Humboldf-Unlversifäf 2U R^rr
PhiJosop!- i.-ct:o r-'f",'"1
itui fui» Vc; ., "::,d'tät
Berlin N 4, Chair— ' °o
' aße iiq
Jnhaltsvcrzeichniß.
Euro p a.
Scite
Deutschland, Oesterreich, Schweiz.
Rübenzucker im deutschen Zollverein . 64
Der Maibaum iu Ostfriesland. Von
Herm. Meier.......75
Gibt es Pfahlbauten in Mecklenburg? 224
Schulbildung in Mecklenburg . . 224
Ein neues Steinsalzlager in Schönebeck 256
Die Halbinsel Hela. Von Fr. D en t-
ler..........91
Die Kämpen zwischen Nogat und
Weichsel. Vou Fr. D e n t l e r . '172
Die Sagen vom Nachtjäger in Schle-
sieu. ' Vou Dr. N. Drescher. I.
II.... ...... 240 267
Eiu Bernsteinfund bei Namslau iu
Schlesien; der alte Berusteinhaudel
und die Broneeperiode .... 351
Areal und Bevölkerung von Preußen
uach dem Frieden von 1866 . . 384
Das Posener Land jetzt und früher.
Vou Edwart Kattner.
1) Die Schlachzitzen und Bedieuteu 182
2) Die Städte.......183
3) Polen it. Deutschenach der Zahl 210
4) Polen n. Deutsche uach Gewicht
und Bedeutung.....211
5) Die Juden früher .... 249
6) Die Jude» jetzt.....250
7) Barbarei und Kultur . . . 272
8) Die Landwirthschast .... 310
9) Bereits vollzogene Germanist-
rung der Poleu.....331
Die Urwälder in Böhmen.... 319
Stadt Steyer. Studie von Dr. Friedr.
Brinkmann. I. II. Iii. IV.
217 244 303 348
Eine gefährliche Wanderung in den
tyroler Alpen. Von Dr. A. von
Ruthner . . . -.....371
Sitten und Gebräuche der Szetler . 192
Mineralwässer iu Siebenbürgen. . 224
Scite
Gold in Siebenbürgen. Vou W.
Hausmann . .....256
Tie Rutheneu in Ostgalizien . . 383
Die Pfahlbauten bei Robenhansen. 128
Großbritannien und Irland.
Die Einfuhr von Getreide und Hülfen-
früchten.........32
Die Ausfuhreu 1865 ..... 95
Weineinfuhr........ 95
Eiereinfuhr in England .... 288
Obdachlose Menschen inLondou. SItt-
licher Zustand Englands ... 64
Schissfahrtsbewegnng von Großbri-
tannieu . ........383
Ucberreste aus vorgeschichtlicher Zeit
in Schottland ....... 160
Brochs und Piktenhänser auf Orkney 352
Pike's Vortrag über die psychischen
Eharaklereigenthümlichkeiten des
englischen Volks......383
Frankreich und Spanien.
Besteuerung des Weins in Paris . 95
Die Schleichhändler in Andalusien.
(Mit2Jllüstrationennach G.Dore) 17
Von Cadiz über Ierez und Areos de
la Frontera nach Sevilla. (Mit
6 Illustrationen nach G. Dore) . 129
Sevilla, die Königin von Andalusien.
(Mit2 Illustrationen nach G.Dore) 225
Aus der Serrania de Remda in An-
dalusien. (Mit 2 Illustrationen
nach G. Dore).......275
Italien, Türkei und Griechenland.
Die Gibellinenstadt Siena, ihre Denk-
mäler u. geschichtlichen Erinneren-
Seite
gen. (Mit 9 Illustrationen). I.
il..........1 51
Zur Statistik des Königreichs Italien 95
Die Kriegsmarine des Königreichs
Italien'....... ....256
Die Bevölkerung der Stadt Rom . 352
Fossile Menschenknochen auch in
Mittelitalien aufgefunden . . . 320
Das Eisenbahnnetz in Italien . . 384
Der Hasen von Brindisi .... 384
Eine Fahrt nach Belgrad in Serbkit.
Von Will). Gottschild . . . 122
Streifzüge durch die Herzegowina nach
Montenegro. Von A. Leist . . 335
Das deutsche Element in der Wala-
chei. Von W. Hansmann. . 375
Der unterseeische Vulkan bei der Insel
Santorino........29
Rußland.
Die Gründe und Veranlassungen zur
Auswanderung derTscherkessen aus
dem Kaukasus ....... 28
Die Knrgane in den südrnssischen
Steppen......... 64
Zn den russischen Ostsceproviuzen. Von
Mentel nach Riga nndDorpat. Von
Mar Rosen. (Mit 14 Jllnstr.
nach d'Henriet.) 1^ Ii. . . 77 106
Allerlei Aberglauben bei verschiedenen
Völkern im russischen Reiche. Von
E. von Gerstenberg . . . . 203
Geographische Expeditionen in Ruß-
land ..........319
Sind die Großrussen („Moskowiter")
slavischer oder sinnischer Abstam-
ntnng?.........315
Die Bevölkerung des Königreichs
Polen . ....... . 384
Asien.
Vorderasien.
'u ')en osmanischen Orient.
Mesopotamien und Bagdad, i^ Ii.
111 ■ 1V..... 46 110 299
^rmv+U/ ^(fCCriU in Mesopotamien.
(Mit 1 Jllustr. nach Flandin.) .
Eine Wanderung im vordern Klein--
332
279
asieit; von Nieäa nach Ephesns.
(Mit 6 Illustrationen nach A. von
Monstier)........257
Die Mckkapilgersahrt 1866 . . . 379
Indien.
Die Dolmen (Hünengräber) im süd-
liehen Ostindien ..... 9
Abermals, bisher unbekannte, Dolmen
in Indien entdeckt .....
Das Volk der Chonds im ostindischen
Orissa. (Mit 1 Jllustr. nach Mae-
pherson) .........
Kohlenreichihnm in Ostindien . .
Der „Gänsemarsch" im alten Indien
Bewegung gegen Polygamie in Indien
189
13
31
189
159
VI
Seite
Calcutta's Bevölkerung.....286
Die Menagerie eines indischen Fürsten 318
Schulen in 'Indien......351
Schifffahrt auf den: Jrawaddy . . 286
Der höchste Berg im britischen Birma .127
Der Nordrand' von Berma uud der
ueue Handelsweg nach dem Innern
von China. Von Emil Schla-
gintweit........118
Erzählungen und Fabeln aus Hinter-
indieu/ Von A. Bastian . . 182
Eiu siamesisches Märchen. Von A.
Bastian........151
China und Japan (Ostasien).
Die Völker des östlichen Asiens. Von
A. Bastian.......30
Seite
Aus dem Haus- uud Volksleben in
China. (Mit 10Illustrationen nach
Bonrboulou.) I. II. . 33 144
Das böse Klima in Hongkong . . 93
Seeraub. Nebellion. Chinesische Klas-
siker..........126
Begrüßung eines Europäers in China 222
Die mohammedanischen Rebellen und
die Tung - kia - tse im westlichen
China '.........252
Aus einer chinesischen Geographie . 297
Die Verwirrung in China . . . 379
Thee- und Seidenbau in Japan . 63
Antiquitäten- und Raritätensammler
in Japan........103
Die Japaner dürfen ms Auslaud reifen 286
Fortschritte in Japau.....317
Duldsamkeit der Japanesen . . . 318
Seite
Mittelasien. Sibirien.
Die Verwirruug in Afghanistan. . 31
Die angeblichen Quellen des Orus. 93
Theatralisches aus Tibet. Von Emil
Schlagintweit......176
Die Zerstörung der Mission Bonga
in Tibet und Vertreibung der Mis-
sionäre .........316
Die Stadt Harkend in Turkestan . 254
Die Mohammedauer in Tnrkestan . 317
Der sibirisch - amerikanische Telegraph 127
Ein wohlerhaltenes Mammuth im
arktischen Sibirien.....160
Das Gebiet der Jakuten in Sibirien 256
Die Goldgruben im Ural.... 286
Petroleum in Russisch-Asien. . . 286
Afrika.
Bemerkungen über die Zukunft Al-
geriens. Von Gerh. Rohlss .
Das Problem in Algerien. . . .
Nähm Nachrichten über Baron vou
der D eckeu 's Ermordung in Ber-
dera........ . .
Nähere Nachrichten über den Ausgaug
der Erpedition vou der Deckens
Brenners Mittheilnngen über den
Ausgang der Expedition von der
Deckens........
Robert Harlmanus Skizzen der Nil-
länder..........138
Aus Samuel W. Bakers Reife in
die Region der Nilquellen. I. n.
III.. '...... 305 340 366
Eis im ägyptischen Sudau . . . 318
Humanität der alten Aegypter . . 318
Weiße Leute als Gefangene unter den
Somali in Ostafrika.....158
157
Die europäischenGesaugeueu inAbys-
sinien vom König Theodor freige-
lassen ..........159
Die Zustände in Abyssinien . . . 372
Du Chaillu's westafrikanische Pyg-
mäen .........62
Die Cameronesgebirge in Westafrika 93
Mage's und Quiutins Reise vom
Senegal nach Timbuktu . . . 89
Nachrichten über die Reisenden Mage
und Quintin.......254
Quintin und Mage vom obern Niger
zurückgekehrt.......285
Neue Erwerbuugeu Frankreichs in
Senegambieu . ......189
Zustände im Nigerdelta:
Mission zu Bonny. Schädelhäuser.
Eidechsen - Verehrung. Anthropo-
phagie. Unruhen......285
Ein Besuch beim Könige vonDahome.
(Mit 15 Jllnstr. nach Repin).
I. II........ 289 321
Preise der Negersklaven in Juuer-
asrika..........379
Ans Livingstone's südafrikanischen
Reisen. (Mit 8 Jllustr.) I. II. 65 97
Aus Livingstone's Reisen am
Sambesi, auf dem Nyafsasee u. dem
Rofumastroine. (M it 17 Jllustr.)
I. II........161 193
Aus der Capcolouie.... 126 188
Ein Wirthshansschild in der Eap-
colonie.........222
Der Freistaat der holländischen Bauer»
am Oraujefluß in Südafrika . . 188
Der Krieg zwischen den holländischen
Bauern und den Basutos . . . 285
Ans dem Nomansland in Südafrika 188
Ein Steinzeitalter in Südafrika. . 350
Ein madagassischer Kalender . . . 254
A m c r i k a<
Nordamerika.
Aus nordamerikanischen Zeitungen:
Hohe Steuern. Straßen - Eisen-
bahnen Neuyorks. Unglücksfälle auf
Eisenbahnen. Die Mormonen. Die
Nationalschuld, die Schulden vou
Neuyork. Kriegs - Ausgaben der
Staaten Massachusetts u. Maiue.
Auswanderung vou Deutscheu und
Schweizern aus Ohio nach Louisiaua
und Mississippi. Dampfschifffahrt.
Die Kriegsgefangenen ic. Die
Münzstätten Amerika's: Philadel-
phia, Neuorleans, Charlotte, Dahlo-
nega, San Francisco, Denver City 32
Leben und Treiben im Cougrefse zu
Washington........86
Nordamerikanische Finanzen . . . 127
Nordamerikanische Temperanzgesetze. 159
Im Kapitolium zu Washington. . 159
Aus Nordamerika: Steinkohlen in
Illinois. Schwimm - Vorstellung
einer „Lady". Langer Winter. Neue
Stylproben aus politischeu Reden.
Apotheker-Gesetz inMassachusetts 189
Interessante Naturerscheinungen in
Amerika.........190
Eilte Bande von Ungeheuern. . . 190
Die Schuldenlast in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika. . . 222
Enthüllungen über die Schutzanstalten
für die Neger in Nordamerika . 238
Zur Statistik der Unglücksfälle uud
Geldverluste in Nordamerika . . 255
Eiu fossiler Menscheuschädel in Eali-
formen.........350
Die amerikanische Völkerwanderung 379
Steinkohlen in Neuschottland. . . 31
Von: nördlichen Red - River im briti-
schen Nordamerika: Büffeljagd . 31
Handelsverkehr über die uordamerika-
" nischeu Prairien......63
Amerikanische Archäologie .... 63
Von der Hauptstadt der Mormonen
nach Virginia City in Montana. 207
Wettlauf eines Indianers iu Nebraska
auf Tod und Leben.....255
Petroleum im britischen Nordamerika 286
Kanalprojekte zur Verbindung des St.
Loreuzo - Stromes mit dem Missis-
sippi..........286
Die Silberbergwerke in Nevada. . 287
Begräbniß einer indianischen Jung-
srau iu Dacotah.....'. 287
Die Sprache der grönländischen
Eskimo....... . . 378
Bevölkeruugszuuahme der Prinz Ed-
wards- Insel.......63
Der sibirisch - amerikanische Telegraph 127
G. E. R a v e n st e i n s Karte der Ver-
einigte» Staateu, Canada, Mexiko,
Mittelamerika und Westindien . 27
Zustände in Mexiko......190
Westindien.
Die Stadt Kingston auf Jamaica:
Rückgang und allgemeiner Verfall 30
Ein Ausflug iu die Gebirge Jamaica's 60
Der große Brau d zu Port au Prince
auf Haiti........188
VII
Seite
Südamerika.
Eine Wanderung mit Mukees im
Goldlande von Peru. Von A.
Basti «11. I.II.....21 43
Die Aymara-Judiauer in Südamerika 32
Notizen aus Brasilien: Schiffahrt.
Ausfuhr. Erforschung des Fluß-
systems der Provinz Minas. ^ Schul-
wesen der deutschen Colonien. . 94
Der Morderverein der Eapoeiros in
Brasilien. ........ 127
Johann Jakob von Tschudi's Reisen
durch Südamerika ..... 173
Die Provinz St. Katharina in Bra-
silien ..........190
Die wissenschaftliche Erforschung des
Seite
Amazoneustromgebietes von Silva
Continho. Von Karl von K o -
seritz . . . . . . . . . 191
Der nordamerikanische Reisende St.
John iu Brasilien.....191
Die Colonie Cananea in. der Brasilia-
nischen Provinz San Paulo . . 223
Einwohnerzahl Brasiliens .... 223
Export der brasilianischen Provinz
Eearä..........224
Landschaftsbilder an der Bay von Rio
de Janeiro. (Mit 2 Jllnstr. von
O. E. F. G r a s h o f.). . . . 235
Das deutsche Element am La Plata 255
Die brasilianische Provinz Alto - Ama-
zonas. Von Karl von Koseritz 281
Handel zwischen Brasilien uud Peru 287
Seite
Zwei „Naturwunder" an der Küste
von Ecuador...... . 312
Abnahme der Sklaverei iu Brasilien 318
Kohlen und Petroleum iu der brasi-
lianischen Provinz San Paulo . 351
Eisenbahn über die Anden . 351
Kjökken möddings in Südamerika . 377
Die „Garimpeiros" in den brasilia-
nischen Urwäldern . . . . . 389
Agassiz über die Thierwelt Süd-
'amerika's ........ 381
Agassiz und die erratischen Blöcke in
'der brasilianischen Provinz Cearä 382
Ein deutscher Kaufmann auf dem
Madeirastrome ......382
Statistische Notizen über die argen-
tinische Provinz Buenos Ayres . 382
Australien und der Große Dcean.
Mac Jntyre's Erpedition zur Auf-
suchuug Ludwig Leichhardts ge-
scheitert.........62
Der australische Forschungsreisende
Mac Jntyre gestorben .... 350
Die Aufsuchung der Spuren Leich-
Hardts .'......125 189
Edle Metalle. Victoriastrom und
Adelaidefluß. Einnahmen der Co-
lonien 1865. Ein Känguruh als
Triebkraft. Fischzucht .... 94
Getreidemangel in der Kolonie Victo-
ria. Buschklepper« in Neusüdwales.
; Dampferbau in Sydney. Oberst
Finniß. Mac Kinlay. Gold . 126
! Volkszählung. Kriminalfall. Ziuu-
lager auf der Käuguruhiufel . . 254
! Volksmenge in den australischen Eolo-
uieu..........287
Victoria. Gold in Südaustralien.
Dampferverbindung zwischen Au-
stralieu uudCentralamerika. Post-
Verbindung mit Europa . . . 350
Das Klima Australiens .... 338
i Dolmen anfTongatabu in der Südsee 379
1 Dampfschifffahrt im Stilleu Ocean 94
Das Tepi, die Umsormuug der Sprache,
auf Tahiti........74
Von den Neuen Hebriden in der Süd-
see: Menschenfresserei. Missionär
Gordon ermordet ..... 126
Neuseelands Reichthum au Miuera-
lien..........287
Neun Monate auf der Osterinsel im
Großen Oceau.......313
Eine Republik auf deu Gesellschafts-
iuselu.......... 254
Ein Besuch auf der Eilaudgrnppe der
Marianeu ........ 247
Allgemeines nn d Verschiedenes.
Alterthümer des Menschengeschlechts.
Anthropologisches und Ethnologisches.
Ein Bernsteinfund bei Namslau in
Schlesien, der alte Bernsteinhandel
und die Bronceperiode .... 351
Gibt es Pfahlbauten in Mecklenburg? 224
Die Pfahlbauten bei Robenhausen . 128
Fossile Menschenknochen auch in
Mittelitalien ausgefilnden . . . 320
Ueberreste aus vorgeschichtlicher Zeit
in Schottland ....... 160
Brochs und Piktenhäuser auf Orkney 352
Die Kurgaue iu deu südrussischeu
Steppen.........64
Die Dolmen (Hünengräber) im süd-
lichen Ostindien...... 9
Abermals, bisher unbekannte Dolmen,
in Indien entdeckt ..... 189
Ein Steinzeitalter in Südafrika . 350
Ein fossiler Menschenschädel in Eali-
sornien.........350
Kjökken möddings in Südamerika . 377
Dolmen auch auf Tongatabn in der
Südsee.........379
Entwickelnngsgänge der Nassen uud
Völker .........10
Anthropologische Beiträge von K.
Andree:
I. Die Ausrottung wilder Völker
durch die civilisirteu Leute. . 57
II. Fernere Betrachtungen über die
Ausrottung uncivilisirler Völker 141
III. Das deutsche Archiv für Anthro-
pologie........185
IV. Neber den Ursprung des Men-
schengeschlechts. Von Dr. F.
Epp.........205
Physische Seuchen uud Tanzwuth der
verschiedenen Völker ..... 264
Auf welche Weife nimmt ein Volk
die Sprache eines andern an? . 95
Die Etymologie der Ortsnamen. . 96
Heber Ausartung der englischen
Sprache.............191
Die litauische Sprachfamilie. Vou
Rudolf Rost . . . . . . . 214
Die indochinesischen oder hinterindi-
schen Sprachen. Von Rnd. Rost 269
Verschiedenes.
Die mohammedanischen Pilger-Kara-
Werne« und die epidemischen Krank-
heiten.......... 25
Zur Statistik der Wollproductiou . 32
Tod durch Unglücksfälle .... 64
Dampfschifffahrt im Stillen Ocean. 94
Der Signalcodex für die Schifffahrt
aller Nationen.......95
Die Reitlings-Anstalt für Schiff-
brüchige.........
Die Pflanze des kalten Fiebers . .
Melville Bell's System der sichtbaren
Rede..........
Beobachtungen über die Wirkung des
Haschisch. Von Gerhard R ohlfs
Die Steinkohlennoth.....
Verbreituug des Sorgho oder Zucker-
grafes .....
Praktische Wiuke für das Reisen in
tropischen Ländern. Nach F. Ja-
gor..........
Zur Statistik der Juden . . . .
Ehrengeschenk für den Hydrographen
Kapitän Maury. . . '. . .
Die italienische Auswanderung . .
Die Erhebuugen und Senkungen der
festen Erdrinde in Mittel- und
Südeuropa, Nordafrika, Central-
asien und Südamerika. Von Dr.
H. Birubaum. I. Ii. . 84
Die Erhebungen und Senkungen der
festen Erdrinde in Amerika, iu dem
Stillen, Indischen und Atlantischen
Oceane, in Südasien uud Afrika.
Von Dr. H. Birnbaum. I. II.
220
Ein Beitrag zur Kunde der Jufel-
bildungeu. Von.Dr. Ernst Boll
in Neu - Brandenburg. (Mit 3 Ab-
bilduugen.)
95
12«
128
148
160
382
288
288
318
352
84 116
233
177
VIII
N ä ch v i ch t c n 11 an Reisende n.
Seite
Agassi; (Amazonenstrom) . . 191 882
Brenner (v. d. Decken) .... 157
Brinkmann (v. d. Decken). . . . 157
Continho, Silva (Aniazonenstrom). 191
von der Decken f • > 62 92 157 158
Deppe (v. b. Decken) ..... 157
Finnifi, Oberst (Australien) . . . 126
Gordon, Missionär f (Südseeinseln) 126
Graham, Oberstlieutenant (Birma). 127
Seite
Hitzmann (v. d. Decken) .... 157
John, St. (Brasilien).....191
Kanter (v. d. Decken) .... 157
Lejean, W. (Jnnerasien) . . . . 279
Leichhardt, L. . . . '62 125 189 350
Dr. Link f 62 (v. d. Decken) . 92 157
Mac Jntyre (Leichhardt) f 62 125 350
Mac Kinlay (Australien) .... 126
Mage (Senegal) . . . 89 251 285
Seite
Di-. Murray (Leichhardt) . . 62 350
Quintin (Senegal). . . 89 254 285
Rohlfs, Gerhard (Fessan) .... 148
Schickt), v., Lieutenant (v. d. Decken)
62 92 157
Theis (v. d. Decken).....157
Trenn (v. d. Decken) ^ .... 157
Die Gibellinenstadt Siena in Mittelitalien, ihre Denkmäler und geschichtlichen
Erinnerungen.
Die Bahn von Empoli nach Siena. — Lage und Klima. — Die Costarelle. — Enge Straßen. — Die Kathedrale. — Künstler. —
Die Familie Piccolomini und ihre Bibliothek. — Siencsische Päpste. — Piazza del Campo. — Palast der Republik; Thurm des
Manaia. — Die Bruunen und die Bottim. — Palast der Tolomei. — Das Haus Gori Gandellini und der Dichter Alfieri. —
Fönte Branda. — Die heilige Katharina. — Thomas von Aquino, Ambrogio Sanscdoni und Conradin von Schwaben.
Seitdem Florenz Italiens Hauptstadt geworden, ist
das ruhige Leben einem hastigen, unruhigen Treiben
gewichen und die ganze Stadt erhält eine andere Phy-
siognomie. Die Reisenden aus den Ländern diesseit der
Alpen finden es dort nicht mehr so behaglich wie früher
und kürzen ihren Aufenthalt ab. Viele gehen nach Siena,
um dort längere Zeit zu verweilen, und finden Alles, was
langen Viadukt und durch Tunnels. Das Auge weidet
sich an verfallenen Burgen und lieblichen Thälern, in
welchen Flecken und Dörfer zerstreut liege«.
Ein englischer Arzt, welcher vom Spleen besessen war,
hat Siena in Übeln Ruf gebracht; er schilderte die Stadt
als ein wahres Fiebernest, und seitdem wagen sich Albions
Söhne nur selteu dorthin; sie fürchten die Malaria und
Fönte Gaha zu Siena.
sie wünschen: blauen Himmel, reiueLust, Kunstwerkein
überschwänglicher Fülle, freundliche Menschen und Preise,
die sich erschwingen lassen. Auch von unseren deutschen
Laudsleuteu gehen nun viele nach Siena, und es ist mit
Bestimmtheit anzunehmen, daß diese schöne Stadt bald „in
die Mode" kommen werde; ohnehin ist sie jetzt mit leichter
Mühe zu erreichen.
Auf der Bahn, die von Florenz nach Livorno führt,
zweigt bei Empoli der Schienenweg ab, welcher nach
Siena fuhrt. Er ^ht durch eiu äußerst uuebeues Gelände.
Die ^.okomotive arbeitet sich von einem Hügel über den
andern, an bewaldeten Bergabhängen hin, geht über eine
Globus X. Nr. 1.
einer Photographie.)
meinen, Siena stecke schon in den gefährlichen Maremmen
(Süuipfeu). Und doch ist sie gesund, lustig, liegt etwa
1250 Fuß über der Meeresfläche, ist sogar etwas kalt in
der Winterzeit, dagegen im Sommer recht frisch und er-
quickeud. Als Temperaturertreme hat man — 9° 9 und
+ 37° 8 6. beobachtet, die Mitteltemperatur stellt sich auf
+ 13° 8 C., die Regenmenge beträgt 757 Millimeter.
Zwei Drittel im Jahre sind die Tage heiter. Für Leibes-
Nahrung ist gut gesorgt; davon überzeugt sich jeder, wer-
den Markt auf der Piazza del Campo besucht; er siudet
dort wilde und zahme Schweine, Hühner, Hasen, welsche
Hähne, Rehe, Lämmer, Fische, Früchte aller Art und ganze
1
2 Die Gibellinenstadt S
Haufen von den delikaten Käsen, die man als delle crete
bezeichnet. Die Weine der Umgegend sind bekannt, nament-
lich der Chianti, der Moseadelle di Montaleino
und der Broglio.
Als Siena noch keine Eisenbahn hatte, fuhr man durch
die Porta Camollia in die Stadt ein; über derselben
befindet sich, in schlechtem Latein, eine Inschrift, welche
besagt, daß Siena sein Herz noch weiter öffne, als seine
Thore, und in der That ist sie sehr gastlich. Die Einwohner
sind lebhaft, liebenswürdig und haben Geist, und schon im
Mittelalter galt das Sprüchwort, daß die Sienesen sanftes
Blut besäßen. Die Schönheit der Mädchen und Frauen ist
seit Jahrhunderten berühmt.
Einst war Siena eine eigene Republik, welche in der
Geschichte Jtalieus eiue große Rolle gespielt hat. Seit
Jahrhunderten gehörte es dann staatlich zu Toseaua und
heute ist es königlich italienisch.
Die Lage ist im höchsten Grade malerisch, und man
genießt eiue prächtige Aussicht. Die Stadt wurde auf und
an Hügeln erbaut und hat eine Menge kleiner Gassen, die
manchmal sast senkrecht ins Thal absallen. Diese Costa-
relle sind mit Backsteinen gepflastert, die man senkrecht
neben einander eingerammt hat und ans denen es sich ganz
bequem geht; die übrigen Straßen haben große Stein-
Würfel oder Platten wie in Florenz. Man sieht immer
anmnthige und wechselnde Bilder vor sich, gleichviel ob man
von deu Costarelle hinabsteigt oder von unten her in den
Gärten einen Blick auf das Häuferamphitheater wirft,
welches bis zur Kathedrale oder zur Kirche des heiligen
Dominiens hinansteigt. Auch ist kein Maugel an öffeut-
licheu Spaziergängen und schönen Plätzen, aber die Straßen
sind xm Allgemeinen etwas eng und im Herbst bringt das
allerlei Uebelstände mit sich. Wenn die Landleute zur
Stadt kommen, um den Weinbergsbesitzern die mit Most
gefüllten Fässer in die Keller zu bringen, dann muß man
sich dicht au die Häuser drängen oder auf einem Flur
Schutz suchen. Der Fattore (Aufseher, Verwalter, Ge-
schästssührer) reitet vorne weg und ihm folgt ein langer
Zug zweirädriger Karren, die allefammt mit Fässern
beladen sind. Als Zugthier verwendet man weiße Ochsen,
kleines Vieh mit gewaltigen Hörnern, welche beinahe die
ganze Breite der Straße einnehmen. Es möge hier
bemerkt werden, daß in Siena zuweilen Erdstöße verspürt
werden, sie haben jedoch niemals erheblichen Schaden ange-
richtet, und die alten Baudenkmäler stehen heute da, wie
vor einem Jahrtausend.
Künstler und Kuustsreunde finden Hochgenuß bei
jedem Schritt und Tritt. Der Bahnhof liegt am Fuße
eines der kleinen Hügel, welche vom Chianti aus-
laufen und in der Richtung von Nordwest nach Südost
ziehen. Wer aus dem Wagen steigt, sieht., wie die Stadt
in Stufen oder Terrassen ansteigt. Siena liegt unter
43° 19' uördl. Br., 28° 59' östl. L. von Paris. Hügel
und Thäler drängen sich förmlich um die Stadt herum.
Nach Nordosten hin bemerkt man die weinreichen Höhen
des Chianti; die ausgezackten Spitzberge nach Norden hin
liegen schon im Modenesischen; nach Nordwesten gewahrt
man den mit Wald bestandenen Monte Maggio; die Hügel-
kette im Südwesten ist die Montagnola Senese, und im
Süden erhebt sich der Monte Amieta 1721 Meter über
die Meeresfläche; von dort kommt die bekannte sienesische
Erde, die Umbra.
Die Stadt hat drei lange Hauptstraßen, welche
auf dem Kamme dreier Hügel sich hinziehen und alle am
Fuße des Thurmes, an der Piazza del Campo, ausmünden.
Diese bildet den Centralpunkt von Siena, welches die Ge-
m in Mittelitalien je.
[teilt eines Sternes hat. In früheren Zeiten war dieselbe
dreiseitig; die gegenwärtigen Stadtmauern sind aus der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und haben eine Länge
von mehr als einer deutschen Meile. Jetzt liegen inner-
halb derselben Oelgärten und Getreidefelder, aber im
Jahre 1260 war das nicht der Fall. Damals soll die
Stadt 150,000 oder, nach anderen Schätzungen vom Jahr
1301, noch 70,000 Einwohner gehabt haben. Die Zäh-
lnng vom 31. Dezember 1861 ergab nur 21,902 Köpse;
davon konnten blos 12,534 lesen oder schreiben! In dem
zuerst angegebenen Jahre hatte Siena 38 Thore, jetzt
sind deren uoch 8 vorhanden. Von diesen liegen einige
auf deu Anhöhen, am Ende der drei langen Hauptstraßen;
so die Porta Camollia, die Porta romana und jene
des heiligen Marcus. Dagegen liegen andere, nament-
lich die Thore Ovile und Fönte Branda, in förmlichen
Schluchten. Unter diesen Thoren erscheinen mehre durch
ihre Architektur bemerkenswert^ Sie sind durch eine Art
von Vorthor, antiPorto, gedeckt, das heißt einen viereckigen
Thurm mit Zinnen, welcher vor die Mauer hinausspringt.
Für das älteste der noch vorhandenen Thore gilt die
Porta a Pispini oder S. Vieni, an dessen Außen-
fette sich ein Freseogemälde von Sodoma befindet; dasselbe
ist berühmt wegen eines Engels am Gewölbe; die Ver-
kürznngen der Figur siud eben so wahr als kühn.
Ein Italiener, vi-. Eonstantini, hat im Le Tour du
Monde, Nr. 314 und 315, die fast übergroße Menge von
Werken der Kunst, an welchen Siena so reich ist, eingehend
und mit großer Wärme beschrieben. Wir können ihm nicht
in alle Speeialitäten folgen, sondern müssen uns beguügen,
Einzelnes hervor zu heben.
Die Porta romana hat eine wundervolle Freske
vou Sano di Pietro; sie stellt die Krönung der heiligen
Jungfrau dar. Die Kathedrale bildet gleichsam die
Krone von Siena. An diesem großartigen Architekturwerke
haben viele, zum Theil berühmte Meister von 1284 bis
1537 gearbeitet. Das Gebäude selbst ist sehr alt; 1012
staud es schou auf dem heutigen Platze; gewiß ist, daß
1229 am gegenwärtigen Dome schon gearbeitet wurde;
1317 wurde derselbe vergrößert, 1339 wollte man den
südlichen Flügel verlängern, aber nach der großen Pest von
1348 wurden diese Arbeiten eingestellt und man beschränkte
sich fortan auf deu Ausbau der alteu Kathedrale, die im
äußern Bau während des 15. Jahrh. vollendet wurde.
Die Fa?ade ist um 1380 vollendet worden; wahrscheinlich
rührt die Zeichnung von Giovanni di Ceeeo her, die Orna-
mente und Statuen aber sind einer schon 1284 von Gio-
vanni diNiccolo Pisano gezeichneten älternFayade entlehnt.
Ueber der Eingangspforte prangt das Bild der Schutz-
Patronin der Stadt, der heiligen Jungfrau, auf blauem
emaillirtem Grunde und von goldenen Strahlen umgeben.
Wer diesen Dom betrachtet und eintritt in die weiten
Räume, dem drängt es sich sofort auf, daß diese Kathedrale
eine der schönsten in der Welt sei. Die Architektur ist zu-
gleich großartig und elegant, aber von den fast allznvielen
Kunstwerken fühlt man sich überwältigt. Gemälde, Sta-
tuen, Broneen, Holzbildereien und Marketerien nehmen
die Aufmerksamkeit uach zu verschiedenen Richwugeu hin
in Anspruch und lassen anfangs keinen ruhigen Gesammt-
eindruck aufkommen. Aber an und in dieser Kirche ist
Alles bis aus den Fußboden herab eiu Wunderwerk der
Kunst. Nur hier sieht man die herrlichen Marmormosaiken,
welche Cieognara neben die schönsten stellt, welche wir aus
den Zeiten der Griechen und Römer kennen. Dieses
Mosaikpflaster wurde 1369 begonnen, und man hat nach
den Zeichnungen vortrefflicher Künstler bis ins 16. Jahr-
Die Gibellinenstadt Siena in Mittelitalien
hundert hinein daran fortgearbeitet. Domenico Beecafnmi,
genannt Mecherino, vervollkommnete die alte Methode,
zeichnete zwischen 1517 bis 1547 die Cartons und leitete
die Arbeiten bei diesen Marmormosaiken, die wahre Ge-
mcilde sind. Sie liegen um den Hochaltar und unter der
Kuppel. Im oberu Theile des Schiffes steht die Kapelle
der Madonna del Voto, die vom Papst Alexander VII.,
einem gebornen Sienesen, erbaut wurde. Ganz vortrefflich
sind die Skulpturen am neuen Chor hinter dem Haupt-
altar, zu welchen Sodoma's Schwiegersohn Nieeio 1567
die Zeichnungen entworfen hat; jene zum Hauptaltar sind
ans dem Jahre 1532 von Baldassare Peruzzi, und das
broncene Tabernakel, 15 Centner schwer, ist von Lorenzo
di Pietro, welcher den Beinamen il Vecchietta führte,
gegossen worden.
Im Angesichte dieser Wunder der Kunst und in der
eigenthümlichen Beleuchtung gewinnt man eine zugleich
heitere und ruhige Stimmuug. Mau denkt nicht an Blut-
vergießen und Gemetzel, bis man zwei hohe Mastbäume
sieht, welche an die Pfeiler gelehnt sind, die als Träger der
Kuppel dastehen. Sie prangten einst aus dem Carroccio
derGuelfeu von Florenz, welchen die gibellinischenSienesen
sie in einer blutigen Schlacht abnahmen aus dem Felde von
Monte Aperti. In dieser Schlacht, 1260, sielen nicht
weniger als 15,WO Streiter. Die Sienesen hatten aus
ihrem Fahnenwagen ein Christusbild, das, wie sie wähnten,
in der Schlacht zu ihren Gunsten gekämpft habe!
Die Kanzel ist von Niceolo Pisano, einem ansgezeich-
neten Holzschnitzer, nach welchen sich in Siena eine Schule
bildete, die im Anfange des 14. Jahrhunderts mit der
florentinischen wetteiferte. Unter den verschiedenen Arbeiten
zeichnet sich ganz besonders eine.Kreuzigung aus, und die
Figuren an den Sänlenkapitälern hat man mit Recht als
„Wunder der Eleganz" bezeichnet.
Außer anderen Kunstschätzen enthält die Kathedrale
auch den Altar der Familie Pieeolomini. Er hat fünf
Statuen, welche Michel Angelo geschnitzt hat. Die Libre-
ria Piccolominea datirt aus den letzten Jahren des
15. Jahrhunderts. Den Grund zu dieser berühmten
Büchersammlung legte der Kardinal Francesco Pieeolomini
Todeschia, der später als Pills der Dritte Papst war und
tu derselben die Werke seines Oheims von mütterlicher
Seite, Pins des Zweiten, verwahren wollte, insbesondere
aber die von dem letztern gesammelten kostbaren Minia-
turen. Die beiden Broncegitter sind von Antoniolo Dr-
in anni 1497 gegossen worden, die Basreliefs von Lorenzo
Marrina; das Gemälde über der Thür stellt die Krönung
Pius des Zweiteil dar und ist von Bernardino Perugino,
genannt Pintnriechio. Von ihm rühren auch die zehn
Fresken her, welche man, auf Vasari's Versicherung hin,
lange für eiue Arbeit Raphaels gehalten hat.
Der gegenwärtige Papst Pius der Neunte hat aus dem
Bibliothekssaale die berühmte Gruppe der Grazien ent-
fernen lassen, oder vielmehr man hat sich auf sein An-
dringen dazu herbeigelassen, sie in der Gallerie der schönen
Künste aufzustellen.
Pius der Zweite, der berühmte Aeneas Sylvins Picco-
lomini, war ctncv der ausgezeichnetsten Gelehrten seiner
■seit, und sein Nesse suchte ihm nachzueifern. Aber er starb
früh. Assauia Pieeolomini war Erzbischof von Siena
Freund Galilei's. Als der verfolgte Greis die
XCltr\ ^nc1l"H^0n verlassen hatte, fand er bei jenem
gastrnhe Aufnahme lind wurde mit Freundschaft nnd Aus-
zeichnung behandelt. Der Naturforscher, den man in Rom
verfolgt hatte, konnte in Siena bei dem Prälaten ganz
seinen LlebUngsstlldlen leben.
Aus Siena stammen außer jenen beiden Päpsten aus
der Familie Pieeolomini noch sechs andere. Unter ihnen
befindet sich Gregor der Siebente, jener gewaltige, willens-
kräftige Mensch, der schon als Cardinal die Kirche regierte,
vier Päpste machte, dann die Ehelosigkeit der Geistlichen
erzwang und für den heiligen Stuhl das Recht in Anspruch
nahiii, den Kaiser zu richten nnd abzusetzen. Auch Alexander
der Dritte war ein Sienese. Gregor hatte Heinrich den
Vierten von Deutschland tief gedemüthigt, Alexander that
den Kaiser Friedrich Rothbart in den Bann nnd baute ihm
zum Hohne die Festung Alessandria. An seinen Namen
knüpft sich das Alldellken an die Schlacht von Legnano, in
welcher die italienischen Freistaaten einen großen Sieg
über das Kaiserthum erfochten und welche den berühmten
constanzer Frieden im Gefolge hatte.
Unter der Kathedrale liegt die Johanniskirche, das
Baptisterinm von Siena. Als der Bau 1301 begon-
nen wurde, war sie noch nicht unterirdisch, wie jetzt. In
ihr befinden sich die berühmten Taufbecken. Das Kunst-
werk bildet ein Sechseck und jede Seite ist mit Basreliefs
geziert; zwei derselbeu sind von Ghiberti, demselben, von
welchem jene Thüren zum Baptisterinm in Florenz her-
rühren, welche Michel Augelo für des Paradieses würdig
erklärte. Ueber dein Taufbecken erhebt sich ein kleiner
Tempel von weißem Marmor, der in sechs Nischen eben so
viele allegorische Figuren zeigt, und über den sechs Pfeilern
stehen eben fo viele Engel von Bronce, Arbeiten Dona-
tello's und des Giovanni di Tnrino. Das Ganze wird
gekrönt von einer herrlichen Statlle Johannes des Täufers.
