frankreich hat.
Sein Körper war klein, aber gedrungen, und trug einen
verhältnißmäßig großen Kopf mit einem sehr ernsten Aus-
druck in den Gesichtszügen; auch konnte weder der Ausdruck
seines Gesichts, noch die ganze Haltung seiner Figur die
indianische Abstammung verleugnen; wie denn ja
auch der spätere Präsident in seiner Jugend Llanero, d. h.
Ochsentreiber, auf den Pampas des Innern war.
Die Unterhaltung bei Tische, an welchem auch die
schwarze Comadre (haushaltende Lebensgefährtin) des
Generals saß, war natürlicher Weise nur politischer Art;
Pasz aber sprach dabei seine Ansicht aus, daß Venezuela
denselben Entwicklungsgang einschlagen werde, welchen die
nordamerikanische Union genommen habe. Seit jener
Zeit ist jedoch die unglückliche Republik von einer Reihe
von Aufständen, wie ehrgeizige Generäle sie anzettelten,
heimgesucht worden; und wenn mau die ökonomische und
gesellschaftliche Basis betrachtet, auf welcher sie ruht, den
vorwiegend indianischen Charakter ihrer Bevölkerung,
welcher sich von dem germanischen, im Ackerbauthume
fußenden Republikanismus sehr weseutlich unterscheidet,
nach seinem politischen Werthe bemißt, dann läßt sich den
meisten dieser südamerikanischen Freistaaten eben keine glück-
liche Zukunft voraussagen; sie laufen mehr oder weniger
Wohl alle Gefahr, schließlich bei einer Militärdespotie an-
zukommen, zumal da die starke Mischung ihrer Be-
völkernng mit Negerblut den Bildungsgrad der Be-
Bremen nach Caraccas x. 279
wohner, der ohnehin im heißen Klima geringer ist, stets
niedrig halten wird.
Aus dem Wege nach Victoria, der uns in seinem
weitern Verlauf zu der oben genannten deutschen Colonie
hinaufführen sollte, findet sich ein merkwürdiger Baum, der
eben seiner eigentümlichen Gestalt und Sehenswürdigkeit
wegen von weit her besucht wird. Der Stamm dieses
„grau Saman" ist freilich gar nicht hoch, aber wie er
unten an der Wurzel einen Umfang von 23 Fuß aufweist,
so theilt er sich ungefähr 49 Fuß über dem Erdboden nach
allen Seiten in gleich lauge Aeste, die seitwärts ausreichend
nun ein großes, dichtes, ganz regelmäßiges Dach bilden,
unter welchem mehre hundert Menschen Schutz finden
können. Seltsamer Weise aber hat dieser Riesenbaum ein
ganz kleines Blatt, ähnlich dem Blatt unserer Akazie,
doch trägt er, wie man uns sagte, weder Blüthen noch
Früchte.
Von dort aus ritten wir nach einem sehr guten Früh-
stücke, das hauptsächlich aus einem wohlschmeckenden
Bananenpfannknchen bestand, rechts von der ebenfalls ganz
kahlen Bergwand ungefähr 7000 Fuß hinauf. Oben aber
auf dem nunmehr waldigen Bergrücken nahm die Gegend
einen ganz deutschen Charakter an; dichte Sträuche, ganz
überdeckt mit reifen Brombeeren, wuchsen rechts und links,
und dazwischen zeigten sich eine Menge kleiner schwä-
bischen B au e r u k u a b e u in den bekannten blauen Zipfel-
mutzen und den kurzen Hofen. „Grüß Di Gott!" Das
klang denn gar seltsam nahe den Palmen. Ich langte mir
alsbald einen der Buben aufs Pferd, damit er uns den
Weg nach dein schon nahen Tovar zeige.
Dieses deutsche Dorf lag aber sehr anmuthig in dem
Urwalde auf dem Bergrücken; seine Bewohner, die noch
ganz die allemanische Sitte und Tracht beibehalten hatten,
bauen aus ihren Feldern hauptsächlich Kaffee und Zucker,
aus welchem letztern sie eine Art sehr stark berauschenden
Biers brauen. Wenn aber überall in den Häusern noch
gut Allemanisch erklang, so hatten doch bereits selbst die
alten Frauen statt Ja und Nein ihr si und no angenommen.
Auf der Kegelbahn dagegen ertönte noch auf gut Mark-
gräflerisch: „Herrgottdunnerwetter!"; als Kugel bedieute
man sich dort einiger abgeschliffenen Kokosnüsse, es ging
aber auch so. Die wohlhabende Bevölkerung hatte nament-
lich auch in ihrer Nähe sehr reichlich Geflügel, die söge-
nannteu Posis, wilde Truthühner, die trotz der Fasten-
zeit gegessen wurden. Abends wurde dann flott getanzt,
bis endlich der Müller sehr schwer betrunken vor der Thüre
lag, trotzdem daß er eigentlich das Ehrenamt eines Dorf-
schulzen bekleidete.
Von Tovar ritten wir dann nach der hübschen kleinen
Stadt Valencia, die am Tacaryguasee liegt, und von da
nach den heißen Gewässern von Jrincheras. Da gab es
denn ein ungemein wohlthnendes Bad. Denn neben der
kochend heißen Onelle stoß ein kalter Bach, so daß der
Badende sich, je nachdem er sich im Bassin höher hinauf
legt, ein warmes Bad bereiten kann. Nicht weit davon
liegt dann die zweite Hasenstadt, Puerto Cab ello, wo
viele Deutsche wohnen, und ein liebliches Felsenthal,
S. Esteban, zur Sommerfrische dient.
280
N. Rost: Die indoeuropäischen Sprachen.
Die indoeuropäischen Sprache n.
Von Rudolf Rost.
I.
II
Mitten in der tiefen Dunkelheit, welche die frühesten
Zeitalter der Welt verbirgt, unter so vielen Jrrthümern
und Märchen, mit welchen jedes Volk seine Wiege
geschmückt hat, ist die Sprache gleichsam ein Führer, der
uns, wenn auch nicht mit vollkommener Sicherheit, so doch
mit Wahrscheinlichkeit leitet, uns in der Menschenfamilie die
Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten bezeichnet, die Ge-
schlechter, welche aufeinander folgten, nachweist und die
Spuren ihres reißend schnellen Vorübergehens erkennbar
macht, welche so viele spätere Ereignisse unwiederbringlich
ausgelöscht zu haben schienen.
Was lehrt uns die Weltgeschichte von den ersten An-
siedlungen der Menschen, von ihren Verhältnissen und Zer-
theilungen, vou der Bildung und Zerstreuung der Völker-
stamme? Wer ist ihrem stillen Zuge über Wüsten, Flüsse
und Gebirge gefolgt und hat dieses große, sich fortschrei-
tend über den Erdboden ausbreitende Netz von Völkern
beobachtet?
Wo die Geschichte schweigt, welcher andere Führer
bleibt uns (von den Steindenkmälern?c. abgesehen), als
das vergleichende Sprachstudium, welches zeigt, wie
durch große Länderstrecken getrennte Volksstämme mit
einander verwandt und aus einem gemeinsamen Ur sitze
ausgezogen sind; — welches den Weg und die Richtung
alter Wanderungen offenbart; welches, den Entwicklungs-
momenten nachspürend, in der mehr oder minder verän-
derten Sprachgestaltung, in der Permanenz gewisser For-
men, oder in der bereits fortgeschrittenen Zertrümmerung
und Auflösung des Formensystems erkennt, welcher Volks-
stamm der einst im gemeinsamen Wohnsitze üblichen, gemein-
samen Sprache näher geblieben ist!
Zu dieser Art vou Untersuchungen über die ersten alter-
thümlichen Sprachzustände, in denen das Menschengeschlecht
im eigentlichen Sinne des Worts als ein lebendiges
Naturganze betrachtet wird, gibt die lange Kette der indo-
europäischen Sprachen, vom Ganges bis zum äußer-
sten Westende von Europa, vou Sicilien bis zum Nordcap,
vielfachen Anlaß. Jene Sprachen heißen auch iudo-
germanische, nach den zwei wichtigsten, die dazu ge-
hören.
Man kann die Sprachen dieses Stammes in zahlreiche
Unterabtheilungen bringen, welche in der Hauptsache durch
gemeinsame Lautgesetze gebildet werden. Neben den Ana-
logien in dem Bau der Sprache finden wir auch, was unter
allen Zeichen von Verwandtschaft das wichtigste ist, eine
fühlbare Ähnlichkeit in vielen von denjenigen Wörtern,
welche die Gedanken eines in den einfachsten Lebensverhält-
nissen befindlichen Volkes bezeichnen. Das Ursprüng-
liehe, Allen Gemeinsame, ist aber nicht überall
gleich vorhanden; je weiter wir nach Osten gehen, desto
mehr treffen wir es an, je weiter nach Westen, desto
weniger; daher steht auch die westlichste indoeuropäische
Sprache, das Keltische, dem indischen Urbilde am fernsten.
Den Ursitz der „Jndoeuropäer" aber haben wir in Central-
ästen, westlich von dem Gebirgsrücken des Belnrtag und
Mustag, nach dem Kaspischen Meere hin, zu suchen.
Zuerst wohl riß sich das Volk los, aus welchem durch
spätere Theilungen Slaven, Littauer, Deutsche hervor-
gingen, und trat seine Wanderung nach Westen an, über
deren Verlauf wir uichts Genaueres ermitteln können.
Vom zurückbleibenden Stocke schied sich später abermals ein
Theil aus, aus welchem durch nachmalige Theilung Griechen,
Albanesen, Jtaler und Kelten hervorgingen; auch dieses
Volk wanderte nach Westen und ergoß sich über den Süden
und Südwesten Europas und die kleinasiatische Küste. Der
Nest blieb uoch im Urlemde, theilte sich später, wahrscheinlich
ebenfalls erst auf der Wanderung nach Süden, in Jndier
und Perser, von denen die letzteren westlich, die anderen
östlich abgingen.
Der indoeuropäische Sprachstamm, der die vollkommen-
sten Sprachen in sich faßt, zerfällt also in acht Familien:
die indische, persische, griechische, lateinische,
slavische, lettische, germanische und keltische.
Die Völker, welche diese Sprache reden, sind Träger der
Civilisation und Kultur über deu ganzen Erdball, sie sind
activ, ihr Einfluß macht sich fühlbar in beiden Hemisphären.
Es hat sich auch niemals die höhere geistige Entwicklung in
anderen als indoeuropäischen Stämmen aus der östlichen
Erdhälfte dauernd bewegen können; dazu trägt viel der
Umstand bei, daß sie das einzige höher entwickelte Lebens-
element der semitischen Völker und deren tiefe Religio-
sttät in sich aufgenommen haben. An dem Mangel dieser
Seite ging Griechenland, ging Rom zu Grunde, und Ger-
maniens Söhne waren auserkoren, den seltenen Verein
von griechischer Genialität mit jüdischer Religiosität als
den Kern der neueren Zeit uud deren Samen zu nachfolgen-
den Völkern über den Erdball zu verbreiten.
Versucheu wir jetzt eine allgemeine Uebersicht des
Charakters der indoeuropäischen Sprachen zu geben, ver-
gessen wir aber zugleich auch nicht der unsterblichen Ver-
dienste zu gedenken, welche sich um die nähere Erforschung
jener Sprachen Männer wie Wilhelm v. Humboldt,
Grimm, Bopp, Schleicher und andere erworben
haben und uoch erwerben.
1) Die indische Sprachfamilie. An die Spitze
dieser Familie wie überhaupt aller indoeuropäischen Spra-
chen tritt das Sanskrit, die gemeinsame Quelle vieler
Sprachen Indiens. Aus grauester Vorzeit ist uns das
Sanskrit bekannt und in den Bedas erscheint uns neben
der ursprünglichen Welt, die sie uns erschlossen, eine nicht
minder sich als uralt doeumentircnde Sprache, welche vom
späteren, dem sogenannten klassischen Sanskrit in lautlicher,
grammatischer und lexikalischer Beziehung deutlich unter-
schieden ist. Das Sanskrit ist eine höchst verfeinerte und
gebildete Sprache, welche allmälig ausgebildet wurde, bis
sie in den klassischen Schriften vieler eleganten Dichter fest-
gestellt war; die meisten dieser Dichter sollen in dem Jahr-
huudert vor dein Beginn der christlichen Zeitrechnung
;.v.i
v,;/.
R. Rost: Die indc
geblüht haben. Offenbar ftammt das Sanskrit von einer
Ursprache, welche in verschiedenen Klimaten allmälig aus-
gebildet und in Indien zum Sanskrit, in Persien zum
Pehlvi und an den Ufern des Mittelländischen Meeres
zum Griechischen wurde. Es hat das Schicksal fast
aller alten Sprachen getheilt und ist nun zur todteu Sprache
geworden. — Geschrieben auf zerbrechliche Palmenblätter,
welche die Religion in den Tempeln verborgen oder bei
den gläubigen Hindus von einem Zeitalter zum andern
überliefert hat, sind diese ehrwürdigen Trümmer einer sast
erloschenen Geistesbildung an das Licht getreten, um den
Europäern nebst dem Grundstoffe ihrer eigenen Sprachen
den Ursprung ihres Schriftenthums, ihrer Wissenschaften
und ihrer Künste zu enthüllen. Reich durch eiu Alphabet
von 50 nach den Sprachwerkzeugen geordneten Buchstaben,
und mit der Mannigfaltigkeit der Lautveränderungen das
genaueste Ebenmaß, mit der Vielheit der Verbindungen
die bewundernswürdigste Klarheit vereinend, stellt das
Sanskrit die vollständigsten Sprachen Europa's dar und
vereinigt sie.
Ohne hier auf den grammatischen Bau der Sprache
weiter einzugehen, bemerken wir nur, daß der Sahbau eiu-
fach und logisch ist, und daß unzählige Zusammensetzungen
der Wörter der Dichtkunst ein unbegrenztes Feld öffnen.
Auch beherrscht die Dichtkuust gleichmäßig die vier Zeit-
alter der indischen Literatur. Das erste und religiöse Zeit-
alter, welchem die uralten Bedas angehören, weicht bald,
in den heroischen Zeiten, den Gesetzen des Manu, ^des
Gesetzgebers von Indien, den Puranas oder Jahrbüchern
der Götterlehre, und den riesenhaften Gedichten Ramayana
und Mahabharata, von denen das eine die Eroberung von
Ceylon, das andere den Kamps zweier Königsgeschlechter
preist, und deren Sänger Valmiki und Vyasa, zugleich
Dichter und Weltweise, wie zwei hochherrliche, dem Homer
gleichzeitige und mit ihm wetteifernde Gestalten erscheinen.
Dann kommt das Zeitalter der Verfeinerung, in welchem,
kurz vor Virgil, Jayadeva in seinen Hirtenelegien, und
Kalidasa in seiner anmuthigen Sakontala der indischen
Laute die reinsten und süßesten Töne zu entlocken wußten.
Nach ihnen begann das Zeitalter des Verfalles, welcher
in den Erzeugnissen der späteren Jahrhunderte immer
fühlbarer wird, und Indien hatte sich überlebt, als Europa
kaum anfing, seine großen Erzengnisse einzuleiten. Den-
noch ist ihm seine Sprache geblieben, und dieses ernste und
klangreiche Idiom wird noch jetzt, wie bei uns das Lateiu,
von Indiens Gelehrten studirt; sein Sprachstoff ist in
allen neueren Sprachen der Halbinsel vertheilt, und seine
Schriftzeichen dienen, in verschiedener Weise verändert,
allen dortigen Schriftarten zur Grundlage.
Das Sanskrit (d. i. Sprache der Weihe, Hoch-
spräche) war, selbst zu der Zeit seiner allgemeinen Ver-
breitung, den bevorrechteten Ständen vorbehalten, im
Gegensatz zu den lebendig, nach den immanenten Gesetzen
der Sprachengeschichte sich weiter gestaltenden, in Laut und
Form sich verändernden Volksmundarten, die in der altern
Zeit Prakrit (d. i. natürliche Sprache) genannt
werden. Aus dieser altern Volkssprache entwickelten sich
im Verlaufe der späteren Zeit die zahlreichen Sprachen
und Mundarten, welche jetzt in Indien gesprochen werden.
Doch nicht rein aus sich selbst bildeten sich jene Sprachen.
Denn Indien, von einer Menge Völker durchzogen und zu
verschiedenen Malen von den grausamen Anhängern des
Korans angefallen, sah seine Sprache sich verwirren und
mit deueu seiner mächtigen Sieger vermischen und so eine
große Anzahl Sprachen erzeugen, welche jetzt seine ver-
schiedenen Staaten trennen.
Globus IX. Nr. 9.
iropäischen Sprachen. 281
Die hauptsächlichsten der jetzt in Indien lebenden
Sprachen sind: das am weitesten verbreitete Hindu-
stauische, welches eine hauptsächlich durch Aufnahme
persischer Wörter gebildete Modifikation des Hindi oder
Hindevi, der Volkssprache von Oberindien, ist. Enthält
dieses auch eine große Menge Sanskrit-Wörter, so hat es
doch einen vom Sanskrit verschiedenen grammatischen Bau,
indem es einen großen Thcil seiner Jnflexionen verlor,
während dagegen das in Bengalen in der größten Reinheit
gesprochene Bengalische nur wenige Wörter enthält, die
nicht ans dem Sanskrit stammen. Außer deu anderen
jetzt noch in Indien gesprochenen, als Mal)rattisch,
Sindhisprache, Kaschmirsprache, Sprache der Siah-
Posch (— Das sind die Kafirs, die nicht mehr in In-
dien wohnen. A. —) und andere, erwähnen wir hier noch
das uns näher liegende Z in ganische, die Sprache der
nach Europa geflüchteten Zigeuner, welche nicht nur durch
die Flexionsformen, sondern auch durch zahlreiche Wörter
ihre Herkunft aus Indien erweist; so z. B. heißt in der
Zigeunersprache das Wort Mensch manuscli, uud int
Sanskrit mänusa, das Wort Kohle angar, und im
Sanskrit angAra.
2) Die p ersisch e Sprach familie. Der Urtypns
der persischen Familie ist das Zend, die heilige Sprache
der Magier, die Sprache Zoroasters, welche, aus gleichem
Stamme entsprossen mit dem Sanskrit, sich im Westen
Asiens unter den „Anbetern der Sonne" verbreitet hat,
und in welcher die heiligen Bücher (Zend-Avesta) der
Parsen abgefaßt sind. Wichtig für uns aber ist das Zend
namentlich deshalb, weil es gewissermaßen an der Spitze
einer der zwei großen Abtheilungen der indoeuropäischen
Sprachen steht, während das Sanskrit als das älteste
Glied der anderen betrachtet werden kann. Zur ersten
Klasse müssen die modernen persischen, sowie die germa-
nischen und slavischen Sprachen gerechnet werden, während
die klassischen Sprachen von Griechenland und Rom zum
Sanskrit gehören.
Sehen wir das Zend als eine Mundart der alten
Sprache, welche die Meder, Perser und Baktrer redeten,
an, so ist der andere und bekannte Dialekt das Idiom, in
welchem die keilförmigen Inschriften der achämenidischen
Könige (Darms, Serres, Artaxerxes) geschrieben sind.
Es war vermutlich die Sprache Westpersiens, während
man das Zend in den nördlichen Theilen sprach. Im
Westen des Reiches bildete sich durch die Vermischung des
Zend mit Syrischem eine neue Sprache, das Pehlvi, wel-
ches sich allmälig in die anderen Theile Persiens verbreitete.
Die Wörter dieser Sprache sind sehr verstümmelt und ent-
behren fast aller grammatischen Endungen. Es war die
Sprache des Mittelalters vou Persien. Das
Parsi, die altpersische Volkssprache (unter der Herrschaft
der Sassaniden Hos- und Geschäftssprache) war urfprüug-
lich die Mundart der Provinz Fars, deren Hauptstadt
Schirls ist. Es lebt vielleicht noch in den Dialekten der
Parsen (Guebreu), welche es, uebeu den Sprachen der
Länder, in denen sie leben, verstehen und gebrauchen.
(— In Bombay k. sprechen und schreiben sie das Guze-
rati. A. •—) Diese Sprache blieb unverändert bis zum
Eindringen der Araber, welche ihr das Arabische bei-
mischten und so das Neupersische, die Sprache der
heutigen Perser, erzeugten. Das Neupersische ist,
seines doppelteu Ursprungs ungeachtet, welcher es zum
Zend in dasselbe Verhältniß stellt, in welchem
das Englische zum Deutschen steht, vollKrastnnd
Würze, Anmnth und Dichtung. Die Denkmäler seiner
großen Schriftsteller, wie der Schahuameh von Firdusi
36
282 N. Rost: Die iubo<
und der Gulistan von Saadi, geben ihm eine hohe
literarische Wichtigkeit und beweisen, wie viel es noch
leisten kann. Zugleich in: Besitz der arabischen und in-
dischen Wurzeln, deren Endungen es abkürzt, einfach und
klar in seinem Satzbau, ausdrucksvoll iu seinen Zusammen-
setzungen, selbst in seiner, durch das Arabische vervollkomm-
ueten Schrift zierlich, gilt.es mit Recht für die ausgebil-
detste Sprache des neueren Asiens und ist neben dem
Arabischen die Schriftsprache aller mohammedanischen
Völker in Persien, Indien und Vorderasien.
Bezüglich des grammatischen Baues läßt sich ans eine
ziemlich enge Verwandtschaft des Persischen mit dem
Deutschen schließen. Es zeigt sich dies in der Lehre vom
Artikel, in den Pluralendungen der Substantive, in der
Conjugatiou und Anderem. Ja, was den Wortschatz an-
langt, so läßt sich fast ein Drittel des ganzen Vorraths
persischer Wörter durch ähnliche deutsche vertreten, denn die
ganze Anzahl persischer Wörter beträgt 12,990, und davon
hat fast 4900 das Persische mit dem Deutschen gemein.
Wie groß die Ähnlichkeit beider Sprachen ist, beweise fol-
gender Satz: Braderi men clesti dochterek krift,
mein Bruder griff die Hand (Taste) des Töch-
t erchens.
Zur persischeu Sprachfamilie gehören ferner noch:
Das Kurdische, die Sprache der zahlreichen Stämme
im kurdistanischen Hochland; das Ossetische, eine mitten
im Kaukasus, rings umgeben von Völkern, welche die kan-
kasischenSprachen reden, gelegeueSprachinsel; das Afgha-
nische oder Pnschtn im Reiche Kabul, desseu gramma-
tische Formen dem alten Zend entschieden näher stehen, als
die des Persischen; das Beludfchi an den Grenzen In-
diens, uud das Armenische von den Usern des Euphrat
bis zur Mündung des Kur in das Kaspische Meer. Die
Literatur dieser Sprachen ist sehr umfangreich, und die
grammatischen Formen bieten manche ganz eigentümliche
Erscheinungen dar.
3) Die griechische Sprachsamilie. Das Grie-
chische umfaßt die Sprachen der Pelasger, eines thätigen
und geistreichen Volkes, welches Thessalien, Epirus, die
Küsteu von Italien und Kleinasien und das griechische
Festland nebst den Inseln bevölkerte, und aus dessen Mitte
die Hellenen hervorgingen, welche Europa die schönste
seiner Sprachen gegeben haben. (— Es gab auch semi-
tische Pelasger. A. —) Die griechische Sprache,
anfangs in die äolische uud iouische Muudart getheilt,
welche das Dorische und das Attische erzeugten, hatte sich
schon vor ihrer festen Ausbildung durch Meisterwerke uu-
sterblich gemacht. In einer Mundart, welche im Grunde
Jonisch war, aber auch alle anderen Formen annahm, und
deren Anmuth und Wohllaut die indische Sprache erreicht
und fast übertrifft, hat Homer, der erhabenste der Dichter,
Europa's hohe Bestimmung weissagend, den Sieg Griechen-
lands über Asien und die abendläudischeu Fahrten des
Odysseus besungen. In der Mischen Mundart begannen
die lyrischen Dichter ihre Oden, ehe die weniger liebliche,
aber bestimmte attische Mundart die Muster aller
übrigen Schreibarten in den Schriften eines Sophokles,
Thnkydides und Demosthenes darbot und die über das
Meer verpflanzte dorische Muudart ihren Glanz den
Sprachen Italiens mittheilte. So hat mehr als zwei-
tausend Jahre lang die griechische Sprache sich von Ge-
schlecht zu Geschlecht fortgepflanzt mit der Einheit der
Grundregeln und der Mannigfaltigkeit der Formen, welche
allem Schönen aus Erden eigen sind. Allgemein betrachtet
ist die griechische Sprache durch ihren musikalischen Wohl-
laut, ihre reiche Formenmenge, ihre so zart abgestuften
^ropäischen Sprachen.
Zeitformen, ihren so klaren uud logischen Satzbau und die
V i e l f a ch h e i t ihrer Zusammensetzungen ausgezeichnet vor
allen anderen. Keine Sprache nähert sich darin und in Be-
treff der Endungen so sehr der alten indischen Sprache. Ver-
danken aber dieser die Griechen ihren Lautstoff, so haben sie
von einem andern Volke die Kunst empfangen, ihn durch
die Schrift darzustellen; denn ihr Alphabet ist das phöni-
cische und chaldäische, welches sie verschönert und erweitert
haben, indem sie es dem Wohllaute ihrer Sprache au-
Paßten.
Diese Sprache ist, nachdem sie so viele Jahrhunderte
durchlebt hat, noch heutzutage, zwar geschwächt, aber nicht
entstellt, in dem Neugriechischen lebendig. Abgesehen
allerdings von den im Lause der Jahrhunderte nicht zu
vermeidenden Lautentstellungen ist sogar in den Formen
der Decliuatiou uud Conjugatiou, außer der Beimischung
fremder, namentlich flavifcher Wörter, der Unterschied vom
Altgriechischen durchaus keiu solcher, daß man etwa Mühe
hätte, die Verwandtschaft beider zu erkennen. Die Ent-
fernnng vom Altgriechischen in grammatischer Beziehung
ist selbstverständlich bedeutender in der Sprache des gemei-
nen Lebens und der niederen Stände, als in der Schrift-
spräche oder der Sprache der Gebildeten, wo die alten
Flexionsformen mehr und mehr wieder eingeführt werden.
Als zur griechischen Sprachfamilie gehörend, betrachten
wir noch die albanesische Sprache, welche lange Zeit
der Gegenstand genauer Untersuchungen gewesen ist und
von Manchem sogar aus der Reihe der indoeuropäischen
Sprachen ausgeschlossen wird. Sie hat ihre Wurzel in
dem, was der griechischen uud lateinischen Sprache gemein-
sam ist. So sehr herabgekommene Sprachen, wie das
Albanesische, das überdies keine Literatur besitzt, können
sehr leicht die charakteristischen Zeichen der Familie in der
Flexion, die im Wesentlichen dem ganzen Sprachstamm
gemeinsam ist, verlieren. —
Eine jedenfalls höchst eigentümliche Erscheinung ist es,
daß um die untere Donau und weiter nach Südwesten hin
sich eine Gruppe Sprachen, die aneinander grenzen, zu-
sammengesnnden hat, welche, durchaus uicht mit einander
verwandt, darin übereinstimmen, daß sie die verdorbensten
ihrer Familien sind, nämlich das Albanesische in der grie-
chischen, das Walachische in der romanischen und das Bul-
garische iu der slavischeu Sprachfamilie.
4) Die romanische Sprach familie. Das La-
teinifche, diese kurze, kräftige Sprache, welche in ihrem
Wesen mehr indisch ist, als selbst das Griechische, aber
weniger reich als dieses an Endungen und weniger geschmei-
dig in ihren Verbindungen, hat mehre Umgestaltungen
erlitten, bis es etwa im Anfange der christlichen Zeitrech-
nuug festgestellt wurde. Rauh und plump in den Gesängen
der Salier, kurz uud kriegerisch iu den Gedichten des
Enuius, hat diese Sprache zur Zeit des Cicero und Livins,
des Virgil und Horaz die edlen Formen, die Bedentnngs-
fülle und die männliche Schönheit angenommen, welche sie
auszeichnen und einer großen Nation wahrhaft würdig
machen. Die siegreichen Römer haben ihre Sprache von
Italien aus bis iu den fernsten Orient verbreitet und dem
unterjochten Europa vorgeschrieben, und indem sie, nach
blutigen Kämpfen, dieselbe mit den friedlicheren und daner-
hafteren Eroberungen des Christenthums verbanden, haben
sie sie zur Universalsprache, zum Organ der Wissenschaft
und der Civilifation erhoben.
Das Latein hat einen bei weitem alterthümlichern
Charakter bewahrt, als das Griechische. An eine Her-
leitnng.desselben aus dem Griechischen, das gepflegte und
geliebte Steckenpferd der Philologen, denkt heutzutage wohl
N. Rost: Tie indoc
Niemand mehr, denn man könnte ja mit mehr Glück aus
der Aehnlichkeit beider Sprachen die entgegengesetzte An-
ficht begründen! — Aber während die vom Volke selbst
niemals gesprochene lateinische Schriftsprache im Ganzen
zwar unverändert blieb, veränderte sich jedoch die wirklich
lebendige, vom Volke gesprochene lateinische Sprache, die
man seit der Bildung der correkten Schriftsprache nicht
mehr zum schriftlichen Ausdrucke verwandte, natürlich fort-
während, wie das in jeder Sprache zn geschehen pflegt.
Es trat in den verschiedenen Theilen des weiten Gebietes,
das sich die lateinische Sprache im Lause der Jahrhunderte
errungen hatte, eine ungleichmäßige Veränderung der
Sprachen ein. Als diese in dem Maße verändert waren,
daß das Latein ihnen gegenüber nicht mehr als die Schrift-
spräche, sondern als eine wesentlich andere, fremd gewor-
dene erscheinen mußte, begann man die inzwischen entstan-
denen neuen Sprachen auch in der Schrift zu gebrauchen.
Diese sogenannten romanischen Sprachen, denen
natürlich auch viele dem Lateinischen fremde, namentlich
germanische Elemente inwohnen, sind die italienische,
spanische, portugiesische, provenyalifche, frau-
zöfifche, Walachische und chnrwälsche Sprache.
Die italienische Sprache hat sich von allen ihren
Schwestern anl wenigsten durch fremde Mischung dem
Lateinischen entfremdet. Sie wohnt ja auch im Mutter-
Hause, ist ein Erzeuguiß desselben Bodens, auf welchem die
großen Geister Roms geblüht hatten, und erlangte, in Tos-
cana, der uralten Wiege italischer (Zivilisation, ausgezeichnet
gepflegt, bald den mannigfachen Wohllaut und die glück-
liche Biegsamkeit, welche sie bei Dante ernst, bei Ariost und
Taffo lebhaft und glänzend, im geschichtlichen Vortrag
würdevoll und für die Accorde der Musik empfänglich
gemacht haben. Die lateinische Sprache hat eine ernste
Hoheit; die Hoheit der italienischen Sprache ist unge-
zwuugeuer und sanfter, sie ist die Sprache der Liebe und
der Lieder. Sie verdient aber auch diese Bezeichnung durch
ihre seltene Vereinigung von Weichheit und Klang und
ganz besonders durch die Wahrheit dieses Klauges, wo süd-
liche Lebenslust, glühende Leidenschaft, finstere Gefühle der
Furcht und des Unglücks, alle in ergreifenden, entsprechen-
den Tönen sich kuud thuu. Freilich gilt das nicht von
jeder italienischen Volksmundart, sonderu hauptsächlich von
der zarten und schönen Sprache Roms. Zur Dichtkunst
bieten auch die zahlreichen Reime und die natürliche,
fließende Betonung, die angeborne und angewöhnte Aus-
drucksweise der Sprache die Haud; freilich nur zu der
Poesie, welche Himmel, Erde und Volk Italiens erzeugen,
nicht zu der schwermüthig schwärmenden, vom Geiste des
Orients durchdrungenen der Spanier und heutigen Griechen;
— hier ist Alles volle, glüheude Wirklichkeit, ein reiches
Leben voller Lust.
Das ernsthafte und feierliche Spanische hat nicht wie
das Italienische die harten lateinischen Laute weggeworfeu,
noch wie das Französische die Endungen abgekürzt, und
wenn es nicht eine bedeutende Anzahl Wörter germanischen
und arabischen Stammes aufgenommen hätte, würde es
dem Lateinischen näher stehen, als selbst das Italienische.
Es gibt wohl uicht leicht eiue Sprache, die mit der weichsten
Aussprache eine so wunderbare Fülle stolzen Klanges ver-
bände, als die spanische. Ihre majestätische Schönheit in
der Form bildet dabei oft einen merkwürdigen Gegensatz
zur Bedeutung, welche meistens der Kraft und Fülle durch-
aus nicht entspricht, denn das sehr volltönende Wort bezeich-
net oft den geringfügigsten Begriff. Die spanische Gran-
ropäischen Sprachen. 233
dezza ist ja sprichwörtlich geworden. Fehlt der Sprache
zwar auch die Geläufigkeit und Lebhaftigkeit ihrer italie-
nischen Schwester, so hat sie trotzdem nicht weniger Formen
für die Zeitbeziehungen des Seins und Handelns, als diese.
Im Conjuuctiv, dessen Gebrauch mehr Bildung und Be-
souuenheit erfordert, weist sie sogar noch mehr Formen auf.
Es darf dieser Vorzug vor der italienischen Sprache
durchaus nicht befremden. Denn wenn Mannigfaltigkeit
in der Thätigkeit auf viele Thätigkeit überhaupt schließen
läßt, so ist sie bei der spanischen Sprache vor Allem Beweis
für ein reiches Leben. Diese Verschiedenheit von dem
rascheren Feuer der italienischen Schwester scheint sich
namentlich dariu auszusprechen, daß die Zeiten, welche das
spanische Zeitwort vor dem italienischen voraus hat, eine
Vergangenheit und eine Zukunft sind. Das nimmer ruhende,
heiße Leben will nur Gegenwart; ernste Besonnenheit da-
gegen blickt vorzugsweise gern in stille Vergangenheit und
bedeutungsvolle Zukunft.
Obschon die portugiesische Sprache der spauischen
sehr nahe steht, fo ist sie doch weniger reich und weniger
volltönend. Daß die Zahl der ans dem Lateinischen stam-
wenden Wörter größer ist, als bei der spanischen Sprache,
rührt wohl hauptsächlich daher, daß Portugal sich von der
Herrschaft der Araber losriß, ehe noch der Einfluß ihrer
Sprache so stark werden konnte, als in den spanischen
Landen. Das Lautsystem ist äußerst verschieden von dem
des Spanischen. Alle dort voller und härter klingende
Konsonanten sind hier weich und flüssig; sogar die einfachen
Vokale sind häufig durch Verzwiefachuug breiter auseinander
geflossen. Dadurch verlieren sie und durch sie die Sprache
einen großen Theil selbstständiger Kraft; doch sind so viele
volltönende Endungen des Spanischen geblieben, daß sie
sich mit jener größern Weichheit, sowie mit der raschen Zu-
sammeuziehung ernsterer Wörter zu einem recht lieblichen
Ganzen vereinigen. Dadurch war die portugiesische Sprache
von Anfang an sehr fähig, sanfte und doch heftig vorüber-
rauschende Gefühle in poetischem Gewände auszudrücken
und hatte daher schon frühzeitig ihre Dichter. Wir erinnern
nur an Eamoens.
Die proven?alische Sprache war einst die gemein-
same Verkehrs- und Dichtersprache von ganz Südeuropa,
ist zur Zeit aber nur uoch Volkssprache des südlichen Frank-
reichs. Sie bildet zwischen dem Idiom des nördlichen
Frankreichs und den Sprachen der pyrenäischen und der
apenninischen Halbinsel eiue natürliche, sprachliche, wie
geographische Vermittlung, insofern in ihr gleichsam jede
der übrigen romanischen Sprachen sich durch besondere
Eigentümlichkeiten mit vertreten sieht. Daher bemerken
wir auch in dem ganzen Bau der proven?alischen Sprache
ein stetes Schwankeu, ein sich Anschließen bald an die eine,
bald an die andere Schwestersprache. Sie war die erste
unter den romanischen Sprachen, welche sich einer poetischen
Anwendung und einer feinen literarischen Behandlung
erfreute, als die audereu, noch einzig auf den Gebrauch im
täglichen Verkehr angewiesen, im Dunkel dahin lebten,
unbeachtet von Dichtern und Gelehrten. Das Proven?a-
lische, worin die Lieder der Troubadours erklangen, und
welches jetzt sast im ganzen südlichen Frankreich bis an die
Loire und noch weiter hinaus, in der spanischen Provinz
Eatalonien und in einem Theile der Insel Sardinien, am
schönsten aber in Langnedoc gesprochen wird, drückt Ge-
danken und Gefühle mit französischer Leichtigkeit, Anmuth
und Oberflächlichkeit aus.
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Der neue Staat Colorado in Nordamerika.
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Der neue Staat Colorado in Nordamerika.
Die Benennungen, mit welchen die Nordamerikaner
ihre Territorien und neuen Staaten belegen, sind im All-
gemeinen recht gut gewählt, von dem Gebiete „Washing-
ton" abgesehen; denn dieser Name kommt doch allzuoft
Vor. Dasselbe gilt von dem Worte Colorado, das für
den neuen Staat gar keine Bedeutung hat und nur Folge
einer geschmacklosen Wahl ist.
Colorado wurde im März 1861 als Territorium
organisirt und ist im Dezember 1865 als Staat in den
Bund eingetreten. Er ist theils Prairie - theils Gebirgs-
land und recht eigeutlich eiu Binnenstaat, int Südeu und
Norden des 38. Breitengrades; er liegt also ziemlich in
demselben Striche mit Kansas, Missouri, dem südlichen
Illinois, dem nördlichen Kentucky und Virginien. Die
Westgrenze wird von Utah, dem Mormonenlande, gebildet;
die Nordgrenze von Dakotah und theilweise Nebraska; im
Osten liegen theilweise Nebraska und dann Kansas; im
Süden Neumexico. Die große Eisenbahn von Missouri
bis zum Großen Weltmeere wird den neuen Staat in sei-
uem uördlicheu Drittel durchschueideu.
In diesen Theil der großen nordamerikanischen „Ein-
öde" kamen weiße Ansiedler in Folge der Goldfunde am
Pikes Peak so rasch und in solcher Menge, daß ihre Ziffer
1861 schon 42,538 betrug; man hatte eine sorgfältige
Zählung veranstaltet. Etwa 6000 Köpfe waren Indianer:
Arapahoes und Putahs. Im folgenden Jahre warnt schon
an 70,000 Seelen in dem neuen Gebiete. Der östliche
Theil, eine wenig fruchtbare, durch nichts anziehende Prairie-
gegend, wird niemals eine beträchtliche Bevölkerung erhal-
ten; diese drängt sich am Gebirge zusammen.
Colorado bildet den 37. Staat in dem Republikenbunde.
Es hat von Osten nach Westen eine Ausdehnung von etwa
400, von Norden nach Süden von etwa 300 Miles und
zwischen 100,000 und 110,000 Quadratmiles, und wird
von den Rocky Mouutaius durchzogen. Innerhalb seiner
Grenzen entspringen der Rio del Norte, der in den Califor-
nifchen Meerbusen fallende Rio Colorado, welchem man
den Namen für den Staat entlehnt hat, der Arkansas, der
Kansas River und der Plattefluß. Die vielgenannten Berg-
gipfelPikes Peak und Loug's Peak, der Süd - und der
Nord park (auf dem ersten: entspringt der Arkansas, auf
dem letztern der nördliche Platte) liegen gleichfalls in Colo-
rado. So bildet dieser Staat eine große Wasserscheide. Die
Felsengebirge nehmen mit ihren Ausläufern und Ver-
ästelungen mehr als ein Drittel der Bodenfläche ein; sie
stehen an ihrer Ostseite auf weite Strecken Hill wie kahle
Felsmauern da; daher der Name. Die beiden eben ge-
nannten Spitzberge erkennt man schon aus weiter Ferne
und sie bilden Landmarken, welche für den Wanderer, der
durch die Prairie gezogen ist, einen höchst willkommenen
Anblick bilden. Aus den Steppen zogen noch vor wenigen
Iahren die Bussel in unzählbarer Menge hin und her; jetzt
werden sie schon selten.
Vor etwa sechzig Iahren reisten Lewis und Clarke
durch diese Gegend und gaben zuerst nähere Nachrichten
über dieselbe. Pelzjäger und Fallensteller, zumeist halb-
schlächtige Canadier, nahmen bei den Indianern Weiber
und verkehrten mit den Rothhänten; von Süden her kamen
dann und wann einige nemnexicanische Hirten, aber vor
1858 hat sich kein weißer Mann in diesem Land angesiedelt.
Damals schwärmte eine Schaar von Abenteurern bis an
den Pikes Peak. Sie stammten zum Theil aus Georgien,
hatten früher in Californien Gold gegraben, waren dann
in dem durch abolitionistische Umtriebe zerrütteten und mit
Blut bedeckten Kansas erschienen und zogen dann an den
obern Arkansas uud den Südplattefluß, weil sie gehört
hatten, daß man dort Gold finde. Während der warmen
Jahreszeit „prospekteten" sie umher, fanden aber, daß die
Wirklichkeit ihren Hoffnuugeu nicht entsprach. Als der
Winter kam, blieben sie im Lande und zimmerten sich Block-
Häuser an einen: Bache, dem Cherry Creek, der dort in
den südlichen Platte mündet. Diese Hütten wurden Den-
ver City benannt, und ans ihnen ist nun eine stattliche
Ortschaft und Hauptstadt erwachsen, die schon mehr als
20,(>00 Einwohner zählt. Sie liegt etwa 3 deutsche Meilen
von dem östlichen Fuße der Rocky Mountains entfernt,
welche dort eiue steile, weiße Mauer von etwa 2000 Fuß
Höhe bildeu; in: Hintergrunde gipfelt sich dann auf einer
Strecke von 10 bis 20 deutschen Meilen das Gebirge höher
und höher auf.
Währeud der Winterzeit waren die Abenteurer uicht
etwa unthätig; sie profpekteten weit und breit in der Gegend
umher, fanden aber erst im Mai 1859 einige ergiebige „Dig-
gings" am Clear Creek, etwa 9 Meilen westlich von
Denver City. Inzwischen waren von Osten her viele Gold-
sucher herbeigeströmt, aber die meisten fanden sich getäuscht,
denn sie fanden kein Gold. Deshalb kehrten taufende wieder
zurück; mitten auf denPrairien begegneten sie anderen tau-
fenden, welche ins Goldland ziehen wollten und trotz aller
Abmahnungen wirklich dorthin gingen. Sie meinten, ihnen
werde es schon vorbehalten sein, „Nuggets" zn finden. Ihre
Hoffnung erfüllte sich; im Juni fand man die sehr reich-
haltigen G r e g o r y D i g g i n g s; dort waren viele „Diggers"
an der Arbeit und sie gründeten auf jener Stelle Central
City. Das war die zweite Stadt im Lande; sie liegt am
Fuße des Pikes Peak und hatte 1863 schon mehr als 10,000
Einwohner.
Man weiß, wie es in den Gegenden, wo Gold gefunden
wird, in den ersten Jahren zugeht. Phantastische Hoff-
nungen wechseln mit niederschlagenden Stimmungen ab.
So war es auch in Colorado. Manche verließen unwillig
das Land, um weiter im Norden oder Westen, in Montana
oder Nevada ihr Glück zu versuchen. Eine leichte Arbeit
ist das Diggeu in Colorado nicht; das „Placer- und
Gulch-Diggen" erfordert Anstrengungen, und das edle
Metall liegt manchmal zwischen 8000 und 10,000 Fuß
über der Meeresfläche. Man meint übrigens, wir wissen
nicht, ob mit Recht oder Unrecht, daß Colorado an Quarz-
aderu reicher sei, als Californien, aber zur Ausbeutung
sind große Kapitalien und Maschinen erforderlich. Dieser
goldführende Quarz wird um so reichhaltiger, je weiter man
in die Tiefe kommt. Die Gregory Diggings haben in
einem einzigen Jahre für mehr als 5 Millionen Dollars
an Gold ausgegeben. Am westlichen Abhänge der Snowy
Mountains hat man neben dem Gold auch Silber gefun-
den; auch Blei und Quecksilber fehlen dem Staate nicht.
Aus allen
Und, was von sehr erheblichem Belang ist, unweit von
Denver City an der Basis der Felsengebirge liegen Stein-
kohlen, von derselben Güte und Beschaffenheit, wie jene im
südlichen Illinois. So ist in den holzarmen Ebenen nicht
bloß einem empfindlichen Mangel abgeholfen, sondern auch
der großen Eisenbahn, welche hier ties im Binnenlande sich
?rdthcilen. 285
mit Brennstoff versorgen kann, wird ein großer Dienst
geleistet.
Die Bewohnerzahl betrug am Eitde des Jahres 1865
schon über 100,000, und in den sonnigen Thälern des Ge-
birges wird neben der Viehzucht auch ein schwunghafter
Ackerbau betrieben.
Aus allen
Die Schiiten in Persien.
Eduard Polack schildert dieselben in seinem trefflichen
Buch über Persien iu belehrender Weise. Der Perser rühmt
sich, daß er Schiit und allein Mohammedaner sei; dem Sun-
niten gesteht er nicht das Recht zu, sich so zu nennen. Er
erkennt die Sünna, die Ueberlieseruug und die Ausleguugeu
des Korans, nicht an, aber trotzdem ist seine Schieehlehre die
complicirtere, entfernt sich mehr vom Monotheismus und ist
von den widersinnigsten Sagen entstellt. Dagegen hat die
Sünna den ursprünglichen Islam nur so weit umgestaltet, als
es uothwendig war,' um das ursprünglich für Nomaden ge-
gebene Gesetzdeu Verhältnissen einer seßhaften Gesellschaft
anzupassen.
Der Sunnit betet: „Es gibt kein göttliches Wesen außer
Allah, und Mohammed ist sein Apostel." Er braucht nicht an
die Wunder Mohammeds zu glauben, weil seine einfache und
klare Lehre alle Wunder leicht entbehren kann. Der Schiit setzt
zu obiger Formel noch hinzu: „Ali Mali Allah." Das Wort
Wali hat sehr verschiedene Bedeutungen: Sklav, Diener, Ver-
trauter, Stellvertreter ic., und iu den verschiedenen Bedeutungen
dieses Wortes liegen auch die mannichfachen Nuancen der
Schieehlehre. Die Meisten nehmen es in dem Sinne des Statt-
Halters, Andere aber betrachten Ali als eine Jncarnation Gottes,
schreiben ihm zahlreiche Mirakel zu und stellen ihn hoch über
Mohammed. Der Perser ruft daher nie den Namen
Mohammeds an; sein gewöhnlicher Ruf, den er fast bei
jedem Schritte und bei jeder Bewegung wiederholt, den man
au alle Wände geschrieben, in die Rinde der Bäume eingeschnit-
ten findet, ist: „Ja Ali!" Nur selten vernimmt man daneben:
„Ai chuda!" O Gott! Dem Ali zunächst genießt sein Sohn
Hussein die größte Ehre, derselbe, welcher in der Schlacht bei
Kerbelah ums Leben kam.
Das Dogma der Schiiten besteht eigentlich nur iu Ver-
n ei nun gen. Sie leugnen das Nachfolgerecht Omers, die Le-
gitimität der drei ersten Chalisen Abnbekr, Osman und Omer,
weil das Chalisat rechtmäßig nur dem Ali gehört habe; sie
leugnen auch die Ehrbarkeit Äyscha's, der Frau Mohammeds. —
Der Sunnit verrichtet sein Gebet ungern in einem Zimmer,
wo uuverzerrte Abbildungen von Menschen oder Thieren sich
befinden. Anders die Schiiten; sie lieben die Bilder,
und fast in jedem Hause des Volkes ist ein schlechter Holzschnitt
zu finden, welcher den Propheten Ali vorstellt. Da mau jedoch
sagt, sein Gesicht sei von so vollendeter Schönheit gewesen, daß
kein Maler sich daran wagen könne, wird er immer verschleiert
dargestellt. Der König glanbt sich im Besitz des wahrhaften
Conterseis von Ali; es soll ans Indien zu ihm gekommen
sein und wird in einem goldenen Kästchen mit feiner Emailli-
ruug aufbewahrt. Wenn dasselbe durchs Zimmer getragen wird,
verneigen sich alle Höflinge; auch der Schah macht eine tiefe
Verbeugung gegen den heiligen Schrein. Vor einigen Jahren
stiftete er sogar'einen Orden des heiligen Ali und machte
sich zu dessen Großmeister. Die Ceremonie wurde mit der
größten Feierlichkeit vollzogen, und um ihr eine religiöse Weihe
zu geben, wurden Priester dazu entboten; diese fanden sich jedoch
nur mit Widerwillen ein, weil sie mit Recht in dem Akt einen
wirklichen Bilderdienst erblickten, von dem der Koran so ein-
dringlich abmahnt. Aus alle dem geht hervor, daß dieSchieeh-
lehre vom reinen Monotheismus abweicht.
Dem Perser ist erlaubt in Fällen, bei welchen ihm durch
das Bekennen seiner Religion ein Nachtheil erwachsen könnte,
dieselbe abzuleugueu. Deshalb geben sich die Perser häufig iu
türkischen Ländern für Sunniten aus und verrichten nach Art
E r d t!) c i l e n.
der letzteren ihr Gebet. Diese Heuchelei wird für erlaubt gehal-
ten und herrscht auch im Verkehr der Perser nnter einander.
Man überbietet sich in Betheuerungen seines Glaubens uud
Anpreisungen der „gereinigten Religion", so sehr man auch
gegenseitig von der Täuschung überzeugt ist. Dasselbe gilt von
den Priestern; die Religion ist zur leeren Formel herabgesunken.
Unter den Gebildeten glaubt Niemand an den
Koran. Die einen setzen gar nichts an dessen Stelle, die
anderen bilden sich eigene individuelle Ansichten oder nehmen
das System von Derwischen an und verehren diese als ihre
Leiter. Aus deu letzteren bestehen die zahlreichen Selten der
Susi's; doch gelten alle äußerlich für Schiiten. Jeder
Perser glaubt sich zur Scheinheiligkeit berechtigt.
Bemerkenswerth und vollkommen entsprechend den Ansichten
und Aussprüchen auch anderer gründlicher Kenner des Orients,
welche Dinge und Menschen schildern, wie sie wirklich sind, ist
folgende Aenßerung Polacks:
„Fast noch nie hat sich ein Muselmann aus-
richtig zum Christenthum bekehrt; das Dogma der
Dreieinigkeit ist ihm unfaßlich, eben so der Begriss
christlicher Tugend und Entsagung. Man lese die
ehrlichen Berichte der Missionäre und mau wird in die Wahr-
heit des Vorstehenden keinen Zweifel setzen. Die mit so bedeu-
tenden Kosten gedruckten, eingebundenen und gratis Ver-
th e i l t e n Bibeln werde» vou den Empfängern sofort ans
den Deckeln gerissen und im Bazar als Makulatur verbraucht.
Der einfache Bibelstyl ist dem Perser zuwider; er liebt Pomp-
hafte Worte, eine blumige, bilderreiche Sprache, welcher er
gern Gedaukeu uud Inhalt aufopfert. Zuweilen ließ sich der
Schah zur Belustigung einige Kapitel aus der Bibel vorlesen,
und jedesmal brachen er und seine Höflinge sehr bald in lär-
mendes Gelächter aus, so daß an ein Fortsetzen der Lectüre
nicht zu denken war. Damit dem Koran, trotz seiner Heilig-
feit, nicht ein ähnliches Schicksal zu Theil werde, ist es bekannt-
lich verboten, ihn ins Persische zu übersetzen."
Die Priesterschaft weiß auch in Persien die sogenannten
göttlichen Dinge sich trefflich nutzbar zu machen, um irdische
Vortheile zu erbeuten. Mohammeds Religion kennt gar keinen
Priesterstand im eigentlichen Sinne des Wortes, eben so wenig
einen Tempel. Jedermann ist befugt, mit lauter Stimme das
Gebet, Asan, vorzutragen, und jeder Ort kann dazu gewählt
werden. Wenn sich trotzdem eine Priesterschast ausbilden konnte,
so geschah es, weil der Koran iu arabischer Sprache geschrieben,
also nur den Gelehrten zugänglich ist, und weil nach dem
strengen Ritus Gebete und Tranungsformeln mit reinem ara-
bischen Aecent ausgesprochen werden sollen. Das gelingt aber
der persischen Kehle nur nach jahrelanger Uebung oder eigent-
lich niemals. So entstanden die Scheich ul Islam, die
Im an Dschumeh, die Mutschtehid und der Troß der
Mulas (Wollahs). Die drei ersteren müssen aus dem Stamme
des Propheten, die letzteren können auch aus dem Volke her-
vorgehen. „Anfangs waren es durch Frömmigkeit und Kennt-
nisse ausgezeichnete Männer, nach nnd nach aber mißbrauchten sie
ihre bevorzugte Stellung, sie verdrängten die Kasis, weltlichen
Richter, und maßten sich ausschließlich die Besugniß an, Recht
zu sprechen uud Prozesse zu schlichten; sie verfälschten Testa-
mente, verdrehten das Recht, ließen sich bestechen, beraubten
Wittwen und Waisen, verborgten unter der Hand Geld auf
hohe Zinsen uud ergaben sich' den gröbsten Ausschweifungen.
Sie verstanden es, die niederen Volksklassen an sich zu fesseln,
indem sie Verbrechern ein schützendes Asyl gewährten und, selbst
ungläubig, die Menge sanatisirten. Es ist schon so weit ge-
kommen, daß kein Testament vor ihren Praktiken sicher ist, und
286
Aus allen Erdtheileu.
daß notorisch das Gut der Wiltwen und Waisen von ihnen
„verspeist" wird. Während sie vor der Welt Armuth und
Demnth heucheln, sammeln sie für sich, ihre Familien und
Moscheen Reichthümer an, denn auch die Erträgnisse des
Moscheengutes fallen ihnen zu. Der Bürgerstand haßt sie und
sie werden, außer vom Pöbel, verachtet; in der öffentlichen
Meinung ist der Stand der Mulas sehr gesunken; sie werden
häufig in obscönen Bildern als handelnde Personen dargestellt
und in den beliebten Theaterpossen ihrer spitzfindigen Gesetzes-
auslegungen wegen verspottet."
Der Ongkor-Wat in Kambodscha.
Adolf Bastian. — Wir haben über dieses wunderbare
Gebäude, das sich iu der Waldeinöde unfern vom Tuli sap
erhebt, in früheren Bänden des Globus ausführliche Mitthei-
lungen gegeben, und der Bericht Heinrich Mouhots war der
erste, welcher über diesen Prachttempel erschien; vor 1860 war
derselbe den Europäern völlig unbekannt.
Wir dürfen eine durchaus fpecielle Schilderung über den
Ongkor Wat und überhaupt die Ruinen in Kambodscha von
Adolf Bastian in Bremen erwarten. Unser Freund hat sich
Monate lang in jener Gegend aufgehalten. Alles genau durch-
forscht, und wir waren erstaunt/ als wir die hunderte von
Zeichnungen sahen, welche Bastian an Ort und Stelle hat
machen lassen. Von den Inschriften hat er Abdrücke genommen,
die, wie wir aus eigener Anschauung bezeugen können, ungemein
treu und deutlich ausgefallen sind. Bastian ist eben jetzt (Dez.
1865) mit Entzifferung und Erklärung derselben beschäftigt.
Er arbeitet an einer urkundlichen Geschichte der hinterindischen
Staaten und hat in jenen Ländern eine Anzahl von Hand-
schristen gesammelt, die in Europa noch unbekannt sind.
Ueber den Ongkor Wat sagt er, der alle großartigen Ban-
werke auf beiden Erdhalben gesehen hat (die von Hucatan allein
ausgenommen), daß sie allerdings die übrigen ohne Ausnahme
hinter sich zurückließen, und daß Mouhot nicht im Mindesten
übertrieben habe.
Wir finden uns zn diesen Bemerkungen veranlaßt, weil
uns eben ein Bericht ans dem „Courier de Sai'gong" vorliegt.
Von dieser Stadt aus sind mehrfach Franzosen nach dem Tempel
hingewandert und auch sie können nicht genug Worte für ihre
staunende Bewunderung finden. Der Bericht im „Courier"
sagt: Der Tempel erhebt sich inmitten einer Waldlichtung;^ er
ist vortrefflich erhalten, nur einige Nebenwerke liegen in Trüin-
mern, im Uebrigen zeugt nichts von Verfall. Kein einziges
Denkmal alter öder neuer Zeit bietet in architektonischer Be-
ziehnug ein so vollständiges Ganze und zugleich eine so voll-
kommene Ausführung der' Einzelnheiten, mit seinem dreifachen
Peristyl, den Glockentürmen, den Skulpturen und allen den
baulichen Herrlichkeiten. Wer hat ein so wundervolles Pracht-
gebände aufgeführt? Die Inschriften sind in Palt, aber es fehlt
der Schlüssel, diese Art des alten Pali zu entziffern. (Bastian
glaubt, wie schon gesagt, denselben zu haben, und ist seiner
Sache sicher.) Das Volk sagt, der Tempel sei von Niesen
gebaut worden. Der „aussätzige König" (dessen Porträt und
Statue wir im Globus VI, S. 259) mitgetheilt haben, scheint
eine halb geschichtliche, halb phantastische Gestalt zu sein, ein
mächtiger Herrscher, unter welchem das alte Reich Khmer, denn
so hieß Kambodscha, im südöstlichen Asien eine bedeutende
Machtstellung hatte.
An die Zerstörung des Gebäudes hat sich Niemand gewagt,
weil die Heiligkeit des Ortes davon abschreckte. Nuig'sumher
ist aber Alles voll von Ruinen. Gleich nördlich vom Tempel
erhebt sich ein dichter Wald, in welchem man kaum ein paar
hundert Schritte gehen kann, ohne auf Trümmer von Palästen
und Tempeln zu treffen, die auch großartig und prachtvoll
gewesen sein müssen. Diese Ruinen einer ehemaligen großen
Stadt erstrecken sich eine Länge von 8 bis 10 deutschen Meilen
weit! „Paris und London erscheinen, daneben gehalten, als
Flecken;" so sagt der französische Beobachter im „Courier de
Saigong".
Nun fragt sich, in welche Zeit die Schöpfung die-
fer gewaltigen Bauwerke fällt? „Der Geist verliert sich
in allerlei Vermuthungen. Jetzt ist der Boden mit einem viel-
hundertjährigen Walde bedeckt; Ruinen nnd Pflanzenwuchs
bilden ein so wirres Durcheinander, daß man die einen vom
andern kaum unterscheiden kann. Man muß sich mit dem Beil
in der Hand einen Weg bahnen, und wenn man bis zum
Innern eines Gebäudes durchgedrungen ist, dann flattern ganze
Wolken von Fledermäusen auf und verbreiten einen unaussteh-
lichen Geruch." Der französische Beobachter war nur zwei Tage
in der Umgegend des Ongkor Wat. „Hier wäre sür die Wissen-
schast eine herrliche Aufgabe zu lösen. Man sollte eine Kom-
Mission ernennen, die aus Photographen, Zeichnern, Geometern
und Archäologen (wir fügen hinzu auch aus Sprachkundigen)
gebildet sein müßte. Sie würde erhebliche Resultate für die
Wissenschaft zu Tage fördern."
Adolf Bastians Werk wird, wie wir hören, im Jahre 1866
erscheinen.
Livingstone, der bekanntlich wieder eine Reise nach Ost-
asrika unternommen hat, war am 11. September in Bombay
angekommen, wo er die nöthigen Vorkehrungen zu seiner Expe-
dition treffen wollte. Er beabsichtigt die Region zn erforschen,
welche zwischen dem nördlichen Punkte der auf seiner vorigen
Reise besuchten Gegend und dem Tanganyika-See liegt; er will
namentlich die Flüsse genau untersuchen, welche im Norden des
Sambesi und bis zum Aequator hin aus dem östlichen Afrika
dem großen Indischen Oceane zufallen. Ende Oktobers oder
Anfang Novembers 1865 gedachte er an der afrikanischen Küste
zu sein. Wir können der ausdauernden Beharrlichkeit dieses
Reisenden unsere Bewunderung nicht versagen.
Notizen aus Indien. Die englische Regierung hat sich
die größte Mühe gegeben, einer sehr nachtheiligen Unsitte ent-
gegen zu treten, dem Verhandeln junger Mädchen von
Seite der Eltern. Es hält aber sehr' schwer, uralte Ge-
wohnheiten auszurotten. In Meywar dauert dieser Verkauf
immer noch fort. Die Bhils kommen aus ihren Bergen herab,
durchziehen die Dörfer im Unterlande nnd führen dann die von
ihnen eingehandelte lebendige Waare hinweg. Neuerdings sind
sehr strenge Maßregeln dagegen ergriffen worden, aber man hat
eine schwierige Aufgabe, 'weil Eltern und Käufer unter einer
Decke spielen und der Handel nur insgeheim abgemacht wird.
Dagegen zeigt sich in den Kassiabergen eine Art von
Fortschritt. Indische Blätter melden nämlich, daß die Kassias
und Dschyntyas einige Gewohnheiten civilisirter Menschen an-
zunehmen beginnen und einige barbarische Bräuche abschaffen.
Aber an der Verehrung des Affen nnd des Schakals
halten sie noch fest, und dagegen hat sich bisher noch nichts
thun lassen. Menschenopfer werden von der englischen
Regierung durchaus nicht mehr geduldet, aber es kommen doch
noch entsetzlich grauenhafte Dinge vor. Der Radscha des Lan-
des hat eine Schwester, die sich in den Kops setzte, der Göttin
Kali ein derselben würdiges Opfer zn bringen. Sie führte
ihren Entschluß ohne Zögern aus, indem sie ihren zeitweiligen
Geliebten, der übrigens bei ihr in hoher Gnnst war, festnehmen
und sofort lebendig braten ließ! Dieser Vorfall kostete
übrigens ihrem Bruder, dem Radscha, den Thron, denn die
Engländer setzten ihn ab,
Die berühmten Tempelgrotten von Elephanta be-
finden sich in einem kläglichen Znstande, und die Skulpturen
werden allmälig zn Ruinen. Ein Engländer, welcher sie 1865
zweimal besucht hat, stimmt darüber ein lautes Klagelied an.
Die schönsten Skulpturen sind durch deu Fanatismus der por-
tugiesischen Barbaren schon vor Jahrhunderten arg beschädigt
worden; hinterher sind dann „Liebhaber" gekommen und haben
Vieles zerschlagen und abgebrochen, um ihr „Museum" zu be-
reichern. Vor der Stirne der allergrößten Statue, welche sofort
dem Auge des. Eintretenden auffällt, und welche die indische
Dreieinigkeit (die Trimurti: Brahma, Wischnn und Siwa) dar-
stellt, haben Leute wie Johnson, Robertson, Brown, Miller ?c.
ihre berühmten Namen eingehauen oder mit schwarzer Farbe
aufgepinselt. Daß man den Statuen Nasen abschlägt, geHort zu
den „Belustigungen", eben so das Grogtrinken und das Ver-
anstauen von Pikmks in den Tempelräumen. „Das Alles ist
schlimm genug, aber doch nicht das Allerschlimmste. Eben jetzt
(Herbst 1865) beschäftigt eine Compagnie mehre tausend Kulis,
und das Haus Nicholson läßt schon auf der ^nsel Elephanta
arbeiten; man will dieselbe mit Bombay durch Brücken ver-
binden. Dann, es ist in der That zn befürchten, wird wohl
beantragt werden, die Skulpturen ans dem Tempel nach dem
Victoria-Museum in Bombay zu schaffen oder gar nach London
in das South Kensington Museum. Und Wichtigkeit nnd Be-
deutung haben diese Götterbilder doch nur an Ort und Stelle,
da, wo die alten Weisen des Morgenlandes ihren Träumereien
nachhingen. Man lasse diese Tempel doch ja in ihrer feierlichen
und majestätischen Vereinsamung und bewahre nnd beschütze
das, was noch nicht zerstört worden ist, vor Verwüstung."
Aus allen
Der Carmbenkönig Stephan Canut auf der westindi-
schen Insel Dominica, Anno 1865. Als der Dänenkönig
Canut den Wellen Halt gebot, ließ er sich nickt träumen, daß
er nach vielen Jahrhunderten einen braunen Namensvetter auf
den Antillen bekommen würde. DieCara'l'ben bildeten bekannt-
lich zur Zeit der Entdeckung Amerika's die Bevölkerung auch
auf den Kleinen Antillen. Sie sind nach uud nach durch die
Spanier ausgerottet worden, bis auf wenige vereinzelte Spuren.
Auf Dominica sind jetzt noch etwa 300 Köpfe übrig, welcher
die katholischen Missionäre sich annehmen. In den ersten Mo-
naten des Jahres 1865 waren einige Patres bei ihnen und
ließen einen König wählen; „ganz freie, nicht von oben her
beeinflußte Wahl, allgemeines Stimmrecht nach alter Landesart/'
Das Volk erklärte sich für Stephau, der blutsverwandt mit dem
vor etwa 15 Jahren verstorbenen König ist. _ Der Bericht in
den lyoner „Annales" (Nr. 223) sagte, es sei gerade der Tag
des heiligen Canut von Dänemark (der 19. Januar) gewesen;
deswegen nannte man ihn Stephan Canut und das Volk rief:
„Vive'le roi Canut!" Dazu knallten Flintenschüsse; dann kam
ein Tedeum und die Priester sangen dreimal das Domine
salvum fac regem Canutum!
Was hier gesagt wird, ist nicht etwa ein Scherz, es steht
in den „Annales de la propagation de la foi" buchstäblich so.
Der geistliche Berichterstatter setzt hinzu, es habe allerdings an
etwas Wesentlichem gefehlt, nämlich an einem königlichen Ban-
kett; man habe nur Schiffsbrot und harte Eier zu beißen ge-
habt. Indessen sie wußten sich zu helfen. Pater Prosper stieg
mit einigen jungen Carcnben in den Fluß, um Krebse und
Fische zu fangeu. Die Ausbeute war leidlich, und da auch etwas
Maniokmehl und einige süße Kartoffeln herbeigeschafft wurden,
so ging noch Alles ganz erträglich. Die Gesundheit Seiuer
Caraibischen Majestät wurde in kaltem Grog getrunken. Als
die Missionäre im August wiederkamen, wurden sie vom Könige
schon besser bewirthet, man hatte sich auf sie eingerichtet und
viele Kränze gewunden.
Nun kommt aber wieder der alte ewige Jammer, die stete
Klage. Nur etwa 50 von den 300 Carai'ben hatten sich eingestellt,
alle übrigen waren fortgeblieben, weil sie nicht so viel
Bekleidung hatten, um ihreBlöße decken zu können.
Diese „frommen Christen" beten wohl, so gut oder so schlecht sie
es eben verstehen, aber arbeiten? Niemals! Sie lassen
ihre Kinder splitternackt lauseu und solche nackte Kinder dürfen
die Schule nicht besuchen. Durch die Missionäre wurden diese
Cara'iben, die übrigens längst nicht mehr reines Blut habeu,
sondern sehr stark mit Negerelement versetzt sind, nur in ihrem
Müssiggange bestärkt. Man hielt sie nicht zur Arbeit an, son-
dern schenkte ihnen ein Dutzend baumwollener Kittel. Allerdings,
wie es heißt, denen, welche Bäume zum Ban der Kirche um-
hauen. Außerdem bekommen sie noch Lebensmittel. „Dank ihrer
Arbeit (!) haben wir nun 8000 Bretter beisammen." Was für
Arbeit! Auf dem üppigsten Boden hungern diese Barbaren.
Agassi; in Brasilien. Er hat seine Expedition zur Er-
forfchuug des Landes in vier große Abtheilungen gesondert.
Die eine hat den Süden von der Provinz S. Paulo an zum
Schauplatz ihrer Thätigkeit, die ganze Gegend zwischen dem
Parana uud dem Atlantischen Ocean. Die zweite untersucht
die Küstenregion von Rio de Janeiro nach Norden hin bis
Bahia und bis zum San Francisco; die dritte erforscht das
Innere dieser Region westlich vom San Franciscoflusse und
zwischen dem 10" südl. Br. uud dem Weudekreise des Stein-
bocks. An der Spitze der vierten Abtheilung steht Agassi; selbst;
sie hat sich die Erforschung des Amazonenstromes' und seiner
wichtigsten Nebenflüsse als Ziel gesteckt.
Santos in der brasilianischen Provinz S. Paulo ist einer
der wichtigsten Häfen für die Verschiffung von Kaffee. In
dem Handelsjahre vom 1. Juli 1864 bis 30. Juni 1865 wnr-
den von dort 328,139 Sack Kaffee _ verschifft. In dieser Zeit
liefen 118 ausländische Fahrzeuge ein, und dabei nahm die
deutsche Seefahrt den ersten Rang ein. Während die
Zahl der englischen Fahrzeuge nur 29 betrug, stellte sich jene
der deutschen' auf 36; davon waren 22 Hamburger, 7 hauno-
veraner, 3 bremer und je 1 oldenburgisch, preußisch, lübeckisch
uud mecklenburgisch. Direkt nach Hamburg gingen 49,266 Sack
Kaffee.
Deutsche Arbeiter in den südlichen Vereinsstaaten. Da
mit den Schwarzen durchaus nichts anzufangen und auf einiger-
maßen andauernde Arbeit von ihrer Seite gar nicht zu rechnen
Erdtheilen. 287
ist, so sucht der Süden sich anderweitig Arbeiter zu verschaffen.
Ein französischer Spekulaut hat sich erboten, vorerst 10,000
indische oder chinesische Kulis zu importiren. Und zu Mobile
in Alabama hat sich eine Compagnie gebildet, um deutsche
Einwanderer gleich bei ihrer' Einwanderung iu
Neu York als Arbeiter für deu Süden zu eugagireu. Es
wird sich also ein ähnliches Schauspiel wiederholen, wie das
abscheuliche Rekrutenabfangen während der letztverflossenen vier
Jahre. Viele tauseude unserer Landsleute wurden beschwindelt
und mußten in der Freiheitsarmee der N^ukeepatrioten Kanonen-
futter abgeben. Jetzt will man sie sofort nach dem Süden
„engagiren", wo sie an der Stelle der nichtsnutzigen Neger
arbeiten sollen. Und wie unbefangen wird dieser Menschen-
Handel betrieben? „Die Compagni e erbietet sich, mann-
liche Arbeiter das Stück zu 150 Dollars, weibliche
zu 100 und Kinder zn 50 Dollars Per Jahr zu
liefern." Die in Mobile und überhaupt im Staat Alabama
ansässigen Deutschen haben aber gegen dieses von Mnkees aus-
gesonnene Projekt, das reiner Handel mit Menschen sei, nach-
drücklich protestirt. Viele Plantagen im Staate Alabama haben
ein Klima, welches den Weißen nicht erlaubt, Feldarbeiten zu
verrichten. Es ist aber wieder recht ,,smart", daß die abolitio-
nistischen Yankees den Plantagen erst die Arbeiter entzogen haben,
und daß sie dann sich erbieten, gegen gnte Provision Arbeiter
ans Deutschland auf die Plantagen zu liesern.
Dampfschifffahrt auf dem Amazonenstrome. In einem
Handelsschreiben aus Parä, das bekanntlich an der Mündung
des Amazonasdelta liegt, wird gemeldet, daß viele Handelsleute
aus Bolivia den Madeira hinab kommen und in Flachbooten
Baumwolle, Chinchona (Fieberrinde), Häute, Goldstaub uud
Silber in Barren nach der Stadt Serpa am Amazonas brin-
gen, wo dann diese Waaren auf die Dampfer übergehen. Auf
den: obern Amazonas haben die Peruaner 2 Dampfer, den
„Pastaza" uud den „Morona", jeden von 500 Tons. Zwei
kleine Dampfer, der „Tntumayo" und der „Napö", die nur
20 Zoll Tiefgang haben, fahren auf deu Nebenflüssen. Die
beiden größeren laufen monatlich zwischen Bnnmagoes und
Tabatinga, welches an der brasilianischen Grenze liegt, und legeu
bei Jgnitos, Nauta und Loreto an. Die Peruaner machen'in
Parä beträchtliche Einkäufe, aber ganz Peru, so weit es auf der
Ostseite der Andes liegt, hat nur eiue einzige Jnstudrie: die
Verfertigung v o n S t r o h h ü t e n. Im Handelsjahre 1864/65
sind aus Peru nicht weniger als 170,000 Stück solcher Stroh-
hüte nach Parä gekommen; sie kosteten durchschnittlich 6 Dollars
das Stück und haben einen Gesammtwerth von etwa 120,000
Pfd. Sterl.
Religiöse Begeisterung der Neger in Louisiana. Das
deutsche „Neuyorkcr Journal" enthält die nachstehende Schilde-
rnng ans Nenorleans:
„Ein hervorragender Zug des amerikanischen Negers ist
seine Vorliebe für lärmende religiöse Demoustratiouen, wie dies
von Reisenden im Süden schon öfters bemerkt worden ist. Man
sagt, daß die Chinesen sich die Tapferkeit oder den Heroismus
uicht anders vorstellen können als in Begleitung von Gongs
und Tam-Tams, und die Neger haben ähnliche Ideen hin-
sichtlich des Gottesdienstes. Nicht nur halten sie dabei einen
möglichst _ großen Lärmen und Spektakel für ganz wesentlich,
sondern sie begleiten denselben auch, gleich den indischen Fakirs,
mit Körperverdrehungen und Muskelverrenkungen.
Die Seeuen, die bei ihren religiösen „Erwecknngen" in
ihren Kirchen vorkommen, müssen jeden denkenden Menschen
mit Widerwillen erfüllen. Vor einiger Zeit wohnten wir in
einer hiesigeu Kirche einer solchen Erweckung bei, wobei sich die
handelnden Personen mehr wie wilde Thiere in einem Käsige
als wie vernünftige Wesen geberdeten. Ein solcher Anblick
spottet aller Beschreibung, und'wollte man den ganzen Hergang
getreulich schildern, so würde es Jedermann für eine Carrikatnr
und Burleske halten. Doch treten wir ein in eine farbige Kirche,
wo gerade einige Neubekehrte von einem weißen Missionär aus
Massachusetts die Taufe erhalten. Die Scene, die wir hier
erblicken, bietet eher ein Bild von Besessenen als von Christen,
vor Allem aber ist sie im höchsten Grade lächerlich. Vor dem
Altar stand ein großer Wasserbehälter, dem sich die Täuflinge
der Reihe nach näherten, während die Gemeinde fang, kreischte,
brüllte und stampfte. Zwei Gruppeu tanzten im Chorgaug,
während andere sich mnarmten und sich die Hände schüttelten.
Eine Negerin sprang vorwärts und rückwärts über einen Sitz
und andere saßen in den Ecken und kreischten lustig „Hi, Hi."
288
Aus allen Erdtheilen.
So oft ein Täufling an das Wasser trat, entstaub eine
augenblickliche Stille, aber sobald derselbe untergetaucht war
und auf eine Plattform auf der andern Seite trat,' begann das
Schreien und Kreischen von Neuem. Die Wiedergeborene
ihrerseits (es waren größtenteils Negerinnen) begann nun auf
der Plattform eine Reihe gymnastischer Produktionen, daß man
glaubte, es müßten ihr alle Knochen im Leibe entzwei brechen.
Sie kreischte und stampfte .mit den Beinen und machte mit
ihren Gliedern allerhand seltsame Bewegungen, die nichts wem-
ger als anständig und beinahe obscön waren. Dies setzte sie
so lange fort, bis sie erschöpft und steif wie ein Stück Holz zu
Boden fiel. Dann traten ein halbes Dutzend Männer vor und
trugen sie weg. Auf diese Weise wurdeu sieben Negerinnen
hinweggetragen, nachdem sie die eben beschriebene Operation
durchgemacht. So oft eine an ihm vorbeigetragen wurde, rief
der Missionär aus Massachusetts „Glory" und verdrehte dazu
die Augen, während seine Hände über seinem Kopfe gefaltet
waren und ein gottseliges Lächeln um feilte scharfen Mund-
winkel spielte. Er war ein Mann, der es wohl verstand, diese
einfältigen Creaturen aufzuregen und bis zur Raserei zu ent-
flammen und dabei glaubte er, oder schien wenigstens zu glau-
ben, daß er ein Gott wohlgefälliges Werk thne.
Dieses Kreischeu und Schreien, das oft die ganze Nacht
durch dauert, ist für die Nachbarschaft äußerst lästig,' aber, wenn
sich die Leute darüber aufhalten, so werden sie von den Me-
thodisten und Baptisten der Rohheit beschuldigt.
Der „Sentinel" schildert ähnliche Auftritte iu Thibodeaur
und sagt dazu: „Indem die farbigen Methodisten den Weg zum
Himmel suchen, machen sie einen solchen Spektakel, daß der
Aufenthalt in Thibodeaur für andere Leute zum Fegefeuer wird."
Das Missouri - Paradies. Während im Innern des
Staates Missouri uoch die übliche Anarchie und Konfusion
herrscht, scheint die Stadt St. Louis an Annehmlichkeiten nicht
zurückbleiben zu wolleu. Der „Neue Anzeiger des Westens" zu
St. Louis enthält folgende einladende Schilderung der dortigen
Zustände:
„Die zahllosen Verbrechen, welche seit etwa zwei Wochen
im Bereiche uusrer Stadt verübt worden, und von denen noch
nicht einmal alle zur Kenntniß des Publikums gelangt sind,
geben der hiesigen „DisPatch" Anlaß, Folgendes zu schreiben:
„Die durch Gauner in uusrer City verübten Verbrechen
inehren sich stündlich au Zahl uud nehmen fortdauernd an
Kühnheit zu. Das Verzeichuiß der gestern begangenen Ver-
brechen wird von dem des nächsten Tages übertroffen. Die
Verwegenheit, mit welcher an einem Tage ein Diebstahl aus-
geübt wird, wiederholt sich iu gesteigertem Maße bei einem
noch weit kühneren Diebesunternehmen am folgenden Tage, fo
daß die Bewohner von St. Louis mit gespannter Erwartung
dem nächsten Morgen entgegensehen, in der Voraussetzung, daß
in der Nacht zuvor die Diebe uud Einbrecher mit noch ver-
stärkter Verwegenheit zu Werke gegangen sein werden. Alle bis
zu dieser Zeit üblich gewesenen Vorsichtsmittel und Sicherheit-
maßregeln erweisen sich als gänzlich nutzlos gegenüber der
Schlauheit uud Hartnäckigkeit des Spitzbubengelichters, welches
die Stadt überflutet. In' Bankhäuser, Geschästsofficen, Hotel-
Parlors, die belebtesten Straßen, Straßeneisenbahnwagen, Eisen-
bahuhöfe, in die Schlafzimmer von Damen in Privathäusern —
überall dringen die Gauuer bei Tag uud bei Nacht ein, so daß
der Bürger seine Person und sein Eigenthum uirgends für
sicher vor diesen Schurken halten kann. Um 8 Uhr Abends
werden Leute dicht unter den Gaslaternen, an den
Hauptstraßen angesalleu uud beraubt. Am hellen
Tage werden Banken bestohlen. Eollektoren und
Kassenboten werden um die Mittagsstuude, im
Centrum der Stadt, überfallen und der Gelder,
die sie bei sich tragen, beraubt. Den Damen werden,
während sie sich vollkommen sicher zu seiu einbilden, die Porte-
monnaies auf der Straße aus deu Händm gerissen, iu zahllosen
Häusern allnächtliche Einbrüche uud Diebstähle verübt.
Uud trotz alle dem geschehen keine Verhaf-
tungen! Nicht Einer von den Urhebern dieser viel-
fachen Verbrechen wird zur Verantwortung gezogen.
Es wird eben so wenig entdeckt, wer gestern eine Bank bestoh-
len, als wer heute den Collektor beraubt hat. Die städtischen
Behörden thun durchaus nichts, um uns vor den Schurkeu zu
beschützen, die uns dicht unter deren Augen berauben. Sic thun
uns so wenig Gutes, daß wir ohne Polizei und ohne Polizei-
komniissäre grad' so gnt fahren würden. Die Stadt ist von Gesin-
del aller Arten überfüllt. Die Gauner schwärmen in Myriaden
auf den Straßen und in den Hotels. Die Polizisten begeg-
nen ihnen und sprechen mit ihnen tagtäglich und
dennoch wird Keiner von ihnen v erhaftet. Die Polizei-
Commifsioners haben die Fassung verloren. Sie besitzen keine
Erfahrung in ihrem Amte und kennen die Gewohnheiten und
Verstecke des Feindes wenig. Sie können einen gutgekleideteu
Spitzbubeu nicht von einem Gentleman unterscheiden. Die Diebe
begegnen und kommen ihnen jeden Tag nahe; während sie die
Commifsioners kennen, erkennen die unerfahrenen Commifsioners
sie nicht. Es war Gebranch des frühern Polizeichefs,_ so oft er
einen Schurken von Profession in der Stadt entdeckte, ihn sofort
verhaften zu lassen oder aus der Stadt zu schicken; der jetzige
Chef erkennt dagegen nicht Einen aus einem Dutzend Gauuer,
denen er anf seinem Wege täglich begegnet, er kann also auch
keine Maßregel» wider sie ergreifen. Die Folge davon ist, daß
wir uns ganz in den Händen der Schurken befinden. Sie
rauben, stehlen, räumen uns die Taschen aus, brecheu iu Häuser
ein und überfallen den Bürger mit einer Verwegenheit, die nicht
ärger sein könnte, wenn gar keine Polizei da wäre!"
i'. Der Handel Rußlands im Jahre 1864. Nach der
„Akademiezeitung", die zuerst darüber eine Mittheilung macht,
hat der Handel Rußlands mit Europa im Jahre 1864 in Be-
zug auf die Ausfuhr gegeu 1863 um mehr als 30 Millionen
zugenommen. Sie betrug 171VS Millionen gegen 1404/5 Mill.
im Jahre 1863. Davon kamen 164,n Mill. auf Europa, 6,8 Mill.
auf Finnland. Die Getreideausfuhr (54„ Mill.) zeigte eine
Zunahme vou 10,5 Mill., Schafwolle (19 Mill.) hat eine Mehr-
ausfuhr von 4,s Mill., Leinsamen von 6„. Mill. (18,, gegen
11,5 Mill.). Hingegen hat die Ausfuhr von Flachs und Talg
um je 700,000 Rubel abgenommen; dieselbe war 1864 für
Flachs 15,9, für Talg 9 Mill. Die anderen Erportartikel
waren Hanf und Holz (je 5 Mill.), Schweineborsten, Werg (je
2 Mill.), feruer für je 1 Mill. Vieh, Pottasche, verschiedene
unbearbeitete Metalle, Hauszwiru, Oelköruer, Butter, Stricke
und rohes Leder; für je % Mill. Hanf - und Flachswirkereien,
rohe Seide, Lein- und Hanföl, Pelzwerk, Gallnüsse, Fischthran,
Pferde, Lumpen, Kerzen und Caviar. Eine Zuuahme der Ans-
fuhr wird eoustatirt bei: Holz, Pottasche, Butter, roher Seide,
Oel, Vieh, Leder; eine Abnahme findet sich bei Flachs und
Salz, Stricken, Gallnüssen und Caviar.
In der Gesammtaussuhr nehmen die Rohprodukte mehr
als 150 Mill. Rubel ein, und es bleibt souach deu verarbeiteteu
kaum 15 bis 20 Mill. Im Jahre 1863 betrug die Ausfuhr
edler Metalle 59.« Mill., 1864 nur 21,0 Mill.; bekauutlich
wechselte 1863 bis zum 5. November die Bank ihre Assignaten
gegen Metall um.
Die Einfuhr ergab im Jahre 1864 eine Zuuahme vou
17 Mill. gegeu das Vorjahr; sie betrug im Ganzen 144,2 Mill.,
wovon 3,z Mill. aus Finnland kommen; in dieser Ziffer sind
die im Auslände vou der Regierung und anderen Gesellschaften,
welche keinen Zoll zahlen, eingeführten Maaren nicht inbegriffen,
was jedoch in Zukunft geschehen soll. Es wird ja sonst jede
Handelsbilanz uumöglich. Die Baumwolle nimmt unter deu
Einfuhrartikeln den ersten Rang ein mit 22,6 Mill. (gegen 9,4
Mill. im Vorjahr; dann Thee mit 8,8 Mill. (gegen 10,j Mill.
im Vorjahr). Diese Abnahme erklärt sich aus der Vertheuerung
der Einfuhr über die europäische Landesgrenze. Abgenommen
hat ebenfalls die Einfuhr an Zucker (8,z gegeu 10,2 Mill.), vou
Wein (7„, gegen 8„ Mill.), von Metallen, Fischen, Seiden-
waaren, Drog'uerien. Zugenommen hat nächst der Baumwolle
die Einfuhr von Maschinen nnd Modellen (7 geqen 5,g Mill.),
Steinkohlen (Zuuahme 1,8 Mill.), Wolle (1„ Mill.), chemische
Produkte (1„ Mill.), Salz (2 Mill.), gewirkte Leinen (!,»Mill.),
Woll- und Hanfwirkereien.
r. Metallisches Quecksilber in Lintorf bei Ratingen. Bei
Lintorf hat man einen seltenen Fund gethan, namuch metalli-
sches Quecksilber in kleinen, hellglänzenden Kngelchen, während
dasselbe sonst gewöhnlich an Schwefel gebunden als Zinnober
gewonnen wird. Die Lagerstätte des Quecksilbers ist 1 bis
5 Fuß mächtig nnd bildet die unterste Schicht eines 60 Fuß
starken Thonlagers, auf Dechens geologischer Karte als Thon
von Natingen'bezeichnet, zur Braunkohlenformation gehörig.
Die metallführende Schicht besteht aus einem Conglomerate
von abgerundeten Schieferbrocken mit einem chloritifchen Binde-
mittel, 'beide Bestandtheile im durchweichten Zustande.
Herausgegeben von Karl Andrcc in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Drnck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildvurghausen.
Aus dem Volksleben in Südspanien.
i.
Almena und dessen afrikanisches Gepräge. — Der heilige Gräal. — Die Straße nach Malaga. — Tropischer Pflanzenwuchs.
Das Paradies von Südspanien. — Das bezaubernde Malaga. — Die schönen Weiber. — Leben und Treiben am Hasen.
Die Volksgesänge. — Erinnerungen au die Zeiteu der Mauren. — Die edle Kunst des Messerfechtens. — Die Hauptstöße.
Leben und Treiben des Charran und des Baratero. > ^ '.. .
Wir haben das Vergnügen, unsere Leser wieder einmal
mit Illustrationen von Gustav Dor6 erfreuen zu können.
Der Werth derselbeu besteht nicht etwa allein in der Genia-
lität der Auffassung und in der markigen Zeichnung, son-
dern, was für uns vorzugsweise in Betracht kommt, weil
sie ethnographische Züge ans dem spanischen Volks-
Wir haben (Globus VIII, S. 299) die beiden Reisen-
den in Granada verlassen. Von dort zogen sie nach Jaen;
dann gingen sie durch das wilde Gebirge der Alpujarras
nach der in vieler Beziehung interessanten Stadt Almeria
und dann nach Malaga.
Almeria, dessen Provinz die östliche Ecke Andalusiens
Ein Zweikampf auf Navajas. (Nach einer Zeichnung von G. Dorö.)
leben so vortrefflich wiedergeben. Wer das bunte und
farbige Treiben im südlichen Theile der pyrenäischen Halb-
insel kennt, wird zugeben, daß in Dor-z's Keckheit des
Griffels nicht etwa Uebertreibnng liege; in manchen Fällen,
wo eine gewisse Carricatnr an der Sache selbst haftet, ver-
stärkt er nicht etwa dieselbe, sondern giebt sie wieder, wie
er sie sah. Während er zeichnete, schrieb sein Reisegefährte
und Freund Da villi er einen erläuternden Tort, dem die
leichte Anmuth nicht fehlt, der auch ganz geeignet ist, jenes
Volksleben in dein „gemilderten Afrika" recht anschaulich
zu machen und zn zeigen, wie eigenartig unb von unserm
nordischen Leben so durchaus abweichend dasselbe ist.
Globus IX. Nr. 10.
bildet, zählt etwa 24,000 Einwohner. Auch Moritz
Willkomm hebt hervor, daß dort Alles eiu afrikanisches
Gepräge trage. Die Menschen sind fast so gebräunt wie
die Berbern der gegenüberliegenden Küste, und gewiß sind
unter ihnen noch viele Abkömmlinge der Mauren. Na-
mentlich die Frauen haben einen durchaus moreskischen
Typus und sehen in ihren schwarzen Mantillen geradezu
entzückend aus.
Die Stadt selbst steigt terrassenförmig an, die Häuser-
Haben platte Dächer, die Straßen sind eng und gewunden;
Alles gemahnt an Arabisches und man glaitbt sich nach
Algier versetzt. Gewöhnlich ist das ganze Erdgeschoß offen,
37
290 Aus dem Volkslel
auf der Hausflur sitzen Frauen, ganz in orientalischer
Weise, und flechten Este ras de esparto, Teppiche aus
dem Espartograse, die in ganz Andalusien in Gebrauch
sind. Der Betrieb des Bergbaues und der Schmelzhütten
ist in der Provinz von nicht geringer Wichtigkeit und wirkt
fördernd auf das rege Leben in der Stadt, welche viel
Werth daraus legt, daß. sie, von Phöniciern gegründet,
älter sei, als selbst Granada. Auf den Mauern, welche
von diesen herrühren, stehen arabische Gebäude, und die
glänzenden und schönen Tage von Almeria fallen in die
Zeiten, da es nicht den Christen gehörte. Die Araber-
Haben es 766 in Besitz genommen und dort ein Königreich
gegründet, das bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts
bestand. Die Piraten von Almeria waren weit und breit
im Mittelländischen Meere gefürchtet. Die verbündeten
Spanier, Pisaner und Genuesen haben einmal, 1147, die
Stadt erobert und damals reiche Beute gemacht.
Die Sage will wissen, daß unter derselben sich die
Schale aus Smaragd befunden habe, welcher sich der Hei-
land der Christen bei Anstheilung des Abendmahls bediente.