Voiu Baptisterinm führt eine kleine malerische Gasse
zur Piazza del Campo. Beim Herabsteigen läßt man zur
Rechten den Palast des Pandolfo Petrneci, welcher den
Zunamen il Magnisico führte. Es war ihm, gleich den
Mediceern in Florenz, gelnngen, Herrscher in seiner Vater-
stadt zu werden, aber er vererbte seiue Macht nicht ans
seine Kinder. Der Palast hat eine sehr schöne Vorderseite.
Die Piazza del Campo bildet, wie wir schon oben
sagten, den eigentlichen Mittelpunkt der Stadt und erscheint
wie ein prächtiges Amphitheater, das für Schauspiele und
Schaustellungen wie geschaffen ist. Iii diesen Platz mün-
dell nicht weniger als elf Straßen. Er gleicht einem große,l
Kreisabschnitte; die Sehne wird gebildet vom Peil eiste
der Republik, welcher den untern Theil des Platzes
einnimmt, von dessen Hintergrund aus die wenigen Ge-
bände allmälig im Halbkreise sich erheben. Jener Palast,
der Thurm des Mangia, die kleine, zierliche Kapelle, welche
sich an denselben lehnt, der Palast Sansedoni mit seinen
Zinnen und seinem beschädigten Thurm, die berühmte Fönte
Gaya, — alle diese Monumente gehören gleichsam zu-
sammen und bilden ein Ganzes, das man in der That als
ganz prächtig bezeichnen kann.
Dieser Platz ist echt gnelfifch, denn alle seine schönen
Bauwerke sind nach dem Sturze der Gibellinen errichtet
worden lind alle tragen gnelfische Zinnen. Auch hat die
Regierung in dem schönen Palast erst nach der gibellinischen
Zeit ihre Sitzungen gehalten; im Ansänge des 12. Jahr-
Hunderts stand auf der Stelle, wo sich nun der Palast
erhebt, das Zollhaus, tu welchem die Abgaben von Salz
und Oel erhoben wurden. So wie wir ihn jetzt sehen,
steht er da seit dem Jahre 1309. Sein Inneres ist ein
Museum, in welchem nicrn Werke aller großen Meister der
sienesischen Schule beisammen findet, von Simone di Mar-
tino, einem Schüler Giotto's mld Freunde Petrarcas, bis
herab zu Sodoma itnb Beccasnni. Ueberall bewunderns-
würdige Gemälde. In der Kapelle sind Fresken von
Taddeo Bartoli, 1414, das Altarbild ist von Sodoma,
6 Die Gibellinenstadt.Si
die Statue des Erlösers von Giovanni Turini, die Holz-
fchnitzereien erscheinen als Meisterwerke des Domenico di
Niecolo.
Nach dem Sturze der Republik wurde der Versamm-
lungssaal des Großen Rathes in ein Theater umgewandelt,
1569; nach zwei großen Feuersbrünsten wurde dasselbe
1753 im schlechten Geschmacke der damaligen Zeit herge-
richtet. Der Stadtrath hält seine Sitzungen heute noch int
alten republikanischen Palaste in einem Saale, dessen
Wände mit Malereien der großen Meister geschniückt siud.
Der Thurm des Mangia, welcher über 300 Fuß
hoch ist, wurde iu deu Jahren 1325 bis 1345 gebaut.
Woher der Name? Der Mangia war ein Automat, das
jedesmal die Mittagsstunde anzeigte. Er war einst für
die Sienesen, was Pasquino und Mavfoi'to heute noch für
die Römer sind; man heftete allerlei beißende Spottgedichte
an feine Mauern. Als aber die Maugiafigur eines schönen
Tages die Mittagsstunde anzeigen wollte, sprang eine
Feder, das Automat stürzte aufs Pflaster und zerbrach.
Auf der Piazza del Campo finden wir auch die Foute
Gaya, das schönste Werk des Giaeomo della Quercia,
welcher sieben Jahre, von 1412 bis 1419, an demselben
arbeitete. Diese Skulpturen wurden von seinen Zeitgenossen
so hochgeachtet, daß sie den Meister fortan nur den Gia-
como della Fönte nannten, und den Brunnen selbst be-
zeichnete man als den lustigen, fröhlichen, wegen der Freude,
welche das Volk au diesem Monument hatte. So nannte
man auch in Florenz die Straße, in welcher Cimabue
wohnte, Borga Allegri, nachdem das Volk den König
Karl von Anjon in feierlichem Zuge nach der bescheidenen
Wohnung des Künstlers geleitet hatte. Er bewunderte dort
das schöne Gemälde, welches nun einen Schmuck der Kirche
Santa Maria Novella bildet. — Uebrigens befindet sich
die Fönte Gaya jetzt in einem Znstande, welcher den Sie-
nesen keine Ehre macht.
Wir erwähnten schon des Palastes der Sanse-
d oni. Diese Familie gehört zu den ältesten, zu jenen der
hohen Aristokratie, welche man als Grandi di Siena
bezeichnete. Im Jahr 1215 bewilligte man den Sansedoni
das Vorrecht, einen Thurm auf ihrem Palaste zu haben;
so, wie er jetzt dasteht, wurde er 1339 vollendet.
Die Loggia degli Ufiziali auf der andern Seite
des Platzes, an der Via di Banchi, hat durch Restaurationen
der späteren Zeiten nicht gelitten. Der Palast der Re-
publik scheiut das Muster abgegebeu zu haben, nach welchem
* man im 14. Jahrhunderte die Paläste der Edellente baute
und mehr oder weniger verzierte; selbst in bescheidenen
Privatwohnungen findet man den Typus wieder. Alle
diese Gebäude sind aus Backsteinen aufgeführt, von deren
dunkelbrauner Farbe sich der Marmor der Vorsprünge,
Fenster und kleinen Säulen anmnthig abhebt. Das zier-
lichste Bauwerk in der Stadt ist ohne Frage der Palast
der Familie Bnonsignor ans dem 14. Jahrhundert; er ist
1848 gründlich ausgebessert worden und gibt uns nun
eine deutliche Vorstellung von der Wohnung eines fiene-
fischen Edelmannes im Mittelalter. Es muß erwähnt
werden, daß ein Palast, jener der Tolomei, ganz aus
behauenen Bruchsteinen aufgeführt ist und zwar schon 1205.
Diese Familie hielt allezeit zu deu Guelseu. Als 1268
der jugendliche Hohenstanfe Conradin nach Italien kam,
schleiften die Sienesen, diese eifrigen Gibellinen, mehre
Paläste der Gegenpartei und auch einer, welcher den Tolo-
mei gehörte, wurde dem Bodeu gleich gemacht. Als dann
später die Gnelfen herrschende Partei in Toscana wurden,
hatten die Tolomei die Ehre, das Oberhaupt ihrer Partei
in Italien, Robert von Anjon, König Neapels, in ihrem
ia in Mittclitalien k.
Palaste zu bewirthen. Die Sienesen, endlich matt und
müde durch die unablässigen Bürgerzwiste, gaben Roberts
Sohn, Karl von Calabrien, im Jahre 1326 ans fünf Jahre
die Obergewalt in die Hände. Es war ein Tolomei,
Raymund, welchen Papst Jnnoeenz der Sechste 1359 zum
Seuator in Ron: ernannte. Dies ist das erste Beispiel,
daß ein Papst sich solch ein Ernennungsrecht anmaßte,
denn bisher war der Senator stets vom Volk erwählt wor-
den und die Päpste hatten nur ein Bestätigungsrecht.
Dem Palaste der Tolomei gegenüber, auf dein kleinen
Platze, welcher nach dieser Familie benannt wird, sieht man
eine Säule, auf welcher eine Wölfin steht, die ihre Jungen
fängt. Sie bildet das Wappen von Siena, und die Stadt
bildet sich etwas darauf eiu, daß sie eine römische Colo-
nie fei.
Ueberall geschichtliche Erinnerungen! In dem Hanse
Gori Gandellini, in der Straße Pantaneto, hat oft-
mals Alfieri gewohnt. Francesco Gori war sein ver-
trauter Freund, bei welchem der Dichter sich manchmal
Monate lang aufhielt und dann allemal einen Kreis geist-
reicher und liebenswürdiger Menschen um sich versammelte.
Der sanfte Charakter der Sienesen hatte viel Ansprechendes
für das düstere und wilde Temperament des Poeten, der
zu sagen pflegte, daß er in Siena ein Viertel feines Herzens
gelassen habe. Auch gefiel ihm die Reinheit der Sprache
und stets hatte er einen sienesischen Seeretär und wenigstens
einen Diener aus dieser Stadt; beide nannte er seine
„lebendigen Lexica". Im Hause seiues Freundes schrieb
er 1777 seiue beiden berühmten Bücher über die Tyrauuei
und drei Tragödien. Nach Gori's Tod hat er wohl noch
Siena besucht, aber das gastliche Haus, au welches sich für
ihn so viele schöne Erinnerungen knüpften, mochte er nie
wieder betreten.
Wir müssen nun anderer Merkwürdigkeiten erwähnen.
Siena liegt, wie gesagt, aus Anhöhen und hat keine Wasser-
quellen iu der Nähe. Es hat sich deshalb allezeit mit
großen Kosten und nicht ohne Mühe mit dem notwendigsten
Lebensbedürfuiß versorgen müssen. Zur Römerzeit wurden
Aquäduete gebaut, welche Wasser bis ins Innere der Stadt
führten, aber im Mittelalter führte man ein System durch,
welches zugleich sonderbar und großartig erscheint. Man
grnb in den porösen Tuffstein, auf welchem Siena steht,
lange Gallerien, durch welche das Regenwasser einsickert.
Diese Gänge kommen von den umliegeuden Hügeln, durch-
ziehen die Stadt nach allen Richtungen hin und bilden ein
weitverzweigtes unterirdisches Netz. Man nennt sie die
Bottini und ihr Anfang reicht ins 12. Jahrhundert hin-
auf; ihre Länge beträgt jetzt nicht weniger als 2473 Kilo-
meter. Pater della Valle erzählt, er sei einst bei Nacht in
dieselben hinabgestiegen und habe eine Strecke von 3 Mi-
glien zurückgelegt; die von Fackelschein beleuchteten Stalak-
titeu hätten einen wunderbaren und zauberhaften Anblick
dargeboten. Auch der Großherzog Cosmns der Zweite
hat dieses Wuuderwerk besucht.
Die Foute Gaya hat ihres Gleichen nicht, aber anch die
Fönte nnova an der Porta ovile ist schön. Nicht minder
die berühmte Foute Brauda, aus welche die Sieuesen
nicht wenig stolz sind; Alfieri hat sie durch ein Sonnet
verherrlicht, und wenn man das flüchtige Wesen, welches
sprüchwörtlich den Sienesen nachgesagt wird, bezeichnen
will, sagt man von einem Menschen, er habe aus der Foute
Brauda getrunken. Diese war schon 1081 vorhanden, aber
an einer andern Stelle; ans der jetzigen befindet sie sich
seit 1193. Nach ihr wird eine enge Thalschlucht benannt,
welche zwei Hügel trennt, auf denen die Kathedrale und
die alte Dominicanerkirche einander gegenüber liegen.
Die Gibellincnstadt Si
Unweit von der alten Fontäne nttd wenn man die
Costa dei Tintori hinansteigt, gewahrt man aus der linken
Seite ein kleines Oratorium mit bescheidener aber eleganter
Vorderseite. Vor der Thür desselben hat schon mancher
Pilger auf den Knien gelegen. Dort erblickte das Licht
und wohnte die heilige Catharine von Siena; hier
stand das Hans des Färbers Jakob Benin casa, der ihr
Bater war.
a in Mittelitalien :c. I
Papst, und Bologna führte die Volksregierung wieder ein.
Der heilige Vater warb Söldliuge aus der Bretagne an
und stellte sie unter den Oberbefehl des apostolischen
Legaten Robert, der Cardiual der zwölf Apostel war.
Dieser geistliche Herr zog gegen Bologna und verübte scheuß-
liche Grausamkeiten und Barbareien gegen die Rebellen,
welche das sanfte Joch des römischen Stuhles abgeschüttelt
hatten. Die Florentiner schickten Hilfstruppen nach Bo-
Die Kapelle auf der Piazza bei
Der Name dieser außerordentlichen Frau ist mit wich-
tigcn Begebenheiten des 14. Jahrhunderts verflochten. Um
1376 nahm Gregor der Elfte den päpstlichen Stuhl ein.
Die Florentiner waren gegen seinen Legaten zu Bologna,
den Cardinal von St. Angelo, höchlich erbittert, denn er
hatte mehre Städte veranlaßt, von Florenz abzufallen.
Dagegen schickten nun die Florentiner in alle dem Papst
unterworfenen Städte Fahnen mit der Inschrift Libertas!
Sofort erhoben sich fast alle, Rom eingeschlossen, gegen den
Apo. (Nach einer Photographie.)
logna und wurden dafür in den Bann gethan; der Papst
ermächtigte alle Christen, sie in die Sklaverei abzuführen
und sich ihrer liegenden und fahrenden Habe zu bemäch-
tigen. Dadurch kamen selbst in England und Frankreich
manche slorentinische Kaufleute um ihr Vermögen, und die
Genuesen und Pisaner hatten nicht übel Lust, von der Frei-
gebigkeit des Papstes Gebrauch zu machen; sie fürchteten
aber Repressalien von Seiten der Florentiner, rührten
fremdes Gut nicht an und wurden dafür auch ihrerseits in
Die Gibellinenstadt Siena in Mittelitalien :c.
den Bann gethan! Es war eben eine wunderliche Zeit, in
welcher Vorstellungen herrschten, die wir heute nicht be-
greifen.
Inmitten dieser Verwirrung tritt Katharina Benin-
casa aus ihrer bescheidenen Zelle hervor und greift ein in
die großen Interessen, welche nicht blos Italien, fondern
die ganze Christenheit bewegen. Sie wird von den Floren-
tinern nach Avignon zum Papst abgeschickt, um eine Aus-
gleichung herbeizuführen. Das gelingt ihr; sie verhindert
ein Schisma und gibt dem Papste guten Rath, welcher befolgt
wird; sie ermuntert und schilt ihn, aber die Folge ist, daß
der heilige Vater Avignon, wo die Päpste 70 Jahre lang
residirt hatten, für immer verläßt und am 17. Januar
1377 wieder in Rom einzieht.
In einem Brief aus dem Jahr 1376 schreibt sie an
Gregor den Elften: „Das Schlimme, welches die Unter-
thanen verübt haben, ist verursacht worden durch die
schlechten Hirten. Du hast den Aufstand erlebt, weil die
Hirten und Lenker Uebles tha-
ten. Die Legaten, welche du
nach Italien geschickt hast, sind
blutgierige Männer und Schin-
der der Unterthanen, die doch
ihre Nebenmenschen sind. Mich
wundert nur, daß Gott nicht
auch deu Steinen befiehlt, sich
gegen dieselben zu empören. Aus
zweierlei Gründen (so schreibt
die heilige Katharina weiter)
hat die Kirche verloren und ver-
liert noch ihre zeitlichen Güter:
des Krieges wegen und weil ihr
die Tugend fehlt." Sie schilt
den Papst, daß er die Habe der
Armen an Soldaten vergeude,
die doch Menschenfresser seien.
Soll nun der Papst die Gewalt,
welche er verloren hat, durch
Waffengewalt wieder zu erlangen
suchen?
Auf diese Frage gibt die Hei-
lige folgende Antwort: „Ach, es
hat nicht den Anschein, als wollte
Gott, daß wir so sehr an zeit-
liehen Gütern hängen und dar-
über nicht beachten, daß Seelen
verloren gehen und Gott Schimpf
erleide, denn das sind die Folgen des Krieges. Wer die
Ehre Gottes und das Wohl seiner Küchlein am Herzen hat,
wer sie aus deu Krallen des Teufels erlösen will, muß
uicht blos seine Güter, sondern auch sein leibliches Leben
dahin geben. Dn, heiliger Vater, sagst vielleicht: ich bin
in meinem Gewissen verpflichtet, Alles, was der Kirche
gehört, wieder zu erwerben. Ich gestehe zu, daß das rich-
tig sei, aber vor allen Dingen muß man lieben, was am
köstlichsten ist. Nun ist der Kirche Schatz das Blut Christi
und das ist gegeben, um die Seeleu zu erlösen; dieser
Blntschatz ist nicht für die weltliche Herrschaft gegeben
worden, sondern für das Wohl der Menschen. Nehmen
wir einen Augenblick an, Du seiest verpflichtet, den Schatz
und die Herrschaft über die Städte, welche die Kirche ver-
loren hat, wieder zu erobern und festzuhalten; — bist Du
aber uicht noch mehr verpflichtet, die Seelen wieder zu
gewinnen, welche den wahren Schatz der Kirche bilden, die
ja verarmt, wenn sie diesen einbüßt? Du mußt eher das
Gold der irdischen Dinge fahren lassen, als das Gold der
Die heilige Kath
(Nach Jacopo
geistigen. Du hast zu wählen zwischen zwei Nebeln: dem
Verlust der äußern Größe, der Herrschaft und der irdischen
Güter, welche wieder zu erobern Du Dich verpflichtet
meinst, und dem Verlust der Gimde für die Seelen und des
Gehorsams, welchen sie Deiner Herrlichkeit schuldig sind.
Du wirst aber wohl eiusehen, daß es vor Allem Deine
Pflicht sei, die Seelen wieder zu erobern. Man gewinnt
der Kirche ihre Schönheit keineswegs zurück mit dem
Messer, mit Grausamkeit, durch Krieg, sondern nur durch
deu Frieden."
So sprach die Tochter des sienesischen Färbers zum
Pontifex. Pius der Zweite hat sie 1461 für eine Heilige
erklärt; Pius der Neunte besuchte 1857 ihre Wohnung,
welche jetzt in eine Kirche umgewandelt ist. Er betete
lang und brünstig in dem Zimmer, in welchem sie ihre
Briefe schrieb. Bei dem heftigen Streite, welcher jetzt über
die weltliche Herrfchaft des Papstes entbrannt ist, hat man
in Italien oftmals wieder an die eben mitgetheilten Worte
der Heiligen erinnert. — Katha-
rina war auch als Schriftstellerin
berühmt. Ihre Briefe zeich-
nen sich durch eleganten Styl
und Reinheit der Sprache aus,
und sie nimmt eine hervor-
ragende Stelle in jenem Zeitalter
des Boeeaeio ein. Die Republik
ließ in der Mitte des 15. Jahr-
Hunderts die Behausung ihrer
„großen Mitbürgerin" in ein
Oratorium umwandeln, und diese
kleine Kirche ist mit vortrefflichen
Kunstwerken geschmückt. Urbano
da Cortoua hat das Porträt der
Heiligen in Bildhauerarbeit aus-
geführt; man sieht dasselbe über
der Thür; doch soll ein anderes
viel ähnlicher sein und dieses
theilen wir mit. Im Innern
findet man herrliche Bilder von
Sodoma, Hieronymus Paechia-
rotti, Rieeio, Fotti, Vanni, Sa-
limbeni, Sorri und Eafolani;
dieses kleine Heiligthum ist ein
wahres Kunstmuseum.
Die heilige Katharina starb
1380 in Rom, erst 33 Jahr-
alt. —
Noch einiger anderen Denkmäler müssen wir erwähnen.
Oben auf dem Hügel, an dessen Fuße die Foute Brauda
sprudelt, liegt die Kirche des heiligen Dominieus; sie
ähnelt mehr einer Burg als einem gottesdienstlichen Ge-
bäude und stand fchou 1225 da, der Thurm ist aber erst
1340 gebaut worden. Der Bau imponirt im Innern
durch feine Einfachheit; man ist dort in ruhiger und gesam-
melter Stimmung, weit mehr als in der Kathedrale, wo so
viele Kunstwerke die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.
Doch fehlt es auch hier nicht an schönen Arbeiten. In
einer der Kapellen wird der Kopf der heiligen Katharina
aufbewahrt, und dort sind die Wände mit den schönsten
Fresken geschmückt, welche Sodoma gemalt hat. Inder
Kirche ist eine Broneetasel aufgestellt; man liest aus ihr die
Namen aller sienesischen Streiter, welche 1848 vor Mantna
fielen.
In dem Kloster neben der Kirche hat der heilige Tho-
mas von Aqnino gewohnt, dieser Doetor angelicus,
der Fürst der Schulen, und dort ist auch Ambrogio
arina von Siena.
della Guercia.)
Die Dolmen (Hünengrä>
Sansedoni begraben, der in seinen Tagen für eine
Leuchte der Wissenschaften galt, 30 Jahre hindurch bald in
Paris und Kölu, bald in Rom lehrte und ein sehr heiliges
Leben führte.
Im Oktober 1268, nach der Schlacht von Tagliaeozzo,
irrte Conradin von Schwaben verkleidet in den Haide-
gegenden der Maremmen umher. Er wurde vou seinen
erbitterten Feinden gefangen genommen, sie trinmphirten,
während man in Neapel schon an das Auszimmern des
Blutgerüstes dachte, auf welchem das Haupt des edeln
Jünglings fallen sollte. Ambrogio Sansedoni wurde
durch ein so großes Unglück tief gerührt. In seiner Brust
r) im südlichen Ostindien. J
tönten noch die Jubelrufe wieder, mit welchen das Volk
den jungen König begrüßte, als dieser durch Siena ge-
kommen war. Man rief ihm Glück und Segen zu
und nun, welch ein Umschwung! Conradin war besiegt,
gefangen, von der Kirche iu den Bann gethan, und der
Henker stand für ihn bereit. Da eilte Sansedoni nach
Viterbo und flehte deu Papst an, er möge den Bann von
dem Jünglinge nehmen. Er warf sich dem obersten Pontisex
Clemens zu Füßen, er bat und weinte. Aber was er aus-
wirkte, war nur wenig. Der Papst gewährte als Gunst,
daß man Conradin die Sacramente spende, bevor ihm das
Leben genommen werde.
Die Dolmen (Hünengräber) im südlichen Dslindien.
Als wir vor einiger Zeit versuchten, die geographische
Verbreitung der Dolmen in drei Erdtheilen nachzuweisen,
erwähnten wir zugleich, daß diese noch immer räthselhaften
Denkmäler auch im südlichen Indien gefunden werden
(Globus VIII, S. 223 und 307 ff.). Damals fehlten
uns über dieselben nähere Angaben, welche uns jetzt vor-
liegen, und zwar in dem Bericht, welchen der Ingenieur
Fräser au die Regierung von Madras erstattet hat. Aus
die Monumente selbst hatte schon vor etwa zehn Jahren
Kapitän 2)nie aufmerksam gemacht, und es darf uns nicht
Wunder nehmen, daß er sie als „druidische Denkmäler"
bezeichnete. Wir wissen nun längst, daß sie nicht von den
Druiden herrühren.
Die Dolmen, welche ich gesehen habe, so bemerkt
Fräser, gleichen jenen in Irland. Drei oder mehr Steine
sind in den Boden gepflanzt und mit einem horizontal
liegenden Steine überdacht, so daß sie eine Grabkammer
bilden. Während aber die Dolmen in Großbritannien
aus rohen, unbearbeiteten Steinen bestehen und die vertikal
gestellten keine andere Bestimmung zu haben scheinen, als
den horizontal über sie hingelegten zu tragen, bestehen jene
im Bezirke von Konnbatur (also cun Südende des Hoch-
landes von Dekkan, im Gebiete der Tamilen, und vom Ka-
wery durchströmt, vom 10° n. Br. durchschnitten) aus plat-
ten, sorgfältig ausgewählten Steinen, welche derart gestellt
und gelegt sind, daß sie eine beinahe geschlossene Kammer
bilden; auch ist der horizontal aufliegende Stein nicht so
geneigt, wie iu Großbritannien. Ich habe von den Dolmen
im südlichen Indien nur sechs gesehen; vier in den Thälern
des Bawani und Moyar und zwei im Thale von
Bolamanpatli. Diese beiden letzteren liegen unfern von
Konnbatnr und sind besonders dadurch bemerkenswert), daß
einer der Steine, aus welchen die Wände gebildet sind, ein
ovales Loch von 25 bis 30 Centimeter hat. Major Ha-
milton hat auf den höchsten Plateanx von Anamalais
einen Dolmen gefunden, welcher den hier beschriebenen
genau ähnelt.
Sogenannte Tombellen oder Galgals findet man
x}\ £v ®c9end überall, auch in den Ebenen, wo die Felder
st'it Jahrhunderten bebaut werden, am Fuße der Hochebenen
von Anamalais, in den tiefen Schluchten an den Nilgherris,
und mcht minder in dem nun verödeten, pestilentialischen
Waldgestrüpp (j)cn Dschengeln) des Bawani und Moyar.
Globus X. Nr, 1.
Ich habe in denselben auch Aschenkrüge und andere
Gegenstände gesunden, welche für die Tombellen des nörd-
licheu und westlichen Europa charakteristisch sind.
Diese Denkmäler liegen nicht vereinzelt und da
oder dort zerstreut, sondern sie bedecken weite Flächen und
liegen nahe bei einander. Daraus geht mit Gewißheit
hervor, daß diese Gegend einst eine sehr dichte Bevölkerung
gehabt haben muß. Ein Werk nomadischer Völker sind
diese Tnmnli ganz bestimmt nicht.
Im Allgemeinen haben sie keine beträchtliche Höhe,
sondern nur 7 bis 9 Fuß; sie sind mit einem Stein-
kreis eingefaßt. Manchmal ist ein Hügel höher als
die anderen und dann von einem Kreis umgeben, dessen
Steine höher als gewöhnlich sind, nämlich 3 bis 4 Fuß
über deu Boden emporragen.
Die Kistvaens dieser Tombellen gleichen durchaus
jenen, die wir in Europa finden; sie sind 1 bis 1V2 Meter
hoch nnd 60 bis 90 Centimeter breit. Die Urnen ent-
hielten die Asche der Verstorbenen oder die Leichen in sitzen-
der Stellung. Diese Art der Todtenbestattnng ist noch jetzt
bei einzelnen indischen Völkern bräuchlich, namentlich bei
den Linghadaris. Alle Urnen, welche ich gesehen habe,
standen Ost zu West orientirt. In einer 'Tombelle im
Moyarthale fand ich in einer solchen Terraeotta-Urne
ealeinirte Knochen mit nicht caleinirten vermischt. Man
erzählte mir, daß in den Urnen manchmal auch Metallstücke
gefunden wurden, ich selber habe dergleichen nicht ange-
troffen. Die Gestalt der Urnen ist verschieden; einige sind
verziert; mir ist jedoch keine vorgekommen, deren Arbeit
den europäischen geglichen hätte.
Die Menhirs oder Penlvans scheinen mir im All-
gemeinen neuern Datums zu sein, als die eben erwähnten
Denkmäler, doch sind mir einige vorgekommen, welche mit
den Dolmen und Tombelleu gleichzeitig sein mögen, und
welche völlig die Merkmale der irischen Leagans und der
schottischen Hoar stones aufweisen. Im Bawanithale,
beim Dorfe Sändapatli, steht ein schöner Menhir von mehr
als 10 Fuß Höhe.
Cromlechs findet man in den Nilgherris; sie gleichen
ganz denen in England, sind kreisrund und schließen
Aschenurnen und Knochen ein. Sie haben aber nur 7 bis
9 Fuß Durchmesser, sind vollständig geschlossen, und die
2
10 Entwicklungsgänge der
Mauer besteht aus übereinander gehäuften Steinen. Die
gepflasterten Gänge, durch welche in Europa diese Kreise
untereinander in "Verbindung stehen, konunen in Indien
nicht vor. Auch diese Cromlechs sind hier in großer Menge
vorhanden; man findet dergleichen auf jedem Hügel, aber
Rassen und der Völker.
kaum eiu halbes Dutzend mögen unbeschädigt seiu, alle
übrigen sind mehr oder weniger zertrümmert.
In Bezug aus die Nomeuclatur für jene Monumente
verweisen wir ans den Artikel: Alte Steindenkmäler,
Globus IX, S. 89 ff.
Entwicklungsgänge der
Viele Stämme und Völker haben niemals eine Ent-
Wicklung gehabt; sie sind immerauf eiuer sehr niedrigen
Stnse geblieben und nicht einmal über das Hordenleben
hinausgekonnueu. Sie haben nicht gewußt, mit sich etwas
anzufangen, sich, sozusagen, aus sich selber herauszu-
arbeiten und einen, wenn auch nur geringen Kultur-
Werth zu gewinnen. Kommen sie im Fortgange der Zeit
in Berührung mit anders angelegten und begabten Men-
schengrnppen, dann zeigt sich, daß ihnen die Anlage und
Fähigkeit versagt sei, gegenüber den aetiveren Elementen
anszudanern, sich mit diesen in irgend ein Verständniß oder
eine Ausgleichung zu bringen. An diesem Mangel
gehen sie zu Grunde. Dafür liegen Beweise in Menge
vor, wir brauchen aber hier nur au die schwarzen Australier
zu erinnern, von welchen zu Ende des laufenden Jahr-
Hunderts kaum uoch eine Spur vorhanden sein wird.
Demselben Schicksal sind manche Stämme Süd- und
Nordamerikas anheimgefallen; es wird auch deu Prairie-
Indianern nicht erspart bleiben und eben so wenig manche
Horden im Gebiete des Amazonenstroms verschonen. Aus
dem, was Vergangenheit und Gegenwart zeigen und lehren,
können wir mit voller Sicherheit auf die Zukunft schließen.
Hier erfüllt sich ein Gesetz der Notwendigkeit.
Wir wissen aus der Geschichte und sehen es auch heute,
daß manche Menschengruppen gar keine Entwicklung
haben, während bei anderen die Fähigkeit zu einer solchen
in geringeren: oder höherem Grade vorhanden ist. Möglich
erscheint sie nur bei solchen, die sich zur Staatenbil-
dung emporgearbeitet haben. Aller geistige und stoffliche
Fortschritt zum Höhern wird erst durch eiue solche möglich.
Die Art und Weise der Entwicklung bei kulturfähigen
Völkern ist sehr verschieden Sie wird, einmal, wesentlich
bedingt durch die Rasse und deren immanente und per-
uianente Anlagen, durch die ihr von der Natur selber eiu-
gepflanzte Urbegabuug, welche, wie die Geschichte lehrt,
nicht zu vertilgen ist, sodann auch durch Umgebungen,
Klima, Weltlage und Weltstellung und noch manche andere
Umstände, deren Einwirkungen sich fühlbar machen.
Der einzelne Mensch wird selten über ein Jahrhundert
alt, die meisten Völker sind, staatlich genommen, nicht über
ein Jahrtausend alt geworden, aber die Rassen dauern
an und aus, noch keine von ihnen ist ausgestorben oder
abgelebt. Für die Annahme, daß das Menschengeschlecht,
als Gesammtheit genommen, seinen Cnlminationspnnkt
schon erreicht habe und jetzt wieder bergab gehe, finde ich
gar keinen genügenden Grund.
Es läßt sich nicht verkennen, daß die Natur auch
in Bezug auf die Menschen in Stufen gearbeitet
hat; es ist eine Gradation vorhanden. Wer diese ver-
kennt, geräth in die Irre. In der Völkerentwicklung gibt
es keine plötzlichen Sprünge, sondern allmälige Ueber-
Nassen und der Völker.
gänge; wir finden Evolutionen und Folgereihen auch auf
geistigem Gebiete. Eius aus demAuderu!
Alle Menschen, gleichviel welchen Gruppen sie ange-
hören, weisen eine Summe gleichartiger Anlagen und
Begabungen aus, haben dieselben Bedürfnisse, folgen ähn-
lichen Antrieben, handeln in hundert und aber hundert
Fällen gleichmäßig; man könnte fagen, sie hätten genau
denselben Instinkt und insofern kann man behaupten,
daß die Menschennatur überall eine und dieselbe sei. Das-
selbe Bedürfniß ruft dieselben Erfindungen zur Befriedi-
guug derselben hervor. Es ist volle Spontaneität darin,
wenn der Mensch, gleichviel von welcher Gruppe und in
welchem Erdtheil, einen Kochtops erfindet, ein Werkzeug
zum Spinnen von Faserstoffen, Bogen und Pfeil, Keule
oder Lanze, wenn er in einer Hütte wohnt oder Thieren
des Waldes nachstellt und zur Viehzucht oder zum Acker-
bau gelangt. Das Alles braucht er uicht von An-
deren zu entlehnen, er verfährt dabei selbstständig, aus
sich allein heraus. Man geht, beiläufig bemerkt, in unseren
Tagen wie mit der Wanderungstheorie, so auch mit der
Entlehnungs - und Uebertraguugstheorie manchmal gar zu
weit. Viele Dinge, für welche man künstliche Erklärungen
hervorfncht, erklären sich leicht und ganz von selbst aus der
Naturanlage.
Diese ist allerdings sehr mannigfach modifieirt,
aber es haftet ihr ein allen Menschen gemeinsamer Instinkt
an, durch welchen die einzelnen Menschen und ganze Völker,
auf jeder einzelnen Stufe ihrer Entwicklung, ganz unab-
hängig von einander gewisse Ideen herausarbeiten und
man kann sagen auch gewissen Eingebungen folgen, welche
eben jenen einzelnen Stufen eigentümlich sind.
Aber dabei tritt nicht etwa eine absolute Einerleiheit her-
vor, sondern eine große Mannigfaltigkeit.
Wir dürfen uns keinen abstrakten Menschen zu-
recht machen, der ja nirgends vorhanden ist, sondern
müssen individnalisiren. Wenn z. B. Eomte in seiner
positiven Philosophie für die „Menschheit" drei genau
unterschiedene Stadien der Eutwickluug annimmt: das
theologische, metaphysische und positive Stadium, so hat
er in Bezug aus einige Rassen und Völker ganz recht, für
viele andere aber nicht. Er sagt, es verhalte sich damit
so, wie mit der geistigen Entwicklung beim einzelnen Men-
schen; iu der Kindheit werde Alles durch Autorität erklärt,
oder Mächten zugeschrieben, die man nicht begreift; das
Jünglingsalter beginne für sich selbst zu denken und über
metaphysische Dinge nachzuforschen, der Mann aber müsse
erkennen, daß alle Erscheinungen einem Gesetz unterworfen
seien. Das „suggestive Principe erwache mit Nothwen-
digkeit im Geiste des Menschen, je nachdem seine Gewohn-
heiten und Bedürfnisse es erfordern.
Allerdings treibt dasselbe den Menschen, Gegenstände
Entwicklungsgänge der
zu erfinden, welche er zur Befriedigung seiner täglichen
Bedürfnisse nöthig hat, und sobald er eine größere Summe
von Bedürfnissen verspürt, erfindet er mehr und Neues.
So haben viele, aber bei weitem nicht alle Völker den
Pflug erfunden, denn iu gauz Amerika z. B. kannte man
denselben nicht, sondern hatte die Hacke; das Feld iudeß
beackerte man da wie dort. Man sagt: der Mensch fühlte
das Bedürfniß, Bäume zu fällen, um Holz verwenden zu
können und deshalb erfand er scharfe Werkzeuge aus Stein
oder Metall. Ganz wahr; aber viele Völker bedienten
sich und bedienen sich noch zum Fällen der Bäume des
Feuers. Holz wollten freilich beide haben, das war ein
Antrieb aus dem Innern heraus; sie verschaffen sich das-
selbe jedoch auf verschiedene Weise.
Uebrigens sind in den früheren Entwicklungsstadien und
auch da, wo die Menschen überhaupt 31t keiner Entwicklung
haben gelangen können, die Formen sehr einfach. Wir
finden den Tumulus, den Erdhaufen über der Grabstätte,
und die Cromlechs über die Erde weit verbreitet und das-
selbe gilt von der Pyramide. Es kommt einer völligen
Abspurigkeit gleich, es ist eine wahre Halluciuatiou, die
Pyramiden Mexico's, Centralamerika's und Japans aus
ägyptische Muster zurückzuführen itnb_ die Erbauer der-
selben vom Nil herkommen zu lassen. Die Spontaneität,
welche zur Errichtung derselben antrieb, war in der alten
wie iu der neuen Welt die gleiche.
Wir finden auch gleiche Ausdrücke, Wörter, Redens-
arten bei Völkern, die niemals in näherer Berührung mit
einander gestanden haben können; jene haben ihren Ur-
sprnng im Wesen des menschlichen Geistes und in Empfin-
düngen, welche Allen gemeinsam sind. Die Entwicklung
des menschlichen Geistes, sinnlichen Dingen und äußeren
Umgebungen gegenüber, macht gleichartige Evolutionen
durch; durch ähnliche Gegenstände werden ähnliche Ein-
drücke auf Geist und Gemüth hervorgebracht. Bei der
Dunkelheit dachte der alte, verfeinerte Hellene ebensowohl
an den Tod wie der amerikanische Waldindiauer.
Die verschiedenen Mythen, Sagen, Fabeln und andere
Erzeugnisse des menschlichen Geistes, welche bei Völkern
gesunden werden, die räumlich so weit von einander ge-
trennt sind und ganz verschiedenen Urgruppen angehören,
Zeugen sehr oft nicht minder für die Ursprünglichkeit, die
Spontaneität des menschlichen Gedankens und der Eiubil-
dungskraft in vielen oder vielmehr allen Gegenden. Diese
Erscheinungen treten g^mäß deu Gesetzen auf, welcheu der
Menschengeist in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien
folgt. Die Mythologie polynesischer Völker hat manche An-
kläuge an jene der europäischen.
In unseren Tagen erregen die Feuersteine ans der
sogenannten Steinperiode allgemeine Aufmerksamkeit. Wir
finden dergleichen in sehr verschiedenen Gegenden und sie
gleichen in der Bearbeitung einander fast auf ein Haar.
Man ist iu verschiedenen Zeitaltern nnd Ländern selbststän-
dig dahin gelangt, dieselben gleichartig herzustellen. Diese
Selbstentwicklung, die ganz unabhängige Evolution des
Menschengeistes bei ganz verschiedenen Völkern, tritt auch
bei den Ornamentirungen hervor. Wir finden über-
eilt den Zickzack als die einfachste Form derselben, bei dem
bilden, welcher ihn an Töpfen oder an seiner Streitkeule
an In ui^t, wie beim hellenischen Künstler. Wilhelm von
Humboldt sagt ganz richtig, „daß bei Völkern von sehr
vcrjanevener Abstammung, die in gleichartigen noch uu-
Ctin]nu Zustanden leben, sich dieselbe Neigung zeige, die
Umrlsie zu vereinfachen und zu verallgemeinern; sie sehen
sich durch eine mnehastende geistige Disposition gedrängt,'
Waffen und der Völker,
rhythmische Wiederholungen und Reihenfolgen zu bilden";
daher denn auch ähnliche Zeichen und Symbole.
Ganz richtig. Wir finden z. B. das Kreuz in cud-
losen Varietäten viel und weit verbreitet, eben weil es,
als eine sehr einfache Form, sich gleichsam von selbst auf-
drängte, z.B. an ägyptischen Gräbern, auf griechischen
Vasen, in Centralamerika, in Phrygien, in Mexico, in
Peru. Gewiß haben die Jnkas das peruanische Kreuz
nicht von den Malteserrittern entlehnt! Nicht minder finden
wir in allen diesen Ländern und auch bei den Negern die
gekräuselte Wellenlinie.