Diese Reliquie kam nach Genua, wo sie Jahrhunderte hin-
durch als Sacro eatino, die geheiligte Schale, für den
kostbarsten Schatz der reichen Handelsstadt galt. Freilich
will eine andere Sage behaupten, dieselbe sei in den Kreuz-
zügen zu Cäsarea erbeutet worden, und ursprünglich ein
Geschenk, welches die Königin von Saba dem König Sa-
lomo gemacht habe. Noch eine andere Ueberliefernng sagt,
sie sei der heilige Graal gewesen, jenes mystische Gefäß,
nach welchen: König Arthur itnb die Ritter seiner Tafel-
runde fo eifrig gesucht. In Genna wurde der Sacro
ratino dem gläubigen Volke nur bei feierlichen Gelegen-
heitert und aus der Ferne gezeigt und es war bei schwerer
Leibesstrafe verboten, denselben zu berühren. Allmälig
aber wurde, auch von Geistlichen, z. B. dein Abb6 Barthe-
leint), die Echtheit des Gesäßes bezweifelt, und als unter
Napoleon dem Ersten dasselbe nach Paris gebracht wurde,
kam man über die Sache ins Klare; man überzeugte sich,
daß die Schale nicht aus Smaragd, sondern aus antikem
Glase bestand. Im Jahr 1815 wurde sie nach Genua zw
rückgeschafft, zerbrach aber auf der Reise und man mußte sie
mit Gold zusammennieten.
Die Umgegend von Almeria ist ungemein fruchtbar,
die Ueppigkeit der schönen Gärten wird in den moreskischcn
Romanzen hoch gepriesen. Während der Kriege, welche
die Mauren in den Alpttjarras gegen die Christen führten,
wurde gerade in der Provinz Almeria den letzteren ein
verzweifelter Widerstand geleistet, welchen erst Don Juan
d'Austria in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
brach. —
Die beiden Reisenden zogen von Almeria nach Malaga,
der Küste des Mittelmeeres entlang, durch die Stadt
Dalias, wo im Sommer böse Fieber herrschen; dann
über Adra, das auch ungesund ist, und wo mehre Ata-
layas, maurische Wartthürme, liegen; auch diese Stadt
rührt aus den Zeiten der Phönieier her, und sie fchlug in
den Tagen des Kaifers Tiberins eigeue Münzen. Dem
Nordeuropäer sind die Baumwollenfelder und die Pflan-
zungen von Zuckerrohr, die er in der Gegend von Motril
findet, etwas Ueberraschendes; aber diese ganze Küste hat
einen beinahe tropischen Charakter. Der Weg führt weiter
über Salobrena und Almunecar. Im Hafen dieser
letztern Stadt landete Abderrhaman der Erste, der Omma-
jade, und eroberte dann Spanien. Bald nachher gelangt
man nach Velez Malaga, dem „Paradiese von Süd-
spanien". Die Stadt verdient diese Bezeichnung, denn
schwerlich hat irgend eine andere in ganz Europa einen
i in Südspanien.
reinern Himmel und wärmeres Klima. Außer Zuckerrohr
und Baumwolle gedeihen dort auch Indigo, Kaffee, süße
Kartoffeln und andere tropische Pflanzen, sogar die südame-
rikanische Chirimoya wird reif.
Und nun Malaga, „die Zauberin, die Stadt mit
dem ewigen Frühling, welche das Meer sanft bespült,
zwischen Jasmin und Orangen".
Malaga la hechieera,
La clel eternel primavera,
La que baSa dulce el mar
Entre jasmin y azahar.
Das Lob ist wohlverdient, und Malaga in der That
eine reizende Stadt, deren reges Leben und Treiben einen
sehr angenehmen Gegensatz 511 der Stille und Oede Grana-
da's bildet.
Wir gingen, schreibt Davillier, zuerst nach der Ala-
meda, welche man, warum weiß ich nicht, als Salon
de Bilbao bezeichnet. Man hat den Platz zu dem
großen Baumgang einst dem Meer abgewonnen. An dem
einen Ende befindet sich ein prächtiger marmorner Spring-
brunnen, welchen die Republik Genua Kaiser Karl dem
Fünften gefcheukt haben foll. Dort kann man die Schön-
heit der Malagnenas bewundern, die mit vollem Recht
in ganz Spanien hoch gepriesen wird. Sie ist nicht so
streng wie jene der Granadinerinnen, und weniger coquett
als jene der Weiber von Sevilla und Eadiz. Die Mala-
guena unterscheidet sich von den anderen Andalnsierinnen
durch einen noch bräunlichern Teiut, regelmäßigere, sehr
ausdrucksvolle Züge, dicke, sehr schön gezeichnete Augen-
brauen und lange Wimpern. Das gibt dem schwarzen
Auge einen Reiz, der sich gar nicht beschreiben läßt, und
zum Entzücken ist solch ein Weib ans Malaga, wenn es
eine einfache Blume, etwa eiue Dahlia, hinter das Ohr
steckt. Das Haar ist schwarzblau wie der Fittich eiues
Raben.
Das Klima ist mild; in den Straßen werden süße
Kartoffeln (Bataten) und Zuckerrohr verkauft; jene bilden
ein gewöhnliches Nahrungsmittel des gemeinen Volkes
und sind fehr wohlfeil. Ueberall an den Straßenecken
und am Hafen stehen Batateros, die ihre süßen Kartoffeln
rösten und mit dem Ausrufe feilbieten: Batatas, ricas y
gordas! Daneben ertönt der Ausruf der Charranes, der
Fachverkäufer, welche ihre Boquerones, kleine Sardinen,
anpreisen, oder Pintarrojas, Calamares, Dentones und an-
dere „Früchte", welche die See liefert. Von den Charranes
haben wir weiter unten mehr zu sagen; sie tragen ihre
Waare in Cenachos, aus Binsen geflochtenen Körben.
Manche Straßen bewahrten sich ihren alten maurischen
Charakter; viele Häuser haben einen offenen Hof mit
Springbrunnen, und um denselben wachsen Orangen und
Bananen. In diesen Höfeu, Patlos, findet man Küh-
lnng; dort werden an Sommerabenden auch die Tertulias
abgehalten, bei denen man andalnsische Tänze aufführt,
z. B. den Polo de eontrabandista oder die Malaguena del
Torero, oder man singt zur Guitarre jene Couplets, die
als „Malagnenas" in ganz Andalusien so sehr beliebt
sind. Für unser Ohr hat der Rhythmus derselben etwas
Fremdartiges, man könnte fast sagen Barbarisches; aber
es liegt nichts Niedriges oder Gemeines darin. Das
Gleiche gilt von den Canas, Carceleras, Playeras,
Rondenas und anderen volkstümlichen Gesängen. Sie
alle sind ohne Zweifel moreskifchen Ursprungs und
dasselbe ist auch vont _ vielen anderen and aln fischen Volks-
gefangen zu sagen.^ Eine Malaguena besteht gewöhnlich aus
Couplets von je vier Verszeilen; die erste und letzte werden
Aus beut Volksleben in ©itbfvcmiett.
291
zweimal wiederholt. Der Gegenstand ist nicht immer
melancholisch, aber allemal sentimental.
Echame, nina bonita,
Lagrimas en tu panuelo,
Y las llevare a Granada,
Que los engarze un jilatero.
„Gieb mir, reizende Kleine, Deine Thräne in Deinem
Taschentuche; ich will sie nach Granada tragen, zu einem
Juwelier, damit der sie mir fasse."
Son tus labios dos cortinps
De terciopelo carmesi';
Entre cortina y cortina
Estoy esperando el s i!
,,Deine Lippen sind
zwei Vorhänge von kar-
moisinrothem Sammet;
zwischen Vorhang und
Vorhang erwarte ich das
Ja!
Ganz reizend ist Fol-
gendes, was eine junge
Malaguena ihrem Ge-
liebten schreibt:
Como abri sin precaucion
Tu carta, duetio querido,
Se cayo 1u corazon
Mas en mi peclio ha ca'ido;
En el yo le he dado abrigo ;
Pero no cabiendo dos
El mio te mando yo,
Y el tuyo queda con migo.
„Als ich unvorsichtig
Deinen Brief öffnete, ge-
liebter Herr, ließ ich
Dein Herz fallen, aber
es fiel in meinen Buseu.
In diesem habe ich ihm
Schutz gegeben. Aber
da für zwei dort kein Platz
ist, so schicke ich Dir
meins und das Deinige
bleibt mir!" —
In Malaga gemahnt
noch Manches an die
„Mohrenzeit", z. B. das
Castell G i b r a l s a r o, die
Alhondiga, die Alea-
zaba, die Ataraza-
nes, dieses alte manri-
sche Arsenal, und sie alle
haben den eleganten
maurischen Baustyl, und
man liest uoch die In-
schrist, daß Gott allein
Sieger sei.
Auch Malaga verdankt,
gleich so manchen anderen
Küstenstädten, seinen Ursprung den
Ein Charran in Malaga. (Nach einer Zeichnung von G. Dorü,
jömctmt; die Araber
besetzten die Stadt nach der berühmten Schlacht von Gna-
dalete und sie blieb muselmännisch bis zum Jahr 1487.
Fünfzig Jahre später wurde die Kathedrale gebaut, eiu
Prachtgebäude, welches majestätisch unweit vom Hasen in
die Höhe ragt und sich am besten ausnimmt, wenn man es
vom Meer aus betrachtet.
Die Quais am Hafen gewähren dem Beobachter
ein interessantes Schauspiel. Dort liegen tausende von
Fässern und Kisten, mit Pasas, Rosinen, gefüllt, zum
Verschiffen bereit. Diese bilden den Haupthandelsartikel
der Stadt, aber auch die farbigen Töpferwaareu von
Malaga sind seit alten Zeiten berühmt, und die hübschen
Statuetten in andalusischer Tracht kommen aus dem Pa-
sajo de Heredia.
Doch wir wollen uns das Volksleben näher betrachten.
In ganz Spanien werden Messer von verschiedener Art
und Größe sdie Navaja, der Puüal und das Cnchillo)
auch als Waffeu gebraucht, und das Fechten mit dem
Messer ist zu einer förmlichen Knnst geworden. In
gewissen Städten thnt man sich etwas darauf zu gute, daß
man die „gesunden Überlieferungen und die acereditirtesten
Professoren" habe. So
stehen die „Akademien"
von Cordova und Sevilla
in großem Ruf, aber
nirgends wird die Her-
ramienta, die Kunst,
das Eisen zu handhaben,
mit so großein Eifer be-
trieben, als gerade in
Malaga. Auch kommen
in keiner andern Stadt
fo viele delitos de san-
gre, blutige Kriminal-
verbrechen , vor; gewiß
in Folge des Müssig-
gauges, der Spielwnth
und der Trunksucht. Nir-
gends in Spanien wird
der letztern so sehr ge-
fröhnt, als gerade hier,
und selbst die Nacht-
Wächter (die Serenos),
welche für Rnhe und
Ordnung sorgen sollen,
stehen in dieserBeziehnng
in sehr schlechtem Rufe:
En Malaga los serenos
Dicen que no beben vino;
Y con el vino que beben
Puede rooler un molino.
also: „Die Nachtwächter
in Malaga sagen, sie
tränken keinen Wein,
aber mit dem Weine,
welchen sie trinken,
könnte man eine Mühle
in Bewegung setzen."
Es ist möglich, daß
der brennend heiße, von
Afrika herüber wehende
Solano die Reizbarkeit
derMalagnenos steigert,
wie der Siroceo jene der
Neapolitaner. Aber es
ist leider wahr, daß in Malaga die Mörder gar nicht selten
unbestraft bleiben. Daher das Sprichwort: mata al rey,
y vete a Malaga; „tödte deu König und dann geh' nach
Malaga."
Dort treibt sich viel genta de vida airada umher. Der
Ausdruck läßt sich schwer genau wiedergeben; Leute, die
„ein gereiztes Leben" führen, Taugenichtse ohne regel-
mäßigen Beruf, Lungerer und Bnmmler, Rowdies in ihrer
Art. Zu ihnen gehören die Rateros, Diebe, deren jeder
für sich allein und auf eigene Faust arbeitet, die Char-
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294
Aus dem Volksleben in Südspanien.
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ranes und Barateros; von ihnen wird weiter unten die
Rede seiu. Sie alle sind eingeübt auf den Gebrauch der
Navaja, und weil sie mit diesem gefährlichen Messer geschickt
umzugehen wissen, werden sie unverschämt und greifen bei
der geringsten Veranlassung zur Klinge.
Schon früher (Globus Bd. VII, S. 99) wurde
bemerkt, daß namentlich die Navajas von Albacete in
großem Rufe stehen, aber auch die Messerschmiede iu
Guadiz, Sevilla, Mora, Valencia, Jaen und Santa Cruz
de Mudela verstehen sich sehr gut auf ihr Handwerk. In
Andalusien führt die Navaja mancherlei Beinamen, z. B.
corte, das schneidende; hierro, Eisen; abanico, Fächer K.
Dor6 und Davillier nahmen in Malaga Fechtstunden
ans Messer. Der Diestro oder Professor begann mit ver-
schiedenen Arten von golpes, d. h. Stößen, die auch als
punaladas oder punaläs bezeichnet werden. Man versetzt
sie dem obern oder untern Theile des Körpers, parte alta
oder parte baja. Der obere reicht abwärts bis zum
Gürtel, und hier ist der javelique oder chirlo ein Haupt-
stoß. Mau versetzt damit dem Gegner einen langen Schnitt
der Länge nach durchs Gesicht, und diese Art von Wunde
gilt bei deu Barateros für schimpflich. Ein anderer Stoß
ist der desjarretazo, der von hinten her geführt wird und
oberhalb der letzten Rippe sitzen muß; er ist zumeist tödtlich
und wird sehr geschätzt und gepriesen, namentlich wenn die
Klinge eine recht breite Wunde gemacht und den Rücken-
Wirbel von einander getrennt hat. Es gehört große Ge-
schicklichkeit zum Führen dieses Stoßes, und er ist auch
deshalb gefährlich, weil dabei der Stößer selbst nothwendig
ungedeckt bleibt und in Gefahr schwebt, seinerseits einen
Stich iu deu Bauch zu bekommen. Der Professor erläu-
terte diesen Stoß sehr eingehend, und Dore' konnte in aller
Muße eine durchaus lebenswahre Skizze zeichnen.
Der Punal oder das Cuchillo, welches iin spa-
nischen Rothwälsch chm-ri genannt wird (daher das sranzö-
sische chouriiier), hat wieder seine besonderen Regeln. Diese
Masse ist besonders bei Matrosen und den Insassen der
Gefängnisse beliebt; man versetzt damit nicht Schnitte,
sondern Stöße, weil der Dolch keine Schneide hat. Der
Griff ist kurz und dick, etwa von der Gestalt eines Eies,
die Klinge platt oder oval oder auch ruud, manchmal auch
viereckig und fast fo spitz wie eine Nadel, eingezackt, damit
sie reißen kann, und obendrein an mehren Stellen mit
Löchern versehen.
Beim Fechten mit dem Punal bildet der Moliuete
den Hauptstoß; wir geben von demselben eine getreue
Zeichnung Dore's. Der eine Gegner dreht sich rasch ans
einem Fnß herum und hält den Arm erhoben, uiu dein
andern unversehens einen Stoß hinter dem Schulterblatte
beizubringen. Der letztere muß zu seiner Vertheidignug
mit seiner linken Hand jenen Arm auffangen und abhalten,
und während er das zu thun versucht, mit seiner Rechten
selber einen Stoß führen. Gewöhnlich werden beide Hand-
gemein und nicht selten nimmt solch ein Kampf für den
einen wie für den andern einen tödtlichen Ausgang. Diese
gefährliche Waffe wird auch von der flachen Hand aus
geworfen und zwar derart, daß die Spitze nach innen liegt
und sich dem Gegner zuwendet, sobald sie durch die Lust
stiegt.
Die Matrosen tragen ihre herramienta an einer Schnur
oder einer kupfernen Kette am Gürtel und verstehen sich
trefflich auf das lanzai- la navaja; sie „nageln" das Messer
vermittelst eines geschickten Wurfes dein Gegner in den
Leib, und zwar nicht selten an der Stelle, welche der Diestro
bezeichnet hat. Andererseits haben aber die Andalnsier eine
große Gewandtheit, solchen Wurfgeschossen auszuweichen,
ja die navaja des contrario an der Schnur oder Kette auf-
zufangen und mit ihrem eigenen Messer zu durchschneiden
oder zu zerreißen.
Die tijeros oder langen Scheeren, welche Vorzugs-
weise bei den Zigeunern in Gebrauch sind, bilden auch eine
furchtbare Mordwaffe, und die durch sie verursachten
Doppelwunden sind allemal höchst gefährlich.
Also Malaga hat seine „gefährlichen Klassen", und
unter diesen sind namentlich zwei Typen bemerkenswert!),
welche dieser Stadt ausschließlich angehören.
Da ist zunächst der Charran. Im Wörterbuche der
madrider Akademie sucht man vergebens, was der Aus-
druck bedeute. Der Charran ist nicht ein pariser Gamin,
und auch kein neapolitanischer Lazzarone, aber von beiden
steckt etwas in ihm. Wir schlendern nach dem Barrio
del Perchel, einem Stadtviertel, wo man den Andalnsier
mit seiuen Eigentümlichkeiten in aller Muße betrachten
kann. Dort sind die perchas, Stangen, ausgerichtet, an
welchen die Fischer ihre Netze trocknen; dort versammeln
sich die Majos und Majas, um zu sehen und sich sehen zu
lassen, und wenn man eine elegante Dame von zwang-
loser Haltung bezeichnen will, dann sagt man, sie sei eine
nioza Perchelera.
Dort liegt eine Barke am Strande; neben ihr kauern
ein paar Charran es und spielen Karte. Diese Leute siud
iu Malaga geboren und werden dort auch sterben, wenn
sie nicht etwa eines Verbrechens halber nach einem asrika-
nischen Presidio, etwa Cüuta oder Melitta, gebracht werden.
Eine regelmäßige Beschäftigung haben sie nicht; dann und
wann ziehen sie als Boqnerones in den Straßen umher
und verkaufen Sardinen, oder sie tragen den Hausfrauen
oder Köchinnen den Marktkorb; doch besteht ihr eigent-
liches Gewerbe im Nichtsthun, und sie lungern, je nach
Tages- oder Jahreszeit, in der Sonne oder im Schatten
umher.
Der Charran ist zumeist ein Bnrsch von 14 bis 20
Jahren; ist er jünger, so bezeichnet man ihn als Pillo,
was etwa dein jungen pariser Gamin, dem voyou, entspricht,
oder auch granuja, d. h. Rosincnkern; in dem letztern
Ausdruck liegt aber etwas Verächtliches. Mit wachsendem
Alter nimmt seine Nichtsnutzigkeit zu, und er wird Ba-
ratero oder Ratero, wohlverstanden, wenn nicht früher
die Schneide einer Navaja oder die Spitze eines Punal
ihn aus dieser Welt hiuausspedirt hat. Er ist ein fo
abgefeimter Dieb wie nur irgend einer feines Gelichters in
London oder Neapel. Hier ein Beispiel:
Eines Sonntags kam ein Maulthiertreiber aus dem
Gebirge nach Malaga hinunter. An der Pnerta de Mar
begegnet ihm ein Freund vom Lande, der eben in die
Kathedrale zur Messe gehen will und ihn auffordert, mit-
zugehen. Der Arriero fagt, dazu habe er wohl Lust,
wisse aber nicht, was er mit einer Goldunze anfangen
solle, die er in der Tasche habe; sie könne ihm in: Ge-
dränge gestohlen werden. Der andere spricht, deshalb
werde er doch nicht die Messe versäumen (eigentlich ver-
lieren, perder); er solle getrost seine Unze in den Mund
nehmen; dort sei sie sicherer als im Gürtel, in der Faja.
Das leuchtete dem Maulthiertreiber ein und beide
gingen zur Kirche. Judessen hatten einige Pillos, Gra-
uujas und Charranes das ganze Gespräch erlauscht
und auch gesehen, daß der Mann seine Goldunze in den
Mund steckte. Sogleich war ein Plair fertig. Drei
Taugenichtse trennten sich von den übrigen und folgten den
beiden Landleuten bis in die Kirche. Nachdem sie ihre
Bastschuhe und Hüte abgelegt, nahmen sie ein Sacktuch air
allen vier Zipfeln, warfen etwas Kleingeld hinein und
Aus dem Volksleben in Südspanien.
295
spielten die Nolle von Matrosen, welche um Spenden
baten, damit ein Gelübde erfüllt uud einige Messen bei
unserer lieben Frau del Carmen gelesen werden könnten.
So rückten sie dem Maulthiertreiber, der iu einer Menschen-
grnppe stand und seine Unze fest zwischen den Zähnen hielt,
immer näher, knieten nieder, murmelten Gebete vor sich
hin, ließen aber ihr Opfer nicht ans den Augen.
Als die Messe vorüber war, ließ der eine den Zipfel
los uud das Geld siel klirrend auf die Steine. Sogleich
rief ein anderer Charran: „Caballeros, daß sich Niemand
vom Flecke bewegt! Dieses Geld gehört unserer aller-
heiligsten Jungfrau. Wo ist die Unze? Ich fehe die Gold-
unze nicht!"
Alle Umstehenden bückten sich, um dieselbe zu suchen,
mit Ausnahme der beiden Ganner, die wie angenagelt
stehenblieben. „Hat Niemand die Unze gesehen, welche
für die allerheiligste Mut-
ter Maria, für eine Messe,
bestimmt war? Wo ist
die Unze, wer hat sie?"
Sofort schrie der dritte
Gauner, ans den Maul-
thiertreiber deutend:
„Der Halunke da hat
sie, er steckte sie in sei-
nen Mund." Der ver-
bliiffte Arriero fuhr un-
willkürlich mit der Hand
nach den Zähnen und
nahm die Unze heraus.
Sofort griff einer von
den Gaunern darnach
und steckte sie ins Sack-
tnch; natürlich erging er
sich dabei in Schimpf-
reden gegen den Dieb,
welchen das unwillige
Publikum gar nicht zu
Worte kommen ließ. In-
zwischen machten sich die
Charranes aus dem
Staube uud theilteu die
Beiüe.
Diese Bummler von
Malaga haben eilte ge-
wisse Haltung und man
wird sie deshalb nie init
Bettlern von Handwerk
verwechseln können; allch
fordern sie keil: Almo-
sen, sondern stehlen lieber, gewöhnlich auf der Esplanade
del Muelle. Dort erheben sie auch herkömmlich eine Art
von Zehnten von Allem, was dort ans Land geschafft wird,
etwa einen Stockfisch, den sie unter Wamms oder Mantel
prakticiren, eine Zwiebel, eine Melone oder einige Ba-
taten ; auch stechen sie mit ihrer Navaja in Reisballen und
fangen in ihrem Hnt auf, was herausfällt. Nachher schlen-
dern sie zu dem trocken liegenden Flußbette des Guadal-
medina oder an irgend einen andern abgelegenen Ort, wo
sie kochen und rösten, was sie erbeutet haben.
Nachher wird Karte gespielt, denn alle Audalusier
der niedrigen Klassen sind leidenschaftliche Spieler. Ein
alter Mantel wird ausgebreitet und dient als Teppich, die
Kartell sind fo abgenutzt uud schmutzig, daß man kaum die
Figuren oder Punkte erkennt. Der Charran hat aber
auch noch andere Spiele und wo er irgend kann, betrügt
Zweikampf mit dem Punal. EI Molinete. (Nach einer Zeichnung von G. Dorö.)
er. Deshalb nimmt die Partie gewöhnlich eilt unfried-
liches Ende, es regnet Faustschläge, Knüttelhiebe; auch die
Steine werden als Waffen benutzt uud die Kämpfe mit
diesen, die Pedreras, werden gewöhnlich in dem oben
erwähnten trockenen Strombette des Guadalmedina ans-
gefochten, weil dort Kiefel in beliebiger Menge vorhanden
sind. Dort fechten auch die verschiedenen Barrios ihre
Sträuße aus.
Malaga zerfällt in drei Hauptquartiere oder Barrios:
la Bietoria, el Perchel und la Trinidad. Die Bewohner
jedes einzelnen Viertels haben in Sitten und Kleidung
etwas, das sie von deil übrigen unterscheidet, und seit un-
denklichen Zeiten vertragen ne sich nicht gut mit einander.
Die Behörden haben alles Mögliche versucht, um diesen
Pedreras ein Ende zu machen, aber in Zwischenräumen
wiederholen sie sich doch,
gewöhnlich an Sonn -
oder Festtagen.
Ohne Taback kann
der Charran nicht leben;
er muß immer rauchen,
sammelt alle Cigarren-
stninpfe und verwandelt
sie in Papiercigaretten.
Kommt er einmal an
eine echte Havana, eine
Pnro, so müssen seine
Freunde auch etwas da-
von haben. Sic stellen
sich, nach dem Alter ge-
ordnet, in einen Kreis;
der Aelteste zündet die
Cigarre an, thnt einen
herzhaften Zug uud
reicht sie feinem Nach-
bar, der es dann eben
so macht. So geht die
Pnro von Hand zn
Hand.
Eine feste Wohnung
hat der Charran eigent-
lich nicht; er ist Sonnen-
bruder und Cavalier vom
Mondschein, schläft un-
ter freiem Himmel, da
wo es ihm eben paßt,
und seiner harten, ge-
bräunten Haut können
die Mücken uicht viel an-
haben.^ Im Winter findet er immer einen Zaguan, Por-
ticils, in welchem er gegen den Nordwind Schutz siudet.
Eine politische Meinung hat er nicht, aber er mischt
sich iil alle Händel.
Der Baratero ist eine echt andalusische Figur; er
kommt nicht ausschließlich in Malaga vor, wird aber hier-
in seiller wahren Vollendung angetroffen. Allemal gehört
er der niedrigste,: Volksklasse an, weiß mit Navaja lind
Punal vortrefflich umzugehen, macht sich überall gefürchtet
und beutet deu Schrecken, welchen er Anderen einjagt,
häusig dazu aus, daß er die Spieler zwingt, ihm etwas
Geld abzugeben. Es ist schon gesagt worden, daß in
Andalusien die Leute aus deu unteren Klassen leiden-
schaftliche Spieler seien. Nun findet man in jeder Stadt
eine Anzahl von schlechten Gesellen, welche als Tafnres
bezeichnet werden und die im Spiele betrügen. Ihr Ge-
296
Aus dem Volksleben in Südspanien,
Werbe ist alt, denn schon vor Jahrhunderten hat König
Alphons der Weise strenge Verordnungen gegen die
Täfnrerias oder Spielhäuser erlassen und späterhin, im
siebenzehnten Jahrhundert, schrieb ein Geistlicher heftig
gegen diese Ganner, deren bösen Streiche er ausführlich
schildert. Noch heute findet man in jeder andalusischen
Stadt Garitos, Spielhöllen, wo die Leute vom Hand-
werk sich zusammen finden, und auf welche die alten Verse
passen:
Ya el judagor de Espaua
Sn. esperanza 110 fia
En el inciento li'izar, siilo en la mana.
„Heutzutage setzt der spanische Spieler seine Hoffnung
nicht ans den ungewissen Glücksfall, sondern rechnet auf
die Geschicklichkeit seiner Hände."
Man findet natürlich die Spieler nicht blos tu den
sind, tritt plötzlich ein Kerl hinzu, dessen Gesicht nichts
Gutes verkündet. Er schauet keck darein und in seinem
ganzen Benehmen liegt etwas Herausforderndes. Er ist
kräftig gebaut, dazu auch dien empatillado, d. h. er hat
einen starken Backenbart; seine Jacke hat er über die
Schultern geworfen und die Beinkleider mit einer brau-
nen Schärpe über den Gürtel befestigt. Das ist der echte
Baratero, der ohne Weiteres sich unter die Spielenden
mischt uud ihnen kurz und bündig erklärt, daß er seinen
Antheil vom Einsätz erheben wolle, cobrar el barato.
Denn Barato heißt der Tribut, welchen er für sich fordert.
Die Summe ist übrigens allemal gering und beträgt von
jedem Einsatz nur etwa einen Silbergroschen.
Ahi va eso! So ruft der Baratero, indem er ein
altes, in schmutziges Papier gewickeltes Spiel Karten,
una baraja, aus den Tisch wirft. Das bedeutet soviel
r;. ^
"ÄDl/O
Messerwerfen. (Nach einer Zeichnung von G. Doru.)
Garitos, sondern an vielen anderen Stellen, z. B. cun
Meeresstrand, neben einem beliebigen Schiffe, anf Spa-
ziergängen im Schatten der Bäume, an einer Mauer, in
diesem und jenem Winkel. Das Publikum besteht ge-
wohnlich aus Charranes und Leuten ähnlichen Gelichters,
gewöhnlich finden sich auch Matrosen und Soldaten ein.
Da sitzen oder liegen sie im Schatten einer auf deu Saud
gezogenen Barke, deren Segelwerk an der Sonue trocknet;
manche liegen auf dem platten Bauche vor einem Spiel
abgegriffener Karten, das von Hand zu Hand geht. Sie
spielen Eane, Peeao oder sonst ein bei ihnen beliebtes
Spiel; ihr Gesicht ist unruhig, man sieht ihnen die Aus-
regnng an, und immer sind sie auf der Hut vor dein
Alguazil; denn dieser Polizeidiener ist ihr geschwornet
Feind. Manchmal haben sie es auch bequemer und sitzen
in einer Winkelkneipe anf rohen Bänken an eben so rohen
Tischen. Während sie recht eifrig uud im besten Zuge
als man solle und dürfe nur mit diesen-Karten spielen:
Agni no se juega sino con mis barajas! d. h. hier spielt
man nur mit meinen Karten. Machen die Spieler
keine Umstände und geben gutwillig deu Tribut, dann
steckt der Baratero seine Silberlinge ein und Alles ver-
läuft in Ruhe und Frieden. Aber es trifft sich auch wohl,
daß sich in der Gruppe ein Baliente, ein mozo cruo,
also einer, der auch seinen Mann steht, ein roher Bursch,
befindet, der sich weder vor dem Satan noch dessen Groß-
Mutter fürchtet. Solch eiu Bursch ruft dann:
Camara, nojotros no uecesitamos jeso! ,,Kamerad,
wir brauchen das nicht," und dabei gibt er das Spiel
Karten dem Baratero zurück.
Dieser entgegnet: Cbiquiyo, venga aqui el barato.,
y sonsoniche! „Gassenbube, gib mir rasch den Barato,
und weiter keiu Wort!"
298 Das Vordringen der
Nun zieht der „rohe Vnrsch" ein langes Messer her-
vor, das an seinem Gürtel hängt, drückt an die Feder,
damit die Klinge herausspringe, rennt diese mit der
Spitze in den Tisch, dicht neben dem Kartenspiel und ruft:
Aqui no se cobra el barato sino con la punta de una
navaja! „Hier erhebt man den Barato nur mit der Spitze
einer Navaja."
Insgemein wird diese Herausforderung angenommen
und dann sagen beide Theile in halb feierlichem, halb
trotzigem Tone: Vamonos oder Vamos alla! ,,Gehen wir
hin!" Oder auch: Vamos a char un viaje; „gehen
Wir, um eine Reise zn machen." Das ist dann ihr letztes
Wort.
Die Charranes nehmen Geld und Karten; die beiden
Gegner gehen nach irgend einer abgelegenen Stelle und
fechten, bis einer gefallen ist. Nicht immer bleibt solch
ein Mord unbestraft. Es trifft sich wohl, daß man einige
Monate später in den Straßen den Schall einer kleinen
Glocke hört, und daß ein Mann um Almosen bittet, um
Messe lesen zu lassen für die Seele eines Menschen, der
hingerichtet wird.
Manchmal treffen zwei Barateros an demselben Spiel-
tische zusammen und der zuletzt gekommene verlangt auch
seinen Antheil. Darüber kommt es dann zn blutigen
Auftritten und die beiden Taugenichtse zerfleischen sich in
gräßlicher Weise. Es kommt aber auch vor, daß der eine
sich als Strohrenommist benimmt, der anfangs den Eisen-
freffer fpielt, dann aber den Schwanz einzieht. Man be-
zeichnet in Andalusien einen solchen als maton, matachin,
valenton oder perdona vidas.
Ein Zwiegespräch zwischen einem solchen Strohrenom-
misten und einem wirklichen Raufer ist in der That ergötz-
lich, verliert aber viel, wenn man es nicht in andalu-
sischem Dialekte hört. Der eine läßt die Feder an feiner
Navaja knacken und sagt:
Ea! hier zeigen sich die Braven!
Der andere geht um seinen Gegner herum und spricht:
Tire ostd! Zieh nur vom Leder, Gevatter Juan.
Nicht so viele Umschweife! Vente a mi, Carriyo!
Ei, du springst ja wie ein junger Hund.
Ea', Dios mio; befiehl dem lieben Herrgott deine
Seele.
Hast du etwas abbekommen?
Nein, es ist nichts.
uffeu in Centralasien.
Nun so will ich dir den Gnadenstoß versetzen; mach
dich fertig für die letzte Oelung.
Rette dich, por Dios, Carriyo, du siehst doch wohl, daß
ich die Oberhand behalte. Wart, nun versetze ich dir eine
Wunde, die größer ist, als ein Brückenbogen.
In dieser Weise würde das Zwiegespräch eine halbe
Stunde lang fortgehen, wenn nicht die gemeinschaftlichen
Freunde sich ins Mittel legten. Die beiden Gegner sind
auch ganz wohl damit zufrieden, daß die Sache einen un-
blutigen Ausgang nimmt. Sie klappen ihre Messer wieder
ein und gehen in die nächste Taberna, wo sie einige Kannen
Xereswein vertilgen.
Außer den barateros de playa, die am Meeresstrande
ihr Handwerk treiben, gibt es den baratero, welcher im
carcel, im Gefangenhause, seinem Handwerk obliegt, nnd
dann auch noch den baratero soldado, der seine ganze
Compagnie und Wohl auch sein Regiment tyrannisirt.
Der Sergeant mag ihn nicht zum Feinde haben und
macht ihm beii Dieust leicht; er ist allemal dabei, wann
und wo es Krakeel gibt und um Mannszucht kümmert er
sich gar nicht; er raucht Puros, die Marketenderin schenkt
ihm das Beste ein und Alles bezahlt er vom Barato,
welchen er den übrigen Soldaten abnimmt. Während
des Marsches besucht er seine Genossen, denn unter den
Barateros besteht eine Art von Maurerei, wie unter den
neapolitanischen Camoristi, nnd sie halten unter einander
zusammen; nur selten kommt ein Streit, una pendencia,
vor, der sich aber meist darauf beschränkt, daß diese Bieder-
männer sich die Weinkannen an den Kopf werfen oder sich
ein paar Schnitte versetzen; nachher sind sie wieder die
besten Freunde.
Der baratero del carcel ist der gefährlichste von Allen;
niederträchtig und verderbt von Jugend auf, hat er den
größten Theil seines Lebens im Gefängnisse zugebracht, in
dem Haufe „wo es wenig zu beißen und zu brechen gibt".
Sobald ein Neuling ankommt, fordert jener von ihm den
Zehnten und dabei hat er feiu Messer in der Hand. Das
duldet man in Spanien.
Der Baratero findet sein Lebensende gewöhnlich auf
dem NichtPlatze, wo man ihm mit der Garrote die Kehle
zuschnürt. Das eiserne Halsband wird als corbatin de
Vizcaya bezeichnet. Wenn der Henker dieses eiserne Hals-
band immer enger zuschraubt, fragt er herkömmlich den
armen Sünder: „Verzeihst du mir?"
Das Vordringen der
Wir erhielteu aus St. Petersburg vom 3. Dezember
1865 eine Zuschrift, in welcher bemerkt wird, daß jeder
Unbefangene die Ansicht theilen müsse, welche in Bezng
ans die Stellung und die Aufgabe Rußlands in Inner-
asien mehrfach von uns ausgesprochen worden sei. Der
Herr Correspondent macht uns darauf aufmerksam, daß" die
Regierung ihr asiatisches Programm so deutlich festgestellt
habe, wie man nur wünschen könne; auch unterliege es
keinem Zweifel, daß sie es ernsthaft mit demselben meine.
Bekanntlich bringen anglo-indische Berichte, welche dann
aus den londoner Blättern in jene des europäischen Fest-
lands übergehen, nicht selten sabelhafte Berichte aus Cen-
in Centralasien.
tralasieu, insgemein viel Jrrthum neben etwas wenigem
Tatsächlichen. Es sind zumeist Karawanen- nnd Bazar-
gerüchte, die anfangs einige Sensation machen und nachher
wieder vergessen werden, etwa wie unsere Börsengerüchte.
Gegen Ende des Jahres 1864 flogen viele solcher Bazar-
enten bis nach Europa und man knüpfte allerlei Betrach-
tun gen daran, um Rußlands unersättliche Ländergier in
eine recht grelle Beleuchtung zu stellen.
Unter solchen Umständen erließ Fürst Gortschakoss eine
Cireulardepesche an die russischen Gesandten bei den ver-
schiedenen Höfen, welche uns damals entgangen ist. Sie
zeichnet die Bestrebungen der kaiserlichen Politik in Asien
Das Vordringen der
so klar und scharf und gibt einen so tiefen Einblick in die
Verhältnisse, daß wir nicht umhin können, sie mitzutheilen.
Dem Herrn Eorrespondenten sagen wir für die Ueber-
sendnng dieses wichtigen Aktenstückes (vom 21. November
1864) unfern besten Dank.
„Die Stellung Rußlands in Centralasien
ist die aller civilisirten Staalen, welche sich im Kontakt mit
halbwilden, umherstreifenden Völkerschaften ohne feste feciale
Organisation befinden.
In dergleichen Fällen verlangt das Interesse der Sicher-
heit der Grenzen und der Handelsbeziehnngen stets, daß
der civilisirtere Staat ein gewisses Uebergewicht über Nach-
barn übe, deren unruhige Nomadensitten sie äußerst unbe-
quem machen.
Zunächst hat man Einfälle und Plünderungen zurück-
zuweisen. Um denselben ein Ende zu macheu, ist man
gezwungen, die Grenzbevölkerung zu einer mehr oder minder
direkten Unterwürfigkeit zu zwingen.
Sobald dieses Resultat erreicht ist, nehmen die Grenz-
bewohner ruhigere Gewohnheiten an. Nun sind sie aber
ihrerseits den Angriffen der entfernteren Stämme ausge-
setzt. Der Staat ist verpflichtet, sie vor Plünderung zu
schützen uud diejenigen, die sie verübt, zu züchtigen. Da-
her entspringt die Notwendigkeit entfernter, kostspieliger,
wiederkehrender Erpeditionen gegen einen Feind, den seine
Organisation ungreifbar macht. Wenn man sich darauf
beschränkt, die Plünderer zu züchtigen, und sich zurückzieht,
wird die Lektion bald vergessen und der Rückzug der
Schwäche zugeschrieben; die asiatischen Völker besonders
achten nur die ficht- und fühlbare Gewalt; die moralische
Gewalt des Rechtes und der Interessen der Civilisation hat
bei ihnen noch kein Gewicht. Es ist daher immer wieder
von vorne zu beginnen.
Um diesen andauernden Unordnungen ein Ende zu
machen, errichtet man e i u i g e b e s e st i g t e P u u k t e unter
den feindlichen Volksstämmen; man übt über sie ein Ueber-
gewicht, welches sie zu einer mehr oder weniger erzwunge-
neu Unterwürfigkeit führt. Aber gleich rufen andere ent-
ferntere Volksstämme jenseits dieser zweiten Linie dieselben
Gefahren und dieselben Sorgen zur Beseitiguug derselben
hervor.
Der Staat befindet sich in der Alternative, diese nie
endende Arbeit aufzugeben uud seine Grenzen beständigen
Unordnungen, die daselbst jedes Gedeihe«, jede Sicherheit,
jede Civilisation unmöglich machen, Preis zu gebeu, oder
mehr uud mehr iu das Innere wilder Gegenden vorzu-
dringen, wo die Entfernungen die Schwierigkeiten und die
Lasten, welche er ans sich nimmt, mit jedem Schritte ver-
mehren.
Dieses Loos hatten alle Staaten, welche sich unter den-
selben Bedingungen befinden; die vereinigten Staaten von
Nordamerika, Frankreich in Algier, Holland in seinen
Eolonien, England in Indien; sie alle haben unvermeid-
lich diesen fortschreitenden Gang verfolgen müssen, an
welchem der Ehrgeiz weit weniger Antheil hat, als eine
gebieterische Notwendigkeit, und wo die größte Schwierig-
keit darin liegt, im richtigen Augenblicke Halt zu machen.
Dies ist auch der Grund, welcher die kaiserliche Regie-
rung veranlaßt hat, sich zuerst einerseits amSyr-Darja,
andererseits am Jssy-kul festzusetzen und diese beiden
Linien durch vorgeschobene Forts zu befestigen,
welche allmälig in das Herz dieser entfernten Gegenden
gedrungen sind, ohne daß man dahin gelangt wäre, jen-
ussen in Centralasien, 299
seits derselben die für unsere Grenzen unerläßliche Ruhe
herzustellen.
Die Ursache dieser Erfolglosigkeit lag zunächst in dem
Umstände, daß zwischen den Endpunkten dieser doppelten
Linie ein ungeheuerer wüster Raum unbesetzt blieb, wo die
Einfälle der räuberischen Stämme jede Eoloui-
sirung und jeden Karawanenhandel unmöglich machten.
Dann zeigte sich in den Schwankungen der politischen Lage
dieser Gegenden, wo Turkestan und Ehokand sich bald
im Kriege untereinander, bald vereinigt im Kriege gegen die
Bucharei, aber stets im Kriege befanden, keine Mög-
lichkeit, feste Beziehungen herzustellen oder irgend welche
regelmäßige Verhandlungen zu pflegen.
Dte kaiserliche Regierung hat sich also wider ihren
Willen in die Alternative versetzt gesehen, welche wir an-
gedeutet haben, d. h. entweder einen Zustand bleibender
Unordnung, der jede Sicherheit uud jedeu Fortschritt lähmt,
fortdauern zu lafseu, oder sich zu kostspieligen uud entfern-
ten Erpeditionen ohne praktisches Resultat, die stets von
vorn zu beginnen gewesen wären, zu verurtheileu, oder
endlich den unbestimmten Weg der Eroberungen und
Annexionen zu betreten, welcher England zur Be-
herrschung Indiens geführt, indem es nach einander die
kleinen unabhängigen Staaten, deren räuberische Gewohn-
heiten, unruhige Sitten und beständige Revolten den
Nachbarn nicht Ruhe und Rast gaben, durch Gewalt der
Waffen zu unterwerfen gesucht.
Keine dieser Alternativen entsprach dem Ziel, welches
sich die Politik uusers erhabenen Herrn vorgesteckt, und
welches nicht darin besteht, die seinem Seepter unterwerfe-
nen Länder über jedes Verhälwiß hinaus auszudehnen,
sondern vielmehr darin, seine Herrschaft darin auf
dauernde Grundlagen zu stellen, ihnen Sicherheit
zu gewähren uud ihre sociale Organisation, ihren Handel,
ihren Wohlstand und ihre Civilisation zu entwickeln.
Unsere Aufgabe war es, einSystem aufzufinden, wel-
ches dieses dreifache Ziel erreichen konnte.
Zu diesem Zwecke wurden folgende Grundsätze auf-
gestellt:
1. Es wurde für unerläßlich befunden, unsere beiden
Grenzlinien, von denen die eine von der chine-
sischcn Grenze bis zum Jssy-kul, die audere
vom Aralsee längs des Syr-Darja ging, in
solcher Weise durch befestigte Punkte zu verbinden,
daß unsere Posten im Stande wären, sich gegenseitig zu
unterstützen und keinen Zwischenraum ließen, durch wel-
chen die Nomadenstämme ungestraft Raubeinfälle ausführen
könnten.
2. Es war wesentlich, daß die auf diese Weise vervoll-
ständigte Linie unserer vorgeschobenen Forts sich in einer
Gegend befand, die fruchtbar genug war, um nicht nur
ihre Versorgung mit Lebensmitteln sicher zu stellen, son-
dern auch um ^me regelmäßige Colonisirung zu
erleichtern, welche allein dein besetzten Lande eine sichere
und gedeihliche Zukunft bereitet, indem fie die benach-
barten Stämme dem civilisirten Leben gewinnt.
3. Endlich war es notwendig, diese Linie endgiltig
festzustellen, um der fast unvermeidlichen Gefahr zu ent-
gehen, von Repressalien zu Repressalien zu schreiten, die zu
einer unabsehbaren Ausdehnung führen konnten.
Zu diesem Zwecke mußte man die Grundlagen zu einem
System legen, welches nicht nur auf vernünftiger Ueber-
legung, welche elastisch sein kann, sondern aus geogra-
phischen uud politischen Bedingungen, die fest und
bleibend sind, beruhte.
33*
300
Das Vordringen der Russen in Centralasien.
Dieses System wurde uns durch eine sehr einfache
Thatsache angedeutet, die das Resultat einer langen Er-
fahrung ist; daß nämlich die Nomadenstämme,
welche man nicht greisen, nicht züchtigen, nicht in
wirksamerWeise zusammen halten kann, für uns
die alleruubequemste Nachbarschaft sind, und
daß dagegen ackerbauende und handeltreibende
Völkerschaften, welche am Boden ihrer Heimat
haften und eines entwickelten socialen Orga-
nismus theilhaftig sind, uns die Chance einer
erträglichen Nachbarschaft und verbesserungs-
fähiger Beziehungen darbieten.
Die Linie unserer Grenzen mußte daher die ersteren
einschließen; sie mußte bei der Berührung der letzteren
Halt machen.
Diese drei Principien geben eine klare, natürliche und
logische Erklärung der Militäroperationen, welche sich
neuerdings in Centralasien vollzogen haben.
In der That bot die anfängliche Linie unserer
Grenze längs des Syr-Darja bis zum Fort Perowski
auf der einen Seite und bis zum Jfsy-knl-See auf
der anderen den Uebelstand dar, daß sie beinahe an die
Wüste stieß. Sie war auf einer ungeheueren Strecke zwi-
schen den beiden äußersten Punkten unterbrochen; sie bot
unseren Truppen keine genügende Menge von Hilfsmitteln
dar uud ließ Stämme außerhalb der Grenze, mit welchen
ein Zusammenhang nothwendig war, wollte man nicht aus
jede Stetigkeit verzichten.
Trotz unserer Abneigung, unserer Grenze eine weitere
Ausdehnung zu geben, waren diese Beweggründe doch
mächtig genug, um die kaiserliche Regierung zu veranlassen,
die Continuität dieser Linie zwischen dem JssY-
kul-(See) und dem Syr-Darja herzustellen, indem
die kürzlich von uns besetzte Stadt Tschemkend befestigt
Wurde.
Indem wir diese Linie annehmen, erhalten wir ein
doppeltes Resultat: Einerseits ist die Gegend, welche
sie umfaßt, fruchtbar, holzreich, von zahlreichen Gewässern
durchströmt; sie ist theilweise von kirgisischen Stämmen
bewohnt, welche unsere Herrschaft bereits anerkannt haben;
sie bietet deshalb günstige Elemente für die Coloni-
sation und die Verproviantirung unserer Besatzungen.
Andererseits gibt sie uns zu unmittelbaren Nachbarn die
angesiedelte ackerbau- und handeltreibende Bevölkerung
von Chokand.
Wir befinden uns einer socialen Bevölkerung gegen-
über, welche solider, kompakter, weniger beweglich und
besser organisirt ist und diese Erwägung bezeichnet
mit geographischer Genauigkeit die Linie, zu
welcher uns Interesse und Vernunft Vorzugehen
rathen und still zu stehen heißen, weil einerseits
Jede fernere Ausdehnung unserer Herrschaft weiterhin nicht
ans solche unbeständige Bevölkerungen, wie die nomadischen
Stämme, sondern auf regelmäßiger eingerichtete Staaten
stoßen, beträchtliche Anstrengungen erfordern und uns von
Annexion zu Annexion zu unabsehbaren Verwicklungen
fortreißen würde; und weil andererseits bei der Nachbar-
fchaft solcher Staaten wir, trotz ihrer zurückgebliebenen
Civilisation und der Unbeständigkeit ihrer politischen Lage,
dennoch sicher sein können, daß regelmäßige Beziehungen
eines Tages zu beiderseitigem Vortheil an die Stelle der
beständigen Unruhen treten werden, welche bis jetzt den
Aufschwung dieser Gegenden niedergehalten haben.
Das sind die Interessen, welche der Politik unseres
erhabenen Herrn in Centralasien als Beweggrund dienen.
Ich habe nicht nöthig auf das augenfällige Interesse
hinzuweisen, welches Rußland hat, sein Gebiet nicht weiter
zu vergrößern und besonders sich an den Grenzen keine
Verwicklungen zuzuziehen, welche seine innere Entwicklung
nur zurückhalten und lähmen können.
Das Programm, das ich so eben gezeichnet, entspricht
diesem Jdeengange.
In den letzten Iahren gefiel man sich nicht selten darin,
die Civilisirung der Gegenden, welche auf dem asiatischen
Continent an Rußland grenzen, als seine Mission zu be-
zeichnen.
Die Fortschritte der Civilisation kennen
keine erfolgreicheren Agenten als die Handels-
beziehnngen. Diese verlangen zu ihrer Ent-
Wicklung überall Ordnung und Stetigkeit; in
Asien verlangen sie jedoch eine gründliche Um-
gestaltung der Sitten. Vor allen Dingen muß
man den asiatischen Völkern begreiflich machen,
daß es vorteilhafter für sie ist, den Handel der
Karawanen zu begünstigen und sicher zu stellen,
als dieselben zu plündern.
Diese Grundwahrheiten können nur da in das öffent-
liche Bewußtsein eindringen , wo ein Publikum vorhanden
ist, d. h. ein socialer Organismus und eine Regierung,
welche ihn leitet und vertritt.
Wir erfüllen den ersten Theil dieser Ausgabe, wenn
wir unsere Grenze bis zu der Linie vorschieben,
wo sich diese unabweislichen Bedingungen vor-
finden.
Wir erfüllen den zweiten Theil, wenn wir uns be-
mühen , den benachbarten Staaten in Zukunft zu
beweisen, durch ein System der Festigkeit, was
die Unterdrückung ihrer Uebelthaten betrifft,
gleichzeitig aber auch der Mäßigung und der
Gerechtigkeit in der Anwendung der Macht und
der Achtung für ihre Unabhängigkeit, daß Ruß-
land nicht ihr Feind ist, daß es keine Erobe-
rungsabfichten ihnen gegenüber nährt, und daß
friedliche Handelsbeziehungen mit ihm vor-
theilhafter sind, als Unordnung, Plünderung,
Feindseligkeiten uud fortdauernder Krieg.
Das kaiserliche Kabinet, indem es sich dieser Aufgabe
widmet, hat die Interessen Rußlands im Auge. Es glaubt
aber gleichzeitig den Interessen der Civilisation und der
Menschlichkeit zu dienen. Es hat das Recht, aus eine
gerechte und loyale Würdigung des Ganges, den es ver-
folgt uud der Principien, die es leiten, zu zählen."
R. Rost: Die indoeuropäischen Sprachen.
301
Die indoeuropA
Von Nut
Mitten unter keltischen, griechischen und germanischen
Elementen, deren das Französische noch heutzutagever-
hältnißmäßig mehr, als jede andere romanische Sprache
auszuweisen vermag, stand das Lateinische wie ein von den
Brandungen der Sprachwellen umfluteter Felsen, an dein
sich anfangs nur kleiue Splitter loslösten, bis endlich der
nimmer ruhende Zeitstrom den Grund zerwühlte und die
Trümmer in wildem Chaos durcheinander stürzten. Ein
wichtiger Umstand aber für die weitere Existenz der latei-
nischen Sprache in Frankreich war, daß sie als Sprache der
christlichen Kirche eben so zu deu Herzen der Völker sprach,
als die heimatliche Rede. Und je weiter sich das Christen-
thnm in Gallien verbreitete, desto mehr wuchs auch das
Verständniß der lateinischen Sprache. —- Bezüglich der
Form bemerken wir, daß die französische Sprache ans dem
von der provensalischen betretenen Wege der Abplattung,
Verstümmelung und Zusammenziehung der Formen noch
weiter vorgeschritten ist. Eine größere Unempsindlichkeit
gegen den musikalischen Wohllaut reiner Vokale, eine
geringere Scheu vor consonantischen Auslauten unter-
scheidet schon das älteste Französisch sehr zu seinem laut-
lichen Nachtheil von dem ältesten Provenyalisch. Wenn
man aber das Neufranzösische dein Latein hat ähnlicher
finden wollen, als das Altfranzösische, so rührt diese an-
scheinend größere Ähnlichkeit theils von der überhand neh-
menden neuen Einführung lateinischer Wörter her, theils
auch ist sie eine Folge der neufranzösischen Orthographie,
welche mit steter Rücksicht auf den Ursprung des Wortes
auch Laute verzeichnet, die entweder nie in die lebendige
Sprache übergegangen, oder doch längst aus ihr ver-
schwunden sind. — Warum das Französische, diese liebens-
würdige Sprache, welche sich allen Verhältnissen des Lebens
mit so viel Leichtigkeit und Zierlichkeit anpaßt, einer so
großen Verbreitung sich erfreut, daß man in ihrem Besitz
in der ganzen civilisirten Welt sich verständlich machen kann,
liegt außer anderen Gründen wohl mit daran, daß ihr
Charakter sich schon seit längerer Zeit abgeschliffen hat und
sie auf diese Weise mundrecht für Jedermann geworden ist.
Der Prunkschleier ihrer Eleganz deckt kein tiefes Gefühl,
aber auch durchaus keine Falschheit; sie sucht im Gegeutheil
aus einem schönen, reinmenschlichen Gefühl das Unange-
nehme nicht zu verbergen, sondern zu versüßen!
Das Walachische oder Dakoromanische ist die
mit slavischen nnd auch altdakischeu Elementen gemischte
Volkssprache der an der untern Donau und ihren linken
Nebenflüssen, in Siebenbürgen, auch in Thracien und
Macedonien wohnenden Walachen oder Rumänen. Der
Laut ist in dieser Sprache willkürlich und regellos entstellt
und getrübt, die Flexion weist viele Elemente auf, welche
das Walachische von dein romanischen Typus auffallend
unterscheiden. Desto merkwürdiger ist es, daß unter dem
beträchtlichen Verfalle des ursprünglichen Lautsystems und
unter der fast beispiellosen Mischung, welche das Walachische
erfahren, seine Conjugation nicht viel mehr gelitten hat,
ischeu Sprachen.
olf Rost.
als die der übrigen romanischen Zungen. —- Der Charakter
der Sprache in Klang und Bildung der Rede ist dem der
anderen Schwestern zwar ähnlich, aber nicht so ausgebildet.
Es siudet sich daher Weichheit des Lautes neben harter und
breiter Aussprache, romanischer Satzbau neben steifer Weit-
länfigkeit.
Noch eine romanische Sprache, welche räumlich dem
Italienischen, geistig aber dem Proven?alischen näher steht,
ist die in der größern Hälfte des Kantons Granbündten
gesprochene ch urwälsche oder r h ä t o r o m a n i s ch e
Sprache, welche stark mit deutschen Bestaudtheilen gemischt
ist, die man leicht an ihrer romanisirten Form erkennt.
Das Churwälsche kliugt zwar rauher, als das sanfte Jta-
lienisch, hat aber desseu ungeachtet seine Annehmlichkeiten.
Der ganze Laut dieser Sprache zeigt die derbe, ungezierte,
aber auch ungebildete Tochter einer schönen Mutter; trotz-
dem erscheint sie dem an rauhere Töne gewöhnten Ohre
des Nordländers immer noch sauft. Die großartige Natur
ihrer felsenstarrenden Heimat spiegelt sich wieder in deu
volltönenden Doppellauten/ in der kräftigen, freilich auch
harten Aussprache der Consonanten.
5) D i e lettische S p r a ch f a m i l i e. Zu ihr gehört
vor Allem jeue Sprache, welche unter allen Idiomen
Europa's am nächsten verwandt mit dem Sanskrit ist,
nämlich das Littanische. Die beiden Schwestersprachen
desselben, das Preußische und das Lettische, stehen in
Rücksicht ans ihren Umfang und Wortreichthum zwar auf
einer Stufe, uttr hat das Lettische viele deutsche Elemente
in sich aufgenommen imb ist auch das jüngere Idiom. In
grammatischer Beziehung sind sie jedoch weit verschieden
von einander. Denn während das Littanische, durch seine
abgeschlossene Lage geschützt, mit wunderbarer Treue die
ursprünglichen Formen vollkommen erhalten und, mehr
dem Wohlklang, als einer logischen Genauigkeit folgend
und einen freieren und kühnern Bau der Perioden anneh-
inend, selbst eine vollständigere Entwicklung erhalten hat,
ist dagegen das Lettische so mangelhaft an Flexionen gewor-
den, wie das Persische, Englische und Deutsche, während
das Preußische gewissermaßen in der Mitte zwischen bei-
den steht.
Die Alterthümlichkeit des grammatischen Baues im
Littauischen kommt jedoch nicht allen Redetheilen zn. Das
Zeitwort steht schon hinter dem Hauptwort zurück, indem
es iu deu Flexionsendungen manchen Verlust erlitten hat.
Das Littauische, welches mit gewöhnlichen lateinischen
Buchstaben geschrieben wird, zerfällt in mehre Mundarten,
von denen die schamaitische, in dem russischen Gouver-
nement Wilna, um so mehr sich von der alten reinen Form
entfernt, je weiter ihr Gebiet auch örtlich vom Hauptsitz
der Sprache abliegt. Diese Sprache besitzt eigentlich keine
Literatur und geht leider auch als Volkssprache ihrem
völligen Erlöschen entgegen.
Der grammatische Bau des alteu Preußischen oder
Pruczischen zeigt eine altertümliche Mischung von neuen
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302
R. Rost: Die indoeuropäischen Sprachen,
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und alten Formen. Unsere Kenntniß von dieser Sprache
beschränkt sich blos aus die Uebersetzung des Katechismus,
da sie bereits gegen das Ende des 17. Jahrhunderts völlig
ausgestorben ist.
Das Lettische ist die Volkssprache von Kurland und
dem größten Theile von Livland, und ist in seinen gram-
matischen Formen bedeuteuh abgeschwächter, als das Lit-
tauische, während in den Lautgesetzen die größte Ueberein-
stimmung mit dem Slavischen herrscht.
6) Die slavische Sprachsamilie. Den größten
Theil Europa's haben slavische Nationen iuue. Von den
Ufern der Dwina im Osten bis an die der Elbe im Westen,
von den Gestaden des Eismeers im Norden bis an die des
Schwarzen und Adriatischen Meeres im Süden erstreckt sich
das Gebiet der slavischen Sprachen. Wir kenneu diese
Sprachen verhältnißmäßig erst aus neuerer Zeit und in
einer von ihrer vorauszusetzenden ältern Form gewiß schon
bedeutend abweichenden Entwicklungsphase, was selbst vom
Kircheuslavischen, das uns aus Handschriften aus der Mitte
des 11. Jahrhunderts bekannt ist, gilt. In grammatischer
Beziehung stehen die slavischen Sprachen im Allgemeinen
über den romanischen und germanischen, denn sie sind
viel reicher an grammatischen Formen. Besonders eigen-
thümlich ist die Conjugation. Zeitwörter nämlich, die
eine momentane Handlung bezeichnen, haben keine Gegen-
wart der Bedeutung nach, sondern die Präsensform wird
bei ihnen im Sinne der zukünftigen Zeit gebraucht. Es
liegt dies in der Feinheit der Auffassung, denn etwas wirk-
lich Augenblickliches kann in der That niemals gegenwärtig
sein, der Moment ist einem mathematischen Punkte gleich
ohne alle Ausdehnung und kann nur als so eben geschehen
oder als zukünftig gedacht werden. Zu dem alterthüm-
lichen Formenreichthum gesellt sich noch, oder es folgt
daraus, eine große Durchsichtigkeit des grammatischen
Baues; aus jeder Wurzel erwächst ein weitverzweigter
Stamnlbaum von Ableitungsformen. Frisch ist noch das
Leben im Slavischen, im Vergleich mit den abgelebten roma-
nischen und germanischen Sprachen; und diese Fähigkeit,
Ableitungen aller Art zu bildeu, ersetzt den Mangel, welcher
der Sprache daraus erwächst, daß sie iu der Zusammensetzung
vielmehr gehemmt ist, als das Deutsche und Griechische.
— Die slavischen Sprachen zerfallen in zwei durch einen
bestimmten, unverkennbaren Typus gesonderte Abthei-
lungen, die südöstliche und westliche. Zur erstem gehören
das Russische, Bulgarische, Serbische, Kroatische und
Windische.
Die russische Sprache herrscht im Herzen des weiten
Tieflandes vom nordöstlichen Europa fast ausschließlich
und ist sporadisch in Sibirien und an der amerikanischen
Nordwestküste vertheilt. Gegen Westen breitet sie sich bis
zum obern Dnjepr, untern Przypiee und obern Bog, ja
sogar bis in die Ebenen der untern Theiß aus. Das
Russische ist eine der wohlklingendsten Sprachen. Es liebt
durch voealische Eiuschiebungen consonautische Härten zu
mildern. Der Accent ist an keine bestimmte Stelle ge-
bunden, wie im Polnischen und Tschechischen, er bewegt
sich frei. Die russische Sprache zerfällt iu drei Haupt-
mnndarten: das Großrussische, welches im Mittlern
und nördlichen Theile des europäischen Rußlands ge-
sprechen wird; das Kleinrussische, welches deu süd-
lichen Theil des russischen Sprachgebietes von Galizien
an umfaßt, von dem Großrussischen ziemlich stark abweicht
und sich in Manchem den Sprachen der westlichen Abthei-
lung nähert, und das Weißrussische, welches im nörd-
lichen Theile Volhyniens und im südlichen des russischen
Littauens herrscht. Alle diese Mundarten verbindet eine
Schriftsprache, das Moskowitische, eine besondere Art
des Großrussischen.
Die Nordgrenze des heutigen Gebietes der bulga-
rischen Sprache bildet die Donau, die Grenze nach Osten
und Südosten das Schwarze Meer. Das Altbulgarische
oder Kirchenslavische ist heutzutage keine Volkssprache mehr,
sondern besteht nur noch als Sprache der Bibelübersetzung
und beim Gottesdienste der Slaven der griechischen Kirche
fort. Es zeichnet sich besonders durch Reichthum an For-
men und altertümliches Gepräge in jeder Beziehung aus,
was in den späteren Sprachen stückweise verstreut liegt. Je
reicher an Form nun das Altbulgarische ist, desto ärmer
jedoch ist das Neubulgarische, das einzige nach Art der
neueren Sprachen des westlichen Europa's in Rücksicht auf
die Form heruntergekommene flavifche Idiom.
Das Gebiet der serbischen Sprache erstreckt sich über
die türkischen und österreichischen Provinzen Serbien, Bos-
uien, Herzegowina, Montenegro, Dalmatien, Slavonien
und den östlichen Theil Eroatiens. Das Serbische nimmt,
was den Wohlklang betrifft, unbedingt den ersten Rang
unter den slavischen Sprachen ein, da es vocalreicher als
alle übrigen ist. In grammatischer Beziehung steht es
noch aus dem Standpunkt seiner slavischen Schwestern, und
es ist keiueswegs hier an ähnliche Entstellungen, wie im
Neubulgarischen, zil denken. Der Accent ist an keine
bestimmte Stelle im Worte gebunden. Von den Ländern,
in denen das Serbische gesprochen wird, gehört Dalmatien
zur römisch-katholischen Kirche, deren Priester eine beson-
dere, die glagolitische genannte Schreibart für die dalma-
tische Mundart eingeführt haben, während die Slaven,
welche der griechischen Kirche angehören, sich noch des nnver-
änderten, aus dem 9. Jahrhunderte stammenden altslavischen
oder cyrillischen Alphabets bedienen.
Die croatische Sprache herrscht vorzüglich in den
croatischen Gespanschasten Agram, Kreuz und Warasdin
und den angrenzenden Landschaften, sowie auch sporadisch
im westlichen Ungarn. Sie bildet gleichsam den Uebergang
vom Serbischen zum
Windischen oder Sloveuischen, das in Kärnthen,
Krain, Steiermark und einigen Gegenden des westlichen
Ungarns zwischen den Flüssen Mur und Raab gesprochen
wird. Man unterscheidet die ober-, unter-und inner-
krainische, die kärnthische und steierische Mundart.
Zur westlichen Abtheilung der slavischen Sprachen
gehören das Polnische, das Tschechische, das Slowakische und
das Sorbische oder Wendische.
Die polnische Sprache ist über das ganze Gebiet des
Riemen, der Weichsel und der Warthe verbreitet, auf der
rechten Seite der obern Oder mit deutschen, auf der gali-
zisch-volhynisch-podolischen Hochebene aber mit russischen
Elementen gemischt. Sie zeigt jenen erweichenden Einfluß,
den die I-Laute im Slavischen mächtiger aus die vorher-
gehenden Consonanten auszuüben Pflegen, als in anderen
Sprachen, im höchsten Grade. Die Feinheit in der Abstufung
der mannigfachen Zischlaute, der häufige Wechsel der Eon-
sonanten, erschwert dem Ausländer bedeutend die Erler-
nnng dieser Sprache. Der Accent liegt stets aus der vor-
letzten Silbe. Eine Mundart des Polnischen ist das
Kassnbische an der Leba, Lupow und obern Stolpe.
Die tschechische Sprache wird geredet von den eigent-
lichen Tschechen, welche einen beträchtlichen Theil von
Böhmen inne haben, und den moravischen Stämmen der
Hannaken, Slowaken:c. in Mähren. In der tschechischen
Sprache im engern Sinne, d. h. der tschechischen Schrift-
spräche, zeigt sich die Anlage zu einer alterthümlichen
grammatischen Entwicklung, die aber hie und da gehemmt
R, Rost: Die inboci
erscheint. Der Accent ist stets auf der ersten Silbe des
Wortes, wobei aufs Strengste die Längen und Kürzen der
Vocale beachtet werden. Das Mährische steht dem
schönen Baue des Altböhmischen noch näher.
Die slowakische Sprache, welche von der Grund-
bevölkeruug namentlich des nordwestlichen Ungarns ge-
sprochen wird, bildet den Uebergang von der böhmischen
zur wendischen Sprache, oder von der südöstlichen zur West-
lichen Abtheilnng der Slavinen. Denkt man sich dus
Slowakische mit Kenntniß und Geschick zur Schriftsprache
ausgebildet, so erhält man das Bild einer slavischen
Sprache, die reich und alterthümlich an grammatischen
Formen wohl alle übrigen überragen dürfte.
Die sorbische oder wendische Sprache wird nur
noch gesprochen in einem kleinen Theile der beiden Lau-
sitzen, von Löban im Süden bis Lübben im Norden, in der
Mitte durchflössen von der Spree. Sie zerfällt in zwei
Mundarten: die durch ihre Lautgesetze dem Tschechischen
näher stehende oberlausitzische, und die mit dem Pol-
nischen mehr verwandte ni e der lau sitz ische.
7) Die germanische Sprachfamilie. Das
gestimmte Gebiet der germanischen Sprachen zerfällt in
zwei Theile: die mit dem Gothifchen auf einer Stufe
stehenden und die eine weitere Stnse der Lautverschiebung
inne habeuden (das Hochdeutsche). —
An Alterthümlichkeit geht das Gothische allen ger-
manischen Sprachen voran und übertrifft an sinnlicher
Fülle, an Vollkommenheit und Mannigfaltigkeit der Formen
alle späteren Mundarten. Zugleich treten die Wurzeln in
den Ableitungen noch klar und kräftig hervor, so daß auch
diese lebendig sinnliche Anschauuug gewähren. Charakte-
ristisch ist es ferner, daß Trübung der ursprünglich reinen
Vocale durch Umlaut und Assimilation nicht vorkommt,
daß dagegen die Gesetze des Wohllauts noch einen mächtigen
Einfluß auf deu Wechsel der Laute, namentlich der Eon-
sonanten, haben. — Bekanntlich schöpfen wir die Kenntniß
des Gothifchen aus deu Bruchstücken der Bibelübersetzung
des Bischofs Ulfilas.
Das Altuordische zeigt noch in seiner grammatischen
Form eine hohe Alterthümlichkeit. Wir kennen es zwar
erst ans Handschriften des 13. Jahrhunderts, aber auch in
dieser verhältnißmäßig jungen Form ist es mit Sicherheit
als ein dem Deutschen und Gothifchen eoordinirter, nnmög-
lich weder aus dem einen, noch aus dem andern hervor-
gegangener Sprachzweig zu erkennen. Ist das Altnordische
sprachlich schon wichtig und bedeutend, weil es eine beson-
dere Form des Deutscheu bildet, so ist es uoch von uugleich
höherer Bedeutung für die Kunde uusers deutscheu Alter-
thums, weil nur hier der Eiser christlicher Bekehrer die
uralten heidnischen Götter- und Heldenlieder nicht ver-
nichtete; namentlich ist die Mythologie uusers Stammes
nur hier uns erhalten, während sie auf deutschem Gebiete
blos in schwachen Spnren als einst in analoger Weise wie
im nordischen vorhanden sich verräth. Der alten Sprach-
form am treuesten blieb in ihrer Abgeschlossenheit die
isländische Sprache; die übrigen aus dem Altnordischen
hervorgegangenen, also mit Fng neumodisch zu nennenden
Sprachen, das Schwedische, vor allem aber das stark
abgeschliffene Dänische, zeigen im höhern Grade jene im
später« Sprachleben eintretenden Veränderungen.
In uralter Zeit war die deutsche Sprache eine ein-
heitliche im Großen und Ganzen, wobei natürlich die En-
stenz von Mundarten nicht ausgeschlossen ist. Nach der
Völkerwanderung aber, etwa im 5. Jahrhundert, trat eine
vollständige Trennung ein, zwar nicht plötzlich und mit
einem Male, aber nach und nach, in dem einen Lande
n'vpciischen Sprachen, 303
früher, in den: andern später. Es schied sich nämlich die
süddeutsche, oberdeutsche oder hochdeutsche Mundart von der
norddeutschen oder niederdeutschen, und zwar so, daß die
niederdeutschen, die sächsischen Volksstämme, die altenLant-
Verhältnisse bewahrten, die süddeutschen, die snevischen
Volksstämme, dagegen die gothische oder urdeutsche Stufe
verließen und einen Schritt weiter gingen, ganz in der-
selben Weise, wie früher die germanischen Völker in ihrer
Gesamnltheit sich von den übrigen stamm- und sprachver-
wandten Nationen getrennt hatten. Jede dieser beiden
Mundarten hat ihren besondern Charakter. Die süd-
deutsche, hochdeutsche ist die gedrungenere, härtere, auch
rauhere; die norddeutsche, niederdeutsche dagegen die brei-
tere, weichere, mildere, oft auch fadere. Die erste beschäs-
tigt mehr den Gaumen und die Kehle, die andere mehr die
Lippen und die Zunge. Der Süddeutsche hat im Allge-
meinen eine schwerere Zunge als der Norddeutsche; er ist
deshalb genöthigt, mehr mit Bruststimme zu sprechen,
während dieser hauptsächlich deu Mund arbeiten läßt.
Darum wird auch in Süddentschland langsamer gesprochen,
wenn auch die Gedanken des Norddeutschen uichts au
Lebendigkeit voraus haben. — Die Sprachscheide zwischen
beiden Mundarten bildet der nördliche Abhang des Harzes.
Die niederdeutsche Mundart theilt sich schon in
früher Zeit in mehre Zweige, in das Altsächsische, das
Angelsächsische mit dem Englischen, das Friesische und das
Niederländische.
Das Altsächsische, welches eben so gut das Alt-
niederdeutsche genannt werden könnte, erhob sich einst
zur Schriftsprache. Das wichtigste für Literatur, Sprache
und Kirchengeschichte hochbedeutende Werk ist die altsäch-
sische Evangelienharmonie ans dem 9. Jahrhundert, welche
gewöhnlich in der Literaturgeschichte mit dem Namen
,,Heliand" bezeichnet wird. Die Tochter des Altsächsischen
ist das Mittelniederdeutsche, welches in dem spätem
Mittelalter wohl auch uoch Büchersprache war, aber nie
solche Geltung erlangte, wie das Mittelhochdeutsche. Das
heutige Niederdeutsche, das Neunieder deutsche, besteht
aus verschiedenen Volksmundarten; die Bezeichnung für
dasselbe ist bekanntlich Plattdeutsch (— platt = nieder-
ländisch , im Gegensatze zu hoch — oberländisch —) oder
schlechthin Platt. Die Gebildeten iu Norddeutschland haben
durchaus die hochdeutsche Sprache angenommen, wenn sie
auch bisweilen recht gern die Volksmundart gebrauchen.
Das Angelsächsische ist in reichlichen und wichtigen
Denkmälern auf uns gekommen. Es bildet den Grund-
stock zum Englischen, welches in vielen Mundarten
Großbritannien beherrscht, mit Ausnahme Hochschottlands,
Wales, der Insel Man und Irlands. Außerdem hat diese
Sprache jeuseits des Oceaus, auf der Ostseite Nord-
amerika's, eine neue Heimat gewonnen, nicht zn gedenken
der zahlreichen anderen Eolonien, durch welche England
seine Sprache über sast alle Theile der Erde verbreitet hat.
Die englische Sprache enthält keltische, ungleich mehr aber
romanische (normannische) Bestandteile (namentlich sind
die eine feinere Kultur voraussetzenden Ausdrücke roma-
nifch). Hat sie deu angelsächsischen Typus zwar bewahrt,
so ist sie doch eiue der abgeschliffensten, an grammatischen
Endungen ärmsten Sprachen unserer Sprachfamilie. Die
meisten ursprünglich deutschen Wörter sind sogar zur Ein-
silbigkeit herabgesunken, wenigstens in der Aussprache, die
hier allein maßgebend ist und sich von der Schrift ungemein
weit entfernt hat, welcher Umstand uns den Beweis liefert,
wie schnell die Sprache eines geschichtlich bedeutenden
Volkes bezüglich der Form herabsinken kann.
Das Friesische bildet eine Art Mittelglied zwischen
304 R. Rost: Die indo
dem Nordischen und dein Niederdeutschen. Die einzigen
Proben von der altfriesischen Sprache sind noch in den
leges Frisiorum, welche zu Karls des Großen Zeiten
geschrieben wurden, und in Urkunden und gesetzlichen Do-
cumenten späterer Zeit zu finden. Die noch vorhandenen
Mundarten des Friesischen sind das Idiom von Ost - und
Westfriesland und das Nordsriesische am westlichen
Küstenrande Schleswigs und auf den Inseln.
Eine reiche Literatur hat im Mittelalter das Nieder-
ländische aufzuweisen, und wenn iu Belgieu iu unseren
Tagen auch das Französische als Sprache der Gebildeten
die Oberherrschaft erlangt hat, so ist doch das Nieder-
ländische, oder wie es gewöhnlich genannt wird, das Vlä-
mische, Volkssprache und anch von den Gebildeten gekannt
und geliebt. Die Tochter des alteu Niederländischen, das
Holländische, steht im vollen Besitz seiner Macht als
allgemeine Schrift- und Volkssprache.
Durch bestimmte Lautgesetze geschiedeu von den bisher
behandelten Sprachen ist das Hochdeutsche. Ursprung-
lich bedeutet Hochdeutsch nichts Anderes als Oberdeutsch, wie
mau früher das obere Deutschland auch Hochdeutschlaud
nannte. Mit der Zeit nun hat das Wort Hochdeutsch eine
ganz andere Bedeutung angenommen, und man versteht
jetzt darunter die allen deutschen Stämmen gemeinsame
Schriftsprache. Von den frühesten Zeiten an erhoben sich
nämlich vorzüglich ober- oder hochdeutsche Mundarten zur
allgemeinen Schriftsprache, während die niederdeutschen
schon mehr aus die Völker uiederdeutscheu Stammes be-
schränkt blieben, wenn sie auch bei ihnen zur schriftlichen
Darstellung gebraucht wurde«. Die ältesten hochdeutschen
Schriftdenkmale stanunen aus dein 7. Jahrhundert. Diese
Zeit bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts wird als die
erste Periode des Hochdeutschen die althochdeutsche
genannt. Diezweite, die mittelhochdeutsche, reicht
von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in den Anfang
des sechszehnten. Die gute, klassische, mittelhochdeutsche
Zeit umfaßt einen sehr geringen Zeitraum, etwa sieben
Jahrzehnte, ungefähr 1180 bis 1250. Vom Anfange des
IG. Jahrhunderts beginnt die dritte hochdeutsche Periode,
die neuhochdeutsche, welche noch nicht abgeschlossen ist.
In ihr siegte die hochdeutsche Mündart vollständig über die
niederdeutsche, so daß wir füglich das Wort „hoch" hinweg-
lassen könnten, wenn wir von unserer Schriftsprache reden.
Das Wort „hochdeutsch" hat freilich noch im Gegensatze
zur niederdeutschen Mundart seine ursprüngliche Bedeutung.
— Es ist bekannt, daß innerhalb des hochdeutschen Sprach-
gebietes verschiedene Mundarten sich absondern, welche
wenig oder gar uicht von der Schriftsprache berührt werden.
Man kann vier hochdeutsche Mundarten annehmen. Zwei
von ihnen sind eigentlich oberdeutsch oder süddeutsch, näm-
lich die alemannische, zu welcher die Schwaben, die
Schweizer und die Elsässer gehören, und die bayerische,
welche die Bayern, die Tyroler, die Oesterreicher und die
Steyermärker haben. Die beiden anderen gehören Mittel-
deutschend an; die fränkische, welche den nördlichen
Theil des heutigen Bayerns und die angrenzenden Gebiete
(das deutschredende Böhmen und andere) umfaßt, ist noch
ziemlich rein hochdeutsch und von entschieden ausgeprägter
Eigentümlichkeit. Dagegeu mannigfaltig und buntscheckig
und voller niederdeutscher Bestandteile sind die eigent-
lichen mitteldeutschen Mundarten, welche nicht gut
scharf zu trennen sind. Dahin gehören die hessische, die
thüringische, die meißnische, die osterländische
nnd die schlesische Mundart. Eine jede dieser Mund-
arten zerfällt wieder in besondere Mundarten und Spiel-
arten und so geht es fort bis auf einzelne Dörfer. —
,'opäischm Sprachen.
Betrachten wir schließlich unsere Muttersprache vom all-
gemeiueu Standpunkte aus, so fiudeu wir, daß zwischen der
Romantik der Sprachen des südlichen Enropa's, vou denen
die spanische die feierlichste und grandioseste, die französische
die leichteste und zierlichste, die italienische die musikalisch
und poetisch beweglichste und anschaulichste ist, und dem
Ernst und der Strenge der nordischen Sprachen die deutsche
Sprache, wie das deutsche Laud, dieses Herz Europa's, im
wirklichen Sinne die Mitte bildet, daß sie die Vorzüge der-
selben so viel als möglich vereinigt, ohne den germanischen
Stamm, dessen lebendigste Darstellung sie ist, zu ver-
läugnen. Sie entbehrt zwar des melodischen Klanges der
romanischen Sprachen, allein da sie reicher an den die Rede
beseelenden Voealen ist, als z. B. die englische Sprache, so
klingt sie seelenvoller als diese und ausdrucksvoller als
jene, indem sie den Gedanken vollkommen verkörpert und
eiuer mannigfacheren Gliederung fähig ist. Daher eignet
sie sich nicht nur zur Darstellung der freien poetischen und
wissenschaftlichen Produetivität des deutschen Geistes, son-
dern ist anch durch ihre innere Vollkommenheit am fähigsten,
den eigentümlichsten Ton und Rythmns, die verschieden-
artigste Anschannngs- und Denkweise und dadurch die
innerste Seele und den tiefsten Sinn der entgegengesetztesten
Sprache in den glücklichsten, von anderen Völkern nner-
reichbaren Reproduetionen aller Denkmale der Poesie und
Wissenschaft wiederzugeben. Sie ist mithin das vollkom-
menste Organ des dnrch sie sein geistiges Leben offenbarenden
nnd alle Manifestationen anderer Völker in sich zurück-
nehmenden Centralvolkes Europa's, welches durch die Tiefe,
den Umfang und die Wahrheit feines Geistes und seiner
Bildung zur umfassendsten uud bleibendsten Eroberung der
Welt berufen ist.
8) Die keltische Sprachfamilie. Lange Zeit
hindurch galt das Keltische als ein dein indoeuropäischen
Sprachstamm fremder Zweig, deuu bald rechnete man es
zum Baskischen, bald zum Finnischen. — Die Neste dieser
wahrscheinlich einst über viele Länder von Westeuropa ver-
breiteten Völkerfamilie finden sich fast sämmtlich an den
äußersten westlichen Küstenländern unsers Erdtheils, uach-
dem ihre zahlreichen Vorfahren in dein ehemaligen weiten
Verbreitungsbezirke dieser Völker aufgerieben, oder auch,
und zwar der Mehrzahl uach, in andere Nationalitäten
übergegangen sind, was seinen Grund wohl darin haben
mag, daß die Kelten nie zu einer Nation vereinigt waren,
sondern stets Staaten angehörten, deren Bevölkerung mit
ihnen weder stamm- noch sprachverwandt war. Da das
Keltische als westlicher Vorposten der Jndoenropäer muth-
maßlich zuerst von dem gemeinsamen Muttervolke sich los-
getrennt und seine weite Wanderung angetreten hat, so
kann es uns nicht auffallen, daß diese Sprache unter allen
anderen ain meisten eigentümliche Wege eingeschlagen hat.
Da man nur Sprachproben von denjenigen keltischen
Idiomen hat, welche bis ans den heutigen Tag fortleben,
und von denen zwei eine eigentümliche Literatur besitzen,
so kennt man auch deu Zusammenhang und die Gliederung
dieser ausgebreiteten Familie nur unvollständig. Wir
theilen sie in zwei deutlich gesonderte Abtheilungen, deren
jede drei Sprachen umfaßt, nämlich zwei Hauptspracheu
und eine weniger bedeutende Unterart.
Die bretonische oder kymrische Abtheilung ent-
hält die Sprache der alten Briten, welche in einigen ein-
ander nahe verwandten Mundarten fortlebt. Diefer füd-
östlichen Abtheilnng fallen die unter dem Namen keltischer
Worte von den Alten uns überlieferten Reste des ältern
Keltisch zu, aus jener Zeit, als keltische Völkerschaften sich
Fr. Ewald: Aus dem no>
noch über Gallien, einen Theil Deutschlands und Spa-
mens k. erstreckten. Diese Abtheiluug umfaßt das Kynr-
rische im engern Sinne oder das Wallifische, die
Sprache von Wales, das Armorikanische oder Bre-
tonische in einigen Gegenden der Halbinsel Bretagne und
das seit etwa 109 Jahren völlig erloschene Cornifche in
Cornwallis.
Die gä lisch e oder gad he lisch e Abtheilung mit dem
Irischen oder Ersifchen, der Sprache der keltischen
Jrländer, welche unter allen keltischen Idiomen die meisten
altertümlichen Formen bewahrt haben soll; dem Gä-
lisch en im engern Sinne, der Sprache der Bergschotten,
einer im Vergleich mit dem zunächst verwandten Irischen
neuern und jüngern Sprache; und der Mundart der Insel
Man, dem Manr, welches stark mit normannischen Ele-
menten vermischt ist.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß da, wo eine von
nur weuigen Menschen gesprochene, nicht sehr entwickelte
Sprache, die keine bedeutende Literatur hat, mit einer von
vielen Millionen Menschen gesprochenen Kultursprache
zusammeutrisst, die erstere allmälig verschwindet. Recht
auffällig ist das Verhältuiß der englischen zur irischen
Sprache. Im Jahre 1861 sprachen von den 5,789,967
Einwohnern Irlands nur noch 1,105,536 Ersifch. Von
dieser Zahl verstanden 163,275 nur Ersisch, die große
Mehrzahl von 942,261 sprach zugleich Englisch. Von
denjenigen, welche blos Irisch verstehen, wohnen nicht mehr
als etwa 3900 in städtischen Bezirken. Daß das keltische
Idiom in Irland, wie in England (Wales) und Hoch-
schottland seinem Aussterben, wenn auch langsam, entgegen-
geht, erhellt aus dem Umstände, daß von Allen, die Keltisch
reden, nicht der dritte Theil in der Generation unter
20 Jahren sich findet.
Alle nun fo eben aufgezählten und kurz charakterifirten
Sprachen in Indien, Persien und Europa sind, ihrem
Wörterstoffe nach, ursprünglich gleich, d. h. ans denselben
rdwestdelltschen Flachlands. 305
Wurzeln gebildet, welche der Einfluß des Klimas, die
volkstümliche Aussprache und die Verbindungen der Vor-
stellnngen verschiedenartig ausgebildet haben, indem sie
bald einen Laut mit einem andern verwandten Laute ver-
tauscht, bald eine eigentliche Bedeutung uueigentlich oder
bildlich genommen, oder sie durch fortgesetzte Ableitung
gesteigert haben, ohne daß der Grundstoff der Sprache da-
durch wesentlich verändert worden wäre. Diese Ähnlichkeit
und Verschiedenheit haben alle indoeuropäischen Sprachen
gemein, eiue größere Ähnlichkeit aber besteht zwischen deu-
jenigen, welche eine Familie bilden und Laute derselben
Stufe und vollkommen ähnliche, nur durch Vorsilben und
Ausgänge verschiedene Stammwörter haben. Die in jedem
Zweige vereinigten Sprachen nähern sich endlich selbst in
ihren Endungen und zeigen keine andere Verschiedenheit
mehr, als die ihrer Auslaute oder Endvoeale und ihres
eigentümlichen Satzbaues.
In wiefern aber einer Sprache vor einer andern ein
Vorzug gebühre, darüber hören wir noch Wilhelm v. Hum-
boldt: „Der wahre Vorzug einer Sprache ist nur der, sich
aus einem Princip und in einer Freiheit zu entwickeln, die
es ihr möglich machen, alle intellectuellen Vermögen des
Menschen in reger Thätigkeit zu erhalten, ihnen zum genü-
genden Organ zu dienen, und durch die sinnliche Fülle und
geistige Gesetzmäßigkeit, welche sie bewahrt, ewig anregend
auf sie einzuwirken. In dieser formalen Beschaffenheit
liegt Alles, was sich wohlthätig für den Geist ans der
Sprache entwickeln läßt. Sie ist das Bett, in welchem er
feine Wogen im sicheren Vertrauen fortbewegen kann, daß
die Quellen, welche sie ihm zuführen, niemals versiechen
werden. Denn wirklich schwebt er ans ihr, wie auf einer
unergründlichen Tiefe, aus der er aber immer mehr zu
schöpfen vermag, je mehr ihm schon daraus geflossen ist.
Diesen formalen Maßstab also kann man allein an die
Sprachen anlegen, wenn man sie unter eine allgemeine
Vergleichung zu briugeu versucht."
Aus dem Nordwest!
Ethnographische Skizze
Daß sämmtliche Marschgegenden durch eiue große
Wohlhabenheit sich auszeichnen, ja, daß eigentliche Armuth
fremd in ihnen ist, darf nach dem Gesagten nicht Wunder
nehmen. Stattlich genug präsentirt sich daher auch die
Wohnung eines folchen Marschbauern. Die Grund-
mauern sind natürlich, wie es iu diesem von Bruchsteinen
gänzlich entblößten Lande nicht wohl anders sein kann, aus
Backsteinen ausgeführt, deren Fugen zierlich mit Mörtel
ausgestrichen werden, so daß diese Mauerflächen einen sau-
bereu, freundlichen Eindruck machen. Bei älteren Bauern-
Häusern bestehen die Wände wohl aus Fach- oder Bind-
werk, d.h. einem rechtwinklig zusammengesetzten Balken-
gerüst, dessen quadratische Fächer mit Backsteinen ausgefüllt
sind. Das Dach setzt unmittelbar über den Fenstern der
Seitenmauern an — denn alle echten Bauernhäuser in den
Marschen sind ohne Ausnahme einstöckig gebaut — und
Globus IX. Nr. 10.
rutschen Ilschlande.
von Friedrich Ewald.
steigt zu beträchtlicher Höhe empor, deu unter ihm auf-
gespeicherten Heuvorräthen uud Korngarben Raum gewäh-
rend. Sehr selten übrigens sieht man eine Ziegelbedachung;
man bedient sich vielmehr zum Decken der Häuser einer
Rohrart („Reith" genannt), welche an den Rändern der
Flüsse und der iu ihrem untern Lause ziemlich zahlreichen
Jnselchen(„Platen") wächst und zur Winterszeit, wenn der
Frost dem Wasser Balken aufgelegt hat, geschnitten wird. Die
dichte, fußdicke Schicht diefes Rohres, welche man auf dem
Sparrengerüst befestigt, hat zwar den Nachtheil größerer
Feuergefährlichkeit, schützt aber dafür auch ungleich besser
gegen Sommerhitze sowohl wie gegen Winterkälte als ein
Ziegeldach.
Die Front des Gebäudes wird vorzugsweise gern gegen
Osten gekehrt. Den Eingang bildet eine große, oben halb-
rund geschnittene Doppelthüre, hoch und breit genug, um
39
306 Fr. Ewald: Aus dem 1
einem schwerbeladenen Erntewagen den Eingang zu ver-
statten. Oberhalb derselben ist, auf einem in die Mauer
eingelassenen Saudstein, bei älteren Häusern Wohl auch
auf einem übergekragten Balken, der Name des Erbauers
sammt dem seiner Ehefrau, sowie die Jahreszahl der Er-
bauung zu leseu. Selten findet sich dem noch ein Vers
oder eiu Bibelspruch zugefügt. — Die Hausthüre ist fast
immer cutf etwa zwei Drittel ihrer Höhe wagerecht wieder
durchschnitten, so daß sie eigentlich aus vier verschiedenen
Theilen, deren jeder auf seiner besonderen Angel sich dreht,
zusammengesetzt ist. Die eine Hälfte pflegt, wenigstens zur
guten Jahreszeit, offen zu stehen, um Licht und Luft den
Zutritt zu gestatten. Ein leichtes, nach Außen auffchla-
geudes Lattenthürchen schützt alsdann das Innere des
Hauses vor dem Besuch der grunzeudeu Borstenträger,
denen der vor dem Eingange belegene Grasrain in der
Regel zum Tummelplatz augewiesen wird.