Der Mensch ist auch eine Ereatur mit Instinkten,
welche einen Theil seiner Wesenheit, und zwar überall,
gleichviel unter welchen Himmelsstrichen, bilden. Daraus
erklärt sich ganz von selbst, weshalb der sogenannte Aber-
glaube und die mit demselben verbundenen Gebräuche so
vielfach in derselben oder in ähnlicher Weise sich wieder-
holen. Allgemein ist z. B. der Wahn von „Geistern" oder
vom bösen Blick, und zur Abwendung beider finden wir in
ganz verschiedenen Gegenden dieselben Manipulationen,
welche nicht entlehnt worden, sondern ursprünglich sind.
Der menschliche Geist wiederholt sich eben; wir finden
deshalb in den geistigen Manifestationen der großen Men-
schengrnppen viele Familienähnlichkeiten.
Die „Menschheit" bildet in der That eine große Fa-
milie, sie bildet eine Einheit, aber nicht eine
Einerleih ei t. Die Menschen haben allesammt viel
Gleichartiges in ihrem leiblichen wie in ihrem geistigen
Wesen, aber das reicht nicht hin, um eine völlige Identität
aller Gruppen zu statuiren. Die Einerleiheit würde z. B.
zu der Annahme hindrängen, daß das ganze Menschen-
geschlecht von einer einzigen Urgruppe oder von einem Ur-
paar abstamme. Die Einheit der menschlichen Species
dagegen erlaubt und rechtfertigt die Annahme, daß jede
Urgruppe viele Merkmale und Charakterzüge mit anderen
Urgruppen, überhaupt mit allen übrigen Menschen, gemein-
sam habe, dieselben Antriebe und im Wesentlichen denselben
typischen Bau; — dann aber auch, daß jede Urgruppe
ihren besondern unabhängigen Ursprung habe,
daß sie ihrer geographischen Lage und Stellung von der
Natur selbst angepaßt worden sei, der Eskimo z. B. nicht
der Aequatorialgegend, 0er Neger und Malaye oder Papua
nicht der Polarregion oder den sibirischen Tundras.
Wir finden in der ganzen Natur ein System
der Abstufung, und der Mensch bildet keine
Ausnahme von diesem Natursystem; er ist in
dieser Beziehung durchaus nicht privilegirt. In der That
ist auch die Abstufung zwischen den verschiedenen Nassen,
Urgruppen, klar genug. An Alexander von Humboldts
Meinung, daß es keine höheren und keine niederen Rassen
gebe, glaubt heute schwerlich noch ein Authropolog. Er
selber nahm an, daß die Australier und Vaudiemensländer
(Tasmauier) am niedrigsten ständen; Andere haben in
dieser Beziehung auf die Bewohner der Andamanen hinge-
wiesen. Gewiß ist, daß zwischen dem Tasmauier, dem
Andamanesen, dem Pescherä und der kaukasischen Nasse ?e.
eine ungeheuere Kluft liegt.
Es ist ein pseudophilanthropischer Wahn, welcher an-
nimmt, man könne alle Menschen „durch Erziehung" zu
unserer europäischen „Civilisatiou emporheben", und daß
diese für alle passe. Das Experiment wird seit langer
Zeit angestellt und immer mit denselben nichtigen Schein-
erfolgen. Wer die Augen nicht verschließt und die Dinge
kennt, weiß, wie die Sachen liegen.
Das Wahre und Richtige ist: der Grad der Entwick-
lung, zu welcher ein Volk emporsteigen und sich hinauf-
2*
12 Entwicklungsgänge der
arbeiten kann, hängt von der Nasse ab, weicheres
angehört. Man w.ird den Malayen, den Neger, den Mon-
golen niemals europäisch nmeivilisiren können. Er hat
seine eigene Art, seine besondere Anlage von der Natur
selbst erhalten, er ist eben wie er ist; er wird ein gewisses
Stadium erreichen können, aber darüber hinauszugehen
nicht vermögend sein. Es gibt Stufen relativer Ver-
vollkommnungsfähigkeit und Entwicklnngs-
Möglichkeit, eine Leiter vom Andamanesen und Pescherä
bis zum Germanen und Romanen hinaus.
Die Natur ist nicht widersinnig und chaotisch ver-
fahren, und überall, auch bei der Vertheilnng der Men-
schengruppen, finden wir, daß das Gesetz der Anpas-
sung von ihr streng beobachtet wird. Der Neger ist durch
seine ganze physische Beschaffenheit auf ein heißes, der Kau-
kasier auf eiu gemäßigtes Klima von der Natur selber an-
gewiesen worden. Der Mensch ist, wir haben es schon oft
hervorgehoben, kein unbedingter Kosmopolit. Wo er die
für ihn gezogenen Schranken überschreitet, büßt er die
dauernde Uebertretung des Naturgesetzes mit seinem Unter-
gange. Die Klimatologie liefert dafür tagtäglich Be-
weise in Hülle und Fülle und auch sie zeugt für die Urver-
schiedeuheit der Rassen.
„Liegt etwas Unvernünftiges in der Annahme, daß
derselbe Gott, welcher endlofe Varietäten von Species in
der Niedern Thierwelt schns und denselben auf Erden eine
Region auwies, welche ihrer physischen Constitution ange-
messen ist, und zwar vom winzigen Jnsusorium bis zum
riesigen Elephanten, — daß derselbe Gott nicht auch ver-
schiedene Menschenarten geschaffen habe und zwar jede mit
einer solchen Constitution, durch welche sie der ihr zuge-
wiesenen Region angepaßt wurde ?"
Die Annahme, daß im Anfang alle Menschen „Wilde"
gewesen seien, welche von Eicheln oder rohen Früchten in
einem primitiven barbarischen Zustande gelebt hätten, daß
sie dann nach langer Zeit Nomaden geworden seien, Thiere
gezähmt hätten und dann endlich zun: Ackerbau gekommen
wären, womit erst die Civilisationsentwicklung begonnen
habe, — diese Annahme ist rein willkürlich, luftig und
ganz und gar unbewiesen. Man sollte windige Spekula-
tionen der Art völlig bei Seite lassen; sie gehören gar
nicht in die Wissenschaft, lieber die Uranfänge wissen
wir durchaus gar nichts. Und die Behauptung, daß die
Wilden nach und nach Nomaden geworden seien und hinter-
her Ackerbauer, paßt, von anderen Gegenden ganz abge-
sehen, auf Amerika keineswegs. Diesem großen Continente
fehlten, außer dem Llama, welches aber der Sonne geheiligt
war und nnr auf einem sehr beschränkten Räume vorkam,
alle Hausthiere; vom Nomadenthum konnte also keine
Rede sein, und doch erreichten die Ackerbau treibenden
Peruaner, Muyscas, Quiches und Mericauer eine verhält-
nißmäßig hohe Stufe der Civilifation, die allerdings eine
eigenartige, von der europäischen abweichende, aber darum
doch eine „Civilisation" war. Mau sollte sich vor dem
ins Blane hinein Geueralisiren hüten und lieber mit
Umsicht individualisiren. Dazu siud allerdings sehr
umfassende Kenntnisse nöthig.
Wir lesen z. B. in der londoner „Anthropological
Review" (II. 181. The history of man): „das Hirten-
leben bilde ein Stadium in der menschlichen Entwicklung,
ähnlich wie die Kindheit eine solche in der Entwicklung des
einzelnen Menschen sei". Unsere eben angeführten Bei-
spiele zeigen, daß diese Behauptung gar nicht Stich hält.
Richtig dagegen ist, daß manche Menschengruppen allezeit
in einem Stadium der Kindheit verbleiben, und daß bei
manchen eine höhere Entwicklung, ganz abgesehen von der
Nassen und der Völker.
Rasseuanlage und Begabung, schon deshalb nicht statt-
finden kann, fobald dafür die äußeren Bedingungen fehlen,
z. B. auf vielen Inseln der Südsee. Dort mußten
nothwendig die Menschen einseitig, gebunden und stationär
bleiben.
Nicht alle Nassen und Gruppen haben einen Cyelus
der Entwicklung, sondern viele sind, soweit unsere Kunde
und die Analogie reicht, und über beide, meinen wir, sollte
nicht hinausgegangen werden, stationär geblieben. So
lange sie in ihrer Urheimat bodenständig leben, werden sie
anch in Zukunft stationär sein müssen, und wollte man sie,
z.B. diePescheräs, verpflanzen, fo würden sie aufhören zu
existiren.
Entwicklungsfähige Völker dagegen machen aller-
dings einen Kreislauf durch; jedes derselben hat seinen
Cyelus: Entstehen, Wachsen, Reife und Cnlmination und
Verfall, manchmal auch Verschwinden und Untergang. Hier
nur einige Beispiele. Aegypten bildete ein mächtiges Reich
mit einer eigenartigen und urwüchsigen Civilifation und
Kultur; von diesem ist ebensowenig etwas übrig geblieben,
wie von Babylonien, Assyrien, Altpersien, dem alten
römischen Reiche, dem alten Griechenland und den alten
Staaten Indiens. Sie alle haben ihren Kreislauf erfüllt.
Es gab Staaten und Völker, welche eine verhältniß-
mäßig hohe Civilifatiou aus sich felbst herausarbeiteten,
ohne Einflüsse von Außen her zu empfangen. Das war,
wie wir fchou weiter oben angedeutet, in Amerika der Fall,
wo selbst zwischen Mexico und Peru keinerlei Zusammen-
hang stattgefunden hat. Jene Uramerikaner hatten geord-
netes Staatswesen, ausgedehnte Bewässerungskanäle,
Bergbau auf Blei und Kupfer, stattliche Pyramiden, eine
bewunderungswürdige Baukunst, Bilderschrift und Manu-
feripte und Kalender, welche eiuheimischeu Ursprungs sind.
In architektonischer Hinsicht zeigten sie eine ungemein
reiche Phantasie, und an dem Mauerwerke der peruauischeu
Bauten können wir alle Bearbeitungsarten, von den
kyklopischen Mauern bis zu feiubehauenen Quadersteinen,
nachweisen.
Die „Wildeu" denken wenig oder gar nicht nach über
Ursache und Wesen der äußeren Naturerscheinungen. Da-
gegen bemerkte schon Georg Forst er bei den braunen
Südsee-Insulanern, daß sie den Lauf der Gestirne beob-
achteten und eine Eintheilung der Zeit kannten.
Es erklärt sich leicht, daß ein Volk, welches einmal in
die Stufen der Entwicklung eingetreten ist, während der
früheren Zeiten Vieles und Großes, zu schaffen pflegt; es
war ja vorher nur Weniges da und das Bedürfniß nach
Neuem groß. Sobald dasselbe bis auf einen gewissen Punkt
befriedigt ist, nehmen die Dinge einen langsamem Ver-
lauf. Aber die Behauptung, daß entwicklungsfähige
Völker in ihren Ansängen Größeres leisten als in den
Zeiten, da sie ihren Höhepunkt erreicht haben, darf man
nicht gelten lassen. Den Grotten von ElepHanta und
Ellora, den etruskischen Mauern, den Hünengräbern und
Pyramiden kann man die Dome entgegenstellen, die
Festungen, die Eisenbahnen, die Schifffahrt, das Maschinen-
Wesen und hundert andere Dinge mehr. Die „constructive
Geschicklichkeit" ist jetzt eben so groß als je zuvor.
Poesie, Malerei und Baukunst in den früheren Zeiten
mancher verschiedenen Völker weisen große Uebereinstim-
mnng auf; sie zeugen eben von einer ähnlichen Entwick-
lungsstufe, und wo wir Einflüsse oder Übertragungen
nicht nachweisen können, thun wir wohl, dergleichen
nicht anzunehmen. Dasselbe gilt von manchen Erfin-
düngen, z. B. vom Pfluge, von der Töpferscheibe, von den
verschiedenen Arten Feuer anzuzünden, von der Gestalt
Das Volk der Chonds
der Waffen, der Form von Gefäßen und allerlei Werk-
zeugen. Aus die Feuersteine haben wir schon oben hin-
gewiesen; von Keule, Bogen und Lanze gilt dasselbe. Die
altitalischen und die altamerikanischen Broneewaffen sind
einander sehr ähnlich; die Mexicaner, Gallier und Südsee-
insnlaner, dann auch die Guanchen aus den Canarischen
Inseln benutzten Obstdian zur Bereituug von Waffen, und
das haben sie gewiß nicht Einer vom Andern erlernt, son-
dern sind selbstständig daraus gekommen.
Völker, die noch keine Entwicklung haben oder in dem
ersten Stadium derselben sich befinden, haben begreiflicher-
weise noch keinen feinen und geläuterten Geschmack, aber
sie lieben doch Zierrathen. In Bezug auf die Ornamente
zeigt sich, wie schon oben gesagt wurde, eine merkwürdige
Übereinstimmung. Wir finden dieselbe fast oder auch ganz
ähnlich anf den Töpfergeschirren am Orinoco, auf den
Schildern der Tahitier, an den Fischereigeräthen der Eski-
mos und auf central - amerikanischen Bauwerken; überall
dieselbe rhythmische Wiederholung der Formen in einer noch
wenig mannigfaltigen Weise sowohl in Poesie und Gesaug
wie in den Ornamenten.
Was die Sprache betrifft, so erscheint schon an und
für sich klar, daß sie nicht entlehnt worden ist; das Sprechen
hat ein Volk nicht vom andern erlernt, sondern die Sprache
ist etwas Spontanes, und ohne sie läßt sich der Mensch gar
nicht denken. Die Sprache ist mit den ersten Menschen in
im ostludischen Orissa. 13
die. Welt gekommen. Uebcr den Ursprung derselben hat
man Vieles und in unseren Tagen sehr geistreich und gelehrt
geschrieben; man untersucht gründlicher als vor hundert
Jahren Lord Mo üb od do. Welch ein Abstand zwischen
ihm einerseits, und Jakob Grimm, Renan und nun
Mar Müller andererseits! Von des letztern „Vor-
lesnngen über die Wissenschaft der Sprache"
liegt nun in einer ganz vortrefflichen deutschen Bearbeitung
von Karl Böttger iu Dessau die zweite Serie (Leipzig
1865 bei Gustav Mayer) vollendet vor. „Ohne Wort
keine Vorstellung, keine Vernunft ohne Sprache"
(S. CG und 67). — Agassiz bemerkt einmal: „Der ge-
meinschastliche Ban und selbst die Analogie in den Lauten
verschiedener Sprachen veranlassen uns gar nicht zu der
Notwendigkeit, die eine von einer andern abzuleiten; sie
erscheinen mir vielmehr als das nothwendige Ergebniß
jener Ähnlichkeit in den Stimmorganen, welche die natür-
liche Ursache zur Erzeugung derselben Laute ist. Wer
wollte leugnen, daß es für den Menschen eben so natürlich
ist zu sprechen, wie für den Hund, zu bellen, für den
Löwen, zu brüllen, für den Wolf, zu heulen; wir sehen ja,
daß auch die am niedrigsten stehenden Menschen fähig sind,
ihre Wünsche, ihren Willen und ihre Hoffnungen vermittelst
der Sprache auszudrücken."
Wir brechen ab, werden aber gelegentlich auf die hier
angedeuteten Gegenstände zurückkommen. A.
Das Volk der Chonds
Eine ethnogra
Wir wollen ein Volk schildern, über welches wir erst
in der allerjüngsten Zeit eingehende und zuverlässige Nach-
richten erhalten haben, — die Chonds in Ostindien.
Zwar wußten wir, daß ihre Sitten und Gebräuche von sehr
eigenthümlicher Art seien, und daß Menschenopfer bei
ihnen zu deu religiösen Landeseinrichtungen gehörten. Aber
ein tiefer Einblick in das eigentliche Wesen dieses merk-
würdigen Stammes war uns früher nicht vergönnt.
Die mit Erfolg gekrönten Bemühungen der Engländer
zur Abschaffung der Menschenopfer und des Kindermordes
sind vor einiger Zeit (Globus VIII, S. 129 ff. und
171 ff.) sehr ausführlich geschildert worden. Wir folgten
in unserer Darstellung dem Werke des Generalmajors
Campbell, welcher sich unbestreitbare Verdienste um die
Rettung der „Meriahs" erworben hat. In seiner Dar-
stellnng tadelt er die Maßregeln eines andern Offiziers,
des Majors Macpherson. Nun sind aber im vorigen
Dezember zu London Memorials of Service in India er-
schienen , welche der Bruder des verstorbenen Majors aus
deu brieflichen Mittheilungen des letztern zusammengestellt
hat, und in diesen erscheint Macpherson allerdings in einem
!y v dortheilhaften Lichte. Wir danken dem Verleger des
w ' Herrn I. Mnrray, für die Zusendung des Buches,
welches wir sonst wohl nicht in die Hand bekommen hätten,
rri • u"9cmcj.u reichhaltig und gestattet einen tiefen Ein-
bück m die indischen Angelegenheiten. Namentlich ist die
Schilderung der Chonds (— die Engländer schreiben
Khonds; das o wird gedehnt ausgesprochen —) ganz vor-
im ostindischen Driisa.
hische Skizze.
trefflich; sie enthält eine wesentliche Bereicherung der
Völkerkunde, und deshalb wollen wir näher auf dieselbe
eingehen. Doch zuvor müssen wir einen Blick auf das
Land werfen.
Die große Landschaft Orissa, welche auch Kattak und
noch andere Bezirke umfaßt, liegt südwestlich vom Hugli
und wird vom Bengalischen Meerbusen bespült. Flächen-
inhalt und Bewohnerzahl finden wir sehr verschieden an-
gegeben, doch mag die letztere wohl 2 Millionen Seelen
betragen. Den Hauptstrom bildet der Mahauaddy. Die
alteu Ureingebornen: Chonds, Koles und Snrahs,
sind schon in sehr alten Zeiten von den Hindus in die Wald-
und Gebirgsregionen zurückgedrängt worden. Die Er-
oberer gründeten einen mächtigen Staat, der voin Ganges
bis zum Godawery sich erstreckte; sie hatten eine einslnß-
reiche Hierarchie und eine Anzahl von Territorialherren,
welche deu Titel Radfchas führten und die Landesmiliz
stellten. Diese Krieger, die Pa'iks, waren eine für Orissa
ganz eigenthümliche Einrichtung. Die Landschaft erstreckt
sich 400 Miles dem Gestade entlang und der schmale
Küstenstrich gilt im Allgemeinen für gesund und sehr srucht-
bar; er bildete einst die Staatsdomänen und Tempelgüter,
während das Hinterland in Zemindarien, Feudalgüter, von
verschiedener Größe getheilt war. Die Ureingebornen waren
aus der Küstenlandschaft fast ganz verdrängt worden und
nur verhältnißmäßig wenigen hat man in den vereinzelten,
ungesunden Sumpfgegenden Felder gelassen, von denen sie
eine schwere Abgabe zahlen mußten.
14 Das Volk der Chonds
Die mittlere Region bildet ein weit ausgedehntes und
wirres Durcheinander von Wald- und Hügelland, ist im
Allgemeinen sehr ungesund, hat aber auch schöne fruchtbare
Thäler und Ebenen. Hier herrschten die Zemindare. In
den offenen Gegenden befanden sich die Eingebornen in
einer Abhängigkeit, die nahe an Sklaverei grenzte; die
Chonds z. B., welche in kleinen Dörfern wohnen, mußten
dem Radfcha unentgeltlich Waldprodnkte liefern und wur-
den als Vettiah, d. h. Arbeiter die keinen Lohn erhalten,
bezeichnet. Im eigentlichen Gebirge dagegen blieben die
Eingebornen freie Unterthanen der Zemindare, bebauten
das Feld gegen eine landesübliche Abgabe oder dienten
gegen Sold in der Landmiliz. Ueberall haben sie sich
den Eroberern in Sitten und Religion mehr und mehr an-
genähert; namentlich sind in Folge der Vermischung bei
den Chonds neue Kasten gebildet worden.
In solchen Gebirgsgegenden der Centralketten, aus deu
hohen Plateanr und in den inneren Thälern der östlichen
Ghats, wo keine Zemindarien vorhanden sind, leben die
Ureingebornen noch in alter Vollfreiheit und manche sind
von den Hindus ganz unabhängig. Seit dem Verfall des
Reiches Oriffa haben die Zemindar-Radfchas nach einander
die Oberherrschaft des Großmoguls von Delhi, der Maha-
ratten und der Briten anerkannt, doch ist diefe Unterwürfig-
keit mehr nur nominell, weil man sie in ihren Bergfestungen
und wegen des höchst ungesunden Klimas gern unbe-
helligt läßt.
Unter ihnen war der Radfcha von G ums er einer
der mächtigsten; seine Besitzungen (zwischen 19° 36' und
20° 20' uördl. Br., 84° 14' und 85° östl. Länge) hatten
einen Flächenraum vou 1350 Geviertmiles und zählten in
18 Distrikten (Mntahs) 464 Dörfer allein im Nieder-
lande, welches die „Chälifa" oder Domäne bildete; diese
hatte 61,000 Seelen, lauter Hindu. Dagegen wurde das
Hügelland (die Maliahs) lediglich vou Chonds bewohnt;
drei Bezirke derselben lagen auf dem Tafellande, jenseits
der Ghats; der vierte heißt Tschokapahd; dieser liegt
am Fuße des Gebirges und innerhalb des großen Waldes
von Orissa.
Wir wollen hier hervorheben, daß die Bodenverhält-
nisse im nordöstlichen Theile der indischen Halbinsel es
den Ureingebornen möglich gemacht haben, sich gegen die
Eroberer zu wehren und eigene Sitten und Lebensweise zu
bewahren. Die Region, in welcher sie sich in solcher Weise
zu halten vermochten, ist im Allgemeinen begrenzt von der
Windhyakette im Norden, den östlichen Ghats nach Morgen
hin und im Süden von einer Linie, die man von der Mün-
dung des Godawery bis ins Centrum des Thales der
Nerbadda zieht. Diese gauze Gegend besteht aus hohen und
rauhen Gebirgen, undurchdringlichen Wäldern, morastigen
Flächen, die mit Gestrüpp bewachsen sind, und sandigen
Einöden; es fehlt aber auch nicht an offenen und frncht-
baren Strecken.
In diesem Gebiete haben sich fünf ureingeborne
Völker, als „Kinder des Bodens": die Chonds,
Koles, Surahs, Goauds und Bhils — mehr oder
weniger unvermifcht erhalten und viele althergebrachten
Eigenthümlichkeiten in Bezug auf Stamm, Einrichtungen,
Sprache und religiöse Vorstellungen bewahrt. Ganz oder
nur theilweise lagen innerhalb dieses Gebietes Herrschaften
oder Reiche, die gegründet wurden von den Oriyah, den
Teluga, den Maharatten und den Radschpnten, also Völ-
kern, welche sich zum Brahmanismns bekennen. Durch den
vielhundertjährigen Verkehr zwischen ihnen und jenen Ur-
bewohnern ist aber im Fortgange der Zeit bei diesen
Manches anders geworden, und sowohl der Brahmanismns
im ostmdischm Orissa.
Wie der Islam machen unter ihnen Fortschritte. — Die
Koles sind am zahlreichsten im nördlichen Theile von
Orissa, die Surahs im Süden, die Chonds in der
Mitte. —
Für die letzteren gibt Maepherson im Allgemeinen fol-
gende Verbreitungssphäre und Begrenzung an: „Auf der
Ostseite finden wir sie in den wilderen Gegenden des
Distriktes Gandscham, am Tschilka-See, und in dieser
Richtung reichen sie bis an den Bengalischen Meerbusen.
Nach Nordwesten sind sie verbreitet bis an die Grenzen
von Gondwana, in 83° westl. £.; gegen Westen dehnen
sie sich, wir wissen nicht genau wie weit, in die noch nicht
vermessene Grenze des Staates Nagpur aus. Nach Süden
hin sindet man Chonds bis Bustar in 9" 43' nördl. Br.,
und die Zemindarie von Palconda, im Distrikte Vizaga-
patam, ist in Besitz eines Chondhänptlings. Im Süden
treten an die Stelle der Chonds in der Zemindarie Pedda
Kimedy im Gandfchamdistrikte die Surahs, welche auch
die Ostabhänge der Ghats bis zum Godawery einnehmen.
Im Norden, etwa 12 deutsche Meilen nördlich von Maha-
naddy, etwa im Meridian von Boad, tritt dann das Volk
der Kole ans. Nach Nordosten reichen die Chonds weit
nach Kattak hinein, wo Surahs, die aber mit den eben
erwähnten si'idftcheu Surahs nicht verwechselt werden dürfen,
die niedrigeren Bergketten der Ghats bewohnen."
Nachdem wir diese Augabeu, der Orientirung wegeu,
vorausgeschickt haben, wollen wir zur Schilderung des
Volkes selbst übergehen. Die Chonds sind von kräftigem,
ebenmäßigem Körperbau, und die Muskeln sehr gut ent-
wickelt. Die glänzende Hautfarbe nüancirt von Heller
Bambus - bis zu dunkler Kupferfarbe; Hacken in gleicher
Linie mit der Wadenrundung, Fuß etwas breiter und
größer als beim Hindn, Spannung desselben nicht gewölbt;
Vorderkops voll und breit, Nasen selten aber doch zuweilen
gebogen, au der Spitze gewöhnlich breit; Lippen voll, aber
nicht dick, Mund sehr breit; Gesichtsausdruck intelligent;
die Züge deuten aus Entschlossenheit und guten Humor.
Die Bekleiduug besteht aus laugeu und breiten Stücken
groben Zeuges, das entweder weiß oder gewürfelt ist; die
Frauen tragen in maucheu Bezirken Ringe an Hand- und
Fußknöcheln und kleine Zierrathen in Nase und Ohren.
Die Dörfer haben durchgängig eine fehr hübsche
Lage zwischen Baumgruppen, anl Fnße bewaldeter Hügel
oder auf Bodenerhöhungen in der Ebene. In den fnd-
lichen Bezirken bestehen sie aus zwei langen Häuserreihen,
welche eine Straße bilden; diese läuft etwas gekrümmt
und ist an beiden Enden durch eiu starkes Holzthor ge-
schlössen. In den nördlichen Gegenden stehen die Häuser,
wie bei den Hindns, unregelmäßig umher. Bei der An-
läge eines Dorfes wird ein Baum (Cotton tree) gepflanzt
und der Gottheit des Ortes geweiht; neben demselben
errichtet man das Haus des Patriarchen (Abbat)a oder,
wie die Hindus sagen Mallicko). Diese Wohnung liegt
allemal in der Mitte des Dorfes, jene des Panna, des
Webers, am Ende desselben; man erkennt diese sofort
an allerlei Webergeräth, z.B. Pflöcken, vor der Thür.
Der Priester befragt den Willen der Gottheit und bestimmt
dann die Lage der Ortschaft. Jeder baut sich selber seiu
Hans. Ein Dorf, das in Verfall geräth, wird nicht wieder
ausgebessert; man baut dauu eiu neues, benutzt
aber von deu Materialien des alten gar nichts. Solch
eine Ortschaft hat durchschnittlich eine Dauer vou nur
14 Jahren, doch wird sie manchmal früher, irgend eines
Aberglaubens wegen, verlassen.
Das Volk der Chonds
Die Chonds wenden keinerlei Arznei an. Auf
Wunden legen sie Erde, welche sie von den Erdhügeln
nehmen und mit Wasser ankneten, oder einen Umschlag
von Hirsenbrei. In bedenklichen Fällen legen sie ein nasses
Stück Zeug auf deu Leib und fahren mit einer heißen Sichel
darüber hin. Fieber ist häufig, nicht minder, in Folge
unmäßigen Trinkens, Entzündung der Eingeweide. Manch-
mal richten die Blattern Verheerung an und Viele sind
blind. Die Frauen gebären sehr leicht und behalten das
Kind nur 6 Mouate au der Brust.
Der Ackerbau steht in hohen Ehren; im Süden
gilt dasselbe auch von den Eisenarbeitern und Töpfern.
Lohnarbeiter gibt es nicht; Jeder bearbeitet als Freigut
einen Theil des Bodens, der genau abgetheilt ist; die eiue
Hälfte desselben liegt im Thal und wird bewässert, die an-
dere und zugleich größere auf der Höhe. Die väterliche
Gewalt ist unbedingt und hat keine Schranken, und ein
Sohn kann vor des Vaters Ableben keinerlei Art von
Eigenthum besitzen. Grund und Boden vererbt, sammt
dem Vieh, nur auf die Söhne; Töchter können kein Lernt)
besitzen. In manchen Bezirken bekommt der älteste Sohn
einen Extraantheil; Schmucksachen, Hansgerath, Geld,
überhaupt bewegliche Sachen fallen den Töchtern zu, welche
von den Brüdern erhalten werden, bis sie heiraten; dauu
erhalten sie eine Ausstattung. Ein Grundbesitzer, der
ohue Manneserben stirbt, wird von der Dorfgemeinde
beerbt und diese vertheilt den Nachlaß.
Kein anderes Volk versteht sich aus deu Ackerbau so
gut und betreibt denselben mit solchem Eifer wie die
Chonds. Der Mann steht bei Tagesanbruch auf, genießt
einen Brei aus Hirse oder Hülseufrüchteu mit Ziegen- oder
Schweinefleisch, spannt seine Ochsen an und nimmt die Art
auf die Schulter. Er Pflügt bis Mittags 3 Uhr und nimmt
alsdann ein Bad; bei schweren Arbeiten, z. B. im Walde
beim Fällen der Bäume, macht er früher Mittag und hält
eine Mahlzeit. Abends genießt er ein geistiges Getränk
und raucht Taback. Zur Zeit der Aussaat und der Ernte
arbeiten auch die Frauen auf dem Felde.
Die Maliah (Gebirgs-) EhondS haben sehr viel Groß-
und Kleinvieh und dazn Geflügel in Menge. Sie bauen
Reis, Oelpflanzen, Hirse, Hülsenfrüchte, Gemüse, Taback,
Cureumä uud gauz vortrefflichen Senf; diese Produkte
werden ihnen von Hindukaufleuten, namentlich von der
Suda-Kaste, abgekauft, oder man bringt sie ans die Märkte
zu Kolada uud Kodanda, wo der Dorfweber, der Panua,
den Handel vermittelt, als Mäkler auftritt und den Ein-
tausch von Salz, Zeugen, Messinggefäßen, Schmucksachen
und dergleichen mehr besorgt.
Landverkäufe kommen oftmals vor uud die Ueber-
tragung findet in folgender Weife statt. Der Verkäufer
meldet beim Vorsteher (Patriarchen, Abbaya) sein Vor-
haben an, damit dasselbe kund werde. Mit dem Käufer
geht er, im Beisein von fünf achtbaren Männern, die als
Zengen aufgerufen wurden, auf das Grundstück. Dort
ruft er die Dorfgottheit au, damit anch sie Zenge sei, daß
er einen Theil seiner Ländereien einem Andern übertragen
habe. Alsdann nimmt er eine Hand voll Erde
und überreicht dieselbe dem Käufer, der nun
seinerseits deu Kaufpreis zahlt.
®)°nds im Gebirge haben erst in der jüngsten
V Gebrauch des Metallgeldes kennen gelernt, aber
jic hatten Kanrimüscheln. Als Werthmesser diente „Leben-
dlgev , z. o. ein Stier, ein Büffel, eine Ziege, ein Schwein
oder ein Huhn; außerdem aber auch ein Sack voll Getreide
oder em paar Messtngtöpfe. Im Durchschnitt rechnet
man 100 -eben gleich 10 Ochsen oder Büffeln, 10 Sack
im ostindischen Orissa. 15
Korn, 10 paar Messingtöpfen, 29 Schafen, 10 Schweinen
oder 30 Hühnern.
Die Maliah - Chonds sind in der Lage, sich ganz dem
Ackerbau zu widmen, weil fünf Pariah- oder Hindu-
Kasten unter ihnen wohnen und diese alle anderen Ge-
schäfte besorgen. Diese sind: der Panua, Weber; der
Lohara, Schmied; der Komarn, Töpfer; der Guro,
Hirt und der Snndi oder Destillatenr, der letztere aber
nur in den östlichen Bezirken.
Der Weber ist in jedem Dorf eine ganz uneutbehr-
liche Person. Er mnßte, bis znr Abschaffung der Menschen-
opfer, dafür sorgen, daß an letzteren kein Mangel sei; er
ist Bote und überbringt Mittheilungen an berathende Ver-
sammlungeu oder iu Kriegszeiten an die Heerführer. Auch
macht er bei festlichen Gelegenheiten Musik uud versorgt
das Dorf mit Kleidung.
Diese Kasten wohnen seit uralter Zeit im Laude der
Chonds, die aber keine Speise genießen, welche von jenen
berührt worden ist. Sie reden sowohl die Sprache der
Chonds wie das Oriyah,") haben ihre eigenen Götter, denen
sie opfern, betheiligen sich aber auch bei den religiösen
Feierlichkeiten der Chonds, von denen sie sehr wohlwollend
behandelt werden; man erblickt jedoch in ihnen nur unter-
geordnete Schützlinge, die sich aber nicht einfallen lassen
dürfen, sich den Chonds gleichzustellen. Uebrigens halten
sie ihr Blut uuveriuischt und haben manchmal auch Grund-
besitz. —
Gastfreundschaft gilt für heilige Pflicht; jeder
Fremde ist willkommen, mag im Dorf als Gast bleiben, fo
lang es ihm beliebt, man kann ihn niemals wegweisen und
er wird allezeit wie ein Glied der Familie behandelt. Auch
Flüchtlinge ans anderen Stämmen genießen Aufnahme
und Schutz, nur Meriahs, d. h. die zu Menschenopfern
bestimmten Personen, hatten darauf keinen Anspruch,
wenigstens nicht bei befreundeten Stämmen. Wer sich in
das Haus seines Feindes flüchtet, darf dort nicht augetastet
werden, selbst wenn er Gegenstand der Blutrache seines
Wirthes wäre. Einst hatte ein Panua den Sohn des
Abbaya, also des Patriarchen, getödtet, war geflüchtet, nach
Verlauf von einigen Jahreu zurückgekommen^uud bei Nacht
in das Hans des Abbaya gegangen. Eine Volksverfamm-
lnng berieth den Fall und erklärte, daß der Mann als Gast
behandelt werden müsse, und demgemäß blieb er im Hanse.
In derartigen Fällen kommt es aber wohl vor, daß der
Wirth sein Haus räumt und einen solchen Gast ohne
Speise und Trank zurück läßt. Doch gilt eiu solches Ver-
fahren nicht für anständig. So weit geht die Gastfreund-
schaft, daß ein Stamm einen andern, der flüchtig geworden
ist, aufnehmen muß; manchmal erhält dann eiu solcher
Jahre lang Unterstützung, bis ein Ausgleich ermittelt wor-
den ist.
Die Patriarchen sind sehr stolz auf ihr Blut und schätzen
sich für besser als die Hindus. Sie rühmen sich, daß sie
Väter und Mütter in Ehren halten, während die Hindus
den ihrigen keine Hochachtung erweisen; sie, die Chonds,
seien von gleichartiger Rasse, die Hindus aber nicht. Da-
her sind sie so stolz, wie unabhängige Leute zu sein pflegen,
und machen keine Schmeichelworte. Zum Zeichen des
Grußes halten sie die Hand senkrecht über den Kops;
beim Begegnen ans der Straße sagt der Jüngere: „Ich bin
ans meinem Wege", und der Aeltere entgegnet: „Geh vor-
wärts!"
*) Das Oriyah in Orissa grenzt sprachlich nach Norden
hin an das Bengali, nach Süden an das Telinga und hat im
Westen die verschiedenen Chonddialekte. Es wird von einer
verhältnißmäßis, geringen Anzahl Menschen geredet. A.
Das Volk der Chonds tut ostindischen Orissa-
Die Häuptlinge sind in Gegenden, welche in näherer
Berührung mit.den Hindus stehen, sehr darüber aus, sich
Kenntnisse anzueignen; manche lesen und schreiben, und
viele Chonds senden ihre Kinder in eine Hindnschüle.
Die Frauen haben eine recht gute Stellung, sind
nicht ohne Einfluß, werden mit Achtung und Familien-
mütter sogar mit Auszeichnung behandelt. Man beräth
mit ihnen sogar öffentliche Angelegenheiten; im Hauswesen
üben sie großen Einfluß. Heiraten können nur
zwischen Angehörigen verschiedener Stämme
geschlossen werden, nicht einmal mit Fremden, die
seit längerer Zeit in den Stamm aufgenommen worden
sind. Solche Hei-
raten finden auch
statt, während zwei
Stämme in lang-
wierigen Fehden mit
einander liegen.
Man verheiratet
10 jährige Knaben
mit 16 jährigen
Mädchen; der Vater
des erstem zahlt 20
oder 30 „Leben"
Kaufgeld und da-
mit ist die Auge-
legenheit abgemacht.
Man trägt Reis
und starke Getränke
in das Brauthaus,
der Priester kostet
das Getränk, bringt
den Göttern eine
Spende, die beider-
seitigen Aeltern er-
klären, daß die Ehe
geschlossensei. Nach-
her Gesang n. Tanz
itud allerlei andere
Lustbarkeiten, zu
welchen auch eine
fingirte Entführung
der Braut gehört.
Der Priester, wel-
cher zu Anfang der
Feier dem Bräuti-
gam und derBraut,
nach Hindu Art,
eine gelbe Schnur
um den Hals gelegt
und ihr Gesicht mit
einem Aufguß von
Curcumä besprengt
hatte, geleitet beide nach Hause und spricht unterwegs eine
Zauberformel, wenn etwa der Weg über einen Bach führt.
Die junge Frau lebt gemeinschaftlich mit dem ihr vermählten
Knaben iu dessen väterlichem Hanse und hilft der Schwieger-
mutter, bis der Geinahl so weit herangewachsen ist, um selber
einem Hauswesen vorstehen zu können. Die Frau wird nicht
als Eigenthum des Mannes betrachtet; dieser kann mit
ihrer Erlaubniß eine zweite Ehe schließen oder eine Neben-
frau halten, und der Stand einer solchen gilt keineswegs
für entehrend; nur erhalten die mit ihr erzeugten Kinder
blos halbes Erbtheil.
Nach dem Tode des „Patriarchen" werden Trommeln
und Kesselpauken gerührt, das Volk versammelt sich und
Chonds-Krieger in Orissa.
(Nach einer Zeichnung von Macpherson
man legt den Verstorbenen auf einen hohen Holzstoß.
Neben den letztem wird eine hohe, beflaggte Stange in
einen mit Getreide angefüllten Sack gesteckt und über
diefem häuft man allen beweglichen Nachlaß, z.B. die
Kleider, Waffen, Eß- und Trinkgeschirre des Dahin-
geschiedenen. Während das Alles in Flammen aufgeht,
tanzen die Anwesenden um das Feuer. Der Priester ver-
hält sich unthätig, weil er keine Leiche anrühren darf.
Privatleute werden ohne weitere Feierlichkeiten verbrannt,
und zwar auf einem besonders dazu bestimmten Platze, den
man bei jedem Dorfe findet.
Jeder Stamm hat ein bestimmtes Gebiet, dessen
Vorstand der Pa-
triarch, als Vertreter
des allen gemein-
samen Urahns, ist.
Er theilt sich in
Zweige, die unter
Familienältesten ste-
hen, uud jedes eiu-
zelue Dorf hat zum
Vorsteher einen Ab-
kömmling des Vor-
stehers, welchen die
ersten Gründer er-
wählt hatten. Eine
Gruppe von Stäm-
men steht unter
einem gemeinsamen
Bundespatriarchen,
welchem ein aus den
Häuptlingen der
verschiedenen Stäm-
me zusammengesetz-
ter Rath zur Seite
ist; diese müssen
ihrerseits mit den
Dorfpatriarchen be-
rathen, welche hin-
wiederum mit deu
Aeltesten ihres Dor-
fes im Einverneh-
men zu handeln ha-
ben. Dazu kommen
dann nochVolksver-
fammlungen.