Treten wir endlich in das Haus selbst ein, so sehen wir
uns zunächst auf einer geräumigen Flur, welche die volle
Breite des Gebäudes einnimmt und deren Fußboden, aus
festgestampftem Lehm bestehend, im Winter als Dreschtenne
benutzt wird. Nechts.uud links, also an beiden Langseiten
des Hauses, ziehen sich die Stände für die Kühe hin. Denn
wenn auch der Betrieb fo groß ist, daß er außer dem Haupt-
gebäude noch ein oder mehre separate Wirtschaftsgebäude
erfordert, fo liebt es doch der norddeutsche Bauer, seinen
Viehstand — seinen Stolz und seine Freude — mit sich
unter demselben Dache zu wisseu. Und in der That ist es
ein gar stattlicher Anblick, welchen zur Winterszeit-— denn
den ganzen Sommer und Herbst über, vom Mai bis zum
November bleiben die Thiere ohne Unterbrechung draußen
— diese Reihen glatter, starkgebauter, breitstiruiger Kühe
gewähren, wenn sie, den Kopf gegen die Flur („Diele"
oder plattdeutsch „Dähle" genannt) gekehrt, in ruhigem
Behagen das ihnen vorgeschüttete dnftige Heu verzehren
oder leise brummend den wohlbekannten Tritt der Magd
begrüßen, in deren saubere, mit blitzendem Messingbeschlag
versehenen Eimer der Inhalt der strotzend vollen Euter
entleert werden soll. Die Psosten, welche statt jeder wei-
teren Zwischenwand die Standplätze von je zwei und zwei
Kühen scheiden, tragen zugleich eine Art von Emporbühne,
„Hille" genannt, welche zur Aufbewahrung von allerhand
Gerätschaften, auch Wohl eiues Theiles des Torfvorrathes
dient und endlich das Standquartier des Hühnervolkes zu
sein pflegt, welches letztere den Tag über vor dem Haufe,
oder auf der Tenne sich sein Futter sucht, und dem sich
meistens eine Schaar von Tauben zugesellt. Diese fehlen
nämlich so leicht auf keinem größern Baueruhofe und ihre
Nester, deren Fluglöcher gewöhnlich oben an der Giebel-
wand angebracht sind, müssen manchen schmackhaften Braten
in Gestalt der halbflüggen Jungen hergeben.
Zu beideu Seilen der Hauptthüre treffen wir gewöhn-
lich die Stallungen für die Pferde an, und zwar so, daß
die Krippen nnd Raufen sich an die Giebelwand lehnen,
das Hintertheil der Thiere demnach der „Diele" zugekehrt
ist. An dem entgegengesetzten Ende der letzteren, also nach
den eigentlichen Wohnräumen zu, sind hier und da noch
Schlafstätten für das Gesinde, wenigstens für den mann-
liehen Theil desselben, angebracht. Dieselben bestehen ans
schrankartigen Bretterverschlägen, Alkoven genannt/') welche
große Aehnlichkeit mit den sogenannten „Schlafkojen" der
Seeleute zeigeu nnd deren vorderer Ausschnitt durch eine
*) Stürenburg in seinem vortrefflichen „Osifriesischen
Wörterbuch" bemerkt richtig, daß dies Wort arabischen Ur-
sprunges sei.
^westdeutschen Flachlande.
verschiebbare Holzwand bei Tage wohl auch ganz geschlossen
wird. Demjenigen, der dieser Einrichtung ungewohnt ist,
könnte der bloße Gedanke, in solch einer — Schlafkiste
möchte man es nennen — sich zur Ruhe zu legen, den
Athem versetzen. Allein es ist eine Eigentümlichkeit
unsers Laudmaunes, daß er, der doch den größten Theil des
Tages im Freien zubringt, innerhalb seiner Wände gegen
eine schwere, drückende, ja selbst unreine Atmosphäre selten
empfindlich ist; und so findet man in älteren Bauern-
Häusern diese Alkoven vielfach auch in den eigentlichen
Wohnräumen und von der Herrschaft selbst benutzt.
Den vou dieser letztern bewohnten Theil des Hauses
scheidet eine der Giebelmauer parallele Zwischenwand von
dem Wirthschaftsranme, dessen Besichtigung wir zuerst vor-
nahmen, und der in seiner Ausdehnung etwa zwei Drittel
von der Länge des ganzen Gebäudes umsaßt. Das letzte,
besonders abgekleidete Drittel wird gemeiniglich „Wind-
sang" genannt. Die Thür, welche zu ihm führt, ist immer
mit Glasfenstern versehen, damit der Hausherr jederzeit
von dem status quo des Wirthschaftsranmes sich überzeugen
kann. Ihr gegenüber ist ursprünglich der Heerd ange-
bracht, so daß demnach die offene Hausflur des Windfanges
zugleich die Küche bildet. Ueber dem flammenden Torf-
feuer hängt nun den ganzen Tag über ein mächtiger
Wasserkessel oder der gewaltige eiserne Topf, in welchem
das Mittags- und Abendessen brodelt. Die Wand, an
welche sich der Heerd lehnt, ist fast ausnahmslos mit
sauberen, blauweißen holländischen Porzellanfliesen (hier
schlechtweg „Steinchen" genannt) bekleidet. Den Schorn-
stein, dessen unteres, bauchiges Ende den reichlich qual-
menden Rauch auffängt, umgibt eiu Bret mit vorspringen-
der Leiste, auf welchem Porzellan-, Zinn- und Messing-
geschirr in zierlicher Ordnung aufgestellt ist. Das Licht
erhält diese Hausflur gewöhnlich durch eiu oder zwei iu der
Langmauer angebrachte Fenster, vor denen meistens der
sauber gescheuerte Holztisch sammt dazn gehörigen Stühlen
und Bänken seinen Platz findet, an welchem das Gesinde
seine Mahlzeiten hält. In neuereu, eleganter gebauten
Bauernhäusern ist übrigens der Heerd aus der Mitte eut-
fernt worden und die Küche hat eine besondere Abkleidnng
erhalten.
Es bleiben somit — wenn nicht, was allerdings ge-
wöhnlich geschieht, an eben dieser Fensterwand noch der
Raum zu einem Stübchen ansgespart wird — nur die
anderen beiden Seiten des „Windfanges" zu Wohnräumen
übrig, so daß demnach diese letzteren im Verhältniß zu der
Größe des gauzeu Gebäudes immerhin etwas beschränkt
genannt werden dürfen. Allein es liegt ja in der Natur
der Sache, daß die Bewohner den größten Theil des Tages
über entweder draußen oder doch in den Stalluugeu und
Wirtschaftsgebäuden sich aushalten und daher weniger ans
die Benutzung der Zimmer angewiesen sind. Während das
Familienzimmer zugleich Eß- und nicht selten Kinderstube
ist, darf es indeß unter keiner Bedingung an einem Be-
fuchszimmer, einer sogenannten „besten Stube" fehlen,
welche iu größeren und stattlicheren Bauernhäusern, wo
sämmtliche Räume bedeutendere Dimensionen annehmen,
den stolzen Namen „Saal" führt. Auf die Einrichtung
dieses Gemaches wird gewöhnlich viel Sorgfalt und Geld
verwandt, und blaukpolirte Mahagoni-Möbel mit Damast-
oder Plüschbezug, Spiegel iu schweren Goldrahmen, ele-
gante Fenstervorhänge und feine Tapeten gehören keines-
wegs zu den Seltenheiten. Allein, die Wahrheit zu
gestehen, so macht dieser modische Luxus, den die fortschrei-
tende Kultur und der wachsende Reichthum in das alte,
patriarchalische Bauernhaus so zu sagen eiugeschmuggelt
i
Fr. Ewald: Ans dem t
haben, durchgehend einen etwas fremdartigen und nicht
gerade harmonischen Eindruck. Inmitten eines solchen
Prunkzimmers, dessen etwas schwere und drückende Luft
für die Seltenheit seiner Benutzung Zeugniß ablegt, hat
es uns manchmal unwillkürlich gemahnt an ein Geschicht-
chen, dessen buchstäbliche Wahrheit wir verbürgen können.
Ein Marschbauer hatte einen städtischen Beamten, dem er
seine Zuneigung geschenkt, zn wiederholten Malen einge-
laden, ihn einmal in seinem Hause zu besuchen und nament-
lich ein neuangeschafftes Piauoforte in Augenschein zn
nehmen. Als dieser endlich der Aufforderung Folge geleistet
hat, sieht er zu seinem größten Erstaunen, wie sich der
Hansherr au das Instrument setzt und mit beiden Händen
die Kreuz und Quere wild auf den Tasten herumzu-
trommeln beginnt. Auf die, wahrscheinlich mit verbissenem
Lachen gestellte Frage: „wo er denn das gelernt habe?"
erhält der Beamte von dem Spieler die halb von Selbst-
gefälligkeit, halb von Verwunderung über sein eigenes
Genie eingegebene Antwort: „Ick knnn't glieks!" (Ich
konnte es gleich.)
Einen Schluß auf die durchschnittliche Bildung der
Marschbewohner aus dieser Anekdote ziehen zn wollen,
auch abgesehen davon, daß dieselbe vor mehr als einem
Menschenalter sich zugetragen hat, wäre geradezu lächerlich.
Nielmehr vertreten jene im Ganzen und Großen eine
Summe von Intelligenz, deren kein anderer deutscher
Volks stamm sich würde zu schämen haben. Unsere Absicht
ging vielmehr lediglich dahin, anzudeuten, daß man so viel-
fach nicht versteht, altererbte Sitten, Gewohnheiten und
Anschauungen mit den Forderungen moderner Kultur und
städtischer Bildung in Einklang zn bringen. Man gibt
jene auf, ohne gleichwohl diesen vollständig gerecht werden
zu können. Daher ist es auch eine so überaus beklageus-
werthe Erscheinung, daß so viele Bauern, denen die in den
letzten Dccennien zu enormer Höhe gestiegenen Landpreise
eine bedeutende Rente gewähren, heutzutage oft in ihren
besten Jahren sich zur Ruhe setzen und, ihre Besitzungen
verpachtend, in den Städten ihren Wohnsitz aufschlagen.
Dort bleiben natürlich die höheren und eigentlich gebildeten
Kreise ihnen verschlossen, und sie sind daher meistens genö-
thigt, ihren Umgang unter Halb- oder noch weniger als
halb Gebildeten zu suchen. Dabei kann es denn nicht
fehlen, daß viele Leute sich au sie heran drängen, welche
nur der gefüllte Geldbeutel der neuen Bekannten lockt und
die, während sie nichts als den elenden Firniß einer
sogenauuten Bildung voraus haben, hinterher oft geuug
über die „dummen Baueru" sich lustig macheu mögen, die
doch an wirklicher Gediegenheit unendlich oft ihnen über-
legen sind. —
Allein wir sind von unserm Thema abgeschweift, und
doch blieb uns noch der Besuch eines der wichtigsten Räume
des echten Marschbauernhauses übrig — der des Milch-
kellers nämlich. Mit Vergnügen weilen wir in diesem,
von holländischer Reinlichkeit glänzendem Gelaß, wo anf
dem Fußboden, theils über, theils nebeneinander die
großen runden hölzernen Milchgefäße, „Baljeu" genannt,
aufgestellt sind. Gewöhnlich werden dieselben von außen
mit grauer oder grüner, inwendig aber mit rother Oelfarbe
(von welcher letztern die Weiße der Milch sich angenehm
abhebt) gestrichen. Die Großmagd oder eine der Töchter
des Hauses besorgt allmorgendlich sehr früh („vor Tag
und Tage", wie ciu dahin zielender eigentümlicher Aus-
druck lautet) das Geschäft des Abrahmens, das ebenso
wie die Reinigung der Milchgefäße, das eigentliche Buttern
uud die Käserei, die größte Umsicht, Sorgfalt und Reinlich-
keit erfordert. Die geringste Vernachlässigung oder Un-
rdwestdentschen Flachland?. 30?
sauberkeit rächt sich bekanntlich vor Allem au der Butter,
was Aussehen und Geschmack anbetrifft, auf der Stelle,
und da diese letztere eiueu wichtigen Handelsartikel der
Marschen bildet, so setzt natürlich jede Hausfrau ihren
Stolz darin, eine wohlschmeckende und tadelfreie Waare zu
liefern. Die fette und aromatische ostfriesische, holsteinische
und oldenbnrgische Butter erfreut sich denn auch in der
That eines wohlverdienten und weitverbreiteten Rufes.
Namentlich werden ungeheuere Massen davon nach England
ausgeführt.
Wir hatten bei dem Gange unserer bisherigen Schil-
derungeu vorzugsweise die Wohnungen der begüterten uud
reichen Marschbanern, gewissermaßen der bäuerlichen Aristo-
kratie und unter ihnen wieder vornehmlich die der Weser-
marschen im Aug?. Es bedarf wohl kanm der Bemerkung,
daß ihr Charakter, wie auf der abwar!» führenden Skala,
welche mit dem bescheidenen Häuschen des „kleinen Man-
nes", des „Heuermanns" und „Köters" schließt, so andrer-
seits nach den Verschiedenheiten, welche unvermeidlich in den
einzelnen nach der Elbe und Ems zn belegenen Distrikten
sich knndgeben, mancherlei Modifikationen unterliegt. So
fehlt namentlich den Wohnungen der untern Klasse die
Zwischenwand, welche Stallung und eigentlichen Wohn-
räum scheidet. Auch wird iu ihnen nur in seltenen Fällen
ein Schornstein angebracht sein, vielmehr bleibt es dem
Heerdrauche überlassen, durch die offene Thür sich eiueu
Ausweg 311 bahueu, nachdem er zuvor an den, eben zum
Behuf des „Räucherns" auf der Diele aufgehängten
Würsten, Speck- und Fleischseiten seine Funktion erfüllt hat.
Die ranchgeschwängerte, wie von einem bläulichen Nebel
erfüllte Atmosphäre eines solchen Hauses muß dem, der
ihrer ungewohnt ist, Anfangs unerträglich erscheinen,
namentlich, wenn die Ungunst der Witterung das Schließen
der Haus- und Seitenthüreu uöthig macht. Jndeß hilft
hier, wie überall, die allmächtige Gewohnheit dergleichen
Unznträglichkeiten und Unbequemlichkeiten überwinden.
Der Eindruck, deu wir von der Wohnung des Marsch-
banern mit hiuweguchmen, würde nur ein unvollständiger
sein, wollten wir nicht auch noch einen Blick in den un-
mittelbar an das Hans sich schließenden Garten werfen.
Vielfach könnten wir dabei freilich wieder jenen Mangel an
Schönheitssinn constatiren, der uns schon in die Augen
fällt, wenn wir beim Eintritt in das Gehöft gerade vor
der Frontseite den Ungeheuern Haufen jenes Stoffes auf-
geschichtet finden, den man euphemistisch die „Goldgrnbe
des Landmanns" genannt hat, welche poetische Benennung
indeß nicht für die unseren Augen und Naseu zugefügte
Unbill zn entschädigen vermag. Nicht aber, als ob der
Garten einen vernachlässigten oder gar verwahrlosten An-
blick darböte. Die gnt bearbeiteten und sauber gehaltenen
Beete zeugen vielmehr von derselben Sorgfalt und Ord-
nnngsliebe, welche vielleicht als ein Erbtheil der stamm-
verwandten Holländer nach den deutschen Marschen sich
verpflanzt hat. *) Nur hat es etwas Ermüdendes, wenn
überall derselbe breite, von buchsbaumumgebenen Rabatten
eingefaßte Mittelpfad wiederkehrt, welcher, das ganze Areal
iu zwei gleiche Hälften zerlegend, häufig iu einer jener
langweiligen, geschorenen Lindenlauben endigt, welche nur
iu wenigen echten Marschgärten fehlen. Als Pendant zu
diese» letzteren dienen die gleichfalls glatt geschorenen Liuden-
krönen, welche wie ein schwebender Zaun vor den Fenstern
der Wohnzimmer sich hinzuziehen pflegeu. Der ähnliche,
*) Sie ist keine spezifisch-holländische Eigenschaft, sondern
den sassisch -niederdeutschen und friesischen Bewohnern unseres
nordwestdeutschen Niederlande überhaupt eigen; bei den Hol-
ländern tritt sie aber potenzirt auf. A.
39*
308 Fr. Ewald: Aus dem i
aus der frauzösischen Gartenkunst stammende Ungeschmack
findet sich auch hier und da noch in den wie nach dem Lineal
geschnittenen Tarnshecken, aus denen Thürmchen, Pyra-
miden oder andere Figuren sich emporheben, vertreten.
Zu beiden Seiten der Blumenrabatten breiten sich die
Gemüsebeete aus, und wenngleich der Gemüsebau iu den
Marschen durchschnittlich gerade auf keiner sehr hohen Stufe
steht, so braucht man doch nur diese saftstrotzenden Ge-
wachse, diefe Ueppigkeit in der Fruchterzeugung anzusehen,
um sich zu überzeugen, daß derselbe, wenigstens an den
meisten Stellen, einer Entwicklung und Vervollkommnung
fähig wäre, wie sie bis jetzt vielleicht nur iu Belgien erzielt
worden ist. Am weitesten vorgeschritten sind in dieser Be-
ziehnng wohl ohne Zweisel die Elbmarschen, denen Ham-
bürg jederzeit einen einträglichen Absatzmarkt gewährt.
Daß bei dem vorwiegend Praktischen Sinne unserer
Bauern der Raum für das Nützliche den für das Schöne,
die Blumenzucht, bestimmten bei Weitem überwiegt, darf
nicht befremdlich erscheinen. Schenken wir aber diesem
letztern einige Beachtung, so wird sich uns alsbald die Be-
merkung aufdrängen, daß aus ihm mit Vorliebe und tief-
gewurzelter Pietät jene altbekannten Gewächse gepflegt
werden, welche der Botaniker als echt deutsche anspricht,
welche aber in städtischen Gartenanlagen längst jenen un-
zähligen fremdländischen, mit vornehm klingenden Namen,
haben weichen müssen, die wir zwar bewundern, von denen
wir uns aber nicht angeheimelt fühlen. Oder sollten wir
nicht etwa gern jene alten Freunde begrüßen, deren Namen
seit Jahrhunderten schon im Volksmunde leben — diese
großblätterigen Päonien (wegen ihrer eigenthümlich ge-
formten Fruchtkapseln „Hahn und Henne" genannt), diese
zahlreichen Zwiebelgewächse, welche geradein dem fetten
humusreichen Marschboden ein so vortreffliches Gedeihen
finden, wie Schneeglöckchen, Frühlingsweiß, Zeitlose, Ki-
bitzei (Schachblume, Fritillaria Meleagris), Narzisse nnd
die Osterblume (Narcissus = Pseudo-Narcissus ), sowie
mannigfaltige Liliengewächse; die Goldlack-Arten, welche
als „Gelbveigelein" in dem oberdeutschen Volksliede mehr-
fach eine Rolle spielen, diese Stiefmütterchen nnd Nelken,
diese Akeley, Sturmhnt, Löwenmaul und Rittersporn, diese
Iris, Königskerzen, Dotterblumen, Nachtviolen, Malven,
Johanniskräuter (Hypericum), Kellerhalsgewächse, Finger-
Hut-Arten — und wie sie sonst noch Alle heißen mögen,
die Jahraus, Jahrein mit unveränderter Treue wieder-
kehren? —- Wenn neuerdings ein geläuterter Geschmack
vielfach die alten steifen Rabatten in sogenannte englische
Gartenanlagen mit Rasenplätzen und in sie eingestreute
Beete verwandelt hat, so ist das gewiß als ein Fortschritt
anzuerkennen. Sehr zu wünschen aber wäre es dabei, daß
den altheimischen Gewächsen ihr volles Recht gelassen nnd
ihre Stelle nicht dnrch vornehm anssehende Fremdlinge
ersetzt würde. Die Anhänglichkeit an das Althergebrachte
und Gewohnte aber — und wir können nicht umhin, dies
als ein Zeichen echten nnd gesnnden Volksthnmes zn
begrüßen — ist im Ganzen und Großen zu ties gewurzelt
und begründet, als daß man auch in dieser Beziehung ein
allzu bereites Eingehen ans Neuerungen zu fürchten hätte.
So hat denn auch das Familienleben des nord-
deutschen Bauern vielfach noch etwas Patriarchalisches
behalten. Der Hausherr ist wirklicher Herr des Hauses
und verlangt als solcher unbedingten Gehorsam für seine
Befehle. Dagegen ist er seinem Gesinde, das hier durch-
gehends zu dem von Riehl so schön entwickelten Begriff des
„ganzen Hauses" gehört, ein gelassener und gerechter Herr.
Lautes, zorniges Schelten im Verkehr mit demselben wird
man selten hören. Nimmt sich aber ein Dienstbote Frei-
^westdeutschen Flachlande.
heiten oder gar Widersetzlichkeiten herans, so wird ihm ohne
weitere Umstände nnd ohne viele Worte ans den nächsten
Abgangstermin gekündigt. Mit gleicher Rnhe nnd Umsicht
schaltet die Hansfran in dem ihr zustehenden Gebiet, mit
Gewissenhaftigkeit darauf sehend, daß Jedem von der Hans-
genossenschast „sein Recht" werde. Unter diesem Aus-
drucke wird zunächst vielfach die Art und Weise der Be-
köstiguug verstanden und „de Deensteu (Dienstboten) kriegt
ähr Recht nich" ist so ziemlich die schwerste Anschuldigung,
welche gegen eine Herrschaft erhoben werden kann. In
Wahrheit aber ist der Marschbauer zn wenig znr Unter-
schätznng der materiellen Genüsse geneigt nnd auch zu gut-
müthig und wohlwollend, als daß er nicht den ihm Unter-
gebeneu ihr gutes und reichliches Theil an denselben gönnen
sollte. Die Kost ist daher im Allgemeinen zwar derb,
aber gut und schmackhaft und vor allen Dingen fett zu-
bereitet. Daß einem Süddeutscheu die ungeheueren Schüsseln
von Braunkohl, mit Ranchfleisch, handdickem Speck nnd
verschiedenartigen Würsten garnirt, mnnden würden, möch-
ten wir allerdings stark in Zweifel ziehen. In diesen
Gegenden aber bilden dieselben, namentlich zur Winterszeit,
das eigentliche Nationalgericht, das auf dem Herren-, wie
auf dem Gesiudetisch (denn nur in einzelnen Gegenden noch
nimmt die Hausgeuofseuschaft gemeinsam an den Mahl-
zeiteu Theil) sich einer gleichen Beliebtheit erfreut. Zum
Frühstück und Abendessen, welches für das Gesinde meistens
ans Milch- oder Buttermilchspeisen besteht, wird ein wohl-
schmeckendes, iu großen Laibern gebackeues Roggenbrod,
welches dein westfälischen Pumpernickel sehr ähnlich ist,
genossen, wobei man mit der Bntter nicht eben kärglich
nmzngehen pflegt. Weißbrod, so wie ein ans gebenteltem
Roggen bereitetes Brod („Banernstnten") kommt nur auf
den Tisch der Herrschaft.
Mit großer Regelmäßigkeit kehren auch zu den ver-
schiedeueu Festen dieselben Gerichte wieder. Den Höhen-
Punkt der Koch- und Backkunst Pflegt das Weihnachtsfest
zu bilden, und der Weihnachtsabend hat daher sogar scherz-
hafterweise die entsetzlich nnpoetische Benennung „Dicke
buuksabeud"' (wörtlich: Dickbauchsabend) davon getragen,
woran sich zngleich die Anekdote knüpft, daß ein Knabe
seinen Vater fragt: „Vader, wennehr (wann) knmmt
de Abend, dat ick fo väl freie, dat ick van de
Bank fall'?" — Uebrigens möge, damit auf die nord-
deutschen Landsleute nicht der Vorwurf eines groben Ma-
terialismus falle, hier noch erwähnt werden, daß das kältere
und rauhere Seeklima, wie einerseits einen größern Fett-
gennß, so andererseits auch bedeutendere Nahrungsmengen
fordert, und daß das Sprichwort: „Seeluft tehrt" (zehrt),
keinenfalls ohne Berechtigung ist.
Bevor wir unsere, freilich nur in den allgemeinsten
Umrissen gegebene Schilderung abschließen, können wir
nicht umhin, noch einen Blick aus die Abstammung der
Bevölkerung unserer Nordseemarschen zuwerfen. Die-
felbe zeigt sich gemischt ans friesischen und sächsischen Ele-
menten, und zwar dergestalt, daß bald das eine, bald das
andere die Oberhand erhält, wie sich aus vielfachen An-
zeichen in Sprache, Sitte und Lebensweise erkennen läßt,
wenngleich natürlich im Lauf der Zeiten die Unterschiede
verwischt und abgeblaßt sind. Der altsächsische (sas-
sische) Stamm herrscht (nach den Untersuchungen von
H. Allmers) entschieden vor in den Elbmarschen, wo noch
die Hansgiebel vielfach das alte Sachsenzeichen, die aus-
wärts gekehrten Pferdeköpfe tragen, während die Weser-
Märschen (Osterstade, Land Wührden, Vieland und Land
Wursten auf hannoverscher, das Stedinger-, Stad- und
Butjadingerland aus oldeuburgifcher Seite) reich an frie-
Aus der Repn
sisch eu Elementen sind. Eine rein friesische und Friesisch
redende Bevölkerung dürfte indeß sast nur noch in dem
oldenburgischen Saterlande, sowie auf jener Inselkette
zu finden sein, welche von Holland aus als der geringe
Rest eines von den gierigen Fluten verschlungenen, ehemals
reichen und dichtbevölkerten Landes die deutsche Nordsee-
küste sich entlang zieht. Von den Niederlanden aus scheinen
die Friesen diese Küstenstriche in Besitz genommen zu haben.
Sie sind es gewesen, welche den Boden, ans dem sie sich
ansiedelten, durch das Aufwerfen von Dämmen, — Deiche
genannt, — dauernd der Gewalt des Meeres entrissen.
Unter welchen unsäglichen Mühseligkeiten dies geschah, wie
oft eine einzige Sturmflut die Arbeit einer ganzen Gene-
rcition, ja mehrer Generationen wieder vernichtete, davon
wissen die Chronikenschreiber aus vielen, vielen Blättern zu
berichten, und der Lapidarstyl, mit welchem sie die einzelnen,
durch besondere Furchtbarkeit bemerkenswerten Fluten
verzeichnen, birgt eine Masse ungeahnten Elends. — Be-
merkt mag hier noch werden, daß ältere Geschichtsforscher
den Namen Friesen von dem Worte sresen, zittern, her-
leiten, was, die Richtigkeit (?) dieser Hypothese angenom-
men, aus das Unsichere, Schwankende ihres dem Meere
abgewonnenen Bodens deuten würde. Friseu, von
Fris, Rand, also die am Rande wohnen, — meinen
Andere. (—Kein Friese wohnt 15 deutsche Meilen landein-
wärts von der See. A.)
Im Kampfe mit eben diesem furchtbaren Erbfeinde,
der sich immer und immer seine Beute noch nicht wollte
entreißen lassen, im Kampfe mit geistlichen und weltlichen
Gewalthabern, denen seine trotzige uud selbstherrliche Frei-
heit ein Dorn im Auge war,*) hat das Friesenvolk die
Benennung „Deutschlands Ehrenvolk" wahrlich nicht nn-
verdient erhalten. Der Freiheitskampf der Stedinger gegen
den bremischen Erzbischos hat neuerdings durch Arnold
Schloenbach seine poetische Verherrlichung gefunden. Von
*) „Die Friesen", bemerkt Schlosser, ,,sind die einzige ger-
manische Völkerschaft, welche von jeher die demokratische Form
der monarchischen vorzog."
lik Paraguay. 309
den drei Männern, welche an der Spitze derselben standen
— Boleke (oder Volke) von Bardenfleth, Tammo von
Huntorf und Detmar tom Dyk — und welche in der
Schlacht von Altenesch im Jahre 1234 mit ihren 11,000
Stedingern der vereinten Macht des Erzbischoss von
Bremen und des Grafen von Oldenburg erlagen, von
diesen Dreien sagt Schlosser, daß ihre Namen neben dem
Arnolds von Winkelried im Andenken der Nation nnsterb-
lich sein sollten.
— Und doch — wer in den entfernteren Gauen des
deutschen Vaterlaudes weiß etwas von ihnen, während der
Name des Helden von Sempach in Aller Munde lebt?
Die Schlachten von Granson und Mnrten, von Sempach
und Morgarten sind fast mit unseren frühesten Kindheits-
erinnerungen verflochten, während die Kämpfe des Helden-
müthigen Friesenvolkes-vergessen werden, weil der Erfolg,
dieser Götze, vor dem sich die Welt in Ehrfurcht neigt, keine
Siegesfanfaren zu ihrem Preise anzustimmen hatte. „Allein
wenn auch zertreten von Fürstenmacht, die es zu lieben gar
keine Ursache hat", heißt es iu einem Buche, die „Lebens-
und Leidensgeschichte der Friesen" von Dr. Clement, „und
vom Meere zerschnitten, wie eine Amphibie zertreten und
zerschnitten wird, lebt dennoch das Friesenvolk fort in
unverwüstlicher Natur, wie die zerhackte Amphibie, deren
getrenntes Leben, fo spricht die Volkssage, sich noch rührt,
bis die Sonne untergeht."
— Die vorstehenden, eigentümlich ergreisenden Worte
führt auch Herrmann Allmers, der treffliche Marschen-
schilderer, in seinem „Marschenbuch" au, um „die Kette
unsäglicher Kämpfe und namenloser Leiden" zu kenn-
zeichnen, aus denen die Geschichte des Friesenvolkes besteht.
Auf dies letztere Werk, dem ein namhafter neuerer Kritiker
die ehrende Bezeichnung „klassisch" beilegt, möchten wir
alle diejenigen verweisen, welche, indem sie dem Gange
unserer anspruchslosen Skizze folgten, vielleicht den Wunsch
in sich aufsteigen fühlten, eingehender über dieses in so viel-
sacher Hinsicht interessante Stück deutscher Erde sich zu
unterrichten.
Aus der Republik Paraguay.
Der Krieg, welcher im vorigen Jahr in der Region ströme sind dergleichen gekommen. In Paraguay hat man
des La Platastromes entbrannt ist, bietet eine interessante zumeist Gnarani-Jndianer unter die Fahnen gestellt,
Erscheinung dar. denn die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung besteht
Lopez, Präsident oder Dictator von Paraguay, hat sich aus solchen, und das Gnaranl ist die eigentliche Landes-
das Beispiel seiner Vorgänger nicht zum Muster genommen; spräche.
diese hielten an der Maxime fest, sich von allen answär- Bisher ist allgemein, und wir unsererseits glauben
tigen Händeln fern zu halten, während er sich geflissentlich mit Recht, angenommen worden, daß von den 600,000
in dieselben einmischte. Gegen ihn haben sich das Kaiser- Einwohnern, welche-Paraguay zählt, kaum ein Sechstel
reich Brasilien, die argentinische Conföderation und die aus reinem, nnvermifchtem „Weißen Blnte" bestehe.
Republik Uruguay verbündet und sie werden durch ihre Der französische Reisende Demersay, der eine „phy-
Uebermacht seiner Herr werden. fische, wirtschaftliche und politische Geschichte von Pa-
Nun bilden die Heere der verschiedenen Staaten eine ragnay und der Niederlassung der Jesuiten" veröffent-
merkwürdig bunte Zusammensetzung von Menschen ver- licht, meint, daß etwa sechs Zehntel Weiße seien,
schiedener Rassen und von Mischlingen. Zwar die Argen- Giebt man das zu, so muß man aber doch annehmen, daß
tiner und die Leute aus Uruguay sind in bei weitem über- es sich dabei um Weiße handelt, die es^ zumeist nur dem
wiegender Menge weiß, aber die brasilianische Armee Namen nach sind. Wäre das reine spanische Blut wirklich
besteht zumeist aus Negern und Mulatten, sodann aus überwiegend, so würde die Jndianersprache nicht die Herr-
Indianern verschiedener Stämme; selbst vom Amazonen- schende sein können, auch sagt Demersay selbst, daß diese
310
Aus der Republik Paraguay.
Weißen „zumeist, in einer mehr oder weniger entfernten
Zeit aus der Verbindung der Europäer mit eingebornen
Gnaranlsranen hervorgegangen seien." Sie bezeichnen sich
als Creolen oder „Söhne des Landes". Von der Neger-
plage ist Paraguay glücklicherweise so ziemlich verschont
geblieben; die Sklaverei ist, sehr verständigerweise, nach
und nach und stufenweis abgeschafft worden.
Die GuaranK sind sogenannte civilisirte Indianer, in
Paraguay leben aber auch
noch einige wilde Stämme,
die während des jetzigen
Krieges auch eine Anzahl
Kämpfer gestellt haben.
Zu diesen gehören die
Payaguas, über die
wir Einiges bemerken
wollen. Sie leben am
linken Ufer des Paraguay-
stroms, und schon in der
ersten Hälfte des 16. Jahr-
Hunderts haben die spa-
nischen Eroberer Bekannt-
schast mit ihnen gemacht.
Sie schweiften damals
zwischen 25 und 21"südl.
Br. einher, hatten feine
festen Wohnsitze und be-
herrschten, als gewandte
Kahnschiffer, das Wasser.
Kriegerisch sind sie bis
anf diesen Tag geblieben.
Oftmals sind sie auf das
rechte Ufer des Flusses
hinübergegangen u. haben
in der großen Einöde,
welche als das Gran
Chaco bekannt ist, Krieg
mit den wilden Stämmen
geführt; sie bedrohten auch
die Stadt Asunciou, und
die Spanier mußten dort
zwei Burgen errichten, um
sich ihrer zu erwehren.
Aber nach und nach ver-
minderte sich ihre Zahl;
1741 schlössen sie einen
Frieden, welchen sie auch
stets gehalten haben; sie
fanden, daß es vortheil-
Haft sei, mit den Mäch-
tigeren auf gutem Fuße
zu stehen. Nun schweifen
sie ungestört umher; man
sieht sie nicht selten auch
iu den Städten oder viel-
mehr bei denselben, na-
mentlich bei Asunciou,
Villa real, Neembncn und San Pedro. Bei Astuteton,
der Hauptstadt, schlage» sie ihre große Hütte (Tolderia)
am hohen Ufer auf; dieselbe besteht aus Bambuspfählen,
ist zwölf Fuß hoch und in rohester Weise ntit Rohr und
Binsen gedeckt. Tiger- und Schweinsfelle dienet! zum
Lager; an den Stangen hängt allerlei Hausrath und
Fifchereiwerkzeng, am Bodeu liegen und stehen Töpfer-
gefchirr uud Kalebassen umher.
Sie bringen nach Asuncion Brennholz, Fische uud
Pferdefutter, und kaufen für deu Erlös — Branntwein.
Leider sind sie arge Trinker. Ehemals wurde der Payagua
allemal von seiner Frau oder einem Freunde begleitet, und
man schaffte ihn bei Seite, ehe er völlig berauscht zu Bodeu
sauk. Jetzt ist es bei schwerer Strafe verboteu, einem
Indianer in der Schenke Branntwein zu geben. Fraueu
und jünge Männer dürfen nicht trinken; das ist ein Privi-
leginm der Verheirateten!
Die Payaguas sind
allezeit voll und ganz
Barbaren geblieben; sie
haben sich niemals zum
Anbau des Mais und der
süßen Kartoffel bequemt,
nicht einmal Taback pflan-
zeu sie. Am liebsten sind
sie auf dein Wasser, um
Fische ztt fangen, und das
verstehen sie aus dem
Grunde. Bessere Ruderer
gibt es nicht, und ihre
Picoguen schießen wie
Pfeile dahin. Diese Fahr-
zeuge sind 12 bis 15 Fuß
lang, nicht über 3 Fuß
breit, aus einem Timbo-
staittme gehöhlt und lau-
~ fett an beiden Enden spitz
zu. Das Ruder ist wie
eine Lanze zugespitzt und
bildet tu ihren Händen
eilte furchtbare Waffe.
Dazu kommen dann noch
Bogen, Pfeile und Kettle.
Im Kriege verschonen sie
keinen männlichen Feind.
Die Republik Para-
guay kann von diesen
Payagnas keine Stenern
erheben; sie sind durch-
aus unabhängig uud küm-
mern sich gar nicht um die
Regierung. Diese hat sich
längst überzeugt, daß sie
durchaus nicht zu eivilisi-
reu find, und benutzt diese
Wilden, wozu sie ver-
wendbar sind, z. B. als
Stromeouriere oder als
Führer bei Streifziigen
gegen die wilden Indianer
des Gran Chaco. Dr.
Frcmeia übertrug ihueu
die Strontpolizei u. hatte
sie angewiesen, Niemand
Der Payv, Medicinmarm bei den Payaguas. (Nach einer Zeichnung von Demersay.) ang dem Lande zu lassett.
Niemals hat man diese
Indianer dazu bringen können, unter sich selbst eiueu
Häuptling anzuerkennen. Sie haben keinerlei Art von
Hierarchie, und selbst deu so klugen und in ihrer Aus-
dauer unermüdlichen Jesuiten ist es unmöglich gewesen,
auch nur eiueu einzigen Payagua zum Christenthunte zu
bekehren. Sie halten fest att ihrem Pctye, ihrem Mediein-
manne.
Unser Bild zeigt einen solchen. Demerfay hatte ihm
Branntwein in Aussicht gestellt, xtnb dieser konnte er nicht
Aus der Nep
widerstehen. Er kam und ließ sich zeichnen. Er hatte
einen Knaben und zwei Frauen mitgebracht. Als ziemlich
bejahrter Mann war er schon etwas gekrümmt, sah aber
im Uebrigen ganz leidlich aus. Seiu noch schwarzes Haar
trug er unter einer mit Glasperlen verzierten Binde, auf
welcher ein kleiner Federbusch befestigt war; hinten am
Kopse hatte er Federn vom südamerikanischen Strauß (dem
Nandu). Am Halse hing ein Collier von Doppelmuschelu
und eine Art von Flöte, die aus deiu Armknochen eines
Feindes verfertigt war. Sein den nackten Leib bedeckender
Üeberwurf bestand aus Jaguarfellen, und über Arm- und
Fußknöcheln trug er Stränge von Zähnen des Capibara
(Flußschweins). Ju der rechten Hand hielt er einen läng-
lichen Kürbis und iu der "Linken eine Röhre von hartem
blik Paraguay. 311
Haar ist glatt, wird vorne abgeschnitten und niemals
gekämmt; die jungen Krieger binden dasselbe ain Hinter-
kopfe mit einem rothen Bindfaden fest. Das Auge ist
klein und lebhaft, eug geschlitzt, aber am äußern Winkel
nicht in die Höhe gezogen; ans ihm spricht Verschlagenheit
und List. Nase lang und etwas abgerundet, fast cancasisch;
Backenknochen sehr wenig vorstehend; die Unterlippe hängt
über die Oberlippe hinaus, und dadurch gewinnt der ohne-
hin ernste und kalte Gesichtsansdrnck etwas Hochmüthiges,
das auch dem Charakter dieses ungebändigten Volkes völlig
entspricht. Die Haare am Leibe, an den Augenbrauen
und selbst die Wimpern werden ausgerissen. Die Frauen
sind in der Jugend ganz hübsch, in reiferm Alter werden
sie zu beleibt; die Füße sind sehr klein. Junge Mädchen
Das Einernten des Matv am Parana in Paraguay. (Nach einer Zeichnung von Demersay.)
Holze, in der man nur mit Mühe eine Tabackspfeife er-
kannte.
Er gab die Pfeife dem Knaben, welcher sie anzündete;
dann nahm er sie wieder und blies mehre Züge kräftig in
den Kürbis, der unten ein Loch hatte. Nachher rief er laut
die Sylben ta, ta, to, to, to, bald rasch, bald langsam,
machte dann heftige Zuckungen und sprang abwechselnd
ans einem Fuß und auf beiden Beinen. Endlich hielt er
an, weil er ermüdet sei, als man ihm aber einen guten
Schluck Branntwein gab, sing er von vorne an.
Die Payaguas sind von großem, kräftigem Wuchs und
ihr Muskelsystem ist gut entwickelt. Die Hautfarbe ist
olivenbraun, etwas heller als bei den Guaranls, die eine
mehr ins Gelbliche spielende Nuance aufweisen. Das
werden tättowirt und sind nach' dem zehnten Jahre
mannbar.
In den Toldos (Hütten) gehen die Payaguas unbe-
kleidet, wenn sie aber zur Stadt kommen, tragen sie eine
kleine baumwollene Decke. Diese wird von den Weibern
mit den Fingern verfertigt, denn von einem Webstuhle
haben sie nie Gebrauch gemacht.
Dann und wann, aber selten, läßt sich ein Payagua
herbei, beim Einsammeln des Mats hülfreiche Hand
zu leisten. Dieser „südamerikanische Thee", Hex para-
guayensis, wächst wild auf weiten Strecken, bis in die
Nähe von Rio Janeiro, bis in die bolivianischen Andes
und in mehren brasilianischen Provinzen. Für Paraguay
bildet er einen Hauptausfuhrartikel. Die Spanier bezeich-
Hölzerner Säbel. Eine Bombilla. Matv'gefäß. Zweig, Blüthe und Früchte des Matv'strauchS.
sie auf Häuten aus; dort werden sie vermittelst hölzerner
Säbel von den Zweigen abgeschlagen, in Eimer oder
Mörser gethan, und zuletzt packt mau deu Staub in Säcke
aus Ochseuhaut, welche wie große Kopfkissen aussehen.
Solch ein Sack hat ein Gewicht von 120 bis 240 Pfund.
Der Mat6 heißt auch Kraut des heiligen Bar-
tholomäns oder Jesnitenthee. Er kommt im Handel
vor als ein grober, hellgrüner Staub, hat eiueu kraut-
artigen Geruch, der bei frischer Waare recht unangenehm
ist, aber nach einigen Monaten ziemlich aromatisch wird.
Musen oder Metall, das unten eine runde, durchlöcherte
Kugel hat. Die gemeinen Leute trinken diesen Thee
„wild", mate cimarron, d. h- ohne Zucker; die Frauen
in der Stadt und die Ausländer geben Kaffee, Rum,
etwas Citroueu- oder Apfelsinenschalen und wohl auch
Milch hinzu.
Die Südamerikaner trinken zu allen Tagesstunden
Mate, insbesondere aber gleich, sobald sie Frühmorgens
ihre Hangmatte verlassen. Ohne dieses Getränk könnten
sie gar nicht leben.
312 Aus der Repi
neu ihn als Yerba, Kraut. In Paraguay gehen die
Arbeiter, wohlversorgt mit Lebensmitteln, in die Wälder,
wo die Bäume stehen; diese gleichen einer kleinen buschigen
Eiche. Man haut die Zweige ab, die wieder verkleinert
und über einem hellen Feuer auf einem etwa 15 Fuß hohen
Bambusgerüste gedörrt werden. Dann zündet man im
Mittelpunkte des letztern ein Feuer au, das etwa 24 Stun-
den sehr langsam brennt. Sobald die Blätter alle Fench-
tigkeit verloren haben, nimmt man sie herunter und breitet
lik Paraguay.
Dieses Kraut.ersetzt in Paraguay, in den argenti-
nischen Landen, Chile, Peru und in den brasilianischen
Provinzen Rio Grande, San Paulo und Paran6 ganz
allgemein den Thee oder Kaffee. Er wird in folgender
Weise zubereitet. Man thut in das Gefäß Zucker und
eine glühende Kohle und schüttet eine beliebige Quantität
Staub hinzu. Das Wasser wird sehr heiß aber nicht
siedend aufgegossen, und dann ist der Thee fertig. Man
schlürft ihn vermittelst einer Bombilla, einem Rohr aus
K. v. Koferitz: Zur Hydrographie der brasilianischen Provinz Matto Grosso.
313
Frühmorgens nüchtern genossen, namentlich ohne Zucker,
ist der Mat6 ein sehr aufregendes Getränk. Viele Euro-
päer können ihn überhaupt gar nicht vertragen, er verur-
sacht ihnen Uebelkeit und Erbrechen. Auch wenn er sehr
schwach genossen wird, hat er doch noch ausregende Eigen-
schaften und sagt nicht Jedermann zu; der Magen will sich
nicht gern an ihn gewöhnen, anch wirkt er aus das Gehir^und
verursacht Schlaflosigkeit. — Aber weshalb sagt er denn dem
Südamerikaner so sehr zu? Weil dieser eine große Menge
halb gargekochten Fleisches ohne Brot, und oft ohne jede
Mehlspeise, allemal aber ohne Wein genießt. Bei ihm ist
der Mate ein fast unentbehrliches Verdauungsmittel.
Zur Hydrographie der bralili
Von Karl
Die Wasser- und Schiffahrtsverbindu
Ju Bezug auf die hydrographischen Verhältnisse kann
keine Region Südamerikas mit der großen brasilianischen
Provinz Matto Grosso in die Schranken treten; keine
andere hat so großartige Aussichten für die Zukunft, keine
wird für den Welthandel wichtiger werden, denn keine hat
so bedeutende Wasserstraßen. Ein Blick auf die Karte von
Brasilien zeigt uns das bewunderungswürdige Flußsystem,
mit welchem diese Provinz von der Natur ausgestattet
worden ist und welches dieselbe iu direkte Verbindung setzt
mit den beiden mächtigen Lebensadern Südamerikas, dem
Amazonenstrom und dem La Plata. Die „natürlichen"
Grenzen der Provinz werden von den Flüssen Paraguay,
Guapor^ und Madeira auf der einen, vomParan-i
und Aragnaya auf der andern Seite gebildet. Die
Strecke Landes, welche zwischen den Quellen des Aragnaya
und denen des Gnapor6 sich hinzieht, ist von zahlreichen
Nebenflüssen der beiden Flußriesen Südamerikas durch-
schnitten und ihre Wasserscheide bildet eine hügelige Fläche,
die nur etwa 266 Fuß über dem Meeresspiegel liegt.
Durch diese Wasserscheide ist die Provinz in zwei Theile
gesondert, von denen der eine die hydrographische Region
der Zuflüsse des Amazonenstroms mit den Thälern des
Guapors und Madeira, dem Becken des Tapajoz, dem des
Xingn und dein westlichen Theile des Araguaya-Thales
bildet, während der andere einen Theil des Thales des
Paran-l und das Becken des Paraguay, Zuflüsse des La
Plata, enthält.
Alle diese Gewässer sind bereits vor mehr denn hundert
Jahren mit Kähnen beschifft worden, und sie alle können
mit verhältnißmäßig geringen Opfern der Dampfschiff-
fahrt zugänglich gemacht werden, welche ja auf dem
Paraguay und dem Paranck schon längst besteht. Der
*) Die beiden amerikanischen Stromriesen, Amazonas und
Paraguay-La Plata haben gerade iu unseren Tagen eine ge-
steigerte Bedeutung gewonnen und iu deu von ihnen durchzöge-
neu Ländern gewinnt der Handelsverkehr alljährlich an Bedeu-
tung. Gewiß wird einmal die Zeit kommen, da man von
Buenos Ayres oder Montevideo aus nach Norden hin, so recht
durch das Herz des südamerikanischen Binnenlandes, bis iu deu
Amazonas uach Parä fahren kann, nud umgekehrt. Die obigen
Mittheilungen des Hrn. Karl von Koseritz in Porte Alegre
werden vielen unserer Leser sehr willkommen sein, weil sie,
nach deu Berichten der brasilianischen Forschungserpeditioueu,
die hydrographischen Verhältnisse übersichtlich und im Zusam-
menhange schildern. A.
Globus IX. Nr. 10.
heil Provinz Matto Grosso.
Köstritz.
gen im Stromgebiete des Amazonas.*)
unendliche Reichthum dieser Provinz, welche im Norden an
Alto-Amazonas und Gran Parä, im Osten an Goyaz und
S. Paulo, im Süden au Paraguay, im Südwesten an
Bolivia und im Westen an Peru grenzt und ein Gebiet
umfaßt, welches mehr denn doppelt fo groß wie ganz
Deutschland mit allen österreichischen Ländern ist, der uit-
endliche Reichthum, sage ich, welchen diese Provinz an
Gold-, Kupfer-und Diamantenminen, an Hornvieh, an
Nutz- und Färbehölzern, sowie an Kautschuk, Gnaran-l,
und au Plautageprodukteu enthält, wird bei einer einstigen
direkten Schifffahrtsverbindung mit den beiden Riesen-
strömen La Plata und Amazonas, die, wie gesagt, ihre
Wasserscheide in der Provinz haben, von der äußersten
Wichtigkeit für den Handel der ganzen Welt werden.
Augenblicklich zählt die ganze Provinz nur 92,000 Ein-
wohner und hat nur zwei Städte, Euyabä (12,000 Ein-
wohner) und Matto Grosso (ehemals Villa Bella)
mit 1500 Einwohnern. Wenn aber einstens die mächtigen
Wasserstraßen der Schifffahrt geöffnet sein werden, welche
Matto Grosso in direkte Verbindung mit den Ausflüssen
des La Plata und des Amazonenstroms, mit den Provinzen
Alto-Amazonas, Grau Parä, Goyaz, S. Paulo und
Paranck, mit Bolivia, Peru und Paraguay setzeu, so wird
keine Region von Südamerika ihr in Reichthum und Wich-
tigkeit gleich kommen.
Die nähere Betrachtung dieser verschiedenen Wasser-
straßen, welche zu den beiden größten Flußgebieten von
Südamerika gehören, bildet das Thema dieses Artikels,
bei dessen Ausarbeitung ich mich hauptsächlich auf die An-
gaben des brasilianischen Geschwader-Kommandanten Le-
verger stütze, welcher die Provinz Matto Grosso seit Jahren
wissenschaftlich erforscht.
Indem wir uns zuerst mit dem Madeira beschäftigen,
müssen wir der Meinung des Grafen Castelnau beipflichten,
welcher dem Guapor6 bis 31t seiner Quelle den Namen
Madeira beilegt; es ist unzweifelhaft, daß der GuaP0r6
die Quelle des Madeira bildet, und daß der Beni
uud der Ma m 0 r6 (im bolivianischen Gebiete) nur als
Nebenflüsse erscheinen, so daß die Meinung, welche den
Madeira aus dem Zusammenflusse des Bern mit dem
Mamor6 entstehen läßt, sich als gänzlich unbegründet
erweist. Der Guapor6 wurde im Jahre 1737 von den
ersten Erforschern der Goldminen von Matto Grosso ent-
deckt, die, den kleinen Fluß Sa rar 6 hinunterschiffend, auf
40
314 K. v. Koseritz: Zur Hydrographie der
den genannten Strom stießen. Schon 1742 fuhr eine kleine
Erpedition den Guapore hinaus bis zur Hauptstadt der
spanischen Missionen von Moros. Im Jahre 1752 grün-
dete der erste Gouverneur von Matto Grosso, Don Antonio
Rolino deMoura, am rechten User des Gnapore die Stadt
Villa Bella, welche späterhin unter dein Namen Matto
Grosso lange Zeit Hauptstadt der Provinz war. Schou
1757 gestattete ein königlicher Erlaß den Handel mit
Para, durch ausschließliche Vermittlung des Gnapor6 und
des Madeira. Das kleine Fort Conceiyao wurde im Jahre
1769 gegründet, und von jener Zeit an gewann die Schiff-
fahrt auf dem Madeira uud Guapore einige Lebhaftigkeit.
Während langer Zeit erhielt Matto Grosso allen seinen Be-
darf an Waffen und Waaren nur auf diesem Wege. Der
Handel mit Parä vergrößerte sich, und selbst die amtliche
Correspondenz der Gouverneure mit dem Hose von Lissabon
fand auf diesem Wege statt.
Schon im Jahre 1776 wurde das Fort Weira am
rechten Ufer des Guapor« gegründet und diente von da an
als Depositum der Handelskompagnie von Para,
welche in den neunziger Jahren einging.
Im Jahre 1782 wurde der Madeira zum ersten Male
wissenschaftlich erforscht und zwar von einer Ingenieur-
Kommission, welche die Grenzen gegen Hochpern(Bolivia)
feststellen sollte. Dem Tagebnche dieser Kommission ent-
nehme ich folgende Angaben über die Entfernungen der
verschiedenen Punkte:
Porlug. Meilen.'")
Von der Mündung des Madeira bis zum
erfteu Wasserfall (Santo Antonio) . 186
Von dein ersten Wasserfall bis zum Zu-
sammenflnß des Beni mit dem Mamore 60
-Von diesen: Zusammenfluß zum letzten
Wasserfalle (Guajarä mirim) . . . 10
Vom letzten Wasserfalle zum Zusammen-
flnffe des Gnapore mit dem Mamorv 34
Von diesem Zusammenflüsse zum Fort Beira 20
Vom Fort nach Villa Bella (heute Stadt
Matto Grosso)....... 180
Die Distanz von Matto Grosso bis zur Mündung des
Madeira in den Amazonas beträgt also 49l) portugiesische
Meileu (zu 20 auf deu Grad), und die verschiedenen
Wasserfälle und Stromschnellen, welche der
Schifffahrt entgegen flehen, nehmen eine Strecke von 70
solcher Meilen ein.
Diese 70 Meilen müssen also umgangen, oder die
Felsen, welche die Fälle bilden, gesprengt werden, um die
Schifffahrt frei zumachen; das ist um so wichtiger, weil
die Goldminen des Distrikts von Villa Bella (oder
Matto Grosso) im vorigen Jahrhundert über 40,000
Octaveu Gold per Jahr lieferten uud noch heute liefern
können; damals jedoch zählte Villa Bella 7000 Einwohner,
nnd heute hat es nur 1500, indem die Schwierigkeit der
Umgehung der Wasserfälle die Bewohner der Gegend nach
und nach von dem Wasserwege zurückgeschreckt hat. Sollte
Bolivia sich mit Brasilien verständigen und die Eröffnung
eines Kanals ans gemeinsame Kosten übernehmen, so würde
der Madeira zur größten Wichtigkeit gelangen.
Indem wir nun zum Tapajos übergehen, treffen wir
wieder auf einen Zweifel, da einige Geographen behaupten,
daß der Fluß schou beim Znsammeufluffe des Arinos und
des Jurußna den Gefammtnamen Tapajos annehme.
Wir hingegen pflichten lieber denjenigen bei, die annehmen,
daß der Jnrnßna feinen Namen bis zum Zufammenftnsse
*) 20 auf einen Grad,
: brasilianischen Provinz Matto Grosso.
mit dem St. Manuel (oder Tres Barras) bewahrt.
Man hat, da der Distrikt Diamantino, der die reichsten
Minen von Matto Grosso enthält, zwischen dein Arinos
und dem Juruena liegt, schon früh versucht, den Tapaj6s
hinaufzuschisseu, doch sind die Riffe und Wasserfälle fo
häufig, daß die Reife eine sehr lange und gefährliche wurde.
Die größte Erpedition, welche den Arinos hinaus ging,
wurde im Jahre 1812 von Miguel Jono de Castro
geführt. Sie verließ am 14. September 1812 den Hafen
von Rio Preto im Arinos (4 Meilen vom Kirchspiele
Diamantino) und langte am 27. November, also nach 75
Tagereisen, in Santarem, an der Mündung des Tapajos
in deu Amazonas, an. Zur Rückreise brauchte sie 110 Tage.
Von jener Zeit an hat die Schifffahrt in Kähnen auf
dieseu Flüssen nicht mehr aufgehört und ist theilweise von
Wichtigkeit, weil nur vermittelst derselben der von den
Mauas-Indianern bereitete Gnaranä nach Matto Grosso
gelangt, wo er als ein Lebensbedürfniß betrachtet wird.
In den Jahren 1827 bis 1828 untersuchte eine russische Com-
Mission unter der Leitung des Herrn G. von Längs-
dorf die Schifffahrt dieses Flusses, doch sind, wie es
scheint, ihre Beobachtungen nicht veröffentlicht worden.
Die Entfernungen im Tapaj<is sind folgende:
^ Pöring. Meilen.
Vom Hafen des Rio Preto zur Mündung des
Arinos.......... 5
Von dieser Mündung bis zu der des Sumi-
donro.......... 25
Von der Mündung bis zu der des Jurußna
(6 Wasserfälle)....... 70
Von da zum Salto Augusto (7 Wasserfälle) 40
Vom Salto Augusto bis zu dem Wasserfall
S. Simao de Gibraltar (11 Wasserfälle) 15
Von diesem Wasserfall bis zur Mündung des
S. Manuel (1 Wasserfall) . . . 20
Von da zur Mündung des Jtaibneta
(9 Wasserfälle)....... 95
Von da bis Santarem (ohne Hinderniß) . . 65
335
Im Jahre 1854 machte eine kleine Erpedition von
Pirognen diese Reise in 26 Tagen, brauchte aber zum
Rückwege 156 Tage.
Man ist soeben im Begriff, am größten der Wasser-
fälle, Salto Augusto, eine Militärcolonie zu gründen,
deren Bewohuer bei der Passage des Salto helfen könnten,
um fo mehr als das große indianische Volk der Apinaeas
(sehr zahme und friedfertige Wilde) sich leicht zu einer
ähnlichen Niederlassung verstehen würde. Die Beseitigung
der Hindernisse, welche die Dampfschifffahrt aus "dem
Tapajos unmöglich machen, würde nur mit sehr bedeu-
tenden Opfern zu erreichen sein.
Am Orte Tres Barras ist die Mündung des Rio
San Manuel, dessen Wasser mit denen des Juruena
den Tapajos bilden. Man weiß bis jetzt nur wenig vom
Rio San Manuel; einer seiner Nebenflüsse ist der Para-
natinga, dessen Quellen nahe bei denen des Cuyabä
liegen, und der 40 Meilen von der Stadt dieses Namens
schiffbar wird. Er ist jedoch nur einmal, im Jahre 1819,
erforscht worden und zwar durch den Lieutenant Antonio
Peiroto, welcher 67 Tage bis zur Mündung des Juruena
brauchte. Seit jener Zeit wurde er nie wieder befahren.
Der dritte Fluß, welcher Matto Grosso mit dem Ama-
zonas verbindet, ist der Xiugu, dessen oberer Theil noch
nie beschifft worden und auch von wilden Jndianerstämmen
umgeben ist. Uebrigens signrirt der obengenannte Para-
natinga auf der einzigen Karte von Matto Grosso, welche
Aus allen
bis jetzt existirt (entworfen im Jahre 1797 ans Befehl des
Gouverneurs Montenegro), merkwürdiger Weise als Neben-
fluß des Xingu, was ein krasser Jrrthnm ist, der sich auch
auf einigen delttfcheu und französischen Karten einge-
schlichen hat.
Wir kommen nun zur wichtigsten Wasserstraße zwischen
Matto Grosso und dem Amazonas, dem Araguaya.
Dieser wird gewöhnlich „Rio Grande do Goyaz" genannt;
er entspringt in der Provinz Matto Grosso in der Nähe
des Weges, der von Piguiry nach Santa Anna do Para-
uahyba führt. Auf dem gauzeu linken Ufer des Araguaya,
der 200 Meilen weit in der Provinz Matto Grosso läuft,
existirt nur ein kleines Dorf, Piedade do Rio Grande,
am Wege von Cuyaba nach Goyaz. Der Araguaya liegt
mehr denn 109 Meilen seitwärts vom bewohnten Theile
der Provinz und kann nur durch Vermittlung des Rio
das Mortes (oder Rio Mauso), der 29 Meilen vor
Cnyaba vorbeifließt, benutzt werden. Der Rio das Mortes
wurde 1893 untersucht. Nach 9 Tageu einer unbehiu-
derteu Fahrt traf man auf 123 Wasserfälle und
brauchte 56 Tage, um sich durch dieselben hindurch zu
helfen; nachher war die Schifffahrt wieder unbehindert.
Erdtheilen. 315
Deshalb wird man wohl nie auf deu Rio Manfa reflektiren.
Wenn man aber vom Ufer des Araguaya, Cuyaba gegen-
über, eine Landstraße nach jener Stadt eröffnet, fo würde
der Araguaya die beste Verbindung mit dem Amazonen-
ströme bilden, denn die Hindernisse in demselben, die sich
hauptsächlich im untern Theile befinden, sind leichter zu
beseitigen, als die des Madeira und des Tapajos. Die
Reise von der Stadt Belem (Pars,) nach der Insel „Ba-
nanal", welche in geringer Entfernung von der Mündung
des Rio das Mortes liegt, kann mit Kähnen oder Piroguen
in etwa 149 Tagen gemacht werden, ein Dampfboot würde
sie also in 39 bis 49 Tagen zurücklegen.
Gegenwärtig sind die im Stromgebiet der Nebenflüsse
des Amazonas gelegenen Theile der Provinz Matto Grosso
fast nur von wilden Indianern bevölkert, und deshalb ist
die Schifffahrt auf dieseu Flüssen bisher weniger wichtig
gewesen, als jene der Zuflüsse des La Plata; für die Zu-
kunft jedoch werden sie von größerm Belang werden, da
sie nur durch brasilianisches Gebiet fließen und mithin von
auswärtigen Verwicklungen unberührt bleiben. Man denkt
nun ernstlich daran, den Araguaya oder den Tapajos der
Dampffchifffahrt zugänglich zu machen.
Ans allen
Näheres über du Chaillu's verunglückte Reise in Westafrika.
Ju der Sitzung der londoner geographischen Gesellschaft
vom 8. Januar gab der „Mann des Gorilla" Auskunft über
seine jüngste Wanderung und das Mißlingen derselben.
Er hatte am 5. August 1863 Europa verlassen und erreichte
am 9. Oktober die Mündung des Fernando Vaz, an der West-
afrikanischen Küste, fast unter dem Aeguator. Das Seeschiff
mußte seine Waaren in Nachen der Eingeboruen überladen; einer
derselben, in welchem sich du Chailln mit seinen Instrumenten
befand, schlug um, und die werthvollsten derselben gingen ver-
loren. Eine neue Sendung ans England traf erst im August
1864 ein. Inzwischen sammelte du Ehaillu naturwissenschasl-
kiche Gegenstände und sandte dieselben nach Europa.
Endlich konnte er gegen Osten hin aufbrechen und ging in
das Land der Aschiras, welches er schon ans seiner ersten
Reise besucht hatte und wo er gut aufgenommen wurde. Das
Gelände steigt von der Küste ab terrassenförmig an. Am Meere
liegt ein Streifen flachen Bodens, dann zieht eine Reihenfolge
von Hügelketten in nordwestlicher und südöstlicher Richtung, und
diese Ketten werde» je weiter nach dem Innern hin um so
höher. Die Pässe über dieselben liegen, Barometermessungen
zufolge, 1864 und 2400 engl. Fuß hoch. Der größte Theil des
Landes ist dicht bewaldet; von einem Dorfe zum andern führen
einzelne Pfade durch das Dickicht. Vom Aschiralande nach Osten
gehen drei Hauptpfade aus: nach Nordosten, Osten und Süd-
osten. Die Stämme sind in Sippen (Elans) getheilt nnd jedes
Dorf hat seinen eigenen Häuptling; die Bewohner desselben
gehören allemal der Sippe der Mutter an. Diese Ortschaften
sind größer nnd volkreicher als jene an der Küste.
Im Hinblick auf das, was du Ehaillu iu den Werken von
Burton, Graut nnd Speke gelesen, fand er manche Wörter,
welche mit denen übereinstimmten, die er in den von ihm
durchwanderten Gegenden hörte nnd er folgert daraus, daß die
Stämme in Ost- und Westafrika ursprünglich Ein Volk ge-
wesen seien.
Nachdem er drei Wochen bei den Aschiras gewesen, traten die
Blattern auf und richteten große Verwüstung an; der Reisende
selbst befand sich in einer höchst traurigen Lage. Zum größten
Mißgeschick starb sein alter Freund, der Häuptling Olenda, an
der Seuche, und das Volk beschuldigte den Europäer, daß er
diesen Todesfall durch Behexung herbeigeführt habe. Nun
verbot mau ihm, seinen Weg nach Osten hin durch das Land
Erdtheilen.
der Apingi fortzusetzen, welches er schon auf seiner frühern
Reise besucht hatte. Damals nämlich war bald nach seinem
Besuche der König der Apingi gestorben nnd auch dieser Todes-
fall wurde den Europäern zur Last gelegt. Man meinte, du
Ehaillu habe es darauf abgesehen gehabt, den Geist des
Häuptlings mit in d as Land der Weißen zn nehmen.
Am Ende gelang es ihm, nach Osten hin in das Land
Otando zu gehen. Unterwegs stieß er ans einen Wand er-
stamm, eine Art von Neger-Zigennern; er schildert sie
als hellfarbiger wie die Neger; sie hätten kürzeres Haar anf
dem Kopf, und behaarten Körper, seien alle klein nnd die
Frauen, von denen er mehre gemessen, durchschnittlich nur 4 Fuß
4 bis 5 Zoll.
Nachdem er 200 Miles weiter als irgend ein Europäer
vor ihm ins Innere eingedrungen, zwang ein unglücklicher Zn-
fall ihn zur Rückkehr. Er befand sich im Dorfe Mooaoo
Kombo, 270 Miles von der Mündnng des Fernando Vaz;
dort ging einem seiner Leute.das Gewehr los und der Schuß
tödtete einen Mann und eine Frau. Die Eingebornen, in hohem
Grade aufgeregt und erbittert, machten dann einen Angriff mit
Speeren und vergifteten Pfeilen; du Ehaillu befahl feinen Len-
ken den Rückzug, der anfangs in guter Ordnung statt fand;
dann aber kam ein plötzlicher Schrecken über sie, Alles, was sie
trugen wurde weggeworfen, der Europäer, welcher zeither den
Rückzug gedeckt, ' mußte selber die Flucht ergreifen und verlor
dabei, seine werthvollsten Sachen, Instrumente sowohl nne Schieß-
bedarf, Photographien und Sammlungen; dagegen rettete er
Chronometer und Tagebücher.
So scheiterte der' kühn entworfene Plan, du Ehaillu erreichte
die Küste und ist mm wieder in Europa.
Di'. Livingstone zu Punah. Wir meldeten schon, daß der
kühne Reisende in Bombay angekommen sei, um sich dort zu
seiner neuen Reise in Ostafrika vorzubereiten. In Punah, der
alten Maharattenstadt, hat er nun einen öffentlichen Vortrag
gehalten, in welchem er einen Ueberblick seiner früheren Expe-
ditionen gab. Insbesondere schilderte er die Bemühungen der
Missionäre, die schwarzen Lente in Christen umzuwandeln.
„Nicht weniger als 40 Missionäre sind dem mör-
derischen Klima erlegen, bevor auch nur eine ein-
zige Seele bekehrt wurde." Livingstone änßerte weiter:
seiner Meinung nach könnten die Missionäre in Südafrika
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316
Aus allen Erdtheilen.
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allerdings Gutes stiften, er theile aber ihre Ansichteil darin
nicht, daß sie so großen Werth darauf legen, dieses Volk zu
bekehren. Er glaubt weniger an direkte Bekehrungen als an
den „civilisirenden Einfluß, welche7i die Missionäre durch Bei-
spiel und untadelhaften Lebenswandel ausüben können." Dieser
Einfluß, so meinen wir unsererseits, wird nicht der Rede Werth
sein, da bekanntlich der schwarze Mensch in seinem ganzen
Denken, Wesen und Leben von ganz anderen Voraussetzungen
ausgeht als der Europäer. 'Natürlich vergaß Livingstone auch
in Punah nicht das Alpha nndOmega der'Engländer, die liebe
Baumwolle. Sie habe kurzen Stapel, wie die indische, sei aber
in Afrika einheimisch. Er wolle nun „Civilisation nach Süd-
ostasrika und deu Handel in regelmäßige Formen zu bringen
suchen und geographische Entdeckungen machen."
' Dr. Beke geht nach Abyssinien. Wir erwähnten neulich,
daß Kaiser Theodor von Abyssinieu den englischen Consul Ca-
meron immer noch gefangen halte. Man erfährt nun über
Kairo, er sei schwer erkrankt und werde vielleicht bald sterben;
auch die Gesundheit des Missionärs Stern sei sehr angegriffen.
Der englische Consular-Agent Rassam hatte sich von Massawa
aus und auf mehren Reisen bemüht, den Kaiser zur Vernunft zu
bringen, aber seit 16 Monaten vergebens. Nun hat Dr. 33 e f c,
der bekanntlich früher längere Zeit in Abyssinien verweilte und
dem wir einige interessante Werke über das Nilquellengebiet
verdanken, auf den Weg gemacht, um zu versuche», ob nicht er
den Beherrscher Abyssiniens umstimmen könne. Er war im
Anfange Dezembers zu Kairo, wollte aber so rasch als möglich
weiter reisen. — Wir wolle» hier gleich die Notiz beifügen, daß
der vom Papst ernannte römisch-katholische Patriarch von
Abyssinien eine Denkschrift an den Kaiser Napoleon gerichtet hat,
in welcher er nachweist, daß seine Neligionsgenossen von Theo-
dor bedrückt werden. Es ergeht ihnen, wie es z. B; in Spa-
nien x. den Nichtkatholiken so lange Zeit ergangen ist. Der
Patriarch verlangt, gewiß vergeblich, eine Intervention Frank-
reichs, um ihn in seinen Rechten zu schützen.
Weitere Mittheilungen über die australische Expedition
zur Aussuchung Ludwig Leichhardts. Wir verfolgen mit In-
teresse dieses Unternehmen, welches den Australiern' Ehre macht
und uns möglicherweise Aufklärung über das Schicksal unsers
Landsmannes bringt. Beiläufig bemerken wir, daß wir hier
abermals Beweise erhalten, wie sehr das Innere Australiens
an Dürre leidet nnd wie unzuverlässig manche Angaben sind,
welche das Land übertrieben günstig schildern. Die Gegenden
mit andauernder Bewässerung sind auf jenem Continente eigent-
lich nur Oasen.
Die melbourncr „Germania" schreibt unterm 19. Oktober
1865: Vouvr.Murray, dem Arzte bei der zur Aufsuchung
Leich Hardts ausgesandten Erpedition, hat das hiesige Damen-
Comite ein Schreiben, dat. Noealija River, Patoo, 16. Sept.
1865, erhalten, worin hauptsächlich angeführt ist, daß vr. Mllrray
am 13. August vou Herrn MeIntyre die schriftliche Weisung
erhielt, gewisse in Menindie befindliche Vorräthe nach feinem
Lagerplatz am obern Darling git bringen. Den andern Tag,
nach Empfang des Schreibens, am 15. August, brach die Partie
auf, um MeIntyre entgegenzugehen; dieselbe erreichte Alb er-
nlale Station ungefähr Mittags nnd campirte gegen Abend
auf einem gnt begrasten AbHange. Am 16. August bemerkte
man die Folgen großer Trockenheit; Gras nnd selbst Salzbnsch
waren nur sehr dürftig vorhanden. Seit den letzten
18 Monaten, in welcher Zeit es nicht einen Tag
lang geregnet, hat eine große Anzahl Schafe und
Rindvieh am Flusse entlang geweidet, daher man
sich nicht wundern darf, wenn Alles bis anf die
Wurzel abgefressen ist. Alle Wasserlöcher und
selbst Lagunen sind ausgetrocknet.
Nachdem die Partie bis zum 18. August 75 Meilen zn-
rückgelegt hatte, erreichte sie auf dem entgegengesetzten User des
Flusses M'Crea's Station. Hier erfuhr Di-. Murray, daß
MeIntyre schon vor einigen Tagen nach Mount Murchison
aufgebrochen war; er hatte ihm' jedoch Instruktionen hinter-
lassen. Nach diesen handelnd, überschritt die Partie sammt
Pferden, Kameelen nnd Gepäck den Fluß; Leute und Ladung
wurden in einem Boote übergesetzt, während die Pferde durch-
schwammen und die Kameele durchwateten. Letztere verursachten
bei dieser Prozedur großen Aufenthalt; alles Schmeicheln blieb
ohne Erfolg, sie wollten nicht gehen. Als man die indische
Manier anwandte, die vordersten Thiere an einer Leine, die au
einem durch die Nase gehenden Stabe befestigt wird, von einem
auf einem Pferde reitendeil Führer gewaltsam vorwärts zu
ziehen, und von hinten mit Schläge,l und Steinwürfen zu
traktiren, wurde es möglich, nach zwei Stuuden sie durch den
Fluß zu bringen. Die Kameele setzten jedoch nicht eher einen
Schritt vorwärts, bis sie nicht Grund uud Bodeu sicher gefaßt
hatten. Die übrigen Kameele folgten dann willig nnd' ohne
weiteren Verzug. Nachdem Kameele nnd Pferde wieder bepackt
waren, wurde die Reise 12 Meilen weit am Fluß entlang fort-
gesetzt und dann campirt. Am andereil Tage, Montag, den
20. August, ritt Dr. Murray nach dem Mount Murchison,
eine Entfernung von 5 Meilen, um hier MeIntyre zu sehen,
welcher über das Zusammentreffen und den glücklichen Fortgang
der Reife sehr erfreut war. Am 21. und 22. August lagerte
die Partie 3 Meilen von Mount Murchison entfernt, wo zu-
nächst mit Mr. Reede von der Mount Murchison - Station eine
Auswechslung der Vorräthe stattfand; dadurch war es unnöthig
geworden, deshalb nach Menindie zu schicken und ein 14tägiger
Zeitverlust erspart worden. Dr. Murray erwähnt, daß er bei
seiner Ankunft bei Mount Murchisou eine bedeutende und vor-
treffliche Equipirung, einschließlich Sattlerwaaren jeder Art und
zum Transport des Wassers passende Blechgeschirre vorfand.
MeIntyre beschloß nun, die Partie zu theilen; in Kalara,
ungefähr 160 Meilen weiter am Darling hinauf, feien Pferde
zu bekommen; von hier nach Noealija, dem Rendezvous am
Poroo, ist eine trockene Fläche von 55 Meilen zu überschreiten.
Diese Route hat MeIntyre für die Pferde bestimmt. Ein Wagen,
mit zwei augenscheinlich guten Pferden bespannt, und ein Karren,
gezogen von zwei ilnansehnlichen Pferden, wurden gemiethet,
um diese Vorräthe auf einem kürzeren Wege nach Noealija zu
fchaffeu, welcher jedoch deil Nachtheil hat, daß man ailf einer
Strecke von 80 Meilen kein Wasser findet. Um die-
fem Uebelstande abzuhelfen, wurden die Kameele mit dein nöthi-
gen Wasservorrath und dem übrigen Gepäck, welches die Pferde
bisher getragen, beladen und den Fuhrwerken beigegeben. Die
Kameele erweisen sich bei jeder Gelegenheit von größtem Nutzen,
und ohne dieselben wäre es fast unmöglich gewesen, alle Vor-
räthe zu transportiren. Nachdem alle Vorbereitungen zur
Weiterreise beendet waren, trennten sich am 23. August
die beiden Abtheilungen. McJntyre's Partie bestand aus
ihm selbst, 3 Leuten nnd allen Pferden mit Ausnahme von
dreieil. Die Abtheilung unter Dr. Murray bestand außer ihm
ans 3 Manu, 12 Kameelen und 3 Pferden. Die Kameele trn-
geil durchschnittlich 200 Pfund, doch muß bemerkt werden, daß
nur 9 Kameele zum Packtransport dienlich, indem die 3 ande-
reu noch zu jung sind. Die Wagen waren mit 3 Tons 16 Ctr.,
größtentheils- Mehl (2y2 Tons) beladen. Dr. Murray kann
nicht genug die bereitwillige und tadellose Weise loben, womit
sämmtliche Mitglieder der Erpedition die ihnen aufgetragenen
Arbeiten bei stets an den Tag gelegter Einigkeit verrichteten,
nnd bedanert nur, daß er zu Mount Murchison drei Super-
nnmerare, mit Namen Howey, Kelly und Steward, habe ent-
lassen müssen, iiidem ihre Dienste nicht mehr erforderlich waren.
Vorstehendes kann als erster Abschnitt der Expedition betrachtet
werden.
vi-. Hahrs über die Erreichung des Nordpols. Wir
haben mehrfach dieses nordamerikanischen Reisenden erwähnt,
der einst mit Dr. Kan e dessen erste Reise in das Arktische Meer,
die sogenannte Grinnell- Erpedition, machte. Der Zweck
derselben war, Franklin aufzusuchen, den man an irgend einem
Punkt im Norden der Bafsinsbay vermuthete. Keine ermittelte,
daß dieSmithsstraße, von welcher jüngst wieder so viel die
Rede gewesen ist, eine etwa 50 deutsche Meilen lauge Durchfahrt
bilde; im Norden derselben sah man eine damals von Eis freie
Meeresstrecke. Nach Kaue's Tod? rüstete Hayes eine kleine Goelette
von nur 200 Tonnen Tragfähigkeit und mit nur 15 Mann
Schisssvolk ans. Er wollte an 'der Nordwestseite der Smiths-
straße hinfahreil nnd gedachte so den Pol zu erreichen. Es
ist., ihm gelungen bis '80° 35' u. Br. vorzudringen. Nach seiner
Rückkehr brach der Unterjochnngskrieg gegen , die Eonföderirten
ans und Hayes diente dem Norden als Hospitalarzt. Jetzt hat
er nun Einiges über seine Fahrt mitgetheilt. . Er meint, daß
mau unter eilten Umständen darauf werde verzichten müssen, sei
es zu Schiffe, sei es mit Schlitten, über die Smithsstraße zum
Pole vorzudringen. Das Eisfeld, welches den Kennedykanal
füllt, habe eine beispiellose Dicke. Dle Eisberge, welche von
deil Küsten, namentlich auch vom Humboldtgletscher herab und
in die Straße stürzen, bilden dort em wirres Durcheinander
und wachsen mit dem übrigen Else zusammen. Auf diese
Masseil wirken Gezeiten und Winde m der nur schmalen Straße
ein und das Ganze bildet ein schauerliches Chaos gigantischer
Eismassen. Wer hindurch will, muß sich etwa in ähnlicher
Weise einen Weg bahnen wie in einem Steinbruche. Für
Aus allen Erdtheilcn.
317
Schlittenfahrt ist das Eis höchst ungünstig; Hayes mußte 14 Tage
darauf verwenden, um eine Strecke von etwa 8 deutschen Mei-
Ken zurückzulegen. An der Nordwestseite erscheinen die Ver-
Hältnisse eben so ungünstig; sie starrt von Bergen und ist über-
dies von einer Straße durchschnitten, die sich nach Westen hin
erstreckt, zwischen dem 79. und 80." n. Br. Trotzdem glaubt
Hayes , man werde den Pol erreichen können, aber nicht wenn
man die Smithsstraße, sondern den Weg über Spitzbergen wähle.
Wolle man zum Pole schiffen, so müsse man den Augustmonat
wählen, wenn zu Schlitten, den März, weil dann das Eis noch
nicht aufgegangen sei. —
Wenn aber am Pol offenes Meer ist, so kann eine Schlitten-
erpedition nichts ausrichten, und geht im August ein Schiff, so
fragt sich, wann und ob es im'September noch zurückfahren
kann und nicht etwa durch Eis verhindert wird.
Beide Wege, via Spitzbergen und via Smithssund, werden
von erprobten Nordfahrern, die aus eigenen Beobachtungen fprc-
chen, für unpraktikabel erklärt. Hayes kennt den Smiths-
suu d und sagt, diesen Weg dürfe man nickt wählen; er spricht
für Spitzbergen, das er nicht aus persönlicher Anschauung kennt.
Torrell und die Mitglieder der schwedischen Erpedition, welche
Spitzbergen und die dortigen Gewässer aufs genaueste kennen,
sprechen sich gegen diese aus, und so werden beide Wege
für „unmöglich" erklärt, und das, wie gesagt, von
erprobten Nordfahrern. Jndcß, Probiren geht über studireu.
Agassi; auf dem Amazonenstrome. Von Herrn Karl
v. Koseritz in Porte Alegre erhalten wir folgende Mittheilung:
Der berühmte Reisende und Naturforscher L. Agassiz,
der, wie bekannt, gegenwärtig Brasilien bereist, befindet sich in
der Provinz Parä, wo er den Amazonenstrom untersucht und sich
mit besonderer Vorliebe mit der Klassifizirnng der neueu Fisch-
arten, die er dort vorfindet, beschäftigt. Agassiz, der in Rio
Gelegenheit hatte, den Kaiser Dom Pedro II. häufig zu sehen und
den hochgebildeten und wissensdurstigen Fürsten, der all' seinen
öffentlichen Vorlesungen beiwohnte, im höchsten Grade für sich
zu interessiren, erhält von der brasilianischen Regierung allen
möglichen Vorschub. So hat man in Parä sogleich einen Kriegs-
dampser zn seiner Verfügung gestellt, und der'im „Globus" schon
oft erwähnte Entdecker Silva Coutiuho wurde ihm als Bc-
gleiter und Wegweiser beigegeben. Eoutinho schreibt nun unter
dem 22. August au deu Präsideuten der Provinz Parä Fol-
gendes:
„Der Professor (Agassiz) hört nicht auf, den Reichthum
dieser Gegenden zu rühmen und ist ganz verloren im Studium
seiner Lieblinge, der Fische. In Gnrnpa und Tayipnrn haben
wir 10 neue Speeres entdeckt; auch fanden wir eine Art von
Krokodil vor, welches von den Eingebornen Jacarehy benannt
wird. Er sagt mir, daß wir, nach Beendigung
nnsrer Arbeit, eine wahre Umwälzung in der'wis-
senschaftlichen Welt hervorrufen werden. In weniger
als 14 Tagen haben wir mehr als 60 neue Species auf-
gefunden; das ist fürwahr eine Umwälzung."
Agassiz hatte viele Vorbereitungen getroffen und Maß-
regeln genommen, um Sammlungen zu veranstalten, doch ist
der Naturreichthum so unendlich groß, daß Alles zu wenig ist.
Agassiz selbst gesteht ein, daß die Wirklichkeit seine kühnsten
Träume übersteigt; das geht aus folgenden Zeiten hervor, die
er unter dem 20. August an Dr. (So'uto Magalhaes, den
Präsidenten der Provinz, schrieb und die wir im „Jornal de
Amazonas" finden.
„Das Resultat meiner Untersuchungen, hauptsächlich in Be-
zug auf die Fische, geht weit über die extravagantesten Träume
hinaus, die ich je gehabt habe. Ich weiß heute nicht nur, daß
jede Lokalität, die wir besuchen, uns neue Familieu bietet,
sondern auch daß es iu den zwischenliegenden Strecken noch
immer neue und gänzlich verschiedene Species gibt; — so be-
deutend ist die Verschiedenheit zwischen denen, welche wir bereits
untersucht habeu. Ich hatte gehofft, das Problem der geogra-
vhischen Vertheilung der Fische lösen zn können, indem
ich vier oder fünf verschiedene Sammlungen zwischen deu Städten
Parä und Manaos machte; heute jedoch weiß ich nicht mehr,
in welchen Grenzen ich mich halten kann, so daß es das Beste
ist, so viel zu sammeln wie die Verhältnisse irgend erlauben."
So drückt sich Agassiz ans, der nur zwei Monate am Amazonas
zu verweilen gedachte und'jetzt schon von Jahren spricht.
Daß die naturhistorische Erforschung des Amazonas und
seines Stromgebietes durch einen so bedeutenden Nauirforscher,
wie Agassiz, von höchster Bedeutung für die Naturwissenschaft
sein wird, der ja jene Gegenden noch in vieler Beziehung eine
terra incognita sind, unterliegt keinem Zweifel, und wir werden
es daher nicht unterlassen, die Leser des „Globus" so diel als
möglich in Bezug auf den Fortgang seiner Arbeiten anf deni
Laufenden zu erhalten.
Porte Alegre, int Oktober 1865.
Juan Tirado'S Reise von Napo am obern Amazonas
über das Hochgebirge nach Guayaquil in Ecuador. Herr
K. V. Koseritz schreibt uns Folgendes:
Wie man weiß, interessirte sich Alexander von Hum-
boldt sehr für die Erforschung der Nebenflüsse des obern
Amazonenstromes. Gern hätte er diesen letztern in direkte Ver-
bindung mit dem Stillen Ocean gebracht, d. h. den kürzesten
und besten Weg aufzufinden versucht, aber er schreckte vor den
Schwierigkeiten zurück und führte das Unternehmen nicht zn
Ende. Heute ist nun das Problem von einem 23jährigen
Peruaner, Namens Don Juan Tirado, gelost worden, trotz-
deni seit Humboldts Zeit Niemand mehr in jene Einöden
drang, die von zahllosen Flüssen und Gebirgen durchschnitten
nnd von wilden Indianern und reißenden Thieren unsicher ge-
mackt werden. In 14 Monaten machte derselbe die Reise vom
Flusse Napo, im Thale des obern Amazonas, bis nach Guayaquil
in Ecuador, wo er glücklich und mit vielen interessanten Sachen
beladen anlangte. Er hat diese gefährliche und beschwerliche
Reise durch wilde Gegenden ganz allein gemacht und nachdem
er die von wilden Stämmen derIivaros, ?)umbos, Gotos,
G af o na s, Ori ta s, Z a p arro s?c. bewohnten Gegendeil durch-
schnitten hatte, die sich zwischen den Flüssen Napo, Pastaza nnd
Bombanaro ausdehnen, setzte er seine Reise, stets allein und zu
Fuße, bis nach Guayaquil fort, wo er, wie schon gesaat, nach
14 Monaten anlangte nnd höchst interessante Aufschlüsse über
die durchreisten Gegenden gab Diese Reise ist äußerst wichtig,
denn hoffentlich wird sie die Regierungen von Brasilien nnd
Per» anspornen, das, was ein einzelner kühner Abenteurer aus-
geführt hat, nun auch von Spezialkommissionen ins Werk setzen
zn lassen, und so endlich Humboldts großartige Idee,
den Amazonas mit dem Großen Ocean dnrch eine
Handelsstraße zn verbinden, ins Werk zn setzen.
Vom Senegal. Wir haben früher im „Globus" die
Kämpfe erzählt, welche die Franzosen mit dem fanatischen Ton-
conleur (d. h. Mischling von Neger und Fulde) Hadsch Omar
zu besteheii hatten. Sie verdrängten ihn aus den Senegal-
ländern nnd er zog an den obern Niger, wo er das Fnlbereich
Massina eroberte und dessen Hauptstadt Hamdallahi einnahm.
Jüngst soll er gestorben sein, es fehlt uns aber an zuverlässigen
Nachrichten vom obern Niger schon seit langer Zeit. Jetzt hat
er nun in Senegambien einen Nachahmer gefunden. Ein fana-
tischer Marabnt, Maba, sucht sich ein Königreich zn gründen.
Vor einiger Zeit machte er den Engländern am Gambia allerlei
zu schaffen und nun melden Nachrichten ans St. Lonis vom
16. November 1865, daß er in Eayor eingefallen sei. Dieses
südlich vom Senegalstrome liegende kleine Negerkönigreich ist
1864 von deil Franzosen in Besitz genommen worden. Sie
haben nun ihre dortigen Posten verstärkt nnd nach Ablauf der
Regenzeit einen Kriegszug gegen Maba ausgerüstet.
Von St. Lonis waren 1865 vom Anfange des Jahres
bis zum November ausgeführt worden 259,759 Kilogr. Ochsen-
bänte, 698,459 Kilogr. Erdnüsse nnd 1,557,492 Kilogr. Gummi,
beträchtlich mehr als im Vorjahre.
Die französische Civilisation und die Araber m Algerien.
Nach nnd nach zweifeln doch viele Leute an der „Allmacht"
nnsrer europäischen Civilisation, auf welche wir uns so viel zu
gute thnn. Die Sache hat freilich ihren Haken und das erfahren
die Franzosen in Afrika nur allzu sehr. Das Eivilisations-
bringen dorthin hat sie schon mehr als 250,009 Mann und mehr
als 3000 Mill. Fres. gekostet. Ein Engländer, Augustus Sala,
der sich in Algerien etwas umgesehen und Land und Leute beob-
achtete, schildert in ergötzlicher Weise die Gegensätze des
Franzosen nnb des Arabers. Er schreibt:
„Was will denn eigentlich der Ausdruck: „Civilisiren der
Araber" bedeuten? ^eder Franzose, dem man begegnet, hat den-
selben im Munde. "Civilisation im französischen Sinne will
besagen Cylinderhüte, Oberröcke oder Fracks, Glanzstiefel, Spei-
sen an der Table d'höte, Cafes chantants, Maskenbälle im Car-
neval, Perrücken, Bartfärben, Glacehandschuhe, Malen in Wasser-
oder Oelfarben,' Quadrillen und Polkas, Ouvertüre zur Oper
„Semiramis" oder Potpourris aus Meyerbeers „Afrikanerin"
318
Aus allen Erdtheilen.
Leichenpomp, Pignetspiel, Code Napoleon und pariser Romane.
Dazu kommen dann noch etwa große Gasthöfe, die Conplets
der Mademoiselle Therese, Trommelwirbel, die Demi monde
und etwa die Akademie der schönen Inschriften und der Wissen-
schaften,
Was in aller Welt soll der Araber mit einer solchen
Civilifation anfangen? Er trägt weder Hut, noch Frack, noch
lackirte Stiefel. Er ißt mit Adams Gabel. Er hat seine eige-
nen Cafes chantants, aber in denen wird seit ein paar tausend
Jahren Tag und Nacht ein und derselbe Gesang zur Laute oder
zum Tamburin gesungen. Leichenpomp interessirt ihn nicht. Ein
arabischer Gentleman kann seinen Stammbaum weit hoher hin-
aufführen als alle französischen Marquis, und der Stammbaum
seiner Rosse ist unendlich viel älter als jener der berühmtesten
Renner Enropa's. Seine Jagdhunde sind adlig, er selber ist durch
und durch ein konservativer Mensch auch in Politik und Religion,
Demokratie und Freidenken sind ihm ein Abscheu. Es ist noch
gar nicht lange her, daß er sich dem Franken unterwerfen
mußte, dem Franken, welchen er seit Jahrhunderten verachtet und
dem er in die Zähne gelacht hat. Es gibt noch setzt sehr viele
alte Mauren in Algier, respektable Leute, die in ihren jüngeren
Jahren französische 'Sklaven besessen haben. Diese mußten im
Garten und Haus für sie arbeiten, waren Köche und Pfeifen-
stopfer, und ihr Leben stand in der Gewalt ihres Herrn. Edel-
damen aus Europa waren unfreiwillige Jusasseu des Harem.
Unter solchen Umständen kann man sich denken, mit welcher
Bitterkeit solch ein Afrikaner erfüllt ist, wenn er sieht, wie ein
Franke die besten arabischen Rosse reitet und seine rothbehosten
Beine in den Palästen Mustasa's und Hussein Beys ausstreckt.
Solch eiue Rothhose will nun dem wahren Gläubigen ans dem
Koran vordemonstriren, daß Gehorsam und Unterwerfung gegen
den Oberchalifen der Ungläubigen eine der größten Pflichten fei,
welcbe der Prophet Mohammed den Muselmännern auferlegt
habe!" — In diesen Bemerkungen ist manches Wahre enthalten.