So ist die poli-
tische Gliederung be-
schaffen. Das Amt
des Patriarchen ist
in der Familie erb-
lich, aber aus der-
selben kann das
Volk den Mann wählen, welcher ihm genehm ist. Er
steht als der erste unter Gleichen da, nicht etwa so wie
der Häuptling eines Clans, der über den anderen Leuten
steht; er hat keine Burg und keine Leibwache, bekommt
weder Tribut noch Abgaben, außer dann und wann,
und allemal als freie Gabe, etwas vom Ernteertrag.
Doch wird auf die Würde selbst großer Werth gelegt. Er
thut nie etwas ohne Zustimmung der Abbayas oder der
Volksversammlung; er verhandelt mit anderen Stämmen und
mit den Zemindars, ist Anführer int Kriege, hält die öffent-
liche Ordnung aufrecht, schlichtet Streitigkeiten und Prozesse,
aber dabei entscheidet lediglich seine persönliche Autorität.
Die von ihm berufenen Volksversammlungen
Die Schleichhänd
werden am Abhang eines Hügels gehalten. Den innern
Kreis bilden die Distriktspatriarchen, den äußern Ring
die Dorfpatriarchen. Das Volk steht umher, jeder trägt
Waffen; Weiber und Kinder halten sich bei Seite, doch so,
daß sie Alles hören können. Der Patriarch präsidirt und
hält den ersten Vortrag, leitet die Verhandlungen und
faßt am Ende das Resultat zusammen. Ihm liegt dte Ver-
kündigung der Beschlüsse ob.
Ein Stamm wird als Bengasikia bezeichnet, und
zur Bezeichnung eines besondere Stammes setzt man den
Namen seines Gründers vor das Wort; z. V. Baska
Bengasikia, d. h. Stamm des Baska; eben so wird der
Zweig eines Stanunes mit dem Namen des Gründers
bezeichnet. Der Name für Dorf ist Nadsn (Nadzoo).
Die Namen der Chonds sind immer natürlichen Gegen-
ständen entlehnt und drücken ni ein als Eigenschaften
aus. So hat mau den Mininga, Fischstamm; Janinga,
Krabbenstamm; P otsch an gi a, Eule; S a i a l i u g ci,
Stamm des gefleckten Hirsches ?c. (Das erinnert an die
Totems der nordamerikanischen Indianer.)
Die Chonds zeichnen sich durch großen persönlichen
Mnth aus; sie geben und nehmen kein Quartier. Bei
ihren Fehden mit Leuten von anderer Nasse oder auch wohl
mit solchen von verschiedenen Stämmen geloben sie zuweilen
der Erdgöttin ein Menschenopser, und Loha Pe-
neu, dem Gott der Waffen, opfern sie Hühner und Ziegen
vor der Schlacht. Nachdem das Blut geslosseu ist, gibt
der Priester, der niemals Waffen tragen darf, das Zeichen
zum Gefechte, indem er eine Art schwingt nnd die Krieger
zur Tapferkeit ermahnt. Diese schmücken sich znm Kampf,
als ob sie zn einem Feste gingen, flechten ihr Haar, legen
dasselbe in einem flachen Kreis auf die rechte Seite des
Kopfes und befestigen an demselben eine Feder, umwinden
auch wohl das Haupt mit einem scharlachrothen Tuche.
Ein Engländer, welcher als Augenzeuge ein Gefecht
zwischen deu Stämmeu des Bara Mntah und des Bora
Des in Gumser mit ansah, bemerkte, daß jene Fasanen-,
diese Hahnenfedern trugen. Die Hornbläser zogen voran,
die Pauker gingen hinter den: Zuge her, die Frauen trugen
Wasser und Lebensmittel; alle Männer, welche keinen
Thcil mehr am Gefechte nehmen konnten, gaben guten
Rath. Die Weiber reichten den Männern Steine, und die
Schlacht begann mit eiuem Hagel aus den Schleudern.
Dann schoß man aus geringer Entfernung Pfeile ab und
manche Krieger wurden verwundet. Als man einander ganz
nahe gerückt war, entspannen sich Zweikämpfe. Nachdem
r in Andalusien. 17
der erste Krieger in einem solchen gefallen war, rannten
Viele auf ihn zu und hieben ihn mit Aexten in Stücke.
Ein anderer hieb seinem Gegner den Arm ab, nahm den-
selben und rannte damit spornstreichs zum Priester, der
ihn sogleich forttrug, denn er sollte dem Waffengotte Loha
Peueu als Opfer dargebracht werden. Ueberhanpt trennten
die Sieger allen gefallenen Feinden den rechten Arm ab,
und häuften dieselben dort auf, wo die Frauen standen,
welche ihrerseits für die Verwundeten forgten und den
Kriegern Wasser gaben. Bald war der Kampf allgemein
geworden, er hatte sich in ein wildes Handgemenge ver-
wandelt, in welchem aber, nach beiderseitiger Übereinkunft,
Erholungspausen stattfanden. Am Ende wichen die Bora
Des, obwohl sie die Mehrzahl bildeten, wurden über den
Fluß Salki zurück getrieben und ließen etwa 60 Todte auf
dem Platze, während ihre Gegner nur etwa halb so viele
verloren hatten. Die rechte Hand aller Erschlagenen wurde
vou beidenTheileu in den Dörfern an Bäumen aufgehängt;
die Todteu verbrannte man. Aber am andern Morgen
warfen die Bora Des ein blntrothes Stück Zeug auf das
Schlachtfeld, also eiue Herausforderung, daß sie den Kampf
wieder aufuehmeu wollten, der dann auch noch 3 Tage lang
fortgeführt wurde.
Die Waffen bestehen in einer leichten Art, die eigen-
thüiulich gekrümmt ist und einen langen Stiel hat, in
Bogen und Pfeilen und der Schleuder; Schilde haben sie
nicht nnd die Art wird mit beiden Händen geschwungen.
Krieg ist die Regel, Frieden die Ausnahme. Innerhalb
eines jeden Stammes herrscht Ruhe und Ordnung, aber
was darüber hinausgeht, ist eitel Zwietracht und Verwir-
rung ; Wiedervergeltnug und Blutrache sind an der Tages-
orduuug.
Macpherson hebt als Eharaktereigenthümlichkeit her-
vor: Liebe zur Freiheit, Anhänglichkeit an die Häuptliuge,
unbeugsame Entschlossenheit, unverbrüchliche Treue gegen
Freunde, Tapferkeit, Gastfreundschaft und großen Fleiß.
Hauptfehler sind: Rachsucht, wilde Leidenschaftlichkeit
nnd Trunksucht. Raubsüchtig sind nur zwei Distrikte, die
übrigeil nicht.
Wir wollen zum Schlüsse bemerken, daß Eide auf einer
Tigerhaut abgelegt werden, damit ein Tiger den Mein-
eidigeu zerreiße, oder auf der Haut einer Eidechse, oder auf
einem Ameisenhügel, oder auf einer Fasanenfeder.
In einem andern Aufsatze wollen wir die höchst merk-
würdigen und eigentümlichen religiösen Ansichten der
Chonds erörtern.
Die S ch l e i ch h ä n d l
Der Schleichhandel ist in Spanien ein volkstümliches
Gewerbe. In Madrid sind die Staatsmänner noch immer
nicht zu der Ueberzengung gelangt, daß ein Land durch
mäßige Eingangszölle höhere Einnahmen erzielt als bei
einem Tarif, welcher die Einsuhrwaareu schwer belastet.
Jeder hohe Eingangszoll ist eine Prämie für den Schmngg-
ler. Man hat zu allen Zeiten und in allen Ländern
strenge Maßregeln gegen den Schleichhandel ergriffen, hat
Finanzwachen, Gensdarmen, Küstenschiffe und nicht selten
Globus X. Nr. i.
er in Andalusien.
auch ganze Batailloue von Soldaten gegen dieselben auf-
geboten, aber stets mit demselben Erfolge. Man nimmt
Schmuggelwaren weg, schießt manche Uebertreter der
Finanzgesetze nieder, sperrt andere auf lange Jahre ins
Gefängniß, aber an der Sache selbst wird nichts geändert,
das ,,Paschen" nimmt seinen Fortgang.
Gibraltar, an der Südwestspitze der pyrenäischen
Halbinsel, befindet sich seit nun länger als anderthalb-
hundert Jahren im Besitze der Engländer. Seit eben so
3
Ig Die Schleichhändler in Andalusien.
Ein Contrabandista aus Nonda in Andalusien und seine Maja. OJJad) einer Zeichnung Von G- Dorö.)
Die Schleichhändl
langer Zeit wird von dort aus Schleichhandel nach Anda-
lusien getrieben, und jene Festung ist recht eigentlich ein
Pfahl im Fleische Spaniens. Bon dort ans hat man diesen
Schleichhandel in ein förmliches System gebracht, und er
wird durch die Beschaffenheit des Geländes begünstigt. In
der Nähe thürmt sich die Serrania de Ronda empor
aus der westlichen Abtheilung zwischen dem Plateau von
Ronda und den weiten Thälern der Küstenflüsse Guadal-
horee und Gnadiaro, und sie umfaßt auch das zwischen
diesen beideu liegende südliche Randgebirge. Moritz Will-
komm, der als Augenzeuge spricht, schildert sie „als eine
höchst verwickelte Gruppe von außerordentlicher Wildheit".
Sie nimmt einen Rann: von etwa 25 deutschen Geviert-
meilen ein und erhebt sich im Cerro de las Plazotetas zu
6083 Fuß Höhe.
Die Stadt Ronda, das Arunda der Römer, liegt
2300 Fuß über dem Meer und hat reine Luft; sie gehört
noch zu der Provinz von Malaga. Von ihr aus führt der
Weg nach Algeciras über Gaucin und San Roque. Auf
dieser Straße zogeu Dor6 und Davillier, denen ohne
Zweifel unsere Leser gern wieder begegnen.
Vor einem Menschenalter war diese ganze Gegend noch
sehr unsicher durch die Bandoleros. Diese spanischen
Briganten waren Leute von weniger unedelm Schlag als
die Briganti in Süditalien. Heute sind die romantischen
Räuber nicht mehr vorhanden, aber die Contraban-
distas sind geblieben, und die beiden Reisenden hatten
das Vergnügen, mit diesen Freunden der Wildniß nähere
Bekanntschaft zu machen. Von Postverkehr und Fuhrwesen
ist in jenen Einöden keine Rede; für Wägen sind die Pfade
zu steil und zu schlecht, hier muß das zähe, geduldige und
vorsichtige Maulthier aushelfen. Es geht ruhig und sicher
an den jähen Abgründen hin und behält den festen Tritt.
Aber dem Reiter kommt manchmal Schwindel an, wenn
er in die wilden, düsteren Schluchten hinabschanet. Er
wendet gern das Auge ab von diesem schauerlichen Felsen-
gewirr. Auch in der Serrania de Ronda haben die Mauren
sich lange gegen die christlichen Spanier gewehrt und erst
1570 sich Philipp dem Grausamen unterworfen. Er ließ
auch hierin seiner blutigen, erbarmungslosen Art gegen
die „ungläubigen Rebellen" wüthen; den Ueberlebenden
zwang er seine Kirche aus, aber trotzdem ist viel maurisches
Blut zurückgeblieben und auch die Namen der meisten Oert-
lichkeiteu sind hier, wie in den Provinzen Valencia, Murcia
und den Alpnjarras arabisch nach wie vor.
Maurisches Blut rollt auch in den Adern manches
C o n tr a b a nd i st a. Dieser ist eine Charakterfigur iu der
Serrania de Ronda, welche mit ihren steilen Bergen, tiefen
Thälern und den schmalen Pfaden, die in vielen Fällen
selbst für Maulthiere nicht praktikabel find, recht eigentlich
für ihn gemacht zu sein scheint. Sie wird nach allen Rich-
hingen Hin von kühnen und flinkenSerran o s durchzogen;
diese holen Maaren aus Gibraltar.
Die Wanderer trafen mit dem ersten Contrabandista
in einer Venta, einer einsamen Schenke, unweit von Gaucin
zusammen. Der Mann wollte gleichfalls nach San Roque
und Algeciras, wo der Schmuggel in hoher Blüthe steht.
Joselillo, der kleine Joseph, war vierschrötig und stämmig,
in der Mitte der dreißiger Jahre, im Gasthause sehr beliebt,
und trug sich wie ein Majo (Stutzer). Die schwarze Stute,
welche er ritt, war ein hübsches, kräftiges Thier, das er als
unn, jaca 6 tcrciopelo, eine Sammetstnte, bezeichnete. Er
hatte seine Ouerida, Geliebte, bei sich und sie saß, wie
Dorv's oild zeigt, hinter ihm zu Roß. Mit diesem auf-
geweckten Burschen war bald Freundschaft geschlossen, als
r in Andalusien.
Joselillo einige Gläser Xereswein und Anisett getrunken
hatte. Der Contrabandista ist gut Freund mit allen Leu-
teu, welche keiue Regierungsbeamten oder Carabineros
sind „■ und Joselillo nahm gar keinen Anstand, den beiden
Ausländern Aufschluß über den Betrieb seines Gewerbes
zu geben.
Der Contrabandista versorgt sich in Gibraltar mit
Maaren, die er zumeist von jüdischen Handelsleuten be-
kommt. Insbesondere nimmt er einen Vorrath von Müsse-
linen, seidenen Tüchern, Cigarren und Taback. So weit
ist Alles gut und leicht; dann aber beginnen die Schwierig-
keiten, weil es sich darum handelt, die Maaren auf fpa-
nisches Gebiet hinüber und in Sicherheit zu bringen. Da-
bei springt der Corred or, Mäkler, als hülfreicher Geist
ein. Der Corredor wohnt ans guten Gründen, deren
er sich Wohl bewußt ist, in Gibraltar; dorthin flüchtete er
sich, weil er etlicher „Kleinigkeiten" halber, z. B. wegen
zweier oder dreier Meuchelmorde, den spanischen Boden zu
unwirklich gefunden hat. Nun arbeitet er unter dem
Schutze der Flagge des redlichen Albion und er versteht sich
auf den Rummel. Der Contrabandista zahlt ihm eine
bestimmte Summe; dagegen übernimmt es der Corredor,
mit den Zollbeamten ein Abkommen zu treffen. Die
Carabineros werden gleichfalls bedacht und sehen dann
nicht genau zu, was der Reiter etwa in seinen Säcken bei
sich führt. Eine Spende guter Cigarren darf jedoch nicht
vergessen werden.
Manchmal unternimmt der Corredor aber auch größere
Operationen für Rechnung großer Handelshäuser in Cadir
oder Malaga und es ist vorgekommen, daß er ganze Schiffs-
ladungen zollpflichtiger Maaren über die Grenze geschmng-
gelt hat. Dergleichen kann er freilich nur ausführen, wenn
er sich mit dem Befehlshaber der Carabineros verständigte.
Dieser nimmt dann Einsicht vom Connoffement der Ladung
und bestimmt demgemäß so und fo viel für Zengwaaren,
so und so viel für Taback u. f. w. Ort und Zeit der Aus-
ladung werden genau bestimmt und der Commandant sorgt
alsdann dafür, daß alle feine Leute au einem andern Punkte
beschäftigt werden. Der Schiffsführer, welcher an der Küste
kreuzt, erhält das verabredete Zeichen, setzt die Boote aus
und bringt die Waaren unter den Augen des Comman-
danten ans Land; denn dieser rechtschaffene Staatsdiener
paßt genau anf, daß nicht ein Ballen mehr als verabredet
war, ans Land komme; dadurch würde ja er übervortheilt
werden!
Der gewöhnliche Contrabandista muß sich mit kleinen
Geschäften begnügen und schafft insgemein nur Webstoffe
und Taback über die Grenze. Sobald er diese überschritten
hat, schließt er sich einigen Kameraden an, und dann setzt
sich die Karawane in Bewegung. Gewöhnlich marschirt sie
bei Nacht; am Tage ruhet sie in Cortijados, vereinzelt
liegenden Gehöften, „para^ue nadie los vea", d. h. damit
Niemand sie fehe. Die Schleichhändler haben in solchen
Meierhöfen ihre guten Freunde und sind vor Vernich voll-
kommen sicher. Es versteht sich von selbst, daß sie mit
allen schwierigen und gefährlichen Wegen vertraut sind,
denn gerade auf diesen müssen sie wandeln, weil sie
auf den gangbaren Pfaden mit den Zollbeamten und
Gensdarmen zusammentreffen würden. Sie haben den
Sack auf dem Rücken und den Karabiner über der Schulter
und geben au Kühnheit und Gewandtheit dem verwegensten
Alpenjäger nichts nach. „Auf unseren Ausflügen in der
Serrania de Ronda waren wir Zeugen eines für uns sehr
interessanten Schauspiels: Mehre Contrabandistas gingen
auf „unmöglichen" Pfaden einige hundert Fuß oberhalb
!}*
A. Bastian: Eine Wanderung 11
des steilen Weges, welchen wir eingeschlagen hatten. Einer
blieb stehen und schaute uns mit gleichgültigem Blick au.
Dore war sehr erfreut über eine so günstige Gelegenheit
und entwarf sofort eine Skizze."
Viel liegt den Contrabandistas daran, mit den Dorf-
behörden in gutem Einvernehmen zu bleiben. Der Alcalde,
Vorsteher, erhält gute Cigarren; für die Seüora alcaldesa
fällt dann und wann ein seidenes Tuch oder Baud ab, und
der Schreiber wird auch nicht vergessen. Gewöhnlich bringt
der Schmuggler seine Ladung wohlbehalten an Ort und
Stelle, doch findet dann und wann ein „Encueutro",
also eine „Begegnung", ein zufälliges Zusammentreffen
mit solchen Gensdarmen statt, die nicht erkauft worden sind.
Dann bleibt ein Gefecht nicht aus, uud die Schluchteu der
Sierra hallen wieder vom Knall der Büchsen; doch sind
solche Encuentros immer nur Ausnahmen von der Regel,
weil die Sache schon vorher mit einigen harten Thalern
abgemacht wird. An Ort und Stelle liefert der Contra-
bandista seine Waaren an den „Korrespondenten" ab uud
theilt mit diesem den Zollprofit. Beim Taback ist am
meisten zu verdienen, wenn sich, was häufig der Fall ist,
ein Estauquero, das heißt der Händler, welcher im Auf-
trage der Regierung einem Estanco de tabacos, einem
Aankees im Goldlande von Peru.
Tabacksbureau, vorsteht, zum Vertrieb der eingeschmuggel-
ten Waaren herbeiläßt.
Während der „Arbeitszeit", also wenn der Contra-
bandista unterwegs ist, führt er ein mäßiges Leben; aber
sobald er abgeliefert hat, vergeudet er in Saus uud Braus
das mit Lebensgefahr uud Schweiß erworbene Geld. Sein
Lieblingsaufenthalt ist die Taberna, wo er Monte spielt,
denn die Karten liebt er mit Leidenschaft, oder mit der
beim Andalusier üblichen Ruhmredigkeit seine Großthaten
erzählt. Dabei trinkt er, „tun das Wort anzufeuchten"
gar nicht wenig Xereswein. So kommt es, daß er zwar
viel Geld verdient, aber wenig besitzt; an Sparen denkt er
nicht. Er besteht die Gefahren; die Beamten des Finanz-
Ministeriums, mit denen er theilen muß, sind besser daran;
ihm wiukeu, wenn er ertappt wird, das Gesängniß in
Spanien selbst oder ein Presidio an der afrikanischen Küste,
etwa Ceuta oder Melilla, oder er fällt im Gefecht.
Manchmal geht das Geschäft flau. Dann kommt es
auch heute wohl uoch vor, daß der eiue oder andre Eon-
trabaudista sich dazu herbeiläßt, deu Leuten auf der Land-
straße Koffer und Börsen leichter zu machen. Wie kann
es für das Raubgewerbe auch eiue bessere Vorschule geben
als den Schleichhandel, noch dazn in einer solchen Gegend?
Eine Wanderung mit Pankees im GMande von Peru.
Von Adolf Bastian.
I.
le der Harpa. — Aufenthalt in Ay.icucho. — Die wildeu Morochuechos uud Präsident Castilla. —
Goldreichthum. — Die beschwerliche Wanderung, Hängebrücken. — lieber den Apurimac. —
pata. Die Eingangspforte zur Montana. — Die Erzählungen eines Pfarrers vom goldgierigen
Californische Goldgräber im Thale
Erzählungen von unermeßlichem (!.
In Euzeo. — Weg nach Mareapata. Die Eingangspforte zur .............
Portugiesen. — Der Marcapatafluß.
Eiue Maroma.
Wir müfseu der Erzählung selbst einige Erläuterungen
vorausschicken.
Dr. Bastian war auf seiner ersten Weltfahrt, die er
als junger Naturforscher einige Jahre nach Beendigung
seiner Universitätsstudien angetreten hatte, auch nach Peru
gekommen. Er verweilte längere Zeit in diesem Laude der
Jnkas. Im Juni des Jahres 1854 kam er von einem
Ausfluge, welchen er in der Montana gemacht hatte, in das
Thal der Harpa zurück. Dort sprach man viel von
fremdeu Männern, die weder die Quichuasprache noch
Spanisch redeten, Biberhüte trugen und in rothe oder blaue
Wollhemden gekleidet waren. Peru, das nur selten ohne
Revolutionen ist, war auch damals in allgemeiner Verwir-
rnng; das kümmerte indessen die Gold jag er aus Cali-
sornien, welche bis an die Zähne bewaffnet waren, sehr
wenig. Bastian war begierig, sie kennen zu lernen uud
wollte deshalb uachAyaeucho gehen, das sich gerade im Be-
sitze der wilden und blutgierigen Morochuechos befand;
&lefe Pampasindianer hatten für einen der um die Präsi-
l entschast kämpfenden Nebenbuhler, Castilla und Echeuique,
Partei geuommeu. Meil firi\ (SplOn piifrint Ulm imh
Plündern darbot.
Jit i)acucho faud Bastian die „Boys aus deu
Digglngs". Ein Blick auf die Aexte, Sägen, Flinten,
Zinnpsannen, Kessel, Piken uud andere dergleichen Sachen
redete deutlich genug. Die meisten dieser Leute waren
Nordamerikaner, einige andere Jrländer und Deutsche.
Diese Compagnie war aus Kalifornien nach Australien ge-
gangen uud hatte dort vernommen, daß in Peru unermeßlich
reiche Goldlager entdeckt worden seien. Flugs, und aus
durchaus unsichere Nachrichten hin, waren dann aus Sydney
nahe ettt zweitausend Diggers nach Pern gekommen, wo sie
bald erfuhren, daß das Ganze ein Humbug gewesen, ver-
mittelst dessen man die um gute Fracht verlegenen Schiffe
zu füllen gedachte. Manche dieser betrogeueu Leute trieben
stch in den Hafenstädten herum und vernahmen dort, daß
ein „unermeßliches" Goldlager irgendwo im Stromthale
des Amazonas vorhanden sei. Das erfrischte ihren Mnth
uud sofort bildeten sich ein halbes Dutzend Compagnien.
Drei derselben gingen über Tarma, zwei über Hnanueo,
eilte, aus Franzosen bestehende, über Loreto; die Leute, mit
welchen Bastian zusammen traf, hatten ihren Weg über
Cttzeo geuommeu.
Die Nankees zweifelten keinen Augenblick, daß ste ein
Geldlager finden würden; sie hatten gehört, daß in der
Montana von Paueartambo, am Fltisfe von Mareapata,
edle Metalle lägen; man hatte ihnen sogar eine Karte
gegeben, cittf welcher die Oertlichkeiten verzeichnet standen.
Allerdings sind die westlichen Abhänge der Cordilleren iit
der ganzen Ausdehuuug der Montana Pern's, von Loreto
22 A. Bastian: (Sine Wanderung m
bis Carabaya, goldhaltig, auch waren von Paucartambo
mehre „Nnggets", Goldklumpen, nach Lima gekommen.
Weiter wurde erzählt, daß man nach Regengüssen die
Flüsse gelb sciude, nicht von dem losgespülten Erdreiche,
sondern von dem im Wasser schwimmenden Golde; wenn
man mit einer Pfanne schöpfe, erhalte man allemal einige
Unzen Gold!
Solchen Erzählungen maß man Glanben bei; die
Phantasie der Wnkees war schrankenlos und sie bildeten
in Lima sofort eine Compaguie, welche 21 Köpfe zählte,
einen Kapitän ernannte, sich in Gruppeu theilte und allerlei
große Wippsägen, Blasebalge, Bohrer:c. anschaffte. Sie
waren doppelt und dreifach mit Revolvern versehen und
jeder trug außerdem eiue Büchse, einen Säbel und ein
Bowiemesser. Die Habseligkeiten wurden auf Esel und
Maulthiere geladen und fo waren sie landein gegangen.
Erst in Ayaeucho trafen sie auf Schwierigkeiten. Der
Gegenpräsident Castilla war an der Spitze der wilden, den
Lasso schwingenden Indianer eingezogen. Ersah dieUankees
ungern, sie hatten ohnehin keine Pässe. Di\ Bastian, welcher
Spanisch verstand, ging zu dem Gewaltigen, um die Au-
gelegeuheit zu ordnen. Er fand in Castilla's Augen „dann
und wann den Funken jener finstern Tücke glühen, der sich
auch bei lange fortgesetzter Mischung nie ganz ans dem
indianischen Blute wäscht". Aber Castilla ist eigentlich
der beste Präsident gewesen, welchen Peru überhaupt aus-
zuweisen hat. Nach manchen Zwischenfällen durfte die
Compagnie weiter ziehen.
Bastian hatte sich ihr angeschlossen, um eiue Gegeud
näher kennen zu lernen, die nur selten von Weißen Menschen
betreten worden ist. Nachdem die Gesellschaft Ayaeucho
verlassen hatte, folgte sie dem Läugsthale, welches sich durch
die ganze Cordillera zieht und vielfach von kleinen, von
Westen uach Osten streichenden Höhenketten oder den, von
den Flüssen gebildeten Querfurchen durchzogen ist. Sie
mußte die meilenweit aufsteigenden Euestas, Abhänge,
erklimmen, und nicht selten rief die Einwirkung der dünnen
Luft die Anzeichen der Seekrankheit hervor. Der Charakter
der Gegend wechselt mit jedem tausend Fuß höher oder
niedriger, oft verschiedene Male an demselben Tage, von
der kahlen, öden Puna, wo nur dann und wann die Er-
scheinung der blitzschnellen Viennas oder der stolz dahin-
schwebende Condor die Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt,
bis zu den im lichten Grün der Zuckerfelder glänzenden
Thäler, wo Achlangen im Schatten der dichten Büsche
lauern und Züge buntgefärbter Papageyen die Luft mit
ihrem schrillen Gekreisch erfüllen. Zwischen beiden Er-
tremen liegt das mittlere Niveau, die eigentliche Sierra,
welcher die Cactuspflanzeu ihren Ausdruck starrer Mono-
tonie aufprägen. Man verliert die Gletscher der hohen
Schneeberge fast nie aus dem Auge; der Weg zieht sich au
ihrem Fuße hiu, und die üppige Vegetation der wahren
Tropen tritt erst hervor, wenn man in das eigentliche Tief-
land kommt.
Die wandernden Abenteurer mußten mit magerer
Kost fürlieb nehmen; das Hauptgericht bestaud immer aus
Chupe, heiß gepfefferter Kartoffelsuppe; Eier und Fleisch
waren selten; als Getränk hatte man Wasser und Chiecha,
die bekanntlich aus gegohreuem Mais bereitet wird. Außer-
halb der Städte findet man in Peru nicht viele Leute, welche
Spanisch verstehen.
Am Rio Pampas wurde die erste Hängebrücke
überschritten und dann Chinch ero erreicht, wo der Pfarrer
den Muth der Californier in nicht geringem Grade belebte.
Er erzählte, daß mau iu deu einst blühenden Missionen
von Paneartambo Goldklumpen gefunden habe, die mehr
N-iiikecs im Gololande von Peru.
als vier Centner wogen. Einst habe ein Portugiese am
Berge Camanti unglaubliche Schätze gefunden. „Gold
brachte jede Welle der Gebirgswafser, welche in den See
fallen; dieser See war von Gold, durch jeden Regentropfen
wurde Gold>ans der Erde gewaschen, und Alles sank in
den See, füllte den Boden, bedeckte die Uferwände und hob
sich, langsam wachsend, nach der Oberfläche empor. Der
habsüchtige Portugiese schaute vom Morgen bis zum Abend
mit gierigem Blick ans die funkelnde Masse; ersah, wie
sie tagtäglich anwuchs und berechnete auf Tag und Stunde,
wann der letzte Wassertropfen zn Gold erstarrt seiu würde.
Die wilden Indianer (Chnnchus) riethen ihm, doch mit
dem, was er schon habe, zufrieden zn sein, aber er entgeg-
nete: Wie kann es genug seiu, wenn ich nicht Alles habe?
Er ließ fortarbeiten und den Berg auf allen Seiten unter-
höhlen. Da zog in einer Nacht ein furchtbares Unwetter
über das Thal von Mareapata, uud um Mitternacht hörte
man ein donnerndes Krachen, die Erde wurde iu ihren
Grundfesten erschüttert. Am nächsten Morgen fanden
die Chunchus aus einer meilenweiten Strecke die Ufer am
Fuße des Camanti mit den Trümmern eines Ungeheuern
Bergsturzes bedeckt, und unter diesen liegen noch heute die
unermeßlichen Schätze begraben."
Diese Erzählung des Pfarrers ist in echt peruanischem
Sagenstyl, die Calisoruier aber meinten, etwas Wahres
sei wohl daran und sie seien die rechten Männer, um jene
Schätze zu heben. Sie zogen nun weiter nach Andahnailas
und Hnancarama und gelangten in das fruchtbare Thal
von Abaucay, iu welchem Zucker wächst. Als ein dort an-
sässiger Spanier Herrn Bastian viel von mißlungenen
Minenarbeiten in der Montana erzählte, meinten die
Abenteurer, daß man dergleichen wohl begreifen könne,
denn jener Mann sei ja weder in Calisornien noch in
Australien gewesen.
Am Apurimac wurde wieder eine Schwebebrücke
passirt; sie war aber länger uud schmäler als die erste.
Das Thal des Flusses besteht dort nur aus der schroffen
Furche, welche das Wasser zwischen den beiden senkrechten
Felsen gegraben hat. Nachdem das Maulthier sich deu
steilen Zickzackweg von beträchtlicher Höhe fast senkrecht
hinabgewunden hat, sieht man urplötzlich sich gezwungen,
das in der Luft hängende Machwerk zu betreten, obwohl
die Stricke nicht gerade Vertrauen einflößen. Das Ganze
geräth bei jedem Fußtritt in immer stärkere Schwingungen,
und unten in der Tiese rauscht das Wasser. Iu solchen
engen Qnebradas (Schluchten), wo durch die zurückprallen-
den Sonnenstrahlen eine erstickende Hitze erzeugt wird,
überfallen den Reisenden ganze Wolken kleiner Fliegen,
von denen jeder Stich einen braunen Fleck hinterläßt. Auch
beim raschesten Durcheilen kommt man mit einer ganz
andern Haut heraus.
Aus der heißen Schlucht von Limatamba führte,
viele Stunde immer bergan, der Weg auf die morastige
Ebene von ©uteri, durch welche ein Rest der alten und
breiten Inka-Straße führt, und weiter nach Cnzco, der
alten Hauptstadt von Peru. Die gauze neuere Stadt ist
buchstäblich auf deu Trimmern der alten erbaut, und das
Volk wittert fast in jedem Hause vergrabene Schätze. Man
erzählte den Californiern allerlei von den „versunkenen
goldenen Gärten". Ein hoher Regierungsbeamter gab
Herrn Bastian, der freilich nicht zu den Gläubigen gehörte,
Folgendes zum Besten: —
„Als ich Deputirter im Kongresse zu Lima war, erschien
eines Tages iu unserer Sitzung ein alter Mann mit langem
Bart, der bis auf den Gürtel herabwallte, und nahm, auf
Ansuchen des Präsidenten, unter uns Platz. Er wurde
A. Bastian: Eine Wanderung m
lins als ein italienischer Priester vorgestellt, der schon seit
40 Jahren verschollen gewesen und den man längst todt
geglaubt. Er hatte sich aber während dieser ganzen Zeit
im Innern der Montana mit dem Bekehrungswerke der
wilden Barbaren beschäftigt. Jetzt befänden sich dort drei
Dörfer von je 10,000 Seelen, die sich unter den Schutz
der christlichen Regierung von Peru zu stellen wünschten.
Man müsse aber bis in ihre Gegend eine Straße bauen.
In der Nähe eines dieser Dörfer erhebe sich ein drei bis
vier Meilen langer Berg, der aus massivem Golde bestehe.
Es sei gut, wenn die Regierung denselben in Besitz nähme,
bevor Privatpersonen sich desselben bemächtigten. Als
man über diese Angabe spöttelte, erhob sich der Greis und
sprach mit zitternder Stimme: Meine Tage sind gezählt,
ich stehe an: Rande des Grabes; über meine Lippen ist nie
eine Lüge gekommen, aber meine Augen haben das Gold
gesehen, meine Hände haben es berührt. — Man beschloß,
600 Mann als ein Erforschungscorps auszusenden, und
der Padre giug zurück, um Vorbereitungen zum Empfange
derselben zu treffen. Es brach aber eben damals wieder
eiue Revolution aus, das Corps setzte sich erst nach Verlauf
vieler Monate in Bewegung und als es in die vom Padre
bezeichnete Gegeud kam, ergab sich, daß uach der Rückkehr
des Padre 50,000 (!!) wilde Barbaren über die christlichen
Dörfer hergefallen seien und alle Christen niedergemacht
hätten, um die Unterwerfung unter die Weißen zu verhiu-
dern. Jeden Eindringling bedrohten sie mit dem Tode.
Vom Padre hat man nie wieder etwas vernommen."
Es war eigentlich Herrn Bastians Absicht, in Cnzco
sich von den Uankees zu trennen, doch bewogen ihn allerlei
Zwischenfälle, den Fahrten der Compagnie noch weiter zn
folgen. Seine finanziellen Umstände waren besser, als jene
der übrigen und sie boten ihm die Kapitänswürde an,
welche er indessen ablehnte.
Der Plan der Abenteurer war, die Moutaua von Pau-
cartambo von Marcapata aus zu betreten und die Ar-
beiten an einigen Nebenbächen des dortigen Flusses zu
beginnen. Die genannte Stadt liegt etwa 40 Leguas
östlich von Cnzco und ist nach dieser Richtung hin der
äußerste Vorposten der Civilisation. Alle nöthigen Vor-
bereitnngen wurden während eines dreiwöchentlichen Auf-
entHalts in Cnzco getroffen; dann brach die Gesellschaft
auf und zog über Urcos. Dort soll in dem kesselartig
eingebetteten See jene große goldene Kette liegen, welche
Inka Huayna Capac zur Feier der Geburt seines Sohnes
Huascar anfertigen ließ. Er wollte sie den habgierigen
Spaniern geben, un: den unglücklichen Athahuallpa auszu-
lösen. Als aber die Indianer, welche die Kette transpor-
tirten, unterwegs vernahmen, daß ihr Herrscher von den
Weißen ermordet worden sei, versenkten sie dieselbe in den
See von Urcos. Doch nennt die Sage noch andere Plätze,
an welchen das geschehen sei.
Das Folgende ist Dr. Bastians eigene Erzählung.
In der einsam ans kalter Pirna am Fuße ungeheuerer
Schneeberge liegenden Hacienda von Labramarca,
einer der reichsten in Peru au Schafeu und Rindern, ver-
Iahen wir uns mit mehren Ladungen von getrocknetem
Hammel- und Ochsenfleisch, als der einzigen Art Proviant,
ue sich in der feuchten Montana für einige Zeit präferviren
tauschten, kauften und verkauften Pferde, Esel und
.Jtaultyim, wahrscheinlich nicht immer zu unserm Vortheil,
und setzten uach einem Ruhetage, dem der freundliche Haus-
meister gern noch mehre beigefügt hätte, unsere Reise fort.
Wir hatten von dort 1!) Leguas bis zum nächsten Indianer-
Aankees im Goldlcmde von Peru.
dorf und 14 bis Marcapata, eine fehr starke Tagereise für
unsere schwerbeladenen Thiere, und so ging ich mit dem
Führer, den wir seiner Kenntniß der Montana wegen in
Cnzco gemiethet hatten, voran, um wenigstens alle nöthigen
Vorbereitungen zum Empfange zu treffen. Sonnenunter-
gang war nahe, als wir an dem mit Schnee bedeckten
Kamme der Cordillere anlangten, und kaum hatten wir ihn
pafsirt, als uns der dichte graue Nebel, den die aus der Mon-
tana aufsteigenden heißen Dünste fast beständig dort nieder-
fchlagen, entgegen- und bald ganz umwehte. Zu gleicher
Zeit hörten wir auf allen Seiten das Hervorsprudeln von
Quellen und das Rauschen von Bächen, das sich indeß bald
verlor, da die Flüsse iu gerader Richtung in die tiefen
Schluchten hinabstürzen, um mit dem Maranon ihre Wellen
zum Atlautic zu rollen, während unser Weg uns bis Mar-
capata ans der Höhe entlang zu führen hatte.
Der Pfad war steinig, eng und gebrochen, und bei der
Unmöglichkeit, irgend Etwas von der Umgebung zu erkeu-
nen, überließe» wir nach manchen Kreuz- und Querzügen
endlich alle Entscheidung unseren Maulthieren, welche uns
anch in einem kalten, dichten Regen, worin stch der Nebel
bei Anbruch der Nacht aufgelöst hatte, vor die Thür einer
Jndianerhütte brachten. Auf der Erde prasselte eiu Helles
Kienfeuer, und obwohl der Schmutz des Innern dadurch
nur krasser hervortrat, hätten wir keinen erquickenden: An-
blick haben können und kauerten bald mit der ganzen
Familie auf dem Bodeu, Kartoffeln mit Aji (rothem
Pfeffer) essend und saure Chicha aus Kürbisschaleu schlür-
seud. Obwohl ich verschiedene Indianer mit Fackeln fort-
geschickt hatte, blieb der Rest der Gesellschaft sehr lange
aus, bis wir schließlich nach vielen Stunden ungeduldigen
Harrens verschiedene Schüsse hörten, einige über, andere
unter uns; dieselben wurden erwiedert, dann ein großes
Feuer gemacht, und so fanden sich nach einiger Zeit alle
Verirrten zusammen, hungrig, kalt, naß, Peru und seine
Wege, die Führer und Indianer verwünschend. Zwei Esel
waren in einer Windung des Weges von den Felsen herab-
gestürzt, und ein Maulthier hatte sich gleichfalls verloren,
wurde indeß wieder gefunden uud uns am andern Tage
nach Marcapata, wo wir uns dann einquartiert hatten,
nachgeliefert. Dieser Ort liegt anf den letzten Vorsprüngen
der Cordillere, gerade wo sie iu die Montana abfällt, und
ist so stets in einen undurchdringlichen Nebel gehüllt, der
selten mehr als eine Nasenlänge vor sich hinsehen läßt,
ohne den aber auch Nichts zn sehen wäre. In Marcapata,
als der Eingangspforte zur Montana, hatten wir unsere
nicht weiter brauchbaren Thiere, die ohnedem durch die
allnächtlichen Aderlässe der Vampyre gänzlich abgefallen
waren, zurückgelassen uud unser Gepäck, Arbeitswerkzeuge
und Proviant auf dem Rücken von Indianern, deren
zwischen 90 bis 100 erforderlich waren, zu trausportireu.
Ich sprach darüber mit dem Gobernador, der über eine
solche Anforderung erschrak und die augenblicklich in
höchster Strenge vor sich gehende Reerntirnng als Unmög-
lichkeit, ihr zu genügen, vorschützte, aber nach Prodncirnng
unserer perkutorisch abgefaßten Papiere und dem Aner-
bieten, einen etwas höhern Lohn, als den üblichen, zu
bezahlen, fem Möglichstes zu thun versprach und uns Hofs-
unng gab, innerhalb einer Woche die erforderliche Zahl
herbeizuschaffen.
Iu der Zwischenzeit hatten wir Gelegenheit, vielfache
Erkundigungen über die Montana einzuziehen uud hörten,
daß die meisten der dort früher bearbeiteten Haeienden von
Kaffee, Zucker, Taback, Vanille, selbst die der seidenartigen
Baumwolle, des ausgezeichneten Cacao^s und der unent-
behrlicheu Coea, wegen der so häufigen Einfälle der Chnn-
24 A. Bastian: Eine Wanderung tr
chus gegenwärtig, mit Ausnahme der allernächsten, verlassen
lägen, daß der äußerste Punkt, bis zu dem zuweilen kühne
Cascaritlen-Sammler sich wagten, der Camanti und
Bassin (zwischen 30 bis 40 Leguas von Marcapata)
seien, bis wohin auch eine Art Weg und die eine oder
andere Brücke zu finden wären, daß weiterhin aber ein
Vordringen wegen der zahlreichen Barbaren-Stämme höchst
gefährlich, wenn nicht unmöglich sei.
Die Nachrichten über den Goldreichthum ent-
sprachen jetzt, wo wir dem eigentlichen Platze näher kamen,
durchaus nicht mehr den gehegten Erwartungen und be-
festigten mich in meinen früher fchon erhobenen Zweifeln.
Freilich auch hier sprachen die Leute von der Unerschöpflich-
keit der im Territorium der Wilden anzuschlagenden
Metalladern, aber bei genauerem Eingehen auf die Facta,
die hier leichter bis zu ihrer ersten Quelle zu verfolgen
waren, ergab sich, daß einzelne Indianer, die dann und
wann die Wäschereien der für den Ursprung der brasilia-
nischen Minen gehaltenen Flüsse besuchten, nach mehr-
monatlicher Arbeit mit einigen Unzen, worin für die dor-
tigen Verhältnisse allerdings ein Vermögen liegt, zurück-
zukehren pflegten, oft aber selbst mit leeren Händen. Die
Nankees fanden den Grund dieses geringen Erfolges nur
in der UnVollkommenheit ihrer noch nicht mit dem Geheim-
uiß der Long Toms und Sluiceu vertrauten Bearbeitungs-
weise, und nach dem Vorzeigen einer Tasse voll, allerdings
sehr feinen Goldstaubes, den der Cum (Pfarrer) nach und
nach (und er gestand nicht recht, in wie langer Zeit und von
wie vielen Sammlern) ausgekauft hatte und zur Negu-
lirung seiner durch Maiskörner ersetzten Grangewichte auf
unseren Goldwageu bestimmen ließ, entzündete sich der
fchon etwas gesunkene Muth rasch wieder zu seinem frühern
Feuer, so daß mein Vorschlag, zur Ersparung nutzloser
Kosten erst eine Abtheilung zum Prospectiren vorauszu-
schicken, durchaus keinen Anklang fand, und der Gober-
nador um so eifriger zur Erfüllung feiues Eontraetes
bestürmt wurde.
Der arme Mann befand sich in nicht geringer Ver-
legenheit; er hatte täglich einige Rekruten geknebelt nach
Cuzco abzusenden, um den dringenden Anforderungen der
Regierung zu entsprechen, und da er natürlich außer einigen
altersschwachen Alcalden sich ohne Unterstützung, weder
durch Truppen noch Gensdarmen, befand, so kam er oft in
unser Quartier, um Schutz gegen die ihm drohenden Nach-
stellnngen zu suchen. Wir leisteten denselben gern, ver-
langten aber nun gleichfalls berücksichtigt zu werdeu. Die
mit eifrigen Betheuerungen wiederholten Versprechungen
beschwichtigten für einige Zeit, aber endlich ließ sich der
unruhige Charakter der Golddigger, unter denen sich mehre
Subjekte von mehr als zweifelhaftem Rufe befanden, nicht
länger hinhalten. Eines Morgens, als ich gerade mit
dem Gobernador frühstückte, traten Einige derselben ins
Zimmer und ließen ihrer Entrüstung in so zügelloser Weise
Lauf, daß mein Wirth, obwohl er von der Sprache Nichts
verstand, leichenblaß da saß und nach ihrer Entfernung
mich zitternd nach der Bedeutung der Worte fragte. Ich
benutzte die Gelegenheit, zu bemerken, daß ich meinerseits
völlig von seinem guten Willen überzeugt wäre, indeß
durchaus keine Autorität mehr über die aufgeregten Ge-
müther der Gesellschaft besäße, daß ich ihm den freund-
schaftlichen Rath gebe, wenn irgend möglich, seiner Ver-
pflichtung nachzukommen, indem Pläne im Werke seien,
sich seiner Person zu bemächtigen, das Dors in Besitz zu
uehmen, und sich selbst Recht zu verschaffen. Ohne mehr
zu hören, sprang der in seinem abgeschnittenen Winkel
völlig Preis gegebene Beamte auf, sandte nach seinen
Nankees im Goldlande von Peru.
Alcalden und gab mir sein Ehrenwort, daß wir am nächsten
Tage versorgt sein sollten. Wirklich wurde uns am Morgen
ein Theil der contrahirten Indianer überliefert, die wir
beluden und mit der ersten Abtheilung fortschickten; an den
folgenden Tagen kamen mehr, die ebenfalls vertheilt und
verabschiedet wurden, dann aber trat aufs Neue ein längerer
Stillstand ein.
Ich befand mich nur noch mit dem letzten Rest von
fünf Nankees zurück; da indeß die erste Kriegslist so gut
gelungen war, entwarfen wir eine zweite, und am nächsten
Sonnabend wurde dem Gobernador mitgetheilt, daß wir
entschlossen seien, im Falle er uns keine Garantie gebe, den
Rückstand aus eigene Faust aus den nach dem Dorfe zur
Kirche kommenden Indianern zu complementiren. Am
andern Morgen maß ernsten Schrittes und sorgenvoll
gesenkten Hauptes der Fürst vou Marcapata, in seine
lange spanische Toga gehüllt, die Plaza seiner Residenz
und erwiederte die tiefen Verbeugungen der durch die feier-
liche Erscheiuuug ihres Taita bestürzten Indianer mit
stummer Würde. Nach dem Gottesdienste versammelte er
einen Kreis der Gemeinde um sich und hielt eine lange und
eindringliche Rede, die indeß, wie aus den Geberden und
Gesticulatioueu der Zuhörer zu ersehen war, durchaus mit
keinem Beisall aufgenommen wurde. Schnell war unser
Entschluß gefaßt; mit dem Revolver in den Händen postir-
teu wir uns an den beiden dein Markte zulaufenden
Straßen, ließeu die Hähne knacken und ludeu mit mög-
lichstem Geräusch die gesürchteteu Ristes. Das wirkte; die
schon zum Fortgehen gewandten Indianer traten wiederum
zusammen, eine neue, aber nur kurze Debatte folgte, und
bald hatten wir die Freude, unser letztes Gepäck wohl hin-
weggestauet zu finden, und das traurige Marcapata, aus
dem die Nankees sicher waren, in wenigen Monaten ein
zweites San Francisco erstehen zu lassen, in grauem Nebel
auf der Kuppel des Berges verschwinden zu seheu, den wir
leichten Sinnes hinunterstiegen. Unser Weg war eng und
schmal und führte fast senkrecht bergab, aber mit jedem
Schritte, mit dem wir uns dem Thale des in der Tiefe
brausenden Stromes näherten, enthüllten sich um uns neue
Wunder ungeahnter Schöpfungen. Die letzten civilisirten
Ansiedluugeu waren bald passirt, und endlich befanden wir
uns in dem gerühmten Zauberlande der so viel besprochenen
Montana.
Der Fußpfad, der hier und da zu erkennen war, folgte
dem Laufe des breiten und reißenden Marcapata-
Flusses und kreuzte denselben an einer Stelle, wo noch
die Ueberreste einer im höchsten Zustande des Verfalles
befindlichen Brücke vorhanden waren. Dieselbe bestand
aus kreuzweis in Vierecken gelegten dünnen Aesten und
mußte auf Händen und Füßen unter bedeutendem Schwan-
ken des in einer Art Bogen das Wasser überspannenden
Fächerwerkes passirt werden. Unsere Hunde, die mit kläg-
lichem Geheul bei jedem Tritte in die Quadrate hinein-
fielen, erreichten das andere Ufer nur durch die Unter-
stützung eines schon dressirten Gefährten, welches gefcheidte
Thier verschiedene Mal hin- und herlief, um ihnen die
notwendigen Kuustgriffe deutlich zu macheu. Au der jetzt
erreichten Seite des Flusses hatten die demselben in der
Regenzeit zuströmenden Gebirgswasser die Felsmassen aus
solche Weise zerrissen und ausgehöhlt, daß Nichts übrig
blieb, als die perpendiknläre Wand der ersten zu erklimmen,
was uns mit Hilfe des Gestrüppes und der Baumwurzeln,
sowie gegenseitiger Unterstützung nach einiger Mühe gelang.
Von dort bis zur nächsten, die etwa 50 bis 60 Fuß ent-
sernt war, fanden wir Baumstämme, durch die stete Feuch-
tigkeit fast ganz vermodert, von einer Spitze zur andern
Die mohammedanischen Pilgerkarawa
geworfen, und hier war kein Ausweg, als auf
dem Leibe hiuüberzurutscheu. Glücklicher Weise
verdeckte der üppige Pflanzenwuchs die Tiefe des unten
gähnenden Abgrundes, sonst möchte außer unseren See-
lenten wohl Keiner schwindelfrei genug gewesen sein. Am
änglichsten war ein kleiner Bursche, den ich in Marcapata
gemiethet hatte, iudem er im vorigen Jahre mit einem
solchen Balken, der seinen Stützpunkt verloren hatte, ein-
gebrochen war und lange zwischen Leben und Tod geschwebt
hatte; doch ermannte er sich bald durch das Beispiel der
anderen Indianer, die mit staunenswerther Sicherheit,
trotz ihrer schweren Lasten, iu gleichmäßigem Trabe fort-
eilten. Noch manche andere Schluchten hatten wir ans
diese Weise zu passiren, und manchmal war ein frischer
Baumstamm durch unsere Vorgänger hinzugefügt, von
denen sich auch dann und wann Zettel mit der Notiz über
die Zeit ihres dortigen Campirens an den Halteplätzen vor-
fanden.
Am vierten Nachmittage gelangten wir, in der Nähe
einer früher zur Bebauung gelichteten Stelle, jetzt aber
schon durch das dichteste Unkraut völlig überwuchert, au
das Ufer eines Baches, der durch die iu den letzten Tagen
gefallenen Regengüsse zu einer solchen Höhe geschwollen
war, daß jeder Versuch, ihn zu durchwaten, außer Frage
blieb. Eine fast thener erkaufte Erfahrung in der Mon-
tcina von Huanta hatte mich darin vorsichtig gemacht. Die
Indianer hatten vergessen, sich mit den nöthigen Vorrich-
tungeu zur Aufstellung einer Maroma, wo der Rei-
sende durch Stricke hinüber gezogen wird, zu
en und die epidemischen Krankheiten.
versehen; das gewöhnlich zur Verfertigung von Balsas,
für die der Strom aber auch ohnedem zu reißend und
felsig war, dieueude Korkholz war iu der Umgegend nicht
zu finden, und so blieb kein Ausweg, als selbst Hand ans
Werk zu legen. Bald hatten unsere Artträger ein paar
der stolzen Stämme gefällt, und mit ihnen wurde eine durch
die in der Mitte des Flusses befindlichen Steine gestützte
Brücke improvisirt, auf der wir hinüber zu passiren an-
fingen. Einige der indianischen Lastträger, sei es aus
Mißtrauen in eine für sie neue Erfindung, fei es durch die
Glätte des neuen Holzes, verloren in der Mitte der Brücke
ihren sonst so sichern Fußtritt und glitschten in den Strom,
der sie augenblicklich mit sich fortriß. Nur durch die An-
strengungen der iu der Nähe befindlichen Bankees, die kühn
der ihnen selbst drohenden Lebensgefahr trotzten, gelang es
denselben nach Durchschueiduug der die Traglast um ihren
Hals befestigenden Tane das User zu erreichen, aber in
einem Zustande, der sie zur Fortsetzung der Reise unfähig
machte. Der Verlust bestand außer einigen Kleidungs-
stücken und baarem Gelde besonders in den mitgenommenen
Luxusartikeln von Zucker, Reis, Choeolade, Kaffee, Thee,
Käse und Biscuit, so daß unsere Nationen von da aus
getrocknetes Fleisch und gedörrten Mais oder das beim
Frostpunkt eingetrocknete Kartoffelmehl der In-
dianer beschränkt blieben. Die nächste Nctcht kamen neue
Regengüsse, die unsere schwache Laubhütte bald durchdrungen
hatten, so daß wir uns nicht die Mühe zu nehmen brauchten,
die bei dem Brückenbau triefend durchnäßten Kleider zu
trocknen.
Die mohammedanischen Pilgerkarawanen und die epidemischen Krankheiten.
Uns Europäern sind die großen und verheerenden
Seuchen, welche zu verschiedenen Zeiten das Abendland
wie ein Würgengel durchzogen, aus den: Oriente gebracht
worden: die Pest, der schwarze Tod, die Blatteru und zu-
letzt die Cholera, welche vor etwa einem halben Jahrhundert
ihren verderblichen Weltgang antrat. Sie hat im vorigen
Jahre wieder gewaltige Verwüstungen angerichtet und ist
bis iu das Herz unseres Erdtheils vorgedrungen. Man
hat auch diesmal sehr deutlich erkannt, wo sie zuerst auftrat,
und ihre Verbreitung ist genau verfolgt worden. Sie kam
von deu heiligen Städten des Islam. Seit Monaten
tagt nun eine europäische Commission in Konstantinopel,
um zu berathen, welche wirksamen Mittel zu ergreifen
seien, um für die Zukunft der Ausdehnung dieser Seuche,
und zwar an ihren Brutstätten im Morgenlande selbst,
Schranken zu setzeu. Die Aufgabe wird schwierig sein,
weil der Fanatismus der Mohammedaner allen durchgrei-
senden Maßregeln entgegen arbeitet. Schwerlich wird der
Zweck erreicht werden, wenn man die Sache in den Händen
türkischer Behörden läßt; es ist nothwendig, daß Europa
energisch auftrete und die erforderlichen Maßregeln, im
Nolhfalle durch Druck und Zwang, durchsetze.
Wer mit den Verhältnissen der Pilgerkarawanen näher
vertraut ist, weiß sehr wohl, daß sich fast an alle mehr oder
weniger Krankheiten verschiedener Art heften und daß die-
selben, falls sie ansteckend sind, eben durch diese Pilger
über weite Räume hin verschleppt werden. Jetzt, wo es
Modus X. Nr. 1.
sich um eine brennende Frage handelt, die auch uus Euro-
päer so nahe angeht, wird es angemessen sein, einen Blick
auf diese eigentümlichen Verhältnisse zu werfen. Ein
französischer Arzt, vr. Dagnillon, hat in der Januar-
nnmmer der „Nouvelles Annales des Voyages" dieselben
eingehend erörtert.
Bekanntlich strömen alljährlich viele tausende von
Pilgern ans allen Theilen der mohammedanischen Welt
nach Medina und Mekka. Die Zahl schwankt je nach den
Umständen. So kamen, wie unser Landsmann Eduard
Rüppell aus Frankfurt 1829 angab, in diesem Jahre
nur 14 mit Pilgern beladene Schiffe vom Ganges und aus
Java, während jetzt die Zahl derselben 39 bis 40 beträgt.
Wir wissen aber, daß im untern Bengalen die Cholera
endemisch ist. Der bekannte englische Reisende Wellsted
beobachtete, daß gerade während der „Pilgerzeit" die
Krankheiten an der arabischen Küste und in Mekka Vorzugs-
weise häusig sind. Der Hafenplatz Dfchidda ist ungesund
und hat schlechtes Wasser. Die Pilger sind durch die An-
strengungen der Reise ermüdet; dann legen ste, statt ihrer
gewöhnlichen Kleider, sobald sie sich der heiligen Stadt
nähern, das heilige Gewand, Jh ram, an, welches nur aus
leichtem Baumwollenzeug besteht. Dysenterie, Fieber und
Beingeschwüre sind dann an der Tagesordnung, und dazu
kam in diesem Jahre, 183.1, noch die Cholera. Vorder
Zeit der großen Feste war sie nur vereinzelt aufgetreten;
die Araber behaupteten, daß sie durch die Pilger aus
4
26 Die mohammedanischen Pilgerkarawa
Indien eingeschleppt worden sei. Als dann so viele
tansende sich in Mekka zusammen drängten, richtete sie so
entsetzliche Verheerungen an, daß etwa die Hälfte der Pilger
von ihr hinweggerafft wurde; auch die Statthalter von
Mekka und Dschidda und der Pascha, welcher den syrischen
Hadsch von Damaskus her uach der heiligen Stadt geleitet
hatte, erlagen ihr. Man konnte die Todten nicht einzeln
begraben, sondern warf sie zu Hunderten in Gruben. Wer
fliehen konnte, zog fort und wochenlang war die Straße
von Mekka nach Dschidda mit Sterbenden und Todten
förmlich befäet. Die Krankheit folgte den Pilgern der
Küste entlang und ergriff die Städte Bambo, Suez und
Kairo. —
So weit Wellsted. In Aegypten hatte man gar keine
Vorsichtsmaßregeln getroffen. Man müßte im Orient eine
strenge Gesundheitspolizei einrichten, von einer solchen haben
aber die Leute im Morgenlande keinen Begriff. Nun sind,
wie schon gesagt, Mekka und Dschidda an und für sich
ungesund, uud an beiden Plätzen bleiben Fremde nur aus-
uahmsweise verschont. Das hat schon Burckhardt hervor-
gehoben. In Dschidda sind die Faulfieber ansteckend; in
Mekka raffte 1815 die Pest den sechsten Theil der Ein-
wohner hinweg. Die Pilger finden zumeist eiu schlechtes
Unterkommen und eben so schlechte Nahrung; manchmal
ist sogar Mangel an Lebensmitteln und man bringt Leichen
in die große Moschee, damit dort der Jman ein Gebet über
sie spreche. Auch Sterbenskranke trägt man dorthin,
weil man meint, daß sie durch den Anblick der Kaaba
geheilt werden könnten, oder damit sie doch wenigstens den
Trost haben, an jener heiligen Stätte zu verenden.
Nach Abzug der Pilger gleicht Mekka einer großen
Miststätte; Schmutz uud widerwärtiger Uurath liegen
überall umher, und keiner denkt daran, sie zu entfernen.
Burckhart saud vor den Thoren eine Menge von verfaulen-
den Kameelen, und der pestilentialische Gestank war überall
in der Stadt zu verspüren, in welcher viele böse Krank-
heiten herrschten. Manche Thierleichen lagen an den
Brunnen, aus denen die Pilger Wasser schöpfen.
Medina wird von Burckhardt gleichfalls für äußerst
ungesund erklärt. Erde und Wasser sind salzhaltig; un-
weit der Stadt liegen Sumpfe mit stehendem Wasser;
Fieber sind gewöhnlich epidemisch; als der Reisende sich
dort befand, starben 80 Leute iu einer Woche am Fieber;
Gallenkrankheiten und Gelbsucht sind häusig. —
Die Thieropfer, welche jüngst bei Mekka so ver-
hängnisvoll geworden sind, gehören nun einmal zu deu
vorgeschriebenen Bräuchen der Pilgerschaft; aber es liegt
im Bereiche der Möglichkeit, es dahin zu bringen, daß nicht
viele taufende vou Schafen auf einmal geschlachtet
werden. Die Doctoreu des Islam verstehen sich auf das
Deuten uud Erläutern der Gesetzesvorschriften sehr wohl;
man müßte sie dahin bringen, daß sie die Zahl der Schlacht-
opser wesentlich verringerten, daß sie befählen, die Einge-
weide k. müßten verbrannt oder eingegraben werden, daß
immer einige Tage verstreichen müßten, bevor neue Pilger-
schaareu abermals Opserthiere schlachteten, und daß man
gefallene Thiere sofort verscharren solle. Das Alles würde
sich in Europa zwar vou selbst verstehen, aber im Orient
hat man ganz eigentümliche Ansichten.
Dfchidda ganz besonders müßte unter strenge Auf-
sicht gestellt werden, weil in diesem Hafen von Mekka die
Pilger, und zwar oft in sehr großer Menge, längere Zeit
verweilen. Das letztere gilt insbesondere von solchen, die
ganz ohne alle Mittel sind. Sie wissen nicht, wie sie wie-
der fortkommen sollen, sie haben kein Geld, um die Schiffs-
n und die epidemischen Krankheiten.
fracht zu bezahlen, und die reichen Pilger sind, wie Rüppell
hervorhebt, nur selten freigebig.
Ein Uebelstaud liegt auch darin, daß die Behörden sich
als Erben jedes Fremden betrachten, der im heiligen Land
stirbt und keinen Verwandten bei sich hat. Sie nehmen
die Habe des Todteu an sich und machen guten Prosit.
Allen jenen Uebelständen ließe sich abhelfen; es gibt
aber auch andere, gegen welche der Mensch nichts vermag.
Dahin gehört der Einfluß des Simum uud des Tscherd,
jeuer höchst schädlicheu Winde, durch welche, wie schon
Niebuhr nachgewiesen hat, die Fänlniß gestorbener
Menschen und Thiere ungemein beschleunigt wird. Schlimm
ist ferner, daß die meisten Pilger großen Mühseligkeiten
uud Entbehrungen unterworfen find, und daß sie an sehr
vielen Haltestellen nur brakiges Wasser antreffen; auch sind
die Lebensmittel gewöhnlich knapp, weil Jeder seinen Be-
darf mit sich führen muß; in der Wüste ist ja nichts zu
bekommen. Sodann das K l i m a. Die Hitze ist ungemein
drückend und wirkt abspannend; die Sturmwinde und Platz-
regen wirken auf die mit den: leichten Jhram bekleideten
Menschen höchst uachtheilig.
Der alte Wahn der Muselmänner, dem zufolge in den
heiligen Städten keine Seuche entstehen könne, ist längst
Verstogen. Aber was soll dagegen geschehen? Die Re-
ligion verbietet den Bekennen: des Islam jede
Maßregel der Vorkehrung gegen Alles, was
sie als den Willen des Himmels betrachten.
Rüppell erzählt, daß 1831 in Mekka und Medina
unmittelbar nach dem Beiram feste mindestens 50,000
Menschen an der Cholera gestorben feien. Der Reisende
befand sich in Suez, als dort ein von der ägyptischen Re-
gierung gesandter europäischer Arzt eintraf, um eine
Quarantäne einzurichten. Am 9. Juli langte der aus
Moghrebinern (d. h. aus dem nordwestlichen und nördlichen
Afrika, namentlich aus der sogenannten Berberei und
Marokko stammenden Wallfahrern) bestehende Vortrab der
Pilgerschaaren an. Sie sollten zehn Tage an dem vier
Stunden von der Stadt entfernten Brunnen campiren,
auch wollte man ihr Gepäck lüften. Aber man hatte in
Kairo uicht daran gedacht, wovon inzwischen diese Leute
und Thiere leben sollten, und daß zehn ägyptische Reiter
nicht hinlänglich seien, eine so große Menge Menschen ab-
zusperren. Schon nach zwei Tagen zogen die Moghrebiner
ab nach Kairo hin, und gleich nachher lief in Suez eiu
Schiff eiu, welches deu Nachlaß vieler, die unterwegs
gestorben waren, an Bord hatte. Wenige Wochen später
wüthete die Seuche in Aegypten.
Das heilige Land der Muselmänner, Beled el
H a r a m, begreift uicht die ganze Provinz Hedschks, son-
dern die Küstenregion im Westen des Gebirges, das steinige
Land, den niedrigen Ufersaum, das sogenannte Tehama.
Dort liegt das oben mehrfach erwähnte Dschidda, wo
mindestens zwei Drittel der Pilger landen und sich auch wie-
der zur Heimreise einschiffen. Die Zahl der Bewohner beträgt
20 bis 25,000 Seelen; in den Monaten Juli und August
sind aber manchmal 60,000 Menschen und mehr dort zu-
sammengedrängt. Iu jenen Monaten steigt die Hitze auf
40" E., uud uach dem Simum (Ostnordost) auf 55"!
Die weniger heißen Perioden sind noch ungesunder, weil
dann Westwind geht, welcher die Ausdünstungen des
Schlammes im Hafen und auf der Rhede in die Stadt
hinein treibt. Das Trinkwasser ist sehr schlecht und schmeckt
bitter; bei vielen Pilgern erzeugt dasselbe Leberkrankheiten,
an denen sie sterben. Zwar hat jedes Haus eiue eigene
Aus äffen
Cisterne, es ist aber vorgekommen, daß der Regen einmal
sechs Jahre hintereinander ausblieb. Man nmßte sich also
mit dem schlechten Brunnenwasser behelsen, das schon nach
24 Stunden von Ungeziefer wimmelte. Die Südwinde
sind drückend heiß, feucht und ungesund, namentlich im
September und Oktober. Dieser Stadt ist nur zu helfen,
wenn der schlammige Vorhafen ausgefüllt wird, wenn man
die Sümpfe in der Umgebung austrocknet, streng auf Rein-
lichkeit achtet und Vorkehrungen trifft, damit die Pilger ein
ordentliches Unterkommen finden. Quarantänemaßregeln
wären unbedingt nöthig.
Der Hafenplatz Uambo liegt nördlich von Dfchidda
unter 24" 10' uördl. Br. Der Ankerplatz ist gut, und
hier landen die Pilger, welche nach Medina ziehen.
Nach dieser Stadt geht in ruhigen Zeiten aller 14 Tage
eine Handelskarawane, welche den 56 Lieues langen Weg
in vier Tagen zurücklegt. Diese Stadt hat gleichfalls
schlechtes Wasser.
Um wieder auf Mekka zu kommen, fo ist es, wie schon
bemerkt, ein Gebot für die Pilger, daß sie im Thale
Mina einen Widder, eine Kuh, einen Bock oder ein
Kameel schlachten. Die großen Feste fallen, nach dem mnfel-
männischen Kalender, in jedem Jahre um zehn Tage später.
Im Jahre 1865 begannen sie im Mai, sie werden also
eine Reihe von Jahren lang in die Sommermonate fallen,
und das kann wieder höchst gefährlich werden.
In Arabien reisen die Pilger gewöhnlich während der
Nacht. Die Armen gehen zu Fuße und halten sich zumeist
so viel als möglich in der Nähe derer, welche ans Eseln reiten
oder sich von Kameelen tragen lassen. Alle haben nur sehr
unregelmäßigen Schlaf; sie haben den Turban abgelegt,
das Kopfhaar abgeschoren, gehen barfuß und barhaupt und,
wie gefagt, nur mit dem Jhram bekleidet. Erst nachdem
sie alle Ceremonien verrichtet haben, legen sie ihre gewöhn-
liche Tracht wieder an.
Uebrigens hat die Dampfschifffahrt einen großen Ein-
flnß auf das Pilgerwesen ausgeübt. Die Zahl der Wall-
fahrer ist beträchtlicher als in früheren Zeiten; sie werden
ungleich rascher befördert als ehemals. Aber jetzt kommen
eben in Folge davon Krankheiten in jene Gegenden, die
sonst von denselben verschont blieben; denn die Landreise
ging langsam von Statten und während derselben starben
die Kranken hin; die, welche in ferne Länder heimkehrten,
waren gesund geblieben. Im Jahr 1814 zählte man
etwa 80,000, Wellsted nahm ungefähr 120,000 für das
Jahr 1831 an; gegenwärtig soll die Ziffer bis auf 150,000
gestiegen sein.
!rdtheilcn. ~ <
Noch immer macht ein großer Theil derselben den Weg
zu Lande, z. B. der sogenannte syrische Hadsch. Diese
Karawane hat ihren Ausgangspunkt iu Konstantinopel,
zieht durch Kleinasien und Syrien, unterwegs eine beträcht-
liche Anzahl kleiner Pilgergruppen ausnehmend, bis nach
Damaskus, von wo sie 30 bis 40 Tage gebraucht, um
Mekka zu erreichen. Die ägyptische geht von Kairo aus
und zieht dem Gestade des Rothen Meeres entlang. Diese
Straße ist gefährlich wegen der räuberischen Beduinen,
Wasser unterwegs selten und fast immer schlecht; manch-
mal liegen die Brunnen ein paar Tagereisen von einander
entfernt. Viele Pilger schiffen sich aber auch in Suez aus
Segelfahrzeugen oder auf Dampfern eiu. Die persischen
Pilger kommen theils auf dem Landwege; der Sammel-
platz ist Bagdad, und von dort ziehen sie durch das Nedsched
nach Mekka; theils schiffen sie sich in Basra ein und landen
in Mokka oder Dfchidda. Die moghrebinifche Kara-
waue ist nicht regelmäßig; den Anfangspunkt derselben
bildet Marokko; sie zieht dann Nordafrika entlang durch
Algerien, Tunesien, Tripolitanien, und weiter nach Aegyp-
ten. Sie ist schou an 8000 Köpfe stark gewesen; in der
nenern Zeit fahren aber auch viele Moghrebiner zu Schiffe
bis Kairo. Eine Pilger flotte kommt im Mai aus
Indien; sie bringt im Durchschnitte 2000 Mann aus
Indien, 1800 aus dem indischen Archipelagns, 4000 aus
dem Persischen Meerbusen und 3000 aus Südarabien.
Die Muselmänner aus Indien, Java, dem Archipelagns
und China kommen, wie gesagt, im Mai, zumeist aus eug-
tischen Fahrzeugen und fahren im August wieder nach
Hanse. Gewöhnlich sind diese Schiffe in ganz nnverant-
wortlicher Weife überfüllt, und hier wäre wenigstens eine
eben fo strenge Aufsicht am Platze, wie sie für die Aus-
wandererschiffe in Europa vorgeschrieben ist. Jedes Schiff,
das vom Ganges kommt, ist von vornherein höchst verdäch-
tig, denn dort ist die Cholera endemisch.
Durch die Eisenbahn zwischen Alexandria und Suez
und die Fahrteu der ägyptischen Dampfer im Rothen Meer
sind die Pilgerzüge noch gefährlicher als früher geworden.
Wenn man bedenkt, daß die Region, aus welcher Pilger
nach und von Mekka strömen, vom Senegal bis in den
malayischen Archipelagus und China, und von der türkischen
Grenze in Europa bis zum Aeqnator reicht, dann begreift
man sofort, wie weit ansteckende Krankheiten verschleppt
werden können, und wie nöthig es bei der Zunahme des
Weltverkehrs und der Vermehrung der Verbindungsmittel
in unseren Tagen geworden ist, wirksame Vorkehrungen
gegen die Verbreitung der Seuchen zu treffen.
Aus allen Erdtheilen.
G. E. Ravensteins Karte der Vereinigten Staaten,
Kanada, Mexico, Mittelamerika und Westiudien.*) (Hild-
vurghausen, im Bibliographischen Institut.) Mit wahrem
Genügen und Vergnügen ruht das Auge auf den vier Blättern
uqcv schönen Karte. Auf einen Blick übersehen wir die weiten
X™ der Neuen Welt vom 49" 91 bis zum Busen von
,mS MM* lc Terramzeichuuug ist klar, der Stich vortrefflich,
IvJn,« rc* .lösche Untersuchung wird nichts Wesentliches
WiV.k n a«^> cin Verdienst des Kartographen, daß er
nicht nn Mindesten überladen hat; dadurch wurde es möglich,
Karten.^ComPltt $&?.* ber "^sten Erdbeschreibung in 100
ein Hauptersorderuiß jeder guteu Karte, die Nebersichtlich-
feit, zu ihrem vollen Reckte zu bringen. Wir haben einmal
gelesen, daß viele Lente Alles ans einer Karte finden wollen,
^,wo möglich auch ihr Billardzimmer und ihre Kegelbahn". Für
Solche sollte man überhaupt gar keine Karte entwerfen.
Eine Übersichtskarte Ammka's kommt gerade zu rechter
Zeit. Politisch betrachtet hat der ganze westliche Theil Nord-
amerika's eine neue Gestalt gewonnen. Vor einem Menschen-
alter war das weite Gebiet vom Mississippi bis zum Gestade
des Großen Oeeans zum größten Theil eine Einöde, in welcher
nur Indianer, Pelzjäger und Karawanen umherzogen. Die
Staaten am rechten Ufer des Mississippi: Louisiana, 'Arkansas,
28 Aus allen
Texas, Missouri und Iowa waren erst schwach bevölkert, nach
Minnesota kaum einige Ansiedler vorgeschoben. Missouri wurde
schon zum „fernen Westen" gerechnet und die einzelnen, weit
von einander liegenden Forts waren zumeist Handelsposten der
Pelzhändler, bei welchen auch die Karawanen rasteten.
Heute sind diese einst am Rande der großen Einöde gele-
genen Staaten zu Ceutralstaaten geworden und der Begriff
des fernen Westens hat sich alljährlich weiter gegen Abend gerückt.
Zwischen diesen Centralsjaaten und der Küste der Südsee eut-
standen binnen 16 Jahren mehr als ein Dutzend neue Staaten
und Gebiete zu beiden Seiten der Sierra Nevada und der Felsen-
gebirge. Diese neuen Regionen haben regelmäßigen Postverkehr,
und von Westen, wie von Osten her rückt die große pacifische
Eisenbahn immer weiter vor; man hofft, dieselbe im Jahre 1872
vollenden zu können. Diese Staaten und Gebiete zeigen aus
Ravensteins Karte eiue ganz vortreffliche Terrainzeichnung, auch
fiud die Handelswege und Poststraßen angegeben. Am Gestade
des westlichen Meeres liegen von Norden nach Süden Wafhing-
ton Territory, Oregon und Kalifornien; östlich von
ihnen Idaho, Nevada, Utah uud Arizona, noch weiter
östlich hinter diesen Montana, Dakotah, Colorado und
Neu Mexico; und wieder östlich: ein Theil von Dakotah,
Nebraska, Kansas und das Indianer-Territorium.
So hat sich die „great American desert" der früheren Karten mit
Menschen gefüllt nnd wir lesen die Namen dieser neuen Staaten
und Gebiete täglich iu deu Zeitungen. Sie haben für Handel
und Civilisation schon jetzt eine nicht geringe Bedeutung, uud
an Gold- uud Silberreichthum stehen manche von ihnen kaum
hinter Kalifornien zurück.
Das Blatt, welches die östliche Abtheilung der Bereinigten
Staaten enthält, weist natürlich mehr Städteimmen auf als die
noch dünn bevölkerte Westregion, aber die Deutlichkeit ist da-
durch keineswegs beeinträchtigt worden, und die verschiedenen
Nebenkarten bilden eine sehr willkommene Zugabe (Bevölkerungs-
karte, Mündungen des Mississippi, Neuyork und Manhattan
Island, Ostvirginien und Maryland).
Die beiden anderen Blätter stellen Mexico, Central-
amerika und Westindien dar. Wir finden anf denselben
als Nebenkarten: die Umgebung der Hauptstadt Mexico, die pro-
jektirte Hondurasbahn, die Landenge von Panama, den Hafen
von Havana und eine Höhenschichtenkarte von Nord- und
Centralamerika. Auch von diesen beiden Blättern können wir
nur Gutes sagen. Raven steius Karte gehört zu den besten,
welche wir über Amerika kennen und mächt unsrer deutschen
Kartographie alle Ehre.
Die Gründe und Veranlassungen zur Auswanderung der
Tscherkesseu ans dem Kaukasus.
Binnen ein paar Jahren haben nicht weniger als 470,000
Menschen ihre alte Heimat im westlichen Kaukasus verlassen,
um nach der Türkei überzusiedeln. Eine Volkswanderung in
solchem Umfange kann beispiellos genannt werden, und die Um-
stände, unter welchen sie vor sich gegangen ist, sind von höchst
merkwürdiger und eigentümlicher Art.
Die Ursassen des Kaukasus habeu sich niemals zur Civili-
sation emporgearbeitet, sondern sind immer in einer allerdings
interessanten Halbbarbarci stecken geblieben. Was sie kennzeich-
net, ist die Zerklüftung, der Mangel an organischem Zusammen-
hang. Sie find nicht über Stamm, Sippe, Clanschaft hinaus-
gekommen, haben es nie bis zur Bildung eines eigentlichen
Staates zu bringen vermocht. Sie sind weder durch das
Christenthum noch durch deu Mohammedauismus zu einer
höhern Sittignng gebracht worden.
Die ganze westliche Hälfte des Kaukasus und ein Theil der
anliegenden Ebene ist, oder war vielmehr bis vor Kurzem von
zwei Völkerstämmen bewohnt, von den Adyche (oder wie man
bisher gewöhnlich schrieb Adighe) nnd den Asega oder Ab-
chasiern. _ Der eigentümliche Charakter der Gegend, die
Schwierigkeit der Verbindungen, die Zersplitterung der zn An-
siedlungen geeigneten Oertlichkeiten, die hafenarme Ostküste des
Schwarzen Meeres, welche nur unsichere Rheden darbietet,
wirkte wesentlich ein auf das ganze Leben und Treiben der
Bewohner dieser Region. Was wir Ordnung und Gesittung
nennen, fehlte ihnen stets.
Die Adyche bilden den großen Volksstamm, welchen wir
gewöhnlich als Tscherkessen bezeichnen. Er zerfällt in zehn
Volkszweige, von welchen die Aabdfechen uud Schapfsugen oft
genannt worden sind. Die ersteren wohnten am Nordabhange
des Gebirges, in den Thälern der Flüsse, welche in den Knban
fallen, und sie zählten 1861, als sie sich den Russen unter-
Erdtheilen.
warfen, etwa 100,000 Köpfe; die Schapfsugeu zählten 150,000
Seelen; die Natnchai'zen bei Anapa und in dem dortigen
Gebirge 40,000; die Kabardiner, in deren Lande der Terck
fließt, zählten 1865 nur noch 41,000; die Kopfzahl der übrigen
Stämme hat man auf etwa 70,000 veranschlagt.— Die Asega
bestehen aus vier Zweigen: den Ssadseu oder Dschigeten,
11,000; den Abchasen, 80,000; den Sambal oder'Zebel-
dinern, 8000, nnd sechs kleineren Stämmen, die zusammen nur
5000 Köpfe zähleu.' Die ersten drei lebten auf der Südseite des
Hauptgebirgcs westlich von Mingrelien, die kleineren am Nord-
abHange. Am Südabhange lebten auch die 20,000 Ubycheu.