Man wird die mohammedanischen Araber eben so wenig zu christ-
liehen Franzosen machen wie diese zn orientalischen Mnfel-
männern; die beiden Elemente werden immer nur neben ein-
ander leben, sich nie gegenseitig durchdringen, und
was etwa das eiue vom andern annimmt, kam: der Grundver-
schiedenheit der Anlage und der Bedürfnisse und Anschauungen
halber stets nur äußerlich sein und bleiben. Auch den zähen
Römern ist es nicht gelungen, die Numider, Gaetuler und Man-
retanier zn romanisiren, und jenes große Herrschervolk hatte Jahr-
hunderte lang festen Fuß in Afrika.
Notizen aus Australien. Die Regierung der Colonie Victoria
hat beschlossen, auf Staatskosten Wälder anzupflanzen.
Diese verständige Maßregel fand allgemeinen Beifall.
Am 18. Oktober wurde ein bei Dunolly ausgegrabener
Goldklumpen vou 515 Unzen Gewicht an die Victoria-
bank zn Melbourne verkauft. Schwerere „Nnggets" hat man
nur selten gefunden.
Die Entdecker, welche das sogenannte Nordgebiet der
Provinz Süd au stralieu zuerst durchzogen, wußten nicht
genug zu rühmen, wie trefflich dasselbe sür die Viehzucht geeig-
net sei. Viele leichtgläubige Leute zogeu mit ihren Heerden
dorthin, mußten aber ihre Voreiligkeit bitter bereuen. Als sehr
trübe Berichte einliefen, schickte die Regierung Untersuchung^-
kommissarien ab. Diese haben fast alle Stationen durch die
lauge Dürre ruinirt gefunden; alle Schafe waren gestorben,
und die Kommissarien mußten das. Futter für ihre Pferde bei
sich führen. Der Schaden wird auf etwa 2 Mill. Thaler ver-
anschlagt.
Nach dem Nordterritorium, wo die Diuge keine gün-
stige Wendung genommen haben, hatte man am 25. September
von Port Adelaide ans ein Schiff nach der Adamsbay abge-
schickt; dasselbe hatte 13 Personen, 32 Pferde, 182 Schafe und
20 Ziegen an Bord. Der zurückberufene Resident Finniss
begleitete die Erpedition, sollte aber unmittelbar von Adamsbay
wieder nach Adelaide kommen, um sich dort gegen allerlei An-
klagen zn vertheidigen. —
Im Oktober liefen ans allen Theilen der Colonie Neu-
südwales Klagen über Mangel an Regen ein. Aus Mangel
an Wasser und Futter starb das Vieh in ungeheuerer Menge,
und viele Leute „verließen das ausgewählte Land in Ver-
zweiflnng."
Bei Neweastle in Neusüdwales wird eine große Glas-
und Porzellanfabrik gebaut. Das Kapital beträgt 190,090
Pfd. St. Die Arbeiter sollen ausschließlich Deutsche sein, zu-
nächst 180 an der Zahl.
Aussterben der Eingebornen in Australien. Die Stämme
bei Ballarat und am Berg Emu zählten zusammen, im Herbst
1365, nur noch 29 Paare! Ihr Beschützer, ein Herr Porteous,
der sich seit 29 Jahren mit den Eingebornen befaßt, bemerkt,
daß 1845 der Emu-Stamm allem über 199 Köpfe stark war.
Der Branntwein und gewisse Krankheiten, welche sie von
den Europäern erhielten, haben geradezu vernichtend gewirkt.
Seit vielen Jahren ist in beiden Stämmen nur eiu
einziges Kind geboren worden. So sterben sie ans.
Chinesische Begräbnisse in Australien. Bekanntlich sind
viele tausende von Chinesen nach Australien eingewandert, wo
sie Gewerbe und Handel treiben, aber vorzugsweise Gold gra-
ben. Im September 1865 verlor in der Nähe der Stadt Talbot
ein „Himmlischer" durch einen unglücklichen Zufall sein Leben;
er hieß Sehen Dong. Seine Landsleute begruben ihn. In den
Sarg legten sie sechs Flaschen Branntweins eine ziemlich große
Quantität Nahrung, bestehend in gebratenem und gekochtem
Geflügel, desgleichen in derselben Weise zubereitetem Schwein-
und anderem Fleisch und gekochtem Reis; ebenfalls befanden sich
darin mehre Gold- und "Silbermünzen. Die Versenkung des
Sarges ins Grab geschah unter Abbrennung zahlloser Schwär-
mer und des verschiedenfarbigsten bengalischen Feuers. — Die
Zeitung „Talbot Leader" erwähnt dabei folgendensmerkwürdigen
Umstand: Es sollen nach Verlauf von 12'Monaten fämmtliche
in der Colonie befindliche Chinesen aufgefordert werden, zu
einem Fond beizusteuern, von welchem die Kosten zur Besolde-
rnng der Ueberreste von 599 verstorbenen und bereits dem
Schooß der Erde übergebenen Chinesen aus dieser Colonie nach
China bestritten werden sollen. Wie es heißt, sind schon wäh-
rend der letzten 12 Monate viele hier gestorbene Chinesen eines
gewissen Ranges von Victoria nach jenem Reiche gebracht wor-
den. Außerdem verlautet, daß die in dieser Colonie befindlichen
Chinesen alle zwei Jahre einmal aufgefordert werden sollen,
599 ihrer verstorbenen Landsleute nach China zu befördern,
welche Zahl die Sterblichkeit unter einer gewissen Klasse der
an den hiesigen Goldfeldern befindlichen Chinesen repräsentirt,
denen das Recht zum Begräbniß im himmlischen Reiche zuer-
kaunt ist.
Der Seeraub in den chinesischen Gewässern ist nie zuvor
mit so arger Frechheit getrieben worden, wie im J^.hr 1865.
Die Piraten greifen nicht blos Dschonken an, sondern wagen
sich auch an europäische Fahrzeuge, die jetzt alle Kanonen an
Bord führen müssen. Plünderung und Mord gehen bei den
Korsaren Hand in Hand. Die in den chinesischen Gewässern
stationirten europäischen Flotillen sind nicht zahlreich genug, um
deu Raubschiffen das Handwerk legen zn können. Den neuesten
Berichten znfolge werden manche chinesische Korsaren-
schiffe von Europäern und Nordamerikanern beseh-
ligt und an manchen Punkten von den chinesischen Beamten
unterstützt, denen sie einen Theil der Beute überlassen. Der
europäische Handel mit China hat seit dem Vertrage von Tien
tsin ungemein zugenommen und in Folge davon hat die kaiser-
liche Regierung eine jährliche Zolleinnahme von mehr als drei
Millionen Pfd. St. Man verlangt nun von ihr, daß sie end-
lich auch etwas thun solle, um dein Seeraub ihrer Unterthanen
zn steuern. Freilich ist sie allein und für sich zu schwach, um
den Zweck erreichen zu können; deshalb werden wohl die enro-
päifchen Seemächte das Beste thun müssen.
Der erste Leuchtthurm in den chinesischen Gewässern
ist von den Portugiesen hergestellt worden. Sie zündeten das
Leuchtfeuer zum ersten Mal an, am 24. September 1865 aus
dem Fort Guia, welches Stadt und Hafen von Maeao über-
ragt. Das Licht ist ein Drehfeuer (revolvirend) 339 Fuß
über dem Meeresspiegel und auf 29 Miles weit sichtbar. Mau
hofft, daß die Engländer dem guten Beispiele folgen und in
Hongkong, Schanghai und anderen Häfen Leuchtthürme errichten.
Notizen aus Nordamerika. Tue große Jury zu Kuor-
ville in Tennessee hat am 27. November 1865 nicht weniger als
1999 Männer wegen „Hochverraths" in Anklageznstand ver-
setzt. —
Nach offiziellen Mittheilungen der Behörde, welche die frei-
gelassenen Neger überwachen und sich derselbeu annehmen soll
(das sogenannte „Freedmcns Bureau"), wareu von den 19,999
Negern, welche im Marz durch deu Bundesgeneral Sherman
Aus allen Erdtheilen.
319
den Cape Fear' River hinab nach Wilmington gebracht wurden,
schon am 31. Mai mehr als 2000 gestorben, — wegen Mangels
an ärztlicher Behandlung. Für die'Zeit von etwa acht Wochen
ist diese Ziffer ziemlich hoch. —
Wir haben neulich einige Proben von englischer Mnkee-
Poesie gegeben. Heute wollen wir aus dem zu St. Louis erschei-
uenden „Neuen Anzeiger des Westens" einige Proben erhabener
deutscher Prosa mittheilen. Das Blatt schreibt:
„Zwar ist das System der Sklaverei jetzt außer Frage, aber
der Neger von Gottes Gnaden wirft seine majestätischen Schlag-
schatten gebieterisch über die keimenden Sprossen der freien Ar-
beit, und es geziemt der modernen Philantropie des freien
weißen Arbeiters zu hungern, bis das Schicksal, weiß und
schwarz in graue Perspektive hüllend, den Morgenstern der
Hoffnung ans die endliche Legalisirnng der „unveräußerlichen
Menschenrechte" in den Liebesblicken einer neuen politischen
Kotterie leuchten läßt."
Wer dies verdaut hat, der genieße zum Nachtisch folgende
politische Delikatesse aus der „Westliche,: Post":
„Aber — wenn die Führer, die Beamten, die Shoddy vor
dem radikalen Stnrmeswehen erschreckt, hierhin und dorthin
fliehen und nene Führerschaften mit dem Muthe des Wagens
aufkommen, Führerschaften, bei denen die Moralität der Neber-
zeugungstreue nicht der Erpediency und dem politischen Würfel-
spiel der Drahtzieher untergeordnet wird; — wenn das Princip
endlich der belebende Hauch der Fortschrittspartei sein wird,
dann ist sie zum Siege geboren.
„Kein Präsident, feine räuberische Clique, keine diplomatische
Gannerkunst kann dann vor ihr bestehen. Sie wird stark sein
durch den ihr innewohnenden Geist, durch die moralische Kraft
ihres Princips. Sie wird die Herzen im Sturm erobern und
selbst ein moderner Diogenes kann dann lange mit der Laterne
suchen, ehe er deutsche Rückschrittler finden kann. Die Knpser-
schlangen flüchten sich dann vor dem Zeitgeiste in ihr letztes
Asyl — die Nonnenklöster! — Eine Zelle bereitet für Frank
Blair!! —"
Schaudere Byzanz! —
Die Stadtgemeinde Nenyork hat an städtischen Ab-
gaben im Jahr 1866 nicht weniger als 15,055,401 Dollars
zn bezahlen. Dnrch die Handgelder und Anwerbeprämien für
Söldlinge, die man für den Krieg miethete, sind die Abgaben
so beträchtlich gestiegen.
Ausländische Bevölkerung in Nordamerika. Schon vor
länger als 20 Jahren ist von Schriftstellern in den Ver. Staaten
selbst hervorgehoben worden, daß von einer angelsächsischen
Bevölkerung des Landes nur uoch sehr bedingt die Rede sein
könne, weil schou damals Millionen von Jrländern, Deutschen
und anderen Europäern eingewandert seien und eine allgemeine
Blutvermischuug stattgefunden habe.', Während des letztverflossenen
Menschenalters sind dann noch mehre Millionen Einwanderer
hinzugekommen, und so besteht die Bevölkerung ans einem
äußerst bunten Gemisch, das seine anthropologischen und ethno-
logischen Wirkungen nicht verfehlt. Die Menschen in den Ver-
einigten Staaten sind zumeist anders geartet als noch vor
30 Jahren, bis wohin etwa die gute alte Zeit reicht. Schon
Aristoteles hat, iu seiner Politik, die sehr wichtige Bemerkung
gemacht, daß eine Bevölkerung von verschiedener Stammes-
abknnft in einem und demselben Gemeinwesen viele Nachtheile
im Gefolge habe. In Nordamerika zeigt sich das namentlich
durch die Einwirkungen des irisch-keltischen Elementes; ein
Drittel der dortigeu Menschen hat irisches Blut in den Adern,
und diesen Umstand darf man bei der Beurtheilung der wirren
und wilden Staats- und Parteiverhältnisse nicht außer Acht
lassen.
Folgende Ziffern liefern einen Beweis dafür, wie beträcht-
lich das' fremdgeborne Element in den hier ansgesühr-
ten Städten ist.
Volkszahl. In der Fremde geboren.
Neuhork . - - «95,050
Philadelphia . 585.529
Brooklyn. . - 200,K<n
Baltimore . • 212,4l8
Boston.... 175,812
Neuorleans . . 162,675
Cincinnati . . 181,044
St. Louis . . 160,773
Chicago . . . 109,260
Vuffalo . . . 81,129
Newark ... 71914
Lonisville . . (58 0 33
Albany . . . 62,367
Washington. . 61,122
San Francisco 86,802
Providence . . 50,666
47 Procent
28 „
39
24
35 „
38
45
59
50 „
46 „
37 .,
33 „
34 „
17
50 „
25 „
In einigen dieser 16 Städte beträgt das fremdgeborne
Element reichlich die Hälfte aller Einwohner, in anderen erreicht
es dieselbe nahezu. Mau muß aber, wenn die Nationalität in
Frage kommt, anch noch die Kinder der Fremdgebornen, welche
in Amerika das Licht der Welt erblickten, hinzurechnen. Und
nimmt man die früher von den alten Eingewanderten in Ame-
rika geborenen Jrländer, Schotten, Deutsche, Norweger und
anderen Europäer hinzu, und bringt die 4 Millionen Neger in
Anschlag, so ergibt sich, wie es sich mit der Ziffer des „angcl-
sächsischen" Elementes eigentlich verhält.
Sterblichkeit der befreiten Neger in Nordamerika. Aus
allen südlichen Staaten wird gemeldet, daß die Schwarzeu schon
vor Eintritt des Winters sich in den ärgsten Nothzustäudeü be-
snnden haben. Die baptistischen Abolitionspastoren und die
taufende von Schulmeistern aus Neueugland hatten den armen
Bethörten gesagt, sie sollten nicht eher für die Weißen arbeiten,
als bis man ihnen das Stimmrecht gewährt habe, und die
Neger folgten den bösen Rathschlägen. ' Sie verlangen Nahrung
und Kleidnng von den Vereinigten Staaten, natürlich vergebens.
Die Berichte der Regierungskommissarien lauten traurig, z. B.:
„Zn Maeon in Georgia leiden die Neger sehr durch Kälte,
schlechteNahruug, Trägheit und Sorglosigkeit; dazu kommt uoch
der arge Schmutz. Von der etwa 16,000 Seeleu betragenden Be-
völkeruug besteht die Hälfte aus Schwarzen. Während der drei
letzt verflossenen Monate sind von ihnen im Durchschnitt 500
im Monate gestorben!" Befreit waren sie allerdings, aber ge-
storben und verdorben sind sie auch, und die Abolitionisten haben
ihre Opfer nicht gerettet.
Ein Begräbniß der Mikmak-Indianer in Neuschott-
land. Dieser Stamm, welcher einst zahlreich und mächtig war,
ist bis auf wenige hundert Köpfe zusammengeschmolzen. Zwei-
hundert Jahre der Berührung mit Europäern haben genügt,
ihn beinahe völlig aufzureiben. Diese Indianer konnten den
Einwirkungen der (Zivilisation nicht widerstehen; es liegt nicht
im Wesen 'ihrer Rasse, daß sie sich eng an einander schließen
können, und Alles ist Vereinzelung und Zersplitterung. Jede
Familie lebt für sich; uie hat man dieMikmaks dahingebracht,
den Ackerbau, die Viehzucht oder ein Handwerk zn treiben; sie
sind und bleiben, was ihre Ahnen gewesen: Fischer und Jäger.
Aber sie zeigen, trotzdem sie arm und zerlumpt sind, immernoch
eine stolze, unabhängige Haltung und flößen neben dem Mitleid
immer noch einen gewissen Respekt ein, was beim Neger nie-
mals der Fall ist. '
Im Oktober wurde in der Nähe von Halifax ein Mikmak-
mädchen begraben. Ein Berichterstatter schreibt im dortigen
„Reporter", daß man das braune Mädchen in einen Sarg 'ge-
legt nnd diesen ans einen vierräderigen Karren gestellt habe, den
vier Indianer zogen. Die Züge der Verstorbenen waren dnrch-
aus nicht unschön. Etwa 40 Indianer beiderlei Geschlechts
bildeten das Leichengesolge; selbst Kinder wurden auf den Armen
getragen. Alle gingen in größeren oder kleineren Gruppen uu-
regelmäßig neben dem Wagen her; man sah drei alte Männer
mit grauem Haare. Sämmtliche Indianer nahmen sich arm
nnd armselig aus, trugen zerlumpte Kleider und schienen ans-
nnd abgehungert zn sein. Keiner sprach ein Wort, sie zogen in
feierlichem Schweigen einher. Man konnte sich eines tiefen Mit-
gefühls nicht erwehren, wenn man die schwachen Ueberbleibsel
eines verschwindenden Volkes betrachtete.
Sabbatanarianismus in Boston. Das Constableramt m
dieser Hauptstadt der Puritaner hat den Zeitungen, welche am
Montag Morgen erscheinen verboten, Berichte über Versamm-
lnngen zu geben, welche am Sabbat (Sonntag) Abend statt-
finden, und zwar „weil die Vorbereitungen zn solchen Bericht-
erstattnngen den Gesetzen znwiderlansen, durch welche'jede Arbeit
am Sabbat untersagt wird, und weit derartige Berichte nicht
als Werke der Notwendigkeit, der Gnade oder der Nächstenliebe
betrachtet werden können." Lemxis bene!
Südamerikanischer Fleischextrart. In London hat sich
eine Compagnie gebildet, die mit einem Kapital von 500,000
Pfd. St. die Bereitung von Lieb ig s Fleischertract in groß-
artigem Maßstäbe betreiben wird. Sie hat die große Estancia
(Viehgehöft) Fray Ben tos im Staat Uruguay erworben und
große Lieferungsverträge abgeschlossen. In Uruguay wird jetzt
ein fetter Ockse mit 12 bis 14 deutschen Thalern bezahlt, und
3 20 Aus allen
bie Arbeiten werden von sachverständigen Männern geleitet, die
genau nach Liebigs Angaben arbeiten. Die Compagnie will
1866 etwa 60,000' Pfund, 1867 schou 600,000 und von 1870
an jährlich eine Million Pfund guten Fleifchextractes in den
Handel bringen. So viel wir wissen, hat man in unseren deut-
schen Seestädten noch nicht daran gedacht, eine Initiative zu
ergreifen. ___
Zunahme der Dampfschifffahrt in England. Wir haben
neulich der Besorguiß Worte geliehen, welche sich an den unge-
heuer gesteigertes Verbrauch der Kohlen knüpft. Diese Zu-
nähme gewinnt in der That einen immer kolossalem Maßstab.
Wir finden in der londoner „Shippiug Gazette" vom I.Januar
1866, daß London im Jahre 1865 nicht weniger als 3,138,000
Tons Kohlen erhalten hat. Davon wurden 1,619,000 Tons
dnrch Dampfer angebracht, 600,000 Tous mehr als im Jahr
1863, d. h. eine Steigerung vou zwölf Millionen
Centnern in zwei Jahren für eine einzige Stadt.
Die Vieheinfuhr nach England wird zum größten Theil
durch Dampfschiffe vermittelt. Dieselbe betrug 1865 uicht wem-
ger als, in runden Ziffern, 240,000 Ochsen, 56,000 Kälber,
750,000 Hammel, Schafe und Lämmer. Die Südfrüchte aus
dem Mittelländischen Meere sind auch ganz der Dampfschifffahrt
anheimgefallen; sie brachten 107,000 Tons.
Man geht jetzt damit um, auch deuHolztr ans Port aus
den Häfeu 'der innern Ostsee durch besonders zu diesem Zwecke
gebaute Dampfer besorgen zu lasse».
Im vereinigten Königreiche sind 1865 eingelaufen mit
Ladung 11,028 Dampfer mit 4,167,375 Tons, ausgelaufeu mit
Ladung 10,657 mit 4,193,339 Tons, etwa 1000 Dampfer und
500,000 Tons mebr als im Jahr 1864.
Die Zahl der registrirten Dampfer betrug zu An-
fang desJauuar 1865 nicht weniger als 2401 mit 992,000Tons
Tragfähigkeit. Sie gehörten vorzugsweise solgeudeu Häfen an:
London 668 Dampfer mit 387,000 Tons; Liverpool 328 mit
195,000 Tons; die Häfen an der Clyde (also Glasgow, Gree-
nock, Dnmbarton ?c.) 223 mit 122,790 Tons; Hnll 81 mit
36,160 Tons; die Häfen an der Tyne 272 mit 32,020 Tons;
Sunderland 84 mit 23,910 Tons.
Der Anwachs im Jahre 1865 ist beträchtlich gewesen, denn
es sind für britische und fremde Rechnung Dampfer mit einer
Tragfähigkeit von etwa 150,000 Tons gebaut worden.
Au der Clyde in Schottland, dem größten Schisfbauhofe
für die Welt, sind 1365 nicht weniger als 253Dampfer gebaut
wordeu, mit einer Tragfähigkeit von 151,292 und 23,857
Pferdekraft; im Bau begriffen waren Ende Dezembers 178
Dampfer von 139,978 Tons und 18,750 Pferdekraft; zufam-
men 431 Dampfer von 291,270 Tons nnd 42,607
P f e r d e k r a f t! _
Die Produktion der Edelmetalle ist nicht etwa im Abneh-
men, sondern im Steigen. Im Jahr 1865 sind in Australien,
Neuseeland, Mexico und Californien neue Gruben entdeckt wor-
den, zum Theil von solcher Ergiebigkeit, daß selbst erfahrene Gold-
gräber darob erstaunten. Mau nimmt an, daß 1864 für etwa
37 Mill. Pfd. St., also für mehr als 250 Mill. Thaler Gold
in den Verkehr gekommen sei. Davon entfallen anf Rußland
für etwa 5,300,000 Pfd. St.; Afrika 1,300,000; Australien
nnd Neuseeland 8,500,000; China und Tibet 3,250,000; Bri-
lisch Columbia und die britisch-amerikanischen Provinzen
1,800,000; die Vereinigten Staaten 9,500,000; Brasilien 800,000
und Mexico 860,000 Pfd. St. Außerdem ist Gold in geringen
Mengen aus manchen anderen Ländern gekommen. Jedenfalls
wurde 1865 mehr produzirt als 1864; man bringt immer mehr
Maschinen in Betrieb und gewinnt damit reichen Ertrag aus
Gruben, die vor wenigen Jahren als unergibig verschmäht wurden.
Auch die Silbererzeuguug hat sich gesteigert und bis zu
30,600,000 Pfd. St., also mehr als 200 Mill. Thlr. erreicht.
So sagt die „Shipping Gazette" (vom 26. Dezember vorigen
Jahres); wir halten aber diese Ziffer für sehr übertrieben, nnd
das möchten wir auch von der Annahme sagen, daß die Ver-
einigten Staaten 1864 für nicht weniger als — 13 Millionen
Pfd. St. Silber geliefert hätten; das wäre für 90 Mill. Thlr.
Silber, mehr als die Goldausbeute Californiens betrug. Die
„Shipping Gazette" hat Dollars mit Pfund Sterling ver-
wechselt, und 13 Millionen Dollars wäre auch uoch viel zu hoch
gegriffen. Wir wollen nur darau erinnern, daß der verstorbene
Präsident Lincoln in seiner letzten Jahresbotschaft die Produk-
tion sämmtlicher Edelmetalle im Gebiete der Vereinigten Staaten
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Red
Druck und Verlag des Bibliographischen
Erdtheilen.
auf 100 Millionen Dollars schätzte, aber auch noch viel zu hoch;
er lieferte für seine Angaben gar keine speciellen Nachweise.
Wir nehmen also für jenes Land höchstens
1% Mill. Pfd. St. Silbers an; Mexico 5 Mill., Peru
800,000, Spanien 700,000, Japan 1,200,000, Chile 800,000,
China nnd Tibet 2V2 Mill., Brasilien 800,000 (?), Australien
500,000 Pfd. St. Wir rednciren die Ziffer der „Shippiug
Gazette", welche von dem europäischen Silverertrag keine Notiz
nimmt, um mindestens 12 Mill. Pfd. St. oder um mehr als
60 Mill. Thlr., und wenn sie überhaupt die Produktion der
Edelmetalle im Jahr 1864 auf 67 Mill. Pfd. St. annimmt,
sage auf 460 Mill. Thlr., so hat sie sich ganz gewiß nm
mehr als die Hälfte geirrt.
Eiu Jahreszuwachs von 200 Mill. Thalern ist immerhin
ein beträchtliches Item; aber das Silber zieht, wie wir schon
oftmals im „Globns" hervorgehoben, eben so rasch ans Europa
ab, als es ankommt, und Neberfluß an Baargeld ist nirgends.
Indien und China sind für das Silber wahre Saugschwämme
und Geld bleibt theuer. Die Volksmassen in Indien haben noch
immer eine Abneigung gegen Gold und eine Vorliebe für Sil-
ber. Die gesteigerte Produktion der Edelmetalle hat dem Ver-
kehr unberechenbare Antriebe gegeben, und wenn alljährlich die
doppelte oder dreifache Menge gefördert würde, es fände sich
doch sofortige Verwendung dafür.
r. Die Diamantenmühlen in Amsterdam. Es ist eine
sonderbare Erscheinung, daß häufig diejenigen Arbeiter, welche
die kostbarsten nnd werthvollsten Stoffe bearbeiten, in den aller-
ärmlichsten und traurigsten Verhältnissen leben, so z. B. die
wirklichen Verfertiger der wundervollsten Kunstsachen aus Gold
und die Diamantenschneider und Schleifer. Am großartigsten
wird gegenwärtig die Zubereitung der Diamanten in Amsterdam
betrieben und zwar fast ausschließlich vou Juden. Vou den
etwa 30,000 jüdischen Bewohnern der Stadt sind mindestens
10,000 und zwar die allerärmsteu mit der Bearbeitung, die
wohlhabenderen mit dem Vertriebe dieses Edelsteines beschäftigt.
Eine der großartigsten Diamantenmühlen Amsterdams ist
die von Coster^Cie. in der Zwanenburg -Straat; sie wird mit
Dampfkraft betrieben und beschäftigt zwischen 200 und 300
Leute. Mit der größten Sorgfalt wird jedes Ständchen des
kostbaren Materials gesammelt, aber auch mit gleicher Sorgfalt
und Strenge werden die Arbeiter beaufsichtigt' und überwacht,
welche außerordentlich schlecht bezahlt werden, während die Be-
sitzer solcher Etablissements meistens in kurzer Zeit ihr aller-
dings stets bedeutendes Betriebskapital verzehnfachen können.
Der schwarze Diamant oder Carbonado erregt in
letzter Zeit viel Aufsehen. Er ist eiu echter Diamaut, der die
Härte desselben mit der ebenmäßigen Schwärze der Holzkohle
vereinigt. Er kommt aus deu brasilianischen Bergwerken nnd
dürfte, als eine Art Zwischenstufe von Diamant und Kohle, zu
besserer Einsicht, vielleicht gar zur Enthüllung des geheimniß-
vollen Krystallisationsvermögens des Diamanten führen.
Große Beachtung verdienen die künstlichen Diamanten
aus krystallisirtem Bor, da sie dieselbe Härte und wundervolle
Strahlenbrechung besitzen, durch welche der echte Diamaut so
werthvoll geworden ist. Es hat allerdings bis jetzt noch nicht
gelingen wollen, größere Krystalle zu erhalten, die bis jetzt dar-
gestellten sind ziir Verwendung zu winzig; hoffentlich wird aber
die Chemie die noch vorhandenen Hindernisse überwinden und
zu dem ersehnten Resultate führen: beliebig große und schöne
Diamanten darstellen 31t können.
Die Krankheit der Seidenraupen dauert leider noch fort.
Sie erschien in Frankreich uud Italien 1857 und richtete bis
1860 große Verheerungen an. Dann schien sie schwächer zu
werden, trat aber 1863 mit erneuter Heftigkeit auf und hat
auch 1865 großen Schaden angerichtet. Die turiner Handels-
kammer hat darüber eiugeheude Mittheilungen gegeben. Vor
zehn Jahreu waren in Norditalien in etwa 100 Ortschaften
Seidenmärkte; jetzt ist kaum die Hälfte vorhanden. In jenen
wurden durchschnittlich 650,000 Myriagrammes (20% Pfund)
Seide zum Verkaufe gebracht, 1865 aber nur 283,000. Jene
brachten etwa 11 Millionen, diese 5Vs Millionen Thaler ein.
Die Seidenzüchter in der Lombardei haben Samen aus Japan
kommen lassen, und mit diesem ging es leidlich, während man
in Piemont Samen ans Griechenland holte, der nicht so gnt
einschlug. In Japan hat man zweierlei Seidenwürmer; die eine
Art liefert ein gelbes, die andere em weißes Cocou: beide Arten
verlangen aber sehr sorgfältige Aufsicht und Pflege.
ion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen,
istitnts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Stadt Lanjaron in den Alpujarras.
nach Malaga begleitet. Heute wollen wir schildern, in
welcher Weise sie von Granada nach Almeria gelangten.
Jetzt ist dort im Lande noch die gute alte Zeit mit den
schwerfälligen Diligencen, den „Caminos de Perdices",
d. h. Wegen, die sich besser für Repphühuer, wie für
Menschen eignen; noch befördert der Maulthiertreiber
Waareuballeu, — aber auch Spauieu hat schon Eisen-
bahnen, das Netz derselben dehnt sich mehr uud mehr aus
und wird auch den Süden überspannen, und nicht fern ist
Globus IX. Nr. XI.
(Nach einer Zeichnung von G- Dor6.)
und deren Großthaten in bunten Bildern, nach Art unserer
alten nürnberger uud der heutigen ueu-ruppiuer Fabrikate,
dem Volke vor Augen gebracht werden.
Wer in Spanien einen Platz im Postwagen nicht zeitig
vorausbestellt, kann erleben, daß er eine Woche auf Beför-
derung warten muß uud obendrein doppelten oder auch
dreifachen Fahrpreis zu zahlen hat.
Der Weg von Granada nach Jasu führt durch eine Ge-
birgsgegend, ist aber in hohem Grade malerisch. Nachdem
41
Aus dem Volksleben in Südspanien.
ii.
Eisenbahnen und Postwagen. — Sierra de Marios. — Die Stadt Jaen. — Stadtbewohner und Pastiris. — Maurische Erinne-
rungen.— Neb er Liuares nach dem arabischen Baeza.— Die heilige Ursula. — Ubeda und Baena,— Reise in die Alpujarras.—
Ausdehnung und Charakter des Gebirges. — Die Kämpfe zwischen den Spaniern und den Morisken. — Thal von Lecrin. —
Die Stadt Padul. — Lanjaron und Orgiva. — Der Palmenhain von Elche.
Von Granada über Jaen durch die Alpujarras die Zeit, da die Lokomotiven: Boabdil, Abencerrage,
nach Almerla. Alhambra uud wie mau sie sonst taust, durch das Land
brausen werden! Daun ist auch dieZeit der famosos bando-
Jn unserer vorigen Nummer haben wir die beiden Isros äs^väalusia vorüber, jener biederen Männer, welche
Reisenden Dor£ und Davillier auf der Reise von Almerla dann uud wann Postwägen oder Reisekutschen überfallen,
322 Aus dem Volksle?
man die erstgenannte Stadt verlassen, bemerkt man am Wege
einige alte Alqnerias, maurische Meierhöfe, die von
Feigen, Aloe und Cactns umgeben sind. Allmälig hört
der Anbau aus, die Gegend wird wilder und Pflanzen-
wuchs findet man nur noch in den bewässerten Thälern.
Der Weg steigt in Schlangenwindungen empor bis in die
steile Sierra de Marios, und die Postkutsche kann nur
langsam vorwärts. Ein Markstein bezeichnet die Grenze
zwischen den Provinzen von Granada und Iasn. Der
Schirrmeister (Mayoral) erzählte allerlei Vorfälle und
Abenteuer aus seiner Jugendzeit; damals hätten der kühne
Ojitos und andere unerschrockene Bandoleros ungehindert
ihr Wesen getrieben, — „aber jetzt ist das anders!" —
Die Banditen der früheren Tage werden noch lange im
Munde des Volkes fortleben. Unsere Reisenden kamen
unbehelligt durch die düstere'Schlucht von Arenas und
waren bald nach Tagesanbruch in Jaen.
Die Straßen waren noch öde, aber an den Mauern
der Häuser lagen auf dem platten Pflaster zahlreiche
Gruppen von Schlafenden, die sich in ihre braunen Mäntel
gewickelt hatten. Es ist einmal Sitte, daß viele Leute ihr
Nachtlager unter freiem Himmel aufschlagen; zur Matratze
dienen ihnen die Steine, und als Kopfkissen haben sie ihren
Arm. Jetzt wachten einige auf; das Raffeln der Räder
verjagte ihnen den Schlaf; sie guckten hin und her, steckten
aber sofort den Kopf wieder unter ihre Manta. Das
Klima ist warm, aus Bequemlichkeit und Behaglichkeit legt
der Andalnsier gar keinen Werth, und fo ist ihm der „Gast-
hos zum Monde", die „Herberge zu den tausend Sternen"
vollkommen genügend. Einige Mondbrüder standen in-
dessen doch auf, folgten der Postkutsche und setzten sich auf
die Steinbank vor dem Hause, bei welchem sie anhielt.
Diese Familie bestand aus Vater, Mutter und vier Kin^
dei'N. Die Reifenden gaben dem Manne, der blind war,
eine Kleinigkeit, und er erzählte, daß er das Augenlicht in
Folge eines Sonnenstiches (Tabardillo) verloren habe.
Die Mutter war noch jung und gab gleichzeitig zwei Kin-
dern die Brust.
Jasn hat eine hübsche Lage am Fuß eines Felsen-
berges, welchen ein maurisches Kastell krönt; die Mauern
desselben erinnern an jene der Alhambra und dort war der
Pflanzenwuchs so üppig, daß man unwillkürlich an die
hängenden Gärten der Semiramis dachte. Von oben herab
hat man einen Blick auf die stattliche Kathedrale und eine
Sicht auf die Berge Javalcuz und la Pandera,
welche nicht selten ihren Schatten bis in die Stadt hinein
werfen. Beide Berge dienen als Wetterpropheten, denn
die in jener Gegend sehr heftig stürmenden Südwestwinde
treiben dickes Regengewölk herbei, welches sich wie eine
Haube auf die Höhen lagert. Wenn der Javalcuz seine
Kapuze und auch la Pandera dieHaube aufsetzt, dann muß
es regnen, wenn auch Gott es nicht haben will. So sagt
das Sprüchwort.
Spanien ist das Land der Sprüchwörter; das wissen
wir schon aus dem Don Duirote; man hat dergleichen auf
Alles uud Jedes. Die Provinz von Jaön wird als „das
Galicien Andalusiens" bezeichnet, weil die Jaetanos in
vieler Hinsicht den Gallegos gleichen. Die dortigen Land-
lente und Bäuerinnen werden Pastiris und Pastiras
genannt, vielleicht nach dem Worte pastor, Hirt? Diese
Bauern sind kräftige Leute und nehmen sich in ihrer Leder-
bekleidung wild genug aus; sie sind tapfer, mannhaft und
gastfrei.
Schon zu Anbeginn unserer Zeitrechnung war Jaön
eine nicht unwichtige Stadt, und dieses Aurigis hat in
den Römerzeiten eine Belagerung ausgehalten. Der heutige
it iu Südspanien.
Name scheint von den Arabern herzurühren, welche die
Stadt vom 8. bis ins '13. Jahrhundert behaupteten; dann
wurde sie vom heiligen Ferdinand erobert. Das Wort
Jaizn soll Fruchtbarkeit bedeuten und wäre hier ganz an
seinem Platze; der Fluß von Jaön hat seine arabische Be-
Zeichnung Gnadalsullon bewahrt; er ergießt sich weiter
nach Norden hin in den Gnadalquivir. Die von den
Bergen herabströmenden Bäche sind eine Wohlthat für die
Felder, Obstgärten und Palmenhaine.
Die Stadt gewährt, wie irgend eine, den Anblick des
Mittelalters. Die Straßen sind wenig belebt, und in
manche derselben dringt nur selten ein Sonnenstrahl, in
vielen wächst Gras. Fast alle sind schmal und gewunden.
Die mit Kalkanstrich geweißten Häuser haben nach der
Gasse hin nur wenige Fensteröffnungen, die sehr oft den
maurischen Hufeisenbogen zeigen, die herradura, wie die
Spanier sagen, oder auch irgend einen gothischen Spitzbogen,
einen Söller mit Eisengeländer, von welchem Pflanzen
herabhängen, und auf dem sich daun und wann eine ge-
bräunte Andalusierin blicken läßt.
Die Kathedrale verliert bei näherer Betrachtung; gleich
den meisten Kirchen in Südspanien ist auch sie aus deu
Grundlagen einer maurischen Moschee gebaut, von der aber
keine Spur sichtbar ist. Die beiden hohen Thürme nehmen
sich geschmacklos aus. Als Hauptmerkwürdigkeit ist eine
Reliquie zu betrachten, el Santo Rostro, nämlich das Lein-
Wandtuch, mit welchem ein mitleidiges Weib das von
Schweiß und Blut triefende Gesicht des Heilands abge-
wischt hat, als derselbe zur Schädelstätte hinaufging. In
dem Tuche sollen die Gesichtszüge abgedrückt sein. Indessen
wird die Echtheit dieser Reliquie vou anderen Kirchen
bestritten, denn z. B. die Peterskirche in Rom behauptet,
daß sie das wahre Leintuch besitze. Aber jenes in Jaen
genießt große Verehrung, und viele Landleute tragen eine
Nachbildung desselben am Halse. Das heilige Tuch mit
dem Bilde wird alljährlich dreimal ausgestellt; es ist in
einen goldenen, mit Diamanten und Juwelen verzierten
Rahmen gefaßt, und diefer wird in eine Truhe gethan, die
auf dein Altar der Hauptkapelle ihren Platz hat. In Jamr
behauptet man, der Santo Rostro sei vor mehr als 500
Jahren von dem heiligen Enfrasio dorthin gebracht worden;
diefer ist Schutzpatron der Stadt, und als er von Rom kam,
ritt er, wie in vielen spanischen Büchern zu lesen steht, aus
den Schultern des Teilfels nach der pyrenäifchen Halbinsel.
Der Sakristan erzählte den beiden Reisenden, daß der
heilige Ferdinand den Santo Rostro auf allen Zügen gegen
die Mohren nrit sich geführt habe.
Iu diesen Gegenden erinnert, wie wir schon mehrfach
betont haben, Alles an die maurischen Zeiten. So ist es
auch auf der Reife von Jaen nach Baöza. Beide Städte
liegen nur etwa 12 spanische Meilen auseinander. _ Die
Reisenden hatten eine sogenannte Schnellkutsche gemiethet;
sie war aber eher eiue Schneckenkutsche. Der Fuhrmann
peitschte auf die Maulthiere unbarmherzig los und warf
sie mit Steinen, aber trotzdem waren sie nicht in Trab zu
bringen. Die Zeit vertrieb er sich mit andalusischen Lie-
dern, auch als der Wagen durch den Gnadalquivir fuhr, der
dort oben ein sehr bescheidenes Wasser ist. Aber an seinen
Ufern wachsen Rosenlorbeeren, und die Ebene ist lachend
und fruchtbar bis nach Linares (10,600 Einwohner), in
dessen Nähe sehr ergiebige Blei- und Kupferbergwerke
liegen. Dort, am Fuße der Sierra Morena, ist der Hütten-
betrieb mehre tausend Jahre alt; man spricht dort noch
von Hannibal, und uralte Minen werden als Hannibals-
gruben bezeichnet. Jenseits von Linares durchwatet man
den Guadalimar und gelangt dann bald nach Baöza, das
Aus dem Volksli
auf einem Hügel steht und recht eigeutlich als Typus
einer arabischen Stadt Andalusiens betrachtet
werden kann. In den Römerzeiten hieß es Beatia Bae-
tula; dort soll Scipio Africanus mehr als 50,000 Kar-
thager in die Pfanne gehauen haben, und Baeza ist sehr
stolz auf sein Alterthum:
80/ Baeza la nombrada
Nido real de gavilanes,
Tiiien en sangre la espada
De los Moros de Granada
Mis valientes capitanes.
„Ich bin das berühmte Baeza, der königliche Horst der
Adler; mit dem Blute der Mauren von Granada haben
meine tapfereu Hauptleute ihr Schwert geröthet." So
lautet eine Inschrift über dem Stadtwappen Der heilige
Ferdinand, König von Kastilien und Leon, erstürmte Baeza
1239; viele Einwohner flohen nach Granada, wo sie ,,die
Vorstadt der Kinder von Baeza", Albayzin, bevölkerten;
diese ist jetzt der ärmste Theil von Granada.
Einer der bedeutendsten Bildhauer Spauieus, Kaspar
Beeerra, ist aus Baeza gebürtig, und seine Vaterstadt
hat einige schöne Werke von ihm aufzuweisen. Auch die
heilige Ursula und die 11,000 Jungfrauen
stammen der Sage zufolge aus Baeza; eine andere Ueber-
lieferung will wissen, Ursula sei die Tochter eines englischen
Fürsten gewesen. Wir gehen auf die Streitfrage über die
„11,000 Jungfrauen" nicht ein und bemerken nur, daß
das römische Martyrologium nur von der „heiligen Ursula
und ihren Gefährtinnen" spricht, ohne die Zahl derselben
zu bezeichnen.
Der Weg von Baeza nach Ubeda ist nur eine Meile
weit, auch in dieser Stadt schlägt uoch der arabische Typus
stark vor, und wenn man durch die engen Gassen geht, in
denen die alten, geschwärzten Häuser einander fast berühren,
dann fragt man sich unwillkürlich: Weshalb tragen die
Einwohner nicht arabische Kleidung? Der weiße uud weite
Alboruoz (Burnus) aus dem 14. Jahrhundert würde
ihnen besser zu Gesichte stehen, als das kurze andalusische
Wamms. Ubeda war einst eine blühende Stadt und soll
mehr als 70,000 Einwohner gehabt haben.
Die Reisenden gingen von hier nach Jaen und von
dort nach Granada zurück, von wo sie ihren Ausflug in die
Alpujarras machen wollten. Vorher aber besuchten sie
das Gebirgsland, das einst zu den Königreichen Jaen,
Granada und Cordova gehörte. Sie rasteten in Marios,
nach welchem eine Sierra benannt wird uud dessen maurische
Festungswerke uoch vollkommen erhalten sind. Von dort
kamen sie nach Baena, am Westabhange des Gebirges,
und waren nun schon in der Provinz von Granada. In
dieser Stadt hat im 15. Jahrhundert ein Jude, Alsonso de
Baena, die berühmte Sammlung spanischer Romanzen,
den Cancionero, veranstaltet und sich dadurch ein großes
Verdienst erworben. Nach Alcalä la Real gelangt man
auf sehr schlechten Wegen, aber die Stadt ist hübsch; sie
liegt 3000 Fuß über der Meeressläche uud war in den
Kriegen zwischen Spaniern und Mauren von großer Be-
deutung. Ihren Beinamen: „die Königliche", erhielt sie,
nachdem Alfons der Elfte sie 1340 eingenommen hatte.
Durch Ferdinand und Jfabella bekam sie noch andere Be-
Zeichnungen; sie heißt die „sehr edle, sehr königliche, der
Schlüssel, die Hut und der Schutz der Königreiche Eastilien
und Leon". Sie sieht aber heute noch ganz mohamme-
danisch aus, obwohl alle öffentlichen Plätze durchaus kirch-
liche Benennungen führen.
'it in Südspanien. 323
Weiter kommt man durch Jllora, das wie ein Adler-
Horst aus einem Felsen liegt, und von dort geht es in die
Ebene hinab, und man gelangt in die Vega von Gra-
nada, die von vielen Dichtern besungen ist und Jahrhun-
derte lang ein Schlachtfeld zwischen Christen und Moham-
medanern war. Hier tummelten Amen Amar und Alabez
ihre Rosse, hier flatterten die Wimpel an ihren Lanzen und
der Cancionero sagt:
Gran fiesta hazen los Moros
Por la Vega de Granada,
Robolviendo sus cavallos;
Jugando van de las lanyas,
liicos pendones en ellas
Labrados por sus amadas.
Das Wort Vega ist so viel, als das spanische Huerta
(Garteufeld), uud soll Fruchtbarkeit bedeuten. Das paßt
hier vortrefflich, und ein alter spanischer Dichter sagt, die
frische und gesegnete Vega sei eine süße Erquickung für
Damen und ein immenser Ruhm für die Männer:
Fresca y regalada Vega
Dulce recreacion de damas
Y de hombres gloria immensa.
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne warfen
rosigen Schimmer auf die Gipfel der Sierra Nevada, als
die Reisenden eben Pinos Puente erreicht hatten.
Alls der Brücke von Pinos wurde Christoph Co lumbus
im Februar 1492 von dem Boten erreilt, welchen Jsabella
von Castilien an ihn abgeschickt hatte. Die Königin befand
sich damals im Lager von Santa F6 vor Granada und
hatte bis dahin den Vorstellungen des Seefahrers kein Ge-
hör geben mögen. Zuletzt besann sie sich und ließ den
großen Mann zurückholen. Noch in demselben Jahr ent-
deckte er Amerika.
In Granada rüsteten sich die Reisenden aus zu der
Wanderung durch die Alpujarras. Ihr alter Freund,
der Nevero Ramirez, welcher sie einst ins Hochgebirge der
Sierra Nevada begleitet hatte, war ihnen in Allem behülf-
lich und verschaffte ihnen auch einen duen mozo, guten
Diener. Dieser hieß Manuel Rojas und führte den
Beinamen Jigochumbo, ohne Zweifel nach seiner Ge-
sichtsfarbe, welche auf ein Haar jener der Cactusfrüchte
glich.
Der Ausbruch faud fchou vor Sonnenaufgang statt,
denn während der heißen Tagesstunden sollte Rast gehalten
werden. Der Zug durch die Bega war im höchsten Grad
angenehm, bis nach Alhendin, einem kleinen Orte, der
auf einem Felfengipfel liegt und gleichsam als ein vorge-
schobener Posten, als eine Schildwache vor den Alpujarras
betrachtet werden kann.
Als der letzte Manrenkönig Boabdil Granada ver-
lassen hatte, zog er in das Gebirgsland, welches ihm noch
geblieben war, und verweilte eine Stunde lang in Alhendin,
dem letzten Punkte, von welchem aus man noch einen Blick
auf Granada hat. Er follte feine Hauptstadt nie wieder-
sehen. Noch einmal ließ er sein Auge über das irdische
Paradies schweifen und sprach dann: „Allah akbär!" Gott
ist groß! Dann äußerte sein Wesir Jnssnf Abu Tomira:
„Bedenke, Herr, daß großes Mißgeschick, welches mit Muth
und Kraft ertragen wird, die Menschen in der Geschichte
eben so berühmt macht, wie großes Glück." Boabdil
seufzte: „Welches Unglück kann sich mit dem messen,
welches mich betrifft", und die Thränen strömten aus
seinen Augen. Das erregte den Unwillen seiner Mutter
Ayischa; sie rief: „Jetzt weinst Du wie ein Kind, weil Du
41 *
326 Aus dem Volkslc
nicht Muth genug hattest, Dein Königreich wie ein Mann
zu vertheidigen!" Diese herben Worte sind indeß nicht
beglaubigt, aber der Felsen, wo sie angeblich gesprochen
worden sind, heißt noch jetzt ei ultimo suspiro del Moro,
der letzte Seufzer des Mohren, oder der Thränen-
Hügel, 1a cuesta de las lagrimas. Karl der Fünfte soll
gesagt haben, der Ausspruch der Mutter sei ganz richtig;
ein Grab in der Alhambra sei mehr Werth, als ein Palast
in den Alpujarras.
Ueber Boabdils Ende weiß man nichts Gewisses.
Einigen Angaben zufolge wäre er nach Afrika hinüber-
gegangen und dort in einem Gefechte getödtet worden.
Wahrscheinlicher ist, was der gelehrte Orientalist Pascual
de Gayangos meldet. Boabdil schiffte zuerst nach Melill.^
dem gegenwärtigen Presidio an der afrikanischen Küste.
Von dort ging er nach Fes, wo er ein trauriges Leben ver-
brachte, obwohl er einige Paläste nach dem Muster jener
in Grauada bauen ließ. Er starb erst 1538 und hinter-
ließ zwei Söhne, die späterhin von Almosen lebten. —
Am Abend erreichten die Reisenden Padnl", eine kleine
Stadt, welche schon in den Alpnjarras liegt. Dieses
Bergland, das auch als la Alpujarra bezeichnet wird,
ist ohne Frage eine der interessantesten Gegenden der pyre-
näischen Halbinsel, aber immer noch wenig gekannt. Die
schwer zugänglichen Gebirgslabyrinthe und die grünen
Thäler waren seit dem Falle Granada's noch achtzig Jahre
lang Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Spaniern und
Mauren. Diese vertheidigteu mit unüberbotener Aus-
dauer ein Land, das sie mit Recht als Vaterland und wahre
Heimat betrachteten, denn es war seit achthundert Jahren
im Besitz ihrer Vorfahren gewesen.
Man bezeichnet als Alpnjarras eine ausgedehnte
Gebirgsregion, welche theils zur Provinz Granada, theils
zu jener von Almerla gehört. Sie ist 20 spanische Meilen
lang, zwischen Motril und Almerla (von Osten nach
Westen) und zieht dem Meere parallel; die Breite, von
Norden nach Süden, beträgt 12 bis 15 Meilen, von der
langen Kette der Sierra Nevada bis zur Küste des Mittel-
ländischen Meeres, welche Afrika gegenüber liegt. *)
Die Gegend soll ihren Namen haben nach Ibrahim
Alpnjar, einem arabischen Heerführer, oder von Al bng
Scharra, d. h. einem mit Kräutern und Gras bewachsenen
Gebirge. Seit 1499, nach der Einnahme von Baza, er-
oberten die katholischen Könige einen Theil der Alpnjarras,
aber sie hatten mit einem unbändigen Volke zu schaffen;
eine Erhebung folgte der andern und in unzähligen Ro-
manzen sind die kühnen Thaten beider Theile besungen.
Auch Calderon hat die Alpujarra nicht vergessen, „deren
*) „Am meisten verzweigt sich die Sierra Nevada nach
Süden zu. Dadurch entstehen hier eine große Anzahl von
Thälern, welche der Mehrzahl nach (diejenigen der westlichen
Hälfte) in das zwischen der Sierra Nevada und dem südlichen
Randgebirge befindliche Längenthal des Val de Leerin, zum
fleinern Theil (die der östlichen Hälfte) in die ebenfalls zwi-
schen der Sierra Nevada und einzelnen Gliedern des südlichen
Randgebirges sich ausbreitenden Becken von Njij ar und Can-
jayar ausmünden. Dieser Complex von Thälern führt
den gemeinschaftlichen Namen los Alpnjarras. Ein
niedriger Gebirgszweig, der Loma de 2)ator, welcher die öst-
liche Sierra Nevada mit der zum südlichen Randgebirge ge-
hörenden Sierra de Contraviesa verbindet, schneidet die öst-
lichen Alpnjarras (das Becken vonlljijar und Canjayar) von
den westlichen oder hohen Alpujarras. Das Val de
Lecrin ist im Westen durch das hohe Plateau von Padnl von
der Hochebene von Granada geschieden, während das Becken von
Canjayar sich gegen Osten in die weile Thalinulde des Rio de
Almeria öffnet." Moritz Willkomm, „Das pyrenäische Halb-
wselland". S. 20.
en in Südspanien.
Berge stolz mit ihren Gipfeln der Sonne entgegen ragen";
sie sind ein Ocean von Felsen und Pflanzen, und die Dörfer
schwimmen dort gleichsam wie Silberwellen:
La Alpuxarra, aquella Sierra
Quo al Sol la cerviz levanta,
Y que, poblado de Villas,
Es mar de peSas y plant;is#
Adonde sus poblaciones
Ondas navegan de Plata.
Hinter Alhendin kommt man ins Thal von Lecrin,
d. h. der Freuden oder des Jubels. Man ist in der That
erstaunt, inmitten so wilder, chaotischer Gebirgsmassen ein
so überaus reizendes Thal zu finden, in welchem alle
Südfrüchte wachsen und das immer vou klaren Bächen
bewässert ist. Im 16. Jahrhundert sind hier die grünen
Rasenmatten mit Strömen Blutes getränkt worden; beide
Theile wetteiferten in abscheulichen Grausamkeiten, und die
Barbarei der Mohammedaner stand mit jener der Christen
auf gleicher Linie; von Pardon war keine Rede.
Wie viel Bestialität liegt doch in der menschlichen
Natur! In Guecija überfielen die Mauren das Augustiner-
kloster und sotten die Mönche in Oel. Als die
Spanier Mayrena geräumt hatten, bemächtigte sich das
Volk des christlichen Pfarrers, stopfte ihn voll Pulvers,
legte eine Lunte an und sprengte ihn iu die Luft. Die
Mauren von Canjayar opferten Kinder aus dem Scheiter-
Haufen; sie schlachteten zwei Christen ab und fraßen das
Herz. Deu Pfarrer schleppten sie in seine Kirche, der
Sacristan mußte die Glocke läuten, und als das Volk sich
versammelt hatte, rupften die Mauren dem Geistlichen ein
Haar nach dein andern ans, auch von Wimpern und Augen-
brauen, und Jeder versetzte ihm einen Schlag mit der Faust.
Dann schnitten sie ihm die Zehen an Händen und Füßen
ab, rissen ihm die Augen ans, stopften ihm diese in den
Mund und riefen: „Nun friß das, womit Du uns über-
wacht hast, Du Augeber." Nachher fchuitteu sie ihm die
Zunge ab: „Da, friß sie, Du Angeber!" Und zuletzt
rissen sie ihm das Herz aus dem Leibe, um es den Hunden
vorzuwerfen!
Dieser letzte furchtbare Aufstand der „Moriscos" war
in Granada felbst, im Stadtviertel Albayzin, so sehr ins-
geheim und mit solchem Vorbedachte geplant worden, daß
Philipp der Zweite erst Kunde von Allem erhielt, als schon
die ganze Alpujarra in Waffen stand. An der Spitze
stand ein junger Mann von 22 Jahren, ein Nachkomme
der Ommajadifchen Chalifen, der Fernando del Valor
hieß und für einen guten Christen galt. Zuerst hatten sich
die Männer im Thale von Lecrin erhoben, aber bald ergriff
der Ausstand sämmtliche zwölf Tahas, d. h. Distrikte, der
Alpujarras bis nach Almerla hin. Fernando del Valor
warf die christliche Maske ab und nannte sich nun Mnle
Mohammed aben Humaya, König von Granada
und Andalusien. Er war ein gewandter nnd muthiger
Mann, aber seine ersten Erfolge stiegen ihm zu Kopfe; er-
hielt sich fchou für mächtig, wollte einen Hof haben und
einen mit Pracht umgebenen König spielen. Er hielt einen
Harem und in diesem war die schöne Zahara seine Lieblings-
fran, sie tanzte moriskische Zambras entzückend schön und
sang Leylas zur Laute.
Aben Humaya wurde bald aus seinen Träumen auf-
gerüttelt. Die Spanier wußten Zwietracht unter seineu
Anhängern zu erregen. Sein Nebenbuhler war Farrar
Abencerage, ein grausamer Mann, der an einem ein-
zigen Tage nahe an 3000 Spanier hatte über die Klinge
springen lassen. Aben Humaya dagegen war nicht grau-
sam und verschonte Weiber nnd Kinder. Die gegen ihn Ver-
Aus dem Volksleben in Südspanicn.
327
schworenen, an deren Spitze Aben Abu stand, überfielen
ihn. Als sie Anstalt machten, ihn zu erwürgen, sprach er:
„Ich werde als muthiger Mann sterben!" Dann legte er
sich selbst die Schlinge um den Hals. Die Spanier be-
haupten, er sei vorher wieder Christ geworden. Seine Leiche
wurde iu eine Kloake geworfen, nachher wieder ans Tages-
licht gezogen und in Gnadiz beerdigt.
Auch Padul, wo die Reisenden übernachteten, hatte
im Moriskeukriege Schweres zu erdulden. Es ist ein arm-
seliger Ort, liegt aber in einer fruchtbaren Gegeud, in
welcher die Granatbäume prächtig gedeihen. Nicht minder
ist damals die kleine Stadt Dnreal heimgesucht worden;
König Philipp wollte den Aufstand wo möglich mit einem
Schlage dämpfen uud hatte den: Marquis de los Velez deu
Oberbefehl anvertraut. Dieser verwüstete Alles mit Feuer
und Schwert und die Mauren nannten ihn nur deu Teufel
mit dem eisernen Kopfe. Der Marquis de Sefa war mit
19,090 Matttt in die Alpnjarras eingerückt, aber nach
kurzer Zeit waren sie dermaßen ausgerieben, daß kaum
noch 1509 Mann unter den Fahnen standen. Die Spa-
nier hatten es sich zum System gemacht, Alles zu zer-
stören: Bäume, Ernten uud Häuser. Der Geschicht-
schreiber Marmel sagt: „Acrger als unsere ausgehungerten
Truppen können auch die Heuschrecken nicht verheeren;
wenn sie in einen Garten kamen, dann war nach einer
Stunde gewiß kein grünes Blatt mehr übrig. Binnen
Monatsfrist wurden zehntausend Morisken getödtet oder
in die Sklaverei abgeführt. Damals fanden mehr als
80 Gefechte statt; ganze Dörfer wurden menschenleer; die
Bewohner von Alhendin verpflanzte man nach Montiel in
der Mancha."
Genez Perez de Hita, welcher den Krieg mitgemacht
hatte, erzählt Folgendes: „Die Spanier dachten an nichts
als an Mord und Plünderung; sie alle waren Diebe und
Räuber und ich war einer der ärgsten. Um nicht
außer Uebung zu kommen, stahlen sie Eisenwerk, Obst, ja
sogar Katzen."
„Nach der Erstürmung von Jnbilez wurden ein-
tausend moriskische Weiber und dreihundert Män-
ner mit kaltem Blut abgeschlachtet. Die Mohren verthei-
digten sich mit dem Muthe der Verzweiflung; wenn sie
keine Waffen mehr besaßen und ihre vergifteten Pfeile ver-
schössen hatten, dann packten sie einen Feind und stürzten
sich mit ihm über die Felsen hinab in den Abgrund; Frauen
und Kinder drangen unerschrocken gegen die Spanier ein
und warfen ihnen Sand in die Augen. Manche warfen
ihre Töchter in schneebedeckte Abgründe, damit sie nicht in
die Gewalt der Spanier sielen." Derselbe Geschichtschreiber
erzählt, er habe einst ans dem Wege nach Filix eine mit
Wunden bedeckte Frau liegen sehen; sie hatte sich über das
jüngste, welches sie noch an der Brust nährte, hingelegt,
um es zu schützen. Da kanien aber die christlichen Sol-
daten, erstachen die Mutter vollends und das Kind schwamm
iin Blute. Perez de Hita fügt hinzu, daß er sich desselbeu
erbarmt und ihm das Leben gerettet habe.
„Zwei spanische Soldaten hatten das Hans eines
reichen Morisken ausgeplündert und dann Alles in dem-
selben verwüstet. Zuletzt fanden sie ein junges, bildschönes
Mädchen. Beide wollten sich derselben bemächtigen, keiner
gönnte sie dem andern und beide zogen gegen einander vom
Leder. Als sie mit Erbitterung kämpften, kam ein dritter
Soldat hinzu, welcher der Sache ein Ende machen wollte.
Er versetzte der Moriskin zwei Dolchstiche und sie sank tobt
zu Boden; dann sagte der Elende: Zwei brave Soldaten
müssen einer solchen Kleinigkeit wegen einander nicht in
die Haare gerathen. Die beiden Soldaten aber machten
nun gemeinschaftliche Sache gegen den dritten, schalten ihn
ein Ungeheuer und hieben ihn ans der Stelle nieder. Da
lag er nun dicht neben dem todten Engel."
Bei Lanjaron am Südabhange der Sierra Nevada
endet das fruchtbare Thal vou Leeriu, dieses paraiso de
las Alpujarras. Auch diese Stadt litt im Moriskeukriege
ganz unbeschreiblich; sie blieb achtzig Jahre lang verödet;
dann schaffte die Regierung 50 Eolonisten aus dem Innern
Spaniens dorthin. Jetzt ist sie die wichtigste Stadt in
den Alpujarras uud bietet einen ganz freundlichen An-
blick dar.
Weiterhin, nach Orgiva zu, kommt man durch wildes
Gebirgslaud; hin und wieder sieht man eine in Trümmern
liegende maurische Burg, uud die Landlente sind zwar
friedlich, haben aber etwas Unheimliches. Orgiva ist ein
großer Flecken am Fuße des Pieacho de Veleta und war
lange Zeit der einzige Ort, in welchem sich während des
Krieges in den Alpujarras die Christen behaupteten. In
der Nähe liegt der Barraueo de Poqueira, eine tiefe
Schlucht, so fürchterlich, wie die Einbildungskraft sich nur
vorstellen kann, ein schwindelerregender Abgrund. Ueber
denselben lagerte sich ein Nebel, durch welchen die Feuer
der Neveros nur matt hindurch schimmerten; das Gewölk
war bleigrau. Uud immer wilder wird die Gegend bis
Ujijar, das in der Mitte der Alpujarras liegt uud ernst
die Hauptstadt dieser Landschaft war. Hier sind noch
manche Familien von nnvermischter maurischer Abkunft.
Ogixar la nombrada fpielt in den Romanzen eine große
Rolle. Weiterhin wird die Gegend wieder reizend, und
überall tauchen geschichtliche Erinnerungen aus. Hier lag
die Besitzung des oben erwähnten Fernando del Valor,
welchen Aben Abu erwürgen ließ. Dieser war aus dem
Dorfe Meeiua de Bombaron, an welchem unsere
Reisenden vorüber kamen. Seine Unthat brachte ihm
keinen Segen, denn einer seiner Spießgesellen, El Seniz,
verrieth ihn für 29,000 Maravedis an die Spanier; dieser
Preis war auf feinen Kopf gesetzt worden und El Seniz
erschlug ihn in einer Grotte. Als er die Leiche ablieferte,
sprach er: „Ich konnte das Schaf nicht lebendig abliefern,
hier habt ihr das Vließ." Die Leiche wurde nach
Granada gebracht und den christlichen Kindern
vorgeworfen. Vou diesen wurde sie zerrissen!
Der Kopf wurde iu einem eisernen Käfig über dem Bib
Racha-Thor ausgehängt, uud darüber stand die Inschrift:
„Dies ist das Haupt des Verräthers Aben Abu; es ist bei
Todesstrafe verboten, dasselbe wegzunehmen." Und wirk-
lich ist es im Jahre 1599 noch an jener Stelle gewesen.
Der Mörder El Seniz bekam seinen Lohn; er ist einige
Jahre später als Straßenräuber in Guadalajara gevier-
theilt worden.
Ueber steile Abhänge, ramblas, gelangt man nach
Berja, am Fuße der Sierra de Gador, welche reich an
ergiebigen Bleigruben ist, so reich, daß man sagte, sie ent-
halte mehr Blei als Steine. In Berja ist ein lebhaftes
Treiben; man hat nun die Alpujarras hinter sich. In
dieser Stadt trafen die Reifenden einen blinden Bettler,
welcher angeblich 103 Jahr alt war und, auf eine Enkelin
gelehnt, am Stab einherging. Dor6 dachte unwillkürlich
an Oedipns und Autigone und zeichnete.
Wir haben mehrmals betont, daß Spanien in mancher
Beziehung als ein „gemildertes Afrika" erscheine. Dieser
Charakter tritt auch darin hervor, daß in Andalusien und
bis nach Valencia hinauf manche Oertlichkeiten einen
tropischen Pflanzenwuchs aufweisen. Man sieht
Seefahrten m
Baumwollen- und Zuckerpflanzungen wie auf den Antillen,
und selbst die Dattelpalme reift.
Den Anbau dieser Erzeugnisse verdankt Spanien,
gleich vielen anderen Wohlthaten, den Arabern. Die
Dattelpalme, so sagt Ritter einmal, ist der wahre Haupt-
bäum des semitischen Orients, ein Repräsentant der snb-
tropischen Zone der alten Welt, so weit diese keinen Regen-
Niederschlag hat. In Arabien liegen die meisten Ortschaften
unter und zwischen einzelnen Pflanzungen von Datteln
oder unter ihren weithinziehenden Palmenhainen und zu-
sammenhängenden Wäldern; man erbaut die Hütten im
lieblichen Schatten der hohen, schlanken Säulenreihen mit
den säuselnden Kronen der weitverbreiteten, gefiederten
Blattverzweigungen. Aus deu gemeinsamen, prachtvollen
Endknospen hängen die großen Datteltrauben golden und
purpurfarbig herab, diese Trauben mit dem Ambrosiaduft,
dem Honigsaft, dem berauschenden Spiritus, ihrem nahr-
haften Mehl uud ihrem feinen Wohlgeschmack. Jeder aus-
gebildete Palmbaum ist wie ein kleines Ackerfeld für eine
Familie; nicht selten hängen zehn Rispentrauben um feine
Blattkronen, und manchmal enthält eine Traube bis zu
zweitausend Datteln.
Mit Recht hat man die Dattelpalme nicht nur als
Charaktergewächs des arabischen Klimas bezeichnet, son-
dern auch als Wahrzeichen, bis wie weit nach Norden
hin die Herrschaft der Araber einst dauernd
gereicht hat.
Die Dattelpalme verträgt keine das ganze Jahr hin-
durch sich wiederholenden Regenniederschläge und sie scheut
auch die Regenzeiten tropischer Ergüsse. Im Süden tritt
Spitzbergen. 329
statt ihrer die Kokospalme auf, die ein Repräsentant der
tropischen Regenzone ist; im Norden reicht sie nur bis au
das andalusisch-sicilianisch-mesopotamische Klima, wo
alsdann die Zone der edlen Obstarten beginnt: der Granate,
Olive, Feige, Orange, Weinrebe und Pistazie. Sie will
sandigen, wasserreichen Boden. In Italien zieht man sie
bis unter 44 Grad nördlicher Breite an Mauern; sie blüht
in Sieilieu, Morea und Südspanien; sie trägt hier auch
wohl Früchte, aber diese werden kaum süß. In dieser Be-
ziehung macht allein die Ebene von Elche eine Aus-
nähme; dort reift sie vollkommen.
Elche, das Jlice der Römer, ist eine Stadt in der
Provinz Alicante, mit etwa 19,099 Einwohnern. Sie
liegt inmitten einer ungemein fruchtbaren Huerta, etwa
6 Wegstunden südwestlich von Alicante; an der nach Mur-
cia führenden Straße auf kahlem Hügelgeläude. Sie
erinnert in ihrem ganzen Aussehen au eiue arabische Stadt,
und die ganze Gegend gleicht einer Oase des afrikanischen
Belad el Dscherid. Denn dort dehnt sich ein Palmenhain
aus, der nicht weniger als 79,090 Dattelstämme zählt.
Der Europäer, welcher bei heißer Mittagssonne unter
diesen schlanken Bäumen, den aus Afrika herübergebrachten
Fremdlingen, wandert, fühlt sich an die Grenze der Sahara
versetzt uud denkt an jene Tage, da ein, gleich der Dattel
in Europa fremdes Volk hier manches Jahrhuudert festen
Fuß behauptete. Die mohammedauifcheu Mauren sind
nun seit Jahrhunderten vom Boden der pyrenäischen Halb-
iusel verschwunden, aber die Datteln bei Elche, deren süße
Früchte heute ein Labsal christlicher Spanier sind, haben
ihren Staudort behauptet und gedeihen für und für.
Seefahrten na
Noch jetzt fahren, wenn auch in weit geringerer Anzahl
als in früheren Zeiten, alljährlich Walfischjäger bis in die
Gewässer von Spitzbergen. Dieser Archipelagns wurde
im 16. Jahrhundert bekannt, als die Holländer auf uord-
östlichem Wege eine Durchfahrt uach Judieu suchten. Die
Generalstaateu setzten für die Entdeckung derselben eiue
nicht uubeträchtliche Prämie aus; auch fanden sich kühne
Männer, welche bereit waren, die Entdeckung zu machen
und die Prämie zu verdieueu. Damals wurden Usbrandtz,
Heemskerke, Jau Eoruelisz und Wilhelm Barentz berühmt.
Nach einigen Erpeditionen, welche den Zweck nicht erreichten
und nur bis zur Waigatschstraße kamen, rüstete die Stadt
Amsterdam einen Seezug aus; Heemskerke und Eornelisz
waren Befehlshaber, Barentz war Oberpilot. Sie fuhren
im Mai 1596 vom Terel aus und entdeckten am 9. Juni
die Bäreninsel (74° 35' n. Br.); sie erhielt diesen
Namen, weil die Holländer dort einen gewaltig großen
Eisbären erschlugen. Das Eiland wurde späterhin, 1603,
vom Engländer Stephan Bennett besucht, der dasselbe nach
dem Rheder seines Schiffes Eherie Island benannte.
Jene Holländer erreichten am 17. Juni 81" 10' n. Br.,
und als sie dort lavirten, um wieder aus dem Eise heraus
zu kommen, sahen sie ein hohes mit Schuee bedecktes Land.
Dort ankerten sie unter 79° 44' zwischen kleinen Inseln
und dem festen Land in einer Bay, jener von Smeerenberg,
fuhren von dort in der Richtung nach Südsüdwest und
GlobuS IX. Nr. 11.
ch Spitzbergen.
fanden überall an der Küste spitze Berge. Daher der Name
Spitzbergen, an dessen Küste sie bis 76° 35' n. Br. ent-
lang fuhren.
Dann segelten sie nach nach der Bäreninsel, wo sie sich
trennten. Barentz schiffte nach Nordosten, überwinterte
auf Nowaja Semlja uud starb; Eoruelisz war wieder
nach Spitzbergen gefahren und dort bis zum 80. Grade
gekommen.
Im 17. Jahrhundert war das Meer um Spitzbergen,
des Walfischfanges wegen, vom Juni bis zum September
sehr belebt, und in deu Buchten, namentlich im nördlichen
Theile, ist damals ein lustiges Leben gewesen. Man schlug
Bretterbuden auf, ganze Sommerdörfer; Smeerenberg hatte
seine amsterdamer Schenken und ein besonderes Quartier,
die Haarlein Kokery, in welcher der Walsischspeck ansge-
kocht wurde. Im September verschwand Alles; Buden
und Seeleute gingen nach Holland zurück.
Daun uud wann haben Matrosen ans Spitzbergen
überwintert; so z. B. 1633 sieben Mann, welche man im
Juni wohlbehalten antraf. Im folgenden Jahre wollten
sieben andere gleichfalls den Winter über auf Spitzbergen
bleiben; sie sind aber alle dein Scharbock erlegen; ihr
Tagebuch erzählt das traurige Geschick, welches sie ereilt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Überwinterungen auf
Spitzbergen möglich sind; es ist auch gar nicht selten, daß
Russen dort bleiben, uud wer eiue gute hölzerne Hütte
42
330 Seefahrten tu
baut, Steinkohlen in genügender Menge, gute Lebensmittel
und Wein hat, kann ohne Gefahr der hochnordischen Kälte
einen Winter hindurch Trotz bieten.
Durch den hamburgischen Walfischfänger Friedrich
Martens erhielt man zuerst eine ziemlich ausführliche
Beschreibung von Spitzbergen. Er hatte an: 15. April
1671 die Elbe verlassen itjtd war am 29. August wieder
in Hamburg. Von Jan Mayen aus richtete er seinen
Curs nach dem Norden von Spitzbergen und harpunirte
Walfische an der Nordwestküste zwischen der Magdalenen-
bay und der Hinlopenstraße; er landete an der eben-
genannten Bay, im Fair Häven, bei Smeerenberg, in der
Mufselbay und hu Znidhaven. Sehr eingehend schildert er
Land, Meer, Eis, Lust, Pflanzen und Thiere; namentlich
sind seine Bemerkungen über den Walfisch und den Betrieb
des Fanges noch jetzt von Interesse.
Nach uud nach verlor der Walfischfang bei Spitzbergen
seine alte Bedeutung; die Schiffer suchten den Leviathan
der Tiese mehr und mehr bei Grönland, in der Davisstraße,
überhaupt iu den arktischen Gewässern Amerika's auf.
Die erste, lediglich zu wissenschaftlichen Zwecken unter-
nommene Reise nach Spitzbergen unternahmen John Eon-
stantin Phipps, der späterhin Lord Mulgrave wurde,
uud Skesfington Latwidge, in den Schiffen Raee horfe
uud Careaffe. Der Astronom Lyons und der Physiker
Irwing nahmen an der Fahrt Theil. Sie wollten
versuchen, den Pol zu erreichen, oder doch dem-
selben so nahe als möglich kommen.
Am 2. Juni 1773 segelten die Schiffe aus der Themse,
am 28. Abends sahen sie die Südküste von Spitzbergen,
ankerten am 4. Juli in einer kleinen Bucht, südlich von der
Hamburgbay, steuerten bis 80° 48' n. Br., trafen dort
auf feste Eismassen, schifften nach Osten gegen die Sieben
Inseln hin und befanden sich stets im Treibeis. Vom
5. bis 7. August schwebten sie in der größten Gefahr; sie
steckten im Eise fest, wurden mit demselben nach Westen
getrieben, kamen aber am 19. wieder in offenes Wasser.
Phipps ist aus mehren Punkten Spitzbergens gelandet,
z. B. im Süden der Hamburgbay, auf der Insel Amster-
dam, auf Walton Island, Low Island und Moffen. Die
Gelehrten stellten regelmäßige meteorologische Beobach-
tuugeu an; Jrwing ermittelte die Temperatur des Meeres
in verschiedenen Tiefen und Lyons suchte durch Chrono-
metermessungen und Gissungen die Lage des Schiffes zu
bestimmen.
Im ersten Viertel unseres Jahrhunderts unternahm
W. Scoresby seine berühmten Fahrten nach dem ark-
tischen Norden. Dieser ganz ausgezeichnete Seefahrer und
Beobachter, Sohn eines Walsischfahrers, hat nicht weniger
als siebenzehn Reisen nach Spitzbergen unternommen; die
ersten fünf als Knabe und Jüngling, die letzten zwölf in
den Jahren 1807 bis 1818 als wissenschaftlich gebildeter
Mann. Seine Arbeiten enthalten eine reiche Fülle wich-
tiger Beobachtungen und Bemerkuugeu über Land, Wasser,
Luft und Thierleben der hochnordischen Regionen; mit
Recht hat Ch. Martins gesagt, er sei für die arktischen
Gegenden dasselbe, was Saussure für die Erforschung der
Alpen gewesen.
Die englische Admiralität sandte 1823 die Eorvette
Griper nach den Küsten von Spitzbergen. Am Bord besand
sich Sabine, der noch lebt, und damals Pendel- und Ba-
rometerbeobachtnngen anstellte. Der Griper verließ Eng-
land im Mai, lag einige Zeit im Fairhaven, 79° 46' n. Br.,
und schiffte dann nach der Küste von Ostgrönland, welche
er vom 76 bis 72° erforschte.
i Spitzbergen.
Phipps und Scoresby waren der Meinuug, daß das
feste Eis, welches die Seefahrer verhiudert, bis zum Nord-
pol vorzudringen, eine gleichmäßige Fläche bilde, aus welcher
mau zu Fuß oder Schlitten ungehindert fortkommen könne.
Diesen Gedanken griff Eduard Parry aus. Dieser kühne
Mann war damals 37 Jahre alt, hatte schon vier Reisen
nach dem hohen Norden gemacht, war in der Bassinsbay,
auf der Insel Melville und in Port Bowen, in der Prinz
Regentsstraße, gewesen. Seine Ueberwinternngen waren
weltberühmt, und kein anderer Mann eignete sich mehr und
besser zu arktischen Unternehmungen.
Am 27. März 1827 verließ Parry mit dem Schiffe
„Heela" England, legte bei Hammerfest in Norwegen an,
erkannte am 14. Mai die Hacklnytfpitze, fuhr in die Mag-
dalenenbay, machte einige Kreuzfahrten gegen Norden und
ließ dann sein Schiff in der Heela Code, die eine Ankerstelle
in der Trenrenbergbay bildet. Dort lag die Heela vom
29. Juni bis zum 28. August, während Parry sich bemühte,
auf dem Eise mit Schlitten den Nordpol zu erreichen; aber
während er aus dem Eise nach Norden hinging, wurde
dasselbe gegen Süden hingetrieben. Nach 31 Tagen
äußerster Anstrengungen hatten sie 82° 45' n. Br. erreicht.
Das Eis war nicht, wie Phipps und Scoresby angenommen
hatten, eiue glatte Fläche, sondern von breiten Rissen und
Spalten durchzogen, uneben, von offenen Meeresstellen
durchsetzt. Außerdem wurde es, wie eben gesagt, von der
Meeresströmung nach Süden hin getrieben, während Parry
aus ihm nach Norden ging. Er mußte nach der Heela
Eove zurückkehren, am 29. August; sein Plan, den Pol zu
erreichen, war nicht ausführbar. Er besuchte dann mehre
Inseln vor Nordspitzbergen: Low- und Waldeu-Jsland,
Moffen, Little Table Island und die nördlichste von allen,
Roß Jnlet. In Heela Eove, 79° 55' n. Br., sind vier
Monate hindurch meteorologische Beobachtungen angestellt
worden, eben so während der Zeit von Parry's Schlitten-
fahrt auf dem Eise.
In demselben Jahre, da Parry in seinem Bestreben,
den Nordpol zu erreichen, scheiterte, beschloß Keilhau aus
Ehristiania, mit drei anderen Männern, die Niederlassung
zu besuchen, welche die Russen im Süden der Oftinsel von
Spitzbergen ans Staateueiland haben, das 1616 von den
Holländern entdeckt war. Sie schifften sich auf einer kleinen
nur mit 6 Mann besetzten Brick am 15. August iu Ham-
mersest ein, waren am 29. auf der Bäreuiusel und blieben
dort bis zum 22.; die Temperatur schwankte zwischen
3° 1' und 5° 4'. Keilhau sammelte 28 Phanerogamen
und 23 Kryptogamen. Am 27. war die Brick noch 6 Miles
vom Eissunde und am 3. September beim Südeap Spitz-
bergens. Nachdem sie einen heftigen Sturm ausgehalten,
fuhr sie zwischen den Tausend Inseln, sand dort viel Eis,
eine Menge von Robben und Walrossen, kam nur mit
Mühe vorwärts und erreichte am Ii). September die rus-
sische Niederlassung auf der Westküste des sogenannten Oft-
spitzbergen. Das Hans ist für etwa 39 bis 49 Menschen
hergerichtet, war aber ohne Bewohner.
Ch. Martins, dem wir bei dieser Darstellung folgen,
war 1838 und 1839 Mitglied einer wissenschaftlichen
Commission, die ans ihm selber, Gaymard, Lottin, Bra-
vais, Marinier, E. Robert und Mayer bestand. Sie ver-
ließ mit dem Schiffe Recherche Havre am 13. Juni 1838,
besuchte Drontheim und Hammerfest, ging von dort am
15. Juli gegen Norden und traf schon am folgenden Tage
schwimmendes Eis, in welchem sie drei Tage lang fuhr.
Wahrscheinlich erstreckte sich dasselbe bis zur Bäreninsel.
Von den schwimmenden Eismassen befinden sich vier Fünftel
unter dem Wasser. Oft lagerte sich dichter Nebel über die
C, v. Gerstenberg: Allerlei
See. Am 24. Juli lief die Recherche in den Bellsund,
77" 30' n. B., ein und blieb dort bis zum 4. August, stellte
allstündlich meteorologische Beobachtungen an und war am
12. wieder in Hammerfest.
Im Jahr 1839 unternahm sie, gleichfalls von Havre
aus, wieder eine Fahrt und war am 31. Juli iu der
Magdalenenbay, um ihre vorjährigen Beobachtungen fort-
zusetzen.
olksabergsauben in Befsarabicn. 331
Im Jahr 1858 unternahm Professor Nordenskjöld
aus Helsiugfors eine wissenschaftliche Reise nach Spitzber-
gen, und 1861 ging er mit Torell und Quennerstedt
an der Westküste bis Smeereuberg; sie blieben zwei Mo-
nate auf Spitzbergen. — Die vielbesprochene schwedische
Expedition hat insbesondere den nördlichen Theil er-
forscht, namentlich die Straße van Hinlopen, und ihre Ar-
beiten sind ungemein werthvoll.
Allerlei VolKsabergl
Von C. v.
Je größer die Zahl der verschiedenen Völkerschaften in
einem großen Reiche ist, und je mehr die einzelnen Stämme
in Hinsicht auf ihren Charakter, ihre Lebensweise und Re-
ligion von einander abweichen, um fo mannigfaltiger und
reicher wird auch die Erscheinung des Aberglaubens sein,
der eingewurzelt in Mitte des Ganzen herrscht. Kein
anderer Staat in Europa zeigt eine so bunte Zusammen-
stellung von verschiedenen Volksstämmen, als Rußlaud,
und namentlich sind es die südlichen Provinzen, welche ein
eigenthümliches Gemisch von allerlei Nationalitäten ans-
weisen. Armenier, Zigeuner, Serben, Moldauer, Wala-
cheu, Griechen, Skypetaren (d. h. Albanesen, Amanten),
Italiener, Franzosen, Polen, Deutsche, lesghische Völker:c.
sind vertreten. Der Aberglaube hat ein weites Feld; er
tritt bei kirchlichen und privaten Feierlichkeiten zu Tage und
erbt von einem Geschlecht ans das andere, ohne daß von
Seiten derjenigen, welche bildend und aufklärend in ihren
kleinen Distrikten wirken könnten, ihm entgegen gearbeitet
würde.
Während meiner Streifzüge und meines längern
Aufenthaltes in den verschiedenen südrussischen Gouverue-
meuts war ich oftmals Augenzeuge von abergläubischen
Handlungen und Vorgängen, die auf eine wahre Kindheit
in der Kultur dieser Landesstriche hinweisen. Nicht nur
der gewöhnliche Bauer ist in allerlei Wahn befangen, fon-
dern auch unter den sogenannten gebildeten Russen wurzelt
der Glaube an widernatürliche Begebenheiten und Ereig-
nisse, Wunderkräfte :c. Es ist eine bedauernswerte That-
sache, daß ein sehr beträchtlicher Theil der Geistlichkeit,
namentlich auf dem platten Lande, auf einer fehr niedrigen
Stufe geistiger und geistlicher Bilduug steht, und in Ruß-
laud felbst wird über diesen leidigen Umstand viel geklagt.
Von wissenschaftlicher Bildung und Einsicht ist bei jenen
Leuten keine Rede, und das muß man im Auge behalten,
um die nachfolgenden Angaben richtig zu würdigen.
Der Dorfgeistliche, Pope, leitet und bestärkt die seinem
Kirchsprengel Angehörigen andauernd in ihrem Aber-
glauben, der ihm Geld einbringt; vom Staate bezieht er
keinen Gehalt, er muß von dem leben, was ihm sein Amt
mit Kindtaufen, Hochzeiten und Begräbnissen einbringt.
Diese Einnahmen reichen nicht aus, aber der Pope hat noch
andere Einnahmequellen.
Ein Hauptfest bei den Russen ist das der Taufe Christi,
welches am 6. Januar jedes Jahres (rnss. Rechnung) ab-
gehalten wird. Dieser Tag ist für die Popen einer der
wichtigsten, in so fern, als sie an diesem eine gute Ein-
luden in Bessaratuen.
Gerstenberg.
nähme machen. Dnrch einen langen und kräftigen Segen
haben sie das Wasser zu weihen, welches in jedem Dorfe
in neuen Fässern öffentlich aufgestellt wird, uud das, uach
ihrer Versicherung, ein untrügliches Präservativ gegen jede
innere Krankheit sein soll; dasselbe gilt von den Gewehren,
welche bei dieser Feierlichkeit abgeschossen werden. Die
Wergpfropfen aus letzteren werden als vorzügliches Hei-
lnngsmittel bei äußeren Wunden gepriesen. Jede Wunde,
die mit einem solchen geweihten Propsen berührt wird, soll
schnell und sicher heilen. Der Bauer trachtet deshalb nach
dem Besitz eines solchen Wunderdinges, und da nicht Jeder
ein Gewehr hat, das er segnen lassen und abschießen kann,
geht es nie ohne eine Rauferei bei der heiligen Handlung
ab. Die Frauen und Mädchen tragen Lichter und welke
Blumeu herbei, um diese weihen zu lasseu, denn auch diese
sollen dann Wunderkräfte enthalten. Der Gutsherr läßt
sich seine sämmtlichen Zimmer mit gesegnetem Wasser be-
sprengen, um ja des Guten recht viel zu haben. Der Pope
wird für diese Arbeiten gut bezahlt und die Einnahme
kehrt jährlich wieder, denn die Wunderkrast der Segnuugeu
dauert nur ein Jahr.
Einen Popen, mit dem ich näher bekannt geworden war,
fragte ich einst, ob er an sich selber in Krankheitsfällen auch
dergleichen Wunderstücke zu Hülfe nähme; er verneinte dieses
lächelnd und fügte hinzu: „Ja wsegda widjet, tsclito dlja
dostischenija. stschastija co swjetje nadobno pochoditj na
besumza, no bit pritara mudrim," d. h. „Ich habe immer
eingesehen, daß es zur Erlangung des Glücks in der Welt
nothwendig ist, einem Thoren ähnlich zu sehen, aber doch
weise zu sein." Eine lakonische und sehr bezeichnende
Antwort.
Der bessarabische Bauer meint steif und fest, daß eiue
am Palmsonntag von einem Baume gebrochene Ruthe,
welche der Pope gegeu Bezahlung ihm einsegnet, ein vor-
zügliches Schutzmittel gegen das Einschlagen des Blitzes
in sein Haus sei, sobald er dieselbe bei einem Gewitter
vor die Hausthüre lege. Hier zeigt sich die Unkenntniß
der Naturgesetze sehr deutlich. Der Bauer wohnt nur iu
niederen Hütten, die wenig oder nichts enthalten, was dem
electrischen Strahl als Leiter dienen könnte; er hat also
wenig von dem Element zu fürchten, zumal die kleinen
Hütten meistentheils mit hohen Bäumen umgeben sind,
welche als Blitzableiter dienen.
Die jungen Blüthenknospen der Rnthe follen, nach
der Versicherung des Popen, gute Dienste gegen alle Hals-
krankheiteu thuu, sobald man dieselben am Palmsonntag
332 C. v, G erstenberg: Allerlei
in der Mittagsstunde genießt. Auch hier dauert die
Wunderkraft nur ein Jahr; im nächsten muß wieder für
Geld gesegnet werden.
Am Neujahrsmorgen werfen die Bauern einander
gesegnetes Korn ins Gesicht, da sie der Meinung sind,
daß sie dann das ganze Jahr hindurch Korn in Fülle haben
werden und nicht zu hungern brauchen. Am Ostersonntag
versammeln sich sämmtliche Einwohner eines Dorfes ans
dem Kirchhofe, wo ihnen der Pope die mitgebrachten
Speisen einsegnet, denn der Bauer darf au diesem Tage
nur Geseguetes genießen, da er sonst das ganze Jahr hin-
durch bis zu nächsten Ostern beständig an Magenschmerzen
leiden würde. Eben so müssen jedes Jahr die Brunnen,
damit sie nicht versiechen, die Obstgärten, damit sie Früchte
tragen, gesegnet xtnb mit geweihtem Wasser besprengt wer-
den. Bei jeder Kleinigkeit ist der Pope nöthig; die Bauern
sind ganz und gar iu seiner Gewalt. Die Leute sind noch
froh, daß sie einen Segenspender in ihrer Mitte haben und
versäumen nie, ihm dankbar und ehrfurchtsvoll die Hände
zu küssen. Ich habe Popen gekannt, welche armen Die-
nerinnen ihr wenig erspartes Geld abborgten und trotz
häufiger Ermahnungen um die Rückgabe desselben nicht
zahlten, obgleich sie das recht gut gekonnt hätten. Es
bedurfte dazu des energischen Einschreitens von Seiten des
Gutsherrn, der den „bunten Sünder" (die Popen gehen
bunt gekleidet) aus dem Dorfe zu jagen drohte. Wer
Land und Leute aus eigener Anschauung kennt, wird wissen,
daß hier nicht etwa Uebertreibungeu erzählt werden.
Ein Knabe brachte mir einmal ein sogenanntes
Zwerg- oder Angstei von einem Huhn; das Ei war
nicht viel größer als das von einer Turteltaube. Ich
betrachtete dasselbe und fand, was bei solchen Eiern häufig
vorkommt, daß es ohne Dotter sei. Eine Russin sah das
Ei in meinen Händen und fuhr entsetzt zurück. Auf meine
Frage erhielt ich zur Antwort, daß ja dieses Ei ein
„Teufelsei" sei; ich wurde hoch und theuer gebeten, dasselbe
zu zerschlagen und fortzuwerfen; wenn man dasselbe, nach
der Versicherung des Popen, acht Tage unter dem Arme
trüge und so ausbrüte, dann käme ein kleiner Tensel her-
aus, der Einen dann aus Schritt und Tritt durchs Leben
begleite. Während dieses Gesprächs waren einige Bauern
hinzugekommen, die gleichfalls ihr Entsetzen über das
„Tenselsei" an den Tag legten und zum Schlüsse ver-
sicherten, daß es wohl das Beste sei, dasselbe zu zerschlagen
und dann zu dem Popen zu gehen, damit dieser einen guten
Segen über die Hände spreche, welche das Ei gehalten,
denn man wisse doch nicht, was etwa Teuflisches könne
hängen geblieben sein zc. Ich machte von diesem guten
Rathe keinen Gebrauch.
Ganz unschädliche Thiere,. z. B. die grüne Eidechse,
Blindschleiche, gemeine Natter, Ringelnatter ze. werden wie
die Pest gefürchtet und als „Strafen Gottes" angesehen.
Auch hier hat der Pope immer Gelegenheit, Segen zu
sprechen und Geld zu erwerben.
Seltsam sind anch die vermeintlichen Schutzmittel gegen
Verletzungen durch giftige oder schädliche Thiere. So
glaubt der Bauer in Bessarabien, es sei ein probates Mittel
gegen den Stich einer Tarantel (Lycosa tarantula), deren
es dort in großer Menge gibt, wenn er dieselbe mit der
Oberfläche der Hand auf die Erde schlage und so tödte.