Soeben ist ein Werk erschienen, das einen tiefen Einblick
in das innere Leben der kaukasischen Bergvölker gewährt und
das manche Aufschlüsse über Wesen und Charakter derselben
gibt. Wir meinen die „Sagen uud Lieder des Tscher-
kesseuvolkes, gesammelt vom Kabardiner Schora
Bekmnrsin Nogmow. Bearbeitet uud mit einer
Vorrede versehen von Adolf Berge. Leipzig 1866,
bei Otto Wigand." Das kleine Werk enthält wichtige Bei-
träge zur Ethnographie; wir wollen uns aber hier nur mit der
Vorrede des Hrn. Berge beschäftigen, weil sie von einem durch-
ans kundigen Manne herrührt nnd helle Schlaglichter auf Ver-
Hältnisse wirft, die von Wichtigkeit sind, welche aber bisher
zumeist einseitig dargestellt worden sind. Wir begreifen nun
sehr wohl, wie es kam, daß die große Volkswanderung statt-
fand. —
Niemals hat irgend eine der tscherkessischen Völkerschaften
einen zusammenhängenden politischen Körper gebildet. Jede
theilte sich nach ihrer Familienabstammuua in eiue große An-
zahl gesonderter Sippen, und diese Geschlechterbüude zerfielen
wieder in gesonderte Familien. Diese bildeten, mit den ihnen
nnterthänigen Sklaven, das erste Glied der gesellschaftlichen
Kette. Regierungsbehörden, Gemeindegewalten oder
bürgerliche Verbindungen waren durchaus unbe-
kannt. Man hatte nur Anfänge, Rudimente zu einer Ge-
fellschaft, die aber nicht weiter' gingen und keinen andern
Inhalt hatten, als daß die Mitglieder. eines Familienbundes
anderen Verbindungen gegenüber zu gemeinsamer Vertheidi-
gnng und Rache verpflichtet find. Im Stamme wurden,
wenn das Bedürfnis vorhanden war, Volksversammlungen ein-
berufen, die einen lediglich berathenden Charakter hatten. Feh-
den nnd Streitigkeiten zwischen Völkerschaften, Verbindungen
und Privatleuten wurden dnrch Schiedsgerichte, die für den
besondern Fall gewählt waren, ausgetragen. Ständiqe Richter
gab es nicht; den Mullahs, mohammedanischen Geistlichen,
legten wohl die Parteien nach gegenseitiger Uebereinknnst einen
streitigen Fall vor, „aber das geistliche, durch den Islam ein-
geführte Gericht gehört nicht zur Zahl der volkstümlichen In-
stitutionen".
Bekanntlich sind die tscherkessischen und abchasischen Völker-
schasten in einige Stände getheilt; Aristokratie, eine Art von
Mittelstand nnd abhängige Sklaven. Dazu kommt die wenig
zahlreiche Geistlichkeit, welche nicht zu den alten Ständen gehört.
Unter den Tscherkessen hatten Fürsten nnd Edellente alle'Macht
verloren, bei den abchasischen dagegen dieselbe bewahrt. Unter
den trauskubauischen Tscherkessen hatten die Wolksklassen der
Tchwochetli den Adel aller seiner Vorrechte beraubt.
Ueberall ganz ungezügelte Freiheit und Willkür, daher denn
auch immerwährende Fehde. Seit dem Anfange des 16. Jahr-
Hunderts macht sich bei den Bergvölkern türkischer Einfluß
bemerkbar, aber nie sind sie den Osmanen völlig nnterlhan
geworden, und diese mußten sich auf die Besitznahme einiger
Küstenpunkte (Poti, Suchum Kaleh nnd Gelendschik) beschränken.
Das Jahr 1783 bildet einen Wendepunkt. Rußland kam
in Besitz der Krim, nnd der Kuban wurde Grenze zwischen
dem Reiche des Czars und jenem des Sultans. Die Russen
legten zur Sicherung derselben eine Reihe von Kosackendörsern
(Stanitzen) an, sie bildeten die „kaukasische Verteidigungs-
linie", und von nun an waren sie in unablässiger, und zwar
zumeist feindlicher Berührung mit den Bergvölkern. Ueberfälle und
Raubzüge kamen an die Tagesordnung.' Im adrianopeler Frie-
den von 1828 entsagten die Türken ihren Ansprüchen auf deu
westlichen Kaukasus, uud von da an baueten die Russen Festungs-
werke am Nordostufer des Schwarzen Meeres. Aber die Berg-
Völker blieben nach wie vor mit den Türken in Verbindung,
wurden von ihnen mit mancherlei Bedarf versorgt und bezahlten
denselben zumeist mit Sklaven, namentlich mit'hübschen Mäd-
chen. Allmälig gelang es aber den Russen, „Tauschhöfe" in der
Nähe ihrer Bürgen zu gründen nnd mit den Bergvölkern in
Handelsverbindung zu kommen; ja, es bildete sich unter den
Transkubanern eine Partei, welche Frieden mit den Mosko-
witern zn halten geneigt war.
Aus allen Erdtheilcn.
39
Aber vor mm 26 Jahren entstand die fanatisch-mohammc-
danische Bewegung des Müridismns im Daghestan, also im
östlichen Kaukasus ; von dort kamen Sendlinge zu deu westlichen
Völkern uud predigten denselben als heilige Pslicht einen reli-
aiösen Krieg gegen'die Ungläubige». Schamyl sandte veriraute
Männer zu den Transkubanern und machte den Versucb, bei
dieseu einen fest zusammenhängenden Bund zu bilden. So viel
wenigstens bat er erreicht, daß seit 1849 etwas mehr Zusammen-
bang in die Operationen gegen Rußland kam. Dieses sah sieb im
Kaukasus während des Krimkrieges geläbmt, denn die Türkei
schickte den Bergvölkern auch Soldaten. Nach 1856 aber wnrde
von Seiten der Russen der Krieg mit größerm Nachdruck als je
zuvor wieder aufgenommen; sie unterwarfen deu östlichen Kau-
kasus und 1859 siel Schamyl als Gefangener in ihre Hände.
Sie konnten nun ihre au deu Gebirgskrieg gewöhuteu Truppen
zumeist im westlichen Kaukasus verwenden. Mehre Stämme
versprachen Gehorsam, sehten aber ihre Raubzüge fort, durch-
brachen die russischen Linien und ließen die, gleichfalls Nanb-
züge unternehmenden Ubychen und Schapssugeu durch.
Die russische Regierung beschloß dann 1869 eine entschei-
dende Maaßregel durchzusetzen, nnd die „durch Emissäre und
Abenteurer verschiedener Nationen fortwährend aufgewiegelten
Völkerschaften" zur Botmäßigkeit zu zwingen. Die Stämme,
welche sich an den Raubzügen betheiligt hatten, sollten aus der
Gebirgs- und Uferregion auf die Ebene am linken Ufer
des Kit beut gedrängt werden, wo sie sich dann der Aussicht
der russischen Behörden um so weniger entziehen konnten, weil
die Vorberge und die Eingänge znm Kaukasus durch Kosacken-
stanitzen bewacht werden sollten.
Herr Berge bemerkt: „Als die russische Regierung au deu
neuen Kriegsplan aing; hatte sie weder die Ausrottung der
Bergvölker durch Waffengewalt, nocb deren Veri'agung aus dem
Gebiete des Kaiferstaates im Aitge. Um die zukünftige Lage der-
selben zu sichern, bestimmte sie' zur Niederlassung für sie die
ganze Niederung am Kuban, fo daß ans jede Seele 6 bis 7
Dessiätinen, also 25 bis 39 Morgen, fruchtbaren Landes kämen."
Aber in Folge ganz eigentümlicher Umstände scheiterte dieser
Plan.
Bis zum Ausbruche des Krimkrieges hatten diejenigen
Bergbewohner, welche von Rußland abhängig waren, ohneAn-
stand Erlaubnis? zur Reise in die Türkei, nach Mekka oder auch
zu Handelszwecken erhalten. Im Durchschnitt verließen jährlich
nur etwa 39 Familien das Land. Während des Krieges mit
den Osmanen war jene Erlanbniß nicht ertheilt worden; nach
dem Frieden verlangten etwa 159 Familien nach der Türkei und
Mekka zu gehen, etwa 1599 Köpfe. Die Russen aber wollten
eine Auswanderung in die Türkei nach Möglichkeit beschränken
und verordneten, daß in jedem Jahre nur 89 Mann entlassen
werden sollten. Inzwischen erfuhren die Bergvölker, daß viele
Tataren aus der Krim nach der Türkei gezogen seien, uud dann
liefen Aufrufe um, in welchen die Geistlichen jeden
Gläubigen aufforderten, in die Türkei auszuwan-
dern, wo sie angeblich die beste Ausnahme finden nnd besser
leben würden als unter der Herrschaft Ungläubiger. Die
Mullahs verbreiteten die Nachricht, daß Rußland die Berg-
Völker zwingen wolle, ihrem Glanben untreu zu werden.
Man sieht, wie tief das religiöse Element in alle diese
Dinge hineinspielt. Im Jahre 1859 wurde der Commandern'
des kuban'schen Landstrichs, Jewdokimow, bestürmt, die Wall-
fahrt nach Mekka zu gestatten. Er gab sie, um eine offene Er-
Hebung zu verhindern, doch so, daß immer nur je 19 Familien
abziehen dursten. Nun entstand eine beispiellose Bewegung.
Man kümmerte sich nicht um dieses Gebot; „die zur Auswan-
dernng Entschlossenen hörten auf, der Wirtschaft obzuliegen,
veräußerten Hab und Gut nnd begannen, nach der Türkei auf-
zubrechen; schon nicht mehr mit blos religiösen Zwecken, sondern
rein znr Auswanderung, um unter dem hohen Schutze des Bc-
Herrschers der Gläubigen zu leben, von dem sie alles Wohl
erwarteten. Nicht schwer wäre es gewesen, die Bewegung durch
Gewalt aufzuhalten; doch eine solche Maßregel hätte das Land
mit Leuteu überschwemmt, die durch den Verkauf ihres Besitzes
sich der Mittel zum Unterhalte beraubt hatten nnd wider ihren
Willen Räuber geworden wären. Außerdem war es viel
vortheilhaster, alleu Unzufriedenen freien Ans-
flftng zu geben uud im Lande blos die zu behalten,
welche mit ihrer Lage zufrieden waren. Endlich
konnte, man darauf rechnen , daß die nähere Bekanntschaft mit
der .uirM den Nimbus vernichten werde, welchen der Name des
% ' • rry a 1 g ^Sultan), in Folge der Ränke mohammedanischer
Emissäre, cmf alle russischen Muselmänner machte."
Im Lause der Jahre 1858 uud 1859 wanderten aus dem
kuban'schen Landstrich 39,999 .Muselmänner nach der Türkei
aus; 1869 stockte die Auswanderung, weil ungünstige Gerüchte
über das Schicksal der ausgewanderten uogayischeu Tataren viele
Leute bedenklich machten.
Dem Kriegsplane der Russen zufolge wurden 186i neue
Kosackenstamtzen im Qncllgebiete des Knban, der Laba und des
Chods gebaut, und 1862 gelang es, ungeachtet des verzweifelten
Widerstandes der Bergvölker, welche nun fast alle gemeinsame
Sache gemacht Haltens alle Vorberge vcm Flusse Laba bis zur
Belaja durch Kosackenposten zu besetzen. Dadurch wurden alle
Gemeinden abchasischen Stammes nnd alle nach vornehm woh-
nenden tscherkesuschen Völkerschaften in die Notwendigkeit ver-
setzt, entweder die Forderungen der Russen zu erfüllen, d. h. ans
die ihnen angewiesenen Landstrecken überzusiedeln, oder das Land
ztt verlassen. Etwa 19,999 Kabardiner nnd einige kleinere
Stämme verstanden sich zu ersteren, während andere nach dem
Südabhange des Gebirges oder auch zu den Abadsecheu fort-
zogen, aber schon im nächsten Winter nach der Türkei gingen.
Im Jahre 1863 hatte der hartnäckige Widerstand der Berg-
Völker aufgehört; nach nnd nach kamen auch Abadsecheu und
Schäpingen in die Ebene zn den Russen. Die Stimmung
wurde ruhiger, schlug aber sofort um, als wieder einmal Hülfe
aus der Fremde in Aussicht gestellt wurde. . Die Leichtgläubigen
erwarteten eiue französische Armee oder eine. englische Flotte.
Im Herbst kamen 49 europäische Abenteurer mit 4 Kanonen zn
den Ubychen nnd gaben sich für deu Vortrab eiuer großen
Hülfsarmee aus Nun zogen diese Ubychen fort von ihren
Feldern uud Wohuuugeu iu die Wälder der Hauptkette oder au
den Südabhaug, lilteu große Entbehrungen nnd wurden von
den Blattern heimgesucht, die damals am ganzen Osiuser des
Schwarzen Meeres wütheteu. Inzwischen waren russische Heer-
säulen ihnen an den Südabhaug nachgeschickt nnd drängten sie
alle nach dem Meeresnfer biu. Dorthin hatten die Türken
Segelschiffe uud Dampfer geschickt; auch wurden jetzt wieder
Aufrufe erlassen, welche Gastfreundschaft bei den Osmaueu ver-
sprachen.
Noch bevor die russischen Truppen am Südabhange waren,
hatte die Auswanderung schon begonnen; mehr als 69,999
Auswanderer schifften sich ein, nnd im Frühjahr 1864 war
der Andrang noch größer. Herr Berge bemerkt, daß nun die
russische Regierung alle möglichen Maßregeln getroffen habe,
um die Ueberschisfuug nach der Türkei sicher zn stellen; sie habe
den Aermsten Geldunterstützungen gegeben, Schiffe gemiethet,
anch Kriegsfahrzeuge mit Auswanderern beladen.
Im Laufe der ersten Hälfte des Jahres 1864
betrug, amtlichen Nachrichten zufolge, die Zahl der Ans-
Wanderer 3 18,968 Köpfe. Iii den Jahren 1858, 1859,
1862 und 1863 etwa 89,999, so daß also.au 499,999 „Seelen"
nach der Türkei übergesiedelt waren. Seitdem sind noch etwa
59,999 bis 79,999 nachgefolgt.
Aber von denen, welche im westlichen Kaukasus bis zur
Grenze der Kabarda nnd Abchasiens gelebt hatten, sind, bis
gegen das Ende des Jahres 1865, doch etwa 199,999 Köpfe
Zurückgeblieben. Sie wohueu mm iu drei Bezirken an den
Flüssen Kubau nnd Laba. Die Kabardiner' Abchasen
Zcbeldiner nnd Samursakaner haben ihre alten
Wohnsitze nicht verlassen.
..Aber der westliche Kaukasus ist nun zum größten Thcil
entvölkert. Vom wissenschaftlichen Standpunkte betrachtet, ist
das sehr zu beklagen. „Die Wissenschaft geht nun der Mög-
lichkeit verlustig, diese Völkerschaften der allseitigen Erforschung
ihrer charakteristischen Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten, Sagen,
Überlieferungen uud Sprachen dort zn unterwerfen, wo sie ihre
beständigen Wohnsitze von uralten Zeiten her gehabt und wo
sich , ihr physiologischer uud sittlicher Typus unter dem Einslnsse
örtlicher geographischer Bedingungen ausbildete."
Der unterseeische Vulkan bei der Insel Santorino.
Diese Insel Santorino oder Thira, eine der Kykladen
im griechischen Meere, ist in Bezug auf vulkanische Erscheinungen
eine
we
ist; ,...................... , .. .
Kaimeni, Neo Kaimeni und Mikro Kcumeju. Delikt
man sich den Boden nnd die Inseln über das Wasser erhoben,
so hat mau das Bild eines ovalen, nach allen Seiten allmälig
abfallenden Abhanges; die Wände besteben aus trachytifcheu Tuffen
nnd Eonglomerateii, zwischen welchen Schichten geflossener Laven
liegen. Die in der Milte des Beckens liegenden, ebengenannten
Eilande, die „Verbrannten" (Kaimeni) bestehen ans braunem,
, glasigem Trachyt. Wir wissen, daß 233 vor Christo in Folge
30 Aus allen
eines Erdbebens die Insel Therasia von Thira abgerissen wurde,
und 196 v. Chr. erschien, allem Anschein nach in Folge ganz
langsamer Erhebung, die Spitze von Palaio (Alt-) Kaimeni;
19 V Chr. neben derselben eine neue Insel. Beide vergrößerten
sich 726 und 1429 u. Chr. immer mehr, und zwischen 1707 und
1709 bildete sich Neo Kaimeni an einer Stelle, wo bis dahin
das Wasser 400 Fuß tief gewesen war. Sie stieg langsam
emvor, und an dem Gestein fand man die Austern, welche sich
auf dem Meeresgrund angebaut hatten. Nahe dabei bildete sich
ein Vulkan, und durch dessen Auswürflinge wurde bald eiue
Verbindung mit dem Meeresgrunde hergestellt, so daß nach
einigen Jahren die Insel mit ihrem 330 Fuß hohen Kegel voll-
endet war. Zwischen Mikro Kaimeni und Santorin erhob sich
bisher, wie aus den Lothungen hervorgeht, der Meeresgrund, und
schou 1810 sagte man, daß er bald über die Meeresfläche empor-
treten werde; 1835 hatte er nur noch 12 Fuß Tiefe; 25 Jahre
früher aber 8mal so viel.
Nun ist eben jetzt, am 4. Febrnar 1866, eine
neue Insel in der Bay von Thera (Thira oder San-
torin) über die Meeresfläche emporgestiegen. Sie
erreichte binnen fünf Tagen eiue Höhe von 130 bis 150 Fuß,
eine Läuge von etwa 350 und eiue Breite von 100. Ein Be-
richterstatter der Times (Nr. vom 23. Februar) bemerkt, daß sie
zu wachsen fortfahre. Sie desteht aus cuter rostschwarzen,
metallischen Lava, die sehr schwer ist und halbgeschmolzenen
Schlacken gleicht, wie dergleichen aus dem Hochofen kommen.
Durch die Masse sind viele kleine, weißliche Partikelchen zerstreut,
ähnlich wie Quarz oder Feldspath.
Die oben angedeutete Gestalt von Santorin zeigt, daß die
östliche Hälfte eiu großer Krater ist, der im Halbkreise sich um
eiue Bay zieht, in welcher das Meer den Sitz der vulkanischen
Thätigkeit überdeckt. Deu nordöstlichen Theil bildet die Insel
Therasia. Die Bay ist 6 engl, geographische Meilen laug^nnd
4 breit. Im Centrum aber liegen die schon erwähnten 3 Kaimeni.
Der gegenwärtige Ausbruch begaun am 31. Januar. Man
vernahm ein Geräusch, als ob Geschützsalven abgefeuert würden,
aber von einem Erdbeben wnrde nichts bemerkt. Am folgenden
Tage schlugen Flammen ans dem Meer empor und zwar in
dem Theile der Bay, welcher als Vulkauos bezeichnet wird.
Dort hat das Wasser allezeit eiue eigenthümliche Farbe und ist
in Folge vieler unterseeischer Quellen stets mit Schwefel ge-
schwängert. Die Flammen erhoben sich, in Zwischenräumen, bis
zu 15 Fuß Höhe und loderten manchmal anch am südwestlichen
Theile von Neo Kaimeni ans. Diese Insel wurde durch einen
tiefen Spalt zerrissen und ihr südlicher Theil senkte sich beträchtlich.
Am 4. Februar wurden die Ausbrüche heftiger, die See
wogte sehr unruhig, Gas brach sich mit großem Getöse aus den
Tiefen heraus Bahn, es war. als ob ein Dampfkessel platze,
häufig brachen Flammen aus dein Wasser heraus, fortwährend
stieg weißer Qualm empor und bildete eine ungeheuere Rauch-
faule, welche oben mit dunklen und schweren Wolken gleichsam
gekrönt war. Am andern Morgen sah man die neue Jusel
nnd konnte deutlich bemerken, wie sie alliuälig, im Süden von
Neo Kaimeni, sich emporhob.
Sie ist vom 0r. Dekigalla besticht worden. Die Hitze
des Seewassers stieg, je mehr er sich der Insel näherte, von
62 ans 122° F. Der ganze Boden der See, um Neo Kaimeni
herum, scheint sich gehoben zu haben. An einer Stelle, wo
die englische Admiralitätskarte 100 Faden zeigte, findet man
jetzt nur 30, an einer andern statt 17 nur 3 Faden. Wahr-
scheinlich wird sich die neue Insel, wenn sie noch ferner wächst,
an Neo Kaimeni anschließen. Im untern Theile hatten die
tiefen Spalten eine Hitze von 170" F., der obere Theil der Insel,
nachdem er vier Tage über dem Meere gewesen war, 80" F.
Gegenwärtig liegt das Centrum der vulkanischen Kraft tief
unter dem Meeresboden, und nur Gase und Qualm arbeiten
sich durch die Erdlage hindurch bis zum Wasser hinauf und
dringen mit Geräusch, Flannnen nnd Rauch bis au die Ober-
fläche. Sollte es aber dem Wasser möglich werden, durch einen
Spalt im Boden einzuströmen und jenes Feuer zu erreichen,
durch welches die geschmolzene Metallmasse der neuen Insel bis
über die Meeresfläche emporgehoben worden ist, dann wäre
eine Eruption möglich, wie jene, durch welche Pom-
peji zerstört wnrde, nur würde jetzt die Katastrophe
noch viel schrecklicher sein.
Der Ausbruch, durch welchen Neo Kaimeni (oder Nea Kai-
meite) gebildet wurde, begann 1707, und die vulkanische Thätig-
feit dauerte, ohne den' Bewohnern von Thera Schaden zu
bringen, bis 1713. Es ist möglich, daß die gegenwärtige Eruption
ebeu so lange wächst und sich gleichfalls harmlos zeigt. Aber
1650 hat eiu schrecklicher Ausbruch einen großen Theil von Thera
verwüstet und an dessen Nordostküste eine Insel emporgehoben,
Erdtheilen.
die aber bald wieder ins Meer versank, so daß nur eine seichte
Stelle zurückgeblieben ist.
Die Stadt Kingston auf Jamaica. Bis vor etwa 30 Iah-
ren war sie eine der blühendsten auf den Antillen. Ein Bericht-
erstatter, welchen die „Times" nach der Insel abgeschickt hat, um
die Verhältnisse unparteiisch zit schildern, wie sie sind, schreibt
unterm 15. Januar 1865 Folgendes:
„Fuimus!" „Ich bin einmal gewesen!" so lautet das
Motto von Kingston. Es existirt nur noch von der Erinnerung
an die Tage, da es einen, nun hoffnungslos zerstörten Handel
mit dem südamerikanischen Festlande trieb; es denkt an Zucker
und Rum, an Kaffee und Pfeffer, welche vormals in Menge
erzeugt und ausgeführt wurden. Statt dessen sieht man jetzt
Bettelhaftigkeit und leere Fässer. Auf Schritt und Tritt Armuth
nnd Verfall. Die Quais und Schifssanländen zerbrochen, Läden
verlassen, Waarenspeicher zugeschlossen, und man liest nicht ein-
mal, daß irgendwo etwas zu vermiethen sei. Die Besitzer,
wenn sie auch vermiethen wollten nnd sich ein Miether fände,
würden doch kein Geld erhalten. Reparaturen sind kostspielig,
und statt sie zu unternehmen, läßt man da und dort lieber ein
Haus in Trümmer fallen. Die Straßen büdm rechte Winkel;
wenn die Hänser besser aussähen, die Wege in ordentlichem
Stand erhalten würden und nicht Alles so sehr zerfallen wäre,
dann könnte Kingston eine recht hübsche Stadt sein. Vor eiu
paar Jahren brach mitten in der Stadt eine Feuersbrunst ans;
heilte noch stehen die Trümmer nnd dann und wann stürzen sie
ein; Niemand denkt daran, die Häuser wieder aufzubauen. Selbst
in den Umgebungen sieht Alles traurig aus, und sobald man
die Stadt verlassen hat, befindet man sich sofort inmitten un-
bebaueten Landes, welches einst sorgfältig bestellt war nnd
reichen Ertrag brachte, nnd wo nun Gestrüpp und Wald Alles
überwuchert. Diese Wilduiß beurkundet eine traurige Geschichte.
Freilich hat Kingston Kaufleute und wohlhabende Bürger; diese
bewohnen ihre „Pens", d. h. Landhäuser und üben Gastfreund-
fchaft nach besten Kräften. Es ist niederschlagend, wenn man
durch die Straßen wandelt und überall die Beweise für den all-
gemeinen Verfall sieht. Diese drängen sich anch dem ober-
fachlichsten Beobachter auf. Die Stadt hat eine herrliche Lage,
einen Hafeu, in welchem die ganze britische Kriegsflotte sicher
vor Anker liegen könnte; die Jusel Jamaica ist ausgezeichnet
durch herrliches Klima, fruchtbaren Boden und eiue Fülle Werth-
voller Pflanze». Die Europäer wissen, daß, wenn einmal die
Engländer die Insel räumen würden, die wildeste Anarchie
unausbleiblich wäre. Die Kolonialphilosophie aber lautet:
„Unser Glanz ist dahin." —
Wir wollen bemerken, daß diese Schilderung im Wesent-
lichen mit jener übereinstimmt, welche vor sechs Jahren An-
thony Trollope entworfen hat in seinem Werke: ~The West-
inclies and the spanish Main. In der von Tauchnitz veran-
stalteten Ausgabe nehmen die neun Kapitel über Jamaica die
ersten 104 Seiten ein. Wir empfehlen dieselbe Allen, welchen
es darum zu thuu ist, einen Einblick in die Verhältnisse
Jamaiea's zu gewinnen. Sie werden finden, daß der Beob-
achter an Ort und Stelle ganz andere Schilderungen entwirft
als die baptistischen Missionäre.
Die Völker des östlichen Asiens. Unter diesem Titel
wird Adolf Bastian demnächst ein umfangreiches Werk in
fünf Bänden erscheinen lassen (Leipzig bei Otto Wigand). Das-
selbe soll die Beschreibung der Reisen des Verfassers und „Stu-
dien" enthalten. Bastian hat ans seiner neuesten Wanderung
sich länger als drei _ Jahre im südöstlichen Asien aufgehalten
und die sogenannten indochinesischen Völker zum ganz besondern
Gegenstande seiner Forschungen gemacht. Es ist ihm gelungen,
eine Menge von einheimischen Quellen aufzufinden', welche
früher den Europäern unbekannt waren, und da er die indo-
chinesischen Sprachen studirt hat, so übersetzte er au Ort und
Stelle manche historische Werke der Birmanen, Siamesen und
Kambodschaner; auch zeichnete er manche Sagen auf, die sich im
Munde des Volkes fortgepflanzt haben nnd die bisher bei uus
völlig unbekannt waren. (—- Der „Globus" wird einige der-
selben mittheilen. —) Bei Beschreibung der Reiseu selber wird
Bastian vorzugsweise den ethnographischen Gesichts-
Punkt festhalten; dieser leitete ihn bei seinen Untersuchungen,
damit er das Geistesleben der ostasiatischen Völker,
insbesondere der buddhistischen, genau und umfassend darstellen
konnte. Auch wird er Proben von Märchen, Dichtuugen und
Erzählungen geben, die nun zum ersten Mal in eine enro-
päifche Sprache übersetzt erscheinen. — Wir werden nun durch
Aus allen
ihn eine „Geschichte der Jndochinesen", nach den Originaltexten
der historischen Bücher znsammengestellt, unter Mitbenutzung
mündlicher Sagen erhalten, und sicherlich wird der Gewinn für
Ethnographie und Geschichte kein geringer fein. Gerade in Bezug
auf jene Regionen ist verhältnißmäßig noch wenig geschehen. In
dem Abschnitt über Birma wird Bastian auch die Geschichte von
Arrakan behandeln, die Ahom in Assam und die Singpho schil-
dern, die nationalen Überlieferungen der Volksstämme mittheilen,
die Laosvölker der Thai erörtern und Tennasserim sammt den
südlichen Staaten beschreiben. — Nicht minder eingehend
behandelt er Pegn, Slam und Kambodscha. — Der zweite
Band enthält die Reisen in Birma 1861 und 1862; der
dritte: Aufenthalt in Siam, nebst Reisen in Kambodscha
und Cochinchina, 1863; der vierte: Reisen durch den Archipel
nach Jap au und der Neberlandweg von Peking durch die
Mongolei und Sibirien nach dem Kaukasus, 1864
und 1865; der fünfte handelt über den Buddhismus der Pali-
bücher in vergleichender Zusammenstellung mit Foismus und
Lamaismus.
Die Verwirrung in Afghanistan. Es hält schwer, eine
Uebersicht der Begebenheiten zu gewinnen, welche sich in dem
durch und dnrch zerrütteten und zerklüfteten Afghanenreiche
ereignen. Der alte Dost Mohammed hatte etwa 40 Jahre lang
eine Centraiherrschaft geführt, aber nach seinem Tode ging sofort
Alles aus Rand und Band und seine Söhne fielen'wie wilde
Thiere übereinander her. Die Vorgänge in jenem Lande sind
für die centralasiatischen Verhältnisse' von Belang und wir
werdeu gelegentlich versuchen, dieselben im Zusammenhange zu
schildern. Hier wollen wir einen Bericht geben, welchen die
„Times", ans Calcutta voiu 8. Januar 1865, mittheilt; man
ersieht aus demselben, wie die Verhältnisse gegenwärtig stehen.
Unser (der Engländer) Verbündeter, der Emir Schire Ali
Chan, scheint verloren zu sein. Seitdem er in der Schlacht
bei Kaudahar Sieger geblieben, in derselben jedoch seinen Sohn
verloren hatte, verhielt er sich unthätig uud seine Unter-
thanen halten ihn für verrückt. Scher'if Chan, einer der
beiden Brüder, welchen er jene Niederlage bereitete, erheuchelte
Unterwürfigkeit, kam nach Kabul uud versprach dem Emir Bei-
stand gegen alle Feinde zu leisten, hat ihn aber dann verrathen.
Abd el'Rahman Chan, des EmirsNesfe, ist Schwieger-
söhn des Emirs von Bnchara; er, und As im Chan,
welcher des Emirs Schire Ali Bruder ist, standen an der Spitze
der sogenannten tnrkestanischen Armee und lagen in den letzten
Wochen des Jahres 1865 unweit von der Stadt Kabul. Sie
gingen mit dem Plau um, das von Dost Mohammed vereinigte
Afghanenreich zu theileu; der Emir hatte jedoch die darauf
bezüglichen Anträge abgelehnt. Dem Plane gemäß soll Assel
Chan, der älteste Bruder des Emirs, Vater Abd el Rahmans,
und jetzt als Gefangener in der Burg, dem Balahissar von
Kabul, diese Hauptstadt bekommen; der Schah von Persien
soll mit einem Theile der Provinz Herat, nnd eventuell auch
mit dieser Hauptstadt abgefunden werden. Der Emir Schire
Ali hat eigentlich gar keine Armee, da mit Ausnahme seiner
persönlichen Anhänger und jener seines Sohnes Ibrahim
Chan und seines Neffen Fattih Mohammed Chau (diese
sind überhaupt die einzigen, welche ihn noch unterstützen) Alle sich
mit seinen Feinden vereinigt haben. In der Stadt Kabul sind
alle Läden geschlossen; die meisten Einwohner sind fortgezogen,
nachdem sie ihre werthvolle Habe vergraben hatten. Die An-
Hänger des Emirs brachten ihre Schätze nach Ghasna in Sicher-
heit. Alles ist chaotisch. Wenn demnächst Affel Chan von
seinem Kerker aus den Thron besteigt und von seinem tapfern
Sohne Abd el Rahmau und vom Beherrscher Buchara's unter-
stützt wird, dann bleibeu sicherlich feine anderen Brüder, Asim
Chan und Scherls Chan, nicht lange ruhig. Die Niederlage
des gegenwärtigen Emirs ist unserer Sache' nicht günstig und
bedroht den Frieden an der Grenze. Wir hatten ihn als den
berechtigten Herrscher anerkannt. Wir werden uns nicht in die
afghanischen Wirren mischen, aber Affel Chan haßt uns. —
Steinkohlen in Neuschottland. Die Gruben zeigen sich
ungemein ergiebig, und eiu großer Theil der Ausbeute wird
nach den Fabrikbezirken von Neuengland verschifft. Die Kohlen-
formation umfaßt deu größteu Thett der Counties Cnmberland,
E^ch?ster, Hanls, Picton, Sydney, Gnysboro und die Insel
Cap Breton; hier und in Pictou fördert man die besten Sor-
ten; uberall zeigen die Lager eine große Mächtigkeit, zum Theil
bis zu 40 Fuß! Im Jahre 1827 wurden erst 4000 Chaldrons
(zu 36 Scheffeln, Büschels) gefördert, 1850 erst 96,000; dann
Erdtheilen.
aber stieg die Produktion und sie hat 1864 schon mehr als eine
halbe Million Tonnen betragen.
Kohlenreichthnm in Ostindien. In Folge der geognoftt-
schen Untersuchungen nnd Vermessungen, welche seit etwa zehn
Jahren unter Oldhams Leitung kaum eine Unterbrechung ersah-
reu haben, sind auch die Kohlenregionen im Pendschab, in
Assam, Bengalen nnd Centralindien genau bekannt. Jene im
Peudschab 'haben keine große Ausdehnung und werden höch-
stens den Bedarf des nordwestlichen Indiens befriedigen können.
Die Affamkohle gehört nicht, wie man früher annahm, dem
ältesten kohlenführenden Gesteine, sondern dem tertiären an.
Sie lagert nahe dem Brahmaputra und dessen Zuflüssen, hat
großen Handelswerth und ähnelt der besten Koakskohle von
Newcastle. Mau ist nun darüber aus, nach Assam Straßen zu
baueu, damit diese Kohle nach Bengalen, insbesondere nach
Calcutta gebracht werden könne. Sobald das geschieht, dann
braucht man dort keine Kohlenzufuhr aus England mehr. Die
ostbengalische Bahn wird einen beträchtlichen Theil dieser Assam-
kohle befördern. — Die Kohlenregion in Beng alen reicht von
Bardwan ans (80Miles von Calcutta) nach Westen, im Süden
der Soane, bis ins Thal der Nerbadda. Sie ist ungemein
reichhaltig an fossilen Ueberresten von Pflanzen und Reptilien,
welche den jüngst in Australiens Kohlenlagern gefundenen
gleichen. Die planmäßige Erforschung der geognostischen Ver-
Hältnisse und des Mineralreichthums in Indien befindet sich
erst in den Anfängen und hat doch schon wichtige Resultate
geliefert. In Calcutta wird ein großes indisches Centralmnsenm
gegründet.
Vom nördlichen Red-River im britischen Nordamerika.
In diesem Gebiete geht das civilisirte Leben in jenes der Wild-
niß über. Die weißen Ansiedler, zumeist Canadier, englischer
oder französischer Abkunft und Mischlinge dieser mit den Jndia-
nern, sogenannteBois brüle's, betrachten die Büffeljagd als
einen ihrer wichtigsten Nahurngs - und Erwerbszweige. Sobald
dieselbe ungünstig ausfällt, machen Roth und Maugel sich
bemerkbar. 'Vier Ortschaften: Pembina, St. Joe, White
Horse Plain und Portage betheiligen sich vorzugsweise bei
dieser Jagd, welche int vorigen Jahre sehr ungünstig ausgefallen
ist. Die zu Toronto erscheinenden „Canadian'News" geben den
Erklärungsgrund dafür. Im Gebiete der Vereinigten Staaten
sind viele Sionx-Indianer ans ihren Jagdgründ'en vertrieben
worden und sie sind dann, um ihr Leben zu' fristen, in kleinen
Gruppen nach jenen Gegenden gezogen, welche bisher als Jagd-
gründe der Leute vom Red River betrachtet wurden. Dort
haben sie uun den Büffel gejagt, ihn weiter nach Norden getrie-
ben, nnd damit ist eine Erwerbsauelle versiecht. Ohnehin nimmt
die Zahl der Büffel merklich ab; diese Klage wird schon seit länger
als 20 Jahren erhoben und wird anch nicht eher verstummen,
als bis überhaupt die Büffel verschwunden sind. Mau richtet NN-
gehenere Verwüstungen unter den Thieren an, mit Pfeilen
Speeren und Flinten; viele werden den Wölfen zur Beute viele
ertnnken beim Schwimmen dnrch die Flüsse, und es ist sehr zu
beklagen, daß eure beträchtliche Anzahl von den Jägern aus
bloßem Zeitvertreib niedergeschossen wird. Nim hat der Jagd-
nnd Prame-Indianer keine andere Hülfsguelle als den Wissel;
Diese Quelle wird ihm zerstört; was Wunder, wenn er von
tiefem Ingrimm gegen die Weißen erfüllt wird? Sein Land
haben sie ihm längst genommen, uud feine Nahrungsmittel
nehmen sie ihm auch; sie, welche doch so viele Hülfsmittel der
Civilisaüon habeu. Zu Lord Milton, der vor zwei Jahren ganz
Nordamerika von Osten nach Westen durchwanderte, sprach ein
alter Prairie-Jndianer Folgendes: „Sag mir nnr, weshalb ihr
weißen Leute hierher kommt? Ich weiß, daß ihr in enerm
Land Uebersluß an Allem habt, Thee, Salz, Taback nnd Rnm;
ihr habt schöne Flinten und Pulver und könnt schießen, was
euch beliebt. Nur deu Büssel habt ihr uicht und nun kommt
ihr zu uns, um ihn zu tödteu. Ich bin auch eiu Häuptling und
ich sage dir: der aroße Geist hat uns uicht Alle auf gleiche
Weife behandelt; euch gab er eine Menge von werthvollen
Sachen, uns aber gab er lediglich nnd allein den Büffel. Wes-
halb kommt ihr also und vernichtet uns das einzige Gut, wel-
ches der große Geist uns gegeben hat? Ihr seid gut, das
will ich glauben, ich erlaube euch, auf unserm Gebiet zu jagen
und ihr sollt mir immer in meinem Wigwam willkommen sein."
Mit dem letzten Büffel wird der letzte Prairie-Jndianer ver-
schwinden.
32 .Aus allen
Aus uordamerikanischen Zeituugen.
Die Vereinigten "Staaten sind dasjenige Land, welches die
höchsten Steuern und Abgaben zu zahlen hat. Die Eingangs-
zolle sind hart an der Grenze der Prohibitivzölle. In Neuyork
wurden 1865 bis zum 30. November für 171,458,869 Dollars
Waareu eingeführt, und dafür mußten au Zoll 82,490,671
Dollars bezahlt werden! Die Ausfuhren betrugen in
derselben Zeit 158 Millionen. Banmwollenwaaren müssen 36,
Wollenwaaren mehr als 38 Procent vom Werthe zahlen, und
die ueuengländischen Fabrikanten, welche den hohen Tarif im
Kongresse durchgesetzt haben, machen einen Reinprosit von 99
bis 110 Procent. Sie haben stets durch hohe Zölle den Süden
und den Westen ausgebeutet; jetzt aber fängt der letztere an sich
gegen das „Ausplünderungssystem" zu erheben.
Auf den Eisenbahnen in den Straßen von Neu-
York sind 1865 mehr als 60,000,000 Fahrgäste befördert
worden.
Unglücksfälle auf Eisenbahnen sind in den Ver-
einigten Staaten während des Jahres 1865 nicht weniger als
183 vorgekommen gegen 143 im Vorjahre. In letzterem ver-
loren dabei 404 Menschen das Leben, in ersterem nur 335.
Für Todesfälle auf Eisenbahnen haben die Amerikaner das
Wort Viatricide in Anwendung gebracht.
Mau hört jetzt selten etwas über die Mormonen. Nun
verlautet aber, daß sie die Strecke der großen pacisischen Eiseil-
bahn, welche durch ihr Territorium Utah führt, auf eigene
Kosten bauen wollen; das allein schon zeugt für ihren großen
Wohlstand.
Die zu Neuyork erscheinende „World" vom 10. Januar
enthält Folgendes: Die National schuld beträgt in runder
Summe 3,000,000,000 Dollars. Da wir etwa 30,000,000
Köpfe zählen, so betragt das auf jeden Einzelnen 100 Dollars.
Die Schuld des Staates Neuyork beträgt 5J,000,000
Dollars; auf 4,000,000 Seelen Verth eilt, kommen auf jede etwa
13 Dollars. Die Schulden der Stadt Neuyork betragen
4l,000,000 Dollars, macht anf den Kopf 41 Dollars. Somit
stellt sich heraus, daß jeder Mensch im Staate Neuyork mit
154 Dollars für öffentliche Schulden belastet ist. Da aber nur
jeder sechste Mensch ein eigentlicher Arbeiter, ein erwer-
bendes Individuum ist, und Frauen, Kinder, Greise nicht
in Anschlag kommen, so stellt sich heraus, daß jeder eigent-
liche Prodnceut mit uugefähr 1000 Dollars Schul-
den belastet ist und für diese Zinsen tragen muß.
Und dazu kommen die exorbitant hohen Unious-, Staats- und
Municipalabgaben! —
Lernt der Botschaft des Gouverneurs Andrew von Mas-
sachnsetts hat dieser .Staat ^für den Unterjochungskrieg,
welchen die Abolitio nisten hervorgerufen, etwa 56,000,OVO Doll.
verausgabt. Ein großer Theil derselben ist für Anwerbung
„freiwilliger" und auswärtiger Soldknechte verausgabt worden.
Manche Massachusettsregimenter bestanden fast ganz ansauge-
wordenen Jrländern und leider auch Deutschen; die Offiziers-
stellen waren aber mit Aankees besetzt, häufig Advokaten oder
auch Pastoren. — Der Gouverneur vou Maine veranschlagt
sür seinen Staat die Kriegsausgaben auf nur 15,000,000 Doll.,
auch davon cutfällt eine erhebliche Summe auf Anwerbeprämien
für „Freiwillige" und Stellvertreter. Die letzteren wurden im
Staate Rhode' Island eine Zeitlang mit 1500 Dollars bezahlt.
(Neuyork, „Weekly News" vom 13. Januar.)
Aus Ohio und anderen westlichen Staaten sind im Laufe
des Winters taufende von Deutschen und Schweizern nach
den südlichen Staaten, namentlich Louisiana und Mississippi
ausgewandert, um zu versuchen, ob sie dort auf dem Felde
arbeiten können. Sie wollen die Stelle der nicht arbeitenden
Neger ersetzen.
Anf den westlichen Flüssen fahren nicht weniger als
910 Dampfschiffe; Werth derselben 24l/2 Millionen Dollars.
Allmälig kommen sehr bezeichnende Ziffern, und zwar anit-
lich, zum Vorschein über allerlei, was sich auf deu Krieg bezieht.
Dahin gehört die „Statistik der Gefangenen". Die Zahl der-
selben, welche „parolirl" wurden, war 329,000, vou denen sich
etwa 157,000 in den Händen der Conföderirten befanden,
deren Armeen doch sechs- bis siebenmal schwächer waren als
jene der Nordstaaten. Vom 1. August 1861 bis 29. November
1865 siud, abgerechnet die beträchtliche Anzahl von conföderirten
Gefangene», welche in nördlichen Gefängnissen in Folge bar-
barischer Behandlung und schlechter Pflege umkamen, nach den
Angaben des amerikanischen „Ariny and Navy Journals"
Herausgegeben von Karl Andres in Dresden. — Für die Re!
Druck und Verlag des Bibliographischen
Erdtheilen.
gestorben: zu Washington im Distrikt Columbia: 15,412
Weiße, 6328 Schwarze; — zu Alerandria in Virginien: Weiße
2372, Schwarze 229; — zu Andersonville in Georgia: 12,918;
— bei Spottssylvauia und Wilderneß: 1500; — in und bei
Nashville in Tennessee etwa 32,000; — bei Richmond in Vir-
ginien: 60,000. In den Jahren 1863 und 1861 zählten die
Armeen der Nordstaaten mehr als 40,000 Offiziere; ein solcher
kam auf je 25 Mann. — Amtlichen Berichten des Kriegs-
fekretärs zufolge hat der Norden in dem Kriege gegen den
Süden an Truppen aufgeboten vom April 1861 bis Mai 1865:
2,759,040 Mann; davon wurden gestellt: 2,656,553, davon
waren Neger 178,975 Mann.
Die Hauptmünzstätte der Vereinigten Staaten
befindet sich bekanntlich in Philadelphia. Sie hat im Jahr
1865 geprägt: Gold für 25,105,217 ^-Dollars, Silber für
3,636,308, Brome und Nickel 1,183,300 Dollars. — In Neu-
orleans befindet sich eine Zweigmünzstätte seit 1838; sie hat
überhaupt seit jener Zeit für 40,318,615 Dollars Gold und
29,890,037 Dollars Silber geprägt. Die Münzstätten zu
Charlotte in Nordcarolina und zn Da h lonega in Georgien
dürfen nur Gold prägen; sie haben, seitdem sie bestehen, zu-
sammen 11,170,560 Dollars geliefert; durchschnittlich im Jahre
für 250,000 Dollars. Zn San Francisco wurde im vorigen
Jahre für 19,144,875 Dollars Gold geprägt. Auch zu Denver-
City in Colorado befindet sich eine Zweigmünze. — In deu
Vereinigten Staaten sind seit 1793 (bis Ende 1865) geprägt
worden: für 419,725,424 Dollars Gold in 52,405,338 Stücken;
Silber für 98,740,834 Dollars in 398,931,680 Stücken.
st. Die Aymara-Indianer in Südamerika. Das ganze
Hochland zwischen der Küstencordillera im Westen, den Anden
im Osten, bis nach Ornro im Süden und der Lagune von
Titicaca im Norden wird vonAymara-Jndianeru bewohnt,
die durch ihre Falschheit und Heimtücke, hervorgerufen von dem
Jahrhunderte hindurch genährten unauslöschlichen Haß gegen
die weiße Rasse, dem Reifenden sehr hinderlich in den'Weg
treten. Zudem sind sie von Natur sehr träge uud im höchsten
Grade schmutzig. Nicht einmal nach seiner Geburt, sagt
v. Tschudi in seiner Reise in Südamerika, wird der Aymara-
Indianer gewaschen, noch weniger wäscht er sich jemals in
seinem übrigen Leben. Es bildet sich daher auf seinem Körper
eine Schmutzkruste, die seinem tiefbrauueu, oft dunkelschwarz-
brauneu Colorit eine noch dunklere Nuance verleiht. Der
Qnichua - Indianer, Bewohner des peruanischen Hochlandes,
steht in jeder Beziehung über dem Aymara. Er ist thäliger,
offener, weniger intolerant und viel intelligenter.
Zur Statistik der Wollproduktiou. Ju London, dem
Hauplwollmarkte, sind 1865 aus den britischen Colonien an-
gebracht worden: 435,222 Ballen Wolle (374,034 in 1864);
davon kamen aus Indien 2671, vom Cap der guten Hoffnung
99,991 und von Australien 332,560 Ballen. Die Gesammlein-
fuhr von Wolle stellte sich auf 467,889 Ballen in London, in
Liverpool auf 171,995, in Hnll 31,903, in Leith 6843, außer-
dem erhielten Hartlepool und Grinsby einige tausend Ballen.
Die Gefammteinfuhr betrug 1861: 504,162; 1862: 567,668;
1863: 595,326; 1864: 670,707; 1865: 685,634 Ballen.
Für das letzte Jahr stellen sich, abgesehen von den drei
oben genannten Colonien, die Einfuhren aus Deutschland
auf 24,696 Ballen, Spanien nur 876, Portugal 12,685., Ruß-
land 37,147, verschiedene Länder z. B. die La Platareäion ic
123,451.
Tasmanien lieferte 16,082, Neusüdwales und Queensland
79,672, Victoria 135,513, Südaustralien 45,505, Westaustralien
2991, Neuseeland 52,797. Ju der letztgenannten Colonie
nimmt die Schafzucht ctncit raschen Aufschwung, und die Schafe
mit langem Stapel gedeihen dort besser als' selbst in Anstra-
lien. — Die Capcolonie in Südafrika geht auch vorwärts; aus
dem Bezirke der Algoabay kamen 85,128, aus Capstadt 8795
und aus Natal 6068 Ballcu, zusammen etwa 100,000; außer-
dem wurden 37,000 Ballen direkt nach Nordamerika verschifft.
Die Einfuhr von Getreide und Hülsenfrüchten in
Großbritannien und Irland hat 1865 betragen: 4,728785
Quarters Weizen; 2,195,738 Q. Gerste; 2,766,672 Q. Hafer:
223,156 Q. Bohnen; 170,534 Q. Erbsen; 47,416 Q Roggen;
7826 Q. Buchweizen und 1,644,577 Q. Mais.
verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen,
lits (M. Meyer) in Hildbnrghansen.
Aus dem Haus- und Volksleben in China.
Seltsamkeiten der Chinesen. - Die Frauen haben keine Seele - Stellung.derFrauen. -
Mädchen und die Verkrüpveluug der Füße. — Väterliche Gewalt und tmdlrchc Plctat O ^ • i.
1 Begräbnisse. - Der Sarg ein Lnrusartikel. - Schauspiele und Komödianten.
Für uns Europäer bietet das ganze Leben und Treiben
der Chinesen eine Menge auffallender Widersprüche dar;
es zeigt eine Menge von Eigentümlichkeiten ans, die uns
sonderbar und abstoßend erscheinen.
Was würde man bei uns von einem Sohne denken, der
sich beikommen ließe, als Zeichen kindlicher Liebe und An-
hänglichkeit seinem Vater, zum Geburtstag etwa, einen
Begleiter. Sie kamen nach Lean gschan, wo die zum Chri-
stenthnm bekehrten Chinesenfrauen die Kapelle besuchten.
Der Magister nahm daran Anstoß, er fand das frech und
ungehörig, und war erstaunt, als der Missionär ihm sagte:
„Diese Frauen besuchen den Gottesdienst, um ihre Seele
zu retten." Ting trat einige Schritte zurück, kreuzte die
Arme und rief:
Chinesischer Sarg. (Nach einer Photographie,)
Sarg zu schenken? Der kranke Erzenger sieht aber
darin einen rührenden Beweis von Theilnahme und ist
über dieselbe hocherfreut.
Was sagen wir ferner zum Verkrüppeln der Fü ß e,
welches im Blumenreiche der Mitte seit langer Zeit Mode
ist? Was zu einem Familienleben, das ganz und gar auf
kindlicher Pietät beruht, und in welchem doch die Frauen
eine untergeordnete Stelluug einnehmen? Wo
die Vorfahren eines verdienten Mannes geadelt wer-
den, nicht die Nachkommen? Dieser letztere Brauch ist aber
nicht gerade unverständiger, als die Uebertragung des
Adels auf die Nachkommen. Wir unsererseits haben
weder gegen die eine noch die andere hier etwas einzu-
wenden.
Abbe Huc hatte auf seinen Wanderungen im Innern
China's einen Schriftgelehrten, den Magister Ting, zum
GlobnS X. Nr. 2.
„Aber sie haben ja gar keine Seele; Weiber-
Haben keine Seele, und ihr wollt trotzdem Christinnen
aus ihnen machen?"
Diese wenigen Worte des Schriftgelehrten geben ein
recht schlagendes Beispiel für eine geradezu barbarische
Auffassung, die aber in China noch sehr allgemein ist. Der
Magister sagte, seine Frau werde nicht wenig erstaunt sein,
wenn er ihr sage, eiu Europäer hätte behauptet, daß auch
sie eine Seele besitze!
Wie verträgt sich diese rohe Barbarei, welche im Weib
ein niedrig stehendes Geschöpf erblickt, bei einem in manchen
Dingen so verfeinerten Volke mit dem Grundsatze der
kindlichen Pietät, deren Ausübung so durchaus das
ganze chinesische Leben durchdringt und die so manche in der
That erbauliche Seiten darbietet? Von jeher hat man in
China das Weib für gar nichts gerechnet; auch die
5
84
Aus dem Hans- und Volksleben in China,
Reichsgesetze nehmen keine Notiz von den Frauen, außer
um ihre Dienstbarkeit 'recht festzustellen. Der Mann kann
seine Frau schlagen, verkaufen, Hungers sterben lassen,
oder auch, was iu manchen Laudestheilen nicht selten vor-
kommt, auf beliebige Zeit au einen andern vermiethen.
Dazu kommt noch die Vielweiberei, welche auch iu China
so viele Uebelstände im Gefolge hat. Manchmal begeht
eine Frau aus Verzweiflung Selbstmord und der Ehe-
gemahl ist darüber sehr betrübt, denn — er muß sich nun
eine andere kaufen!
Diese Knechtschaft, Dienstbarkeit und niedrige Stellung
im Hanfe wie im öffentlichen Leben ist dreifach besiegelt:
durch die Sitten, die öffentliche Meinung und, wie schon
augedeutet, auch durch die Gesetzgebung. Die Geburt
eines Mädchens wird als eine Art von Mißgeschick betrachtet;
es wird von den Brüdern als Magd behandelt, muß die
schwersten und niedrigsten Arbeiten verrichten und dars sich
nur wenig außer dem Hause sehen lassen. Sobald es
mannbar wird, schlägt der Vater es au den Meistbietenden
los, ohne nur zu fragen, ob es heiraten wolle; insgemein
hat es auch den Bräutigam nie zuvor gesehen; es ist eben
eine Haudelswaare, welche mau au den Meistbietenden
verhandelt. Aber freilich, am Hochzeitstage putzt man
dieses Opser
stattlich mit
Seide, Gold
und allerlei
anderem
Schmuck her-
aus imd setzt
es in einen
Tragsessel,
damit es wie
eiue Königin
throne. Nach-
her aber ist es
dein Käufer-
völlig preis-
gegeben, muß
auch in der
neuen Fanii-
lie, in der die
junge Frau
eine Wildfremde ist, unbedingt gehorchen und ist, wie ein
chinesischer Schriftgelehrter sich ausdrückt, lediglich ein
Schatten und ein Wiederhall. Sie darf weder mit dem
Manne noch mit den Söhnen an demselben Tisch essen,
muß sie schweigend bedienen, darf erst etwas genießen, wenn
jene sich gesättigt haben und nachdem sie ihnen die Pfeifen
angezündet hat.
Es ereignet sich, daß Aeltern ihre Kinder verheiraten,
bevor dieselben noch das Licht der Welt erblickt haben.
Die contrahirenden Theile bekräftigen das Versprechen, in-
dein Jeder ein Stück Zeug von seinem Rock abreißt und
es dein Andern einhändigt.
Die Polygamie war in früheren Zeiteren nur den
Mandarinen und folchen Männern gestattet, die im Alter
von 49 Jahren noch keine Kinder hatten; diese durften
einige „kleine Frauen" nehmen. Das alte Gesetzbuch
bestimmte: Wer eine Nebenfrau hält, „soll 100 Ruthen-
streiche auf die Schultern erhalten". Aber dieser Verfügung
wird keine praktische Folge mehr gegeben. Die erste Frau ist
gleichsam Gebieterin über die kleinen Frauen, und die Kin-
der der letzteren erkennen nur die erste als ihre Mutter an.
Um ihr eigene, leibliche Mutter legeu sie feine Trauer an.
Die kleine Frau wird für niedrig stehend erachtet, ist durch-
Verkrüppelte Frauenfüße und Schuhe.
aus abhängig von der rechtmäßigen Gattin, der sie jeden
Gehorsam leisten muß, und den Hausherrn darf sie nur
mit dm Namen anreden, welchen er als Familien-
Vater führt.
Es ist ein Glück, daß in der Praxis viele Frauen sich
eine leidlichere Stellung zu erringen wissen, und daß viele
chinesische Männer besser denken, als die große Menge.
Aber die gleichberechtigte Stellung, welche in Japan den
Frauen willig eingeräumt wird, kommt in China niemals
vor. Die reichen Männer halten ihre Frauen im Hause,
und wenn die Abschließnng auch bei weitem nicht so streng
ist, wie bei den mohammedanischen Völkern hn Harem, so
erlaubt doch der Gemahl nur selten, daß die Frau andere
Häuser oder ihre Verwandten besuche, und das geschieht
dann allemal in Tragsesseln, damit Niemand auf der Straße
sie sehen könne. Noch bis heute ist es, selbst in Peking,
keinem Europäer gelungen, die Frauen und Töchter seiner
chinesischen Bekannten und Freunde zu sehen, und als wäh-
rend des letztverflossenen Kriegs die europäischen Offiziere
bis in die Frauengemächer drangen, stellte sich heraus, daß
die jungen Frauen in Kosfern, oder unter Haufen alter
Kleidungsstücke versteckt worden waren. Die Chinesinnen
gewöhnten sich aber bald an die Gesichter der abendlän-
dischen Sol-
daten und na-
mentlich fan-
den sie großen
Gefallen an
der Militär-
mufik. Die
Frauen der
ärmeren
Klasse sind
einem solchen
Zwange schon
deshalb nicht
unterworfen,
weil sie so
viele Arbei-
ten auch im
Freien zu ver-
richten haben.
Jene der rei-
chen Männer sind dagegen mit Luxus umgeben und erfreuen
sich an allerlei Putz. Sie spielen auch in den Romanen
eine sehr hervorragende Rolle; manche sind in der Literatur
bewandert, und China hat sogar Dichterinnen, deren Poe-
sien als hübsch bezeichnet werden können.
Es ist eine falsche Annahme, der zufolge dem weiblichen
Geschlechte die Füße aus Eifersucht verkrüppelt würden,
damit die Frauen recht hübsch zu Hanse bleiben müßten.
Diese Mode reicht schon ins hohe Alterthum hinauf. Die
Chinesen selbst erzählen, eiue Prinzessin habe außerordent-
lich kleine Füße gehabt und dadurch die Aufmerksamkeit und
den Neid anderer vornehmer Frauen erregt. Und wenn
sie selber dieser Schönheit sich nicht rühmen konnten, so
sollten doch ihre Töchter derselben theilhastig sein. So
geschah es, und die Mode griff im Fortgange der Zeit immer
weiter um sich und heute sind reiche wie arme Frauen klein-
süßig.
Zwischen dem _ vierzehnten und achtzehnten Monate
beginnt die Operation. Die Füße werden mit zwei Lein-
wandbinden, dem Tschan pn und dem Tschio pu, um-
wickelt, und zwar so, daß die vier kleinen Zehen unter die
Aus dem Haus- und Volksleben iu China.
35
Sohle gebogen werden, die große Zehe aber frei bleibt,
ähnlich wie wenn wir eine Hand ballen, aber den Damnen
in seiner natürlichen Stellung lassen. Ein Mädchen ohne
verkrüppelte Füße fiudet uicht leicht einen Mann; ihm fehlt
ja, nach chinesischen Begriffen, eine Hauptschönheit. Die
aber, welchen sie nicht mangelt, können ihre Beinmuskeln
nicht üben, bekommen keine Waden, ihre Beine sind wie
Stelzen, und der Gang bleibt wackelnd. Das Alles müssen
die armen Geschöpfe mit Jahre langer Qual und Pein
erkaufen. Aber man gewöhnt sich an Alles und die Chine-
sinnen laufen, trotz dieser kleinen Füße, sehr rasch und
sicher; ja, sie haben ein Bewegnngsspiel, bei welchem man
einander hölzerne Tellerscheiben oder auch Bälle zuwirft.
Bei uns in Europa schleudert man dieselben mit dem Ball-
holze zurück, die Chinesinnen aber bedienen sich statt des-
selben der Sohlen ihrer kleinen Schuhe. Uebrigens haben
wir mehrfach gelesen, daß in neueren Zeiten die Mode der
Verkrüppelnng iu manchen vornehmen Familien nicht
mehr beobachtet wird. Die
Mandschusranen haben den
widersinnigen Brauch uie-
mals angenommen, und
es ist nun einige Aussicht,
daß im Fortgange der Zeit
derselbe nach und nach in
Abgang kommen werde.
Der Vater hat nnbe-
dingte Gewalt über seine
Kinder; er kann sie ver-
kaufen, und das Gesetz
gibt ihm sogar das Recht,
cht Nengebornes auszu-
setzen. Die zum Kanf
ausgebotenen Knaben wer-
den gewöhnlich Diener im
Hause von Mandarinen,
Kaufleuten oder Hand-
werkern, häufig aber auch
Lastarbeiter. Die Mäd-
chen werden zur Ausschwei-
fllng erzogen und metho-
disch abgerichtet. Nenge-
borne Kinder wirft man
selten ins Wasser, es sei
denn, sie kämen mit wider-
Wärtiger Ungestalt ans Tageslicht. Aber bei der großen
Armnth, der sich in China mindestens einhundert Millio-
nen Menschen preisgegeben sehen, kommt allerdings sehr
oft Kindermord vor, bei welchem übrigens manch-
mal Aberglaube eiue große Rolle spielt, z. B. iu der
großen Provinz Honan jener an die Seelenwanderung.
Aber vielfach werden die Kleinen nur deßhalb getödtet,
weil sie den Aeltern Unbequemlichkeit verursachen und doch
essen wollen; insbesondere entledigt man sich der Mädchen,
weil sie für eine Quelle der Armnth und Dürftigkeit gelten.
Dort freilich, wo bei Baumwollenbau und Seidenzncht die
Mädchen eine lohnende Beschäftigung finden, fällt wenig-
stens ciu Gruud oder Vorwand zum Kindermorde weg.
~kcl' man darf aus jenen Vorkommnissen nicht etwa den
Schluß ziehen, daß alle Chinesen taub gegeu die Stimme
der Natur seien.
Wahr ist, daß man zuweilen au Straßen, aus Flüssen
und Seen Kinderleichen ausgesetzt fiudet. China nämlich
kennt keine gemeinschaftlichen Begräbnißstätten; jede Familie
Eine chinesische Magd schlägt ans den Gong und gibt damit das Zcichcn
zum Mittagsessen. (Nach einer chinesischen Zeichnung )
begräbt ihre Todten auf eigenem Grund und Bodeu. Be-
gräbnisse aber sind kostspielig; für die Bestattung von Vater
und Mutter bringt man gern große Opfer, auf jene der
Kinder dagegen legt man keine Bedeutung uud arme Leute
wollen dadurch nicht noch ärmer werden. Sie wickeln also
die Leiche in eine Matte, setzen sie aus, oder werfeu sie ius
Wasser. Ausnahmsweise werden allerdings auch wohl
lebendige Kinder ausgesetzt, was ja aber auch in Europa
geschieht. Uebrigens gilt der Kindermord für ein Ver-
brechen, uud die Behörden haben allezeit gegen einen solchen
Mißbrauch der väterlichen Gewalt gewarnt. So z. o.
lautet ein Ediet aus neuerer Zeit (1848): „Der Criminal-
richter der Provinz Kuang tuug verbietet auf das Strengste,
kleine Mädchen auszusetzen. Dieser abscheuliche Brauch
muß aufhören und man muß die Lebenspflichten erfüllen.
— Es gibt Anstalten für die Aufnahme von Findelkindern
weiblichen Geschlechts; nichts desto weniger dauert jener
abscheuliche Brauch fort. Aber er verstößt gegeu Sittlich-
keit uud Gesittung uud
stört die Harmonie des
J Himmels. Deshalb er-
1 lasse ich die allerstrengsten
Verbote und zwar ans
nachfolgenden gewichtigen
Gründen: — Blicket auf
die Infekten, Fische, Vögel
uud wilden Thiere; sie alle
lieben ihre Jungen. Wie
könnt ihr nun die ermor-
den, welche aus euerm
Blnte gebildet wurden
und für euch sind, wie die
Haare auf euerm Haupte?
Beunruhigt euch uicht eurer
Arnnlth wegen, denn ihr
könnt euch durch die Arbeit
eurer Hände einige Hilss-
qnellen verschaffen. Es
mag für euch schwer hal-
ten, eure Töchter zu ver-
heiraten, aber darin liegt
kein Grund, sich ihrer zu
entledigen. Die beiden
Mächte des Himmels und
der Erde verbieten es. —
Ich bin ein wohlwollender,
. gütiger, barmherziger Rich-
tci, ^eder, wer etne Tochter hat, muß sie sorgfältig erziehen,
oder, wenn er arm ist, sie ins Findelhaus schicken, oder sie
einer befreundeten Familie anvertrauen, damit sie von dieser
erzogen werde. Wenn ihr sie aber, wie bisher geschehen,
verlasset, dann sollt ihr nach den Gesetzen bestraft werden.
Ihr seid unnatürlich und entartet und verdient gar keine
Nachsicht, wenn ihre eure Kinder ermordet k."
Jnss oh schildert nach eigener Anschauung die Grüfte
oder Thürme, in welche die Kinder begraben werden,
welche man nicht anderweitig begraben läßt.. Dieselben
haben eine Umfassungsmauer von etwa 10 Fuß Höhe, und
bis in die Mitte derselben führen Stnfen hinab bis zu
einer innern Wand. Die Gruft hat 18 bis 30 Fuß Durch-
mefser und ist etwa 45 Fuß tief. Iu dieser Grube befindet
sich ungelöschter Kalk, und dort hinein wird das Kind
geworfen. Die Aeltern wickeln dasselbe in eine Matte uud
werfen es selbst hinein, oder geben es auf einen Kinder-
leichenwagen. In Peking fahren täglich vor Sonnenauf-
gang fünf von Ochsen gezogene Karren durch die fünf
5*
Eine chinesische Dame in Peking. (Nach einer Zeichnung von Bourboulon-)
Hauptstadt des frommen Englands. „In China wird kein
Geheimniß ans der Sache gemacht; darin liegt der ganze
Unterschied."
Wir erwähnten oben, daß die kindliche Pietät
gegen Aeltern ein Hauptcharakterzug des chinesischen
Lebens sei. In Europa macht man sich kaum einen Be-
griff davon, wie hoch dieselbe gesteigert ist. Der Sohn
würde niemals wagen, dem Vater zu widersprechen; wenn
er seinen Vater irgend wohin begleitet, geht er nicht neben,
sondern hinter demselben und ist seiner Befehle stets
ein Saal diesen Vorfahren der Familie geweiht. Bei hohen
Würdenträgern, Mandarinen und überhaupt bei reichen
Leuten, welche große Häuser besitzen, findet man eine Haus-
kapelle, iu welcher Taselu mit den Namen der
Ahnen aufgehängt find, vom Gründer der Familie bis
zum Letztverstorbenen. Zuweilen ist aber lediglich die
Namenstafel des Gründers aufgehängt worden, der als
Repräsentant aller Folgenden gilt. In dieser Kapelle
werden von den Mitgliedern der Familie die vorgeschrie-
benen Gebräuche vollzogen; man verbrennt Weihrauch und
Räucherkerzen, bringt Opser dar und wirft sich voll Ehr-
furcht vor der Ahnentafel nieder. Diese Kapelle ist gleich-
sam eine Hauskirche, welche der Chinese besucht, wenn er
96 Aus lern Haus- und
Stadttheile, und wer sich todter oder lebendiger Kinder
entledigen will, übergibt dieselben dem Fuhrmann. Die
Leichen werden in eine gemeinschaftliche Grube gelegt und
mit ungelöschtem Kalk überdeckt; die lebendigen liefert der
Fuhrmann im Bü yng lang, d. h. dem Tempel der
Neugebornen, ab, in welchem Ammen itni) Verwalter
aus Staatskosten gehalten werden. Solche Ausnahme-
h ä u f e r f ü r Kinder findet man in allen größeren
Städten.
Uebrigens ist im buddhistischen China der Kindermord
doch nicht so arg im Schwange wie, laut den Angaben des
Coroners vi-. Lankester, in dem christlichen London, der
Volksleben in China.
gewärtig. Aber nach dein Tode des Vaters wird die Mutter
dein Sohne nnterthan.
Die Kinderliebe reicht bis über das Grab hinaus.
Der Chinese glaubt fest, daß feine verstorbenen Aeltern
unter einer andern Gestalt des Daseins ihn umgeben und
mit ihm in ununterbrochener Gemeinschaft leben. Was
man bei uns mit den sehr unbestimmten Begriffen Himmel
oder Paradies bezeichnet, ist für ihn ein bestimmter Zu-
stand. Dort behält der Abgeschiedene die Persönlichkeit
seiner Seele, einen gewissen Organismus. Aus diesem
Glauben erklärt sich der Cultus der Vorfahren, die
Achtung vor den Ahnen. Im Hans ist ein Zimmer oder
Aus dem Haus- und
ein wichtiges Unternehmen vorhat, oder ihm etwas Glück-
Itcheg geschah, oder ein Unglück ihn heimsuchte; er zieht
allemal seine Vorfahren in Mitleidenschaft.
Der arme Mann stellt die Ahnentafel in seinem Zim-
mer auf.
Volksleben iu China. 3Y
jedem Jahre findet eine Gedenkfeier am Grabe der Ahnen
statt, bei welcher alle Angehörigen und Abkömmlinge der
Familie zugegen sind. Das ist das Tschang fen oder
Fest der Todten. Die Gräber werden mit Blumen ge-
schmückt uud mit buntem Papier. Mau wirft sich au deu-
Gesellschaftszimmer einer chinesischen Dame in Tim tsin- (Nach einer Zeichnung von Bourboulon.)
_ Aus Dieser Pietät und diesem Kultus erklärt sich auch,
daß die Trauerzeit um Vater oder Mutter volle drei
Jahre dauert. Während dieser Zeit kann der Leidtragende
kein öffentliches-Amt bekleiden, muß zurückgezogen leben
und darf keine Besuche abstatten. Wenigstens einmal in
selben nieder, verbrennt wohlriechende Sachen und stellt
auf den Rasen oder auf die Leichensteine kleine, mit Speisen
angefüllte Gefäße. Dabei uiuuut man aber nicht etwa an,
daß der Verstorbene noch der Speise oder des Trankes
bedürftig sei, sondern will ein Zeugniß ablegen, daß man
38 Aus dem Haus- und
den Dahingeschiedenen noch eben so gern dienstwillig sei,
wie bei Lebzeiten. Das ist der Sinn. Alle Vorschriften
für Begräbnisse, Trauerzeit und Opfer gehen aus dein
Principe jener kindlichen Pietät hervor.
Der Chinese bleibt, dem Tode gegenüber, ganz ruhig
im Gemüthe; er stirbt mit einer unvergleichlichen Fassung,
ohne Seelenkampf und ohne Seelenangst; das Ableben
hat für ihn keine Schrecken. Wenn er nicht mehr nach
der Tabackspfeife verlangt, dann ist gewiß sein Ende nahe.
Der Sarg steht ohnehin schon längst bereit.
Er ist ein Luxusartikel und die wohlhabenden Leute
verwenden beträchtliche Summen, damit er ein wahres
Kunstwerk sei. Man muß, sagt Huc, viele Jahre in China
gelebt haben und Land und Leute kennen, um zu begreifen,
daß man wegen eines Sarges sich die größten
Complimente sagen kann. Der Chinese hat eben
uneuropäische Ansichten vom Sterben und Begraben. In
seinen Augen ist der Sarg ein nothwendiges Haus-
geräth; für die Leiche ist er nothwendig, für den Lebenden
ein Luxusartikel, ein Zierrath, eine Liebhaberei. „Man
muß es mit eigenen Augen gesehen haben, wie in den
großen Städten die Särge derart aufgestellt werden, daß
sie in den Magazinen recht ins Auge fallen, wie sorgfältig
man sie bemalt, lackirt und polirt, damit sie blitzblank sind
und den Vorübergehenden zur Kauflust anreizen. Wohl-
habende Leute versäumen uie, sich schon bei Lebzeiten mit
einem hübschen Sarge zu versehen, der ihrem Geschmacke
zusagt; er wird als Luxusmöbel aufgestellt, welches dem
Hause zum Schmucke gereicht. Bevor man, wie der Alls-
druck lautet, die Welt grüßt, muß man ja doch seine
letzte Wohnung mit eigenen Augen gesehen haben! Man
stellt den Sarg neben das Krankenbett."
Die Leiche behält man lange im Hause ulld beerdigt
sie manchmal erst am Jahrestage des Sterbefalles. Sie
bleibt, lllit ungelöschtem Kalke bedeckt, in dem dichten
Sarge liegen; mein will den Todteil recht lange ehren und
Zeit für ein würdiges Begräbniß gewinnen. Bei diesem
spielen Eitelkeit und Prunksucht nicht selten eine große
Rolle; man vergeudet dabei viel Geld. So lange die
Leiche im Hause bleibt, wird zu bestimmten Zeiten ein
Weinen veranstaltet, bei welchem unglaubliche Thränen-
ergüsse strömen; bis zur festgesetzten Stuilde trinkt man
Thee, raucht Taback, lacht und schwatzt; aber auf ein
gegebenes Zeichen wird mau tief betrübt und das Heulen
und Schluchzen und Weinen beginnt. Beim Leichen-
begängniß dürfen gemiethete Klageweiber, die im Henlen
den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht haben, nicht
fehlen, eben so wenig Musikanten. Auch wirft mau viele
Schwärmer, weil Krachen und Pulvergeruch die böseu
Geister vertreiben. Letztere gelten für sehr habsüchtig ; des-
halb läßt man nnterwegs dann nnd wann ein paar Münzen
oder nachgemachte Bankzettel fallen, und damit legt man
den bösen Geistern eine Falle; denn während sie dem, vom
Luftzug hinweggetriebenen, vermeintlichen Papiergelde nach-
eilen, nimmt die Seele des Abgeschiedenen die günstige
Gelegenheit wahr und kann dem Sarge folgen, ohne durch
die bösen Geister behelligt zu werden!
Man hat die Chinesen, welche sich durch so viele Fertig-
keitenauszeichnen, auch ein „Volk von Komödianten"
genannt. Gewiß ist, daß sie das Schanspiel ganz anßer-
ordentlich lieben, sich an theatralischen Vorstelligen gar
nicht satt sehen können nnd daß selbst ans den Schiffen,
welche den gewaltigen Blauen Strom befahren, Komödie
Volksleben in China.
gespielt wird. Jener heitere Gascogner, Abb« Huc, dem
wir ein, auch in deutscher Bearbeitung erschienenes Werk
über China (Leipzig 1856) verdanken, welches sich vor-
trefflich liest, hatte das Vergnügen, solch eine schwimmende
Komödie mit anzusehen. Er bemerkt, bei den Chinesen
seien Geist und Leib so biegsam und elastisch, daß sie alle
möglichen Formen annehmen können und die verschieden-
artigsten Leidenschaften sehr anschaulich darzustellen wissen.
Es Uege in ihrer Natur etwas von Affen, und Würde oder
Weisheit finde man, im Allgemeinen genommen, mir in
den klassischen Büchern. —
Das himmlische Blumenreich der Mitte gleicht einem
Ungeheuern Jahrmärkte, wo mitten in unaufhörlichem Zu-
draug voll Käufern und Verkäufern, Trödlern, Müssig-
gängern und Dieben das Publikum überall Schaugerüste
antrifft, Gaukler, Possenreißer und Komödianten in Menge
sieht. In allen 18 Provinzen des Reiches, in Städten jeder
Klasse, in Flecken nnd Dörfern will Jeder, reich oder arm,
von Leuten folchen Schlages sich ergötzen lassen. Theater
sind überall, und in den großen Städten
spielen die Komödianten bei Tag und Nacht.
Auch das kleinste Dorf hat seine Bühne, gewöhnlich der
Pagode gegeuüber; oftmals ist sie sogar ein Theil dieses
gottesdienstlichen Gebändes. Dazu kommen dann noch
die vielen Bühnen, welche man rasch, je nach Ersorderniß,
improvisirt nnd binnen wenigen Stunden aus Bambus
herstellt.
Alle diese Theater sind einfach; die Dekorationen, in-
soweit davon die Rede sein kann, stehen fest, sie werden im
Lause der Vorstellungen nicht gewechselt, und mau würde
nicht wissen, wann lmd wo das Stück spielt, wenn nicht der
Unternehmer, der zugleich Regisseur ist, dem Pnbliknm das
Nöthige mittheilte. Und nm die Sache recht klar zu
machen, schalteu auch die Schauspieler dann nnd wann Er-
läuterungen ein. Vorne auf der Bühne selbst befindet sich
„die Pforte der Dämonen", eine Klappe, aus welcher die
überuatürlicheu Personen hervorkommen.
Die Zahl der Theaterstücke ist Legion, und sie siild
allesammt in Anlage und Handlung sehr einfach. Der
Schauspieler tritt auf und sagt, was für eine Person er
darstelle. Uebergänge in den Austritten kennt man nicht,
und unanständige Possenreißereien werden mit ernsthaften
Dingen gemischt.
Der Schauspieler hat eine untergeordnete Rolle in der
Gesellschaft, gilt für einen Lohnknecht, welchen der Unter-
nehmer gemiethet hat und muß nebenbei ein gewandter
Aequilibrist uud Seiltänzer sein, denn ohne Kraftstücke
kann der Chinese sich feine theatralische Vorstellung denken.
Für einen europäischen Znschaner haben sie kein ästhetisches
Interesse, der Inhalt ist zu leer, aber für die Kunde des
Lebens uud Treibens der Chinesen sind sie nicht minder
schätzbar wie die Romane.
All herumziehenden Banden ist kein Mangel. Diese
Komödiantentrupps suchen Brot, wo es eben zu finden ist,
werden da oder dort Hill bestellt uud nehmen allen Bühnen-
bedarf mit sich. Hnc vergleicht diese Schanspielerkarawanen
mit unseren Zigennerbanden; sie reiseil übrigens gern zn
Wasser, was wohlfeiler ist als Wanderungen zu Laude.
Der Unternehmer ist ein reicher Privatmann, manchmal
anch ein Mandarin; auch tritt wohl eine Art von Actien-
verein ins Leben, der dann für ein Dorf oder ein gewisses
Stadtviertel die Komödianten in Lohn nnd Brot nimmt.
Komödie muß bei alleu möglichen Gelegenheiten gespielt
werden. Ein Mandarin wird um eine Stnfe höher beför-
dert; — er gibt dem Publikum eine Komödie zum Besten.
Die Ernte ist gut ausgefallen, — eine Komödie; eiue
Aus beut Haus - und Volksleben in China.
39
drohende Gefahr soll von einer Gegend abgewandt werden,
— eine Komödie; cht unglückliches Ereigniß hat sich
begeben, — wieder eine Komödie. So darf es dann auch
kantn befremden, daß die Chinesen eine Art von Actien-
theater haben. Wohlhabende Leute nnd Beamte kommen
überein, daß sie an so und so viel Tagen Komödie spielen
lassen wollen und vertheilen die Kosten. Dann und wann
bestreitet aber irgeud ein reicher Mann Alles, weil er dem
Publikum gegenüber als freisinnig erscheinen will. Auch
kommt es gar nicht selten vor, daß bei Abschluß eines wich-
tigen Handelsgeschäfts beide Theile sich verpflichten, einige
Theatervorstellungen geben zu lassen.