Die Oberfläche der Haud ist selbst bei denjenigen leicht
reizbarer und gegen Beschädigungen empfindlicher, die tag-
täglich mit harter Arbeit umgehen, da ja die innere hohle
Hand mit einer weit abgehärteteren und hornartigen Hant
bekleidet ist, als die äußere oder obere Haud, so daß der
Stich der Tarantel bei weitem schwerer dort durchdringt,
olksaberglauben in Bessarabien.
als hier. Gegen den Biß oder Stich der Schlangen :c.
wendet der Bauer gewöhnlich das Kreuzschlagen an,
wobei er sich mit dem Gesichte zur Erde neigt und hospodi
pomilui! (Herr, hilf mir!) murmelt. Auch soll es gute
Dienste thun, wenn man die Wunde mit einem Lappen
berührt, der iu der Eharfreitagsuacht vom Popen gesegnet,
an einem Licht auf dem Altare angezündet und rasch aus-
gelöscht wurde.
Der meiste Aberglaube der Bessarabier offenbart sich
während der sogenannten zwölf 3!ächte (Swiatki), welche
vom 25. Dezember bis Epiphanias dauern, und in welchen
außer dem Popen auch die sogenannten „weisen
Frauen", deren jedes Dorf mindestens eine hat, vollauf
Beschäftigung finden. Diese durchgängig alten abgerissenen
Weiber erwerben ihr Brot mit dem Gadatj (errathen);
sie gehen während der Swiatki von Hans zu Haus, um deu
Leuten die Zukunft voraus zu sagen. Der Bauer legt
feine ersparten Kopeken in die Hände dieses Weibes und
bekommt dafür gewöhnlich etwas zu hören, was er gern
zu hören wünscht.
Auf Wasilij (Neujahrsabend) könnten recht gut zwanzig
solcher „weisen Frauen" ein glänzendes Geschäft machen,
denn mit Sehnsucht harrt jede Familie der alteu Wahr-
sagerin, und zumal die Mädchen des Dorfes beben vor
Spannung und Erwartung. Liebe, Heirat, Tod und
Ernte bilden bei diesem Errathen immer die Hauptsachen,
und einen Traum der Neujahrsnacht sich nicht deuten zu
lassen, würde der Bauer als eine Sünde gegen sich selbst
ansehen. —
Wie auch noch häufig iu unserem Vaterlande, so gießt
man auch dort flüssiges Blei in ein Becken mit Wasser
und läßt die „weise Frau" aus den Figuren die Zukunft
deuten. Eine Kirche bedeutet Verlobung, eine Krone Hoch-
zeit (da nach russischem Ritus bei der Vermählung über
den Köpfen des Brautpaares Kronen gehalten werden);
eine Grube oder ein Loch bedeutet Tod, ein Haus: Woh-
nungswechfel, ein Bauernhaus: Land-, und ein Stadthaus:
Stadtleben, krumme Splitter und Staugen: Aerger und
Haß, gerade Splitter und Kugeln: Freude, viereckige
Figuren: gute Ernte:c. Die vornehmeren Russen ver-
wandten ehemals, und einzelne nehmen noch heute Gold
oder Silber zu dieser Gießerei.
Nicht minder gebräuchlich ist das „Brödcheulegen",
wobei man 12 kleine Brödchen, iu welche kleine Papiere
eingebacken sind, in einen Kreis in der Stube herum legt
und dann einen Hund herein ruft, welcher fressen muß.
Jeder Anwesende wählt sich ein oder zwei solcher Brödchen
und läßt sich aus deiu Gefressenen seine Zukunft deuten.
Die angebackenen Papiere enthalten nachstehende 12 Figu-
reu, von denen ich die Bedeutung eingeklammert beifüge:
Eine Krone (Hochzeit), ein Ring (Verlobung), ein Kreuz
(Unglück), eiu Herz (Liebe), ein Schlitten (Reife), ein
Orden (große Ehre), ein kleines Kind (Kindtaufe), ein
Stock (Heirat mit einer Civil-), Säbel (Heirat mit einer
Militärperson), eine Bretzel (Wohlstand), ein Geldstück
(gute Ernte), eine Fahne (Tod), da bei jedem Begräbniß
die Kirchenfahnen vorangetragen werden. Um zu erfahren,
wer von den Anwesenden zuerst das Dorf verläßt oder ver-
lassen muß, wählt man sich kleine Brodstückchen, legt sie
auf die Erde und läßt nun eine Katze herein; wessenBrod
sie zuerst berührt oder frißt, der ist der Betreffende.
Viele Bauern werfen in der Neujahrsnacht ihre
Schuhe zum Fenster hinaus, ziehen dann in Begleitung
der Wahrsagerin vor die Thüre und lassen sich beim Scheine
einer Laterne aus der Lage des Schuhes wahrsagen. Die
gegen das Haus gerichtete Spitze bedeutet Hochzeit, der
Alls Wilhelm Lejeans Reise
Absatz gegen das Hans Tod, die breite Seite große Reise,
der umliegende Schuh Unglück.
Junge Mädchen nnd Frauen gehen, ohne ein Wort zu
sprechen und ohne sich umzusehen, in den Hühnerstall,
nehmen ein schlafendes Huhn von der Stange, tragen es
in die Stube, wo sie es einigemal rasch umdrehen und dann
aus die Erde zwischen mehre Häufchen Korn stellen uud
fressen lassen. Von wessen Häufchen es zuerst frißt, der
macht bald Hochzeit, uud ist die Betreffende eine Frau, fo
erfolgt eine Kindtaufe. Frißt das Huhn sehr schnell, so
deutet das auf schnelle Hochzeit oder Kindtaufe, langsam,
aus späte; sieht sich das Huhn ängstlich dabei um, so soll
das aus viel Sorge uud Kummer deuten, und sind mehre
Hühner da und beißen sich, so folgt Zank in der Ehe.
Es ließe sich wahrlich eiu dickes Buch über die ver-
schiedenen Aeußerungen des Aberglaubens der Bessarabier
schreiben; doch mag des Vorstehende hier genügen.
Hat ein Mädchen das Unglück gehabt, irgend eine
traurige Nachricht bei dem gadatj zu erfahren, dann sieht
man die Arme oft wochenlang niedergeschlagen umher-
schleichen, ehe sich diese Eindrücke einigermaßen verwischt
haben; denn der Glaube an das Zutreffen solcher Prophe-
m Chartmu über Senuar x 333
zeinngen wurzelt so fest und tief, daß es den Freund der
Aufklärung viel Mühe kosten würde, deu Wahn zu befei-
tigeu. Auch hier hat der Pope seinen Vortheil; er läßt
gern die „weisen Frauen" ihr Wesen treiben und bestärkt
sie noch in ihrer Thätigkeit, da er für Alle, denen Unglück
prophezeit wurde, fleißig zu beten hat und für das Beten
Geld bekommt. *)
*) Es ist mit dem „Aberglauben" ein eigenes Ding; wir
finden ihn bei allen Völkern, 'anch im hochknltivirten Europa,
ulld in allen Kreisen und Klassen. Es wird überhaupt wenig
Menschen geben, die absolut frei davon wären. Schlimm
ist, wenn er;nr Verdummnng und zur Ausbeutnug der Men-
schen mißbraucht wird. Andrerseits ist er wissenschaftlich mld
poetisch vou hohem Interesse. Man erinnere sich nur daran,
welche Schätze in Grimms deutscher Mythologie und iil der
Mythologischen Zeitschrift enthalten sind. Welch eine reiche Fülle
poetischen Aberglaubens, nnd so kennzeichnend für das Ge-
müth des germanischen Wesens, finden wir auch in den: „Dent-
schen Pflanzensagen", gesammelt nnd gereiht von A. Ritter
v. Perger (in Wien), Stuttgart und Oehringen 1864; wir
ersehen auch daraus, wie eigentlich das ganze Anschannngs-
leben des Landvolkes vom Aberglauben dnrchdrnngen und durch-
zogen ist. Wir werden gelegentlich auf diesen Gegenstand näher
eingehen. ' ' A.
Der Nicim niam Basa. Der Ferdel Rahma
(Nach einer Zeichnung von Seiecut.)
Wir wollen nun erzählen, auf welchen! Wege und unter Die Straße zieht von Chartum aus in südöstlicher
welchen Verhältnissen es ihm möglich wurde, in den letzten Richtung unweit vom linken Ufer des Blauen Nil bis nach
Monaten des Jahres 1862 in das Reich des Negus zu Uad Mediueh. Dort zweigt sie sich; jene nach Osten
Aug Wilhelm Kjean» Reise von Chart»»» über Sennar ins ;»m Taim-Ace
in Abysfimcn.
Von Chartnm nach Nad Medineh. — Ein sudanesisches Dorf. — Karawanenwege. — Die Handelsstadt Mefsalamieh. — Sennar. —
Ein Nianl niam und ein Neger aus Fertit.— Die Tnssnirat-Steine. — Die Republik Gallabat.—An der abyssinischen Grenze. —
Der Belambras der Grenzprovinzen nnd seine Bnrg. — Blick ans den Tana-See.
Unsere Leser kennen die Abenteuer, welche Lejean am | gelangen. Der Weg ist auf jeder beliebigen Karte von
Hofe des Kaisers Theodor zu Gondar inAbyssinien erlebte. I Nordostafrika zu verfolgen.
334 Aus Wilhelm Lejeans Reise
führt nach Gadaref, jene nach Süden gegen Sennar.
Etwas nördlich von Uad Medineh traf der Reisende ein
echt sudanesisches Dorf; ein solches hatte er zuvor
nicht gesehen. In Nnbien bestehen die Ortschaften aus
viereckigen Häusern mit platten Dächern in einer offenen
Ebene; hier dagegen ist das Tnknl, Haus, mit einer
hohen und breiten Hecke -von trockenem Dornengesträuch
umgeben. Es ist allemal rund, aus gestampfter Erde
gebaut, hat ein kegelförmiges Strohdach und enthält außer
dürftigem Kochgeräth eiu paar Angareb, d. h. Gestelle
zum Ruhen, die mit Leder oder Stricken aus Palmenfasern
überzogen sind. Durch das Labyrinth von Hütten führen
fünf oder sechs enge und krumme Straßen, welche so ange-
legt sind, daß sie nur eilten Eingang haben, und dieser
kann gegen Feinde, welche nur mit Lanzen kämpfen, leicht
verthcidigt werden.
Das Land zwischen Fadassi und Uad Medineh ist
wellenförmig, und in der Nähe der Dörfer sind die Felder
gut bestellt. Auch die eben genannte Stadt trägt einen
echt sudanesischen Charakter, aus der Ferne nimmt sie sich
stattlich, im Innern dagegen recht erbärmlich aus; dazu
kommt die ungünstige Lage auf einer von Wasserläufen
eingerissenen Hochebene; sie sind je nach der Jahreszeit
entweder staubig, oder bilden tiefe Gießbäche und nachher
Moräste.
Der Ort zählt jetzt etwa 8999 Einwohner; als die
Aegypter 1822 das Reich Sennar eroberten, war er nur
ein sehr unbedeutender Platz. Die Aegypter erhoben ihu
aber zur Hauptstadt des sudanesischen Vicekönigreiches und
er war insofern ganz gut gewählt, weil man von ihm aus
sowohl Sennar und Gadaref, als auch Kordofau über-
wachen konnte. Die Aegypter baneten einen Bazar,
Kaferuen, Regieruugsgebäude und Moscheen und Alles
war gut, bis der alte Mehemed Ali herausfand, daß Char-
tun: am Zusammenflusse des Blauen und Weißen Stromes
eine ungleich vorteilhaftere Lage habe. So verlor Uad
Medineh seit 1835 feine künstliche Größe und behielt nur
einen Kaschef (Unterpräfecten) und eine Besatzung von
899 Mann Soldaten.
Immerhin ist einiger Verkehr da, weil sich hier mehre
Karawanenwege schneiden. So jener, welcher von
Chartnm nach Sennar führt; die Straße aus Kordofau
zum Rothen Meere über Uad Tfchelai, Abut, Uad Medi-
neh, AbuHaras, Gadaref und Kaffala. Beide treffen
einander fast in einen: rechten Wiukel; für die zweite ist
westlich vom Blauen Flusse die kleine Handelsstadt Abut
eine Hauptstation. Seitdem der Gummihandel von Kor-
dofan danieder liegt, hat diese Straße von ihrer frühern
Bedeutung Manches verloren. Der Karawanenweg, wel-
cher dem Nil entlang läuft, berührt deu Strom nur an
drei oder vier Punkten und zieht im Allgemeinen ändert-
halb Stunden von demselben entfernt. Das erklärt sich
aus deu vielen Krümmungen des Nils und weil die Ufer-
gegend mit Holz bestanden ist. Diese Straße ist ziemlich
öde bis etwa 5 Stunden von Chartnm; dann trifft man
auf die Ortschaft Dfchedid, die aus fünf stark bevölkerten
Dörfern besteht, und wo die Felder gut angebaut siud.
Bon dort ab trifft man manche Wohuplätze und gelangt
nach Meffalamieh.
Diese Stadt ist nächst Chartnm die wichtigste im
Sudan, bedeutender als Seuuar, Kaffala, Berber und
Lobe'id. Durch sie ist auch Arbaghi, das am Strome
selbst liegt, überflügelt worden. Der Araber bauet feine Ort-
fchaften nicht gern an den Flüssen, sondern lieber entfernt
von denselben, während die herrschenden Aegypter zur An-
läge ihrer officiellcu Stationen gern die Ufergegend wählen.
on Chartum über Sennar
Aber der Verkehr geht seinen eigenen Weg, und während
Sennar, Halfa'ia und Schendy sanken, kamen Gadaref,
Ued Heffuna und Meffalamieh empor. Das letztere
zählt 18,999 Einwohner und scheint sich noch immer mehr
vergrößern zu wollen. Der große Markt wird am Dienstag
abgehalten; Hauptwaaren aus demselben sind Getreide (die
Durrah) und Damnr, d. h. grobe Banniwollenzeuge,
welche von dm Frauen der Nomaden verfertigt werden.
Elfenbein und allerlei andere Waaren kommen nicht auf
den Markt, sondern werden in den Häusern verkauft. Die
einheimischen Handelsleute besitzen nur geringe Kapitalien,
aber mehre große Tndjar aus Chartum, und die Corpo-
ration der Hadarba in Suakiu hält dort Comptoire und
macht namentlich in Elfenbein und Gold staub Ge-
fchäfte.
Lejeau zog von Uad Medineh durch eine ebene, frncht-
bare und gut bevölkerte Gegend nach Sennar, der alten
Hauptstadt der Fugu (Fundj). Diese sind ein Neger-
Volk und besonders deshalb merkwürdig, weil sie das
einzige Beispiel in der ganzen Weltgeschichte
liefern, daß ein Negervolk, und zwar drei Jahrhunderte
hindurch, über Volksstämme geherrscht hat, die intelleetuel
höher stehen und edleres Blut haben („sang superieur").
Die Stadt bildet ein wirres Durcheinander von Wei-
lern, die auf einem unebenen, von Regenfchlnchten zer-
riffeneu Boden stehen; die Häuser sind runde aus Lehm
aufgeführte Tukuls mit spitzen Strohdächern; die halb in
Trümmern liegende Moschee ist aus Backsteinen aufgeführt.
Der ägyptische Conunandant war ein wohlwollender, ver-
ständiger Mann, der schon seit 27 Jahren im Sndan ver-
weilte; das ungesunde Klima hatte ihn angegriffen und
abgemagert.
Der Reifende hatte tu Sennar vollanf Gelegenheit zu
interessanten ethnographischen Beobachtnngen. Dort stand
ein Negerregiment, das aus Leuten sehr verschiedener
Völkerschaften zusammengesetzt war. Unter ihnen fand
Lejean einen jungen Niam niam, der natürlich keinen
„Schwanz" hatte. Er war ein kräftiger Mensch von
schwärzlich brauner (bistre) Hautfarbe und hatte nichts
vom Neger; vielmehr erinnerte er an die Penlhs oder
Fellata, deren viele im Sudan vorkommen. „Es sollte
mich durchaus nicht überraschen, wenn künftig eine Erfor-
fchung dieses merkwürdigen Stammes der Niam niam zu
dem Ergebnisse führte, daß zwischen ihnen und den Penlhs,
die jetzt den ganzen westlichen Sudan beherrschen, eine nahe
Verwandtschaft vorhanden sei."
Einen andern, gleichfalls sehr interessanten Typus bot
ein Fertit dar. Dieses Volk wohnt im Süden von Dar
Für; es feilt die Zähne spitz und so gleicht der Mund
einem Krokodilsrachen. Der Mann sagte, er sei ein
K o n d f ch a r a - F e rt i t. Kondfchara ist der Nationalname
der Darfurier, und dieser Soldat war wohl ans den süd-
lichen Provinzen von Dar Für gebürtig. Lejean wollte
ihn veranlassen, in seiner Muttersprache zu reden und ein
Voeabnlarium, das bis jetzt ganz fehlt, niederschreiben;
der Schwarze sagte aber, er habe sie ganz vergessen. Er
hieß Rama und seine Intelligenz war sehr schwach. Da
war ein zweiter Niam niam aus dem Laude der Maka-
raka, südlich vou Gondokoro, ein ganz anderer Mann.
Der Name Niam niam, sagte er, gehöre für die Leute,
welche im Westen eines großen Flusses leben, den er Nzoro
nannte; sein Stamm rede aber mit denselben einerlei
Sprache; beide sind also wohl blutsverwandt. Er erzählte,
sein Volk bete Uru, die Souue, an, oder bezeichne doch so
die Gottheit.
Auf einer vor etwa zehn Jahren veröffentlichten Karte
Ans Wilhelm Lejecms Reise
des Herrn von Henglin sind „ä gy pti sch e Alt erthüm er"
verzeichnet, die einige Stunden westlich von Sennar liegen
sollen. Lejean erkundigte sich nach denselben und erfuhr,
daß an einem gewissen Punkte in den Sagadibergen
Tessuirat, d. h. Bilder, Statuen, vorhanden seien. Die
Angaben waren aber sehr unbestimmt; der Reisende ver-
mnthete eine Mystification, er wollte aber doch die Sache
näher untersuchen. Der ägyptische Commandant, jener
von Chattnm über Sennar sc. 335
Bäumen beschattet und unter diesen rasten oft die halb-
nackten Hirten mit ihren Heerden. Sie gewährt dann
einen sehr malerischen Anblick.
Nach einem Ritte von etwa neun Stunden wurde die
Gegend wüst und öde, und am zweiteil Tage kam Lejean
an ein verlassenes Dorf, das ani Fuß einer kleinen, steil-
abfallenden Bergkette lag. Diese heißt Sagadi, ittxb dort
zeigte man ihm die berühmten Tessuirat. Sie siud
Die Tessuirat-Steine am Sagadigebi
wackere Türke Ibrahim, stellte ihm zwei Kawassen zur Ver-
fügung und einen kräftigen Esel obendrein, und so ritt er
denn gerade nach Westen hin nach den Sagadibergen
durch ein flaches, ziemlich gut angebautes Land. Unter-
Wegs fand er manche Fulahs, große ausgegrabene Be-
hälter, deren Seiten aus hartgeschlageuem Lehm bestehen,
und in welchen man von einer Regenzeit (Charif) zur an-
dern das für Menschen und Vieh nöthige Trinkwasser auf-
bewahrt. Gewöhnlich ist solch eine Fula vou einigen großen
(Nach einer Zeichnung von Lejean.)
weiter nichts als seltsam auf- und übereinander gestellte
Granitblöcke, die aus einer gewissen Entfernung betrachtet
aussehen, wie eine in ein weißes Gewand gekleidete ara-
bische Frau mit ihrem Kinde. Die Sennarier sagen, sie
fei eine Prinzessin, welche der Himmel wegen ihrer Gott-
losigkeit und ihres Hochmuths tu Stein verwandelt habe.
Voll dem Gipfel eines Berges, welcher höher liegt als
die Tessuirat, übersah Lejeau eine sehr ausgedehnte Land-
schaft. Nach Süden schweifte der Blick über eine bewaldete
336 Aus Wilhelm Lejeans Reise
Ebene in der Richtung nach dem Weißen Strom hin; jen-
seits der Wälder erheben sich vereinzelte, niedrige Berge,
welche den arabischen und Denka- Hirten als Landmarken
dienen. Am Fuße des Sagadi selbst lagen einige ver-
lassene Fnlas, auch sind dort Ruinen von einer Kenise,
Kirche, aus der Zeit, da im Sennar Christen wohnten.
Sie ist jedenfalls eiu sehr einziges Gebäude gewesen, aber
der Blick ruht mit einer gewissen Theilnahme auf einer
christlichen Ruine, die hier, ties im Lande der Schwarzen,
liegt. „Was nach und nach aus dem Volk hu Sennar
geworden ist, das scheiut mir auf die Verkommenheit hinzu-
deuten, welche auch über Abyssinien kommen müßte, wenn
es, bei seiner ties eingewurzelten Anarchie, einst den Aegyp-
tern zur Beute werden sollte."
m Chartum über Sennar «.
Basel gebildet, der andere war ein Engländer, Namens
Duston. Bei ihnen" sand der Reisende die allerbeste Auf-
nähme. Duston war so recht ein Urbild jener kalten und
zähen Enthusiasten, dergleichen man eigentlich nur unter
den Engländern findet. Als Sohn eines reichen Fabri-
kanten in Leeds hatte er eine einträgliche Stellung bei der
Bank in Nork, aber er verspürte einen unwiderstehlichen
Drang zum Reisen und zum Missioniren in sich, eine Folge
des Lesens der Werke von Krapf und Livingstone. Mit
nur acht Guineen in der Tasche hatte er England verlassen,
war nach Schwaben zu Kraps gegangen und dieser hatte
ihn ermuntert, die Gallas zu evangelisiren. Also ging er
zuerst nach Aegypten, diente als Kellner in einem Gasthofe
zu Kairo und begab sich nach Chartum, von wo er „unter
Der Tana-See in Abyssinien bei Sturmwellen- (Nach einer Zeichnung von Lejean.)
Gegen Ende Oktobers verließ der Reisende Sennar
und ging nach Gallabat, einem während der letztver-
slossenen Jahre oft besprochenen kleinen Lande, das beträcht-
lichen Handel treibt. Dasselbe ist ein Zankapfel zwischen
den Aegyptern und Abyssiniern. Auf dem Wege dorthin
überschritt Lejean den Blauen Nil, den Bender und den
Rahad; die beiden letzteren konnte er durchwaten, weil der
Wasserstand sehr niedrig war. Der Rahad war am
13. November noch ein Torrent; drei Monate später ist
sein Bett ganz trocken. Das Land war mit Durrah,
Saham und Baumwolle bepflanzt. In dem großen Dorfe
Gallabat wurde sechs Tage Rast gehalten. Lejean traf dort
zwei Europäer; der eine hieß Ei perle, ein aus Baden
gebürtiger Missionär, und in der Anstalt Krischona bei
Gottes Gnade" abzog, mit drei österreichischen Krön-
thalern in der Tasche und einen Esel vor sich hertreibend,
der sein dürftiges Gepäck trug. Lejean nahm ihn als
Secretär an; er war ein wohlerzogener, unterrichteter
junger Mann und fest von der Ueberzeugung durchdrungen,
daß er eine religiöse Pflicht erfülle. Bei völliger Seelen-
ruhe hatte er eine unverwüstliche Heiterkeit, die in einem
solchen Land und unter solchen Umständen von nnschätz-
barem Werth ist.
Die kleine Republik Gallabat ist von mohamme-
danischen Negern gegründet worden, die als Pilger ans
dein Sudan nach Mekka gegangen waren und aus dem
Heimwege hier zurückblieben. Die erste Gruppe dieser
Takruris erhielt die Erlaubniß zur Ansiedelung von den
Aus Wilhelm Lcjeaus Reise voll Chartuin über Sennar :c.
abyssinischen Statthaltern der Provinz Tschelga, und von
dieser ist Gallabat stets mehr oder weniger abhängig
gewesen. Lejean machte dem alten Scheich Schnma einen
Besuch; er ist das halb erbliche, halb gewählte Oberhaupt,
war eiu ganz stattlicher Neger von etwa 60 Jahren und
fegte, als der Fremde in seine.Behausung eintrat, gerade
seinen Hos rein. Während er seinem Gast Erfrischungen
anbot, ließ er sich in seiner Arbeit nicht stören.
Die Lente von Gallabat stehen mit ihren Nachbarn
nicht auf gutem Fuße. Vor nun etwa drei Jahren hatten
599 abyssiuische Reiter einen nächtlichen Einsall gemacht,
um zu rauben, es war aber deu Takruris gelungen, diese
Banditen zn umzingeln uud eiu paar hundert derselben
aus Lanzen zu spießen. Wenige Wochen später kam der
In dieser Waldgegeud überschritt Lejean den Gandova,
der noch hochangeschwollen war, ruhte unter einem hohen
Tamarindenbaume und gelangte spät am Abend an den
Fuß eines jener „Bastionenplateaur" (er meint die Am-
bas), aus welchen ein großer Theil Abyssiniens besteht.
Mit Mühe klimmte er hinan uud kam am andern Morgen
nach Wochne, der ersten abyssinischen Dorfschaft. Dort
wird ein berühmter Wochenmarkt abgehalten, auf welchem
die Neggadeh, d. h. abyssiuische Kaufleute, die aus dem
Sennar und Gallabat angebrachte Baumwolle einhandeln.
Während Lejean und der Engländer unter einem
Baume ruhten, gingen die Führer zum Nagadras, dem
Ortsvorsteher, welcher zugleich die Zollangelegenheiten zu
besorgen hat. Dort trat eiue Abyssinierin zu den beiden
Aotdouiva, supcrba. (Nach
Missionär Stern über das Schlachtfeld und sah, wie die
Leichen den gefräßigen Geiern zum leckern Mahle dienten.
Der Weg von Gallabat nach Abyssinien führt anfangs
durch einen dichten Wald, durch welchen man drei Tage
lang reisen muß. Er bildet eine Art von Grenzgebiet,
das oftmals Blut der Abyffinier, Sennarier und Türken
getrunken hat. Dort liegt die Ortschaft Abu Galambo,
wo eiust eine Schaar Äegypter von dem abyssinischen
Kriegshelden Dedschas Konsn bis auf den letzten Mann
niedergehauen wurde. In dieser Schlacht kamen homerische
Scenen vor. Ein Häuptling der mit den Aegypten: ver-
bündeten Dabameh wurde von einem abyssinischen Offizier
zum Zweikampf gefordert und hieb denselben auf einen
Streich mit seinem wuchtigen, zweihändigen Schwerte buch-
stäblich auseinander.
Globus IX. Nr. 11.
einer Zeichnung von Lejean.)
Christen heran, zog ein kleines Metallkreuz hervor, das sie
au einem blanen Band auf der Brust trug, und fragte
bescheiden über die Dengel Mariam. Der Franzose
antwortete, Dengel (die Jungfrau) Mariam sei Jesu
Christi Mutter.
Lejean macht bei dieser Gelegenheit folgende Bemer-
knng: „Die Abyssinier hegen eine leidenschaftliche Ver-
ehrung für die Jungfrau. Die deutscheu uud englischen
Missionäre haben mit ihrer kalten und drückenden Logik
unvorsichtiger Weise gegen dieses nationale Gefühl ver-
stoßen, uud ich glaube, daß darin zu nicht geringem Theil
ihr Mangel an Erfolg in Abyssinien gesucht werden muß.
Es ist notorisch, daß sie niemals auch nur einen einzigen
Proselyten gemacht haben."
Der Nagadras kam und erhob allerlei Anstände; die
43
338 K. v. Koseritz: Zur Hydrographie de,
Fremden hätten keine Erlaubniß, Abyssinien zu betreten;
er müsse bei seinem Vorgesetzten, dem Belambras
Gnelmo, Großstallmeister der Krone, anfragen; dieser sei
Markgraf der vier Grenzprovinzen Tschelga, Sarago, Da-
gossa und Ermetschoho. Bis aus Weiteres internirte er
die Reifenden im Dorfe Kamanchela, auf einer Hochebene,
zu welcher ein Schwindel erregender Pfad hinaufführte.
Dort wurden vier angenehme Tage verlebt und dann die
Reisenden unter Geleit nach Tschelga abgeführt, wo sie bei
einem Platzregen ankamen und, weil sie keinen Paß hatten,
bis aus Weiteres unter einem Baume auf höhern Befehl
warten sollten. Sie mietheten aber ohne Bedenken ein
Hans, und als man sie daran verhindern wollte, borte
Dnfton einen Abyssinier zu Boden, wurde dann aber von
einein andern zur Erde geworfen. Am Ende erhielten sie
aber dennoch ein trockenes Obdach; der Satrap von
Tschelga hielt sie dort neunzehn Tage fest, weil er angeblich
Befehle von Seiten des Negns abwarten müsse. Endlich
ließ er sie ziehen und am Abend kamen sie in ein mohamme-
danisches Dorf. Die Anhänger des Propheten von Meeea
befinden sich in Abyssinien in einer ähnlichen Lage, wie die
Christen in der Türkei; Lejean lobt sie.
Nun erreichte er den Rand der Dega, des eigentlichen
abyssinischen Plateaus, und befand sich der Amba gegen-
über, auf welcher die Burg des Belambras stand.
Der Anblick war wunderbar großartig. In einer Ebene
erhob sich, steil wie eine Mauer von etwa 890 Fuß Höhe,
eine Amba empor. Weiterhin lagen bewaldete Hügel
und Thäler, aus welchen viele Bäche zum Goaug fließen,
der in den mohammedanischen Gegenden Atbara genannt
wird. Ein weit vorspringender Felsen mit einer großen
Platsorm lehnt sich an die Dega an. Auf diesem abyssi-
nischen Gibraltar haust der erste Baron des Reiches
rutd hält mit barbarischem Pomp einen kleinen Hos, wie
etwa einst die merovingischen Herzöge. Ueberhanpt gemahnt
in Abyssinien Vieles an die Zustände unseres frühern
Mittelalters.
l.' brasilianischen Provinz Malte Gresso.
Der Belambras empfing die Reisenden. Er stammt
aus dem Geblüte der Kamants. Diese sind in der
Provinz sehr zahlreich, Leute von ungewisser Herkunft, und
man kann sie in gewisser Hinsicht mit den Zigeunern ver-
gleichen. In der Hand hielt er ein Gefäß von antiker
Form; er war stark angetrunken, munterte auch die Frem-
den auf, sich eine Güte zn thnn, erlaubte die Weiterreise,
schickte gegen Abend Hämmel, Meth und Brotkuchen, und
sehr befriedigt kehrte Lejean am andern Tage nach Tschelga
zurück.
Während des Aufenthalts in diesem Orte hatten die
Reifenden Muße genug zu Ausflügen. Anderthalb Weg-
stunden von Tschelga, auf dem Gipfel des Oali Dabb a,
erblickte Lejean zum erstenmale die schimmernde Ober-
stäche des Tana Sees, „einen Saphir in smaragd-
grünem Nahmen".
Dieser berühmte See, aus welchem der Blaue Nil
kommt, bildet eine sehr tiefe, vulkanische Mulde oder viel-
mehr Kufe, und die Stürme auf ihm sind fürchterlich. Er
empfängt nicht weniger als 20 Flüsse, welche während des
Sommerregens eine ungeheuere Menge Schlammes in ihn
wälzen, aber die Umrisse des Sees haben dadurch bis jetzt
keine merkliche Veränderung erfahren. Auf den Eilanden
liegen Kirchen rmd Klöster zwischen Bäumen und Gebüsch,
und iu der Mitte erhebt sich cht runder, nach dem heiligen
Stephan benannter Berg. Auf den beiden flachen Inseln
Dek werden die abyssinischen Bischöfe begraben.
Das Jahr 1862 war zu Ende gegangen und Lejean
konnte seine Reise nach Gondar fortsetzen. Wir haben
seine Erlebnisse beim König Theodor bereits geschildert
(S. Globus IX, S. 26!)). Er hat seinem Bericht im
Le Tour du Monde eine Anzahl von Pflanzenabtheilnngen
beigefügt, unter denen sich auch jeue der Methouica superba
befindet. Er gibt indessen keine nähere Beschreibung dieser
Blume.
Zur Hydrographie der brasilianischen Provinz Matto Grosso.
Von Karl von Koserih.
' II.
Die Wasser- und Schiffahrtsverbindungen im Stromgebiete des Paraguay-La Plata.
Wenn wir uns nun dem Stromgebiete des La
Plata zu wenden, so finden wir zuerst den Parana,
welcher aus dem Zusammenflusse des Rio Grande und
des Paranahyba entsteht. Die Schifffahrt auf dem
Parana ist unbehindert bis zum Wasserfalle Urubupung^,
eine Meile oberwärts der Mündung des Tiet6. Von dort
abwärts gibt es kein Hinderniß mehr bis zum Wasserfalle
Seto Onedas, der nicht umgangen werden kann; oberhalb
desselben ergießt sich der Jquatemy (der Grenzfluß gegen
die Republik Paraguay) iu den Parana. Auf dieser ganzen
Strecke von etwa 80 Meilen befindet sich keine einzige
Ortschaft an den Ufern des Parana, auf der rechten
Seite jedoch erhält er verschiedene Zuflüsse aus Matto
Grosso, welche diese Provinz durch den schiffbaren Tieto
nüt S. Paulo, und durch den Paranapanema und den
Uvafy mit der Provinz Parana in Verbindung setze».
Die Schifffahrt auf dem Tiet« ist schon alt; die Entdecker
von Matto Grosso kamen diesen Fluß hinauf und während
langer Zeit erhielt Cuyaba alle seine Zufuhren auf diesem
Wege über S. Paulo. Von Porto Feliz, wo die Schiff-
fahrt des Ttete beginnt, bis zu seiner Mündung in den
Parana rechnet man 144 portug. Meilen und man muß
54 Wasserfälle passiven! Im Mai des Jahres 1839
machte Herr Leverger diese Reise mit beladenen Kähnen
in 44 Tagen. Die neuesten Expeditionen wurden (1858)
in der Stadt Constitnicao ausgerüstet und fuhren den
K. v. Köstritz: Zur Hydrographie der brasilianischen Provinz Matto Grosso. 339
Piracieaba hinab, der 40 Meilen unter Porto Feliz in
den Tiet6 mündet. Unterwärts der Mündung des Tiet«
ergießt sich der Sucuriu auf dem rechten Ufer in den
Paranä; er ist ebenfalls schiffbar, wird jedoch nur von den
Bewohnern der Ufer desselben benutzt. Dasselbe ist der
Fall mit dem Rio Verde, der 13 Meilen abwärts vom
Sucuriu mündet. In dem Räume zwischen diesen beiden
Flüssen entwickelt sich im Paranä bei Jupiä ein äußerst
gefährlicher Strudel, der schon manchen: Schiffer das
Leben gekostet und manche Ladnng verschlungen hat.
20 Meileu abwärts vom Rio Verde mündet der Rio
Pardo, auf dem die Schifffahrt von Porto Feliz nach
Cnyabä reicht. Von diesem Flusse aus kann man auch
nach dem Paraguay gelangen, indem man den An-
handuhy, der auf seinem rechten Ufer mündet, hinauf-
schifft und in die Nähe des Mboteteu gelaugt, auf dem
man sodann bis in den Paraguay kommt. Der Nio Pardo
enthält 33 Wasserfälle, die eine Strecke von 24 Meilen
einnehmen. 27 Meilen unterwärts des Rio Pardo findet
man die Mündung des Paranapanema auf dem linken
Ufer, der das Fort Miranda in Matto Grosso mit der
Ortschaft Jatahy, am Flusse Zibagy in Parauä (60
Meilen von Curitibä) in Verbindung setzt und der ganz-
lich schiffbar ist; die Ausdehnung der Fahrt von Jatahy
nach dem Parcmä beläuft sich aus etwa 35 Meilen.
Sechs Meilen unterwärts des Paranapanema mündet
der kleine Fluß Samambaia, von dem man durch einen
Arm desselben in denJvinheima gelangt, der 10Meilen
weiter abwärts in drei Armen in den Paranä mündet.
23 Meileu aufwärts von seiner Mündung nimmt der
Jvinhcima den Rio daVaccaria auf und 12 Meilen
weiter auf der entgegengesetzten (rechten) Seite den D oura-
dos, an welchem vor einigen Jahren eine Militärcolonie
gegründet wurde. Noch 9 Meilen weiter nimmt der Jvin-
heima den Santa Maria auf und nach 11 Meilen
Schifffahrt gelangt man zum Hafen San Jos4, der an
dem Kanal liegt, welcher nach den Quellen des Paraguay
führt, wie wir weiter unten sehen werden.
Zehn Meilen unter der Mündung des Jvinheima
nimmt der Paranä den Uvahy auf, dessen Schifffahrt
günstiger als die des Paranapanema sein soll und der so-
eben untersucht wird; weiter 20 Meilen abwärts mündet
aus der rechten Seite des Paranä der Jgatemy, wo ehe-
mals das Fort Noffa Senhora dos Prazeres lag.
Obige Angaben sind den besten Quellen entnommen,
doch kann ich die gänzliche Richtigkeit der Entfernungen
nicht verbürgen, da viele ältere Angaben von einander
abweichen.
Der wichtigste Fluß für Matto Grosso ist unzweifel-
Haft der mächtige Paraguay. Im Gebiete dieses Flusses
wohnen % kev ganzen Bevölkerung der Provinz und
nehmen dort einen Raum von 1600 Quadratmeilen ein.
Dieses große Thal ist im Westen durch den Paraguay, im
Osten durch den S. Lourenyo begrenzt, während es vom
Cnyabä durchschnitten wird. Die Dampsschifffahrt
findet von der Mündung des La Plata bis Euyab6,
Villa Maria und noch weiter aufwärts in einer
Ausdehnung von 700 Meilen statt. Leider ist die Dampf-
schifffahrt aus dem Paraguay vielen Unterbrechungen unter-
worfen, so lange in der Republik Paraguay Lopez herrscht,
der noch vor Kurzem in vollem Frieden ein brasilianisches
Packetschiff, den „Marquis de Olinda", wegnehmen und die
Passagiere, unter denen sich der Präsident von Matto
Grosso befand, gefangen nehmen ließ. Während des Krie-
ges ist die Schifffahrt gänzlich unterbrochen, wenn jedoch
Paraguay einmal eine humanere und aufgeklärtere Regie-
rung bekommt, dann ist es natürlich, daß ein Kanal
zwischen dem Cnyab-i und dem Aragnaya ge-
baut wird, welcher den Amazonenstrom in
direkte Dampfschifffahrtsverbindung mit dem
La Plata setzt.
Im Jahre 1537 ging die erste spanische Expedition
den Paraguay hinauf, um nach Peru zu gelangen; bis
1560 kamen die Spanier nie weiter als bis zur Mündung
des J a urn. Von dortging 1560 eine neue Erpedition unter
Nu no de Cha res weiter aufwärts und gründete, die Pro-
vinz Chiquito durchschneidend, die Stadt Santa Cruz de
la Sierra. AmEnde des 17.Jahrhunderts gelangten die
wackeren Sertanejos (Urwäldler) von Sao Paulo
vermittelst des Tiete, des Rio Pardo, des Anhandnhy und
des Mbotetei! nach dem Paraguay, und selbst nach der
Gründung von Cuyabki sichren sie noch fort diesen Weg zu
benutzen; doch waren diese Expeditionen sehr gefährlich, da
die Payaguas (in der Schifffahrt erfahrene Indianer)
und die Guaycurus (berittene Indianer) dieselben oft
anfielen und viel, sehr viel Blut hat in jenen Zeiten die
Wasser des Paraguay und seiner Zuflüsse geröthet.
Im Jahr 1754 wurde au der Ntüuduug des Jaurä
ein Grenzstein errichtet, der noch dort zu seheu ist. Schou
1761 wollte man am Orte Fecho dos Morros oberhalb der
Mündung des Rio Apa ein Fort gründen, doch kam der Plan
erst 1775 zur Ausführung und zwar nicht am selben Orte,
sondern weiter aufwärts; es ist das Fort Nova Coi mbra,
welches noch heute vorhaudeu und während des gegenwär-
tigen Krieges von den Paraguayern erstürmt worden ist.
Anno 1786 wurde die OrtschaftAlbuquerque gegründet,
die heute Eorumba, geuauut wird und ein brasilianisches
Zollamt hat. In demselben Jahre wurde auf dem linken
Ufer des Paraguay dicht an seinen Quellen das Städtchen
Villa Maria gegründet. 1783 veranlaßte die Demar-
cationscommission eine Untersnchnng des Flusses und
zeichnete eine Karte desselben, die vom Jauru bis zuBahia
Negro reicht und von der mir ein Eremplar vorliegt. Die
Spanier gründeten 1794 ans dein rechten Ufer das Fort
Bonrbon, welches heute Fort Olympo heißt und im
Besitze der Republik Paraguay ist. Von Afuncion, der
Hauptstadt von Paraguay, aus sind häufig Schiffe nach
Cuyabä und Villa Maria gegangen.
Das erste Dampfschiff, welches bis in die brasilianischen
Wasser des Paraguay, d.h. über das Fort Bourbon hinaus-
gedrungen ist, war der uordamerikanische Steamer
„Water witch" im Jahre 1853, der im Auftrage seiner
Regierung die Nebenflüsse des La Plata untersuchte; er-
ging übrigens nur bis Albuquerque (Cornmba); 1859
kam derselbe Kommandant (Jefferson Page) mit den
Dampfern „Argentina" und „Alpha" wieder und setzte
seine Fahrten auf dem obern Paraguay, dein S. Lourcu90
und dem Cnyabä fort. Von 1856 an wurde die Dampf-
schifffahrt nach Euyabä lebhafter und sie ist nur in Folge
des Krieges mit Paraguay zeitweilig unterbrochen worden.
Der obere Paraguay ist bisher nur bis zur Mündung des
Seputuba erforscht worden, doch glaubt man, daß der-
selbe bis zu den Tres Barras, wo am linken Ufer der
Branado mündet, schiffbar sei. Der Sepntnba ist ein
bedeutender Flnß; oben genannter Dampfer „Alpha"
konnte 17 Meilen in ihm aufwärts schiffen. Villa
Maria liegt 5 Meilen von der Münduug des Seputuba
und 13 Meilen abwärts finden wir die Mündung des
Janrä. Dieser Fluß ist schiffbar bis in die unmittelbare
Nähe der Ortschaft Registro, wo eine äußerst reiche
Kupfergrube liegt, die gegenwärtig nicht bearbeitet wird.
Etwa 50 Meilen entfernt liegt der See Uberava,
43 *
340 K. v. Koseritz: Zur Hydrographie der
Welcher durch einen schiffbaren natürlichen Ka-
nal mit dem Paraguay in Verbindung steht; dieser
See hat eine Ausdehnung von anderthalb Meilen und ist
von endlosen Sümpfen umgeben. Vier Meilen südlich
vom Uberava liegt der See Gaiba, der mit jenem durch
einen andern, ebenfalls schiffbaren Kanal zusammen hängt.
Zwischen dem Kanal und dem Paraguay befindet sich das
kleine Gebirge Jesu-5. Der See Gaiba steht mit dem
Paraguay iu Verbindung und von seiner Mündung bis
nach Dourados zieht sich ein Felsengebirge. Dieser Thcil
des Paraguay ist oft durch Treibholz, schwimmende In-
fein k. fo sehr verstopft, daß die Schifffahrt unmöglich
wird.
Abwärts von der Mündung des Gaiba nimmt der
Paraguay den S. Louren^o mit seinem Nebenflusse
Cuyab-i auf. Bis zur Mündung des Cnyab-i können den
S. Louren?o dieselben Schiffe befahren, die den Paraguay
hinaufsegeln. Bis zur Stadt Cuyabck können Dampfer
vou 2 bis 2Y2 Fuß Tiefe zu jeder Zeit des Jahres gehen;
weiter aufwärts liegen viele Wasserfälle, welche die
Schissfahrt unmöglich machen. Von der Mündung des
Cnyab-i aufwärts ist der S. Loureu(?o etwa 10 Meilen
weit für Kähne schiffbar und nimmt 12 Meilen hinter der
Barre des Cnyab-i den Jtiqnira auf, der die Nebenflüsse
Correntes und Piquiry hat. Etwa 5 Meilen abwärts
von der Mündung des S. Lourenxo liegt das kleine Fort
Dourados; 21 Meilen abwärts finden wir auf dem rechten
Ufer die Stadt Albuquerque, heute, wie schon gesagt,
Corumba genannt. Fast 5 Meilen abwärts von Corumba
befiudet sich dieMüuduug des kleinen Kanales Paraguay-
Mirim, und 6 Meilen weiter die des Flusses Jaquary,
der in vielen Armen in den Paraguay mündet. Der Ja-
qnary ist schiffbar bis zur Cachoeira (Wasserfall) derBarra,
wo sich jetzt eine kleine Ortschaft bildet, weiter 80 Meilen
aufwärts nur für Kähne, denn er enthält 23 Wasserfälle^
kann aber künftig zur Kommunikation mit dem Flußsysteme
der Provinz San Paulo dienen.
Wieder 5 Meilen unterhalb der Mündung des Jaquary
mündet der ehemalige MbotetLu, der 1776 Mondego
benannt wnrde und heute meisteus als Mirauda bezeich-
net wird; an seinem rechten Ufer befindet sich der Flecken
Mirauda mit einigen Festungswerken. Bis zu einer Ent-
sernuug von 23 Mellen von der Mündung ist der Fluß
zu jeder Jahreszeit für kleinere Fahrzeuge schiffbar; von
da an aufwärts ist die Sache schwieriger, wenngleich schon
öfters Dampfer bis Miranda gegangen sind.
Von der Villa Mirauda bis zur Mündung des Neben-
flnsses Nieae ist jener für Kähne schiffbar. Die Pan-
listen, welche ehemals über den Rio Pardo und
Anhandnhy herunterkamen, zogen den nördlichen, Aqitt-
d entern et genannten Arm des Mondego vor, um zum
brasilianischen Provinz Matto Grosso.
Anhandnhy zu gelangen. Im Jahre 1839 hat man einen
neuen Versuch gemacht, diesen Weg wieder einzuschlagen,
doch war die Sache zu umständlich, um fortgesetzt zu werden.
2 Meilen unterhalb der Mündung des Mondego liegt das
Städtchen Albuquerque, welches den besten Hasen von
Matto Grosso hat. Ans demselben Ufer (dem rechten) liegt
14Meileu weiter abwärts das Fort Coimbra auf eiuem
Felsen, in dessen Innern sich die berühmte Höllengrotte
(Gruta do Inferno), vielleicht die größte Höhle der Welt,
befindet.
Weiter 10 Meilen abwärts von Coimbra finden wir
einen See, der mit dem Paraguay in Verbindung steht und
Bahia Negra genannt wird. Von dort bis zum Rio
Apct gibt es keine Wisse, sondern nur unbedeutende kleine
Bäche, die der Erwähnung nicht Werth siud. Etwa 29
Meilen unterhalb des Bahia Negra liegt das zu Paraguay
gehörende Fort Olymp0 (früher Bourbon) und 11
Meilen weiter abwärts der Ort Fecho dos Morros; —
19 Meilen unterhalb dieser Ortschaft mündet auf der
linken Seite der kleine Fluß Apa, der die Grenze zwischen
dem Kaiserreiche Brasilien und der Republik Paraguay
bildet und über den wir nicht hinausgehen, da der gegen-
wärtige Aufsatz nur ein hydrographisches Bild der Provinz
Matto Grosso, nicht aber des Stromgebietes des ganzen
Paraguay bieten soll.
Aus dieser kurzen Schilderung ersieht man hinreichend,
welche blüheude Zukunft diese weit ausgedehnte Provinz
haben kann, wenn einst alle ihre Flüsse und Ströme der
Schifffahrt eröffnet fein werden. Zum Schlüsse gebe ich
noch eine Aufzählung der Entferuuugeu von Cnyabä, bis
Montevideo:
Vou der Stadt Cuyabä bis zur Mündung des
Flusses in den S. Loureuxo .... 78
Von der Mündung des Cuyaba bis zu der des
S. Lourenyo in den Paraguay ... 27
Von der Mündung des S. Lonrenyo bis Co-
rumba ........... 36
Von Corumbä bis Olympo..........72
Von Olympo bis zur Mündung des Ap-i . 30
Vom Apa bis Salvador (in Paraguay) . . 23
Vou Salvador bis Couceicao (iu Paraguay) 17
Vou Couceicao bis Asnncion (in Paraguay) 3!)
Vou Asuucion bis Cerrito............67
Vou Cerrito bis zur Stadt Corrientes (Pa-
i'cntä)....................5
Von Corrientes bis Rosario.....153
Von Rosario bis znr Insel Martin Garcia . 63
Von Martin Garcia bis Montevideo (La
Plata)............40
Von Cnyabä bis Montevideo.....650
Ein deutsches Schiffer Volk,
341
Ein deutsches
Von einem
Der Darß und die Insel Zingst.
Die Grenze zwischen dem mecklenburgischen Fischlaude
und der zu Pommern gehörigen Halbinsel ,,ber Darß"
wird gebildet von einem unbedeutenden Graben. Er läuft
in einer schmalen Wiesenniederung, die sich zwischen der
Ostsee und dem Binnengewässer, welches von hier an
den Namen Saaler Bodden führt, hinstreckt. Diese
zwischen 5 und 15 Ruthen breite Niederung soll ehedem
beide Seen schiffbar mit einander verbunden haben, und
noch heute heißt sie Störtebekers Hafen.
„Störtebeker un Gödke Michaelen
Dat nnevit (waren) twe Rovers to glike Deelen (zu
gleichen Theilen),
To Water un to Lanne.
Sc rooten so lang, dat't Gott verd'.vt (verdroß),
Daar wurrn se tö Schanne (zu Schanden),"
So heißt es im alten Volksliede von dem gewaltigen
Kämpen, dessen Name noch hente an allen unseren See-
küsten wohl bekannt ist. Störtebeker war ein Ober-
ansührer der Vitalienbrüder, ans „der Wismar" gebürtig,
und lebte in der ersten Hälste des 15. Jahrhunderts. Nach
heftigem Kampfe besiegten und fingen ihn endlich die Ham-
burger in der Nähe von Helgoland und brachten ihn in
ihre Stadt, wo er sofort mit seinen 139 Gesellen gerichtet
wurde. Wie es in jenem alten Volksliede, von dem der
obige Vers entlehnt ist, weiter heißt, schlug ein einziger
Scharfrichter, Meister Rofenblüt, allen Verbrechern mit
demselben Schwerte die Häupter ab und das Blut floß ihm
dabei zuletzt bis über die Knöchel.
Auf dem Darß uud auf Fischlaud geht die Sage, daß
Störtebeker mehrfach bei heftigen Verfolgungen durch die
hansischen Flotten eine unbemerkte Zuflucht durch obigen
Wasserlaus in dem Binnengewässer gesunden habe. Hier
neben seinem Hafen, mitten in dem Dorfe Ahrenshoop,
findet man auch eiue große alte Verschanzung, die sowohl
diesen zu decken, als eine Landung von der See her zu hin-
dern, wohl gelegen war, und die daher auch manchmal als
ein Ueberrest seiner Burg zu gelteu hat. Immerhin ist es
möglich, daß sie von einem Lager der Vitalienbrüder her-
stammt, vielleicht aber ist sie auch eine alte wendische Burg-
stätte, wie denn auch mannigfache Sagen im Schwange
sind, daß ehedem hier eine mächtige Stadt gestanden habe.
Etwas weiter landeinwärts, auf dem Schifferberge,
dem höchsten Punkte des ganzen Landes, findet man gleich-
falls ausgedehnte Wälle und Verschanzungen, die jedoch
erst aus der Schwedenzeit datiren. —
Der Darß ist in seinem südlichen Theile sehr schmal;
oft beträgt die Breite zwischen den beiden Gewässern nur
eiuige hundert Schritte. Etwa eine halbe Meile nördlich
verbreitert das Land sich aber plötzlich ganz bedeutend und
so gewinnt dasselbe eine „schinkenförmige" Gestalt, wobei
der an Mecklenburg grenzende Theil als das Fußende zu
*) S. Bd. ix, S, 55 u. 86.
Schisservol k .*)
betrachten ist. Die Insel Ziu gst läuft in einem schmalen
Streifen, in einer Länge von reichlich drei Meilen, von
West nach Ost. Ihre nördliche Küste hat gar keine irgend-
wie beträchtlichere Ausbuchtungen oder Landvorsprünge,
dagegen tritt die südliche in mehren langgestreckten Zungen
weit in das Binnengewässer ein, auch finden wir hier mehre
kleinere Inseln. Der Flächeninhalt des Darß beträgt
etwa IV, Quadratmeilen; derjenige von Zingst etwa
% Quadratmeilen.
Beide Länder sind durch einen von Nordwest nach Süd-
ost streichenden Wasserlanf getrennt, welcher übrigens viel
schmäler ist, als alle mir zu Gesicht gekommenen Karten
ihn zeigen. Bei Prerow verbindet eine Brücke die bei-
den Länder, welche ehedem sicher zusammengehangen haben
werden, wahrscheinlich in noch nicht ferner Zeit, denn die
Kirche und das Pastorat des darßer Dorfes Prerow liegen
einsam jenseits des Wassers auf der Zingst.
Ein großer Theil des Darß ist nach uud nach vom
Meere angespült worden. Weit einwärts von dein jetzigen
Strande strecken sich nun beholzte Dünenreihen, an denen
man es noch deutlich wahrnehmen kann, daß ehedem das
Meer sie bespülte. Heut zu Tage wird jedoch keine Land-
mehrung bemerkt, im Gegentheil bricht an manchen Orten,
namentlich des westlichen Ufers, fortwährend Land ab.
Man hat schon mehrfach Versuche gemacht, diesem zu
steuern, aber die Vorkehrungen haben sich nicht erfolgreich
erwiesen.
Die hiesigen Dünen sind weniger gnt benarbt, als jene
des Fischlandes. An manchen Stellen hat der Wind sein
freies Spiel mit ihnen. Der Sand ist hier feinkörniger
und oft von blendender Weiße, und erst in größerer Tiefe
findet man Thonschichten. Auch außerhalb des jetzigen
und des ehemaligen Dünenterrains, selber hin und wieder
nahe dem Binnenwasser, inmitten mooriger Flächen, sieht
man beträchtliche Sandschollen, ohne irgend welche Vege-
tation, die dort, wo man ihnen nicht durch Zäune und
Pflanzungen entgegen tritt, von Jahr zu Jahr sich weiter
ausbreiten. Die Wege und Straßen in und zwischen den
einzelnen Dörfern bilden auf lauge Strecken wahre Sand -
meere. Wo heute eine Vertiefung, ist morgen eine Höhe;
heute steht ein Haus auf einem Hügel, morgen kann man
dasselbe kaum verlassen, weil sich hohe Sandbänke vor die
Ausgänge gelagert haben.
Unter dem Sande streckt sich, meistens in der Tiefe von
einigen Fuß, dieselbe eisenhaltige Sandschicht, der Ur- oder
Klashahn, welche auch auf Fischland vorkommen. In
mehren Dorfstraßen fand ich dieselbe auf einzelnen Stellen
völlig bloß geweht, und man geht darauf so fest und eben
wie auf einem Asphalttrottoir, aber was heute bloß liegt,
ist morgen wieder viele Fuß hoch übersaudet. —
Der nordwestliche Theil des Darß wird auch der neue
genannt, während die südöstliche Hälfte der alte heißt.
Jener ist hügelig, dieser dagegeu völlig flach. Hier, an
den Ufern des Binnengewässers, sehen wir manche Wiesen-
stächen, die von Jahr zu Jahr sich vergrößern, denn weit
342 Ein deutsches
hinein hat der Saal er Bodden nur eine sehr geringe
Tiefe. Bei einer Fahrt, die ich von Wustrow aus mit
dortigen Schiffern nach diesen Gewässern machte, saßen wir
mit unserm Segelboot, das nur 2 Fuß Wasser verlangte,
mehrfach ein paar tausend Schritte vom Ufer fest, und um
Land zu erreichen, mußten wir schließlich Stiesel und Bein-
kleider abthun. Dieses war iu der Nähe vou Born, und
sowie wir den festen Grund wieder unter den Füßen hatten,
wurde uns klar, daß wir uns nicht mehr im mecklenbur-
gischen Lande befanden. Durch die Sandwüste kam sporn-
streichs ein junger Bursche gelaufen und warnte uns in
einem verdrehten Hochdeutsch vor den königlichen Zoll-
beamten, die vor kurzem mit Sr. Majestät Zollkutter
hier vorüber gesegelt wären. Nach beendigtem Rapport
bat er sich ein paar Groschen aus.
Dieses hätte nun sicherlich kein Mecklenburger gethan,
eben so wenig hätte ein solcher Hochdeutsch geradebrecht,
und noch weniger würde er sich gemüßigt gefunden haben,
sich unaufgefordert fremder Personen mit Rathschlägen an-
zunehmen. „Muelwählig (maulwählig) ist't Volk
hier alltohopen," meinte einer meiner Begleiter. —
Schließlich fand sich noch, daß das Vorübersegeln von
Sr. Majestät Zollkutter eine reine Erfindung des jungen
Strolches war, schlau erdacht, um sich zu einem Trinkgelds
zu verhelfen. (— ,,Preußische", sast berlinische Kniffe
und Pfiffe; aber landläufig! —) — Wir waren näm-
lich mit unserm Fahrzeug an einer Stelle gelandet, wo
solches, der Zolldesranden wegen, nicht erlaubt ist. —-
Der größte Theil des Darß und ein nicht uubeträcht-
licher der Ziugst ist königlicher Waldgrund. Auf dem
Darß hat derselbe ein Areal von 20,000 Morgen (fast
eine Quadratmeile), während auf Zingst sich reichlich 2u00
Morgen finden. All diese Waldungen bestehen aus
Kiefern; nur hin und wieder gewahrt man in Brüchern
und Mooren Elsen, Birken und Weiden, und im südlichsten
Winkel, im ahrenshoper Forstrevier, eine kleine Buchen-
Holzung, nahe dem Binnenwasser, durch fast hundert Fuß
hohe Dünenzüge gegen die Westwinde geschützt. Daß
aus dem Darß, wo doch der Boden durchweg weit unsrucht-
barer ist als auf Fischland, willig Waldbäume, namentlich
Kiefern wachsen, die ans letzterem Territorium absolut
nicht fortzubringen sind, rührt erstlich von der größern
Breite des Landes, dann aber auch davon her, daß die
Dünen hier gegen Westen dem eigentlichen Lande hoch vor-
gelagert sind. Die Stürme, — die Nordweststürme sind
hier immer die heftigsten, — werden auch auf dem Darß
und der Zingst nie so gewaltig wie auf Fischland empfunden.
Der Unterwuchs au Gräsern, Kräutern und Frucht-
sträuchern (Heidelbeeren, Brom-, Erd- und Kronsbeeren)
ist in diesen Wäldern durchweg dürftig. Trotzdem ist ein
großer Wildstand vorhanden.
Forstbeamte sagten mir, daß die Zahl der Hirsche
augenblicklich noch gegen 200 betrage. Vor wenigen
Jahren gab es deren 7 bis 800. Damals stieß man häufig
auf Rudel von 50 bis 60 Stück und am hellen Tage äs'teu
die Thiers den dürftigen Kohl und die Bohnen in den
Dorfgärten, kamen sogar in Ställe und Scheunen. Neuer-
diugs, bei veränderter Gesetzgebung, ist es den Bewohnern
der einzelnen Dorfschaften gestattet worden, die Jagd auf
ihren Feldmarken zu pachten, und durch Kugeln und
Schlingen, was letzteres jedoch jetzt nicht mehr geduldet
wird, sind die Junker des Waldes so zur Raison gebracht
worden, daß sie wenigstens bei Tage die Habe der Armuth
verschonen. Der hiesige Hirsch erlangt nicht die Größe
derjenigen auf dem Festlaude. Auch sein Geweih hat
nicht die Stärke und das Gewicht. Ich sah sechszehnendige
Schisservolk.
Geweihe, welche lange nicht die Schwere und die Größe
gewöhnlicher achtendiger hatten.
Wilde Schweine kommen gar nicht, Rehe höchst selten
vor. Auch der Hase ist sparsam, häufig dagegen der Fuchs.
Von jagdbarem Geflügel siudet sich das in Norddeutschland
heimische und daneben kommen manche nordische Gänse
und Entearten und auch Schaaren von Schwänen vor,
welche jedoch sehr scheu und daher schwer zu schießen sind,
gern aber gegessen werden.
In den Waldungen sind Torfmoore. Das Produkt
derselben ist jedoch ein so schlechtes, daß es fast gar nicht
als Brennmaterial genutzt wird. Trotz des großen Holz-
reichthums wird daher seewärts, aus der Gegeud von
Anelam her, Tors hier eingeführt.
Auf dem Darß liegen nur vier Dörfer und außer-
dem noch einige wenige vereinzelte Gehöfte; auf der Zingst
drei Dörfer und gleichfalls ein paar Gehöfte. Die Dörfer
sind groß. Born zählt gegen 1700, Prerow 1600,
Dorf Zingst sogar 2000 Einwohner.
Mit Ausnahme von Zingst , das eine ähnliche Bauart
wie die mecklenburgischen Schifserdörser zeigt, sehen diese
Ortschaften ziemlich trostlos und ärmlich aus. Besonders
sällt es auf, daß gar kein Bauplan in den einzelnen Dör-
fern vorzuliegen scheint. Ein jeder baut sein Gehöft hin,
wie es ihm gefällt, und daher ein Gewirr enger und krum-
mer Schlupfwege. Weder Sitte noch Himmelsrichtungen
üben auf die Lage der Häuser Einfluß; bald schauen die
Zimmer aus die Straße, bald ins Feld hinaus; bald nach
Süden, bald nach Norden. Oft stehen sie mitten in einem
Sandmeer; kein Zaun, keine Hecke, kein Garten umher, so
daß gar uichts Trostloseres gedacht werden kann. Die
Häuser siud klein und unansehnlich, oft mit verfallenen
Strohdächern und an der Außenseite gewöhnlich mit Bret-
tern bekleidet, die hin und wieder getheert sind, oft aber
auch ihre graue Naturfarbe zeigen. Oelfarbe scheint ein
rarer Artikel zu sein; manche Thüren und Fensterhölzer
haben nie deren Bekanntschaft gemacht. Meine fifchländer
Freunde, die zuvor nie hier gewesen waren, entsetzten sich
über diesen Mangel am meisten, denn in den mecklenbur-
gischen Schifferdörfern sieht man auch nicht ein einziges
dem Wetter ausgesetztes Stück Holz, das nicht sorgfältig
mit Oelfarbe gestrichen, oder wenigstens getheert wäre.
„Dat is hier akkrat (aeeurat) wie bi den Russen,
an 'n Amur," meinten zwei derselben, die vor einigen
Jahren dorthin gesegelt gewesen waren.
Die Darßer und Zingster sind ein anderer Menschen-
schlag als ihr mecklenburgischen Nachbarn. Sie sind lange
nicht so breit und kräftig, schlanker, leichtfüßiger. Meistens
sieht man dunkle Haare und dunkle Augen, die dabei oft
groß und sehr rund geformt sind. Ich sah manche Frauen
und auch junge Mädchen, die einen völlig nußbraunen
Teint hatten, wobei aber auch Eiuiges auf anklebenden
Schmutz zu rechnen sein mochte. Hübsche Mädchen, wie
man sie unter den Fischländerinnen zahlreich findet, fah
ich hier nur zwei oder drei und diese waren blondhaarig.
Die älteren Frauen hatten meistens etwas Zigeunerartiges
und Kämme scheinen von ihnen nicht gekannt zu werden.
Auch die nach Fischland zum Dienen auswandernden Mäd-
chen lieben rauhe Köpfe, und während kein mecklenburgischer
Dienstbote ohne einen verschließbaren Kosser oder
eine Kommode ist, führen jene all ihre Habseligkeiten in
Bündeln mit sich. Selbst die darßer Matrosen besitzen
hin und wieder nicht einmal eine Seekiste, was den Mecklen-
burgern eiu großer Gräuel ist.
Die Darßer und Zingster sind nicht bloß „maul-
wählig", sondern auch b eiu wählig, durchweg Wirths-
Ein deutscht
Hausläufer uud gewaltige Tänzer. Ju alleu Dörfern sind
große „Tauzsalous", und wenn Winters die Seeleute zu
Hause sind, schallen allsouutäglich die Fidelu. Bei alledem
wird, wie überhaupt iu den benachbarten preußischen Län-
dern, sehr geknappt. Das „Trinkels", wie derMecklen-
burger spricht, ist hier schlecht. Während der sischländer
Schiffer seinen Gästen eine Flasche echten Museat,
Portwein oder Malaga vorsetzt, gibt der hiesige ihm
ein Gemisch, was Grog oder Punsch vorstellen soll,
in welchem aber Kartoffelspiritus das begeisterude Element
ist. Um aber dieses „Trinkels" mundgerechter zu macheu,
wird „Am Rhein, am Rhein" oder „Wohlauf uoch getruu-
ken" dabei gesungen, was wiederum in Fischland ganz
unerhört sein würde. Auch der Kaffee, den man in Fisch-
land ganz vorzüglich bekommt, hat hier eigentlich nur die
Kasseeeouleur, ist sonst aber nichts als ein Gebräu
aus Cichorien. Die Küche, schon in Fischland kläglich
bestellt, liegt hier ganz im Argen. Getrocknete Fische,
Buttermilch und schlechte Kartoffeln, daraus setzt sich der
Speisezettel jahrein jahraus selber bei wohlhabenden
Schifferfamilien zusammen.
Die Haupterwerbsquelle dieser Länder bildet die See-
fahrt. In Zingst wohnen an siebenzig Schiffer; in beiden
Ländern zusammen über hundert. Die Mehrzahl hat ihre
Correspondentenrheder iu Barth und in Stralsund.
Ehedem hatten manche sie in Rostock und fuhren dann unter
mecklenburgischer Flagge, was heute aber nicht mehr gestattet
wird. Nur in Ahrenshoop wohnt augenblicklich noch ein
Schiffer, der unter mecklenburgischer Flagge fährt. Ehedem
wohnten in letzterm Dorfe eine ganze Anzahl; diese sind
aber in neuerer Zeit nach Nibnitz und nach dem Fischlande
übersiedelt, wo weder Zöllner noch Schätznngs-
eommisfioneu sie placken, die Abgaben geringer und
namentlich die Schulen weitaus besser sind, als irgend-
wo in pommerscheu Landdistrikten.
Durchschnittlich haben die darßer uud zingster Schiffe
nicht die Größe der mecklenburgischen, wie denn auch wenige
von ihnen sich' bei so weiten Fahrten, wie neuerdings die
Mecklenburger vorwiegend, betheiligen. Es findet auch
bei ihnen eben dieselbe Partnern statt, wie bei den letzteren.
Ihre Mannschaft ergänzt sich zum größern Theile aus dem
pommerscheu Festlande; die darßer und zingster Matrosen
dienen nämlich lieber unter der blanweißrothen Flagge oder
unter dein schwarzen Greif, als unter dem schwarzen Adler,
weil die Beköstigung aus preußischen Schiffen minder reich-
lich und gut ist, als auf jenen. — Von Darß und Zingst
sollen zusammen an 1100 Männer zur See fahren; davon
mindestens 900 als Jungen und Matrosen.
Ehedem wurde es deu hiesigen unvermögenden See-
fahrern sehr schwer, ja fast unmöglich, sich die Kenntnisse zu
erwerben, die für einen Steuermann oder Schiffer erfordert
werden. Die Schulen waren und sind, wie fast in allen
Pommerschen Dörfern, so kläglich dotirt, daß sich im
ganzen mecklenburgischen Domanio auch uicht ein einziger
Lehrer finden ließe, der eine solche Stelle annehmen würde.
Man findet denn auch (— im Staat, von welchem einmal
die seltsame Fabel ging, daß er ein „Staat der Intelligenz"
sei, — doch das ist schon lange her —) viele derselben mit
bankerotten Handwerkern, Schenkwirthen und ab-
gedankten Unteroffizieren besetzt, die niemals ein
Seminar besucht haben. Hier auf Darß und Ziugst haben
die Schulen neuerdings einige peenniäre Aufbesserung er-
fahren, auch sind mehre neue Schulhäuser erbaut und in
Folge dessen sind auch tüchtigere Lehrkräfte gewonnen
worden. In Zingst und Prerow hat man auch Vorberei-
tungsschulen für die Navigation errichtet und ganz neuer-
Schisscrvolk. 343
lich im nahegelegenen Barth eiue Navigationsschule, deren
Baulichkeiten sich in ähnlicher Weise stattlich und großartig
darstellen, wie diejenigen des wustrower Instituts.
Ju den mecklenburgischen Dörfern gibt es fast gar keine
verheirateten Matrosen, hier dagegen die Menge. Man darf
veranschlagen, daß die Hälfte derselben mit Ende Novembers
zn Hause kommt uud dort bis Mitte März verweilt. Oft
kommen aber auch verheiratete Männer in drei bis vier
Jahren nicht heim. Wenn im Frühjahr die mecklenbnr-
gischeu Schiffe sich von ihren Winterhäfen Rostock, Wismar
und Lübeck aus uach deu östlichen baltischen Plätzen in
Fahrt setzen, kommt es häufig vor, daß bei entgegenstehen-
den Nordostwinden die Kapitäne bei Fischland „unter
Land" gehen, um daselbst im Kreise oder doch in der Nähe
ihrer Familien günstigere Winde abzuwarten. Manchmal
liegen dann dort 20 bis 30 Schiffe vor Anker. Dann
ziehen die Frauen und Geliebten der Matrosen schaaren-
weise in die Fischländerdünen. Mit Blumenhüten, grell-
bunte Kleider über Criuolinen ausgespannt, dabei
aber ohne Schuhe uud Strümpfe (— „man so
duhn", sagt man in Berlin -—) sieht man sie in den
windgeschützten Schluchten mit ihren Gefponsen lagern;
oft fahren sie auch an Bord, wo sie dann Trank uud Speise,
nicht selten auch Nachtquartier erhalten. „De Darßersch
rücken (d. h. die vom Darß riechen) dat orrig (ordentlich)
in de Luft, wenn uns (unsere) Scheep in'n Ansegeln sünd
nn warrn 's meist iehr (eher) gewahr, as uns egeu Frugeus
(eigenen Frauen)," sagten mir ein paar mecklenburgische
Schiffer. Diese letzteren behaupten auch iusgesammt, daß
jene Frauen iiiib Liebchen sich bei diesen Besuchen in: All-
gemeinen ungemein roh und „uufläthig" benehmen. „Se
süud uoch utverschamter as de Bierens (Dirnen) to Ply-
month uu to Liverpool," meinten mehre, und wie ich selber
zu glauben mich berechtigt halte, mit vollstem Grunde. —
Uebrigens sind sie genügsam und fleißig, wie fast immer
die Frauen seefahrender Völker. Zur Winterzeit suchen
manche einen Nebenerwerb durch Besenbindeu, und ihr
Fabrikat vertreiben sie hansirend im Nachbarlande. Leider
betteln sie dabei häufig, namentlich in den Schifferdörfern
und lügen dabei oft sich allerlei traurige Schicksale an.
Auch sie hassen, wie die Fischländerinnen, das Tragen von
Lasten, uud der Schubkarren ist auch bei ihnen immer im
Gange. Bei der Beschaffenheit des Landes ist dieses sehr
unzweckmäßig. Einem kleinen Holzkarren, dessen Ladung
bequem eine Person hätte tragen können, sah ich zwei
Weiber vorgespannt, während die dritte schob. Trotzdem
saß das Gefährte alle Augenblicke im tiefen Sande fest und
dann gab es ein Halloh uud Geschrei, wie es kaum eiu
mecklenburgischer Jahrmarkt zu Staude bringt.
Der hier gesprochene Dialekt unterscheidet sich höchst
merklich von demjenigen aitf dem Fischlande. Er klingt
sehr häßlich und breit. Der Fischländer sagt: dohn (thun),
der Darßer: dauhn. Jener sagt: weten (wissen), dieser:
waiten k.
Während die Frauen und Töchter der mecklenburgischen
Schiffer sich meist dunkelfarbig kleiden, selber in ihren
seidenen Festgewändern, blitzen auf Darß und Zingst die
grellsten Farben und man liebt den echten Flitterstaat.
Namentlich sind künstliche Blumen beliebt, und die
Hüte sind oft derartig damit überputzt, daß es aussieht,
als würden große Blumenvasen auf dem Kopfe getragen.
Noch au einer Gewohnheit kann man die Darßer sofort
von den Mecklenburgern unterscheiden. Letztere fassen zu-
sammeugehend, namentlich Liebespärchen, sich gewöhnlich
im Arm, jene dagegen stets an der Hand, selber auf meilen-
weiten Touren. —
344 H. Birnbaum: Die Erhebungen i
Aeltere oder invalide Seefahrer bleiben zn Hanse und
legen sich aus die Fischerei, die hier in derselben alter-
thümlicheu und irrationellen Weise wie auf Fischland
betrieben wird. Andere verfahren auf kleinen Jachten das
Holz uach Stralsund und anderen nahen Plätzen und
haben dann auch hin und wieder eine Tochter als Matrosen
an Bord. Manche legen sich auch auf Schmuggelei, die
durch das Terrain gauz ungemein begünstigt wird. Die
Schmuggler sind meistens die schlauesten und Wetter-
Hartesten alten Seewölfe, und die dunkelsten Nächte sind
ihnen die liebsten. Hauptsächlich wird Salz desraudirt,
das aus Ribuitz geholt wird. Bis Wustrow fahren die
Schmuggler auf dem Binnengewässer, dort wird Boot und
Ladung auf Wagen gesetzt und zur Ostsee gefahren , und
dann wird meistens zu Ost von Darßerort damit gelandet.
Hin und wieder haben aber in neuerer Zeit Se. Majestät
Zollkutter ein solches Boot erwischt, und daher kommt es,
daß dieses Geschäft jetzt lauge nicht mehr so florirt, wie in
früheren Jahren.
Eine nicht unbeträchtliche Anzahl Männer findet Be-
schästigung iu den Forsten. Andere dienen auf dem
Fischland als Ackerknechte, noch andere, freilich ein geringer
Brnchtheil, müht sich, den moorigen Niederungen des
eigenen Landes dürftige Roggen - und Buchweizenernten
abzuzwingen. In Born, um welches Dorf herum der
Acker wohl noch am wenigsten undankbar ist, baut man
viele Cichorienwurzelu, welche eine hier befindliche Fabrik
zu deutschem Kaffee verarbeitet. Das Fabrikat genießt eines
sehr guten Rufes und wurde früherhin, wo die Einfuhr von
Cichorienfabrikaten iu Mecklenburg verboten war, vielfach
dorthin ohne jegliches Hinderniß eingepascht.
Eine hier und auf Fischlaud verbreitete eigeuthümliche
landsittliche Gewohnheit ist, daß fast jedes Stück Vieh aus
der Weide „getüdert" (angebunden) wird. Sogar
Schweine, Hühner und Gänse sah ich getüdert, letztere
Thiers an einem Fuß, und dieses geschieht sogar auch mit
Kindern.
Bernstein wird an einigen Orten gefunden. Die
Fischerei desselben ist ein Regal und das Recht dazu wird
verpachtet. Hin und wieder, nach heftigen Nordwest-
stürmen, werden zuweilen an einem Tage für 39 bis 40,
ja selber für 109 Thlr. gefunden. Eigentümlich ist es,
daß au der Fischländerküste fast niemals Bernstein
ausgeworfen wird.
Dorf Zingst sieht weitaus wohlhäbiger aus, als die
übrigen Dörfer. Wirr durcheinander liegen auch hier die
Häuser, doch sind sie von zierlichen, wohlgepflegten Blumen-
gärten umschränkt, die, wie bei den mecklenburgischen Nach-
barn, mit gemalten oder getheerten Staketwerken befriedigt
sind. Viele der dortigen Schiffer sind sehr wohlhabend.
d Senkungen der festen Erdrinde ic.
Die in deu letzten Jahren errichteten Häuser sind ähnlich
gebaut wie die fischländer. Nur ist die innere Einrich-
tung weniger solid, das Mobiliar nicht so elegant und kost-
bar, und seidene und damastene Bettvorhänge und Möbel-
Überzüge würde man vergeblich suchen.
Bis vor wenigen Jahren bildeten der Darß und die
Zingst nur eine einzige Parochie, deren Kirche in Prerow
lag. Viele Eingepfarrte hatten bis dort 1'/?, manche sogar
3 Meilen dorthin. Diesem Uebelstaude ist jetzt dadurch
theilweife abgeholfen, daß in Zingst eine zweite Pfarre
errichtet und eine Kirche gebaut worden ist. Die Regie-
rung hat neuerlich auch deu Wunfch kund gegeben, daß in
Born eine dritte Pfarre errichtet werden möge und hat
dazu ihre Unterstützung geboten, aber die Einwohner halten
dieses für unnöthig. Der kirchliche Sinn ist nämlich auf
dem Darß und auf Zingst lange nicht so lebendig wie bei
den mecklenburgischen Nachbarn, und von Guiueen und
holländischen Zehnguldenstücken im Klingelbeutel wird hier
niemals etwas gehört, eben so kennt man keine eigenthüm-
liehe Tracht bei Begräbnissen und anderen kirchlichen Feier-
lichkeiten.
Daß ehedem fast gar kein Ackerbau dort betrieben
worden sein muß, sondern daß der Darß ein altes Wald-
land war, zeigt sich schlagend aus den Einkünften des
Pfarrers 31t Prerow. Derselbe erhält nämlich ans den
eingepsarrten Dörfern nicht Meßkorn, wie es sonst allge-
mein hier im Norden gebräuchlich ist, sondern 70 bis L0
Klafter Meßholz geliefert, das er zu verkaufen hat, denn die
ihm nöthige Feuerung mag er sich außerdem aus dem
Walde holen. Jetzt hat der Pfarrer selber auch eine kleine
Ackerwirthschaft, die ihm au 400 Thlr. Reiuertrag briugen
mag, um die Mitte des vorigeu Jahrhunderts aber von
dein damaligen Pfarrer zn 30 Thalern verpachtet gewesen
sein soll.
Ein interessanter Punkt des Darß ist der Lencht-
thurm aus dem Darßer Ort, der uördlichsteu Spitze
der Halbiusel, die hier in einen zu Ost sich wendenden
Haken ausläuft. Wohl wenige menschliche Wohnungen
auf dem deutschen Festlande liegen so einsam und isolirt,
wie diejenigen der beiden Thurmwächter. Die zunächst
gelegeneu Wohnstätten sind eine volle deutsche Meile eut-
fernt. Der Thurm hat eine Höhe von etwa 90 Fuß und
zeigt zwei Feuer übereinander, unten ein festes, darüber
ein Blickfeuer. Trotzdem kommen hier häufige Schiff-
brüche vor, weshalb denn auch ein Rettungsboot hier
stationirt ist, welches aber keineswegs den Ansprüchen
genügt, die man heut zu Tage au ein solches Fahrzeug zu
stellen pflegt. Es ist weiter nichts als ein gewöhnliches,
breites, niedriges Holzboot.
Die Erhebungen und Senkungen der festen Erdrinde in Nordeuropa und Nordasien.
Bon vi'. H. Birnbaum.
Dieses interessante Kapitel der Physik unsers Erdballs
war, wie Viele annehmen, während der ersten Hälfte des
gegenwärtigen Jahrhunderts durch Alex au der v. Hum-
boldt und Leopold V.Buch auf eine so allgemein be-
friedigende, wissenschaftlich sichere Grundlage gestellt, daß
man sich mit ganzer Zuversicht der Hoffnung zu einem end-
lich andauernden Frieden in den vorhergegangenen langen
Parteikämpfen hingab. Da indeß das Ganze seiner innern
Natur uach immer nur auf Ansichten beruhen kann, und
diese Ansichten bald hier, bald dort auch Zweifel zulassen
H. Birnbaum: Die Erhebungen
können, so war es natürlich, daß sich allmälig auch
wieder neuere Ansichten und Hypothesen Bahn brachen und
sich geltend machten. Dadurch ist nun in unseren Tagen
abermals ein unruhiger Zwist entstanden. Es wird wieder
für und gegen die Theorie der beiden größten Geologen
unsers Jahrhuuderts gekämpft, es werden neue Ansichten
aufgestellt und mit dem kühnsten Schwerte der Fortschritte
der Wissenschaften verfochten, so daß man kaum absehen
kann, welchen Ausgang diese hitzigen Kämpfe nehmen
werden. Halteu wir uns nun auch möglichst fern von einer
entschiedenen Parteinahme, so sind wir unsrerseits doch der
Meinung, das bewährte gute Alte einstweilen noch in
Ehren zu halteu. Es steckt darin sehr viel Geist, es ist eine
durch das Zusammenwirken der größten Denker unsrer
Zeit zu Stande gebrachte vollkommen reife Frucht der iu-
ductiveu Wisseuschasten.
Die nachfolgende Darstellung, welche sich die geistreich
geschriebene Abhandlung von Elisee Rechts*) zum
Vorbilde nimmt, verfolgt diesen Grundsatz und verbindet
damit zugleich die Absicht, die gesammte Erhebungs-
theorie leichtfaßlich vor das gebildete große Publikum zu
bringen.
Die feste Erdoberfläche, welche gewöhnlich für starr
und unbeweglich gehalten wird, ist fortwährenden Schwan-
kungen und Aeuderuugeu unterworfen. Sonne und Moud
wirken unablässig nicht blos aus die Luft uud Wasserhülle,
sondern auch auf deu festen Kern der Erde uud verursachen
einen beständigen Wechsel in ihrer Spannkraft, wodurch
natürlich auch ein Schwanken in den Oberflächenformen
entstehen muß. Ist dieses nun auch viel geringer als jenes
in dem Meere und der Luft, so fehlt es doch nicht uud
kann sogar durch die Männer vom Fach eben so sicher ans
Maß und Zahl zurückgeführt werden, wie Ebbe und Flut.
Dann weiß man, wie die Erpansion der im Innern abge-
sperrten Dämpfe und Gase bald hier bald dort mächtig
gegen die Erde audrängt und ununterbrochen zn Um-
formungen treibt, oder sich einen vulkauischeu Ausweg zu
verschaffen strebt. Und wollen wir die Erdbeben, wodurch
Berge umgestürzt, Felder uud Wälder vernichtet, Städte zer-
trümmert, Flüsse versiechen oder von ihrer Bahn abgelenkt
werden, als etwas Abnormes, nicht mit iu die Klasse der
beständigen Schwankung zählen, so dürfen wir doch den
täglich und jährlich stets wechselnden Einfluß der Er-
wärmung und Abkühlung der Erde durch dieSouue,
oder die uie aufhörende uugleiche Elektricitätsentwickluug
nicht übersehen, und sind überzeugt, daß dadurch eine be-
ständige Veranlassung zu Schwankungen iu allen Theilen
der Erdoberfläche vorkommen müsse. Und Regen uud
Wind, Hagel und Schnee, Frost und Thauwetter haben un-
verkennbar auch ihren ändernden verwitternden Einfluß. —
Doch alle diese Schwankuugeu uud Aendernngen sind eigent-
lich mir dem Gedanken nach wahr, und es gehören zu ihrer
wirklichen Bestätigung nicht blos die allerschärfsten Hülss-
mittel zum Beobachten, fondern ebenso auch eine auf Jahr-
zehnde, ja fogar auf Jahrhunderte ausgedehnte gewissen-
hafte Ausmessung und Auszeichnung. So führt die schein-
bar ruhige Erde ihre Tags- uud Jahrsbeweguug ohne
merkliche Aendernng ihrer festen Oberflächen formen dnrch
und ist dennoch so unablässig thätig in einem beständigen
Wechsel ihrer Gestalt. Während einer jeden geologischen
Periode hat sich die Erdrinde an einigen Stellen hoch über
das Niveau des Meeres emporgehoben, an anderen dagegen
stark hinabgesenkt; aber alle diese auffallenden Relief - und
*) In „Revue des Deux Mondes" der Artikel: „Les oscil-
lations de Sol Terrestre par Elisee Reclus.
Globus IX. Nr. ll.
;b Senkungen der festen Erdrinde!c. 345
Eontouräuderungeu der Eontinente sind sehr langsam, uud
auf Jahrhunderte, auf Jahrtausende bezogen, zu Staude
gebracht. Fragt man nach den dabei waltenden Gesetzen,
nach der geographischen Vertheiluug dieser Thätigkeit, nach
der relativen Geschwindigkeit, oder gar nach der Ursache
dieser ulyformenden Oscillation, so ist unser Wissen bis jetzt
noch nicht im Stande, eine befriedigende Antwort zu
ertheileu. Da indeß die Geologen schon mit großer Znver-
lässigkeit die Dimension und die Wege einer jeden Woge
dieser Erdumformnngsepochen zu beurtheileu gelernt haben,
so fehlt es uns nicht an derHoffnnng zu einer fpäteru voll-
kommen befriedigenden Lösung dieses Phänomens. Wir
wollen uns daher vorläufig daraus beschräukeu, das zur
Mittheilung zu bringen, was seitLeopold v.Buchs Auf-
stellung der Erhebungs theorie bis Darwins und
Lyells Erweiterung derselben auf dem Gefammtgebiete
der Geologie geleistet worden ist. Jedes Jahr bringen die
Gelehrten von den verschiedensten Punkten der Erde neue
Erfahrungen, welche für das Phänomen der Erhebung und
Senkung der Contiuente sprechen. Wir haben dabei Ge-
legenheit,' den großen Scharfsinn der Männer vom Fach
kennen zu lernen und werden uns sowohl von den errnn-
genen Resultaten, welche erreicht wurden, als von den
Wegen, welche zur Erforschung der Ursache eingeschlagen
wurden, auf das lebhafteste angezogen fühlen, — denn es
betrifft ja Alles unsere Erde, auf der wir wohnen, denken,
dulden und handeln, die unsere Heimat ist für die gesammte
geistige, physische und gewerbliche Ausbildung und Thä-
tigkeit.
Bei diesem Phänomen der Erhebung und Senkung des
Festlandes unserer Erdoberfläche muß man zunächst das-
jeuige, was durch fortdauernde innere Kraft ganz allmälig
und ohne Unterbrechung zu Stande gebracht wird, sorg-
fältig voll dem zu unterscheiden suchen, was mehr den vor-
übergehenden wechselndeil Ursachen zuzuschreiben ist. Diese
zweite Erscheinung gehört größtentheils in das Gebiet der
Wetter-, Lebens - und Kulturthätigkeit auf Erden. So
bilden sich in den fumpsigeu FlachländeruTorflager, welche
durch den in ihnen thätigen Vegetationsprozeß sich ost so
stark erhoben haben, daß sie das ursprüngliche Niveau des
Bodeus um 10 bis 20 Fuß überragen. Das große Torf-
moorlager in Nordcarolina, welches den Namen
„Dismal Swamp" führt, ist z. B. in seiner Mitte so
stark gehoben, daß die von Portsmouth nach Suffolk
darüber geleitete Eifeubahu au deu vor- und nachfolgenden
Stellen durchschnittlich eine Erhöhung von sechs Fuß nöthig
gemacht hat. Dagegen haben die durch die Kultur der Ab-
Wässerung (Drainage) trocken gelegten Torflager eine
merkliche Senkung zur Folge gehabt; die Moorpflanzen
verwelken dadurch, sinken zu trockenen Massen zusammen
uud verfliegen an der Oberfläche als Staub; hier könnte
man sagen, daß sich die Erdoberfläche nach ihrem Innern
hin zusammen gezogen habe.
Das sind Erhebungs - und Senknngsthätigkeiten der
Erdoberfläche, welche uuser Stauueu nicht erwecken können,
und sie stehen ziemlich genau deueu gleich, welche durch die
tägliche Erwärmung und nächtliche Abkühlung ganz allge-
mein erfolgen müssen, aber sehr schwer durch wirkliches
Ausmessen zu coustatireu sind. Um so interessanter ist es
aber doch zu erfahren, daß der berühmte Astronom Mo est a
in Chile nachgewiesen hat, daß das dortige National-
Observatorium, welches nahe beiSautiago auf dem Hügel
Santa Lucia liegt, innerhalb 24 Stunden wirklich steigt
und fällt. Diese Tagesoscillationen sind so bedeu-
44
H. Birnbaum: Die Erhebungen und Senkungen der festen Erdrinde:c.
tend, daß man für nöthig gefunden hat, sie in die mathe-
matifchen Correctionsformeln der regelmäßigen Obferva-
tionen mit einzuführen. Aehnliche aber auf andere Ursachen
zurückzuführende Wahrnehmungen hat mau inJrland auf
der Sternwarte zu Armagh gemacht. Nach andauerndem
starken Regen erhebt sich der Hügel, welcher das Gebäude
trägt, laugsam und kaum merklich, und wenn darauf durch
längere Trockuiß das eingeschluckte Wasser verdunstet ist,
so erkennt man eine Erniedrigung des Niveaus.
Noch andere Phänomene dieser Art, welche der Sonnen-
wärme und den meteorologischen Einflüssen der Atmosphäre
ebenfalls zuzuschreiben sind, gehören in die Klasse der
regelmäßigen Erscheinungen, denen das gesammte Festland
der Erde unterworfen ist. Aber mitten darin treten auch
wieder Spuren lokaler Abnormitäten auf. So bewirkte
das Erdbeben zu Coucepcion in Chile im Februar 1835
eine solche Erhebuugserscheinuug auf der Jusel Santa
Maria und gleichzeitig au der gegenüberliegenden Küste
Chile's. Das der Stadt am nächsten gelegene Ufer hatte
sich um IV2 Meter gehoben, während die Insel an der
Südseite um 2l/2 Meter und an der Nordseite um 3 Meter
aus ihrem Meeresniveau empor gestiegen war. Zwei
Monate später war der Meeresstrand von Coneepeion
nur noch um 69 Eentimeter über feinem altert Niveau,
und die Insel iu ähnlichem Verhältniß wieder hinab-
gesunken. Gegen die Mitte des Jahres war zuletzt jede
Spur der Erhebung verschwunden und Alles wieder wie
vor der Katastrophe. Die berühmten Säulen des Serapis-
tempels, welche die Ufer des Mittelländischen Meeres
zieren, nicht weit von Puzzuoli, tragen an ihrer Ober-
fläche ebenfalls die Spuren lokaler Erhebung.
Wir betreten nun das Gebiet unserer eigentlichen
Untersuchung.
Ueberall, wo die unserer Zeit angehörenden Couchylien
des Meeres in Masse trocken gelegt sind, und wo an den
steilen Felseuufern die Spuren der Aushöhlung in der-
schiedenen Höhen vorkommen, hat man die zuverlässigsten
Andeutungen von Schwanknng der festen Erd-
rinde, und es liegt auf der Hand, daß die Geologen
gerade hier ihre Studien durch direete Messungen und Ver-
gleichnngen vorzuuehmen haben, um die Gesetze des Phä-
nomens zu ergründen. Schon vor mehr als 139 Jahren
hatte der große schwedische Astronom Celsius iu Upsala
die Idee, diese Untersuchung durchzuführen, doch nicht in
der Absicht, um die Erhebung Seandinaviens nach-
zuweisen, von welcher man damals noch keine Ahnung
hatte, sondern mehr, um dadurch die allgemein vermnthete
Abnahme der Höhe des Baltischen Meeresspiegels
bestätigt zu sehen. Dnrch die einstimmigen Aussagen der
Bauern iu jeueu Gegenden erfuhr er, daß der Bottuische
Meerbuseu ununterbrochen an Tiefe und Ausdehnung
abnehme; die Greise zeigten ihm verschiedene Stellen, bis
wohin in ihrer Jugend das Meer noch gereicht habe, und
deuteten au anderen Stellen auf die Linie, welche der alte
Meeresstand tief eingegraben habe. Auch konnten die alten
Namen, die Lage von Gebäuden, welche jetzt weit laud-
ein lageu, ursprünglich atev unmittelbar am Meeresufer
gestanden hatten, — es konnten ferner die Inschriften der
Monnmente und der Sinn der Volkslieder keinen Zweifel
über den Rücktritt des Meeres lassen.
Da die Gelehrten jener Zeit noch ganz unumstößlich
an eilten in sich unveränderlich sesten Erdkern glaubten, so
war es natürlich, daß Celsins mit der damaligen allge-
meinen Volksansicht ein Schwinden und Senken des Meeres
annahm. Im Jahre 1730 hatte er durch Messung und
Begleichung herausgefunden, daß das Niveau des
Baltischen Meeres in jedem Jahrhundert durch-
schnitt lieh um 3 Fuß falle. Er hatte zur Prüfung
dieses auffallenden Resultates auf der Jufel Loeffgruud
eiu Zeichen der Meereshöhe in den Felsen gegraben, und
als er nach 13 Jahren in Begleitung seines Frenndes
Linns dorthiu kam, fanden sie das Nivean sogar um
9,18 Meter tiefer. Das wäre für ein Jahrhundert 1,335
Meter, also noch etwas über 4 Fuß gewesen. Alle Geo-
logen des vorigen Jahrhunderts, welche später diese Küste
Schwedens besuchten, hatten die Beobachtung von Celsius
und Linn6 nur zu bestätigen, und keiner dachte daran,
daß hierbei ein Jrrthum möglich sein könne. Endlich war
es aber unserm großen Leopold von Buch vorbehalten,
die eigentliche Wahrheit dieses Phänomens aufzufinden,
und er sagte, nicht das Meer sinkt hinab, sondern
der feste Erdkern hebt sich hier aus dein Meer
empor. Denn wenn das Niveau des Baltischen Meeres
hinabsänke, so müßte nach dem hydrostatischen Gleich-
gewichtsgesetze dies auch in allen mit ihm in Verbindung
stehenden Meeren, also bei dein gestimmten Weltmeere der
Fall sein; dem aber widerspricht die Erfahrung im Allge-
meinen und im Besonderen an den übrigen Küsten Schwe-
dens ganz entschieden. Und wenn die genaue Ausmessung
an deu Ufern des Bottnifchen Meerbusens in der
Nähe der Torneamündung 1,6 Meter Erhebung für
ein Jahrhundert ergeben hat, fo betrug dieselbe gegenüber
auf den Alandinseln nur 1 Meter; eine Wahrnehmung,
welche gar nicht mit dem gemeinschaftlichen Sinken des
Meerniveaus in Einklang zu bringen ist, sondern entschie-
den darauf hindeutet, daß sich das Festland erhebt und
zwar im Norden jenes Meerbusens um anderthalb Fuß
mehr als im Süden. Bei Kalmar und Karlskrona
ist gar feine Niveanänd ernng zu verspüren gewesen,
während an der Südgrenze Schwedens sogar eine
Senkung des Festlandes außer Zweifel ist. Mehre
Straßen der Städte Malmö, Trellenborg, Bstadt
sind schon unter Wasser, und seit der durch Linns sestge-
stellten Beobachtung hat das Meerwasser hier eine frühere
Landzone von 90 Fuß Breite überdeckt.
Auf der Westse ite d er S eaud i navisch en H alb -
iusel fehlen Beweise für die Schwankungen der Festlands-
oberfläche ebenfalls nicht, nur hat man sie noch nicht so
entschieden durch Maß auf Zahlen zurückgeführt, wie in
Schweden. Nach Förch Hamm er erheben sich die Grenz-
pnnkte Jütlands um 39 Centimeter in je hundert Jahren.
Zu Christiauia ist die erhebende Kraft sehr gering, denn
seit 399 Jahren ist das Pflaster der alten Stadt dasselbe
geblieben. Im Norden zeigen einige alte Bauwerke der
Insel Munkholm eine Erhebung von 6 Meter in
1999 Jahren. Das ist Alles, was man hierüber Be-
stimmtes weiß.
Das Vergleichen der verschiedenen Niveaulinien und
die Prüfung anderer Anzeichen einer allmäligen Hebung
scheint, ungeachtet der zahlreichen Ungleichförmigst in dem
Gange dieses Phänomens, zu beweisen, daß die nördlicher
gelegenen Oberflächenpunkte des Festlandes sich rascher
erheben, als die südlicheren. Die gehobenen Ufer, welche
man wie die Stufen eines Amphitheaters verfolgen kann,
erstrecken sich bis zu deu Abhängen der Gebirge. Massen
von Muscheln unserer Zeit zeigen sich hier bis zu einer
Höhe von 159 bis 299 Meter über dem Meeresspiegel,
und große Zweige der rothen Coralle (Leophelia prolifera),
welche bekanntlich nur in einer Tiefe von 3- bis 699 Meter
unter der Meeresoberfläche leben und entstehen kann, sind
jetzt an den Fußpunkten der gehobenen Ufer gefunden.
Endlich zeigt sich auch au den Nadelhölzern, welche die
H. Birnbaum: Die Erhebungen i
Hügel schmücken, daß sie durch die gewaltige unterirdische
Erhebungskraft immer näher an die dortige untere Schnee-
grenze der Gebirge gerückt und durch die frostige höhere
Atmosphäre allmälig verkümmert sind, ferner daß hier
große Wald strecken nur uoch aus abgestorbenen Bäumen
bestehen, welche zu Ansang uusers Jahrhunderts noch gut
gediehen.
Alle diese Thatsachen berechtigen den Fachgelehrten zu
der Annahme, daß Scandinavien sich auf der einen
Seite gehoben und auf der andern gesenkt habe. Die
Wasser des Bottnischen Meerbusens, müssen daher
nach Süden hinabfließen, weil der Norden dieses Beckens
höher gehoben ist. Neue Inseln uud Uutieseu erheben sich,
und wenn das Phänomen in seinem Verlause fortfährt, so
ist die Vermuthung der Geologen begründet, daß nach un-
gefähr 2000Jahren die Qvarkenstraße zwischen Umea
und Wasa einen Isthmus bilden uud der Gols vou
Tornea sich iu einen Binnensee umformen werde, gleich
dem Ladogasee; uud daß uoch 1809 Jahre später die
Alandsinseln mit dem Festlands eine Eontinental-
brücke zwischen Stockholm und Rußland bilden werden.
Auch ist es wahrscheinlich, daß die großen Seen und die
mit Wasser gefüllten Granitbecken Finnlands einst zum
Meere gehört haben, so daß hier eiue schiffbare
Seestraße zwischen der Ostsee und dem Polar-
meere vorhanden war. Die erratischen Granit-
blöcke, welche man in diesen Gegenden Rußlands überall
aufgefunden hat, können wohl nur von deu schwedischen
Gebirgen herrühren, so, daß sie mit Hülse der natürlichen
Eisflöße des vermutheten frühereu Meeres hinüber gewan-
dert sind. Der Name Skandinavien spricht anch -füY>
eine frühere „Insel Skand", auch deutet Bottnien
unverkennbar auf Meerboden. Hier könnten die Sprach-
forscher den Geologen noch wesentlich zn Hülfe kommen.
Das ist noch nicht Alles. Die Ostsee stand wahr-
scheinlich auch mit der Nordsee iu ähnlicher natürlicher
Canalverbindnng, wovon der Mälar-, Hjelmar- uud
Wenern-See als die tiefsten Grundlagen noch jetzt übrig
geblieben sind. Beträchtliche Anhäufungen von Auster-
schalen findet man noch jetzt ans den Höhen der Berge des
südlichen Schwedens, welche jene Seen umgeben.
Auf den trocken gelegten Klippen des Bottui scheu Meer-
Husens hat man Bänke von Schalthieren gefunden,
welche gauz denen ähnlich sind, die man an der Seeküste
Norwegens uud der Westseite Dänemarks noch jetzt in
Menge antrifft. Die bekannten dänischen „Kjoekken-
„! öd dinge" (Küchenabfälle) sind ganz aus deu Lagern
solcher Austerschalen gebildet, welche die Bewohner des
steinernen Zeitalters noch aus der Tiese des Meeres holen
mußten. Die berühmten Untersuchungen des Herrn von
Baer haben ergeben, daß die Auster nicht leben und sich
entwickeln kann, sobald ihr Meerwasser von weniger als
16 bis 17 Tausendstel Salzgehalt zum Aufenthalt gegeben
wird. Durch deu verhaltnißrnäßig reichen Zufluß von
süßem Wasser hat sich die Ostsee so entsalzt, daß sie durch-
schnittlich nur 19, uud au einigen Stellen sogar uur 5 Tau-
sendstel Salz cuthält, ja, es gibt darin Plätze, wo das
Wasser bis aus deu Grund hinab so süß ist, wie in einem
Flusse. Daraus folgt also, daß früher das Bal-
tische Meer und die Nordsee mit Hülse des da-
maligen breiten Natnrcanals in freier Verbin-
duug standen, und beide Gewässer gleichen Salzgehalt
besaßen, weil sie beide derselben Auster zum heimischen
Wohnplatze dienten. Nach Herrn v. Baers Untersuchung
muß diese Canalverbindnng etwa 5000 Jahre vor unserer
Zeitrechnung aufgehört haben zu existiren.
d Senkungen der festen Erdrindeic. 347
Seit Leopold V. Bnch diese Thatsache der cillmä-
ligen Erhebung Nordschwedens über allen Zweifel erhob,
ist auch vou vielen anderen Geologen die Sache als voll-
kommen wahr erkannt und zugleich nachgewiesen worden,
daß der Gang der Erhebung nicht nur an verschiedenen
Orten, sondern sogar an ein und demselben Platze sehr
ungleich auftritt, so daß es bis jetzt uoch uicht möglich war,
eine stets zutreffende Regelmäßigkeit aufzufinden. Während
der verflossenen Jahrhunderte ist die Erhebungsbewegung'
bald schneller, bald langsamer gewesen, wie sich ans den
Andeutungszeichen in den felsigen Gestaden Norwegens nn-
zweifelhaft schließen läßt. Einige dieser Spuren, welche die
Meereswogen eingegraben haben, sind breit und sanft geneigt,
andere dagegen schmal uud scharf, ganz ohne Neigung. Die
durch Herrn Bravais am Altenfjord ausgeführten
unmittelbaren Ausmessungen haben bewiesen, daß die
Spuren der horizontalen Meeresausspülungen gar nicht
parallel, uud daß die uach dem Golf hin gelegenen Fels-
massen höher gehoben sind, als die in der Nähe des offenen
Weltmeers. Charles Martins, ein Reisegefährte Bra-
vais (derselbe, welcher über die Gletscher von Spitzbergen
so anziehende Bemerkungen veröffentlicht hat, s. Globus
VIII, S. 321), entwickelte 1863 in der „Revue des Deur
Mondes" neben dieser Mittheilung zugleich eiue sinnreiche
Hypothese, welche Karl Vogt in seiner Erzählung der
„Nordfahrt von Georg Berna" weiter zur Erklä-
rung der ungleichen Erhebung benutzt hat. Für uns genügt
es aber nur zu bemerken, daß nach dieser Theorie die ver-
schiedenstenSteinarten, wie Schiefer, Sand und Kalk-
stein, woraus die Gebirge der Halbinsel ursprünglich
zusammengesetzt waren, nicht aufgehört haben, sich durch
das eingesogene und gefrorene Wasser auszudehnen, und
durch die uachfolgeude Anschauung uud Verdunstung sich
wieder zusammen zu ziehen, wobei fortwährend Theile zer-
krümelten, die sich dann nach uud nach zu den Granit-
massen verdichteten..
Diese von den Geologen stark bestrittene Hypothese
würde wohl eine Wiederausfüllung der eingegrabenen
Markzeichen au der norwegischen Küste erklären können,
aber nicht die Intervalle der relativen Ruhe, und vor Allem
nicht die geologische Thatsache, daß an mehren Orten, selbst
zur Zeit der Eisperiode, ein Sinken des Festlandes statt-
gesunden haben müsse. Man muß daher zugestehen, daß
in dem Hebungsprozesse Skandinaviens noch andere geolo-
gische Kräfte wirksam gewesen seien.
Uebrigens darf man nicht außer Acht lassen, daß die
Erhebung dieser Halbinsel kein alleinstehendes Factum ist,
daß auch in anderen nördlichen Ländern Enropa's und
Asiens ähnliche Erscheinungen zum Vorschein gekommen
sind, obgleich die Felsarten von ganz anderer Beschaffenheit
waren. Die Inselgruppe Spitzbergen zeigt zwischen
dem jetzigen Meeresuser uud deu Bergen noch die nnver-
kennbaren Spuren alter Gestade, welche sanft abfallen und
eine Ausdehnung von 3 bis 12,000 Fuß haben. Man
findet hier bis zu einer Höhe von 140 Fuß noch Lager von
Walfischrippen und Conchylien unserer Zeitperiode.
Diese Ueberreste, welche unter der Sommerschneegrenze
Spitzbergens gelagert sind, beweisen deutlich, daß dieser
Archipel, eben so wie der Skandinaviens, durch all-
mälige Erhebung ans dem Meere entstanden sei. Auch
der Nordrand Sibiriens hat sich in gleicher Weise
erhoben, wenn man den Sagen seiner Bewohner uud den
Nachweisungen der Reisenden Glauben schenken will. In-
mitten der Tundras und selbst auf den Gipfeln ziemlich
hoher Hügel entdeckte man halbverfaultes Holz, welches von
dem früher dahin reichenden Meere angeschwemmt sein
»
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348
Nils allen (SvbtTjoifcn.
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mußte, dessen Ufer jetzt 6 bis 7 Meilen davon entfernt
lind. Die Insel Diomida, welche Ehabarosf 1760
besuchte, war 69 Jahre später, zur Zeit der Reise
Wrangels, schou keineJnsel mehr, sondern mit dem Fest-
lande verbunden; es mußte daher der zwischenliegende
Meeresgrund während der Zeit über die Oberfläche des
Wassers gehoben worden sein.
Die Steilküsten Schottlands biete» ähnliche Erschei-
nungen wie die von Skandinavien. Die Parallel-
spuren, welche das Mecruiveau eingegraben hat, und die
in höheren Gegenden zerstreut aufgesuudeueu Couchylieu
der noch jetzt vorhandenen Seegeschöpse machen es un-
zweifelhaft, daß dieser Theil Großbritanniens ebenfalls
allmälig gehobeu worden sei. Diese Erhebuugsbewegnng
besteht noch fort, wie dies die Untersuchungen an deu Mün-
duugeu der Flüsse Förth, Tay und Clyde sicher ergeben
haben. Seitdem die vom Meere zurückgelassenen Ueber-
reste aufgefunden worden sind, hat man auch bestimmt,
daß sich das Festland hier um durchschnittlich 24 Fuß
gehoben haben müsse. Da sich der Pietenwall um
eben so viel gehoben hat, so würde also die jährliche Er-
Hebung 0,015 Fuß betragen haben. Weiter nach Süden
hin deuten die Spuren der englischen Berge ebenfalls auf
das Vorkonunen dieses Phänomens. In Wales erhebt
sich der Snowdon zu einer Höhe von 3456 Fuß; an
seinem Abhänge, ziemlich in der Mitte, fand ein Natur-
forscher 54 verschiedene Arten von den noch jetzt im benach-
barten Meere lebenden Conchylien. Ja man traf diese
Conchylien in dortiger Gegend später noch um 600 Fuß
höher an.
Es haben also die Festlande Sibiriens, Skandi-
naviens und die Inselgruppen Spitzbergens und
Großbritanniens die zuverlässigsten Spureu einer
allmäligeu Erhebung an den Tag gelegt. Der Spiel-
räum dieser wunderbaren iunern Thätigkeit unsers Erd-
balls ist daher schon auf 160 Längengrade ausgedehnt.
Die aufgezählten Thatsachen sprechen mit der größten
Wahrscheinlichkeit dafür, daß man in diesem Phänomen
nichts Lokales, oder Zufälliges und periodisch Vorüber-
gehendes annehmen dürfe, sondern daß dasselbe als ein dem
Erdganzen angehöriges Resultat einer allgemeinen un-
unterbrochenen fortwirkenden innern Kraft angesehen wer-
den müsse.
Weitere Bemerkungen über dieses höchst interessante
Kapitel der physischen Erdkunde behalten wir uns vor.
Aus allen Erdtheilen.
Ii
fei
Wi
II,
:1
M
Die mißlungene ostafrikanische Expedition des Barons
Karl von der Decken.
Schon früher haben wir gemeldet, daß derselben kein glück-
licher Stern gewinkt hat; überhaupt sind die afrikanischen Ent-
deckungsreisen im Jahre 1865 von Mißgeschick heimgesucht
worden.
Ueber Herrn von der Deckens Mißgeschick wissen wir vor-
erst nur, was der nachfolgende Bericht meldet, welchen Dove
nach Notizen entworfen hat, die beim Brnder des Reifenden
eingelaufen sind. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß über
kurz oder lang aus Sausibar ausführliche Nachrichteu eintreffen
werden; iuzwischeu muß uus das Nachstehende genügen. In
Bezug aus das Schicksal des Barons und des vr. Link sind wir
unsrerseits durchaus nicht beruhigt, wenn die beiden den Somal
in die Hände gefallen sind. Wir erinnern uus, daß diese Bar-
baren vor nun 11 Jahren den Lieutenant Stroyan, einen
Begleiter Speke's, in der Umgegend von Berbera ermordet
haben. Die Hoffnung wollen wir deshalb nicht ausgeben, aber
es ist nicht wohl abzusehen, wie die Engländer diesen Somal
beikommen wollen. Doch hier ist der Bericht:
„Nachdem die Schäden, welche ^das Dampfschiff. der „Wels",
am 29. Juli bei dem Uebergange über die Barre des „Djuba"
erlitten hatte, so gut als möglich reparirt worden waren, dampfte
die Expedition am 15. August stromaufwärts. Nach vielfachen
Hindernissen, besonders durch öfteres Auffahren des „Wels",
durch Mangel an Lebensmitteln und dnrch Holzeinnehmen ver-
ursacht, gelang es am 19. September Berdera zu erreichen,
eine Stadt, die einige hundert (—?—) Seemeilen stromauf-
wärts liegt. Die Bewohner und Chefs von Berdera, wahr-
scheinlich in Furcht für die Zukunft ihres Handels, legten alle
möglichen Hindernisse in deu Weg: sie wollten keinen Proviant
verlausen und suchten durch Übertreibung der zu erwartenden
Gefahren die Erpedition zu entmnthigen. Man ließ sich aber
nicht abschrecken, sondern drang stromaufwärts vor. Am
26. September gerieth der „Welf" auf steinigen Grund und
erhielt einen gefährlichen Leck. Der Baron ging mit Dr. Link
und dem Chef Abd io und einigen seiner Leute am 28. Sep-
tember uach Berdera zurück, um Lebensmittel und Hülfe zu
rcquiriren; am folgenden Tage wollte er Botschaft oder wenig-
stens Proviant senden. Drei'Tage wartete man vergeblich, mit
dem Räumen des „Welss" beschäftigt; die räuberischen Somalis
aber, deren Habgier durch die Waarenvorräthe des Schisses stark
gereizt fein mochte, benutzten diese Verminderung der Manu-
schast zu einem mit Uebermacht ausgeführten Ueberfall des
Lagers, welches am rechten Ufer des Flusses aufgeschlagen wor-
den war. Der Maler E. Trenn, ein Preuße, und der Inge-
uieur Kanter, beurlaubt von der k. k. österreichischen Marine,
wurden niedergemacht, den Anderen gelang es zwar, durch gut
gezieltes Feuer die Somalis in den Busch zurückzutreiben, jedoch
war ein längeres Halten der Position bei der Uebermacht un-
möglich; man nahm den Somalis das letzte Boot ab, dessen sie
sich vorher bemächtigt hatten. Man war einstimmig der An-
ficht, daß Alles daran liegen müsse, die Nachricht von dem Un-
glück und der Gefahr des Barons nach Zanzibar zu bringen,
und beschloß zu Boote sich zu retten; denn bei noch längerem
Verweilen hätte ihnen leicht der Weg abgeschnitten werden
können, und dann war es ganz unmöglich, den Anderen Hülfe
zu bringen. Tag und Nacht rudernd,' kam der Rest der Erpe-
dition am 6. Oktober, Nachts 2 Uhr, an der Mündung des
Djuba an und verließ das Boot, da die Barre für dasselbe
uupassirbar ist. Es glückte ihnen bald, ein Fahrzeug zu finden,
welches sie am 16. Oktober nach Lamn brachte, und dort ein
andres, auf dem sie am 24. Oktober Zanzibar erreichten. Herr
V. Schickt) setzte sofort das hambnrger und englische Consnlat
in Keuntniß, bat um Hülse und brach nach schneller bejimög-
licher Ausrüstung nach Brava auf, um den Baron und Link
auszusuchen oder wenigstens sichere Nachricht von ihrem
Schicksale zu er lau gen. Bereits am 11. November
dampfte ein englisches Kriegsschiff dem Djuba zu, mit nicht
genug zu rühmender Bereitwilligkeit dem Hülferufe des hau-
seatischen Consuls Herrn Th. Schulz — der in dieser Zeit
zugleich das englische mit verwaltete — Folge leistend. Nach
dem Urtheil der mit den Verhältnissen jeuer Gegenden Vertrau-
ten darf die Hoffnung anf Rettung des Chefs und des Arztes
der Erpeditiou nicht 'aufgegeben werden. Diese zu bewerkstelli-
geu, werden die bisher ergriffenen Maßregeln vielleicht nicht
ausreicheu. In diesem Falle darf man gewiß hoffen, daß —
da die englischen Beamten und Seeleute sogleich kräftig eingc-
schritten sind, um die Verunßten zu retten — die deutschen
Regierungen um so mehr sich verpflichtet halteu werdeu, von
ihrer Seite schützend und helfend einzutreten. Die hier gegebene
Aus allen
Nachricht bezweckt zunächst falsche Gerüchte zu verhindern, da
weitere Nachrichten abzuwarten sind, bevor mit Aussicht auf
Erfolg eingeschritten werden kann."
Kannibalismus im Nigerdelta.
„Am 19. November 1865 unternahmen die Schwarzen
von Nenealabar einen Zug gegen die Braßleute, indem
sie durch die Nebengewässer des Ncncalabarflnsses fuhren. Sie
kamen am 23. November mit 37 Gefangenen zurück und hielten
am folgenden Tage iu der Stadt Calabar unter großem Jubel
einen festlichen Schmaus. Es wurden nämlich alle
Gefangenen abgeschlachtet und aufgefressen. Man
verfuhr dabei so, daß jeder Gefangene regelrecht ausgeschlachtet
und iu «stücke zerlegt wurde; diese vertheilte man an die ein-
zelnen Häuptlinge lind zwar iu dem Verhältnisse, in welchem
jeder einzelne mehr oder weniger Mannschaft in seinem Kriegs-
kahne gehabt hatte."
So meldeu die amtlichen Berichte nach England. Es geht
eben ein bischen wunderlich her in Onkel Toms Urheimat.
Uebrigens sind solche Seenen des Kannibalismus weder neu noch
selten, sie gehören zu deu Landeseinrichtungen. Menschenfleisch
wird iu Neuealabar aus dem Markte verkauft, wie bei uns
Ochfeu- oder Hammelfleisch.
Jene schwarzen „Ebenbilder Gottes" haben auch noch manche
andere interessante Einrichtungen und Bräuche, welche die Be-
wunderung eines jeden Negerverehrers verdienen. Sagen uns
doch die puritanischen, methodistischen und baptistischen Leute iu
Nordamerika und deren gläubige Nachbeter, daß der Neger ein
„mildes, liebenswürdiges und harmloses Naturell" habe, das
nur durch „weiße Tyrannen" in das Gegentheil verkehrt werde.
Im Nigerdelta beschränken sich diese weißen Tyrannen
darauf, daß' sie Rum und Waffen :c. verkaufen und dafür
Palmol einhandeln; im Uebrigen lassen sie das liebenswürdige
Naturell unangetastet, und Sklavenhandel, außer unter den
Negern selbst, kommt nicht vor.
Als ich obige Nachricht las, sielen mir einige Angaben ein,
welche Thomas I. Hutchinson mittheilt. Er war englischer
Eonsnl in Fernando Po und spricht aus Erfahrung. (Ten
years' Wanderings amerong the Ethiopians etc. London 1861.
S. 45 ff.)
. In Alt- und Nenealabar und in Eboh werden alle Zwil-
lingskinder umgebracht.
Gleichermaßen wird jedes Kind umgebracht, bei welchem
die obern Zähne zuerst zum Durchbruche kommen.
Im Jahre 1856 wurde ein Albinokind (Albinos kommen
unter deu Negern nicht gerade selten vor) an der Mündung des
Nenealabar den Haifischen geopfert. Der Haifisch war damals
Hauptfetisch des Stammes, wurde aber abgesetzt, weil er einige
Häuptlinge zerrissen und verzehrt hatte.
An der Mündung des Braß River hat mau einen beson-
dem Opfermann für dergleichen Verrichtnngen. Albinomädchen
lassen sich gern von Haifischen fressen, weil sie der festen Mei-
nung sind, daß sie wieder aufleben und dann einen Weißen zum
Manne bekommen.
In einigen Theilen von Benin werden bei jedem Neu-
moude zwei Männer geopfert.
Der vielgenannte Bischof Crowther. selbst ein Schwarzer,
erzählt Folgendes. _ Ein Albinosklave wnrde in Jdda getödtet
und damit der Friede zwischen zwei feindlichen Stämmen besie-
gelt. Man drehte ihm zuerst Hände und Beine ans den Ge-
lenken, warf ihn dann lebendig in eine Grube und stellte über
diese ein großes Gefäß. Als er verhungert war, nahm man
dasselbe wieder weg.
Ans der Insel Fernando Po wird ein Mann, der eine
Mordthat verübt hat, ans folgende Weife vom Leben zum Tode
gebracht Man bindet ihn im Wald an einen Banm und läßt
ihn so verhungern und von Ameisen anffressen.
In Ostafrika geheu ähnliche Brutalitäten im Schwange.
Livingstone erzählt,' daß auch in manchen Stämmen, z. B. bei
den Bakaa und den Bakuene, Kinder getödtet werden, bei wel-
chen die oberen Zähne zuerst zum Durchbruche kommen; von
Zwillingen wird allemal einer umgebracht.
Von der afrikanischen Westküste. In Badabn, am
Gambia, innerhalb des englischen Gebietes, haben sich im
Dezember 1865 die Neger erhoben und gedroht, alle Weißen
in der Stadt Bathurst zu ermorden. Die Häuptlinge
ließen dem Gouverneur sageu, sie würden am Weihnachtstage
Erdtheilen. 349
erscheinen und die Stadt stürmen. Also anch dort Rassen-
k a m p f.
Im Gebiete von Sierra Leone liegen zwei Häuptlinge,
Malaghed Bailey und Bacarry, mit einander in Fehde; sie sind
aber darin einig, daß sie um die Wette die Faktoreien der
Weißen ausplündern, „und es sind von den Negern
Scheußlichkeiten verübt worden, welche an die Gränelseenen ans
Jamaiea erinnern. Alle Gefangenen werden von den Hänpt-
lingen als Sklaven nach dem Innern hin verkauft." (Shipping
Gazette vom 10. Januar.)
Die Gefangenen in Abyssinien. Da die Engländer dem
Halbbarbaren Theodoros mit Gewalt nichts anhaben können,
so wollen sie den Weg der Güte versuchen. Ihr Consnlaragent
Rassam, der sich bisher so viele vergebliche Mühe gegeben,' die
Gefangenen (Eameron, Stern ?e.) zu befreien, ist nun am
15. Oktober 1865 von Mafsawah mich Abyssinien mit 40 Ka-
meelen abgereist, die alle mit Geschenken an den Negus beladeu
sind. Dieser war auf einem Kriegszuge gegen Scho'ah begriffen
und Rassam kann ein paar Monate warten, bevor er den
„großmächtigen Kaiser" zu sehen bekommt. — Gifford Pal-
grave war im November in Aegypten, wollte abwarten, was
Rassam ausrichtet und eventuell eine Reise nach Abyssinien
antreten. Dr. Beke war im Oktober in Massawa angelangt.
Ans Ostindien. Der Gefährte Speke's, Capitän Grant,
ist wieder in die indische Armee eingetreten und steht zn Almora
in einen: Ghorkaregimente.
In der Nähe von Allahabad hat im November wieder eine
Witt wen Verbrennung stattgefunden; dagegen ist die Nach-
richt erfreulich, daß sich in Bombay, wie vor einiger Zeit schon
in Ealentta, ein Verein einflußreicher Hindus gebildet" hat, um
den Wittweu die Wiederverheiratung zn ermöglichen,
welche ihnen bisher durch ein Vornrtheil des Volkes untersagt
ist. Kürzlich hat auch schon eine solche Verheiratung statt-
gefunden.
Zur Erforschung Ceutralasieus hat die indische
Regieruug drei eingeborne Agenten ausgeschickt. Sie reisen als
Kanfleute, ohne daß einer vom andern etwas weiß. Sie sind
angewiesen, über Alles, was sie wahrnehmen, Notizen git machen,
die Stimmung der verschiedenen Völker auszukundschaften,
namentlich auch ob dieselbe für Rußland günstig fei. Sie sollen
insbesondere Buchara, Chokand und Samarkand besuchen.
Ostindische Kulis in Westindien. Als die Neger auf
der Insel Trinidad theils gar nicht arbeiten wollten, theils so
unverschämt hohen Lohn für eine nicht regelmäßige Arbeit for-
derten, daß die Pflanzer dabei nicht hätten bestehen können,
ließen die letzteren mit schweren Kosten Arbeiter, Kulis, aus
Ostindien kommen. Dadurch wurde der Rnin der'Insel abge-
wandt, und mit Hülse dieser asiatischen Arbeiter liefert sie
Zucker und Kakao. "Jetzt melden Nachrichten ans Trinidad, daß
an 400 Knlis, nachdem sie ihren Arbeitsvertrag redlich ansge-
halten haben, in der Mitte Novembers an Bord des Schiffes
„British Trident" nach ihrer Heimat zurückbefördert worden
sind. Diese Leute waren nicht nur gut gekleidet und wohl-
genährt, sondern nahmen als Erspar'niß eine Summe
von mehr als 60,000 Thalern baaren Geldes mit.
Das spricht für die Kulis und die vielverleumdeten Pflanzer
lant genug; es spricht aber auch gegeu die Trägheit der Neger
und die Vertheidiger der fauleu Schwarzem
Der Seeraub in den chinesischen Gewässern ist nie zuvor
so arg geweseu als gegen Ende des Jahres 1865 und es war
kein Anschein, daß der Unfug sich vermindern werde. Die zu
Hongkong erscheinende „Overland China Mail" wiederholt
dringend'die Mahnung, daß jedes Kauffahrteischiff sich
stark bewaffne. Sre erzählt unter anderen Fällen, daß das
preußische Barkschiff „Fohkieu" auf der Fahrt vou Tfche fu nach
Hongkong von einem Piraten gejagt und beinahe genommen
worden sei. Es hatte seine Rettung lediglich dem Umstände zu
verdanken, daß zufällig ein anderes Schiff ihm zum Hülfe kam.
Capitän Bockelmann behauptet mit der größten Bestimmtheit,
daß die meisten Korsaren maskirt gewesen seien; er habe aber
bemerkt, daß sie weiße Hände hatten; namentlich gilt das von
dem Piraten, welcher ihm ein Pistol entgegen hielt, als das
Schiff genommen war. Die obengenannte Zeitung sagt geradezu,
35Ö Aus allen
daß Europäer, namentlich Engländer, die Hand im Spiele
hätten. „Es erleidet keinen Zweifel, hier cin der Küste sind
fremde Bneatniere, Europäer." Im Oktober 1865 hat der
Befehlshaber des britischen Kanonenbootes „Opossum" in der
Nähe von Hongkong eine Anzahl von Piratendschonken zerstört
und mehre von ihnen gekaperte Schiffe wieder genommen.
Aus Australien. Wir finden in der melbonrner „Ger-
mania" vom 23. November die Nachricht, daß die Erp edition
zur Aufsuchung L eich Hardts in der Mitte Oktobers am
Coopers Creek eingetroffen fei.
Die „Port Denifon Times" vom 14. Oktober meldet, daß
Herr Hays von Nichmond-Downs am Ufer des Flinders - River,
ungefähr IVO Meilen östlich von Fort Bowen, einen Banm
gefunden hat, worin Leichhardts Merkzeichen L
eingehauen ist. Dieses ist jedenfalls eine wichtige Eni-
deckung. Der letzte auf solche Weise gezeichnete Bauin wurde
von Herrn Henning ebenfalls am Ufer des Flinders-River
gefunden, ungefähr 100 Meilen westlich von dem obigen, zuletzt
entdeckten Baume. Früher wurde venuuthet, daß Leichhardt bei
dem von Herrn Henning gefundenen Baum den Fluß über-
schritten habe, aber der'Baum bei Nichmond-Downs beweist,
daß er dem Laufe des Flusses weuigstens 100 Meilen aufwärts
gefolgt ist.
EiuWeißer unter denEingebornen vonQneens-
land. Im Jahre 18-46 litt ein englisches Fahrzeug am Cap
Eleaveland Schiffbruch; ein junger Matrose, James Mo rill,
war der einzige, der sich ans Land retten konnte. Die Einge-
bornen thaten ihm nichts zu Leide und er ist volle 17 Jahre
bei ihnen geblieben. Während dieser langen Zeit sah er keinen
einzigen weißen Menschen, gewöhnte sich durchaus an die Lebens-
weise der Schwarzen, vergaß seine Muttersprache fast gänzlich
und war der allgemeine Liebling der Wilden. Endlich zog es
ihn wieder zu seinen Landsleuten, denn diese hatten angefangen
Queensland zu besiedeln. Morrill ging ganz offen zu Werke
und bat die Australier, ihn zu entlassen; er versprach wieder zu
kommen und ihnen Decken, Streithämmer n. dergl. zu bringen.
Mit großer Vorsicht näherte er sich der nächstgelegenen Hütte
eines Weißen, denn da die civilisirten Menschen den schwarzen
Menschen todtschießen als wäre er ein Raubthier, so war er
sehr auf seiner Hut. Als er eines Ansiedlers ansichtig wurde,
rief er in gebrochenem Englisch: Ich bin Matrose und britischer
Unterthai?! Es geschah ihm nichts zu Leide und man brachte
ihn erst nach Port Bowen und dann nach Brisbane. Dort
lernte er alliuälig seine Muttersprache wieder, erhielt eine An-
stelluug im Zollhanse und betrug sich stets ordentlich. Das
lange Verweilen unter den Eingebornen hatte seine Gesundheit
untergraben und im November vorigen Jahres ist er, erst
41 Jahre alt, gestorben. Er war der festen Ueberzen-
gnng, daß noch einige Gefährten Leichhardts am
Leben seien, und erbot sich, Mac Jntyre auf seiner For-
schungsexpedition zu begleiten.
Die obigen Notizen finden wir in der „Shipping Gazette"
vom 18. Januar; im „Athenäum" vom 27. Januar lesen wir,
daß die geographische Gesellschaft in London zin'
Unterstützung der Leichhardt-Erpedition 200 Pfd. Sterl. bei-
steuert. Ju der Sitzung vom 22. Januar wurdeu zwei Ab-
handlungen über Australien verlesen; von Jardine über den
Cap York-Distrikt und von I. Martin: Forschungen in
der Umgegend des Flusses Glenelg in Nordwestaustralien.
Im Norden der Eolonie Queensland, zu Towoomba,
ist Gold gefunden worden.
In Südanstralien, das bekanntlich ungemein reich an
Kupfer ist, hat man im Jahr 1865 bei Wheal Coglin, ganz
in der Nähe der Rapid-Bay, Silbergruben entdeckt, deren
Reichhaltigkeit gepriesen wird.
Das südaustralische Nordterritorium, das söge-
nannte Alerandra-Land, von welchem Anfangs so großes
Aufheben geniacht wurde, ist durch eine Regierungscommission
gründlich untersucht worden. Sie empfiehlt das Land durchaus
nicht; man habe den Ertrag der Weideländereien bedeutend
überschätzt und Viele, die dorthin kamen, sind wieder abgezogen.
Aus Neuseeland. Die Hanhau's sind noch sehr feindselig
gegen die Missionäre gesinnt, weil sie in jedem derselben, —
die doch eigentlich allein ihre wahren Freunde waren und es
gut mit ihnen meinten, — einen Spion erblickten. Auch den
Missionär Völkner haben sie für einen solchen gehalten. —
Erdthcilen.
Im November war noch keine Aussicht, daß die Maoris die
Waffen niederlegen würden; im Oktober hatten die den Eng-
läuderu freundlichen Eingebornen i>eu_ feindlich gesinnten ein
Scharmützel geliefert. So zerfleischen sie sich untereinander.
Ein Bericht ans Neuseeland schreibt: „Das Bewußtsein
scheint immer mehr durchzudringen, daß es hoffnungslos fei,
eine Nasse zu europäischer Eivilifation zwingen zn wollen,
welche derselben durchaus nicht znsagt. Es würde unter solchen
Verhältnissen sehr zweckmäßig sein, wenn wir den Maoris
erklärten, daß wir weder verlangen noch versuchen werden, ihnen
unsere Souveraiuetät aufzuerlegen, außer wenn es ihr eigener
Wunsch und Wille ist." Sehr verständig; aber die landgierigen
weißen Ansiedler werden sich daran nicht kehren. —
„In der Nähe von Nelson sind die wohlerhal-
tenen, versteinerten Ueberreste eines fünfnnd-
zwanzig Fnß hohen Vogels gefunden worden."
Eine Hexe auf Neuseeland. Ein Maori, Herr Houe
Wentre, welcher sich zum Christeilthum bekennt oder doch be-
kannte, war^ lange Zeit Magistratsperson zu Kawhia uud ein
ganz ordentlicher Mann. Er galt für einen sehr civilisirteu
Eingebornen, spricht uud schreibt Englisch und las manche
Bücher. In diesen hatte er denn auch gefunden, daß die Chri-
sten in Europa und Nordamerika sehr viele Heren verbrannt
haben. Warum sollte er nicht thnn, was die Weißen gethan?
Eine alte, triefäugige Maorifrau wurde ihm verdächtig, er
witterte in ihr eine Hexe, verurtheilte sie zum Tode, und da
das Verbrennen nicht mehr Mode ist und überhaupt auf Neu-
seeland nicht vorkommt, so machte Herr Hone Wentre kurzeu
Prozeß und schlug mit eigener Hand der alten Frau deu Kopf ab!"
Von den Chatham-Inseln im Stillen Weltmeere. Diese
östlich von Neuseeland liegende Gruppe ist im vorigen Jahre
vom Botaniker H. H. Trav ers erforscht wordeu nnd dieser
Naturforscher hat in der „Anstraliau Gazette" über dieselbe
einige interessante Angaben mitgetheilt.
Erst während der letztverflosseneu acht Jahre haben Tau-
b eu sich auf jenem Eilande eingefunden; früher waren sie dort
unbekannt und man weiß nicht, woher sie kamen. Meisen
erschienen bald nach den ausgedehnten Waldbränden, von denen
Australien vor einigen Jahren heimgesucht wurde. Die Ein-
führuug.der Bieueu ist eine wahre Wohlthat gewesen. Nicht
nur daß die Ausiedler Honig ernten, auch die ans Europa
eingeführten Fruchtbäume geben seitdem eine große Menge von
Früchten. Der weiße Klee, unser Gänseblümchen, der Sauer-
ampfer und der Senf wuchern so gewaltig, daß die Colonisten
alle Mühe haben, sich derselben zu erwehren, jene enro-
Peuschen Pflanzen würden sonst die ganze ein hei-
misch e Krantv e g etati on verdrängen uud vertilge».
Die Eingebornen der Chatham-Inseln werden als More-
ores bezeichnet. Vor 40 Jahren zählte man ihrer etwa 1500,
jetzt siud sie auf ungefähr 200 znsammengefchmol-
z en. Sie waren heitere Menschen mit Adlernasen und freund-
licheul Gesichlsansdrnck, leider auch rund nnd wohlgenährt. Das
letztere wurde ihnen verhängnißvoll. Ein Maori aus Neusee-
land diente als Matrose ans einem Kauffahrteischiffe aus Syd-
ney, welches bei deu Inseln anlegte. Als der Maori in seine
Heimat zurückgekehrt war, erzählte er dort so viel von den
More-ores und deren Wohlbeleibtheit, daß seinen Landsleuten
der Mund wässerte. Sie beschlossen eine Erpedition zu unter-
uehmeil und fette Schmäufe zu halteu. Im Jahr 1832 oder
1835 überfiele» sie die Chatham-Inseln nnd fraßen den
größten Theil der Bewohner auf. Diese Kannibalen,
sagt Travers, gingen dabei höchst raffinirt zn Werke. Sie
zwangen ihre Opfer, das Holz herbeizuschleppen und die Oefeu
zu heizen, in denen sie geröstet'werden sollten. Der „Mensch"
ist zu allen Zeiten, unter allen Himmelsstrichen und auf allen
Stufen der Kultur oder Unkultur eiu höchst liebeuswürdiges
Geschöpf!
Die Postverbindung zwischen dem Missouri und dem
Großen Ocean. Die neuen Staaten und die Territorien im
innern Westen Nordamerikas gewinnen insbesondere durch ihre
reichen Metallschätze eine immer größere Wichtigkeit. Eine regel-
mäßige Verbindung nach Osten hin wie mit den Küstenstaaten
am Stillen Weltmeere war ein allgemein gefühltes Bedürfniß.
So weit die Umstände es erlauben, wird dasselbe durch die
Overlaud Stage Line befriedigt. Der Leser werfe den Blick
Aus allen Erdtheilen.
351
auf eine Karte. Auf der Grenze von Nebraska und Missouri,
an diesem Flusse, liegt Omaha City. Von dort sowohl, wie
von Atchinson und Nebraska City geht täglich ein Post-
wagen bis Fort Kearney am Platte, 'das 256 Miles nach
Westen hinliegt, und dort treffen diese drei Routen zusammen.
Hier solleu auch die beiden Eisenbahnen, einerseits ans Missouri,
andererseits aus Iowa sich vereinigen; von dort an nach Westen
hin soll dann der große Strang der paeisischen Bahn laufen.
Der Postwagen geht so ziemlich dem 40" n. Br. folgend bis
Denver City in Colorado und weiter nach Idaho Citv,
das noch im Staate Colorado und 450 Miles vom Fort Kear-
ney entfernt liegt. Er geht weiter auf der Linie dnrch Utah,
Nevada und Kalifornien, zunächst über den Bridgers-Paß
nach Great Salt Lake City, 650 Miles. Von dieser
Hauptstadt der Mormonen aus geht eiue Zweiglinie von
500 Miles Länge gegen Nordosten durch das nördliche Utah,
Idaho und Montana bis nach Bannock und Virginia
City; eine andere, 850 Miles lang, zieht nordwestlich über
Boise City und Idaho bis zu den Dalles (Katarakten) des
Columbiastroms, welcher unterhalb dieser Fälle bis zu seiner
Mündung schiffbar ist.
Auf diesen Linien waren (nach der neuyorker „Tribüne"
vom 30. Dezember 1865) zn Ende des Jahres 825 Mann
beschäftigt; die Zahl der Kutschen und Erpreßwägen betrug
156; jene der Pferde und Manlthiere 3530. Von diesen letz-
teren wurden 1490 verwandt, um allen nothigen Bedarf und
Vorrath zu den 264 Poststationen zu bringen, an welchen
die Pferde gewechselt werden. Die Zahl dieser Stationen ver-
theilt sich in folgender Weise:
Von Atchinson über Denver zum Salzsee . 110
Vou Nebraska City nach Fort Kearney . . 15
Von Denver nach Central City .... 3
- Vom Salzsee bis zn den Dalles .... 76
Vom Salzsee bis Virginia City in Montana 45
Mit dem Bau der großen Eisenbahn zum Stillen Welt-
meere hofft man in fünf bis sechs Jahren fertig zu fein.
Die Acadier in den englischen Colonien Nordamerika'?.
In Neuschottland, Nenbrannschweig und ans den Inseln Prinz
Edward und Cap Breton leben unter englisch redenden Ansied-
lern uoch etwa 80,000 bis 100,000 Nachkommen der alten fran-
zösischen Colonisten, welche Sitten und Sprache ihres alten
Mutterlandes beibehalten haben. Diese Aeadier sind theils
Ackerbauer, theils Holzfäller oder Nuderknechte und Pelzjäger,
und als solche streifen sie weit und breit umher. Seit einigen
Jahren wandern viele von ihnen nach Canada und den nörd-
lichen Staaten der Union aus; manche haben sieh am Sagnenay
nnd an der Straße vou Belle Jsle niedergelassen. Jene von
der Prinz Edwardsinsel haben in der Gegend vonBvnetonche
in Nenbrannschweig und in Untereanada in Connty Bon-
aventura, im Hintergründe der Chaleurbay die Ansiedlung
Metapediae gegründet, welche gegenwärtig etwa 500 Seelen
zählt.
Agassi; hatte, einem Brief aus Rio de Jaueiro vom
21. Dezember 1865 zufolge, binnen wenigen Monaten im Ama-
zonenstrome nicht weniger als 1163 neue Species Fische
gesunden. Das ist mehr, als das ganze Mittelländische Meer
aufzuweisen vermag. Er hofft, daß nun auch die Nebenflüsse
eine reiche Ausbeute geben werden, und will unter andern auch
den Purus und den Rio negro erforschen.
Wir fügen hier folgende Angaben bei, welche wir in der
„Deutschen. Zeitung" von Porto Alegre (18. November) finden.
Während Agassiz den Amazonenstrom bereist nnd dort seine
Untersuchungen anstellt, gehen ihm die übrigen Mitglieder
der Commission durch das Innere der Provinzen Minas,
Bahra Goyaz, Pernambneo, Ceara, Pianhy und
Maran hon entgegen, indem sie den S. Franziseo nnd seine
Nebenflüsse den' Parnahyba nnd den Toeantins erforschen. —
Man schreibt dem Senator Ottoni von der Villa Jannaria aus:
„Durch die HH. Thomas Ward nnd Orestes St. John empsin-
gen wir den Brief in dem Ew. Ere. und der Hr. von Prados
uns diese Herren relommandiren. Sie befinden sich seit 20 Tagen
hier und ich glaube, daß sie zufrieden sind, nicht nur der guten
Ausnahme wegen, die sie hier gesunden, sondern hauvtsächlich
wegen der große» Ausbeute, die sie an naturgeschichtlicheu
Gegenständen gemacht haben und die, ihrer Versicherung nach,
wahrhaft wunderbar ist und aus vielen Seltenheiten besteht,
die man hier für gänzlich unbedeutend hielt. Gestern ließ ich
den Herrn Ward nach der Stadt Palma in Goyaz trans-
portireu, wo er sich auf dem Toeautins einschiffen wird, um
mit seinen Begleitern stromabwärts zusammen zu treffen. Herr
St. John geht heute uach Paranagna in der Provinz
Pianhy und von dort wird er nach 'dem Toeantins gehen,
nachdem er den Flnß Parnahyba erforscht hat. Die übrigen
Herren gehen den S. Fran ei sc o hinab bis zur Stadt
Remancho und von dort werden sie durch die eearensischen
Comarken Crato und Jarelina nach Pianhy gehen, um dort
mit St. John zusammenzutreffen und auf dem Toeantins nach
Parä zu gehen."
Materielle Entwicklung in den La Plata- Staaten.
Der Präsident der argentinischen Confoderation erklärte vor
einiger Zeit bei Einweihung einer Eisenbahn, „daß er den
Fortschritt des Landes mit dem Ansschwnnge des Unternehmungs-
geistes , welchen die Ausländer bethätigen, identifieire". An
diesem Unternehmungsgeiste lassen es namentlich die Engländer
nicht fehlen; daß Deutschland irgend eine energische Thätigkeit
am La Plata entfalte, haben wir noch nicht gelesen.
In der Provinz Entre Rios befindet sich ein großer
Theil der Schafheerden im Besitz englischer Landwirthe nnd ein
Gleiches ist der Fall in Santa Fe. Im Dezember 1865 fanden
dort, namentlich an der im Bau begriffenen Eisenbahn nach
Cordova, fast täglich große Verkäufe vou Ländereien statt.
Die Bevölkerung von Frayle mnerto, das so ziemlich an der
Grenze von Santa Fe nnd der Provinz Cordova, aber in
der letztern, liegt, steigt nnd rasch wächst die Zahl der englischen
Ansiedler ein; doch ist immer noch gutes Land billig zu haben;
6000 Acres werden mit 1000 Silberdollars bezahlt.
Der Wolle rtrag ist im Jahre 1865 glänzend ausgefallen.
Die Schafheerdeu sind um 40 Procent angewachsen und die
Wollanssuhr wird uicht unter 200,000 Ballen oder 7,000,000
Arroben, also 175,000,000 Psnnd betragen.
Als ein sehr beträchtlicher Erwerbszweig erscheint bereits
das Einsalzen von Rind- und Schasfleifch, welches nun
von einer Compagnie nach einer neuen Methode betrieben wird.
Sehr beträchtlich ist die Einwanderung von Basken
aus den französischen Südwestdepartements. Ihrer sind schon
mehr als 50,000 in den La Platastaaten, und man sieht diese
fleißigen Lente gern.
Die argentinische Regierung hat in der Person des Eng-
länders Lloyd einen Einwandernngscommissär nach
Liverpool geschickt. Der zn Buenos Ayres erscheinende „Staud-
ard" schreibt: „Wenn die Lente in England nnr wüßten, welche
große Vortheile dieses Land darbietet! Das Klima ist gesund,
die Arbeitslöhne stehen hoch. Jedermann findet sofort lohnende
Beschäftigung; alle Verhältnisse sind in befriedigendem Zn-
stände."
Die Stadt Buenos Ayres hat einen schlechten Hasen,
der kaum diesen Namen verdient. Nun liegt aber, 28 Miles
zn Wasser, 35 Miles zu Lande, nach Süden hin, bei Ense-
nada eine Bncht, wo seither die Quarantaine war. Hier ist
mit verhältnismäßig geringen Kosten ein Hasen von bester Be-
schasfenheit herzustellen, mit 160,000 Pfd. Sterl.; so lantet der
Anschlag des bekannten Ingenieurs Weelwright. Von Ense-
nada soll für 500,000 Pfd. Sterl. eine Eisenbahn nach Buenos
Ayres gebaut werden, nnd beide Plätze würden dann etwa in
einem ähnlichen Vcrhältniß stehen wie Bremen nnd Bremer-
Hasen.
Ans der Banda Oriental wurden 1860 an Wolle
6,566,000 Psnnd ausgeführt, 1864 aber schon 18,854,000 Pfnnd,
nnd 1865 sollten mehr als 30 Millionen verschifft werden.
Die Qualität der Wolle hat sich in den letzten Jahren sehr
verbessert, nnd jetzt sind drei große Coinpagnien gegründet
worden, welche sich Vermebrnng und Veredlung der Schafzucht
zur Aufgabe gemacht haben. Auch aus Montevideo erschallt
die Klage über Mangel an Arbeitern. Die Arbeiter in den
Saladeros erhalten 8% Schilling (84 Silbergroschen) Taglohn
und das beste Rindfleisch kostet — 1 Silbergroschen das Psnnd.
Ein Arbeiter könne recht gut täglich 2 preußische Thaler als
Ersparniß zurücklege». Alle öffentlichen Arbeiten haben einge-
stellt werde» müsse», weil Arbeiter sehlen. Ma» hat de» Pla»
gefaßt, 4000 Familien ans Nordamerika zur Einwanderung nach
Uruguay z» veranlassen.
Zwischen Montevideo und Buenos Ayres wird 1866 eine
tägliche Dampferverbindimg stattfinden. Der beste Dampfer,
welcher zwischen beiden Städten fährt, ist ein österreichischer.
In jenen Theilen Südamerikas weiden jetzt viele Millionen
Stück Rindviehs. Sie wurden im 16. Jahrhundert durch
spanische und portugiesische Abenteurer von Santos an der
brasilianischen Küste über Land nach Asuncion nnd Paraguay
gebracht; 1542 und 1558 kamen einige weitere Transporte aus
352 Aus allen
demselben weiten Wege; allmälig verbreiteten sie sich nach Süden
hin. Pferde und andere Haüsthiere sind dagegen auf dem
Seewege und dem La Plata hinauf ins Land gekommen.
Zur Statistik der Dampfschifffahrt.
In Bezug auf die Dampfschiffahrt steht Großbritannien
noch immer voran, doch heben wir mit einiger Genugtuung
hervor, daß Deutschlaud in dieser Beziehung rüstig vorwärts
schreitet. Bremen und Hamburg haben 12 transatlantische
Seedampfer, die ganz vortrefflich sind und nichts zu wünschen
übrig lassen. Auch an der Ostsee rührt man sich wacker.
Freilich sind die Engländer in viel günstigeren Verhältnissen
und uns weit voraus. Sie haben gegenwärtig nicht weniger
als 23 Packet - Dampfschiffsahrtsgesellschaften, welche zusammen
370 Dampfer mit 560,000 Tons Tragfähigkeit und 110,000
Pferdekraft haben.
Von Liverpool aus fahren 164 Dampfer, von Hnll 40,
von London 35, von Glasgow 16, von Hartlepool 15 x. Etwa
200 versehen den Dienst lediglich auf der östlichen, 170 auf der
westlichen Halbkugel, und von den letzteren etwa 80 mit Nord-
amerika. Die Schisse haben 1865 mehr als 10 Millionen
Miles zurückgelegt und mehr als 2 Millionen Tons Kohlen
verbraucht.
Nor längerer Zeit haben wir einmal Mittheilungen über
den Stand der großen Pen insular and Oriental-Com-
pany gegeben. Wir finden jetzt in der „Shipping and Mer-
cantile Gazette" neuere Angaben über den Stand dieser großen
Gesellschaft. Sie besaß zu Ende des Jahres 1865 an Schrauben-
dampfern 41, an Raddampfern 12 Schiffe und außerdem 10
Fahrzeuge zum Transport ic., zusammen 63 Schiffe von 92,353
Tons und 18/270 Pferdekraft.
Aber die französischen Messageries imperiales haben
doch 7647 Tons mehr.
Der Werth der Schiffe der Peninsular- ic. Compagnie ist
zu 2,667,714 Pfd. Sterl. angenommen; es kommen also aus die
Ton 28 Pfd. 17 Sh. 6 Pence; das übrige Eigenthum wird
auf 214,560 Pfd. Sterl. geschäht, dazu kommen aber noch Vor-
räthe von Kohlen ?c. im Werths von 369,699 Pfd. Sterl.; —
im Ganzen hat die Gesellschaft ein Eigenthum von 3,706,987
Pfd. Sterl. Die Bruttoeinnahme betrug 1861 2,346,203 und
1865 2,136,076 Pfd. Sterl., die Ausgabe in den refpektiven
Jahren 2,120,354 nnd 1,976,999 Pfd. Sterl. Dividende
10 Procent.
Im Jahr 1861 hat die Gesellschaft in Folge des Mit-
bewerbes der Messageries imperiales die Fahrpreise, welche sünd-
Haft hoch waren, etwas herabgesetzt und sie beförderte 2200
Fahrgäste mehr als im Jahre vorher; der Ausfall in der Ein-
nähme rührt daher, daß weniger Baargeld, Seide und Baum-
wolle zur Verladung kam.
England hat kein Monopol mehr in der transatlantischen
Dampfschifffahrt. Unsere deutschen Fahrzeuge verrichten ihren
Dienst mindestens eben so gnt nnd rasch wie "die Cunarddampfer.
Auch die Anstrengungen der Franzosen sind aller Ehren Werth;
die Versuche der Nordamerikaner zu einer regelmäßigen Dampfer-
Verbindung mit Europa scheiterten bisher alle; von ihren fünf
Eollinsdarnpfern gingen binnen ein paar Jahren drei durch Un-
vorsichtigkeit verloren.
Die Messageries imperiales haben von Marseille aus für
das ganze Mittelmeer einen natürlichen Vortheil. Dann wurde
am 3. Juli 1861 die transatlantische Compagnie ge-
gründet nnd sie wird von der Regierung freigebig unterstützt
(jährlich 9,300,000 Frcs.). Sie hat ihre 'Schisse in Frankreich
gebaut, nnd das erforderte Zeit. Im Juli 1864 begann sie ihre
Fahrten auf Nenyork; sie hat Gnnst gefunden; die Fahrzeuge
sind rasch und Alles an Bord ist gut. Sie wird 21 Dampfer
in Fahrt bringen mit 16,600 Pferdekraft. Sie fährt nun all-
monatlich nach Havana und Mexico, Westindien und Panama
nnd zweimal im Mouate nach Nenyork.
Die Compagnie der Messageries imperiales besaß am
1. Jannar 1865 nicht weniger als 58 Dampfer mit 102,445
Tons und 17,560 Pferdekraft; sie hatten mehr als 86 Millionen
Francs gekostet. Die Fahrten gehen nach Algerien, dem Archi-
pelagus, die Häfen der Levante' (Konstantinopel, Smyrna, Bey-
rnt, Alerandria:c.) und Jndo-China.
Notizen aus England. Im Jahre 1865 sind in Groß-
britaunien und Irland durch die Post ungefähr 680 Millionen
Erdthcilcn.
Briefe befördert worden; davou kommen auf Loudon etwa
170 Millionen; von 2,130,000 rekommandirten Briefen gingen
nur 14 verloren, aber der Beamte, welcher sie unterschlagen
hatte, wurde ermittelt.
Zu Birkenhead, Liverpool gegenüber, trat im Januar ein
Geistlicher, Dr. Blakeley, aus, um den Gebrauch des Räucherns
in den Kirchen nnd das Tragen bunter geistlicher Gewänder zu
verdammen; dadurch verrathe man die Kirche und bahne die
Einführung der papistischeu Messe wieder au. Er forderte die
in der Versammlung Anwesenden aus, einen Sturm des Un-
willens zu erheben und durch denselben solche „Götzendienern"
fortzuschaffen. Das fand Anklang. Als ein anderer Geistlicher
den Verbesserungsantrag stellte: die Versammlung möge erklären,
daß eine Congregation nicht das Recht habe, sich in bie gottes-
dienstlichen Angelegenheiten einer andern zu mischen, weil darin
eine Beeinträchtigung der bürgerlichen nnd religiösen Freiheit
der Engländer liege, entstand ein ungeheuerer Aufruhr, und am
Ende wurde unter wahrem Höllenlärm Blakeley's Antigötzen-
dienereiantrag gut geheißen. — Wir erwähnen dieses Vorfalls,
weil er die kirchliche Aufregung bezeichnet, welche jetzt überall
in England wuchert und sehr oft ins Fanatische umschlägt.
Namentlich gehen die Baptisten aus Rand und Band nnd unter
den Methodisten gährt es auch stark. Es ist der alte Sauerteig
des finstern Puritanismus, der in Nordamerika so grenzenloses
Unheil nnd so viel unabsehbare Verwirrung angestiftet hat. —
Das spanische Espartogras ist ein wichtiger Handels^
arlikel geworden und man bezahlt 20 Centner (die Tonne) mit
6 Pfd. Sterl. Es wird in den Papierfabriken verwandt.
In Großbritannien waren am 31. Dezember vorigen Jahres
12,299 Miles Ei fenbahnen in Betrieb. Ihre Jahres-
einnahmen haben 35,335,838 Pfd. Sterl. betragen, gegen
33,182,497 in 1864. Dieselben sind seit 5 Jahren ununter-
brechen gestiegen; 1859 betrugen sie nur 25,576,100 Pfd. Sterl.
Altgriechen und moderne Hellenen. Jakob Philipp
Fallmerayer hat in Bezug auf seine Ansichten über Neu-
Griechenland uoch bei Lebzelten'Genugthuung in Fülle bekommen,
nud sie war ihm zn gönnen, nachdem er so viele widersinnige
Angriffe erfahren hatte. Heute sprechen die Engländer, welche
einst für das Hellenenthnni der modernen Slavogräken schwärm-
ten, eben so. Sehr natürlich, diese modernen Hellenen zahlen
ihre Zinsen nicht. Selbst der „Daily News", die sonst in ihren
Urtheilen über Völkerverhältnisse manchmal bornirt ist, gehen
die Augen auf. Die Neugriechen, sagt sie, haben sehr wenige
von den guten Eigenschaften ihrer alten Vorfahren; was sie mit
den alten Althenern gemein haben, das ist eine Leidenschaft nach
Neuem und Neuigkeiten und für Beifall. Einige unbarmher-
zige Ethnologen behaupten zuversichtlich, daß in unseren Tagen
kein Nachkomme der Athener aus den Tagen der klassischenZeit
mehr übrig sei; die modernen Hellenen seien vielmehr ein wirres
Durcheinander von Ansiedlern sehr verschiedener Abstammung
und von allerlei Raubgesindel. Diese Theorie gefällt allerdings
denjenigen Griechen nicht, welche im Auslande leben und dort
reich geworden sind, sie entspricht aber den Thatsachen. Diese
sehr gemischte Abkunft und Verwandtschast wird allerdings
einigermaßen gemildert durch die Erinnerung an Vorfahren,
deren Genius noch heute die Welt entzückt, und durch die
geweihten Erinnerungen, welche sich an so viele Stätten Grie-
chenlauds knüpfen. Aber unsere heutigen Neuathener zeigen sich
weder in Philosophie oder Kunst oder in der Staatswissenschaft
als Landsleute des Plato, Phidias oder Aristoteles. Wohl
aber haben sie die Eitelkeit und die turbulente Ruhelosigkeit,
welche in der alten Republik die besten Bürger verfolgte und sie
mit Todesstrafe heimsuchte. Die Nichtachtung in Bezug auf
pecuniäre Verpflichtungen, ihre Unlust Schulden zu bezahlen,
der Hang nach romantischem Straßenraub?, der ihnen mehr
zusagt als rechtschaffener Fleiß, welchen sie für schmutzig und
niedrig erachten, — diese Dinge deuten aus weniger seines
Blut, als die alten Griechen hatten, nnd bezeugen einen Hang
zum Abenteuerlichen. Byron mochte von dem Volke, für wel-
ches er gekämpft hatte, gar nichts mehr wissen; trotzdem wurde
der Traum von einem wieder lebendig zu machenden Griechen-
land aufs Tapet gebracht und die Schutzmächte ließen sich auf
diese Thorheit ein. Heute sehen wir eine bankerotte Regierung,
ein durch und durch demoralisirtes Volk und eine turbulente
Stadt, die alles Geld an sich zieht. Außerdem ein verödetes
Land, in welchem pittoreske Gmtlcmen ihr romantisches Un-
Wesen treiben.
Herausgegeben von Karl Andres in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Eine Wanderung in Bithynien.
Große geschichtliche Erinnerungen. — Einfluß der Türken. — Chalcedou; Hauuibals Grab; Nicoinedia. — Die Saptiehs als
türkische Gensdarinen. — Alte Römerstraße und ihr heutiger Zustand. — In Sabandja. — Die Sophonbrücke und der San-
garius. — Ada Basar. — Aufenthalt in Ak-Serar. — Ein Abendessen im Nathhaussaale. — Nicäa. dessen Alterthümer und
Geschichte. — Die Coucilien, die Kreuzfahrer und die Byzantiner. — Kleinasiatische Typen.
An den Küsten Kleinasiens, Konstantinopel gegenüber,
weht „Veilchenhauch"; wenigstens hat Fallmerayer es
behauptet. Gewiß ist, daß die Natur nichts versäumt hat,
um die ganze anatolische Halbinsel mehr oder weniger
reich auszustatten und zu schmücken. Geschichtlich betrachtet,
ist dort überall klassischer Boden, der sich aber in unseren
Tagen einer größern oder geringen: Barbarei preisgegeben
sieht. Das ganze Leben stagnirt, gleichviel ob man die
Rothbart diese Regionen durchzogen. Aber die Saracenen
waren mächtiger, als die Ritter aus dem Abendland?; die
Osmanen wurden gewaltig und blieben Herren nni) Ge-
bieter, auch nachdem ihr Sultan Bajasid von dein Mongolen
Tamerlan aufs Haupt geschlageu war.
Nun kennt man den alten Satz: Wohin der Türke
seinen Fuß setzt, dort gedeiht kein Gras. Und es ist wahr:
die Osmanen sind ohne schöpferische Begabung und tragen
in Nicäa. (Nach A. v. Moustier.)
nicht einmal die Fähigkeit in sich, das Gute, Tüchtige und
Nützliche, welches sie vorfinden, zu erhalten. Türkei und
Verfall sind Begriffe, die einander entsprechen.
Auch Kleinasien liefert den Beweis dafür. Aber trotz
aller Ruinen, und in nicht geringem Grade wegen derselben,
zieht dieses Land immer und immer wieder wissenschaftlich
gebildete Reisende an, denn jeder findet für Geschichte,
Sprachwissenschaft und Völkerkunde eine reiche Ausbeute.
Auf Bequemlichkeit und manchmal auch auf persönliche
Sicherheit muß allerdings der Wanderer Verzicht leisten;
aber das weiß er im Voraus und hat sich demgemäß ein-
zurichten. Er verschafft sich vou der hohen Pforte in
Stambnl einen Fermau des Großherrn und dieser Empfeh-
lungspaß wird respectirt von aller Welt. Einen solchen
erhielt auch der Graf von Moustier, als er im Sep-
45
Das constantinopolitamsche Thor
christlichen Griechen oder die mohammedanischen Türken
ins Auge saßt.
In Europa sind die Osmanen Fremdlinge und das
fühlen sie auch, aber auf der asiatischen Seite wissen sie
sich daheim. Ihnen gehört das Land, welches in uralten
Tagen von Sesostris durchzogen wurde, wo Homer sang,
der weise Thales als Naturforscher auftrat, Aesop Fabeln
dichtete, wo Herodot und Apelles geboren wurden. Hier
war ein zweites Griechenland, in welchem späterhin die
Christen einander verfolgten und in Hekatomben abschlach-
tete«. Hier wurden auch viele Dogmen, oftmals unter
seltsamen Einwirkungen und Verhältnissen, festgestellt; aus
den griechischen Tempeln waren Kirchen der „Nazarener"
geworden, und in den Tagen der Kreuzzüge haben Peter
der Eremit, Gottfried von Bouillon und Kaiser Friedrich
Globus IX. Nr. 12.
354 Eine Wanden
tember 1862 seinen Ausflug durch das vordere Kleinasien
unternahm, auf dem wir ihn vorerst bis zu dem alten Nicäa
begleiten wollen.
Am 25. September, an einem prächtigen Herbsttage,
schwamm sein Fahrzeug in der Bucht von Nicomedia, dem
Astapus sinus der Alten, der von bewaldeten Höhen um-
geben ist. Einst war dort reges Leben; jetzt erblickt man nur
wenige Dörfer am Ufer. Am Eingange zur Bucht liegt
Kadi Keüi, auf der Stelle des alten Chaleedon, das
von Pharnabazus, dann von Alcibiades und von Mithri-
dates belagert wurde, wo Rusiuus, der unwürdige Mi-
nister der Kaiser Theodosins und Arcadius, eine prächtige
Villa hatte und wo die Geistlichkeit der herrschenden Kirchen-
Partei auf einem berühmt gewordenen Concilium, 451, den
Eutyches für einen Ketzer erklärte.
Weiterhin kommen in Sicht: Gebiseh, das Lybissa
der Alten, wo Hannib al Gift nahm, um uicht lebendig
in die Gewalt der Römer zu fallen. Plinius hat das
Grab des großen karthagischen Heerführers besucht, und
Moustier meint, daß ein mit Rasen bedeckter Hügel, der
noch heute vorhanden ist, den Ort bezeichne, wo Han-
nibal seine Ruhestätte fand. — Dann Hereke, Ancyron,
in der Nähe von Nicomedia, wo Constantiu, der sogenannte
Große, eine Villa besaß, in welcher er seinen höchst uuhei-
ligeu Geist aufgegeben hat.
Das Schiff warf vor Jsmid, Nico media, seine
Anker aus. Zunächst fällt ein Kiosk des Sultans in die
Augen, der aber nicht an den großartigen Palast Diocle-
tians, oder an jenen erinnert, welchen Sultan Murad der
Vierte im 17. Jahrhundert erbauen ließ. Von beiden sind
keine Spuren mehr vorhanden. Auf deu Werften werden
dann und wann Kriegsschiffe gezimmert. Die einst glän-
zende und sehr volkreiche Hauptstadt des alten Bithymens
zählt jetzt etwa 20,000 Einwohner.
Der Reisende ging zum Kaimakan, um seinen
Ferman vorzuzeigen. Dieser Beamte saß unter einem
Zelte und war vou den Mitgliedern des Medschlis, der
Rathsversammlung, umgeben, benahm sich nach Gebühr
und stellte zwei Saptiehs, welche dem mit Postpferden
reisenden Europäer zum Geleite mitgegeben wurden. Nach
einigen Stunden war Alles in Ordnung, man tauschte
Tameuos, Grüße, aus und ritt ans der Stadt. Die
Saptiehs kann man dem Wesen uach als eine Art von
Gensdarmen bezeichnen; sie sind aber nicht gleichmäßig
gekleidet, sondern wie türkische Reiter überhaupt, tragen
nach Belieben Fes oder Turban, Jacken von verschiedener
Farbe; auch sind die Waffen nicht gleichmäßig. Der Türke
ist gern Saptieh; er kann als solcher zu Pferde sein, den
blanken Säbel führen, im Land umher traben, gemächlich
seinen Tschibuk rauchen und sich in den Dorfschenken oder
wohin er sonst kommt, etwas aufwarten lassen. Sein
Monatssold übersteigt jedoch vier deutsche Thaler nicht,
und deshalb sind ihm Accidentien sehr willkommen. Man-
chem sagt man nach, er stehe im Einverständnisse mit den
Straßenräubern, und das mag auch wohl vorkommen;
gewiß bleibt, daß nicht selten Saptiehs bei Erfüllung ihrer
Pflicht das Leben in die Schanze geschlageu haben.
Von Jsmid bis Sa band ja mögen es etwa 7 deutsche
Meilen seiu. Die Straße ist 12 bis 14 Fuß breit, gepsla-
stert, aber in einem so abscheulichen, in einem so türkischen
Zustande, daß sie an mehren Stellen kaum uoch vorhanden
ist und die Pferde Seitenwege aufsuchen. Und das ist die
alte Römerstraße, welche von hier aus Kleiuasien von
Nordwesten nach Südosten, bis an die Grenzen Syriens
durchzog, und von welcher noch heute viele Verschiedeue
Wege auszweigen, durch welche Stambul mit Armenien,
ig in Bithynien.
dem Persischen Meerbusen und Mesopotamien in Verbin-
dung steht. Die ersten' osmanischen Sultane haben aller-
dings etwas gethau, um sie in leidlichem Staude zu erhalten,
aber später hat sich Niemand mehr um Ausbau und Besse-
rung bekümmert.
Auf einem solchen Wege gelangt man nach Sab and ja.
Dort sind die Straßen sehr eng und schmal, aber der
Chan, das für Reisende bestimmte Einkehrhaus, war neu,
überraschend sauber, sogar mit Matten belegt und hatte
einen Kaffeewirth, der auch ein aus Huhu und Reis bestehen-
des Mittagsmahl auf deu Tisch brachte.
Dicht bei Sabaudja liegt ein kleiner See, durch welchen
einst Kaiser Trajan vermöge eines Kanals den Sangarius
mit der Bucht von Nicomedien in Verbindung bringen
wollte; das Projekt wurde aber nicht ausgeführt. Weiter-
hin kommt man an die Sophon brücke, welche Kaiser
Justinianüber den Sangarius schlagen ließ; der Fluß hat
sich aber später einen andern Weg gebahnt und das alte
Bett bildet nur noch eine sumpfige Niederung, durch welche
sich ein schmaler Wasserlauf hinzieht. In dieser Gegend
traf der Reisende viele Armenier, die mit Frauen und
Kindern zu einem Wallfahrtsorte zogen. Ada Bazar,
xnt linken Ufer des Sangarius, zählt etwa 10,000 Seeleu;
davon sind etwa 3000 Armenier und 1000 Griechen. Der
Gemeindevorsteher der letzteren begrüßte deu Fremden und
brachte denselben bei einem Kaufmann unter, der es an
Confitnren, Eigarretten (die Griechen rauchen lieber diese
als den Tschibuk) und Aufmerksamkeiten nicht fehlen ließ.
Die griechische Kirche bietet nichts Bemerkenswerthes dar,
aber als Merkwürdigkeit kann eine durch Dampf getriebene
Sägemühle betrachtet werden, die ein Kaufmann aus Pera
in Ada Bazar gebaut hat. Sie liefert eiue große Meuge
vou Gewehrkolben für die europäischen Heere. Der Nuß-
bäum gedeiht iu dieser Gegend ganz ausgezeichnet; man
sieht viele hundertjährige Bäume, aber keinen Nach-
wuchs. Weder Türken noch Griechen pflanzen
Nußbäume uach, so wenig wie der Neger Kaffeebäume
nachpflanzt. So wird der vorhandene Reichthum bald
erschöpft sein, aber bis auf weiteres macht jene Sägemühle
ausgezeichnete Geschäfte.
Jenseits Ada Bazar führt der Weg erst durch eine
Strecke Haideland, dann aber treten wieder Nußbäume auf
und weiterhin fällt das Gelände ab zum Sangarius oder
Sakara, wie die Türken sagen; er ist nächst dem Halys,
Kisil Jrmak, der bedeutendste Strom von Kleinasien. Der
Engpaß ist so schmal, daß iu demselben kaum zwei Männer
neben einander reiten können, und wenn zwei Karawanen
sich'begegnen, muß eine warten, bis die andere hindurch
gezogen ist. Nach Verlaus einer Stunde wird das Thal
etwas breiter und man rastet dann in einem Karawanserai
an der Kemer Küprü, d. h. Bogenbrücke, die aber nur
vou Fußgängern und Reitern passirt werden kann. Zwei
steinerne Bögen sind einst in Folge von Erdbeben einge-
stürzt; die Türken haben natürlich nichts ausgebaut, son-
dern einige Balken eingerammt und Bretter darüber gelegt.
Das Karawanserai hat im Innern große Stallräume; au
den Hofseiten laufen Gallerien mit kleinen Gemächern, in
denen die Kameeltreiber Unterkommen finden.
Weiterhin treten die Uferhöhen zurück, das Land ist
frnchtbar und verhältnißmäßig gut angebaut, bis zur kleineu
Stadt Ge'iweh, in welcher man das alte Tottänm ver-
mnthet. Hier wachsen vortreffliche Melonen. Nach ein
paar Stunden kommt dann eine Ortschaft in Sicht, die mit
ihren dunkeln, aus gestampfter Erde aufgeführten Häusern
sich keineswegs einladend ausnimmt. Trotzdem heißt sie
die weiße Burg, Ak Sera'i oder Ak-Hissar. Das
Eine Wanderung in Bithynien.
355
Einkehrhaus war gründlich int Verfall, aber bald erschienen
einige Beamten, um den Fremden in den Konak zu gelei-
ten. In diesem alten Gebäude sah Alles anständiger aus,
denn es ist ein Amtshaus, gehört der Regierung und hat
sogar eiu zweites Stockwerk.
„Im Saale waren die Notabeln der Stadt versammelt,
um uns würdig zu empfangen, und draußen ließen es die
Diener nicht an Aufmerksamkeit fehlen. Unter denselben
fiel uns ein Neger auf, der eine vom Halse bis zum Fuß-
knöchel reichende Kette trug. Auf unsere Frage wurde
geantwortet, daß man auf solche Weise die Diebe für
Jedermann kenntlich mache. So wisse man doch, woran
man mit solch einem Menschen sei."
„Doch wir befinden uns im Rathssaal und man ladet
uns höflich ein, auf dem Diwan Platz zn nehmen. Der
Stellvertreter des Mudir, welcher eben auf einer Reise nach
Nicomedia begriffen war, zieht den Ferman hervor, hält
als Zeichen der Hochachtung vor diesem Documente des
Sultans die Hand an die Stinte und liest den Inhalt vor.
Dann werden uns Tschibncks angeboten, wir trinken Kaffee
und können uns ganz gemächlich den Saal betrachten.
Unsere Abbildung veranschaulicht denselben. Da steht eine
aus deu Fußboden, und dann wurden die Gerichte auf-
getragen, mit denen man uns bewirthete, eine Schüssel nach
der andern, bald eine gesalzene und dauu eiue gezuckerte
Speise, eine warme und eine kalte. Da kamen Kebab,
d. h. auf dem Röste gebratenes Schöpsenfleisch, — Dol-
mas, Kugeln von gehacktem Fleisch in Weinblätter
gewickelt; —Böreks, Blätterkuchen von verschiedenerGc-
stalt; — Ka'imak, eine Art Sahne, und 2)cturt, geschla-
gene Sahne, welche man gewöhnlich als Brühe über
Fleischragout schüttet. Natürlich fehlte das National-
gericht der Türken nicht, der Pilav, lind er beschloß die
Mahlzeit, in so weit die Kochkunst in Frage kam. Hinter-
her kamen mehre Arten von Melonen auf deu Tisch: die
weiße, sehr saftige Kavun und die Karpns mit rothem
Fleisch." -
Von Tellern und Gabeln ist keine Rede; jeder'schöpft
Flüssiges mit einem kleinen Holzlöffel; Fleisch, feste
Speisen und Pasteten langt man sich mit den Fingern.
Der Wirth reicht die leckersten Bissen seinen Gästen hin
und diese bedanken sich für die Aufmerksamkeit in verbind-
lichster Weise. Flaschen kommen natürlich nicht zum Vor-
schein, nicht einmal Karaffen oder Gläser. Ein Diener
Das Thor von Lefke in Nicäa. (Nach A. v. Monstier.)
große, stark mit Eisen beschlagene Truhe vor dem einen
Diwan; eine solche ist im Allgemeinen das einzige beweg-
liche Ziminergeräth im Selamlik, d. h. im Gemache der
Männer (im Gegensatze zum Harem, den Gemächern der
Frauen). Man verwahrt Geld und wichtige Urkunden
darin, weniger belangreiche Papiere werden unter die
Polster gesteckt! Die Türken sind uuu einmal kein bnrean-
kratisches Schreibervolk." (S. 357.)
„Im großen Saale dieses Konak sahen wir ferner den
Kadi, den Jman und einige andere wichtige Personen,
welche den Medschlis, der Rathsversammlung, angehörten
und gemächlich ihre Pfeife rauchten."
„Inzwischen wurde es Abend. Wir standen auf und
gingen ans Fenster, von welchem aus wir eine prachtvolle
Aussicht hatten. Die grünen Berge waren von den
Strahlen der scheidenden Sonne mit rothem und goldigem
Schimmer Übergossen, und als die Dunkelheit hereinge-
brechen war, fand sich eine Anzahl junger Männer ein, die
in langherabhängeude Gewänder gekleidet waren und an
die ägyptischen Alinehs (Tanzmädchen) erinnerten. Sie
schwangen Fackeln und führten Tänze auf."
„Im Saale stellte man Wachsfackeln in hohen Leuchtern
bringt eine Art Schale mit Wasser, über welche er seine
Hand gedeckt hält, und reicht sie jenen Gästen, welche ihm
ein Zeichen geben, zum Trinken hin. Ein anderer Diener
hält einen Leuchter, und nachdem alle sich gesättigt haben,
wäscht der Hausmeister ihnen die Finger. Nachher wurde
eine Ruhestunde gehalten; man breitete im Selamlik
Matratzen und Decken aus und schlummerte dann. So
war im Verlauf weniger Stunden dieses Gemach erst Ge-
richtssaal und dann Gesellschafts-, Speise- und Schlaf-
zimmer. Die Türken machen es sich eben so bequem als
möglich.
Die Reisenden verweilten ein paar Tage lang in dem
gastlichen Ak Serai, verließen dann das schöne Thal des
Sangarins und ritten über eine steile, mit großen Fels-
blöcken übersäte Anhöhe, auf welcher eben damals Räuber
ihr Unwesen trieben. Die Saptiehs luden die Gewehre
gut; vor eiu paar Wochen waren ihre Kameraden über-
fallen worden und zwei derselben hatten ins Gras beißen
müssen. Auch war jüngst zwischen Nicäa und Karannssal ein
französischer Seidenhändler ermordet worden. Diesmal
ließen sich keine gefährlichen Männer blicken auf der Hoch-
ebene, welche zwischen dem Sangarins und dem Jsnik göül,
dem See von Nicäa, dem Lacus Ascauius der Alten, liegt:
45*
358 Eine Wandern
Auf einem sanft abfallenden bewaldeten Terrain kommt
man nach Nicäa.
Die Ruinen dieser alten Stadt regen die Einbildungs-
kraft mächtig an; sie sind bei weitem nicht genug gepriesen
worden und gebeu den: Alterthumsforscher, dem Baumeister
und dem Maler Stoff in Hülle und Fülle, der Dichter
ganz zu geschweige«. Es kann nicht ausbleibeu, daß sie
künftig eine bessere Würdigung sinden.
Nicäa ist von Autigonns wenige Jahre nach dem Tode
Alexanders des Großen erbaut worden. Aber seine alten
griechischen Kunstdenkmäler sind durch Zeit und Erdbeben,
Ueberfälle der Barbaren und manche Belagerungen zu
Grunde gegangen. Man sindet übrigens manche Bruch-
stücke alter Architektur in neueren Gebäuden und namentlich
in der Ringmauer; hier einen Säulenschaft, dort ein
Kapitäl im besten korinthischen Styl, und auf manchen
Strecken ist diese Wallmauer mit alten Grabsteinen oder
marmornen Architraveu bekleidet. Das Theater ist in
den Zeiten des Kaisers Trajan erbaut worden, welchem
Plinius der Jüngere iu seinen Briefen Einzelnheiten über
den Fortgang des Baues meldet. Gegenwärtig sieht man
nur eine wirre Masse von Gewölben und Treppenstufen,
welche von einer üppigen Vegetation überwuchert sind.
Zwei Hanptthore: das nach Stambul und das nach Lefke
führende, haben Triumphbögen aus weißem Marmor.
Dieselben sind unter Hadrian gebaut wordeu. Aus der
byzantinischen Zeit sind mehr Monumente erhalten als aus
den Tagen des Alterthums; namentlich verdient die eigen-
thümliche Art, in welcher die Besestigungsmaueru angelegt
sind, die Aufmerksamkeit der Sachverständigen. Auf einer
Strecke von etwa 12,009 Fuß siud sie fast ohne irgend eine
Lücke erhalten, bestehen aus eiuer doppelten Mauer, dem
moenium und dem agger, und sind im Ganzen von 283
Thürmen flankirt; nur einige derselben sind viereckig.
Es versteht sich von selbst, daß in der Byzantinerzeit
manche Kirchen gebaut worden sind; die heutige Kathedrale
scheint aus dein 12. Jahrhundert herzurühren und hat
beachtenswerthe Malereien; eine andere, die Agia Sophia,
hat keine Kuppel und keine Gewölbe mehr, Wohl aber
hübsche Mosaiken. Von dem kaiserlichen Palaste, in welchem
das erste uicänische Eoncil seine Sitzuugeu hielt, ist nichts
mehr übrig. Die seldschuckischeu Sultane, deren Haupt-
stadt Jkouium war, bauten auch zu Nicäa in dem an-
muthigen arabischen Style, der aus indischen, persischen
und byzantinischen Motiven zusammengesetzt ist. Man
glaubt sich nach Bagdad versetzt, wenn man durch das Thor
von Lefke iu die Stadt eintritt und urplötzlich sieht, wie
über dunkeln Ruinenmassen das mit emaillirter Fayence
bekleidete Minaret der Beschil Dschami (grünen Mo-
schee) mit rothen, grünen und blauen, überaus frischen
Farben sich stolz in die Luft empor hebt. Diefe Moschee
ist eiu wahres Bison; die Gittergeländer, welche den Por-
ticus bilden, und die iu den Weißen Marmor der Vorder-
feite eingegrabenen Verzierungen können mit deu fchöusten
Erzeugnissen sich messen, welche der maurische Genius iu
Spanien hervorgebracht hat. Es schmerzt Einen, wenn
man jetzt dieses köstliche Denkmal so verlassen sieht. Frei-
lich dient sie immer noch dem Cultus, indem sie zu einer
religiösen Schule, einer Medresseh, gehört, in welcher
etwa ein Dutzeud Sofias, Seminaristen, Unterricht er-
halten. Diese armen Bursche hauseu in kleinen, Hufeisen-
förmigen Zellen und studireu melancholisch genug ihren
Koran. Ruinen von Bädern liegen in der Nähe; diese
sind, wie eine Inschrift besagt, 1338 erbaut worden; die
Moschee wurde zehn Jahre früher errichtet.
Neben diesen Trümmern aus der heidnischen, christ-
in Bithynien.
lichen und mohammedanischen Zeit, welche so scharfe Gegen-
sätze zu einander darbieten, gewahrt man auch einzelne
Jma rets, Hospize und öffentliche Küchen, in denen armen
Leuten und Schülern Speisen verabreicht werden; einige
sind in recht hübschem Styl aufgeführt.
Nicäa stand in seinem höchsten Glanz, als dort, 327,
unter der Negierung des argen Sünders und Bösewichts
Eonstantin das erste große Eoncilium abgehalten wurde.
Der Kaiser bezahlte den Bischöfen, welche sich zu demselben
einfanden, die Reisekosten; er selber, in ein mit Edelsteinen
besetztes purpurnes Prunkgewand gekleidet und ans einem
goldenen Sessel thronend, führte den Vorsitz. Das Eon-
cilinm verdammte den Alexandriner Anus, weil er behaup-
tete, Gott der Sohu sei Gott dein Vater nicht gleich,
soudern ähnlich. Der Zank über diese Formeln hat im
Fortgange der Zeit einigen Millionen Menschen das Leben
gekostet. Eonstantin schloß das Eoncil mit glänzenden
Festen, deren Pracht alle Beschreibung überstieg. Vier
Jahrhunderte später waren noch einmal viele Bischöfe,
377 an der Zahl, iu Nicäa versammelt; dieses siebente
ökumenische Eoncilium stellte die Lehren und Normeu für
die Verehrung der Heiligenbilder fest. Aber das Alles
konnte nicht verhindern, daß die arabischen Ehalifen wie
ein Sturmwind heranbrausten und später die seldschuckischeu
Türken kamen, welche diese Stadt Nicäa den byzantinischen
Kaisern entrissen. Noch vor den Kreuzzügen war Robert,
Herzog von der Normandie, auf einer Wallfahrt nach
Jerusalem in Nicäa; er starb dort unter geheimnißvollen
Umstäudeu.
Als die uudisciplinirten Horden der ersten Kreuz-
sahrer unter Peter dem Eremiten und Walter Habenichts
nach dem heiligen Grab in Jerusalem ziehen wollten, lan-
deten ihrer dreitausend bei Gemlek, wo der See Ascanins
die Uebersülle seiues Wassers iu das Meer ergießt. Sie
rückten vor Nicäa; der Sultau trat ihnen auf der rechteu
Seite des Sees entgegen, unweit vom Dorfe Basardschick,
und richtete ein entsetzliches Gemetzel au. Im folgenden
Jahre, 1097, erfchieueu Gottfried von Bouillon, Bohemund
von Tarent und andere edle Herren mit einigen hundert-
taufend Kriegern, die sich aus neunzehn verschiedenen Völ-
kern im Kreuzheere zusammen gefunden hatten, vor Nicäa.
Sie kamen von Nicomedia her und sofort begann der
Kampf, der reich ist an romantischen Abenteuern. Der
Sultan Soliman Kilidsch Arslan brach aus deu Engpässen
des Olymp hervor und lieferte dem Grafeu von Toulouse
vor dem Südthor eine Schlacht, verlor 4000 Mann, mußte
zurückweichen ins Gebirge, und Tancred von der Normaudie
verrichtete Wuuder der Tapferkeit. Gottfried von Bouillou
rückte bis dicht unter die Mauer vor, nahm eine Schleuder
zur Hand und streckte mit feinem Geschoß einen riesigen
Saracenen nieder. Von allen Seiten wurde Nicäa bestürmt,
man schleuderte vermöge der Balisten gewaltige Steinmassen
hinein, man warf Feuer und Solimaus Krieger wehrten
sich tapfer. Aber ein lombardischer Ingenieur unterwühlt
die Mauer, schafft eine Lücke, und den Belagerten schwindet
die Hoffnung, um so mehr, da es den Kreuzfahrern gelungen
war, eine Meuge von Fahrzeugen über Land bis in den
See von Nicäa zu schleppen und die Stadt auch von dieser
Seite zu blockireu. Eine saracenische Prinzessin will in
einem Nachen entfliehen, wird aber gefangen. Die hart
bedrängten Muselmänner gehen schon ernsthaft mit dm
Gedaukeu um, den Kreuzfahrern Nicäa zu übergeben.
Aber die Dinge nahmen eine andere Wendung. Der
byzantinische Kaiser Alexius der Eommene hatte dein Her-
zöge Gottfried von Bouillon ein kleines Heer zugeschickt,
weniger in der Absicht, den Kreuzfahrern Hülfe zu leisten,
Heinrich Barths Würdigung fr
als bei günstiger Gelegenheit sein eigenes politisches In-
teresse wahrzunehmen. Der Anführer dieser byzantinischen
Truppen hieß Butumites; die Lateiner nennen ihn Tati-
nns. Es gelang ihm insgeheim, in die Stadt zu dringen.
Den Saracenen wußte er darznthnn, daß Alerius eiu
besserer Herrscher für sie seiu werde, als der Anführer der
abendländischen Kreuzfahrer.
Diese, nun überlistet, waren tief erbittert, als sie auf
deu Mauern Nicäa's die byzantinische Fahne flattern sahen.
Gern hätten sie Rache genommen an den hinterlistigen
Griechen, aber sie hielten sich an ihren Eid gebunden nnb
eilten der „heiligen Stadt" zn. Am 25. Juni brachen sie
ihr Lager vor Nicäa ab und zogen gegen Süden.
Die Byzantiner behielten nicht lange, was sie durch
Treulosigkeit erworben hatten. Im Jahr 1196 wurden
die Seldschncken wieder Herren der Stadt und behaupteten
dieselbe bis ius 12. Jahrhundert. Dann siel Nicäa aber-
mals in die Gewalt der Byzantiner und war Hauptstadt
h einen französischen Gelehrten. 359
der griechischen Kaiser, während die Lateiner über ein halbes
Jahrhundert lang im Besitze von Konstantinopel waren.
Theodor Laskaris ließ sich 1203 in Nicäa krönen. Nach
einer langen Belagerung, in welcher die Stadt viel durch
Hungersuoth gelitten, öffneten die Einwohner, 1330, ihre
Thore dem Sultan Orchan, und seitdem ist Nicäa nun
über ein halbes Jahrtauseud lang im unbestrittenen Besitze
der Türken geblieben.
Wo ist der alte Glanz? Nicäa hat 2 bis 3000 Ein-
wohner, zumeist Griechen. Die Lnst ist nicht gesund; schon
im Alterthum hat mau dieseu Uebelstaud beklagt. Der See
liefert viele Fifche, bleibt aber für deu Verkehr ohue alleu
Nutzen; weder Türken noch Griechen haben andere Fahr-
zeuge auf dem Wasser als einige Fischernachen.
Vor dem Komik kouuteu die Reisenden verschiedene
Typen kleinasiatischer Menschen mit aller Muße betrachten
und Zeichuuugeu entwerfen. Unsere Illustration zeigt
lebensgetreue, charakteristische Bilder.
Heinrich Barths Würdigung durch einen französischen Gelehrten.
Barth gehörte unter die hervorragenden Männer unserer
Zeit und seine Verdienste um die Wisseuschast find unsterb-
lich. Mehr als einmal haben wir im Globus darauf hin-
gewiesen, daß man in England sich die Miene gab, dieselben
zu unterschätzen Man benimmt sich kleinlich im „groß-
müthigen Albion". Wir haben in londoner Blättern mehr
als einen Nekrolog über das Jahr 1865 geleseu, aber
Heinrich Barths wurde darin auch nicht mit
einer Silbe erwähnt!
Die Franzosen sind besser. Während sie die verdienst-
vollen Männer ihres eigenen Landes nach Gebühr in Ehren
halten, geizen sie doch nicht, wenn es sich darum handelt,
die Leistungen von Gelehrten zu würdigen, welche einem
andern Volk angehören. Wie rechtschaffen verfährt, um
nur ein Beispiel anzuführen, der vortreffliche Vivien de
St. Martin. Aber er steht nicht allein. Wir haben
wieder einen Beweis dafür in dem Nachrufe, welchen
Dr. A. Waruier aus Algier unserm Landsmanns gewid-
met hat. (Economiste sran?ais, 25. Januar 1866.) Der
französische Gelehrte spricht sich mit so großer Wärme und
mit solcher Pietät und Hingebung aus, feine Auerkeunung
kommt so freudig aus dem Herzen, daß wir nicht umhin
können, das Wesentliche mitzntheilen. Wir schrieben
nnsern Nekrolog über unseru Landsmann (S. 188) unter
dem erste» Eindrucke von Barths Ableben; das Nachfol-
gende ist geeignet, denselben in Bezug auf manche Specia-
litäten zu ergänzen. ---
Barth, so schreibt Di-. Warnier, war am 18. April
1821 zu Hamburg geboren; er starb am 25. November
1865, im Alter von 44 Jahren, 7 Monaten und 7 Tagen.
Am 31. Jauuar 1845 brach er auf, um seine erste
Forschungsreise zu machen. So zerfällt fein Leben in zwei
Abschnitte: einen der Vorbereitung von 23 Jahren 9 Mo-
uateu uud 7 Tageu, und einen der Ausführung von 20
Jahren und 10 Monaten. Als Barth 23 Jahre alt war,
sprach oder schrieb er Latein, Altgriechisch, Deutsch, Eng-
lisch, Französisch, Italienisch und Arabisch. Er kannte die
Klassiker, die Geschichte des Alterthums, war in Schriften
des Mittelalters belesen, hatte gediegene Kenntnisse in der
Geographie uud Alterthumskunde, uud war mit Allem
vertraut, was über Afrika uud das Becken des Mittel-
meeres geschrieben worden war. Er war Doctor der Phi-
losophie und Doctor juris, hatte eine Dissertation über den
Handel des alteu Korinth geschrieben uud schou eine
Studienreise in Italien gemacht.
Der erste Abschnitt feiner Reisezeit fällt in die Jahre
1845 bis 1847; der zweite in jene von 1849 bis 55, ein
dritter 1858, uud 1865 war er abermals von längeren
Reisen zurückgekehrt.
Er hat außerhalb Europa's zurückgelegt: 46" 30' der
Läuge, zwischen Rabat uud Trapezuut; 30" 30' der Breite,
zwischen Konstantinopel und Iola; 20" 3,0' der Länge vou
Dirma nach Massenja, zwischen dem Wendekreise des
Krebses und dem Aequator.
Seiu Jtiuerarium ergiebt, abgerechnet die Strecken,
welche er zweimal zurückgelegt hat, eine Länge von 27,968
Kilometer, theils in ganz, theils in noch sehr mangelhaft
bekauuteu Gegenden. Stets hat er Uhr, Kompas und
Bleistift in der Hand gehabt, sorgfältig alle Beobachtungen
niedergeschrieben und bei den Landeseinwohnern Erknn-
dignngen eingezogen. Aus seinen Wanderungen hat er
mehr als 50 Völkerschaften und Stämme kennen gelernt,
deren Namen wir vor ihm nicht kannten. Zn den Sprachen,
welcher er bereits mächtig war, lernte er noch vier andere:
den Dialekt des Berberischen, welchen die Auellimiden
sprechen; das Kaiton (die Sprache in Bornu); das Haussa,
welches im innern Sndan eine so weite Verbreitung hat,
und das Türkische.
Barth brachte 8 große Vocabularieu mit, deren jedes
ans mehren tauseud Wörtern besteht, und 44 kleinere, je
von einigen hundert Wörtern; er hatte Notizen über die
Elemente der Grammatik nnd geschichtliche und ethuogra-
phische Notizen über diese verschiedenen Völkerschaften
niedergeschrieben.
In Timbuktu schrieb er Arabisch au deu Scheich el Ba-
kay, Französisch an den Marschall Randon, Englisch an Lord
360 Heinrich Barths Würdigung d
Palmerston, Deutsch au Dr. Petermann, uud sprach niit deu
Barbaren, unter welchen er in Afrika lebte, in zehn ver-
schiedenen Sprachen. —
Warmer sithrt dann die verschiedenen Werke an, welche
Barth veröffentlicht hat, uud betont entschieden, daß er, als
Franzose und Algerier, es als eine Ehrenschuld itnb Ehren-
pflicht betrachte, die großen Verdienste des Mannes seinen
Laudsleuten zur Anschauung zu bringen. „Barths wissen-
schaftliche Forschungen kommen der ganzen Welt zu gute;
was er aber sonst in Bezug auf Afrika geleistet, wird wich-
tige Ergebnisse für Frankreich, Algerien uud deu Senegal
nach sich ziehen.
Das Mittelländische Meer ist das mare nostrum der
lateinischen Rasse und insbesondere Frankreichs. Wir
besitzen an demselben die Gestadelandschaft von Nizza bis
Port Vendres, Corsica mit seinen vielen Häfen und 259
Lieues Küste in Algerien. Der Suezkanal ist unser Werk;
wir haben ein Protektorat über die heiligen Stätten in
Palästina und über die Echelles tu der Levante.
Frankreich ist diejenige europäische Macht, welcher die
Entdeckungen in Afrika am meisten zu gute kommen; es
hat dort die meisten Interessen wegen Algeriens uud Sene-
gambiens, wegen seiner Besitzungen in Guinea: Bassam,
Assinie, Porto novo uud Gabou; wegen jener im Indischen
Ocean: Bonrbon, Samte Marie, Mayotte, Nossi bs, Ma-
dagaskar, und wegen unseres Hafens Obok in der Bab cl
Mandeb, wegen des Hafens von Adulis, wegen des Suez-
kanales uud Port Said.
Nun hat ein wunderbar gelehrter Mann, der vor keiner
Schwierigkeit zurückbebte, zwanzig Jahre lang Reisen uud
Studien gemacht, um uns zu enthüllen, was wir nicht
wußten, und was zn wissen uns doch so nöthig war. Und
wenn sein Name nicht einen Weltruf hätte, fo würde er
unter uns kann: bekannt sein; denn zu unserer Schande
müssen wir gestehen, daß man in Frankreich nur mit Mühe
zwanzig Leute finden würde, welche die fo hochwichtigen
und so durch itnb durch gewissenhaften Arbeiten Barths
gelesen haben!"—Dr. Warmer betont dann, daß keine
französische Buchhandlung es gewagt habe, eine Uebersetznng
von Barths Werken zn drucken; nur in Belgien sei ein
überdies schlechter Auszug erschienen.
In Frankreich war die Ansicht verbreitet, daß Barth
sich gegen die algierer Regierung in einer nicht geeigneten
Weise benommen habe. Dagegen nimmt Warnier ihn in
Schutz. Es handelt sich um folgende Episode:
Barth war 8 Monate und I L Tage in Timbuktu oder
desseu Umgebung, zumeist unwohl, halb und halb ein Ge-
sangener, unablässig bedroht durch die Ränke des Fnlbe-
Hofes von Hamdallahi, welcher vom Marabnt El Bakay
den Kopf des Europäers verlangte und sogar zweimal eine
Kriegsexpedition gegen das Lager von Barths Beschützer
anssandte.
Barth war diesem seinem Beschützer zu Dank ver-
pflichtet; er hatte mit El Bakay einen Gegenfeitigkeits-
vertrag abgeschlossen, kraft dessen die britische Regierung
und der Scheich von Timbuktu Verbündete waren. Nun
kamen damals Abgesandte aus der Oase Tuat und baten
den Scheich uin Unterstützung, weil sie deu Fall als mög-
lich annahmen, daß die Franzosen nach Tuat kommen
würden. Diese hatten Laghnat und Wargla in Besitz
genommen und jetzt besorgten die verschiedenen Oasen,
welche die Gruppe von Tuat bilden, einen Angriff. Dar-
über entstand in Timbuktu große Aufregung und auch die
Nomaden wurden besorgt, denn.das Land am Mittlern
Niger erhält von Norden her seine Waaren über Tuat, vou
wo auch die unentbehrlichen Datteln nach jenem Süden
d) einen französischen Gelehrten.
kommen. Man ging nun damit um, deu heiligen Krieg
gegen die Frauzofeu zu predigen. Barth aber beruhigte
den Scheich, indem er auseinandersetzte, daß Wargla geogra-
phisch zu Algerien gehöre uud eine Besitznahme desselben
durch die Franzosen weder für Tuat uoch für Timbuktu
nachtheilig fei. El Bakay seinerseits gab sich Mühe, die
Aufregung zu beschwichtigen, nni) wies auch darauf hin,
daß England, kraft des eben mit Barth abgeschlossenen
Vertrages, im Nothfall seinen Schutz gewähren müsse.
Barth ist bekanntlich kein Engländer, und es wurde
gegeu El Bakay geäußert, daß er wohl gar ein französischer
Spion sein könne; England werde gegen eine andere
christliche Macht nichts unternehmen, weil Wargla ihm
gewiß sehr uubedeuteud vorkomme. Die Partei der Hitz-
köpfe schien Oberwasser zn gewinnen. Da schrieb El Ba-
kay an den Generalgouverneur von Algerien einen etwas
lebhaft stylisirten Brief wegen der Unabhängigkeit von
Tuat; er mußte die aufgeregten Leute besänftigen uud Barth
gegen Wuthausbrüche sichern. Dieser wnrde aufgefordert,
dem Briefe eine Art von Unterstützung im Namen der
englischen Regierung beizufügen uud er schrieb darunter:
„So geschehen, in meiner Gegenwart, in Tim-
bnktu, am 9. Mai 1854."^ Aus diesen Worten hat
man nun eine „Beleidigung gegen eine christliche Macht"
'folgern wollen! Barth wußte, daß jener Brief des Scheichs
rasch und sicher an die Adresse gelangen werde; ihm lag
vor allem daran, daß man in Europa erfahre, er sei noch
am Leben, verweile in Timbuktu und sei bei dem dortigen
Scheich.
In Europa hielt man ihn längst für todt und von dort
kam für ihn keine Unterstützung. In Algier aber begriff
man den Sinn von Barths Worten nicht, und erst als
Barth uach Boruu zurückgekehrt war, erfuhr man, daß er
frei geworden sei. Dann aber war es zu spät, ihm Sub-
sidieu zukommen zu lassen. Er hatte in Sokoto vom
König ein Almosen erhalten und dauu auf vier Mouate
Einiges gegeu 100 Procent Zinsen geborgt. Er, von so
vielen Beschwerden erschöpft, durch wiederholte Fieberau-
fälle abgemattet, hatte volle drei Jahre hindurch auch nicht
einen Tropfen Wein zu trinken, um sich zu kräftigem Ihm
lag Alles darau, deu Reichthnm, welchen er für die Wifseu-
schast gesammelt, nach Europa zu bringen, und doch war er
noch so weit entfernt vou dort.
Barth hat auf seinen Reisen mancherlei Gefährde aus-
gestanden; mau hat ihn überfallen nnd ausgeplündert; er
ist auf der Grenze zwischen Aegypten uud Tripolitauieu
schwer verwundet und für todt iu der Wüste liegen geblie-
ben; er hat oftmals gehuugert und der Durst hat ihn so
sehr gequält, daß er sich einst am linken Arm eine Ader
öffnete, um sein eigenes Blut zn trinken. Jn Baghirmi war
er ein mit Ketten beladeuer Gefangener; einmal mußte er,
während eines Rückzuges, 34 Stunden im Sattel bleiben,
und als er vom Pferde stieg, sank er völlig erschöpft zn
Boden. Ein anderes Mal war er, damals heftig vom
Guineawnrme geplagt, volle 26 Stunden auf der Flucht.
Seme Reisegefährten verlor er alle; er selber mußte sehr
oft dem Tode Trotz bieten uud war manchmal bettelarm.
Und doch überwand er Alles und kehrte glücklich heim.
Es war iu der That wie eiil Wunder. Richardson
starb gleich, nachdem er den Sudan betreten hatte, Over-
weg erlag am Tsadsee dem Fieber, Vogel wurde später-
hiu in Wadcu' ermordet, desseu Gefährte Warriugton
starb auf der Heimkehr in Fessau. Barth hatte iu Sokoto
am Grabe Elap pertons gebetet; in der Umgegend von
Timbuktu verweilte er inmitten der Leute, welche den
Major Laing ermordet haben; bei den Tnarek fand er
Heinrich Barths Würdigung durch einen französischen Gelehrten.
361
ein Buch, welches einst dem Reisenden Davidson gehörte,
der 1837 auf dein Wege nach Timbuktu ermordet wurde;
zu Gogo am Niger sah er einen Neger, welcher Mungo
Park verwundet hatte, und bei einem andern Schwarzen
fand er noch Allerlei aus dem Nachlasse jenes Entdeckers.
Keiner von allen diesen war zurückgekommen, nur allein
Rene Caillis war dieses Glück beschieden gewesen, und
er und feine Glaubwürdigkeit, welche von den Engländern
angezweifelt worden war, sind durch Barth glänzend
gerechtfertigt worden.
England schreibt von Barths Verdiensten
zu Vielaus britische Rechnung. Murchison sprach
iu der Sitzung der londoner geographischen Gesellschaft vom
11. Dezember 1865 das Wort: Barths Entdeckungen
seien in der That und Wahrheit englische Eut-
deckungen. Weshalb? Etwa weil er mit einem Briten,
Richardson, nach Afrika gegangen ist und England einen
Theil der Reisekosten gezahlt hat?
Wir wollen, sagt vi-. Warmer, einmal nachrechnen.
Richardson, der osficielle Leiter der Expedition, starb am
4. März 1851; Barth kam am 6. September 1855 zurück;
er hat also während eiues Zeitraumes von fünfthalb Jahren
seine Entdeckungen ganz glleiu gemacht.
Vom Tode Richardsons au, dessen Schulden Barth
bezahlte, verausgabte der letztere 37,000 Francs. Davon
hatte ihm sein Vater 1500, der König von Preußen 3500
gegeben; 5250 Francs verwandte Barth ans seinen eigenen
Mitteln. Was hat nun England verausgabt?
Die armselige Summe von 27,000 Francs. Damit hat
sich Barth beholfen 4 Jahre 6 Monate und 2 Tage; er
hatte während dieser Zeit durchschnittlich 6 Diener, denn
mit wenigeren konnte er nicht durchkommen, er mnßte sehr
häufig Gescheuke an die Häuptlinge machen und Eingangs-
und Durchgangszölle bezahlen.
Barth war von der englischen Regierung beauftragt
worden, zu Englands ausschließlichem Vortheil und Nutzen
Handelsverträge abzuschließen mit deu Häuptlingen
der Länder, welche er besuchen werde; die Entwürfe zu
solchen hatte man ihm mitgegeben. Barth richtete sich
durchaus uach seineu Justruetioneu, und jeder ein-
zelne von ihm abgeschlossene Vertrag kostet
den Staat Großbritannien nicht mehr als
2500 Francs. Der Deutsche hat seine Aufträge
wohlfeil genug vollzogen und der Welt noch
seine geographischen Entdeckungen in den Kauf
gegeben.
Und England hatte dem Dr. Barth das Geld nur
vorgeschossen und zwar auf Pfand. Denn die Eng-
länder haben alle die kostbaren Sammlungen ein sich ge-
nommen. England benahm sich wie ein Kauf-
mann, der einen Commis für sich hat reisen
lassen.
Wenn es sich um einen Engländer handelt, ist man in
Großbritannien manchmal sehr freigebig. Barth aber hätte
Hungers sterben können. Man hielt ihn für todt, gab sich
aber seinetwegen weiter keine Mühe; er war ja ein Aus-
länder, deu man als im englischen Solde stehend betrachtete.
Und als nun dieser Apostel der Wissenschaft doch zurück-
kam, da benahm man sich hämisch und kleinlich gegen ihn.
So wurde er z. B. hart darüber angelassen, daß einmal
unter sehr schwierigen Verhältnissen einer seiner Diener
nicht sagen durfte, daß — Barth ein Christ sei!! Es han-
delte sich aber damals um Tod und Leben. Und die
Frömmler haben ihn geschmäht und gescholten als sei er
ein Sklavenhändler, denn der Deutsche hatte die beiden
Neger Dyrregn und Abbeya, den einen aus Haussa, deu
andern aus Marghi mitgebracht, um sie bei seinen lingui-
stischeu Studien zu benutzen.
Die englische Regierung erkannte Barths
Verdienste durch Verleihung des Bathordens
an, aber der britische -Hochmuthsdüukel hat
ihm niemals vergeben, daß er ein Deutscher
war. Allerdings, Barth ist ein Deutscher und zngleich
und vor Allem ein Apostel der Wissenschaft gewesen, der
alle Menschen ohne Unterschied des Glaubens oder der
Nationalität als Brüder liebte. Das Geheimniß seiner
großen Entdeckungen liegt mit in der zngleich freundlichen
und mannhaften Güte, mit der er sich gegen die Lente in
allen von ihm durchwanderten Ländern benahm. Der
Name des Christen Abd el Kerim, d. h. Diener des
Barmherzigen, ist geehrt und geliebt in Afrika; Scheich el
Bakay sprach: „Ich liebe diesen Christen wie meinen
Bruder." So steht auch in dem Ferman, welchen der heilige
Mann dem Fremdling für die Rückreise mitgab. Nicht
Englands Geld hat dem Reisenden des Scheichs Wohl-
wollen nnd Schutz erworben, denn Barth war arm wie ein
Bettler; ans seinem Herzen nnd aus seinem Genius her-
ans wirkte er Mirakel.
Eines Morgens in Berlin erwacht er mit bem Ge-
danken, daß es vielleicht wohlgethan sei, an den Obersten
Faidherbe, Gonvernenr vom Senegal, zn schreiben und ihm
alle Angehörigen der Familie El Bakay's zu empfehlen; es
sei doch möglich, daß zufällig einer oder der andere davon
einmal nach Senegambien komme. Gedacht, gethan. Der
Brief gelangte auch au die Adresse gerade iu der Zeit, da
ein Bakay zu St. Louis gefangen saß; er galt für einen
Spion uud sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden.
Faidherbe, der nun Barths Brief gelesen, gab den Ge-
fangenen frei uud schickte ihn mit Vorschlägen zu einem
Bündnisse nach Timbuktu zurück. Die Folge war eiu
Freundschaftsvertrag zwischen den Franzosen am Senegal
und deu Bakay's; auch erstreckt sich derselbe auf Algerien.
Dr. Warmer erzählt dann, wie förderlich Barth sich
dem jungen und kühnen Dnveyrier gezeigt, und wie er
demselben guten Rath gegeben. In einem Briefe schreibt
er: „Während meiner Forschungsreisen habe ich mich nie
schlafen gelegt, ohne zuvor einen Revolver an meinem
rechten Arme wohl befestigt zn haben. Ich rathe Ihnen,
ein Gleiches zn thmt; es hat die Wirkung, daß man Sie im
Schlafe nicht stört."
Wir danken Herrn Warmer für die Wärme, mit welcher
er, im Gegensatze zn der eisigen Kälte der Jnsnlaner auf
England, sich über uuseru Landsmann ausgesprochen hat.
Globus IX. Nr. 12.
46
362 Der Welttelegraph durch
Der Welttelegraph durch
Wir haben über dieses großartige Werk mehr als ein-
mal Nachricht gegeben, doch beschränkte sich unsere Kunde
nur auf Notizen, welche wir in amerikanischen Blättern
fanden. Jetzt bringt das londoner „Athenäum" vom
27. Januar eine Uebersicht dessen, was bis jetzt geschehen
ist, aus der Feder des Obersten Bulkley, welchem ein
großer Theil der Arbeit übertragen worden ist.
Nordamerika und Sibirien.
Nordamerika und Sibirien.
der ihm angewiesenen Gegend ist der Telegraph bereits
von der Stadt New Westmiuster nach Norden hin auf einer
Strecke von 459 Miles vollendet, und alles Material zum
Weiterbau für 309 Miles war an Ort und Stelle. Man
hoffte zu Eude des Jahres 1865 dort 800 Miles vollendet
zu haben.
Im Juni 1865 hat eine andere Abtheilung unter
In den Sümpfen von Kan
Der Plan zu diesem Telegraphen wurde, wie wir
mehrfach erwähnt haben, schon 1857 von M. D. Col-
lins entworfen, der als Konsularagent der Vereinigten
Staaten am Amur verweilte, diesen Strom aufwärts
schiffte uud dann durch Sibirien nach Europa giug. Die
russische uud die euglische Regierung zeigten sich dem Pro-
jekte günstig, doch ließ man dasselbe längere Zeit ruhen.
Im Jahre 1864 kaufte dann die nordamerikanische Western
Union Telegraph Company von Collins das Privilegium
und legte sofort Hand ans Werk. Oberst Bulkley, der im
Telegraphenwesen sich schon vielfach ausgezeichnet bewährt
hatte, wurde au die Spitze gestellt und traf rasch die
nöthigen Vorbereitungen.
Im Winter 1864 ging E. Couway mit der ersten
Arbeiterabtheilung an die Mündung des Fraserstroms
in Britisch Columbia uud stellte Untersuchungen au. In
chatka, (Nach Krusenstern.)
Major Pope eine Erpedition nach Norden hin unter-
nommen, um die Gegend bis zum Jukou oder Kwitsch-
pak (—das „Athenäum" schreibt cousequeut unrichtig
Tukon und Kirchpak, hat also nicht einmal die erste beste
Karte angesehen!—) genau zu erforschen. Sie hoffte,
im Winter damit fertig zu werden und dann mit einer
dritten Partie zusammenzutreffen, die unter Major Ken-
nicott im September beim russischen Fort St. Michael
gelaudet ist, um die Gegend am Kwitschpak zu untersuchen.
An der amerikanischen Küste hat man das Gelände für
den Telegraphenbau viel günstiger gefunden, als man zu
hoffen wagte, hat keine irgend erheblichen Hindernisse
gefunden und die Indianer haben sich freundlich gezeigt.
Die Hauptexpedition unter Bulkley's Leitung fuhr
im Juli 1865 vou San Francisco aus nach Norden, zuerst
nach der Hauptstation der russischen Niederlassungen an
■
Der Welttelegraph durch
der Nordwestküste, Sitcha, itnb fand dort bei den Be-
hörden und der russisch-amerikanischen Handelskompagnie
sehr freundliche Aufnahme. Mit den Indianerhäuptlingen
wurde ein Übereinkommen getroffen, und die Erpedition
flchr dann weiter gegen Norden bis in bcu Norton-Sund
(— gleich im Südosten der Behriugsstraße —), wo die
obenerwähnte Partie unter Kennieott schon gelandet war.
Dort, im Fort St. Michael, wurde eine bisher streitige
geographische Frage entschieden. Bisher nahm man an,
daß der Kwitschpak und der Ankon zwei verschiedene Flüsse
seien, und daß der eine, der Bukou, sich in den Kotzebue
Suud (— also nordöstlich von der Behringsstraße in den
Arktischen Oeean —) ergieße. Bnlkley erfuhr nun von
>rdamenka und Sibirien. 363
Anadyr. Die Schiffe besuchten Plover Bay, wo sie
Tschuktscheu fanden, die sich ganz umgänglich benahmen.
Von der Plover Bay segelte die Expedition nach Süden
zur Halbinsel Kamtschatka. Ein Schiff untersuchte den
ganzen Anadyrbusen geuau und fuhr iu die Mündung des
Anadyrfluffes, wo schon vorher eine andere Partie ans
Land gegangen war, um den Strom hinaufzufahren und
zu ermitteln, in wie fern er sich zum Transport eigne; sie
wollte dann nach Süden hin bis ans Ochotskifche Meer
wandern und mit zwei auderen, dort fchon thätigen Par-
tien sich vereinigen. Von diesen ist die eine von Nikola-
jeffsk, das bekanntlich am untern Amur liegt, uach Norden
hin gegaugeu, die andere hat die Halbinfel Kamtschatka
Einfahrt zum Pcter-Paulshafcn i
den Eingebornen, welche den Kwitschpak auf feiuem gauzeu
Laufe verfolgt haben, daß es sich hier nur um einen
Münduugsström handelt, der sich iu die Behrings-
straße ergießt. (— Auf den meisten deutschen Karten ist
das schou längst so angegeben. —)
Bnlkley peilte und lothete dann in der Behringsstraße,
im Norton - Sund und in verschiedenen Hafenstellen der
amerikanischen wie der asiatischen Küste, um die passeudeu
Stelleu für Legung des submarinen Taues zu ermitteln;
erfand mehre zur Laudung desselben geeignete Stellen,
und der Meeresboden ist günstig. Für den geeigneten
Punkt zur Überschreitung der Behringsstraße hält er jenen
von Grantley Harb cur nach der asiatischen Küste hin-
über, 180 Miles. Von dort soll der Draht Überland
gezogen werden bis Marston Harbour im Busen von
Kamtschatka. (Nach Krusenstern.)
durchwandert und dann die Nordküste des Ochotskischen
Meeres untersucht.
Bnlkley ist im Spätherbst mit seinem Stabe nach San
Francisco in Calisornien zurückgesegelt, wird aber gleich
im Frühjahre feine Arbeiten fortsetzen. Die Wissenschaft
darf von dieser preiswürdigen Unternehmung manche Be-
reicherung erwarten, da den verschiedenen Abtheilnngen
Fachgelehrte beigegeben sind.
Die Beschwerden der Reisenden sind oft nicht gering,
nnd die Russen, welche in Kamtschatka reisen, wissen davon
zu erzählen; namentlich ist der Ritt durch die Sümpfe mit
vielen Mühseligkeiten verbunden. Manchmal entschädigt
der malerische Anblick des Landes, namentlich an den
Küsten, und wer in den Peter-Paulshafen einfährt, erfreut
sich eines großartigen Anblicks.
364
Zur Geschichte des Weinbaues iu Ungarn.
Zur Geschichte des 3
Ueber die Anfänge, allmalige Verbreitung und Ver-
vollkommnung des Weinbaues in Ungarn lesen wir bei
den ungarischen Geschichtsschreibern nur wenige Daten,
denn die Landeskultursache ist bis iu die neuere Zeit von
denselben sast gar nicht beachtet worden. Das Wenige,
was wir vorfinden, ist iu den Fuudationsurkunden der
Klöster und Abteien, und in den Gesetzen und Verord-
nuugen enthalten, welche von den ungarischen Königen zur
Regelung und Heranziehung der Weinzehenten erlassen
worden siud.
Die ersten Weinbauer in Pannonien waren schon in
der vormagyarischen Zeit die Römer, und zwar hat nach dem
Zeugnisse des Vopiscus Kaiser Probus die ersten Reben
von römischen Soldaten an den Abhängen des „Möns
Almus" in Sirmien pflanzen lassen.
Dieser Imperator, welcher vom Jahre 276 bis 282
regierte, war ein geboruer Sirmier und hielt sich gern in
jenen schönen und üppigeu Gegeudeu aus, wo er auch von
den arbeitsscheuen Truppen ermordet wurde. Auf dem
Berge Almus, welcher heute von deu slavonischen Anwoh-
nern „Fruschka Gora" geuauut wird, und in dessen
Thälern etwa ein Dutzeud Klöster der griechisch-orieuta-
lischeu Kirche liegen, gedeiht noch heute das Gewächs in
üppiger Fülle. Em Wem, voll Geist, Feuer, Wohlgeruch
und Lieblichkeit, wie ihn die Römer wohl kaum bereitet
haben.
Von Sirmien aus mag der Weiubau von deu römischen
Kolonisten in verschiedene, der Weinrebe günstige Hügel-
gegeuden weiter verbreitet worden sein, und namentlich
mag unter Dioeletianus, welcher die Kultur und die Knust
iu Pannonien sehr beförderte, auch die Pflege der Wein-
berge sich einer großen Sorgfalt erfreut haben. Dioele-
tianus selbst hat sich über 11 Monate iu Slavonien auf-
gehalten und viele reiche Römer besaßen dort schöne Land-
Häuser, uameutlich iu deu natürlichen Akropolen Jlok und
Shareugrad; sie fühlten sich angezogen von dem Reiz der
Gegend und dem köstlichen Wasser. Der Weinbau erfreute
sich aber der Guust jeuer glückliche« natürlichen Verhält-
nisse , welche das Klima und die Beschaffenheit des gefeg-
neten paunonischeu Bodens gewähren.
Unter den Ostgothen Theodorich des Großen, welcher
493 iu Slavonien herrschte, unter deu Gepideu uud unter
den Lougobarden des Alboiu, welcher 568 seinen Sitz iu
Pannonien hatte, siud wohl die Weinberge vielfach veruach-
lässigt und hie uud da auch verwüstet worden, aber der
Wein, welchen die Rebe spendete, war bei den Barbaren
so beliebt, daß dieselbe niemals gänzlich ausgerottet wor-
deu ist. Während aller Stürme der Völkerwanderung und
der nachherigeu Kriege hat die edle sirmische Rebe, der
besten römischen aus Italien entstammend, ihre Vortress-
lichkeit bewahrt. Auch unter der Herrschaft der Avareu
uud Slaveu hat die Kultur der Weinberge weder Fort-
schritte gemacht, uoch an Ausbreitung gewonnen. Als
aber Stephau der Heilige das bei deu Magyaren einge-
führte Christenthum mit Hülfe italienischer und sranzö-
sischer Mönche aufrecht erhielt, hat die Weinkultur iu dem
schönen Ungarlande schon deshalb eine größere Ausbrei-
timg und höhere Vervollkommnung gefunden, weil die meist
ans Italien stammende höhere Geistlichkeit von dorther
Winzer zur Anlegung und Pflege der Weinberge auf ihren
leinbaues in Ungarn.
vom Könige geschenkten Gütern erhielt. In der Stiftungs-
urkunde, welche König Stephan der Heilige in: Jahre 1001
dem berühmten Benediktinerstifte zu St. Martin in monte
Pauuouiae ertheilte, wird demselben unter anderen Emolu-
menten auch der zehute Theil von dem Ertrage sämmtlicher
Weinberge im s ch ü möge r Komitate zuerkannt. Es
hatten sich also von deu kriegerischen Ungarn manche seit
der Annahme des Christenthums unter Leitung auslän-
discher Mönche dem Landbau und auch der Pflege der
Weinberge gewidmet. Den Klöstern wurde zur Beförde-
rnng der Weinkultur von Seiten des Königs gewöhnlich
ein Winzer beigegeben. Im Jahre 1015 zahlte die Abtei
zu Petfch-Warad iu dem weinreichen tolnaer Comitate
auf ihren 42 Dörfern nicht weniger als 110 Winzer. Im
Jahre 1055 gründete König Andreas I. die Abtei Tihäny
am Plattensee und verlieh den Mönchen zur Anlegung und
Bearbeitung der Weinberge die erforderlichen Winzer,
woraus hervorgeht, daß die Ungarn damals uoch feine
ererbte Kenntuiß vom Weinbau hatten, sondern überall
unter der Leitung ausländischer Winzer arbeiteten.
Es ist so erwiesen, daß der Weinbau in Ungarn zuerst
in denjenigen Gegenden zur Blüthe kam, welche Italien
zunächst lagen und wo sich eben die meisten Mönch? nieder-
ließen. Und das war der auf dem rechten Donauufer
liegende Theil Ungarns, welcher sich auch durch ein mildes
Klima und schöne Berg- und Hügellandschaften auszeichnet.
In der gottgesegneten Hegyalja, wo heute der beste Wein,
ja sogar der König, wenigstens aller ungarischen Weine, der
Tokayer, wächst, war unter der Regierung der ersten
ungarischen Könige noch gar keine Spur von Weinbau.
In den westlichen Gegenden Nordungarns dagegen, wo sich
ebenfalls Benediktinermönche niedergelassen hatten,
wurde die Weinrebe schon frühzeitig kultivirt. So ver-
fügt ein Gesetz von 1270, daß die Bürger der Stadt
Tiruau, welche Weinberge auf deu Gütern der Adeligeu
besitzen, den zehnten Theil vom Weinertrage den Guts-
besitzeru zu entrichten verpflichtet seien. Auch iu deu Ge-
setzen des Königs Andreas III. vom Jahre 1290 kommen
mehre Artikel vor, welche schon auf eine große Verbreitung
des Weinbaues schließen lassen. Außer den erwähnten
Weiueu des schumöger und tolnaer Comitates waren im
13. Jahrhundert auch die Weine des oberungarischen
borschoder Comitates berühmt, wo auch heute an den
Geländen der karpathischen Ausläufer ein feuriger Wein
von grünlicher Farbe wächst, der freilich gegen die beuach-
barten hegyaljer Weine zurück steht.
Schon König Ladislaus der Heilige hatte ein Gesetz
folgenden Inhalts erlassen: „Wer einen Mann tödtet,
verliert feine ganze Habe, Weingärten, Felder:e." Der
Umstand, daß hier die Weingärten zuerst genannt wurden,
deutet an, daß der Wein damals ein Hauptprodukt der
ungarischen Landeskultur war. Im Jahre 1295 hat sich
Ungarn schon als ein wahres Weinland gezeigt, denn als
die Königin Fenueua, Gemahlin Andreas III., ein Mädchen
gebar, war die Freude so groß, daß man in Ofen von
den Thürmen herab Wein rinnen ließ, „daß
jeder trinken konnte, so viel er wollte". Im Jahre 1330
kamen die Könige Johann von Böhmen und Kasimir von
Polen zum Besuche des Königs Karl Robert mit einem so
zahlreichen Gefolge nach Wischegrad, daß täglich 180
Zur Geschichte des Weinbaues iu Ungarn.
365
Eimer Wein getrunken wurden. Wischegrad war da-
mals die Residenz der Könige und hatte seiner reizenden
Lage wegen den Beinamen: „Paradisns Europae", wenn
auch das dortige Hoflebeu au Pracht, Ueppigkeit, Ver-
schweuduug und Völlerei durchaus fein paradiesisches war.
Der von den ungarischen Ständen ans Italien berufene,
aber aus dem französischen Hause Anjon stammende
Ludwig der Große hat für deu ungarischen Weinbau
durch Berufung italienischer Colonisten und Winzer viel
gethan. Diese Einwanderer waren es, welche das
herrliche Gebirge der Hegyalja mit edlen italienischen
Reben beflanzten und in der Folge durch Gewinnung des
Tokayers dem ungarischen Weine einen große» Namen
machten. Die eigenthümliche Art und Weise der Znberei-
tuug des edelsten Tokayerweines haben aber keineswegs die
Italiener mitgebracht, dieselbe ist vielmehr durch den natür-
liehen chemischen Prozeß jenes Klimas, das auf kalte Herbst-
uächte heiße Tage folgen läßt, sowie durch die physische
Beschaffenheit jenes Kalkgebirges der karpathischeu Aus-
läufer bedingt. Oder gibt es wohl irgendwo foust in der
Welt einen Länderstrich, welcher unter dem 48° nördl. Br.
die Eigenschaften besitzt, einen folchen Göttertrank zu
erzeugeu?*) — Nur unter den gegebeneu Begüustiguugeu
war es möglich, daß die einzig dastehende Zubereitung des
Tokayerweius aus rationellem Wege bis zur heutige» Noll-
kommenheit durch allmälige Entwicklung sich erhob. Von
den italienischen Ansiedlern ist in jenen Gegenden schon seit
Jahrhunderten keine andere Spur vorhanden, als das
Dorf Olaszi, d. h. Welschdorf, welches längst nur von
Magyaren bewohnt ist, und sich nebst vielen anderen des
zempliner Eomitates durch Erzeugung vortrefflichen Wei-
ues auszeichnet. Nebenbei bemerken wir, daß die Weine
der Hegyalja, dieses „ungarischen Edens", nur deshalb
von der Stadt Tokay deu Namen führen, weil diese der
Stapelort des oberungarischen Weinhandels ist, aber keines-
Wegs den besten Wein erzeugt; diese Ehre kommt vielmehr
dem Städtchen Mäd zu. Hier ist jeuer Flor der Wein-
lese, von welcher das Sprüchwort sagt: „Wer die Weiulefe
in der Hegyalja und den Jahrmarkt zu Debreezin nicht
gesehen hat, der hat iu Ungarn nichts gesehen."
Unter der Regierung des mächtigen Mathias Corvi-
nus war der rothe firmier Wein im In- und Auslande
berühmt; er kam auf die Tafel des Königs zu Ofeu und
die edle sirmische Rebe wurde in das Ofuer Gebirge ver-
pflanzt. Wladislans II. dagegen erheiterte sich in seiner
Zurückgezogenheit von allen Regieruugsgefchäfteu au dem
sümöger Weine und verlieh im Jahre 1490 iu einer
weinseligen Laune dem sümöger Comitate eine Wein-
traube zum Wappen. Dieser König war übrigens,
wie die Chronisten erzählen, so arm, daß er sich den gelieb-
ten Trank durch seine Diener bei den Edelleuten „erbet-
telte". Bestimmte Einkünfte hatte der König nicht und
seine Güter waren theils verpfändet, theils hatte der Hoch-
adel dieselben sich angeeignet. Der Bischof von Fünfkirchen,
welcher während seines Aufenthalts in Ofen die königlichen
Bedienten mit leeren Flaschen bettelnd umherlaufen sah, war
über diese Entwürdigung fo entrüstet, daß er dem Könige eine
Quantität vorzüglichen Weines als Geschenk zukommen ließ.
Und doch hatten die Truppen dieses „guten" Königs, als
dieselben im Jahre 1494 die Bergfestung Ujlak in Sirmien
eroberten, in den großen Kellern des Rebellen Nikolaus
*) O ja. In Deutschland wachsen unter dein 50.° nördl.
Br. der Johannisberger, der Steinberger, der Nüdesheimer und
noch andere edelen Weine, deren „Ausbruch" wir dem Tokayer
mindestens gleich stellen, und die eine feinere Blume haben.
A.
Ujlaki nicht weniger als 3000 Fässer des köstlichen firmier
Weines vorgefunden. Aber der gnte, unbekümmerte
König ließ seiue Leute gewähren uud fertigte alle diejenigen,
welche sich in feiner Gegenwart über die Beeinträchtigung
des königlichen Ansehens verlauten ließen, mit dem Worte
„Dobfche" ab, d.h. es ist gut, denn Wladislans war
aus Böhmen. Die Ungarn nannten ihn daher „Dobsche
Läszl6", d. h. „Es ist gut, Wladislaus."
Der ungarische Schriftsteller Nikolaus Olahus erwähnt
im Jahre 1536 nicht mehr als 50 edle ungarische Wein-
forten, unter welchen noch immer dem Sirmier die Krone
zuerkannt wird. Sodann nennt er die auch heute geprie-
seuen Weine der Baranya, dann die borfchoder und
die damals in der That berühmten neustädter rotheu.
Vom Tokayer war noch immer keine Rede. Der nen-
städter Weinban ist in Verfall gerathen, oder vielmehr der-
selbe hat keine Fortschritte gemacht nnd ist von anderen
Städten überflügelt worden. Die ofner, erlaner,
szekszärder, namentlich aber die ki läng er und
menefcher Weine haben denselben längst den Rang ab-
gelaufen.
Im 17. Jahrhnndert wurde allmälig der oberunga-
rische Wein der Hegyalja unter dem Namen
Tokayerwein in Polen und Deutschland beliebt. In
den siebenbürgischen Unruhen haben die gegen Oesterreich
kämpfenden nnd in Ungarn einbrechenden Fürsten die
tokayer Weinkeller stets als ein werthvolles Plündernngs-
objekt betrachtet und die Könige von Frankreich, Polen und
Schweden wurden von den Hülfe und Unterstützung suchen-
den siebenbürgischen Fürsten mit deu edelsten Weinen
beschenkt. Der Handel warf fo reichlichen Gewinn ab, daß
die ungarischen Inden bei dem oft mangelnden Produkte
sich vielfacher Verfälschungen schuldig machten, wodurch der
Tokayerwein in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
allmälig in Mißkredit kam. Die Klageu der Produceuteu
waren so allgemein, daß sich Maria Theresia 1742 bewogen
fand, den Juden den Handel mit Tokayerweinen zu verbie-
ten. Das betreffende Dekret ist nnn längst vom Zeitgeiste
annullirt worden, zumal der Handel, alle Verfälschungen
verschmähend, sich vorzugsweise auf die edelsten Weinsorten
gelegt hat. Der Tokayerwein ist unnachahmlich und es
kann durch künstliche Manipulation kein ihm auch nur ähn-
liches Getränk gewonnen werden.
Im Jahre 1804 erließ Kaiser Franz den Hofbefehl:
„Von nnn an keine ausländischen Weiue mehr aus die
kaiserliche Tafel zu fetzen, da die gute Qualität der inläu-
difchen, besonders der ungarischen Weine alle fremden
entbehrlich mache."
Die Ausbreitung des ungarischen Weinbaues ist gegeu-
wärtig so groß, daß in Ungarn uud seinen ehemaligen
Kronländern nach Berechnung der „Mittelprokreation"
nicht weniger als 30 Millionen Eimer Wein erzeugt wer-
deu, wovon aber nur eiu sehr geringer Theil znr Ausfuhr
kommt, obgleich in den letzten Jahrzehnten die nngarischen
rothen Weine selbst nach Frankreich gebracht worden sind
nnd von dort als Bordeaux-Weine wieder in den Handel
kommen. Die französische Industrie stellt auch mit Hülfe
catalonifcher und arragonischer Weine sehr viel Bordeaux-
Wein her. In Ungarn haben sich iu neuerer Zeit mehre
Gesellschafter gebildet, welche die Erweiterung des Exports
und die Hebung der Kellerwirthschaft bezwecken. So der
„tokayer Verein für Weinkultur", „die kroatisch-slavo-
nische Gesellschaft für Weinkultur", „die erlauer Wein-
haudluugsgesellschast", „der fexarder Weinhandlungs-
verein" mit einer Filiale in Gratz ?e.
Wenn man auf das Verhältniß des Bodenraumes
366 Fortschritt der Arbeiten ain Suezkcmal.
Rücksicht nimmt, so steht Ungarn im Weinbau in erster der deutsche Zollverein Z.Millionen Eimer. Romanien
Linie. Italien erzeugt gegenwärtig nur 2 Millionen erzeugt 800,000, die Krim und Bessarabien 400,000 und
Eimer Wein, Frankreich 40 Millionen, Oesterreich mit Griechenland 200,000 Eimer.—
Ungarn 42 Millionen Eimer, Spanien 9 Millionen und A. L.
Fortschritt der Arbeiten am Suezkanal.
Nachrichten aus Alerandria melden, daß in den ersten I einem Meere zum andern zu schaffen. Das wäre ein An-
Tagen des Dezembers 1865 eiu Dampfer von 13 Fuß I fang, aber die eigentliche Frage ist damit noch lange nicht
Ferdinand von Lesseps. (Nach einer Photographie.)
Tiefgang bei Port Sa'id in den Kanal eingelaufen sei,
und daß die Kanalgesellschaft sich erboten habe, im Mai
1866 die Tonne Güter (20 Centner) zu 38 Francs von
gelöst. Die Dampfschifffahrt im Rotheu Meere ist sehr
kostspielig, weil dort die Kohlen so theuer sind; da aber
auch sie die Kanalfrachten zu tragen haben, so werden sie
Ein Besuch im Feuertempel bl
in Suez, Dschidda k. nicht wohlfeiler zu stehen kommen,
als die, welche mein bis jetzt aus England auf dem Wege
um das Vorgebirge der Guten Hoffnung dorthin bringt.
Werthvolle und nicht schwer ins Gewicht fallende
Waaren, die aus Europa nach Indien bestimmt sind, und
von dort unter günstigen Conjunctnren auch Baumwolle,
werden wohl oftmals den Kanal wählen, vorausgesetzt,
daß er praktikabel fei und bleibe. Doch ist noch
Alles iu der Schwebe und es bleibt die Hauptfache noch zu
thun übrig. Der Schwerpunkt liegt darin, daß große
Seefchiffe von 2909 Tonnen das geeignete Fahrwasser
finden, uud daran ist noch lange nicht zu denken. Was bis
jetzt erreicht worden ist, sind provisorische Ergebnisse. Bei
Suez, wo das Meer so seicht ist, daß die Schiffe 3 Miles
weit vom Ufer entfernt ankern müssen, sind die Hasen-
arbeiten und Molen erst noch herzustellen. Der maritime
Kanal soll Fahrwasser für Schiffe von 25 Fuß Tiefgang
enthalten.
Wir ersehen, daß Herr v. Lesseps noch immer bei seinen
mehr als sanguinischen Berechnungen beharrt. Er meint,
die Hälfte aller Waaren, welche alljährlich aus Europa
nach Indien und Ostasien gehen, würden durch deu Kanal
befördert werden und 19 Francs per Tonne Gebühren
zahlen. Er nimmt für diefe Waaren ein Gewicht von
12,999,999 Tons an und meint, daß 6 Million Tons
dem Kanal zu Nutze kommen müßten. Im Jahre 1864,
sagt er, sind von Madras und Ealeutta über England
759,999 Ballen Baumwolle nach Frankreich gegangen
uud nur 24,999 Balleu direkt nach Havre verschifft worden.
Die Peninsular- und Oriental-Eompagnie berechnet für
die Tonne Waren und feine Güter, die nach Aden, den
indischen Häfen, Australien, Singapore und Hongkong
gehen, 34 Pfd. St. uud 49 Pfd. St. für jene nach den
'i Baku am Kaspischen Meere. 36?
chinesischen Häfen. Wenn nun aber Schraubendampfer
erster Klasse aus England dorthin direkt durch deu Kaual
geheu können, so muß sie jene Frachten herabmindern, oder
die Waaren wählen den Weg über Suez. Passagiere werden
den Kanal nicht wählen, weil sie auf der Eisenbahn von
Alexandria nach Suez iu 12 Stunden gelangen.
Man muß einräumen, daß Lesseps seinen Plan mit
großer Energie verfolgt. Wie sich die Kanalverhältnisse
im Fortgange der Zeit gestalten, das müssen wir abwarten.
Jedenfalls wird der Kanal ein Gewinn für die Schifffahrt,
namentlich für jene der Häfen am Mittelmeere, sein, wenn
auch die Hoffnungen des Herrn V. Lesfeps hinter der Wirk-
lichkeit zurückbleiben. —
Nachdem wir das Vorstehende geschrieben, san-
den wir in der „Shipping Gazette" vom 18. Januar einen
Aufsatz des Kanalingenieurs Daniel Lange. Jhin zu-
folge ist der westliche Hafendamm weit vorgeschritten und,
mit einer in ihn einbezogenen Insel, nun schon 4899 Fuß
lang und 9 bis 16 Fuß tief; das hat man vermittelst des
Baggerns erreicht. Bei Port Said habeu überhaupt bis
zum 1. Juli 1865 2973 Schiffe Ladungen gelöscht; aber
nicht Handelswaren, sondern Materialien und Bedarf
aller Art für den Kanalbau. Davon waren: Amerikaner 2,
britisch 76, österreichisch 144, belgisch 3, brasilisch 2, sran-
zösisch 389, griechisch 227, holländisch 3, italienisch 34,
„Jerusalem" 91, preußisch 6, russisch 239, schwedisch und
norwegisch 6, türkisch und ägyptisch 1928. Am Ende
Dezembers waren 89,999 ägyptische Arbeiter beschäftigt,
um den Süßwafferkaual zwischen Bnlbeis und Abassie
zu graben; diese Arbeit muß der Vieekönig herstellen
lassen. Der maritime Kanal soll 26 Fuß Tiefe uud eiue
entsprechende Breite erhalten. (Wir fügen hier ein Por-
trat des Herrn v. Lesseps bei.)
Ein Besuch im Feuerwnpel
Baku, auf der Halbinsel Abscheren am westlichen
Gestade des Kaspischen Meeres, ist neuerdings Sitz einer
Gouvernementsregierung geworden. Die Stadt hebt sich;
der Hasen ist leidlich; der Handelsweg aus Trauskaukasien
von Dariel über Tiflis und Schamacha, uud jener aus
dem diesseitigen Kankasien der Küste entlang von Kisljkr
durch den Paß von Derbent treffen dort zusammen.
Die Stadt ist oft beschrieben worden. Die neuesten
Berichte finden wir in einem fehr reichhaltigen Werke von
Alexander Petzholdt, der schon vor zwei Jahren über
seine Reisen in Südrußland eiu werthvolles Buch veröffeut-
licht hat. Jenes, auf das wir hier Bezug nehmen, führt
den Titel: „Der Kaukasus, Eiue naturhistorische, sowie
land- und volkswirtschaftliche Studie" (Leipzig, Fries,
1866). Die Reise wurde in den Jahren 1863 bis 1864
unternommen. Es trifft sich, daß wir hier abgedruckte
Skizzeu des Atesch ga, des Feuertempels der Parfis,
welche Herr Major Krziz gezeichnet hat, unter unseren
Illustrationen finden. Den nachfolgenden Text entlehnen
wir im Wesentlichen Herrn Petzholdt.
Die Halbinsel Abscheron, sagt er, ist reich an Erschei-
nungen, welche höchst wahrscheinlich ihren Grund in einer
noch nicht erloschenen vulkanischen Thätigkeit haben und
Baku am Kaspischen Meere.
sich, von den im Südosten von Baku zahlreich vorkommen-
den sogenannten Schlammvulkanen abgesehen, insbesondere
in der Gestalt allerwärts vorhandener Quellen von
Steinöl (Naphtci), sowie der Erde, ja selbst dem Meer
entströmenden brennbaren Gase (Kohlenwasserstoffgas) dar-
stellen. Diese brennbaren Gase haben schon in alten Zei-
ten Aufmerksamkeit erregt und sind Veranlassung gewesen,
daß sich Jndier, als sogenannte Feueranbeter, hier ein
Kloster barlten, in welchem sie ihrem Kultus des „heiligen
Feners" obliegen. Die Naphtaqnellen sind zwar auch
fchon lauge bekannt, aber erst in neuerer Zeit einer ansge-
dehnten Benutzung unterzogen worden.
Das Kloster der „Feueranbeter" Atesch ga, der
„Feuerort", liegt iu nordöstlicher Richtung etwa 12 Werst
von Baku entfernt. Es steht gauz aus wie' eiue Festung,
da hohe Mauern seinen Hof einschließen uud Alles, was
sich im Innern befindet, dem Blicke des Außenstehenden
entziehen. Erst nachdem man durch das Thor eingetreten
ist, sieht man, daß sich ringsum Zellen befinden, während
in der Mitte eine Art von Tempel errichtet ist, der aus
vier roh und plump gestalteten Säulen, welche ein Dach
tragen, besteht. Die Sauleu überragen an den vier Ecken
des Tempels das Dach um einige Fuß, während in der
(Sin Besuch im Feuertempel bei Baku am Kaspischeu Meere.
Mitte des Daches eine dreizinkige Gabel, durchaus von der
Gestalt, wie man sie auf jedem deutschen Bauernhofe zu
bekannten wirtschaftlichen Zwecken anwendet, angebracht
ist. — Bis vor Kurzem hatten fünf Feueranbeter in diesem
Kloster gelebt, aber neulich sind drei derselben nach ihrem
Vaterlande zurückgegangen; ein«r, der über 100 Jahre
alt geworden fein soll, ist gestorben, und so war nur uoch
ein einziger übrig, mit dnu wir es zu thuu hatten. Er
lnd uns in seine Zelle ein, damit wir einer gottesdienst-
lichen Handlung beiwohnten. Sie war, wie alle übrigen,
in der Dicke der Mauer angelegt, eigentlich eine Art von
Bärenhöhle, zu
welcher nur eiue
ganz niedrige
Thür deu Zu-
gang verstattete.
Sie war aber
sehr reinlich und
wird oftmals
weiß angestri-
chen. Im In-
nern bietet sie
einen kleinen
freien Nauin
dar, in dessen
Mitte ein Stein-
block liegt; auf
und vor dem-
selben werden
allerlei Ceremo-
nien verrichtet,
und deiu Ein-
gange gegenüber
befindet sich an
der Hinterwand
der Zellen ein
anderer Stein-
block, eine Art
von Altar, aus
welchem eine
Menge verschier
dener Gegen-
stände aufgestellt
waren; sie wur-
deu bei der Cere-
mouie gebraucht.
Auf der Ober-
fläche des in der
Mitte liegenden
Steinblocks be-
fand sich der
Eindruck von
zwei M e u -
scheufüßen, und es wurde ausgesagt, daß dieses die
Fußtritte Adams seien; er muß aber einen eigen-
thümlichen Fuß gehabt haben, da alle Zehen von gleicher
Länge sind.
Der Feueranbeter war ein schwarzbrauner, langer, ganz
hagerer Mensch von etwa 69 Jahren, vielleicht aber auch
von 39 oder auch von 90 Jahren, da man sein Alter
schwer bestimmen konnte, und er es selbst nicht wußte; er
trug ein Hemd und sehr defecte Beinkleider von Leinwand
und verschloß die Thür der Zelle. Während wir auf
Steinbänken Platz nahmen, zündete er mehre aus der Erde
hervordringende Gasströme an; dadurch wurde das Ju-
nere der Zelle, welche keinerlei Fensteröffnung besaß, hell
Tempel der Feueranbeter bei Baku. (Originalzeichnung von A. Krziz.)
erleuchtet. — Dann verrichtete er seine Ceremonie. Im
Ansang, offenbar zur Einleitung und um das Gemüth in
passende Stimmung zu bringen, blies er auf einem großen
Schneckenhause iu ganz schauerlicher Weise. Dann nahm
er ein baumwollenes Taschentuch, hielt es ausgebreitet vor
sich hin und betete lange; nachher kniete er nieder und be-
rührte mit der Stirn oftmals den Boden. Er holte einen
kleinen kupfernen Kessel, aus welchem er mit einem Löffel
Wasser schöpfte; mit diesem begoß er die Fußtritte Adams.
Nachher wurde geräuchert, vermittelst zweier kleinerBecken
Musik gemacht aiub dazwischen immer niedergekniet und
gebetet. — Die
Sache wurde
sehr laugweilig
und ich wünschte
den Schluß her-
bei; ohnehin er-
hitzten die in der
nur kleinen Zelle
brennenden gro-
ßen Flammen
den Raum wie
einen Backofen.
Endlich kam der
Schluß. Der-
selbe bestand in
dem Herumrei-
chen kleiner, auf
einer Tasse lie-
genden Stückchen
von weißem und
braunem Kan-
diszncker, und an
die Stelle dersel-
ben legte man
etwas kleines
Geld. Nun wur-
de die Thür wie-
der geöffnet und
wir traten hin-
aus in den Hof.
Hier wurde zu
, guter letzt das
brennbare Gas,
welches ans den
vier,dasDachdes
Tempels über-
ragenden San-
lenenden her-
ausströmte, an-
gezündet. Die
Säulen sind
hohl; vier mäch-
tige Flammen loderten ans und bei Nacht bringen ste eine
hübsche Wirkung hervor. Jetzt war es Tag und wir
konnten sie in Folge ihres geringen Leuchtvermögens kaum
bemerken. Die ganze Angelegenheit macht den Ein-
druck eines bloßen Hoaispoeus; ich wenigstens konnte
mich dieser Ansicht nicht erwehren; und mir scheint, daß
dieser Feuerkultus, wie er jetzt hier getrieben wird, nur eine
Art von versteckter Bettelei ist. Uebrigens erwartete der
int Augenblick alleinige Repräsentant der indischen Feuer-
anbeter an Stelle der in ihre Heimat zurückgekehrten Eol-
legen Andere, mit denen er gemeinsam das Geschäft der
Feueranbetung fortsetzen wird.
Man muß sagen, daß die Oertlichkeit des Klosters zur
W. Hausmann: Eine Hochzeit
Anlage eines Klosters nicht schlecht gewählt sei. Sobald
man die harte Bodenoberfläche ausbricht und lockert, strömt
in der ganzen Umgebung Gas hervor, welches sosort ange-
zündet werden kann. Es brennt dann so lange fort, bis
heftiger Wind oder Regen es auslöschen. Vou „ewigen
Feuern" kann eigentlich nicht die Rede sein. Die um-
liegenden Ortschaften benutzen dieses Gas zu mancherlei
ökonomischen Zwecken, z. B. znr Erleuchtung des Innern
der Wohngebäude, zum Kochen, Kalkbrennenk. Als ich
mich von dem Kloster ans nach dem nur einige Werst nörd-
lich gelegenen Ssurachani begab, um einen tatarischen
Gutsbesitzer zu besuchen, traf ich überall auf dergleichen
auf der Metropolis in Bucharest. 369
Kalkbrennerei. Man brauchte nur die Oberfläche des
Bodeus etwas bei Seite zu räumen, vermittelst einer Brech-
stanze die unmittelbar unterliegenden stark zerklüfteten,
tertiären Kalksteiufchichteu aufzubrechen und das zwischen
den Klüften und Spalten hervorquellende Gas anzuzünden.
In unmittelbarer Nähe des Klosters, an deffen hintere
Mauer angebaut, liegt das vou einer Aktiengesellschaft
errichtete Etablissement, in welchem das rohe Stein öl
verarbeitet wird, welches auf vielen Punkten der Halbinsel
Abscheron vorkommt. Es ist von schmutzig olivengrüner
Farbe; die zur Durchführung der Destillation nöthige
Feuerung wird durch das brennbare Gas geliefert.
Eine Hochzeit aus der Metropolit in Bucharest.
Sittenbild ans Neu-Romaniens Hauptstadt. Vou Wilhelm Hllllsmann in Kronstadt.
Die Bewohner derDonanfürstenthümer sind im Ganzen
ein heiteres lebensfrohes Volk. Sie haben schon viel vom
südlichen Typus in ihrem Charakter, lieben leidenschaftlich
Tanz und Spiel, kleiden sich phantastisch in die buntesten
Trachten, und namentlich der weibliche Theil der Bevöl-
kernng hält viel ans Schmuck und Perlen, Gold und
Flittern.
Alles, was auf das Gemüth des Volkes wirken soll,
muß prnnkhast, pompös seiu. Dies zeigt sich bei deu
Romanen in Freud nnd Leid; auch ihre Tauf-, Hochzeits-
und Begräbnißfeierlichkeiten sind ein sprechender Beweis
dafür. Die griechisch orientalische Kirche, der alle Be-
wohner dieser Länder angehören, unterstützt selbst durch
ihren glanzvollen Ritus diese Neiguug des Volkes. Auch
die Bauart der Kirchen, welche stets in neubyzantinischem
Style aufgeführt sind, hat etwas Leichtes, Heiteres, die
Sinne Ausprecheudes. Da tritt nirgends der erhabene
Ernst abendländisch -gothischer Dome hervor, welcher das
Gemüth zu tiefsinnigen Betrachtungen stimmt.
Leider müssen wir gestehen, daß auch der Bilduugs-
grad des romäuischeu Volkes noch einsehr niedriger ist,
daß selbst die Bewohner der Städte die Landbevölkerung
nicht sehr überragen. In den höheren Schichten der Gesell-
schaft macht sich eine starke Hinneigung zu französischer Bil-
dnng und Sitte bemerklich. Die höher gestellten Romänen
allein haben auch mehr Gelegenheit mit abendländischen
Bildungselementen iu Berührung zu kommen, doch ver-
lieren sie darum niemals ihr eigentümlich nationales Ge-
präge und halten fest an Glauben und Aberglauben,
Sitten und Unsitten ihres Volkes. Namentlich in kirch-
lichen Dingen sind alle orthodox. Nur vom strengen
Fastengebot dispeusireu sich häufig die höheren Klassen, in
allen: Uebrigen unterwerfen auch sie sich bliudlings den
Anordnungen der Geistlichkeit, die hier ohuedies auch eilten
bedeutenden politischen Einfluß besitzt, welchen sie vorkom-
menden Falls auch mit allem Eifer zu bewahren bestrebt ist.
In Folgendem erlauben wir uns zunächst eine Be-
schreibung der Hochzeitsfeierlichkeiten zu geben, denen wir
während unseres Aufenthaltes in Bucharest beizuwohnen
Gelegenheit hatten, sowie einiger anderen hierauf Bezug
habenden Sitten und Gebräuche, die wir aus bewährter
Quelle kennen lernten.
Wie mager und einfach sind die Eeremonien einer
Globus IX. Nr. 12.
Quäkerhochzeit, wie wenig das poetische Gefühl anregend
bei anderen puritanischen Sekten, und gar bei der, im
modernen Gallien so beliebten Civilehe? Was kann nüch-
terner sein? Wie ganz anders, feierlicher, schmuckvoller
sind dagegen die Eeremonien der älteren Kirchen. Nament-
lich der Ritus der griechisch-orientalischen Kirche übertrifft
hierin alle anderen Kulte. Es haben sich viele Gebräuche
erhalten, die offenbar ans dein höchsten Alterthume
stammen. —
Die weltlichen Präliminarien sind so ziemlich dieselben
wie auch bei auderen Konfessionen. Bekanntschaften und
Verbindungen werden auch hier auf ebeu fo mauuigfache
romantische und unromantische Art geschlossen. Haupt-
poiute des Festes ist der Aufputz der Braut. Endlich ist
es den angestrengten Bemühungen gelungen, das große
Werk zu vollenden. Herrlich frisirt, einen prächtigen künst-
lichen Myrthenkranz im stark parsümirten Haar, deu Leib
aus eine gefahrdrohende Art in ein reich aufgeputztes feide-
ues Kleid gepreßt, die Füße iu zierlich gestickte Schuhe
gezwängt, erwartet die Braut den Bräutigam. Ein eigener
Gebrauch ist es hier, die Braut mit sogenanntem Gold-
haar zu schmücken. Es sind dies echte Goldfäden von
ziemlicher Länge, die fnit einem Kamme hinten angesteckt
werden und den Brautschleier ersetzeu sollen, der
hier nicht üblich ist. Bei reichen Personen sind diese
Goldhaare oft von bedeutender Schwere uud hohem
Werth; da es herkömmlich ist, diesen Schmuck nach der
Hochzeit der Kirche zu weihen, so wird sich dieser Ge-
brauch wohl noch lange erhalten.
Der Bräutigam erscheint in neuerer Zeit nur im
schwarzen Frack uud weißen Handschuhen. Alles steigt in
die bereitstehenden Caleschen, um nach der weitentfernten
Metropoliekirche zu fahren. Ehe der Zug dort an-
langt, haben wir Zeit, dieselbe etwas näher zu betrachten.
Sie ist durch ihre imposante Lage ausgezeichnet. Das
Häusermeer der Stadt, aus dem nur einzelne Paläste und
Kirchen mehr hervorragen, liegt rundum iu der Tiefebeue
des Dimbowitzathales ausgegossen; nur die Metropolis —
welche sich wirklich auch beiuahe im Mittelpunkte der Stadt
befindet — steht frei und hoch auf einer Erderhöhung von
über hundert Fuß Höhe, welche aus tertiären Thonlagern
besteht. Nur von der Westseite ist eine apareilleartige
Auffahrt, während sonst die Abhänge sehr steil abfallen.
47
370 W, Hausmann: Eine Hochzeit
Oben ist ein Plateau von vielleicht 209 Schritt Länge und
50 bis 60 Schritt Breite. In der Mitte steht die Kirche,
welche in schwerfälligem Style erbaut ist. Eine durch
Säulen gestützte Vorhalle ist über den Haupteiugaug
gebaut, der mit seinen altertümlichen eiseubeschlageueu
Thüreu sehr düster und ernst aussieht. Das Innere der
Kirche ist gleichfalls in Bauart uud Ausschmückung wenig
von anderen griechischen Kirchen verschieden. Decke uud
Seitenwände sind in unkünstlerischer Weise mit Heiligen-
bildern in barockem Style bemalt. Namentlich spielt der
Erzengel Michael mit dem Drachen überall eine hervor-
ragende Rolle. Da sind auch der heilige Nikolaus uud
einige andere Patriarchen, die alle mit einem Buche im
Arme, die Rechte segnend erhoben, dargestellt werden, aber
stets mit einem breiten goldenen Heiligenscheine um das
Haupt. Plumpe formlose Säulen stützen das Schiff der
Kirche, von welchem an langen Ketten 13 schwere silberne
Ampeln herabhängen. Ins All erheiligste führt eine
kleine Thüre, und diese Abtheilung ist mit vergoldetem
Holzgetäfel und mit Basrelieffignren verziert und die
Kanzel ebeufalls mit vergoldetem Holzschnitzwerk über-
laden. Zwei große, plumpe, runde Gußöfen, dieneben
der Kauzel uud dem Altare stehen, sowie eine moderne
Perpendikeluhr, die an der Säule daneben aufgehängt ist,
geben der Kirche ein etwas gar zu sehr häuslich behagliches
Ansehen.
Mittlerweile haben sich in der Kirche alle die versam-
melt, welche Antheil an dem Brautpaar nehmen, oder nur
eiue müßige Stunde auf augenehme Art ausfüllen wollen.
Neugier ist eiu hervorstechender Charakterzug des Volkes
iu Bucharest. Es war ein heißer, dunstiger Julitag, Abends
8 Uhr, als der bärtige Sakristan zahlreiche Wachskerzen
anzündete, die durch ihren hellen Glanz bei der traulichen
Abenddämmerung noch mehr die heitergestimmte Menge zum
Eintritte lockte. In der Mitte der Kirche stand ein nicht
sehr großer Tisch mit einem kostbaren weißen Spitzentuche
altarartig überdeckt. Mitten lag ein Evangelienbuch iu
Großsolio mit wahrhaft prachtvollem Einbände. Die
Deckel von gepreßtem Golde, mit Arabesken verziert uud
biblischen Figuren; namentlich der Erzengel Michael auch
hier sehr in die Augen springend. An den Ecken waren
große Smaragden und rothe Spinelle in starker Fassung
angebracht. Zwei große silberne Leuchter mit brennenden
Wachskerzen standen daneben. Vorn auf dem Tische lagen
zwei Brautkronen von künstlich nachgeahmten grünen Lor-
beerblättern, iu Form einer Kaiserkrone ähnlich. Manch-
mal sind es, wie wir au anderen Orten sahen, wirklich
metallene Kronen von vergoldetem Silber mit zwei Span-
gen; sie tragen oben den goldenen Reichsapfel mit dem
Kreuze.
Das Gedränge nahm zu und eine, keineswegs andäch-
tige Menge füllte alle Räume, ziemlich ungenirt sich unter-
haltend, lachend und scherzend. Jetzt traten durch die im
Hintergrund angebrachte Thüre des Allerheiligsten mehre
Geistliche in glänzendem Ornate herein. Ihnen folgte,
umgeben von acht bis zehn anderen Geistlichen, der Metro-
polit, welcher selbst die Trauung vollziehen sollte. Ein
schöner Greis mit langem Vollbart, wie ihn die orienta-
lische Kirche allen Geistlichen §it tragen vorschreibt, uud die
Haare bis auf die Schulter herabhängend. Das Meß-
gewand des Metropoliten war von gelber und weißer
Seide, reich mit Goldborten uud Perlenstickerei verziert.
Den Kopf bedeckte eine kostbare und kunstvoll gearbeitete
Mitra, iu Forin der altgriechischen Kaiserkrone, oben mit
dem blitzenden Reichsapfel. In den vier Abtheilungen
befanden sich zierlich uud feilt gemalte Miniaturbilder,
auf der Metropolis in Bucharest.
Sceueu aus dem Neuen Testamente vorstellend, alle mit
auserlesen schönen Perlen eingefaßt. An den Händen
trug der Metropolit kostbare Brillantringe. In der
Rechten hielt er einen eigenthümlich geformten Hirtenstab
mit deni großen goldenen Doppelkreuz. Die 16 bis 20
ministrirendeu Geistliche« stellten sich im Halbkreise hinter
dein Metropoliten auf, welcher an den Altartisch trat.
Ein Chor von Kirchensängern war ganz im Halbdunkel
des Hintergrundes aufgestellt.
Eine allgemeine Bewegung der Volksmenge zeigte, daß
der Brautzug sich nahe. Nur mit Mühe konnte er sich
durch die dichtgedrängten Massen durchwinden. Der
Metropolit selbst winkte mehremale Raum zu schassen,
aber Niemand konnte weichen. Nim stand das Brautpaar
endlich vor dem Altartisch, rechts die Braut, links der
Bräutigam; — dieser war, beiläufig bemerkt, eiu Kauf-
mann. — Die Geistlichen begannen, in eigenthümlicher
Weise näselnd, die Liturgie zu singen, wobei der Sängerchor
im Hintergründe oft lebhaft miteinstimmte, indem nämlich
im schnellsten Takte litaneiähnlich immer derselbe Refrain
wiederholt wurde. Namentlich am Schlüsse sangen Alle
unisono: Domne miiueste! — Herr sei uns gnädig —Der
Geistliche gibt zuerst dem Brautpaare zwei brennende
Wachskerzen von bedeutender Länge und Schwere in die
Hand, welche sie bis zu einer gewissen Stelle der Liturgie
halten müssen; dann geben sie dieselben an die zu ihrer
Rechten uud Linken stehenden Beistände ab. Von einem
vergoldeten Silberteller, der aus dem Altartische steht,
nimmt der Geistliche die Trauringe, macht mit denselben
auf Stirn und Muud des Bräutigams das Zeichen des
Kreuzes, woraus der Bräutigam dem Geistlichen die Hand
küßt und den Ring ansteckt. Dann wiederholt sich bei der
Braut dieselbe Ceremonie. Der Geistliche nimmt eine der
neben dem Evangelienbüch stehenden Kronen und setzt sie
dem Bräutigam aus. Wieder küßt dieser die Hand des
Geistlichen. Gleich darauf derselbe Akt bei der Braut.
— Jetzt steigert sich die Heiterkeit des Brautpaars und des
Publikums iu ganz ungeuirter Weise. Die Krönung des
Brautpaars hat die symbolische Bedeutung, daß durch die
Ehe die Herr scher macht der Kirche auf Erden
befestigt uud verbreitet werden soll. Ein Ministrant
bringt auf einem vergoldeten Teller einen silbernen Becher
mit Wein uud einige Bisquite. Der Geistliche gibt, unter
fortwährendem Murmeln von Gebeten, zuerst dem Bräuti-
gam aus dem Becher zu trinken, und dann eiueu Bissen
Bisquit; eben so der Braut. Beide küssen abermals dem
Geistlichen die Hände. Der Genuß von Brod und Wein
ist hier keineswegs eine Commuuion, sondern bedeutet nur,
daß sie Beide fortan aus derselben Schüssel essen, aus dem-
selben Becher trinken werden vor aller Welt. — Nun spricht
— oder besser gesagt — singt der Geistliche die Einseg-
nuugsformel. Das Brautpaar, die Beistände, und die
unmittelbar snngirenden Geistlichen reichen sich seitwärts
die Hände uud umschließen so im Kreise den Altartisch,
worauf Alle sich in langsamem Tanztempo einigemal rechts
uud links herumbewegen; Alles stimmt auch jetzt in die
fortwährend gesungene Liturgie mit ein.
Diese Ceremonie soll eiue Eriunerung au die Hochzeit
zu Cana iu Galiläa sein, welche der Heiland dnrch seine
Gegenwart verherrlichte. Auch während dieses Rundtanzes
behalten die Beistände die brennenden Kerzen in der Hand.
Nachdem sich der Kreis geöffnet, wozu der Geistliche das
Zeichen gibt, verbeugt sich derselbe vor dem Bräutigam
und vor der Braut, zum Zeichen, daß die Ceremonie been-
digt sei, uud küßt auch wohl den Bräutigam auf die
Wangen, wobei er ihm eine kurze Gratulation sagt. Die
W. Hausmann: Eine Hochzei
Braut verbeugt sich dankend und küßt dein Geistlichen die
Hand. Jetzt werden beide Kronen abgenommen und wie-
der ans ihre früheren Stellen gelegt. — Nun geht der
Bräutigam und küßt Schwiegervater, Schwiegermutter,
den Beistand und wer sich sonst von seiner Verwandtschaft
gerade in der Nähe befindet. Eben so macht von der
andern Seite die Braut die Runde, welcher zugleich alle
die Erwähnten gratnliren; durch Kuß und Händedruck
dankt diese. Die Beistände geben ihre jetzt ausgelöschten
Lichter an junge Bnrsche ab, die zur Familie gehören und
welche sie sorglich nach Hause zu tragen haben, da solche
später zu einer wichtigen Schicksalsprobe benutzt wer-
den sollen.
Nachdem die Schaulust der Umstehenden genügend
befriedigt ist, strömt Alles plötzlich dem Ausgange zu, wo-
bei namentlich der Brautzug mit seinen prachtvollen Toi-
letten sehr ins Gedränge kommt. Endlich ist Alles, was
zum Feste gehört, in die zahlreichen Caleschen vertheilt und
rollt fröhlich davon, der Hochzeittafel zu, während sich die
nichtgeladenen Zuschauer einzeln zerstreuen. Die Lichter
in der Kirche verlöschen schnell nacheinander, und in wenigen
Minuten steht das kurz vorher von so lautem Leben erfüllte
Gotteshaus in ernstem Schweigen finster und verlassen da;
nur die sogenannte ewige Lampe erleuchtet mit mattem
Scheine die nächsten Heiligenbilder, und die Uhr fährt,
unberührt von all dein lauten Treiben der Welt, in ihrem
einförmigen Ticktack fort und zeigt mit starrem Finger auf
die flüchtig eilenden Stunden.
Desto lärmender und lauter geht es int Festsaale zu,
wo Alles sich mit ungebundener Heiterkeit bewegt. Zur
Steigerung derselbeu tragen die zahlreichen grünen Flaschen
nicht wenig bei, die der Brautvater aus den tiefsten Winkeln
des Kellers herbei holen ließ, die schon bei der Geburt
der Tochter einst zum heutigen Feste bestimmt, dort hinter-
legt worden sind uui) nun endlich wieder ans Licht kommen
dnrsten. — Die Musik spielt vorzüglich nationale Weisen,
welche den fremden Kunstkenner sehr wenig ansprechen, aber
die Eingebornen so begeistern, daß selbst das Gesinde unten
im Hose sich mit lautem Händeklatschen und Fußstampfen,
die Hora tanzend, im Kreife dreht. — Bei Hochzeiten sind
alle Romanen sehr zur Freigebigkeit geneigt, und mancher
Kaufherr oder Gutsbesitzer entfaltet dann einen fast fürst-
lichen Luxus. Der Armen wird dann namentlich anch in
generöser Weise gedacht, wie denn schon der religiöse Ge-
brauch ist, bei allen wichtigeren Lebensangelegenheiten
Pomane zu machen, d. h. durch christliche Liebe gebotene
Wohlthaten zu üben. Am Hausthore sind eine Menge
Seilte beschäftigt, große Körbe voll Brod und Kuchen zu
zerschneiden. Die hingereichten Stücke verschwinden sogleich
in den vielen gierig ausgestreckten Händen, während immer
andere sich wieder verlaugend hereinstrecken. Manchmal
werden auch Geldstücke und zahlreiche kleine Wachskerzen
vertheilt. Oft gibt der Romäne auch Freunden, Bekannten,
einem Reisenden etwas freiwillig als Pomane; dies muß
man jedenfalls annehmen, selbst wenn man es nicht bedarf.
Seine Pomane verschmäht zu sehen, würde ihn anfs Tiefste
verletzen.
Die Romänen sämmtlich — auch die Gebildetsten und
Höchstgestellten nicht ausgenommen — haben einen aus-
gesprochenen Hang zum Aberglauben, der sich nament-
lich bei Heirats - und Herzensangelegenheiten aus mannig-
fache Weise äußert. Z. B. die beideu bei der Trauung
verwendeten Wachskerzen werden nach der Hochzeit in eine
ausgehöhlte Semmel gesteckt und man läßt sie nebenein-
ander ruhig abbrennen; vorher bezeichnet man sie als
auf der Metropolis in Bucharest. 371
Mann und Frau. Löscht nun die des Mannes früher ans,
so muß dieser notwendiger Weise auch früher sterben als
seine Frau. Im andern Falle hat er das Glück Wittwer
zu werden.
Ein frisch gekochtes, weiches Ei müssen die Neuver-
mählteu unbedingt zufammeu verspeisen; imUnterlassungs-
falle würde die Zahl ihrer Nachkommenschaft sehr klein
bleiben.
Ist irgend etwas im Haufe gestohlen worden, hinter-
bringt man der Dame desselben eine üble Nachrede oder
Aehuliches, so gibt es kein leichteres und unfehlbareres
Mittelchen, hinter die Wahrheit zu kommen, als sich die
Karten zu legen, oder in besonders schwierigen verwickelten
Fällen sich dieselben von einer in solchen Angelegenheiten
sehr erfahrenen alten Frau legen zn lassen. Dann erfährt
mau gauz genau, wen mau wegeu des Diebstahls zur Ver-
antwortnng ziehen soll, oder wer der Verleumder gewesen.
Dienstboten, welche dem Gelüste nicht widerstehen konnten,
irgend einen Silberlöffel einzusteckeu, und doch hartnäckig
leugueteu, geben aber oft lieber freiwillig das Gestohlene
heraus, wenn man ihnen droht, die Karten gegen sie legen
zn lassen, da sie meinen, daß in diesem Falle sie doch eut-
deckt würden, oder wenigstens Fluch und Unheil sie überall
verfolgen würde. Will eine Romänin sich Gewißheit über
die Trene oder Untreue ihres Gemahles verschaffen, dann
darf sie nur gelegentlich eine vielleicht eben vom Dorf her-
eingekommene Zigeunerin zn sich rufen lassen. Diese
beschreibt ihr, in den kleinen dreieckig geschnittenen Spiegel
sehend, den sie in der Hand trägt, ganz genau das Bild
der gehaßten Nebenbuhlerin. Ob dieselbe blonde oder
schwarze Haare, braune oder blaue Augen habe, alles dies
schildert sie der mit gespannter Aufmerksamkeit horchenden
Dame aufs genauste. Falls diese freigebig ist, setzt die
Zigeunerin schließlich noch hinzu, daß ein junger, liebens-
würdiger Cicisbeo die Dame über die Treulosigkeit ihres
Gatten zu trösten berufen fei.
Die Anhänger der griechisch-orientalischen Kirche haben
über die Sittsamkeit ihrer Braut sehr rigorose Ansichten
nud sind berechtigt, vorkommenden Falls ganz nach dem
strengen mosaischen Gebrauche vorzugehen, wie er ausführ-
lich im 5. Buch Mose, 22. Capitel, Vers 13 bis 21 be-
schrieben steht. Nur bemerken wir, daß glücklicher Weise,
im Falle der Schuldigfinduug, die dort befohlene Steint-
gnng unterbleibt. In der Regel wissen die Schwiegerältern
durch bedeutende Geschenke den Zorn des Sohnes zu besäns-
tigen. Beide Eheleute arrangireu sich meist so gut, daß
mau selten laute Klagen wegen unzufriedener Ehe hört.
Eine nicht sehr seltene Zukunftsprobe ist auch dieses.
Hat eine Romänin ein Auge aus einen gewissen Manu
geworfen, fo zündet sie in ihrem Hause, in einem stillen
Räume, eiue kleine Lampe an, die nun bis zur Erreichung
des Wunsches Tag und Nacht brennen muß. Eiu Erlöschen
derselben wegen nachlässiger Besorgung würde sehr Unheil-
bringend sein. In der Regel entzündet sich nun auch im
Herzen des Gewünschten die Flamme der Liebe. Nur ist
die fatale Claufel bei dieser Prozedur, daß, verschließt eiu
so Gebannter hartnäckig sein Herz den bezaubernden Ein-
drücken der Liebe, oder scheut er sich als lockerer Vogel, sich
iu die Baude der Ehe verstricken zu lassen, so ist der Tod
sein Loos. Es sind uns Fälle bekannt geworden, wo sonst
nicht ungebildete Damen es unternahmen, diesen Zanber
zu üben, und als der geliebte Mann plötzlich starb, sich in
Verzweiflung die Haare ausrauften, in dein festen Glauben,
daß .nur sie und ihre unglückliche Lampe an seinem Tode
schuld seien.
47*
372
Die Ermordung des Lieutenants Stroyan durch die Somali bei Berbera,
Die Ermordung des Lieutenants Stroyan durch die Somali bei Derbem.
Wir haben in unserer vorigen Nummer Alles mitge-
theilt, was bis jetzt über das Schicksal des Herrn von
der Decken verlautete. Die Nachrichten siud kurz, unvoll-
ständig und abgerissen, aber zweierlei beklagenswerte
Thatsachen unterliegen keinem Zweifel: einmal, daß die
Expedition gänzlich mißlungen ist, sodann, daß der Rei-
sende selbst nebst einigen seiner Gefährten in einer höchst
gefährlichen Lage, eine Strecke auswärts vom Meere, am
Dschubstrome, zurückgelassen worden war, inmitten seind-
licher Somalis, die sein Leben bedrohten. Wir wollen
hoffen, daß nicht auch Karl von der Decken die ohnehin
schon allzulange Reihe der Opfer vermehrt habe, welche
Afrika schon gefordert hat; aber wir gestehen, daß unsere
Hoffnung nur schwach ist. Wir denken an einen ähnlichen
Fall, in welchen: die Somali in verräterischer Weise Fremde
überfielen.
Das Land der Somali liegt im östlichen Afrika,
wird im Norden durch den Busen von Aden begrenzt, im
Osten vom Indischen Oeeau, au welchen seiue Küste bis
zum Dschub reicht, also bis unter den Aequator; wie weit
es sich nach Westen bis ins Innere erstreckt, wissen wir
nicht. Nach dieser Richtung hin stoßen die Somali mit
deu Gallavölkern zusammen, nach Süden hin in der Küsten-
region mit den Suaheli; im Norden, östlich von der Bab
el Mandeb, sind die Dankali und Jllu-Gallas ihre Nach-
barn. Ein beträchtlicher Theil dieses Gebietes, welches,
wie ein Blick auf die Karte zeigt, das sogenannte östliche
Horn umfaßt, liegt als Wüste da, aber daneben sind viele
Strecken fruchtbar, liefern werthvolle Artikel in den Handel,
und die Somali treiben einen lebhaften Warenverkehr.
Sie sind, gleich den Gallas, ein Mischlingsvolk, ein Zweig
der großen Gallarasse und haben viel vom kaukasischen
Typus in sich aufgenommen, weil fortwährend reines afia-
tisches Blut in ihre Adern kommt.
Richard Burtou, der sie vor 11 Jahren auf seiner
berühmten Reise nach Härrär genau kennen lernte, hat
sehr spezielle Schilderungen von ihnen entworfen. Das
Haupthaar ist hart und wie Draht; es wächst wie bei den
westindischen Mulatten, in steifen Locken, welche in Büscheln
stehen und nur eine mäßige Länge erreichen. Viele färben
das Haar mit ungelöschtem Kalk oder mit Aschenlauge;
dann wird es gelblich weiß und wird nachher mit Henna
roth gefärbt oder mit rothem Oker bestrichen. Kopf - und
Gesichtsbildung zeigen zugleich etwas Arabisches und Afri-
kauifches; die Backenknochen stehen weit vor, aber die
Stirn ist gewöhnlich hübsch, die Augen sind groß und wohl-
gestaltet, doch der Kiefer ragt vor und ist wesentlich afri-
kanisch, auch die breiten Lippen zeugen für Negerblut.
Bart schwach, Lippenhaar kurz und spärlich. Bei Vielen
ist die Hant schwarz, sanft und glänzend, bei Anderen
lichter bis zur Farbe des Milchkaffees. Die Somal-Be-
duiuen machen sich in das Gesicht tiefe Einschnitte, welche
dann wulstige Streifen bilden; Hände und Füße sind
plump, breit und stach. Im Allgemeinen sind aber die
Somali nicht gerade häßlich.
,,Die Somali sind argwöhnisch, hegen Abneigung gegen
den Araber, fürchten und hassen den Türken, ve.rab-
scheuen den Europäer und verachten jeden Asiaten.
Sie haben die Unbeständigkeit des Negers, sind leichtsinnig
wie die Abyssinier, die in nichts beständig sind, als in der
Unbeständigkeit; sie sind sanft, manchmal fröhlich und zu-
thunlich, gerathen aber, ohne jeden Uebergang, in wilde
Wuth und verüben dann die gräßlichsten Handlungen.
Doch erscheinen sie zumeist trübsiuuig und melancholisch;
sie können stundenlang auf einer Stelle sitzen und den Mond
anstarren. An Singen und Tanzen denken sie nicht viel, da
sie stets von Gefahren umgeben und selten des Lebens sicher
sind. In Betreff des persönlichen Mnthes gleichen sie
anderen Wilden. Eine Schlacht gilt schon für bedeutend,
wenn anderthalb Dutzend Manu fallen; gewöhnlich fliehen
sie, wenn vier oder sechs Mann am Boden liegen. In
einem Kral (Dorf), iu welchem einhundert Tapfere
die Straußfeder tragen und sich also eines
Mordes rühmen können, sieht man vielleicht nicht
einen einzigen verstümmelten oder verwundeten Mann.
Auch der Tapferste wird einem Gefecht ausweichen, wenn
er seinen Schild nicht zur Hand hat. Das Erscheinen
eines Löwen oder der Knall eines Schießgewehrs preßt
ihnen einen Schrei des Entsetzens aus, uud bei ihren
Kerums oder Raubzügen in Rotten treten sie dem Feinde
nicht offen gegenüber. Freilich werden ihrer zwei oder drei
einen schlafenden Atenschen brav genug ermorden, zuweilen
wird jedoch die Erbitterung unter deu einzelnen Stämmen
so heftig, daß Mann gegen Mann mit Speer und Dolch
kämpft. Dann werden auch Weiber uud Kinder ermordet.
Gegenwärtig kann ein mit Revolvern bewaffneter Mann
das Land weit uud breit iu Schrecken versetzen; doch kommt
sicherlich der Tag, an welchem der Wurfspeer dem Lunten-
gewehre weicht, uud dann werden die Somali gefährliche
Feinde sein."
„Ich fand die Somalibeduinen gutmüthig uud gast-
frei; mit etwas Taback gewann ich Aller Gunst und mit
wenigen Elleu Baumwolleuzeugs konnte ich meinen Bedarf
an Lebensmitteln bestreiten. Sie behandelten mich wie ein
Lieblingskind; ich mußte Milch trinken und Schöpsenfleisch
essen; man bot mir Mädchen zum Heiraten an, drang in
mich, beim Stamme zu bleibe«, Häuptling zu werden,
Löwen zu schießen und Elephanten zu erlegen. Freilich
waren Alle, Häuptlinge oder Arme, arge Bettler, und des-
halb bezeichnen die Araber das Somaliland als Belad
wa issi, d. h. Land, gieb mir etwas."
So schildert Burton die Somali. Sie sind Moham-
medaner, aber es habeu sich manche Ueberlieferungeu und
Bräuche aus der Heidenzeit erhalten. Ihre Sprache ist
jetzt wohlbekannt; sie wird nicht geschrieben, eignet sich
jedoch trotzdem vortrefflich zu Beredsamkeit und Poesie, und
es gibt viele Gesäuge, die sich auf alle möglichen Gegen-
stände beziehen, z. B. auf Wasserholeu, Elephantenjagd,
Beladen der Kamcele, die Eigenschaften eines Häuptlings,
auf eiue Geliebte je. Vielweiberei ist die Regel. Einheit-
lich sind die Somali nicht, ein Gesammtherrscher fehlt. Die
einzelnen großen Stämme zerfallen wieder in manche Unter-
abtheilnngen.
Wir wollen nun die Katastrophe Stroyans schildern.
Richard Burton war im Herbst 1853 von seiner gefahr-
vollen und mit Recht berühmten Reise aus Arabien zurück
Die Ermordung des Lieutenants S<
gekommen. Als Mohammedaner verkleidet, war er in
Medina und Mekka gewesen. Er ging dann nach
Bombay, wo er längere Zeit verweilte. In London hatte
man schon 1849 den Plan gefaßt, das noch so wenig
bekannte Somaliland in wissenschaftlicher und commereieller
Hinsicht erforschen zu lassen. Jetzt wollte Burton den-
selben ausführen und im Frühjahr 1854 durch das Somali-
land über Härrär (das uoch von keinem Europäer-
besucht worden war, und das man als ein „Timbuktu des
Ostens" bezeichnete) und über Genaneh durch Ostafrika
nach Sansibar zu gehen. Die Umstände geboten ihm
aber, sich auf das nördliche Somaliland zu beschränken.
In Aden, wo man das Unternehmen für äußerst vermessen
und tollkühn erklärte und der Ansicht war, daß Jeder, der
dasselbe wage, dein Tode verfallen sei, fand Burton anfangs
Schwierigkeiten, die er aber durch seinen festen Willen
besiegte. Im Oktober 1854 gaben die Direktoren der
ostindischen Compagnie ihre Genehmigung. Mit Burton
gingen Lieutenant Stroyan, welcher früher die Küste von
Sindh und die Flüsse im Pendschab aufgenommen hatte,
und Lieutenant I. H. Speke, der schon Wanderungen
in Tibet und im Himalaya gemacht hatte. Lieutenant
Herne sollte zur Zeit der großen Messe nach Berbera
(an der Südküste des Busens von Aden) gehen und dort
mit den Somalis freundschaftliche Beziehungen anknüpfen.
Am 1. Januar 1855 vereinigte sich Stroyan mit ihm
und beide blieben bis in den April an der afrikanischen
Küste. Speke sollte in Bender (d. h. Hasen) Gnray lau-
den, um den Wady Nvgal zu erforschen, Pferde und
Kameele für die Erpedition zu kaufen und rotheit Sand zu
sammeln, welcher angeblich Gold enthalten soll. Er war
am 23. November 1854 nach der afrikanischen Küste
gegangen und dort drei Monate geblieben; die Verrätherei
seines Führers hatte ihn verhindert, den Wady Nogal zu
erreichen. Burton seinerseits hatte die Tracht eines
arabischen Kaufmanns angenommen, am 29. Oktober
1854 Aden verlassen, war am 3. Januar 1855 glücklich
in Härrär angekommen und schon am 9. Februar wieder
in Aden.
Dort rüstete er sich dann für eine zweite, längere
Reise, die aber gleich im Anfang auf eine beklagenswerthe
Weise vereitelt wurde. Er hatte in Aden die erheblichen
Handelsvortheile geschildert, welche aus einer nähern Ver-
bindnng mit den ostafrikanischen Stämmen erwachsen
könnten, und er wollte in Berbera, das eine sehr vortheil-
hafte Lage hat, eine britische Faktorei anlegen. Mit allem
Röthigen wohl ausgerüstet und mit Waaren im Werthe
von 1500 Pf. Sterling landete er am 7. April 1855 bei
Berbera, wo gerade große Verwirrung herrschte. Am
Tage vorher war die große Karawane ans Härrär äuge-
langt, 3000 Menschen mit eben so vielen Thieren. Sie
kaufteVorräthe und Waaren für die nächsten acht Monate.
Der Markt hatte in der Mitte Novembers 1854 begonnen
und ging in der Mitte des April zu Ende.
Am gelben Strande sah Burton Kameele in langen
Reihen; Leute mit Speeren schrieen und sprangen umher
wie wilde Thiere, manche Handelsleute hatten schon ein-
gepackt, "die große Zahl der armseligen Hüttenbuden war
geringer geworden. Seine Gesellschaft bestand aus 42
Personen; Somali aus der Polizeiwache in Aden hatte
man ihm nicht verabfolgt, und so war er aus Neulinge an-
gewiesen: Aegypter, Nubier, Neger und Araber, die er
mit Schießgewehren bewaffnet hatte; die übrigen waren
Privatdiener des Reisenden und ein halbes Dutzend
Somali.
Etwa eine Wegstunde von Berbera entfernt, auf einer
yan durch die Somali bei Berbera. 373
Felsenleiste, sollte die britische Agentur errichtet werden.
Die Zelte standen in einer Reihe; das Stroyans stand
zur äußersten Rechten; ein Dutzend Schritte davon erhob
sich das Ranti, d. h. indische Sipahizelt, welches Burton
und Herne inne hatten; jenes, in welchem Speke schlief,
stand auf der linken Seite. Das Gepäck war in den beiden
letzteren Zelten untergebracht; die Kameele standen vorne-
hin, nach dem Strande zu, und waren angebunden, Pferde
und Maulthiere auf der Hinterseite. Bei Nacht wurden
zwei Schildwachen ausgestellt.
Die Reisenden glaubte» sich sicher, weil seit dreißig
Jahren manche Engländer Berbera besucht hatten, ohne
behelligt worden zu sein. Sie hielten alle Verhältnisse für
günstig und gedachten ohne Anstand nach dem Innern auf-
brechen zu können. Sie wollten sich einer nach Ogadayn
ziehenden Karawane anschließen und ihre 56 Kameele
standen bereit. Sie hielten es jedoch für zweckmäßig, den
Schluß der großen Messe und noch einige wissenschaftliche
Instrumente abzuwarten.
Am 9. April kamen Regen, Donner und Blitz, zum
Zeichen, daß der Gugi oder Somali-Mousun einge-
treten sei, und daß nun vorerst kein Wassermangel zu
besorgen ist. Dann brechen die Beduinen ans; in der so-
genannten Stadt, die doch nur aus lustigen Buden und
Zelten besteht, nimmt man die Matten von den Stangen-
gerüsten und belastet die Kameele. Am nächsten Tage war
Berbera verödet; nur einige Pilger und Kaufleute waren
noch am Platze, aber auch diese zogen am 15. April ab,
und die Reisenden waren allein ans der Stätte von Berbera.
Drei Tage später kam ein Schiff aus Aden und brachte
ein Dutzend Somali, welche sich ihnen aus der Wanderung
nach Süden, nach Ogadayn, anschließen wollten. Burton
bewirthete das Schiffsvolk, und das Fahrzeug, welches
eigentlich noch an demselben Abend die Rückfahrt antreten
wollte, blieb vor Anker liegen.
Bei Sonnenuntergang vernahm man Gewehrfeuer;
drei Reiter wurden sichtbar, und die Schildwache, welche
Räuber vermuthete, feuerte einen Schuß zur Warnung
ab. Die Reiter kamen näher und gaben friedliche Ver-
sichernngen.
Aber zwischen 2 und 3 Uhr Morgens wurde Burton
von einem seiner Führer geweckt, weil der Feind da sei.
Was nun folgte, mag er mit seinen eigenen Worten er-
zählen: —
Ich sprang auf, griff nach meinem Säbel und beauf-
tragte Lieutenant Herne, zu sehen, wie stark der Feind
sei. Er ging mit einem Revolver aus dem Zelte, sammelte
einige Leute und feuerte zwei Schüsse gegen die Angreifen-
den. Als er sich aber nun allein sah, kam er hastig nach
dem Zelte zurück, verwickelte sich dabei iu die Seile und
stolperte. Während er wieder aufstand, führte ein Somal
einen Schlag mit der Keule nach ihm, aber Herne gab
Feuer, streckte ihn nieder und rief mir dann zu, daß von
unserer Wache nichts zu sehen, der Feind aber sehr zahl-
reich sei. Ich erfuhr später, daß etwa 350 Bewaffnete
nns überfallen hatten, zumeist vom Stamme der Jfa Mnsa.
Inzwischen hatte ich Stroyan und Speke wach
gerufen. Der erstere sprang auf und vertheidigte sich, wir
haben ihn aber lebendig nicht wieder gesehen. Sein indischer
Diener erzählte, er habe einen Revolver ergriffen und
sechsmal in die Feinde hineingefeuert; dann floh der Diener;
er sah seinen Herrn nicht fallen. Speke hielt das Ganze
anfangs für einen falschen Lärm und blieb in seinem Zelte;
als aber Keulenschläge gegen dasselbe gerichtet wurden, rannte
er zu mir in mein Ranti, das wir bis anss Aenßerste ver-
theidigen wollten.
374 Die Ermordung des Lieutenants St
Die Wilden schrien, lärmten unb schwärmten um uns
wie Hornissen. Wir hatten eine ungeheuere Ueberzahl
gegen uns, und trotz der Dunkelheit waren uns die Speere
und die langen Dolche, welche die Somali iu das Zelt
hineinwarfen, sehr gefährlich. Wir drei blieben bei einan-
der; Herne kniete mir zur rechten Seite, auf der linken
bewachte Speke den Eingang; ich stand in der Mitte, führte
aber keine andere Waffe als meinen Säbel. Die Revolver
hatten gute Dieuste gethan, zum Unglück war aber nur etu
einziges Paar zur Hand. Als sie abgefeuert waren, suchte
Speke ein Pulverhorn, das er nicht fand; inzwischen brach
ein Feind von hinten in das Zelt, das nun fast ganz nieder-
gerissen wurde. Man wollte uns in die Falten verwickeln
uud dann mit leichter Mühe niederstoßen.
Jetzt blieb uns nichts anders übrig, als die Flucht; ich
sprang zuerst hinaus, hinter mir kam Herne, Speke war
der letzte. Die Sache stand äußerst bedenklich. Etwa
zwanzig Feinde lagen vor dem Eingang auf der Lauer;
weiterhin standen viele Gestalten, die wir im Dunkeln nur
unbestimmt erkannten, Andere liefen umher, schrieu uud
trieben unsere Kameele fort. Mitten unter den Feinden
befanden sich manche unserer Diener, die den Weg zum
Strande suchten; sie schössen zwischen die Somali hinein
und manche erhielten Speerwunden.
Während ich durch das Gewühl brach, war es mir, als
sähe ich Stroyan am Boden liegen. Ich schlug mich
durch ein Dutzend Somali und erhielt mehr als einen
Keulenschlag. Einer meiner Führer kam mir zu Hülse;
er war kaltblütig uud gesammelt, konnte aber wegen einer
Wunde am Daumen den Speer nicht handhaben. Er
kam glücklich hindurch, hinderte mich aber am Gebrauche
meines Säbels, und ich war so wüthend, daß ich ihn nieder-
hauen wollte. Da rief er laut auf und nun erkannte ich
ihn an der Stimme. Jetzt rannte mir ein Somal seinen
Speer in den Mund; ich entkam wie durch ein Wunder
und fuchte Hülfe. Einige meiner Somali und manche
Diener hatten sich verkrochen; jetzt kamen sie und wollten
mit vorrücken; als ich sie aber beim Worte halten wollte,
zogen sie den Schwanz ein. Der Führer erschien wieder,
verschwand aber sofort. Manchmal warf ich mich vor
Schmerz und Erschöpfung zu Böden, als aber der Tag zu
grauen begann, schleppte ich mich bis an den Bach und
wurde ius Schiff getragen.
Herne war inzwischen so nahe als möglich hinter mir
hergegangen und hatte sich mit seinem Revolver gewehrt;
es gelang ihm, sich unbeschädigt durch zu schlage«. Dann
suchte er nach uns zwischen den verlassenen Buden von
Berbera und fand dort gegen Morgen meinen Führer.
Als es hell wurde, schickte er einen Neger zu dem Schiffe,
das ebeu absegeln wollte, und kam noch zu rechter Zeit an
Bord. Er ist mit einigen Keulenschlägen davon gekommen.
Es erscheint geradezu unbegreiflich, daß Speke am
Leben blieb. Er sprang aus dem Zelt und hielt einem
Somal den Revolver dicht auf die Brust, aber das Pistol
versagte die Drehung. Dann erhielt er von hinten her
einen Keulenschlag auf Brust uud Rippen und stürzte zu
Boden. Drei Männer sprangen ihm auf den Leib, knebelten
ihm die Hände anf den Rücken zusammen, durchsuchten ihn
nach Waffen uud schleppten ihn fort. Kaum konnte er
athmen, bat aber einen Mann um einen Trunk Wasser
und daß man ihm die Hände nach vorne binden möge.
Ein Somal nahm ihn gegen die anderen, welche ihn mit
yan durch die Somali bei Berbera.
den Speeren durchbohreil wollten, in Schutz, gab ihm auch
zu trinken und ließ ihn dann bis Tagesanbruch am Boden
liegen. So sah er denn, wie die Somali um die Beute
herum sprangen und tanzten und nachher stimmten sie
einen Dankgesaug au. In einiger Entfernung lagen ver-
wundete Somali, deueu iuau die Glieder knetete uud
Wasser auf die Wunden goß; auch steckten sie ihnen Dat-
teln in die Hand. Wer solche nicht mehr esseu kann, gilt
für ein Kind des Todes.
Speke lag geknebelt und allein, denn der Mann, in
dessen Gewalt er siel, war fortgegangen, um bei der Beute
uicht leer auszugehen. Da kam ein Somal und fragte auf
Hindnstani, was der Franke hier im Lande zu schaffen
habe; wenn er ein Christ sei, wolle er ihn todtschlagen, sei
er aber ein Muselmann, dann könne er am Leben bleiben.
Speke stammelte, er sei ein Nazarener uud wolle uach
Sansibar. Der Räuber schlug eiu Gelächter auf und ging
fort; bald nachher kam ein Anderer uud schwang seine
Waffe, that ihm aber nichts zn Leide und eilte gleichfalls
zur Beute. Speke machte sich die Hände srei, konnte nun
einen Speerstoß abwehren, erhielt aber einen Keulenschlag
auf die Hand, einen andern auf deu Arm uud mehre auf
Schenkel uud Schultern; zuletzt gab man ihm noch einen
Stich ins Bein. Trotz alledem schleppte er sich, oft von
Speeren umsaust, bis an den Strand; dort aber, vom
Blutverlust völlig erschöpft, sauk er wie tobt hin. Nach
einiger Zeit raffte er sich auf uud gelaugte bis an die
Hütten von Berbera; eiuige Frauen sagten ihm, wo er
uns finden könne. Er schleppte sich fort uud zum Glücke
begegneten ihm Leute, welche wir vom Schiff aus gesandt
hatten, ihn zu sucheu. So kam er an Bord. Man sieht,
es ist unter Umständen schwer, einen Menschen vom Leben
zum Tode zu bringen; Speke war schon nach vier Wochen
unterwegs nach England uud hat von seinen Wunden nie
Unbequemlichkeiten verspürt.
Als wir drei Gerettete an Bord waren, bewaffnete der
Schiffsführer seine Leute mit Musketen und Speeren und
setzte sie unweit unseres Lagerplatzes ans Land. Die
Feinde waren abgezogen und hatten alle Zeugwaaren,
Taback und Waffen mitgenommen; dagegen ließen sie
Bücher, Getreidesäcke uud manche andere. Sachen, deren
Gebrauch sie uicht kannten, am Platze liegen. Wir blieben
an jenem Tag in Berbera und verbrannten Alles, was wir
nicht mitnehmen konnten.
Stroyans Leiche wurde auf das Schiff gebracht; sie
war längst erkaltet. Ein Speer war ihm ins Herz ge-
drungen, ein anderer hatte ihm den Unterleib durchbohrt,
am Vorderkopf hatte er einen fürchterlichen Säbelhieb.
Außerdem war der ganze Leib mit Keulenschlägen wie
bedeckt und an manchen Spuren nahmen wir ab, daß man
ihn nach dem Tode noch schmachvoll geschändet hatte. Wir
hatten wie Brüder gelebt; Stroyan war überall beliebt
und eiu Mann von Mnth und Ausdauer. Gern hätten
wir ihn mit nach Aden hinübergenommen uud dort begra-
beu, aber wir mußten ihn am 2t). April Morgens in die
Tiefe versenken. Herne sprach das Gebet und mit schwerem
Herzen steuerten wir der Küste Arabiens zu. ■—
Der Somal, unter dessen Keulenschlägen Stroyan den
Geist aufgegeben hat, hieß Ao Ali; er steckte die Strauß-
feder auf. (First footsteps in Fast Africa, or an explo-
ration of Harar, by Richard F. Burtön; London 1856.
XLII und 648 Seiten.)
Bienenzucht auf Borneo.
375
Bienenzucht
Die Bäume, aus welchen die Bienennester angetroffen
werden (Dann Tangiran genannt) finden sich in der Nähe
der User der größeren Flüsse und deren Nebenflüsse, jedoch
nie im dichten Gebüsch, denn die Bienen suchen sich die
höchsten und freistehendsten Bäume aus.
Für Naturforscher ist es gewiß von Interesse, die Namen
derselben zu hören: Kaju*) Djiugi, KajuDilap, Kaju
Kalatan, Kaju Anglcü.
Mit Beginn des Westmussous, wenn die Blumeu und
Blütheu sich entwickeln, kommen die Bienen in Schwär-
meu von den Gebirgen, wo dieselben, wie die Eingebornen
versichern, sich während der trocknen Jahreszeit in Felsen-
höhlen und Klüften aufhalten.
Auch will man bemerkt haben, daß sie sich gewöhnlich
wieder aus dieselben Bäume niedersetzen, von welchen sie
das Jahr vorher auf eine, wie wir nachher sehen werden,
so grausame Weise vertrieben wurdeu.
Jeder Schwärm baut ein besonderes Nest; bevor er
jedoch zun: Bau desselben übergeht, sucht er sich einen
Zweig aus und bleibt au demselben iu der Form eiues
umgestürzten Kegels (der Kopf nach unten) sieben Tage
lang hängen. Darauf fliegen die Arbeitsbienen iu die
Runde, um ihr Baumaterial 511 suchen. Die reichste Ernte
holen sie aus deu Blumen Tangkapeli und Biwan. Der
sertige Bau (idan genannt) zeigt sich in der
Gestalt eines dreieckigen Schisfes, das mit der
einen Seite an dem Zweige festsitzt, während der obere
Theil nach unten herabhängt. An einem Idan unter-
scheidet man den Kops (kapala), der sich immer an dem
obersten Theile der eine« Seite, welche au dem Zweige
festsitzt, befindet, und den Tapis, deu übrigen Theil
des Jdans. Die Masse des Kopses ist dicker, d. h. die
zum Bewahreu des Honigs dienenden Zellen sind länger
als die viel größeren des Tapis, welcher Theil die Brnt-
zellen enthält.
Beide Theile des Jdans sind schou aus eiue gewisse
Eutseruuug von einander zu unterscheiden. Der Kops
nämlich ist blendend weiß, der Tapis jedoch ist gelblich
braun und mit einen: hellereu Rande versehen. Der
größte Bau beträgt 4 Fuß; die Dicke dagegeu, 1 Zoll, ist
bei allen gleich.
Die jungen Bienen haben eine Zeit von drei Monaten
zu ihrer Entwicklung aus dem Ei uöthig. Sie verlasseu,
sowie sie ausgewachsen siud, mit ihren Eltern deu Bau und
ziehen nach dem Gebirge. Der verlassene Idan, dann
Lawangan genannt, bleibt noch 6 bis 3 Tage an dem
Baume hängen, bevor er abfällt.
Wenn das Wetter vor der Entwicklung der Blumeu
und Blüthen günstig ist, kann man auf eine gesegnete
Ernte rechnen und findet nicht selten Bäume mit 209
Jdans. Sobald dieselben fertig und mit Honig gefüllt
*) Kaju, Holz.
aus Borneo.
sind, werden sie geschnitten, und zwar im Januar, Februar
und bis Mitte März.
Zuvörderst wird eiue dünne, sehr zerbrechliche Leiter
längst dem Stamm und deu Zweigeu au dem Idan ange-
bracht und in der Nähe des Tangiran das Krüppelholz
weggekappt, so daß ein freier Platz entsteht, auf deu mau
die Gerätschaften stellt, welche zum Aussauge» vou dem
aus dein Idan auslaufenden Honig dienen.
Diese Arbeit wird in der Nacht vorgenommen. Jene
Leiter besteht aus Stücken Holz, die aus einem Abstand
von 2 Fuß vou einander in den Baum eingeschlagen und
deren freistehende Enden durch Nottau oder dünne Baum-
stamme mit einander verbunden werden.
Darauf steigen die muthigsten Eingebornen auf deu
Baum, mit Stöcken und mit brennenden aus Bündeln
Holz verfertigten Fackeln versehen. So gewassuet begebeu
sie sich mit der größten Schnelligkeit längs der Leiter und
den Zweigen nach den Nestern, ihren Gehülfen, welche auf
einem gewissen Abstände iu dem Gebüsch stehen, beständig
zurufend, ihnen Rath gebend und sie zur Vorsicht ermah-
uend, und schwenken die brennenden und Funken sprühen-
den Fackeln so lange, bis alle Bienen geflüchtet sind. Die
zahllosen Bewohner des Nestes erfüllen die Lust mit ihrem
Gesumme, werden jedoch durch das Feuer und den Rauch,
durch Glauz und Finsterniß betäubt und weggeführt durch
den Wind; dann fallen sie iu einiger Entfernung zur Erde
nieder. Zuweilen erleuchten die unaufhörlich geschwenkten
Fackeln einen Augenblick diese Seeue und zeigen den
nackten Leib der Eingebornen, welche halb durch das dunkle
Laub gedeckt unter dem Singen einer melancholischen Weise
ihr gefahrvolles Werk vollbringen. Sie bitten in derselben
die Bienen, ihnen zn verzeihen und zu flüchten.
Die Worte sind folgende:
Gandong badjut
Manjang orei
Djangan takotjot
Kalo memim bang amas ber orei orei.
Das heißt:
„O! Bienen, die ihr an den Nestern hängt, fallt nieder
mit den Funken, erschreckt nicht, bildet euch ein zärtlich zu sein
im Golde."
Nachdem die Bienen auf die oben beschriebene Weise
vertrieben sind, werden die Nester vermittelst eines Hölzer-
uen Hammers (einen eisernen darf man nicht gebrauchen,
sonst, so wähnt man, würden die Bienen das folgende
Jahr nicht wiederkehren) von den Aesten losgeschlagen und
auf eiu Flechtwerk gelegt, eine Art Sieb, unter welches
man Töpfe stellt, iu die der Honig abläuft. Deu Tag
nach dem Einsammeln desselben ist es nicht rathsam, sich
den Bäumen zu uäheru, denn viele Bienen kehren mit
Anbruch des Tages wieder zurück und schwärmen um die-
selben; auch ist es vorgekommen, daß einige Unvorsichtige
ein Opfer der wütheuden Infekten geworden.
H. v. Strmch.
376
R, Rost: Das Verhältniß des romanischen zum germanischen Elemente x.
Das Verhältnis des romanischen zum
Von M!
Keine unter allen anderen neueren Sprachen hat durch
das Aufgeben und Zerrütten alter Lautgesetze, durch den
Wegfall beinahe sämintlicher Flexionen eine größere Kraft
und Stärke empfangen als die englische, und von ihrer
sehr bedeuteuden Fülle freier Mitteltöne ist eine wesent-
liche Gewalt des Ausdrucks abhängig geworden, wie sie
vielleicht noch niemals einer andern menschlichen Zunge
zu Gebote stand. Da sie durch ihre überaus geistige An-
läge und Durchbildung, hervorgegangen aus einer über-
raschenden Vermählung der beiden edelsten Sprachen des
spätern Europas, zur Weltsprache geworden ist, so dürfte
es von Interesse sein, einen Blick auf die Entstehung und
Geschichte dieser dem germanischen Sprachstamm ange-
hörenden Sprache zu thuu, um 311 erfahren, wie sich die
mannigfachen Bestaudtheile, welche wir vorfinden, 51t ein-
ander verhalten, wie die Vermischung des die ganze
Sprache charakterisirenden germanischen und romanischen
Elementes vor sich gegangen, und welcher Vortheil der
Sprache durch das Hinzutreten des letztern daraus
erwachsen sei.
Die ältesten Bewohner Großbritanniens gehörten dem
keltischen Volksstamine an, welchen wir als den am
frühesten vom Ursitz der Jndoenropäer, von Central-Hoch-
asien, ausgewanderten zu betrachten Pflegen und dessen
räumliche Ausdehnung zu Anfang unserer Zeitrechnung
eine bedeutend größere war als jetzt; denn sein Gebiet
erstreckte sich über Großbritannien und Irland, Gallien,
Belgieu, eiueu Theil von Spanien und von der Schweiz
aus östlich über Rhätien, Jllyrien und Ungarn bis nach
Thrakien hin, während er jetzt auf Irland, Hochschottland,
Wales und die Bretagne beschränkt ist. Das Keltische
theilt sich noch heute in zweiHanptsprachen, die kymrische
oder welsche in Wales und in der Bretagne und die
g a e l i s ch e oder irische, wohl auch g h a d e l i s ch e genannt,
welche durch die Skoten aus Irland nach Schottland ver-
pflanzt wurde. Die schon so eingeschränkten Grenzen des
Keltischen werden jetzt allmälig immer enger, und es ver-
mag dem Einflüsse der modernen Sprachen kaum noch zu
widerstehen.
Bekanntlich wurde nach langen und verzweifelten Käm-
pfen Britannien um das Jahr 80 nach Christi Gebnrt
römische Provinz. Die Einwirkung der Römer ans die
Briten war jedoch eine viel geringere, als sie auf die Be-
wohner Spaniens und Galliens gewesen war. Mögen
auch die von den Römern gegründeten oder besetzten Städte
größtenteils römisch nach Bevölkerung, Sitten und
Sprache gewesen oder geworden sein, so dauerte auf dem
flachen Lande dennoch die keltische Sprache, wenn auch mit
lateinischen Bestandtheilen vermischt, sort, ja gewann sofort
wieder die Oberhand, als die Römer zu Anfang des fünf-
ten Jahrhunderts Britannien verließen. Jetzt bedrohte
aber ein anderer Feind die Briten, nämlich die Pikten
und Skoten, welche von Norden her in das Land ein-
fielen. In ihrer Bedrängniß wandten sich die Briten an
die Sachsen und zwar, wie nenere Forschungen dar-
gethan haben, an diejenigen, welche das Litus Saxonicum
im nördlichen Gallien, d. h. die ganze heutige Normandie
germanischen Elemente im Englischen.
olf Rost.
und einen Theil der Grafschaft Artois bewohnten. Diese
schlugen auch die Pikten und Skoteu, traten aber dann
selbst als Eroberer auf und setzten sich nach langwierigen
Kämpfen, während welcher immer neue Schaaren von
Sachsen und anderen germanischen Stämmen einwanderten,
zuerst in Kent und dann in dem größten Theile des übri-
gen Englands mit Ausnahme von Cornwallis, Wales
und fast der gauzeu Westküste fest. Da nun die Briten
von den eingewanderten Germanen, welche man nach den
Hauptstämmen Angelsachsen nannte, aus den eroberten
Landestheilen vertrieben wurden, diejenigen Briten aber,
welche unter deu Angelsachsen blieben, gewiß ihrer geringen
Zahl wegen bald Sprache und Sitten ihrer Herren an-
nahmen , da ferner zwischen den Sachsen und Briten in
Wales und anderen keltisch gebliebenen Landestheilen fast
beständige Feindschaft herrschte, das Keltenthum überhaupt
dem Germanenthnm hatte weichen müssen: so ist es natür-
lich, daß die Zahl der ins Angelsächsische anfge-
nommenen keltischen Wörter nicht groß sein kann.
Einen andern Bestandtheil erhielt die Sprache, als
gegen Ende des sechsten Jahrhunderts das Christenthum
unter den Angelsachsen Wurzel zu fassen begann. Da-
durch wurden der Sprache eine Anzahl lateinischer
Wörter, meist kirchliche Ausdrücke, zugeführt, z. B. clerk,
Geistlicher, von clericus; preach, predigen, von praedicare;
rnle, Regel, von regula und andere mehr.
Erst nach Verlaus zweier Jahrhunderte hatten die
Angelsachsen ihre Eroberungen einigermaßen beendigt und
gesichert. Im neunten Jahrhundert hatten sich die sämmt-
lichen angelsächsischen Reiche unter einem Herrscher, dem
westsächsischen Egbert, vereinigt, und die westsächsische
Sprache, schon vorher die überwiegende, ward von nun
an fast die alleinige Schriftsprache der Angelsachsen oder,
wie sie sich von nun an nennen, der Angeln. Um diese
Zeit beginnen auch die Raubzüge der Skandinavier,
welche in England mit dem Namen Dänen belegt wurden.
Von 1013 bis 1042 wurde England sogar von den Dänen
völlig erobert. Der Einfluß, den die letzteren auf die
Sprache übten, ist höchst unbedeutend.
Von der größten Wichtigkeit jedoch war die Eroberung
Euglauds durch die Normannen. Ihre Sprache wurde
die allein herrschende, am Hofe, vor Gericht, in Kirche und
Schule, während das Angelsächsische nur die Sprache des
gemeinen Volks blieb und seit Anfang des zwölften Jahr-
Hunderts aufhörte, schriftstellerisch ausgebildet zu werden.
Aber dennoch hielt das Volk mit Zähigkeit an seiner
Sprache sest, die vielleicht mit französischen Wörtern etwas
vermischt ward, aber der Hauptsache nach eine deutsche
Sprache blieb. Als nun die Normandie unter Philipp
August französische Besitzung geworden, als die Normannen
in England die Franzosen und selbst ihre normännischen
Brüder als Feiude zu betrachten anfingen, als durch deu
Mangel des Verkehrs mit dein Mutterlande ihre Sprache
zu entarten begann, da mochten die normännischen Großen
es doch allmälig für gerathen finden, sich dem Volke zu
nähern und seine Sprache zu erlernen, um so mehr, als
sie mit ihrer eigenen nicht mehr viel Ehre einlegen konnten.
R, Nost: Das Vcrhältniß dcs rom.
Wie nun die Normannen Angelsächsisch zn lernen anfingen,
so bequemten sich auch die Sachsen, sich nach und nach mit
der Sprache der vornehmen Welt bekannt zn machen oder
wenigstens eine Menge französischer Ausdrücke iu die
Sprache aufzunehmen.
Auf diese Weise kam denn mit der Zeit eine Ver-
schmelzung beider Sprachen zu Staude, iu welcher
der deutsche Bestandtheil den Sieg davon trug, aber nicht
ohne selbst mannigfache Veränderungen iu Folge des freut;
zösifcheu Einflusses zu erleiden. Diese so entstandene, die
englische genannte Sprache wurde seit der zweiten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts anch schriftstellerisch ange-
wandt, in Volksliedern, namentlich Spottliedern, in ge-
reimten Romanen, die anfänglich nur für das eigentliche
sächsische Volk gedichtet wurden. Im Jahre 1362 wurde
die englische Sprache durch einen königlichen Beschluß bei
Gerichtsverhandlungen eingeführt. Nur der Hof
und das Parlament behielten die französische Sprache noch
eine Zeit lang bei, letzteres bis zum Jahre 1483. Sogar
heutzutage bedienen sich die verschiedenen Zweige der gesetz-
gebenden Macht in ihren gegenseitigen Beziehungen der
französischen Sprache. Wenn das Unterhaus dem Hause
der Lords eine Bill zuschickt, oder eine von ihm erhält, so
geschieht dieses stets mit der Formel: Koit baile aux Seig-
neurs oder: Soit baile aux Commuiies, und die königliche
Beftätiguug erfolgt mit den Worten: La Reyne le voet
(veut). Bei der Eröffnung jeder Parlamentssitzung läßt
das Oberhaus ebenfalls in altfranzösischer Sprache in
seinen Tagebüchern die Namen der Personen verzeichnen,
die zur Aunahme und Prüfung der Bittschriften für Eng-
land und die Gaseogne (welche bis zum Jahre 1453 eine
englische Provinz war) ermächtigt werden.
Ohne auf das Verhältuiß zum Angelsächsischen hier
näher einzugehen, beschäftigen wir uns jetzt mit der Haupt-
aufgäbe unserer Betrachtung, welche darin besteht, zn zei-
gen, wie groß der Einfluß des Französischen auf das im
Englischen vorhandene germanische Element war. Wenn
wir die Veränderungen vergleichen, welche mit den übrigen
germanischen Sprachen im Laufe der Zeiten vorgegangen
sind, fo wird es uns gewiß niemals einfallen, die Ab-
stumpfung und Abschwächung der Formen, also das
Schwinden der sinnlichen Schönheit, mit einem Einflüsse
des Französischen in Verbindung zu bringen. Frei von
jeder äußern Einwirkung geschahen diese Veränderungen.
Die Vereinfachung der Formen ist ein charak-
teristifcher Zug der neueren Sprachen. So haben
die romanischen Sprachen die Declination längst ans-
gegeben, ein großer Theil unserer deutschen Mnudarteu
kennt bereits keinen Genitiv und Dativ mehr und ersetzt
sie durch Verhältnißwörter. Keine der deutschen Schrift-
und Volkssprachen ist indessen so weit gegangen als das
Englische; alle haben den verschiedenen Artikel zum Unter-
schied des Geschlechtes, alle den Unterschied zwischen
schwacher und starker Decliuatiou, alle die von der ersten
Form des Singular verschiedene Pluralform im Präsens
und Präteritum und anderes mehr bewahrt, — Alles, was
von dem Englischen schon seit beinahe fünf Jahrhunderten
völlig aufgegeben worden ist. Und doch zeigte das Angel-
sächsische vor dem Eindringen der Normannen keineswegs
eine größere Neigung zur Abstumpfung und Vereinfachung
der Formen als die anderen germanischen Sprachen. Zum
größern Theile war die Vereinfachung der englischen
Sprache schon vollendet, als die Mischung mit französischen
Wörtern erst überhand nahm. Wenn wir demnach einer-
seits dem Eindringen des französischen Elementes auf die
Gestaltung der ganzen Sprache einen Einfluß nicht ab-
Globus IX. Nr. 12.
ischm zum germanischen Elemente:c. 3/7
sprechen können, stellen wir andererseits die Behauptung
anf, daß das Englische nicht aus dem fchrift-
mäßigen Angelsächsischen, fondern aus deu
wahrscheinlich vor der Eroberung schon viel-
fach abgeschliffenen angelsächsischen Mundarten
hervorgegangen sei. —
Da demnach der Einfluß des Französischen anf die
Bildung der englischen Sprache nicht abgewiesen werden
kann, so betrachten wir zuvörderst, wie weit sie sich aus die
Laut- nnd Formenlehre erstreckt.
Eingeführt wurden aus dem Französischen die allen
germanischen Sprachen fremden Zischlaute tscb und dscb
(cb und g). Ob die Verwandlung des sc in cb, die nur
unvollständig durchgedrungen ist, ebenfalls französischem
Einflüsse zuzuschreiben sei, ist insofern zweifelhaft, als sich
z. B. im Deutschen sk ohne französischen Einfluß in seb
verändert hat und im Holländischen anlautend sk zu seb
mit gesondert gesprochenem Kehllaut cb geworden ist. Ent-
schieden romanischen Ursprungs ist jedoch das Aufgeben
des für Franzosen nicht leicht auszusprechenden Kehllautes
ob, angelsächsisch b. Während das Altenglische die angel-
sächsische Schreibung noch beibehält, führt das Mittel-
englische die Schreibung gb ein, was von dieser Zeit an
als tonlos gilt.
Die Einwirkung des Französischen offenbart sich ferner
in dem Stummwerden des auslautenden e und dem dadurch
entstandenen Vorherrschen-der einsilbigen Wörter int Eng-
lischen. Der Saut ju kommt meistens nur in französischen
Wörtern (u), mit der Schreibung ew jedoch auch in dent-
schen Wörtern vor. In französischen Wörtern entspricht
er dem französischen u, einem im Englischen unbekannten
Laut, in deutschen Wörtern meist dem angelsächsischen 6ov,
ausgesprochen ^'ov. —• Theilweise französischen Ursprungs
ist auch das Ueberhanduehmen des s als Pluralform der
Substantive, denn die Plnralenduug im Angelsächsischen
war en, welche auch jetzt noch iu einigen Wörtern bewahrt
ist, wie z. B. oxen, liosen, cliildren u. s. w.
Recht augenscheinlich wird der Einfluß des Französischen
auf die Wortstellnug im Englischen. In demselben
Grade, in welchem das Angelsächsische und Deutsche im
Satzbau mit einander übereinstimmen, geschieht es im Fran-
zösischen und Englischen. So sind die Stellung des Zeit-
Wortes au das Ende im Vordersatze, die Trennung des
Hilfszeitwortes vom seinem Zeitworte vom Englischen auf-
gegeben worden.
Betrachten wir jetzt die Veränderungen, welche das
Französische, als Bestandtheil der englischen Sprache,
seit seiner Ausnahme erlitten hat. Die wichtigste Verän-
derung besteht darin, daß die französischen Wörter ihre
ursprüngliche Betonuug fast vollständig aufgeben uud
sich der deutscheuBetonungsweife fügen mußten. Man ver-
gleiche: französisch concert und englisch cöncert,-compagnie
und cömpany, portrait und portrait. Die deutsche Be-
tonung trat indessen nicht sofort bei den französischen
Wörtern ein uud es vergingen Jahrhunderte, che dieselbe
in der jetzigen Ausdehnung Platz griff. Vollständig
durchgeführt ist übrigens die deutsche Betonung nicht;
namentlich bei den Znsammensetzungen mit con, dis, pro,
ab, ex k. findet bald Betouung der ersten Silbe, bald des
Stammes statt. Viele Wörter nehmen doppelten Ton an,
je nachdem sie Hauptwort oder Zeitwort sind nnd diese
oder jene Bedeutung haben, z. B. Compound, Mischung,
und to Compound, sich vergleichen; export, Ausfuhr, uud
to export, ausführen; desert, Wildniß, nnd desert, Ver-
dienst; exile, Verbannung, exüs, klein, und exüe, ver-
bannen.
4§
378 R. Rost: Das Verhältniß des roma
Mit der Annahme des deutschen Tones, die im Volke
wahrscheinlich früher als bei den Schriftstellern erfolgte,
blieben die französischen Wörter in ihrer Entwicklung
stehen und folgten der Hauptsache nach den deutschen Laut-
gesehen. Daher kommt die große Verschieden-
heit in den neufranzöfifchen und nenenglischen
Formen derselben Wörter, daher auch die Er-
scheinung, daß die englisch-französischen Wör-
ter dem Lateinischen näher stehen als die neu-
französischen. So hat das Englische häufig c, wo im
Französischen ch steht; z. B. castle (chäteau), camp
(champ). Die Ausstoßung des s vor t, c und P, wie im
Französischen, findet nicht statt , daher state (£tat), study
(etude), spouse (epoux). Das n verliert seinen Nasen-
laut, z. B. tone (ton); eben so das gn, wobei das g
meistens ganz verschwindet, z. B. mountain (montagne),
gain (gagner), reign (reguer); auch das 1 mouille verliert
seinen Charakter, z. B. travel (travailler), counsel (con-
seil). — Ans dem französischen u wurde ju (u, ew), z. B.
jew (juif); auslautendes 6 ward y, z. B. city (cite); oi
behielt den Doppellaut o und i, z.B. point (point), choice
(choix). Aus der Veränderung der Betonung folgte ganz
natürlich, daß die Endsilbe verkürzt, die nunmehr betonte
Silbe verlängert wurde, z. B. Mountain (montagne). So-
gar ganze Silben fielen in Folge dieser Veränderung aus,
z. B. judgment (jugement).
Fassen wir jetzt das Verhältniß des französischen zum
deutschen Bestandteile im Englischen näher ins Auge, so
ist es eine eben so schwierige als undankbare Arbeit, das
Zahlenverhältniß beider Elemente aufzusuchen, denn
schwierig ist es, zu unterscheiden, welche Wörter unmittel-
bar aus dem Lateinischen durch das Französische einge-
drungen sind. Die Berechnungen, denen man gewöhnlich
begegnet, geben die deutschen Bestandtheile zu fünf Achteln
der ganzen Summe von Wörtern an. Man kann wohl
annehmen, daß die deutschen und französischen Bestandtheile
in Hinsicht der Zahl einander ziemlich gleichkommen, ja
daß das romanische Element sogar noch ein Ueb ergewicht
an Zahl durch die unmittelbar aus dem Lateinischen,
namentlich vou deu Gelehrten aufgenommenen Wörter hat,
insofern als man nur das Wörterbuch zu Rathe zieht; daß
der deutsche Bestaudtheil jedoch im Allgemeinen ein gewisser-
maßen moralisches Uebergewicht vor dem romanischen hat,
da er in der Dichtersprache sowohl wie in der Volkssprache,
vor allem aber in der Bibel stärker vertreten ist, und es
Wohl möglich wäre, englisch mit nur germanischen Bestand-
theilen zu schreiben, aber nicht umgekehrt. In der wissen-
schaftlichen Darstellung, sowie im Zeitnngsstyle tritt das
romanische Element mehr hervor. Der latinisirende Styl
ist wohlklingender, der germanisirende aber kräftiger. Be-
trachten wir jetzt eine Stelle aus Shakespeares Macbeth,
um uns von dem Verhältniß beider Bestandtheile durch
Augenschein zu überzeugen. Die dem romanischen Gebiete
angehörenden Wörter zeichnen sich durch cursive Schrift aus:
Go bid thy mistress, when my drink is ready
She stiikes upon the bell. Get thee to bed,
Is this a dagger whicli I see hefore me
The handle towards my band? Come let me clutch thee.
I have thee not and get I see thee still.
Art thou not, fatal Vision, sensible
To feeling as to sight? — or art thou but
A dagger of the mind, a false creation
Proceeding from the heat — oppressecl brain ?
I see thee get, in form as pal.pable
As this, wich now I draw.
Untersuchen wir jetzt, iu welchem Verhältnisse das
Deutsche zum Französischen in Bezug auf die Bedeutung
schen znm germanischen Elemente :e.
der Wörter steht, oder welches Gebiet angelsächsisch geblie-
ben, welches romanisirt worden ist. Da das charakteristische
Element des Englischen das Deutsche ist, so sind natürlich
Fürwörter und Hilfszeitwörter rein deutsch geblieben.
Deutsch sind auch die Zahlwörter mit Ausnahme von
second und million. Die Verhältnißwörter und Binde-
Wörter sind ebenfalls mit nur wenigen Ausnahmen deutsch.
Im Uebrigen gehören dem Sächsischen an: die Ausdrücke
für Gegenstände der Natur, für Land- und Hauswirth-
fchaft, Familienverhältnisse und das Seewesen; das Fran-.
zösische beherrscht dagegen alles zum feiuern Leben Ge-
hörende, also die Ausdrücke für Hof und Staat, Titel und
Würden, Künste und Wissenschaften; fodann sind entfchie-
den romanisch alle absiraeteu Begriffe, während die con-
creten vorzugsweise dem germanischen Bestandtheile ange-
hören.
Nicht zu verkennen ist, daß das Englische durch den
Hinzutritt des romanischen Elementes einen bedeutenden
Reichthum erlangt hat, der sich namentlich darin zeigt,
daß es der Sprache nicht an Bezeichnungen selbst für ge-
ringe Veränderungen eines Begriffes fehlt. Außerordentlich
reich ist unter Anderm die Sprache an Ausdrücken zur
Bezeichnung stärkerer Gemüthsbewegnngen, wie beifpiels-
weise die mannigfaltigen Wörter für „Aerger" beweisen:
anger, wrath, passion, rage, fury, outrage, fierceness,
sharpness, animosity, clioler, resentment, heat; to fume,
storm; inflame, be^incensed; to vex? kindle, irritate,
enrage, exasperate, provoke, fret; tö be sullen, hasty,
liot, rough, 8our, peevisli und andere.
Ist die französische und deutsche Bezeichnung für einen
und denselben Begriff zugleich int Englischen geblieben, so
stimmen beide nur äußerst selten iu ihrer Bedeutung völlig
überein, sondern es findet in der Regel ein leichter Unter-
schied zwischen ihnen statt. Wenn daher meal Mehl über-
haupt bedeutet, so ist flour das feine Weizenmehl; blessing
ist der göttliche Segen, benediction aber der von Menschen
ausgesprochene. Maßgebend für die Bedeutung ist auch
die Geltung der Wörter in den vornehmeren oder geringeren
Kreisen des Lebens; so sagt man the queens consort, aber
nicht the queens husband. Ferner ist zu beachten, daß
zwei Benennungen vorhanden sind für ein und denselben
Begriff, und zwar eine deutsche für ein Ding im rohen Zu-
stände, eine französische aber für einen durch Kunst ver-
feiuerteu Zustand, namentlich die deutschen Thier- und
französischen Speisenamen: ox und beef; calf und veal-,
swine und pork; sheep und mutton. Mitunter kommt
es auch vor, daß das deutsche Wort seine Bedeutung ändert
und dem französischen Worte seine bisherige Stelle über-
läßt; das Wort harvest hieß ursprünglich Herbst, jetzt
bedeutet es Erntezeit, zum Unterschied von autumn.
Daß die Verschmelzung und Gleichstellung der
Wörter beider Elemente im Englischen aber eine vollkom-
mene ist, wird am besten daraus ersichtlich, daß französische
Endungen an deutsche Wörter und umgekehrt deutsche
Endungen an französische Wörter gesetzt worden sind. Es
sind demnach germanische und romauische Bestandtheile
gleichsam so ius Fleisch und Blut der Sprache über-
gegangen, daß beim Gebrauch das Volk sich nicht mehr
bewußt wird, ob es ein Wort deutschen oder französischen
Urspruuges anwendet. Deutsche Wörter mit französischen
Endungen sind: hoiisage, goddess, eatable und andere;
französische Wörter mit deutschen Endungen: falsehood,
useful, foolish. Eben so finden sich deutsche Wörter mit
französischen Vorsilben, als d,'stunden, resail, und franzö-
sische Wörter mit deutschen Vorsilben, wie underprice, over-
charge und andere.
A. Bastian: Die Kalmükken.
379
>
f
Es gibt endlich im Englischen eine bedeutende Anzahl
von Wörtern, welche, obgleich von derselben Wurzel her-
stammend, dennoch in verschiedener Gestalt auftreten.
Diese Erscheinung ist daraus zu erklären, daß ein und
dasselbe Wort zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedeueu
Wegen eingeführt wurde. So kommt es vor, daß das
lateinische Wort in seiner eigentlichen und seiner sranzö-
sischenGestalt vorhanden ist, z. B. fragile'itnb frail, gebrech-
lich , lateinisch fragilis und französisch freie; oder daß
deutsche Wörter durch Vermittlung des Französischen noch
einmal ins Englische aufgeuommen wurden, z. B. guard,
Wache, uud ward, Bewachung; hier ist guard das deutsche
Wort „Warte" in französischer Form.
Zum Schluß unserer Betrachtung noch eine allgemeine
Bemerkung. Daß der englischen Sprache durch das Hin-
zutreten des französischen Bestandteiles, also gleichsam
durch die Vermählung des germanischen mit dem roma-
nischen Elemente, durchaus kein Nachtheil erwachsen ist,
geht jedenfalls mit der Erscheinung Hand in Hand, daß
die englische Nation ihre großartige Machtstellung, ver-
möge deren sie durch ihre über die ganze Erde verbreiteten
Colonien Weltbeherrscherin geworden, lediglich wohl dem
Umstände verdankt, daß die Angelsachsen mit den Nor-
mannen innig sich verschmolzen, denn die Geschichte lehrt
ja, daß die deutschen Stämme erst durch die Vermischung
mit fremden Nationalitäten aus einer gewissen Phlegma-
tischen Unbeweglichst zu entschiedener Thatkraft sich heran-
bildeten. —
D i e K a l m ü k k e n.
Von Adolf Bastian.
Die Kalmükken sind in Europa die einzigen Repräsen-
tanten des Bnddhismns, jener weit verbreiteten Religion,
die die größere Hälfte Asiens füllt, und von Asien kamen
sie herüber zu ihren jetzigen Wanderplätzen, an den änßa°-
sten Grenzen Europa's. Die Scheidelinie zwischen den
beiden Welttheilen ist dort nicht so fest bestimmt, wie weiter
im Norden, wo der Ezar des gigantischen Rußlands seinen
doppelköpstgen Adler aufgepflanzt hat, um zwei Kontinente
zu scheiden. An der großen Straße von Moskau nach
Sibirien steht zwischeu Kasan und Jekaterinbnrg ein ein-
zelner Pfeiler, der mit einer Hand nach Westen, mit der
andern nach Osten zeigt uud nur die zwei bedeutungsvollen
Worte trägt: „Weg uach Europa", „Weg uach Asien".
Manches armen Verbannten Auge, wenn ihn das Drei-
gefpann derKibitka dort vorüber und den wüsten Oeden ent-
gegen führte, mag auf dem Worte Asien gehaftet haben,
als ein Zeichen, daß er nun für immer jede Hoffnung
zurückzulassen uud mit allen seinen Erinnerungen aus der
Vergangenheit abzuschließeu habe. Diese Grenzbestim-
mung basirt indeß auf den geographischen Verhältnissen,
da gerade dort die Ebenen des Wolgagebietes sich zu dem
welligen Hügellaude des Ural emporzuhebeu beginnen, und
sie ist rein in solcher Rücksicht festgesetzt, da sich weder
Stadt noch Dorf in der Nähe findet. Nur eine niedrige
Hütte, vou einem Schuster bewohnt, ist neben dem Meilen-
steine gebaut, uud spekulative Köpfe können sich dort Stie-
fein kaufen, um mit dem einen Fuße in Europa und mit
dem andern in Asien zu stehen!
Im südlicheu Rußlaud, zwischeu dem Schwarzeu uud
Kaspischen Meere haben die Ansichten der Geographen
mehrfach über den Puukt differirt, welcher als Grenze an-
zunehmen sei. Da indeß verschiedene kalmükkische Stämme
auf dem linken User der Wolga nomadisiren, kann über ihr
Anrecht auf Europa kein Zweifel sein.
Die Kalmükken bewohnen jetzt als heimatlose Wanderer
das Land, wo ihre Vorfahren als Fürsten geboten. Sie
reiten auf ihren Kameelen über die Ruinen des weithin für
Pracht und Reichthum berühmten Sarai, und ihre Schafe
grafeu auf den Stellen, wo einst in dem Zelte der goldenen
Horde die Großfürsten der Moskowiter Huldigung und
Tribut dem Chan der Chane darbrachten. Indeß sind die
Kalmükken erst neuerdings nach jenen Plätzen zurück
gekehrt, die in vergangenen Tagen ihre glänzenden Waffen-
thaten gesehen hatten, und ihre zweite Erscheinung War
nicht wie früher eiue der Eroberer, fondern der Flüchtlinge.
Der Name der Mongolen schrieb sich mit Tschingischans
Geburt in die Geschichte ein, aber die mongolischen Er-
oberungen wurden meistens durch die unterworfenen Tata-
ren und andere Stämme der Tnrkvölker vollendet, die sich
der westlichen Gebiete bemächtigten und dort als Ansiedler
verblieben. Als Batn's ungeheueres Reich unter inneren
Kriegen zerfiel, war die mohammedanische Bekehrung schon
im Fortschreiten begriffen, und alle Tataren in Kasan, in
der Krim, am Knban und unter deu Nogaiern bekennen
sich jetzt zum Islam. Die Mongolen des Ostens dagegen
bewahrten den Buddhismus, und als Aynka's Kalmükken
sich am Ende des 17. Jahrhunderts von ihnen abtrennten,
brachten sie diese Religion mit sich nach Europa. Sie
erkannten damals die geistliche Oberhoheit des Dalai Lama
an und gehörten zu seinen eifrigsten Verehrern, aber seit
dem Rückzüge der größern Hälfte der Kalmükken, die sich
unter Ubachech anf chinesisches Gebiet retteten (1771),
haben sich die russischen Beamten bestrebt, die Beziehungen
mit Lhassa in Tibet möglichst zu unterbrechen und unter
denKalmükken ein ganz selbstständiges Kirchenregiment ein-
zurichten.
Da die Kalmükken indeß nie mit der Erscheinung
solcher Erdengötter beglückt wurden, wie sie sich unter den
Chutnktus der Kalkas und anderen ihrer mongolischen
Brüder manifestirt haben, so bildet der Titel des Lama
die höchste Würde in ihrer Geistlichkeit. Seit dem Tode
des letzten Lama (1864) war, als ich unter den Kalmükken
mich befand, noch kein neuer erwählt, uud es versah, wäh-
rend eines Besuches, der Bakschi interimistisch seine Firne-
tionen. Er residirt in dem Klostertempel des Erketens-
kian-Ulnß, der während des Winters an den Küsten des
Kaspischen Meeres lagert, in der Nähe des kleinen Hafens
Serebrowskaja.
Mit dem Beginn des Frühlings bricht der Uluß
(Stamm) nach den nahegelegenen Vorhügeln des Kaukasus
48*
380
A, Bastian: Die Kalmükken.
auf und uomadi-
sirt dort im Som-
mer zwischen deu
Bergthälern des
ChamusUla (die
Nase des Gebir-
ges), bis der au-
nähernde Winter
die Heerden zur
Rückkehr nach
dem Tieflaude
zwingt. Sie ha-
den unter sich
ein berühmtes
Bild Buddha's
oder Burchans,
das den küufti-
gen G o t t M a i -
treya vorstellt,
und das bei
den Wanderzü-
gen auf einem
reichgeschmückten
Pferde vorange-
tragen wird.
Während mei-
nes Aufenthaltes
in dem Winter-
quartier dieses
kalmükk. Stam-
ines (im Febr.
1865) wurden
gerade Vorberei-
tungen für ihr
Frühlingsfest ge-
troffen, um deu
Zag au Zara
(deu weißen Mo-
nat) zn feiern
und dann das
Wanderleben ueu
zu begiuueu.
Die beigege-
beue Skizze, von
dem deutschen
Photogr. Herrn
Werkmeister iu
Astrachan aufge-
nommen, gibt
ein Bild der ge-
sanunten Geist-
lichkei.t der Kal-
mükken, die stch
während der
Durchreise des
russischen Thron-
folgers aus ihren
zerstreuten Hör-
den alle in Aftra-
chan zusammen
fanden u. fo Ge-
legeuheit zu dieser
Gruppiruug ga-
ben, die sich sonst
schwer gefunden
haben würde.
Aus allen
Erdtheilcn.
331
Die Figur iu der Mitte stellt den Lama vor, der wäh-
rend der Rückkehr von dieser Reise starb, und dessen Ver-
lnst von seinem Volke noch immer beklagt wurde. Ich
hörte die Kalmükken ein zu seinem Andenken verfaßtes Lied
singen, und meine freundliche Wirthin, die Frau eines
russischen Beamten, hatte die Güte, mir dasselbe zu über-
setzen. Es lautet folgendermaßen:
Von des Meeres weißbedecklen Wiesen
Zogen fröhlich wir, wie ein Gesang.
Er war bei uns, den wir Alle priesen,
Den wir feierten mit Lied und Klang.
Noch das schwarte Roß, das gern er hegte,
Stehet dort im Silberschmuck des Zaum,
Aber Er, der drauf zu reiten Pflegte,
Er wich von uns, wie ein schöner Traum.
An dem Tempel, wo die Götter scheinen.
Haben wir die Schimmel, die er fuhr.
Was bleibt seinem Brüderchen, dem Kleinen,
Als der Name einer Waise nur?
Fort, zum Kloster, mit den schwarzen Rossen,
Ucber die gebot das Lieblingspferd!
Alter Diener, dessen Thränen flössen,
Was bleibt dir nun am verwaisten Heerd?
Ach, sein Freund, er sah die Bahre breiten,
Sah, wie man ihn auf das Feuer legt.
Jetzt kehrt er zurück, das Pferd zu leiten,
Das die Knochen seines Herren trägt.
Bei den Buddhisten fällt durchschnittlich die Erbschaft
eines Mönches an die Priesterschaft. So heißt es im
birmesifchen Damasat: Wenn ein Talapoin stirbt, so
haben seine Verwandten kein Anrecht auf deu Besitz. Beim
Tode eines Obern unter den Talapoinen fallen alle seine
Gerätschaften und Möbel ein den nächst Höhern, oder
an den, der ihm in feiner Würde folgt. Die übrigen
Sachen werden in vier Theile getheilt, von denen zwei
dem zweiten Talapoinen gehören, uitb der Rest wird aufs
Neue in vier Theile zerlegt, um einen dem Pagen und die
übrigen den Familiengliedern zukommen zu lassen.
Von den Räthseln der Kalmükken wurden mir fol-
gende mitgetheilt:
Es ist im Wasser geboren und fürchtet das Wasser.
(Das Salz.)
Man schneidet den Kopf ab, man zieht das Herz her-
ans, man gibt zn trinken und läßt reden.
(Die Feder.)
Das Feld ist weiß, der Same ist schwarz.
(Die Schrift aus dem Papier.)
Der Bucklige und der Krumme laufen über das ganze
Feld. (Die Sichel.)
Nach einer von der gewöhnlichen Weltentstehungs-
theorie der Buddhisten abweichenden Version derKal-
mükken heißt es:
Zudem es ans den zehn Seiten (den acht Seiten der
Windrose, sowie von oben und von unten) des Raumes
zu weheu anfing, wurden Wolken zusammengetrieben,
durch deren Regen ein Oeean entstand. Aus deu Schau-
men desselben bildeten sich allerlei Thiergestalten, itnb
darunter eine gigantische Schildkröte, die bald Unheil
zn stiften anfing, indem sie die übrigen Thiers verschlang.
Mandsaschiri, der dieses (von jenseits des Raumes) sah,
nahm seinen Bogen und durchbohrte die Schildkröte und
heftete sie an der Erde auf dein Grunde des Meeres an, so
daß sie ruhig liegen mußte. An dem Griff des Speeres
(der eben so hoch aus dem Meere hervorsteht, als dessen
Spitze darin eingetaucht ist), legte sich der Schaum des
Meeres (daleke) eilt, und daraus entstand allmälig die
feste Erde. Der oberste Kopf des Speeres bildet den
Berg Snmeru. Nachdem die Erde gebildet war, erschuf
Abida die lebenden Wesen ans derselben. Indem er
Steine auf die Welt warf, entstanden daraus die Men-
scheu, dann erschuf er den König Sakarwadom (mit
1003 Frauen) und beauftragte ihn, über die Menschen zu
regieren. Bei seinem Tode (der damals im Alter von
380,000 Jahren eintrat), übergab Sakarwadom seinen
1003 Söhnen 1003 Goldbecher, die versiegelt waren.
Beim Oeffnen fand ein Jeder in demselben einen Zettel,
mit der Zahl von Jahren, welche ihm bestimmt seien, über
die Welt zn regieren. Zuerst folgte der älteste Cohn,
Schigi mit Namen, feinem Vater. Als der siebente
folgte Muni, der noch jetzt regiert und Schigi-Mnni
(der Muni ans dem Geschlechte des Schigi) genannt wird.
Sein letzter Vorgänger, der sechste Regent, war Mand-
saschiri. Sein nächster Nachfolger, der achte Regent,
wird Maidari sein. Nachdem alle 1003 Söhne des
Sakar-wadom oder Sambar-wadom ausregiert
haben, nähert sich das Ende der Welt. Zur Erneuerung
schickt Abida eine zweite Sonne, die alles Wasser aufsaugt,
und läßt dann nacheinander sechs Sonnen erscheinen, wo-
durch Alles vertrocknet und verbrannt wird. Wenn die aus
dem Boden des Meeres liegende Schildkröte die große
Hitze spürt, wird sie nnrnhig, und indem sie sich zuletzt
ganz herumdreht, bewirkt sie deu Untergang der Welt.
Aus allen Erdtheilcn.
Rasicnvermischung.
Man kann wohl, sagt der londoner „Herald", den Neger
mit dem Weißeu politisch gleichstellen, aber sobald die ge-
sellschaftliche Gleichstellung in Frage kommt, wird sich der
uralte Antagonismus geltend machen. Das luftige Kartenhaus
der sogenannten Philanthropien stürzt flugs zusammen, sobald
der Neger zur Tafel, in den Salon oder in den Eisenbahn-
wagen ' kommt. Ein wirkliches Jneinanderleben der beiden
Rassen ist ein Ding der Unmöglichkeit, es müßte denn sein,
daß irgend ein hirnverbrannter Fanatiker es sich zur Lebens-
ausgäbe machte, eine spezielle Liebhaberei als Lebensaufgabe zu
betrachten und durchzuführen. In Amerika ist nach einem
blntigen Kriege der unausweichliche Neger noch eben so auf dem
Tapet wie vorher. Er ist nun ein „freier Mann", und als
solcher thut er alles Menschenmögliche, um zu beweisen, daß er
nicht an seinem Platze ist, und daß er sich nicht afsimiliren
kann. Er wird nun als Mensch und als Bruder bezeichnet,
aber er zeigt sich weder dankbar noch zufrieden. Er ist nun
kein „Sklav" mehr, aber darum steht er doch eben so isolirt
wie früher. Tie Handwerkspolitiker haben Kapital ans ihm
gemacht; er ist Vorwand zu einem Kriege gewesen und man hat
382 Aus allen
Gesetze über und für ihn gegeben. Aber wer hat sich um
den einzelnen Neger bekümmert und wer trägt
Sorge für den verlasseueu Einzelnen? Wer steht in
freundschaftlichem geselligem Verkehr mit ihm und behandelt ihn
ehrlich, aufrichtig und voll als seinesgleichen? Er ist nach wie
vor auf die „farbigen Brüder" angewiesen, und ist heute nicht
besser daran als früher. Die Sache hat ihren tiefliegenden
Grund. Jahrtausende lang hat die geschichtliche Erfahrung
gelehrt, daß einander fremdartige Rassen social sich einander
nicht gleichstellen können. So wird auch in Nordamerika der
Neger "niemals in die weiße Gesellschaft hineinwachsen, sondern
ein außerhalb derselben lebendes mißvergnügtes Geschöpf bleiben.
Es gibt eben Unmöglichkeiten, die in der Natur Itcgen und die
sich absolut nicht beseitigen lassen, —
In Amerika denken auch die ärgsten Fanatiker nicht an
eine gesellschaftliche Gleichstellung der Neger mit den
Weißen. Als wir das Obige schou geschrieben hatten, fanden
wir in der neuyorker „Weekly Tribüne" vom 13. Januar einen
Aufsatz Horace Greeleys, iu welchem „Schutz für den Neger"
verlangt wird; man müsse demselben Land geben. Dann heißt
es: „Wir müssen dem Neger gerecht werden, und da wir ihm
unsre Thür nicht öffnen und ihn nicht an nnferm
häuslichen Heerde zulassen, so müssen wir uns draußen
seiner annehmen und sehen, daß ihn nicht friere, gleichviel ob
uns das anch große Geldkosten verursacht." („and since -vve
will not throvr open the door and bid him come to the
family fire" etc.) Welch ein Geständniß von einem Führer der
Abolitiousradikaleu und weißen Nigritier! Er gesteht ein, daß
der Neger sich selber nicht helfen, daß er gesellschaftlich nicht
gleichgestellt werden könne, und mehr als eine Million solcher
bettelarmen und hülflosen Schwarzen sollen kraft der „Men-
schenrechte^ das Stimmrecht ausüben.
Eine spanische Erforschungsreise in Südamerika.
Von wissenschaftlichen Reisen, welche von Spanien aus
veranstaltet werden, hören wir kaum jemals etwas. Um so
angenehmer waren wir überrascht, als wir in der zu Porto
Alegre in Südbrasilien erscheinenden deutschen Zeitung folgenden
Bericht fanden:
„Im Jahre 1862 hielt sich in Rio Grande einige Zeit lang
eine spanische Eommission ans, die zum Zwecke einer wissen-
schaftlichen Erforschung der weniger bekannten Länderstriche
Südamerikas uach unserem Eontinent gekommen war.
„Die Flotte, welche Admiral Pinzon kommandirte, brachte
die Herren nach Bahia, und sie durchreisten während einiger
Zeit jene Provinz, Rio de Janeiro, Santa Eatharina und Rio
Grande do Snl.
„Damals zählte die Eommission, deren Besuch in unserer
Provinz übrigens sehr flüchtig war, acht Mitglieder und ging
von hier nach den La Platastaaten, deren Territorium sie fast
ganz durchreiste.
„Am La Plata theilte sich die Eommission behufs der Fort-
setzung ihrer Reise; ein Theil derselben ging durch die argen-
tinischen Pampas und über die Anden nach Chile; ein anderer
Theil machte die _ Reise durch die Magalhansstraße und die
übrigen endlich gingen über die Maluinen und um das Eap
Horn herum nach Chile.
„In Valparaiso trafen sie wieder zusammen, durchreisten
die ganze Republik Chile, sowie die benachbarten Staaten Bo-
livia, Peru und Ecuador und besuchten nicht nur die Küsten-
striche, sondern auch das Innere des Landes, zu welchem Ende
sie verschiedene Male die Andes passirten.
„Von dort setzten sie ihre Reise nach Centralamerika fort
und besuchten sämmtliche Republiken jener Gegend, gingen
nach Mexico und drangen endlich bis S. Francisco in Eali-
formen vor, von wo aus sie zu Wasser nach Valparaiso zurück-
kehrten.
„Schon in Calisornien hatten sie das Unglück gehabt, einen
der Ihrigen in die fremde Erde zu betten. Es war der Geo-
löge der Eommission, vr. Fernando Amor, der an einem
Leberleiden starb, welches er sich bei der Reise durch die Wüste
vou Atacama zugezogen hatte.
„Die übrigen Mitglieder der Eommission waren bereit,
von Valparaiso nach Spanien zurückzukehren, als sie von ihrer
Regierung deu Auftrag erhielten, durch das Amazonenthal
nach der Ostküste von Südamerika zurückzukommen und sich dort
nach Spanien einzuschiffen, d. h. mit anderen Worten, sie
sollten Orellana's, des Entdeckers des Amazonas, Reisetour
nachmachen.
„Drei der Eommissionsmitglieder, die Herren P az, Castro
Erdtheilen.
uud Piug, weigerten sich, dem Befehle nachzukommen und
kehrten uach Spanien zurück, weil die Strapatzen der jähre-
langen Reife ihre Gesundheit zu stark angegriffen hatten.
„Die übrigen vier Mitglieder gehorchten dem Befehle und
sind nun endlich auf den: amerikanischen Dampfer „Havana"
von Para in Pernambuco angelangt.
„Der jetzige Chef der Eommission, Dr. Almagro, und seine
drei Begleiter gingen also von Valparaiso wieder nach Ecuador,
um von dort aus in das Thal des Amazonenstromes zu drin-
gen, eine Reise, die vor ihnen nur Fraucisco Orellaua, der
Entdecker des Stromes, 1541, und der Eapitäu Fereira in
Begleitung des Jesuiten Christoph von Ancuna 1639 gemacht
hatten.
„Von Guayaquil bis Para brauchten die Reisenden 14 Mo-
nate; sie überstiegen die höchsten Gebirge der Republik Ecuador
und untersuchten die dort befindlichen Gletscher und Vulkane.
Sie bestiegen den Chimboraso, den Antisana, den Eotopaxi,
Sanghai und Pichuicha, von wo aus sie auf der Ostseite des
Gebirges hinabstiegen und über 300 Leguas zu Fuße reisen
mußten, da man auf keine andere Weise die Urwälder, Ströme
und Abgründe jener noch völlig unbekannten Gegend Passiren
kann, wo man nicht die geringsten Hülssmittel vorfindet.
„Welche endlos beschwerliche Reise die spanischen Natur-
forscher da gemacht haben, können unsere Leser sich vorstellen,
und die Verdienste, welche sie sich durch dieselbe um die Wissen-
schast erworben haben, können wahrlich nicht hoch genug gewür-
digt werden.
„Nach unglaublichen Strapatzen langten sie endlich an den
Qneilen des Napo (eines großen Nebenflusses des Ama-
zonenstromes) an und schifften sich cutf demselben aus kleinen
Canoes ein, auf denen sie bis zur Mündung des Coca in den
Napo fuhren, wo eines der Canoes beim Herabschiffen über
einen nicht zn umgehenden Wasserfall Schifsbrnch litt, jedoch
ohne Verlust an Menschenleben.
„An der Mündung des Coca ließen sie zwei Flöße
bauen, auf denen sie 800 Leguas auf dem Riesenstrom hinab-
schifften bis zur brasilianischen Grenzstadt Tabatinga, wo
der bis dahin Solimoes genannte Strom anfängt, Amazonas
zu heißen.
„In Tabatinga hatte die Eommission das Glück, denNatur-
forscher Agassiz zu treffen, mit dem sie bis zur Mündung des
Nebenflusses Tesfe reiste.
„Für Agassiz, der sich vorzugsweise dem Studium der Glet-
scher und Vulkane widmet nnd wahrscheinlich auf demselben
Wege nach Guayaquil gehen wird, war dieses Zusammentreffen
ganz besonders wichtig und interessant.
„Agassiz und sein Begleiter Continho erwiesen der Com-
Mission alle möglichen Dienste und Freundlichkeiten und tausch-
teu mit derselben die gegenseitig gemachten Erfahrungen ans.
„Den Rest der Reise nach Para machten die Spanier auf
einem brasilianischen Dampfboot und von dort begaben sie sich
nach Pernambuco, wo sie sich aus einem englischen Steamer
nach Europa einschifften.
„Nach einer dreijährigen Reise kehrten sie nach unsäglichen
Mühen und Gefahren, die sie glücklich bestanden, aber auch
mit wahren Schätzen des Wissens beladen, nach ihrem Vater-
lande zurück.
„Die Naturwissenschaften werden dieser Eommission in
allen Zweigen viel zu danken haben und die bedeutenden
Sammlungen, die sie mit sich führt, sowie das, was sie über
die Reise veröffentlichen wird, muß viel dazu beitragen, die
Kenutniß jener reichsten und üppigsten Gegenden von Süd-
amerika zu erweitern."
Einwanderung aus Nordamerika nach Brasilien.
Wie Vieles sich doch in der Geschichte wiederholt! Als gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts Haiti von entsetzlichen Greuel-
thaten heimgesucht wurde, flüchteten die Weißen und gingen
nach Louisiana. Sie führten dort den Baumwollen- und
den Zuck er bau ein.
Heute ist eiu großer Theil der Südstaaten durch die Nord-
armem verwüstet worden, und von den Negern versteht sich nur
eine geringe Zahl zu regelmäßiger Arbeit. In Folge der un-
glücklichen Verhältnisse haben viele Leute in den Südstaaten,
welche einiges Vermögen gerettet, sich entschlossen, nach anderen
Ländern Amerika's auszuwandern. Manche sind bereits nach
Mexico gezogen, andere werden nach Brasilien gehen. Sie haben
dorthin einen Vertrauensmann, den General'Wood, voraus-
geschickt, um geeignete Oertlichkeiten zur Ansiedlung auszusuchen.
Derselbe ist vou der brasilianischen Regierung mit großer Zu-
Aus allen
vorkommenheit empfangen worden und hat seit Oktober des
vorigen Jahres mehre Provinzen besucht Speeielle Begünsti-
gungen werden den Einwanderern aus Nordamerika nicht be-
willigt, auch verlangen sie dergleichen nicht; sie sind zufrieden,
daß die Behörden ihnen freundlich an die Hand gehen.
Die brasilianische Regierung hat erklärt, daß sie den Ein-
wanderen: an den Plätzen, welche dieselben wählen „vermessene
und abgesteckte" Colonien gegen Baarzahlnng von 1 Real per
Brasse ablassen werde; bei Zahlungsaufschub von fünf Jahren
will sie fünf Procent Zinsen berechnen.
Im Ankunftshafen werden die Auswanderer untergebracht
und verpflegt werden; sie sollen dieselben Zivilrechte aller Bür-
ger habeu und auf Grund des Landesgesetzes (Lei das terras)
naturalisirt werden. Als Nationalgardisten werden sie nur zum
Dienste innerhalb ihres Municipiums verpflichtet sein. Diese
Bedingungen sind also ganz dieselben, welche die Regierung
jedem Einwanderer stellt und enthalten keine besonderen Ver-
günstigungen. —
Bezüglich der Land ereien, welche die Regierung dem
Einwanderer zur Auswahl anbietet, finden wir Folgendes: In
den Provinzen S. Pedro, Santa Eatharina, Parana, S. Paulo
und Efpirito Santo eristiren öffentliche Ländereien, die bereits
bezeichnet und vermessen siud und in der Nähe von mehr oder
weniger blühenden Colonien liegen.
Heber die Provinz S. Pedro do Rio Grande do Snl
sagt der Minister nichts weiter, weil die Vortheile, welche die
Colonien in derselben dem Einwanderer bieten, genügend aner-
kannt sind.
In Santa Catharina eristiren verschiedene Landstrecken:
Zwischen den Colonien Dona Franciska nnd Blumenau an den
Flüssen Itajahy Grande, Itajahy Peqneno, Jtapocu und
S. Francisko; im Süden der Colonie Itajahy am Itajahv im
Thale Tijucas Grandes, von wo eine Straße nach Lages führt,
(4 Meilen vermessenes Land); im Muuieipium von Lagnna,
am Flusse Tubaron, bis zur Grenze von Rio Grande, so daß
eine Verbindung mit den Colonien Torres und Tres Forquilhas
leicht möglich sein würde. Der Markt für die Colonien dieser
Gegend würde Laguna sein).
Santa Catharina wird den Einwanderern in
seiner Eigenschaft als Küstenstrich ganz besonders
empfohlen.
Für die Provinz Parana werden folgende Orte bezeichnet:
Der Distrikt von Assungny, der fast ganz vermessen ist und wo
schon einzelne Colonien'bestehen; ferner eine große Länderstrecke
in der Richtung von Cananea und Jguape, die auf einer Seite
mit Cnritiba, auf der andern mit Antonina und Paranagna,
sowie mit dem Dorfe Castro in Verbindung steht; zwischen
Coritiba und der Terra do Mar eristiren ebenfalls vorzügliche
Ländereien, die sich an die Straße lehnen, welche von Parana
nach der Colonie S. Franziska in Santa Catharina führen wird.
In S. Paulo werden zuerst die „devolnteu Ländereien"
in den Munizipien von Cananea und Jguape bezeichnet, die
schon vermessen und in Colonien eingetheilt sind, während dort
bereits die blühende Colonie Cananea besteht. Auf den Seiten
dieser Länderstrecke nach^NO. und NW. erstrecken sich äußerst
fruchtbare öffentliche Ländereien an den Flüssen Ribeira, Jguape,
Japuea und S. Lonrenyo.
Die Provinz Efpirito Santo endlich besitzt eine große
Ausdehnung öffentlicher Ländereien in der Nähe der Küste^ die
von schiffbaren Flüssen durchschnitten sind und in deren Hasen-
Plätzen die Rio-Dampfer anlaufe».
Im Municipium von Jtapemirim, wo die Colonie Rio
Novo liegt, gibt es bereits vermessene und in Colonien ver-
theilte Länderstrecken (4 Quadratleguas), denen noch die Län-
dereien nn Norden des Flusses Benevento im Munizipium
Guarapary. am schiffbaren Flusse desselben Namens, annektirt
werden können.
Zwischen den Colonien Rio Novo im S. und Santa Isabel
im N., in der Richtung nach Minas (NW.) liegen 15 Legnas
guter Ländereien, die hauptsächlich zum Anbau von Kaffee
und Baumwolle taugen.
Im Norden der Provinz, in der Richtung der Colonie
S. Leopoldina, an der Straße Santa Thoresa, erstrecken sich bis
nach den Grenzen von Minas die Ländereien der projektirten
Colonie Guandn, die auch empfohlen werden, nm so mehr,
als der Rio Doce' dort schiffbar ist und sich noch sehr
bedeutende „Terras devolutas" auf seinen beiden Ufern befinden.
Der Rio Doee niit seinem mächtigen Ländereien-Compler
wird ganz besonders empfohlen und verdient es auch.
Äußer den sehr gelobten Strecken am Rio Doee, von denen
die Sesmarias Francilvania, Rio Doce und Limon bereits
Erdtheilen. 383
vermessen sind, werden noch andere Ländereien im Municipium
Santa Cruz am Flusse gleichen Namens empfohlen, sowie
auch andere im Municipium San Mathens an der Grenze von
Bahia.
Endlich wird noch das Mucurythal sowohl iu Bahia,
wie in Minas in Betracht gezogen und als für den Anbau
von Baumwolle ganz außerordentlich geeignet geschildert.
Dieses sind also die Ländereien, welche die Regierung der nord-
amerikanischen Einwanderung zur Auswahl überläßt und man
muß zugestehen, daß dieselben reichlich und in bester Auswahl
vorhanden siud.
Die Regierung, in einer richtigen Erkenntniß der Verhält-
nisse, hat die amerikanische Einwanderung auf Santa Catha-
rina, Parana, S. Paulo imd Efpirito Santo beschränkt,
wobei sie jedoch diese letztere Provinz nnd hauptsächlich den Rio
Doce besonders hervorhebt und betont.
Vom Norden des Kaiserreiches sieht sie aus politischen Rück-
sichten ganz ab, läßt aber die devoluten Ländereien am Ama-
zonas, Tocantins und Aragnaya vermessen, um sie nach Be-
endigung des Krieges au die Freiwilligen zu vertheilen, die ein
Anrecht daraus haben.
Der Transitweg durch Nicaragua wird völlig in Abgang
kommen, nachdem der ohnehin stets seichte und schlechte Hafen
von San Juan de Nicaragua (Greytown) uun gänzlich versandet
ist. Als im Dezember 1865 ein Dampfer mit etwa 600 Fahr-
gästen dort ankam, mußte er eine halbe Stunde weit von der
Küste vor Anker gehen und die Leute wurden mit Lebensgefahr
in Booten ans Land gesetzt, wo sie kaum ein Unterkommen
fanden.
Die Weizenausfuhr aus Buenos Ayres hat begonnen
zum ersten Male, so lange die Colonien am La Plata bestehen.
Jetzt gewinnt dort neben derViehzncht der Ackerbau eine immer
größere Ausdehnung. In Buenos Ayres war ein Schafzüchter
aus Neuseeland angekommen, um sich in der La Platagegend
niederzulassen. Auch aus Nordamerika waren viele yankeemüde
Einwanderer eingetroffen.
Ueber die walliser Colonie in Patagonien, von der wir
früher im „Globus" Meldung gethan, lesen wir ans Buenos
Ayres vom 14. Dezember günstige Nachrichten. Die Ansiedler
befinden sich am Flusse Chupat sehr wohl und habeu bis jetzt
alle Schwierigkeiten mnthig überwunden. Sie bauen auf dem
fetten Boden Weizen und anderes Getreide, und die Wiesen
geben dem Rindvieh wie den Schasen reichliche Nahrung.
New Bay ist ein prächtiges Wasserbecken mit einem sichern,
geräumigen Hasen. Die Walliser sind fleißige, ausdauernde
Menschen.
Haifische im Kanal. Die unwillkommenen Gäste, die „Tiger
des Meeres" habeu sich seit dem Dezember 1865 in ungewöhn-
lich großer Menge in der sogenannten Spanischen See, d. h.
dem Busen von Biscaya blicken lassen. Sie sind auch weiter
nach Norden hin an der Westküste Frankreichs und sogar im
Kanal erschienen. In der Mitte des Januars traf eiu Kapitän
bei den Sorlingischen Inseln ganze Schwärine nnd fing binnen
wenigen Stunden vier Stück. ' Im vorigen Herbst hatten diese
gefräßigen Fische die PilchardfisHerei gestört und die Tümmler
verjagt! Das „Journal du Havre" sucht die Leute an den
Küsten des Kanals durch die Bemerkung zu beruhigen, daß der
Haifisch nur in den wärmeren Meeresregionen so äußerst gefräßig
sei, in kälteren aber „vergleichsweise harmlos". Man könne den
Grad der Wildheit und Gefräßigkeit nach den Breiten bestimmen.
Vom Senegal und den Bissagosinseln bis zum Nigerdelta sei er
allerdings sehr zu fürchten, aber in den kühleren Waffern West-
indiens und der Nordküste von Südamerika verliere er schon
viel von seiner Gefräßigkeit. (Das „Journ. du Havre" irrt:
gerade vor der Tierra firme und im Caraibischen Meere hat das
Meer eiue mindestens eben so hohe Temperatur wie au der
Westküste von Afrika). Der Haifisch habe auch seine Eigen-
thümlichkeiten, so zn sagen seine Grillen. Es sei z. B. den
Seeleuten wohl bekannt, daß sie bei St. Pierre auf Martinique
ohne alle Gefahr in der See baden könnten, obwohl dort viele
Haifische wären, während auf der nur fünf Seemeilen entfernten
Rhede 'vom Fort de France das Baden für Jedermann lebens-
gefährlich sei. Namentlich dürfe j kein Neger sich zwanzig
Schritte weit vom Ufer ins Wasser wagen, weil die Haisische
384
Aus allen Erdtheilcn.
vorzugsweise auf dunkelfarbige Menschen Jagd machen. — Es
sei nicht anzunehmen, daß der Tiger des Oeeans sich dauernd
bei uns „Hyperboräern" einbürgern und das Baden in den
Seeplätzen gefährlich machen werde.
st. Wanderlust der Großrussen. ° Das russische Reich
erstreckt sich durch eine größere Verschiedenheit von Klimaten
als irgend ein anderer europäischer Staat und ist dabei ebenso
ausgezeichnet durch physische Einförmigkeit, als die germanische
Mitte und der romanische Süden durch Mannigfaltigkeit der
Bodenformen und des Naturlebens. Dieser Eintönigkeit des
Landes entspricht die Einförmigkeit des Volkes hinsichtlich seiner
politischen, kirchlichen, Abstämmlings- und sonstigen Verhält-
nisse. Charakteristisch ist der Mangel jeder bedeutenden Ge-
birgsscheide, welche jetzt der Einheit des Staates anßerordent-
lieh günstig, im Mittelalter aber den Verheernngszügen der von
Osten eindringenden Nomadenvölker sehr forderlich 'gewesen ist.
Es steckt auch noch heutzutage in manchen Slaven eine gewisse
Vorliebe zum Nomadenleben, was unter andern: schon die
Neigung zum Fuhrwesen kund thut. So ergreifen z. B. die
Großrussen außer der Krämern am liebsten den Stand der
Fuhrleute. Das veränderliche Leben sagt ihnen ganz besonders
zu, ja so stark ist der Wandertrieb, daß es oft im ganzen Gon-
vernement nur wenige Männer geben soll, die nicht wenigstens
ein Mal in Moskau, der alten heiligen Stadt, gewesen sind.
Die russischen Messen, zumal die berühmte Messe von Nischni-
Nowgorod, werdeu von so ungeheueren Menschenmassen besucht,
daß man ihre Zahl schon auf mehr als eine Million anschlug.
In Folge seiner beständigen Wanderungen will man bei dem
Großrussen sogar eine verhältnißmäßig stärkere Entwicklung der
unteren Extremitäten bemerkt haben, während umgekehrt der Ger-
mane in Brust und Arm den Hauptsitz seiner Kraft hat.
Charakter des italienischen Brigandaccio. Aus allen
Zeitungen ist bekannt, daß die neapolitanischen Straßenräuber
einen jungen Engländer, Namens Moens, länger als ein Viertel-
jähr in Gefangenschaft hielten, bis endlich das hohe Lösegeld
bezahlt war. Derselbe hat nun ein Bnch über seine Erlebnisse
geschrieben, das viel Interessantes enthält; Moens kennt seinen
Gegenstand gründlich. Ihm zufolge hat der Brigandaccio den
politischen Charakter längst verloren. Die Räuber sagten ihm,
wenn sie den König Victor Emanuel fangen könnten, so würden
sie zwei Millionen Ducati für ihn verlangen und ihn dann
doch todtmacheu; dagegen würden sie Franz dem Zweiten ein
gutes Mittagsbrot vorsetzen und ihn dann laufen lassen. Alles
ist nur auf Raub abgesehen. Das Leben dieser Räuber ist voll
von Beschwerden nnd Gefahren und obendrein kommt ihnen
selbst nicht viel vom Raube zu gute. Der größte Theil ihres
„Erwerbes" fließt deu Bauern zu, trotzdem alle Mauuten-
goli, d. h. Leute, welche deu Briganten irgendwelche Unter-
stützung angedeihen lassen, gesetzlich mit dem Tode bestraft wer-
den sollen. Sie liefern trotzdem den Räubern Lebensmittel
und lassen sich dieselben mit Wucherpreisen bezahlen. Die Bri-
ganten selbst sind leidenschaftliche Hazardspieler und gerathen
untereinander sehr oft in blutigen Streit. Bei ihnen gilt das
alte Wahrwort: „Wie gewonnen, so zerronnen. Die Bande
Manzos, von welcher Moens gefangen gehalten wurde, bestand
ans 30 Mann, aber das Lösegeld wurde unter nur 17 derselben
verlheilt. Soldaten können dem Unwesen nicht steuern, weil
die Briganten allemal Wind von ihrer Annäherung erhalten
nnd zwar durch das Landvolk. Die Bauern halten es mit den
Räubern aus Habsucht und aus Furcht. Angeber sind allemal
dem Tode verfallen, wer aber Geschäfte mit den Briganten
macht, profitirt dabei. Moens meint, es gebe nur ein Mittel,
dem Unwesen ein Ende zn machen, wenn man nämlich den
Bezirks in welchem Jemand von den Räubern gefangeil worden
sei, für die Zahlung des Lösegeldes verantwortlich mache.
Uebrigens liegt die Raublust iu althergebrachten Sitten.
Zur Statistik der französischen Colonien.
Wir haben die amtlichen Ziffern für ü86L bis 1863 vor
uns liegen. Am 3l. Dezember dieses Jahres belies sich, von
Algerien und Nencaledonien abgesehen, die Gesammtzahl der
Bevölkerung in den acht Colonien auf 881,948 Seelen. Der
Zuwachs gegen das Vorjahr betrug 26,384 Köpfe; er hatte aber
seinen Grund nicht etwa in der Einwanderung oder in einem
Ueberschnsse der Geburten gegenüber den Sterbefällen, sondern
war eine Folge der Besitznahme einiger Landschaften in Sene-
gambien. Wir wollen hier gleich bemerken, daß im Spätjahr
1865 die französischen Antillen großen Menschenverlust erlitten
haben durch eine der Cholera ähnliche Seuche, welche ans Gua-
deloupe je den fünften Menschen hinweggerafft haben soll. In
den Ziffern für Guadeloupe, Martinique :c. sind weder die
Beamten und Soldaten, noch die „Immigranten" inbegriffen;
die letzteren zählten auf Guadeloupe 12,812 und anf Martinique
15,576 Köpfe.
Seelen Handclsbewegung
Martinique . . . 135,353 . . 50,669.924 Frcs.
Guadeloupe etc. . 138,830 . . 44,664,266 „
Guyana .... 18,507 . . 8,787,057 „
RÄIlion . . . 197,265 . . 91,071,069 „
Senegal . . . 137,666 . . 17,540,321 ,,
Goröe .... — . . 15,603,369 „
Ostindien . . . 229,057 . . 27,376,646
Mayotte:c. . . 22,570 . . — „
St. Pierre sc. . 2,700 . . 9,206,116 „
Die 2012 Einwohner vou Gores sind beim Senegal mit
eingerechnet und bei Renniou die 74,270 „Immigranten", in-
dischen Arbeiter, denen die Insel den günstigen Stand ihrer Plan-
tagen verdankt.
Während die Zahl der Gebnrten sich auf 22,737 stellte,
betrug jene der Todesfälle 25,190. Die Besitzung am Gabou
kann eigentlich nur als eine Faktorei bezeichnet' werden. Der
amtliche Bericht hebt hervor, daß dort die Eingebornen (die
den Lesern des „Globus" wohlbekannten Pongue) in Schrecken
erregender Weise sich vermindern und hinwegsterben, zumeist
iu Folge des Branlweingennsses nnd des Abortirens. Neu-
ealedonieu im Stillen Weltmeere scheint stationär zu blei-
bcu; es hatte im ersten Halbjahr 1863 einen Zuwachs von
nur 14 Köpfen erhalten, und es befanden sich anf der großen
Insel damals überhaupt nur 434 „Franeo-Caledonier".
Die europäische Bevölkerung in Pondichery und den anderen
indischen Besitz uug eu stellte sich auf 1463 Köpfe, und jene
der Mischlinge betrug 1636. In St. Louis am Senegal lebten
325 Europäer, die Soldaten abgerechnet.
Baumwolleneinfuhr in Großbritannien. Es ist von
wesentlichem Interesse, zu sehen, wie sich in Folge des Bürger-
krieges in Nordamerika die Baumwolleneinfuhr ans anderen
Erz'engnngsländern gesteigert hat. Sie betrug 1861: 3/153,000,
1862:' 1,333,000, 1863: 1,729,000, 1864:' 2,242,000, 1865:
2,414,000 Ballen, jeden zu 400 Pfund gerechnet; das ist der
Durchschnitt. Für 1866 veranschlagt man die Einfuhr anf
2,660,000 Ballen.-
Für die nachstehenden drei Jahre stellen sich respeetive sol-
gende Ziffern heraus:
1864
198,000
212 000
257,000
62,000
60,000
1,399,000
399,000
Nordamerika
Brasilien
Aegypten
Türkei . .
Westindien:c.
Ostindien .
China . .
1865
462.000
310,000
331,000
80,000
131,000
1,266,000
142,000
1866
800,000
440,000
250,000
60.000
150,000
1.300.000
2,587,000 2,752,000 3,000,000
Redneirt man diese auf Durchschniltsballeu vou 400Pfund
Gewicht, so ergeben sich die oben angegebenen Ziffern.
Herr von der Decken in Ostafrika ermordet. Eben, da
wir unsere Nummer schließen, lesen wir, daß der mnthige Rei-
sende der Barbarei der Wilden znm Opfer gefallen ist.
Die zu Hannover erscheinende „Zeitung für Norddeutsch-
land" theilt aus einem Schreiben des Tischlers Brinkmann
ans Zellerfeld, welcher an der Expedition Theil genommen,
Folgendes mit:
„Von der Ausrüstung ist Alles verloren; was nicht ins
Wasser geworfen wurde, ist von den Negern geranbt. Baron
von der Decken ist nebst dem £>r. Link auf Befehl
eiues Somali-Sultans in Berdera niedergestochen
worden. Nachdem ihnen die Hände anf dem Rücken gebun-
den und sie in Berdera zur Schau umhergeführt waren, wurden
sie an den Jnbafluß getrieben nnd hie/ der Mord zuerst am
Baron, dann am Dr. Link vollzogen. Die Leichen wurden in
den Fluß geworfen. Die Expedition soll mit diesem Sultan
längere Zeit sehr besreimdet gewesen sein. Der Rest der Erpe-
dition, bestehend ans Capitän V. Schlick, Degge aus Göttingen,
Bremer ans Merseburg, Thies aus Oldenburg und Tischler-
Brinkmann aus Zellerfeld, werden mit dem Hamburger Schiffe
„Canton" im Monat April nach Europa zurückkehren."
Herausgegeben von Karl Andree in Bremen. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghansen.
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