Uebrigens zahlt das Volk kein Eintrittsgeld. Auf den
Dörfern und in kleinen Städten nimmt Jeder Platz, wo
er ihn gerade findet, auf der Straße, auf Bäumen oder
Dächern. Alles schwatzt durcheinander, uoch mehr und
lauter als in Italien Brauch
ist; man raucht, ißt und
trinkt; die Knaben, welche
Eßwaaren und Leckereien
verkaufen, drängen sich
durch die Menge nnd rufen
nicht, wie in unseren „Som-
mertheatern" und „Tivo-
Iis", Bier, Wein oder Grog
aus, sondern Kürbiskerne,
Zuckerrohr zum Anskanen
und geröstete Kartoffeln.
Pfeifen und Applaudircn
kennt man nicht, weibliche
Rollen werden von Jung-
lingen gefpielt, aber bei
Seiltänzern und Knnstrei-
tern arbeiten auch Fraueu
ntit uud ihre Kunststücke er-
regen Verwunderung, wenn
man bedenkt, daß sie, nach
Landesart, an den Füßen
verkrüppelt sind nnd doch
auf gefpauutem Seile lau-
feu oder auf dem Rücken
der Pferde springen und
hüpfen.
Ich finde in einem Werk
Über China (Etucles sur la
Chine conternporaine, par
Maurice Irisson, Paris
1866) einige Bemerkungen
über das chinesische Theater
(S. 170 ff.), die ich hier einschalten will. Lange bevor
man in Europa an Personen, welche aus dem Theater
singen, auch nur dachte, hatten die Chinesen dergleichen.
Sie zuerst haben lyrische Dramen gehabt. Auch
haben sie, iu der Theorie, sich eine nicht minder erhabene
Auffassung vom Zweck und von der Bestimmung der Bühne
entworfen, wie die alteu Griechen. Das kaiserliche Straf-
gefetzbnch sagt, dieser Zweck sei: „auf der Bühne Abbilder
darzustellen von guten und gerechten Menschen, von keuschen
Frauen, von gehorsamen, liebevollen Kindern, so daß die
Zuschauer sich dadnrch zur Ausübung der Tugend angeregt
fühlen". Also eine „moralische Bildungsanstalt"; aber
die Praxis bleibt im Blumenreiche der Mitte hinter der
schönen Theorie nicht minder weit zurück, wie au Donau
und Spree, Elbe oder Seine. China hat die „Caf6's
chantants" gleichfalls viel früher gehabt, als die Länder
der „christlich europäischen Civilifation". Unser Bild zeigt,
Eine chinesische Dame spielt ans einer Theorbe.
(Nach einer chinesischen Zeichnung )
wie eine Bühne in Peking aussieht. Die Zeichnung ist
an Ort uud Stelle von der, int vorigen Jahre verstorbenen
Fran des französischen Gesandten Bonrbonlon entworfen
worden. Der Staatssekretär, Herr Tschnng lnen, hatte
den europäischen Diplomaten zu einer Vorstellung einge-
laden, die am chinesischen Neujahrstage stattfand. Die
Bühne stand im Palastgarten des Beamten, der in der so-
genannten Tatarenstadt wohnte; dort haben die hohen
Mandschnbeamten ihre Wohnungen. Die Säulen an den
Seiten waren mit Bändern von himmelblauer, goldgelber
und scharlachrother Farbe umwickelt; auch waren allerlei
sonstige Verzierungen angebracht. Die Bühne ist mehr
breit als tief und bildet ein etwa 6 Fuß hohes Gerüst.
Hinter der spanischen Wand sind Conlissen, wo die
„Künstler" sich ankleiden nnd schmücken. Dekorationen in
unserm Sinne sind, wie schon oben angedeutet wurde,
nicht vorhanden; man hat
einen Teppich und cht paar
Stühle; das ist Alles.
Die Zuschauer sitzen unter
freiem Himmel; die Seiten-
logen waren für die Frauen
des Staatssekretärs und die
Europäerinnen bestimmt.
Die Aufführung bestand
in eiltet: großen Haupt- und
Staatsactiou und spielte
in bcit Zeiten der Ming-
dynastie; ein bewaffneter
Offizier agirte die Hanpt-
rolle. Auf das lauge Stück
selber wollen wir nicht
weiter eingehen und nur
bemerken, daß der tapfere
Krieger sich ntit Gefattg an-
meldete, und vom Orchester
begleitetet wurde, das atts
zwei Flöten, einer Trommel
und einer Harfe bestattd.
Dasselbe hatte schon eine
Ouvertüre zum Besten ge-
geben. Der Offizier zeigte
allerlei Kraftstücke nnd war
namentlich Meister int Ba-
laneiren; er stellte seilte
kurze Hellebarde attf die
Nasenspitze, lief damit hin
uud her und sang gleich-
. , zeitig eine schöne Arie.
Nachdem diese Action, welche die Eroberung China's durch
die Mandschu zttm Gegenstand hatte, vorüber vor, kam
eine allegorische „Piece", die Vermählung des Meeres mit
der Erde.
Irisson hat manche Lustspiele ntit angesehen. Es
wurde dabei großer Lärm mit Trompeten, kleinen Trom-
mein, Flöten, Tamtams intb Seemnscheln gemacht und
viel und laut in einer für Europäer ohrenzerreißenden
Weife gesungen. Dann trat ein Mandarin iit seiner
Amtstracht ans, sprach ernsthafte Worte, legte iit sein
ganzes Benehmen ungemein viel Würde nnd bann sprang
er, den besten Seiltänzern zum Trotz, ans Stühle und
Tische uud endlich — zum Fenster hinaus! Daraus
begann wieder das, was deu Chinesen für Musik gilt.
Ein Jüngling, der eine Frau darstellte, sang dann mit
Falsettstimme, und die zehn oder zwölf Mandarinen
der Komödie waren ganz entzückt über die reizende
G, Rohlfs: Bemerkungen über die Zukunft Algeriens. 41
Dame, welche dann aber auch kräftige Sprünge zum ues Ming fu: „Wer obfeöue Stücke schreibt, soll im
Besten gab. An unzüchtigen Reden und Gebärden fehlt Aufenthalte der Büßungen streng bestraft werden und
es in den Stücken nicht, und weder Komödianten noch seine Pein soll so lange dauern, alv diese Stücke auf
Publikum kümmern sich um die Worte des weisen Man- Erden sind."
Bemerkungen über M
Von Gerhard Ro
Mursuk in Fessan, im Januar 18öS.
Der Kaiser der Franzosen hat sich bitter getäuscht,
wenn er geglaubt hat, durch eigeue Anschauung vermittelst
einer bloßen Triumphreise den Zustand einer Colonie
kennen lernen zu können. Schon um civilisirte Völker zu
studiren und dann ihren moralischen und materiellen Zu-
staud würdigen und beurtheileu zu können, dars man nicht
als großer Herr, viel weniger als Kaiser reisen. Ich
erinnere nur an die bekannte Reise der Kaiserin Katharine
in Süd-Rußland, der man alle Tage dieselben Leute,
dasselbe Vieh eutgegen trieb, um sie glaubeu zu machen,
daß die Provinzen gut bevölkert seien. Und sehen wir nicht
in Algerien bei der Reise des Kaisers sich etwas Aehnliches
wiederholen? Die Dnar in der Provinz Oran waren bei
der Durchreise des Herrschers uach Sidi Bel-Abbös au die
Landstraße gerückt; so erzählen uns die Lokalblätter.
Die Araber gründlich kennen zu lernen ist gar noch
schwieriger; das geliugt nur bei langjährigem Aufenthalt
unter ihnen, oder wenn man in ihrer Mitte gereist ist und
zwar unter der Maske eines Mohammedaners, uicht eines
Vornehmen, sondern eiues Bedürftigen; denn selbst einem
vornehmen Religionsgenossen gegenüber sind die Araber
*) Der muthige Reifende befand sich zu Ende Januars uoch
in Mursuk, wo er verweilen wollte, bis die nöthigen Effekten,
welche er von Tripolis erwartete, angekommen sein würden.
Sobald dies geschehen, wollte er nach Wada'i aufbrechen. Die
geographische Gesellschaft in London hat ihm ihrerseits einen
Beitrag zu deu Reisekosten im Belauf von 100 Pfd. Sterling
angewiesen.
Was die obigen Bemerkungen anlangt, so sind dieselben
durch des Kaisers Napoleon Briese über Algerien veranlaßt
worden. Es ist von Interesse, die Ansichten eines Reisenden
kennen zu lernen, der mit Nordafrika so gründlich vertraut ist,
wie Herr Rohlfs. Gegeu die Schlußfolgerungen und den Rath,
welcher dem Beherrscher der Franzosen ertheilt wird, lassen sich
indeß viele wohlbegründete Einwendungen erheben. Es ist z.B.
niemals einem Eroberer Nordafrika's gelungen, die Araber in
die Wüste zurückzudrängen. Die Franzosen halten es gern
gethan, haben aber nichts vermocht. Neben der Handvoll (etwa
209,000) ^Europäer leben '2,400,000 Eingeborne. Von einer
umfassenden Akklimatisirung, von dauernder Eingewöhnung,
von einem bodenständig Werden der Europäer in Algerien
kann keine Rede sein. So wenigstens lautet das Resultat, wel-
ches die Aerzte gewannen, welche lange Jahre in Algerien
Beobachtungen angestellt haben, und in der anthropologischen
Gesellschaft' zu Paris ist vou vielen Notabilitäten der Wissen-
schaft dieselbe Ueberzeuguug geltend gemacht worden. Auch wer-
den die Franzosen den Araber ebensowenig verdrängen wie zur
Annahme der christlichen Religion und zur europäischen Eivili-
sation bringen können. Ich möchte die Leser bitten, meinen Auf-
"®e.™erkintgeit üb er Algerien" im Globus (VIII,
S. 617) mit dem Gegenwärtigen zu'vergleichen. Auch ich knüpfte
meine -Betrachtungen an die Reise Napoleons; sie führen zu
einem Ergebnisse, das jenem unsres berühmten Reisenden dia-
metral entgegengesetzt ist. Wir weichen im Resultate toto coelo
von einander ab, fast Satz für Satz! A.
Globus x. Nr. 2.
ZuKunst Algeriens.
fs aus Bremen.*)
Lügner, Heuchler und Prahler. Unter allen anderen Um-
ständen ist man nur zu geueigt, über deu Grundcharakter
dieses Volkes in große Jrrthümer zu verfallen, wie eben
erst der Kaiser und früher der bekannte General Daumas,
der so anziehende Bücher über die Araber geschrieben hat,
die man jedoch als nichts weiter denn Romane betrachten
darf. Dam obgleich General Daumas jahrelang die
Bureaux arabes dirigirte, fo hatte er doch wohl uie Gelegen-
heit, mit den Leuten vom kleinen Zelte zu ver-
kehren, soudern frequeutirte nur die Leute der cheima
kebira; will man aber ein Volk kennen lernen, so muß
man sich uicht blos in den höchsten Kreisen desselben
bewegen, sondern alle Klassen durchmustern.
Ich nun würde nicht gewagt haben, über einen so deli-
caten Gegenstand meine Meinung abzugeben, wenn nicht
ein langjähriger Aufenthalt in Algerien selbst, dann eine
dreijährige Reife durch Marokko und seine Wüste, bei
welcher unter anderen ganz Tnat durchforscht wurde (in
welche Oase die Franzosen bis jetzt vergebens weder mit
Güte noch mit Gewalt haben dringen können), mich derart
mit allen Klassen dieses Volkes in Berührung brachte, daß
ich glaube, im Interesse Frankreichs, im Interesse Algeriens,
meine Meinung nicht verschweigen zu dürfen.
Meine Meinung über die eingebornen Bewohner der
Algerie habe ich vor zwei Jahren in mein Tagebuch nieder-
gelegt und dies im Jahre 1865 in den Dr. Petermann'schen
Mittheilungen, Th. XI, publieirt; dasselbe enthält folgen-
den Passus, der sich nun schon wieder durch den frischen
Ausstand Si Lalla's bewährt hat:
,,Jch glaube, die Franzosen können sich nicht genug in
Acht nehmen, wollen sie nicht einen Tag erleben, wie ihn
die Engländer in Indien gehabt haben. Bei einer Nation
wie die Araber, deren ganzes Wesen, Leben und Treiben
sich auf die intoleranteste Religion gründet, die existirt, siud
Civilisationsversuche vergeblich. Wie sind die
Araber heutzutage nach mehr als 30jährigem Besitze der
Franzosen von Algerien? Die in den Städten haben alle
schlechten Sitten der Franzosen angenommen und Helsen
dem französischen Pöbel im Absinthtrinken; daß sie aber
dafür auch nur im Geringsten christlich religiöse Grundsätze
angenommen hätten, daran ist nicht zu denkeu. Forscht
man tiefer nach, fo findet man, so geschmeidig und umgäng-
lich sie äußerlich geworden sind, daß sie innerlich allen Haß
und alle Verachtung gegen die Bekenner eines andern
Glaubens bewahrt haben. Entfernt nian sich nun gar
eiuige Stunden weit von der Stadt, so findet man, daß die
Civilisation dahin noch ganz uud gar nicht gedrungen ist.
Der Araber unter seinem Zelte lebt nach wie vor und haßt
die Christen ebenso wie früher, und wenn er sich enthält
einen Ungläubigen zu tödten, um dafür das Paradies zu
6
42 G. Rohlfs: Bemerkungen
erlangen, so geschieht es nur aus Furcht vor dem strengen
Gesetze. Die Franzosen hätten längst wie die Engländer
in Nordamerika mit deuEingebornen verfahren sollen, näni-
lich dieselben zurückdrängen, dann wäre Algerien heutzu-
tage ein ruhiges, nur vou Europäern bewohntes und knlti-
virtes Land. Man wird dies vielleicht hart finden und
barbarisch und mit den civilisirten Grundsätzen unserer
Epoche uicht übereinstimmend. Vom Zimmer aus und von
Weitem sind die Dinge jedoch ganz anders anzuschauen,
als in der Nähe, und notwendiger Weise wird es bis zum
letzten Tage immer Völker geben, die zum Besten der allge-
meinen Menschheit den andern Platz machen müssen je. k."
Diese vor zwei Jahren ausgesprochenen Grundsätze
sind auch uoch heute meine fcfte innige Ueberzeuguug.
Wenn dem nothwendigem Gange der Natur nach früher
oder später jede Colouie sich vom Mutterlande trennt, so-
bald sie sich stark genug fühlt, um auf eigenen Füßen stehen
zu können, und notwendiger Weise der Tag heran kommt,
wo z. B. Großbritannien auf feilte beiden einzigen Inseln
wird beschränkt sein — hat Frankreich das Glück gehabt,
eine Eolonie zu finden, die vor den Thoren des Mutter-
landes liegt, ja jetzt durch Dampf und Telegraph Eins
mit ihm ist. Diese außergewöhnliche Lage würde es
gestatten, die Eolonie so mit der Metropole zu verschmelzen,
daß für Frankreich an eine spätere gewaltsame Lostrennung,
wie das von Alters her immer bei allen Colonien der Fall
gewesen ist und sein wird, nicht zu denken wäre.
Dazu gehört aber vor alleu Dingen, daß die Bevöl-
kerung Eine sei. Ich will damit nicht gesagt haben, daß
die Franzosen deshalb anderen Europäern die Colouie ver-
schließen sollen; im Gegentheil, selbst jetzt nach blos
30 Jahren sehen wir, daß die aus anderen Ländern Ein-
gewanderten*) und namentlich ihre Abkömmlinge fast gänz-
lich französische Sitten und Gebräuche angenommen haben
und meistens, namentlich die jüngere Generation, auch die
französische Sprache. Aber zwei in jeder Beziehung so
gänzlich von einander verschiedene Völker, wie Franzosen
und Araber es sind, neben einander bestehen lassen oder
gar versuchen wollen, sie zu vermischen, ist der höchste Un-
sinn. Seit undenklichen Zeiten hat das Arabervolk sich nie
mit anderen vermischt, weil es mehr noch als die Juden von
seiner eigenen Vortrefflichkeit als von Gott auserwähltes
Volk überzeugt ist. Seit tausend Jahren in Besitz der
Nordküste Afrika'», sehen wir Berber und Araber neben
einander bestehen, jedes Volk genau seine Sprache und
Sitte beibehaltend. Im äußersten Osten, in der Jupiter-
Amnions Oase, am Atlantischen Ocean im Sus- Lande
haben die Araber die Berber zu unterwerfen, jedoch nicht
sich mit ihnen zu amalgamiren gewußt. Die fo-
genannten Kulughli, Progenitur der Türken mit Araber-
*) Mit Ausnahme der Spanier, welche in der Provinz
Oran angesiedelt sind und die, weil im beständigen Rapport mit
ihrem Vaterlande, Sprache, Sitten und Tracht Spaniens treu
beibehalten haben.
über die Zukunft Algeriens.
Weibern, bezeugen keineswegs ein Aufgehen der Araber
in Türken oder umgekehrt; überall, wo die Türken die
Araber beherrschen, bestehen beide Völker nnvermischt
nebeneinander. Und doch verbindet Berber, Araber
und Türken Eine Religion.
Wird man je dein Araber seine Wanderlust, seinen
Hang zu plündern und sich raubend umherzutreiben nehmen
können? Versuche man doch eine Hyäne zu zähmen! Der
Araber ist moralisch überzeugt, daß er den französischen
Bayonetten nicht widerstehen kann, dennoch wird er bei der
geringsten Gelegenheit sich wider Ordnung und Gesetz
erheben, itni) so lange wird Revolution in der Algerie sein,
wie uoch ein Zelt oder Dnar vorhanden ist. Mögen die
Gefühlsmenschen sagen, was sie wollen, vom Verdrängen
der Indianer durch die Engländer, jeder vernünftige Menfch
findet es bewnndernngswerth, Nordamerika der Civilisation
gewonnen zu sehen. So verabscheuungswerth die modernen
französischen Araberlobhudler die Vertreibung der Mauren
aus Spanien hinstellen mögen, so ist nicht zu verneinen,
daß Spanien dadurch der Civilisation erschlossen wurde;
denn wären die Mohammedaner heute noch im Besitze der
Halbinsel, so wären sie sicher in keiner Weise weiter in der
Civilisation, als es die in den anderen Ländern Wohnenden
sind; und wenn die Spattier selbst sich nicht schneller eivili-
sirten und Schritt hielten mit den anderen Völlen, so ist
die Verarmung des Landes, die Entvölkerung Spaniens
nicht im Vertreibungsedikt Ferdinand des Katholischen zu
snchen, sondern eher in der enormen Auswanderung nach
Amerika, die zu der Periode statt fand.
In der That sehen wir, daß in den Ländern, die sich
abgeschlossen von aller christlichen Civilisation halten, die
Mohammedaner seit der Periode, wo Mohammed sie zum
Islam bekehrte, gar keinen Fortschritt gemacht haben. Und
die sogenannten arabischen Glanzperioden unter den Abassi-
den im Orient, unter den Ommiaden im Oceident, sind
nur dem christlichen Einflüsse znzuschreibcu, weil dort unter
beiden Regierungen Christen die Hauptbevölkerung bildeten;
aber in den Ländern, wie z. B. Marokko und Arabien, wo
die Araber uie mit Christen in Berührung kamen, haben
die Araber es uie weiter zu briugen gewußt, als wie ihr
Standpunkt war zur Zeit Abrahams.
Möge daher der Kaiser der Franzosen nicht zaudern,
und ein Volk, das für die Wüste geboren ist, dahiit zurück-
drängen, woher es gekommen ist; diejenigen, welche den
ernsten Willen haben, sich mit den Europäern zu vereinigen,
werden vou selbst zurückkommen und müssen die christliche
Religion annehmen, die einzige, unter welcher Civilisation
möglich ist. Durch das Verdrängen der Araber in Masse
in die Wüste hinein wird der Kaiser sich nicht nur deu
Dank aller Franzosen, sondern auch die Bewunderung der
ganzen christlicheu Welt erwerben, und möge die Geschichte
unsere Nachkommen einst lehren: Die Bourbonen wußten
die Algerie zu erobern, die Napoleoniden indeß verstanden
es, sie in christlich eivilisirtes Land umzuwandeln. —
A. Bastian: Eine Wanderung mit Yankees im Goldlande von Peru.
43
Eine Wanderung mit MnKees im Goldlande von Peru.
Von Adolf Bastian.
II.
Der Basinfluß. — Ein goldgrabender Engländer nnd dessen Schicksals — Nach dem Rio Colorado. Die ersten Chunchus
nnd Verkehr mit denselben. — Tauschhandel. — Wirkung eines Spiegels. Sitten der wilden Indianer. — Mißlingen
des' Abenteuers.
Da, wo der Basiri sich mit dem Rio Mareapata
vereinigt, gerade in Front des doppelhügeligen Camanti,
folgten wir dem ersteren aufwärts und erreichten bald den
als Rendezvous bezeichneten Punkt, wo sich aus früherer
Zeit noch ein kleines Holzgebäude befand. Unsere Ge-
fährten empfingen uns mit etwas langen Gesichtern. Sie
hatten die Zeit ihres Aufenthaltes tüchtig benutzt, um
Prospekte au verschiedenen Stellen des Creeks zu machen,
aber bis Dato waren die Resultate, wie sie sagten, kläglich.
Sie hatten sich jetzt aus Werk gemacht, das Wasser abzu-
dämmen, um im Bette selbst zu arbeiten, und schou eiuige
Vorbereitungen getroffen. Die nächsten Tage gingen mit
der Vollendung dieser Arbeiten hin, denen eiuige junge
Leute aus Cnzco und der Umgegeud, die, um der Rekrnti-
ruug zu entgehen, sich in die Montana zurückgezogen hatten
und mit unserer ersten Partie heraufgekommen waren,
als in den ihnen höchst sonderbar vorkommenden Proeee-
dings sehr interessirte Zuschauer dienten. Obwohl sie, um
einen Vorwand der Regierung gegenüber zu besitzen, sich
den Namen einer compafiia minera-agricola beigelegt
hatten, bestand ihre ganze Beschäftigung doch nur darin,
einen: alten, geschwätzigen Franzosen, der ihnen wegen
seiner angeblichen neuen Erfinduugeu iu der Goldgewiu-
nung als Mentor mitgegeben war, den Löweuautheil zu
bestreiten, den sich derselbe täglich an der Choeolade und den
übrigen guten Dingen des Proviants zuzuerkennen pflegte.
In Betreff der Ausrüstung besaß ein Jeder zwei große
Ledersäcke und je zu Zwei eiue etwas antike Schaufel, wo-
von die ersteren zur Aufbewahrung des auf dem Boden
der Montana umhergestreuten Goldes dienen sollten, wäh-
rend über die eigentliche Bestimmung der letzteren nur sehr
vage Begriffe herrschten.
Etwas unterhalb der von uns in Angriff genommenen
Stelle befanden sich an beiden Seiten des Creeks ziemlich
ausgedehnte Spuren verlassener Diggings, die, wie
unser Führer, der selbst Minero war, und ich glaube sogar
einen Titel als Eigeuthümer des Basiri hatte, uns sagte,
von einem Engländer herrührten, der vor fünf Jahren dort
mit einer großen Menge Indianer gearbeitet nnd „mucho
oro" herausgenommen habe. Hinsichtlich speciellerer Be-
stimmung der Quantität war es schwer, zu einer klaren
Ansicht zu kommen, da die Angaben zwischen 1090 und
106,000 Dollars schwankten. Jndeß scheint er kaum sehr
brillante Resultate gehabt zu haben, da er später den Basiri
verließ und sich in der Nähe des Camanti ansiedelte, im
Auftrage einer Cascarilla - Compagnie von Arequipa. Dort
suchte er, wie uns erzählt wurde, die Freuudfchaft der
Chunchus (wilden Indianer) zu gewinnen und gelangte
wirklich zu einem solchen Grade der Vertraulichkeit, daß
er nicht nur die Wilden in seinem Hause empfing, sondern
auch seinerseits ohne weitere Vorsichtsmaßregeln besuchte.
Aber sein Sicherheitsgesühl war voreilig. Ein Chuuchu,
dem während seiner Abwesenheit der Hausmeister ein ihm
für die gebrachte Quantität Cascarilla-Rinde versprochenes
Messer verweigerte, versammelte seine Verwandten um sich,
klagte ihnen die ihm augethane Schmach und bat um
ihre Unterstützung in dem von ihm geschmiedeten Rache-
plan. Sie begaben sich, wie es oftmals geschah, in der
nächsten Woche zu dem Hause des Engländers, machten an
der andern Seite des dasselbe umschließenden Baches Halt
und baten den Wairi (eiue Bezeichnung für Häupt-
liug, die sie auch auf jeden Weißen anwenden)
zu ihnen herauszukommeu, um die mitgebrachten Geschenke
an Fischen und Früchten in Empfang zu nehmen.
Arglos folgte jener ihrer Einladung und belustigte sich
während des Genusses der Früchte mit dem Schauspiele,
das ihn: die Wildeu iu ihrer Fertigkeit hu Schießen ihrer
Pfeile gaben. Aber plötzlich suchten diese ein anderes
Ziel, sie richteten sie aus feilte Brust, und ehe er aufspringen
und deu Fluß durchschwimmen konnte, war sein Körper
von Geschossen bedeckt. Trotzdem erreichte er seine Woh-
nung, aber iu die Thür tretend, sprang ihm sein Hund, ein
großes, schönes Thier, wovon nus der Goberuador von
Mareapata einen Jungen geschenkt hatte, entgegen und
brach durch seine Liebkosungen alle Schafte in den Wunden
ab. So war keine Rettung mehr möglich. Die nun zum
Blutvergießen geneigten Chunchus begaben sich uuverzüg-
lich von dort nach dem Basiri, wo der Partner des Eng-
länders, ein gewisser Alvarez, allein zurückgeblieben war,
und ermordeten ihn mit barbarischer Grausamkeit. Hier
aus diesem Steine, fügte der Erzähler hinzu, fanden wir
seinen ^verstümmelten Leichnam. Diese beiden Mordthaten
verbreiteten einen panischen Schrecken unter den damals
wieder ziemlich häufig die Montana besuchenden Indianern.
Alle entflohen, fo daß die Cascarilla-Compagnien ihr Ge-
schäst nicht fortsetzen konnten, und nur seitdem im vorigen
Jahre ein Häuptling der Chunchus in der Nähe von Mar-
eapata erschossen worden war, hatten sich dieselben wieder
jenseits des Basiri zurückgezogen.
Unsere Arbeiten schritten rüstig fort, aber unsere Hoff-
nnngen nahmen von Tag zu Tag ab. Ein Indianer, der
in Peru zum Gefängniß verurtheilt, sich iu der Montana
verborgen hatte, kam oftmals, unsere Operationen in
Augenschein zu nehmen, nnd ließ, unsere Unzufriedenheit
mit dem Erfolge sehend, manche Anspielungen fallen, einen
Ort zu wissen, wo Jeder so viel Gold sammeln könne, als
ihn gelüste. Den ihn weiter befragenden Neugierigen
theilte er mit, daß er einst aus seinen Zügen, als Casca-
rilla - Sammler, sich verirrt habe uud nach vielem Hin- nnd
Herwandern schließlich zu einem Flusse gekommen sei, an
dessen Ufern er ermüdet fein Nachtlager aufgeschlagen habe.
Nach deiu Frühstück am nächsten Morgen, seine Eßschüssel
waschend, habe er dieselben überall mit Gold bedeckt gesehen,
aber ehe ihm noch Zeit zu weiteren Nachforschungen geblie-
44 A. Bastian: Eine Wanderung m
beu wäre, hätte die Erscheinung eines Chnnchu-Haufens
ihn zur Flucht gezwungen, und seitdem habe er sich nicht
wieder dahin gewagt. Der ganzen Lokalität nach zu
urtheilen, müsse dies der Rio Colorado gewesen sein, dessen
reiche Goldminen eifersüchtig von den Chnnchus gehütet
würden, welche sonst fürchteten, durch die Einwanderung
aus allen ihren Territorien vertrieben zn werden. Er
habe sich damals den Weg durch verschiedene Zeichen
bemerkt, so daß es leicht sein würde, ihn wieder zu finden,
immer aber bleibe es ein höchst gefährliches Unternehmen,
zu dem er sich nicht ohne eine große Belohnung entschließen
könne. Die Ansichten über diesen Vorschlag waren
getheilt, indem selbst die Hitzigsten jetzt etwas ungläubig
geworden waren.
Weil indessen unsere Arbeiten am Basiri sich schon als
eine vollständige „Failnre" erwiesen hatten, schlug ich der
Compaguie vor, den Zug nach dem Rio Colorado mit
der Hälfte derselben zn machen und dann je nach den dort
zu gewinnenden Profpecten ihr Mittheilungen zukommen
zu lassen. Der zurückbleibende Nest sollte in der Zwischen-
zeit theils noch eine andere Stelle des Basiri trocken legen,
theils die Wasser des Camanti versuchen. Der Führer
wurde angewiesen, sich seine Bezahlung in der von ihm so
reich geschilderten Gegend, wo wir ihn gegen Angriffe
schützen würden, selbst zu suchen, und nach getroffener
Wahl meiner Begleiter brachen wir früh am Tage aus,
nur mit einem sehr spärlichen Vorrathe Proviants und den
allernothwendigsten Gerätschaften außer unseren Waffen
versehen, da weder durch Geld uoch durch Gewalt mehr als
fünf Lastträger bewogen werden konnten, das gefürchtete
Gebiet der Indios Bravos zu betreten. Wir wanderten
einige Stunden weit in dem Bette des Basiri, feinem Laufe
folgend, und schlugen uns dann links in den dichten Ur-
wald, wo jeder Schritt mit Axt oder Machete erst zn öffnen
war. Das Wegräumen der zusammengefallenen Baum-
stamme, die Entwirrung der jede Pflanze, jeden Ast über-
ziehenden Schlinggewächse, das Aushauen von Treppen in
die senkrechten Felsen ließ uns nur sehr langsam vor-
schreiten, so daß erst gegen Abend die mit mannshohem
Schilfe bedeckten Ufer des Mareapata unterhalb des früher
von uns berührten Punktes erreicht wurden.
Die ganze Gegend hatte einen andern Ausdruck gewon-
nen. Die Cerros des Basiri und des Camanti lagen hinter
uns, und sie erschienen als die letzten Ausläufer der von
der Cordillera sich herabsenkenden Hügelreihe, die hierin
weiten, nur sauft gehobenen Ebenen verschwand. Der in
seinem Laufe jetzt bedeutend ruhigere Marcapatafluß wand
sich majestätisch durch die unendlichen Waldungen hindurch,
deren tief dunkles Grün wunderbar an dem klaren, gold-
schimmernden Horizonte hervortrat. Die balsamische milde
Lust, die den Körper umfließt, -durchdringt denselben mit
einem unbekannten Wonnegefühl, Wohlgerüche schwängern
die Atmosphäre, und in tropischer Farbenpracht ihres lang-
gefiederten Schwanzes glänzende Vögel fahren dann und
wann aus den durch kein Säuseln bewegten Aesten des
wildverschlungenen Dickichts auf. Tausend liebliche
Sänger begrüßen die aufgehende Sonne, und die Alles
durchströmende Feuchtigkeit läßt auch die glühende Mittags-
sonne nur in eine sanfte Wärme hinschmelzen. Die Flüsse
sind reich an mannigfaltigen Fischarten und ihr Rand ist
bedeckt von Wasservögeln, alle Bäume sind belebt von den
munteren Affen -Colonien. Von Wild fahen wir reichlich
Fnßstapfen, die wilden Schweinen anzugehören schienen,
oder, wie die Indianer sagten, der gran bestia, aus der sie
ein merkwürdiges Fabelwesen, zusammengesetzt aus den
Attributen eines Hirsches, Ochsen und Pferdes machen,
Uankecs im Goldlande von Peru.
wahrscheinlich die Antesknh, Danta (Tapir americanus).
Nachts läßt sich das Geheul der Jaguars und wilden Katzen
hören, die iudeß so wenig, wie die nicht zahlreichen
Schlangen, besonders gefährlich sind. Dagegen findet sich
eine Wespenart, deren Stiche nnverhältnißmäßige Schwel-
lnng und einen fast zur Raserei treibenden Schmerz ver-
Ursachen, was sich indeß Beides glücklicher Weise ebenso
rasch wieder verliert. Der Regen fällt in der Montana
fast das ganze Jahr, obwohl mit verschiedener Heftigkeit,
besonders in den von der Cordillera abfallenden Thälern,
wo oft ungeheuere Bergstürze dadurch veranlaßt werden.
Die Bestimmung der Jahreszeiten ist in Peru gewisser-
maßen unmöglich, da auf jeder größern oder geringern
Erhebung sich alle Witterungsverhältnisse ändern und so
die Bewohner eine andere Rechnung haben.
Wir näherten uns dem zum Nachtlager bestimmten
Platze, als der Führer stillstand, vorsichtig sich umsah und
seitwärts ging, wo wir hinter einem Busch ein Blätterdach
fanden, mit Ueberresten einer Mahlzeit und noch nicht ganz
zu Asche gebrannten Kohlen vor denselben. „Chunchus",
sagte der Führer mit einer zugleich Verachtung und Schreck
ausdrückenden Geberde. Diese gehörten zu den wandern-
den Stämmen.
In das Abendessen brachten frisch gefangene Fische
eine lang entbehrte Abwechselung. Leider aber waren
die meisten unserer Angelschnüre zu dünn und zerrissen
durch das starke Gewicht. Am nächsten Morgen verließen
wir bald wieder die Ufer des Mareapata, um uns auf's
Neue durch den undurchdringlichen Wald durchzuarbeiten,
und fahen bei Sonnenuntergang ein anderes, unVergleich-
lich liebliches Thal vor uns, aus dessen grünen Bogenhallen
ein krystallener Strom in tausend Windungen hervor-
glänzte. Der Führer blickte nach uns um, legte bedeutungs-
voll feine Hand an den Mund und sagte mit halber
Stimme: „Llegando al Rio Lucumayo no se habla",
worauf er mit mehr Vorsicht noch, als früher, feinen Weg
fortfetzte. An den duftenden Gestaden des Lncnmayo
errichteten wir unsere leichten Hütten, beendigten das fru-
gale Abendmahl und sanken bald, das leuchtende Kreuz
des Südeus über unserm Haupte, iu erquickenden Schlaf.
Wenige Schritte von unserm Lager fanden wir beim Auf-
bruche des folgenden Tages einen großen Büschel kürzlich
gepflückter Bananen und einen zierlich geflochtenen Stroh-
korb, und zugleich machte uns der Führer auf frische Fuß-
spuren im Grase, so wie Abdrücke der nassen Füße aus den
Steinen aufmerksam. Es unterlag keinem Zweifel, daß
wir von den Chnnchus umgeben und beobachtet waren,
und es kam nun darauf au, welchen Plan wir gegen die-
selben verfolgen sollten. — In Peru hatte man uns
gerathen, jeden Chnnchu ohne Weiteres wie ein wildes
Thier niederzuschießen, da dieser heimtückischen Rasse auf
keine Weise zu trauen wäre und Alle ausgerottet
werden müßten. Die gesuudeueu Gegenstände schienen
indeß auf den Wunsch, in freundschaftliche Beziehungen zu
treten, hinzudeuten, und da wir durch solche bei der Spär-
lichkeit unserer Speisevorräthe nur gewinnen konnten, so
wurde, zum großen Verdrnsse unseres Führers, beschlossen,
vorläufig feine feindlichen Maßregeln zu ergreifen.
Nachdem wir den Lncnmayo in seinen vielfachen Win-
düngen etwa 29 bis 30 Male durchwatet hatten, betraten
wir ein Gehölz, das in seinen lichter stehenden Baumreihen
den Einfluß menschlicher Gegenwart nicht verkennen ließ.
Hie und da waud sich ein höchst schmaler Fußpfad für eine
kurze Strecke fort, oder zeigte die glatte Fläche eines Baum-
stumpfes künstliche Bearbeitung. Ich war gerade etwas
zurück, als ich vor mir plötzlich einen Schuß fallen hörte
A. Bastian: Eine Wanderung mit
und beim Hineilen gerade zeitig genug kam, um an einer
offenen Stelle des Waldes einen Wilden an der andern
Seite des Dickichts verschwinden zu sehen, während der
Führer unter wüthendem Geschrei von Wairi, Wairi, sein
Machete (Hanmesser) über dem Kops schwingend, mit
einigen Begleitern nach derselben Richtung hinrannte. Erst
durch mehrfaches Anrufen zum Stehen gebracht, und um
die Bedeutung des Schusses gefragt, ergab sich, daß der
Führer, wahrscheinlich um eine alte Rache zu kühlen, Einem
unserer Gefährten die dringende Nothwendigkeit zu feuern
vorgestellt habe, als zwei Ehunchus in der Ferne gesehen
wurden, und dieser hatte sich in der Uebereilnng fortreißen
lassen. Dem ihm von der Gesellschaft nicht vorenthaltenen
Tadel wurden eindringliche Ermahnungen an den Führer
hinzugefügt, künftig den ihm ertheilten Weisungen gemäß
zu handeln. Etwas seitwärts vom Wege fand sich ein im
Viereck angelegter Bananen-Garten, von einer Ein-
sassnng durch Schlingpflanzen zusammengebundener Planken
umgeben. Gegen Mittag gelangten wir aufs Nene an die
User des Luenmayo, der sich hier, vereint mit dem Ehallo-
mayo, gleich einem See in eine weite Wasserfläche aus-
dehnt, und auf dementgegengesetzten Strande bemerkten
wir einen Hausen der dunkelhäutigen Ehunchus, die bei
unserer Erscheinung in lebhafte Bewegung geriethen.
Wir lagerten uus gleichfalls, das Weitere zu berathen.
Nachdem sich die Nankees mit ihren Flinten, um für vor-
kommende Fälle fertig zu sein, am Strande aufgestellt
hatten, begann ich mit dem Führer das Wasser zu durch-
waten, aber als wir etwa zu der Mitte desselben gelangt
waren, fingen die Indianer, welche uns bis dahin ruhig
zugesehen hatten, auf die wildeste Weise zu gesticulireu an,
schlugen sich ihre Seiten und stießen alle Arten nnarticu-
lirter Töne aus. Das Einzige, was der Führer erwiederte,
und auf dessen Kenntniß, glanbe ich, sich auch seine ganze
Prätension zu dem Dolmetscher-Titel reducirte, war:
Himpa, liirapa (Tausch) und siri, siri (Messer). In dem
Maße, als wir uns dem User näherten, zogen sich die
Wilden weiter von demselben zurück. Als wir daselbst
angelangt waren, legten wir zwei Messer aus einen Stein
und entfernten uns wieder. Vorsichtig kam nach einiger
Zeit ein Knabe heran, nahm die Messer und legte an ihre
Stelle eiuige Bananen, sich dann in eiligen Sprüngen
entfernend. Wir kehrten nun zurück, und obwohl unsere
Gegenwart einen neuen Sturm erregte und der Führer
behauptete, daß der Chunchn gegen die Fortsetzung unserer
Reise, auf der wir sein Hans zu passiren hätten, Protestire,
gab ich den Uebrigen das verabredete Zeichen zu folgen.
Kaum sahen die Ehunchus dieselben zum Uebergange
sich anschicken, als sie im Nu Alle zerstoben waren. Wir
folgten den Windungen des Lncnmayo und kamen bald zu
einem weuige Meilen entfernten Garten, und demselben
gegenüber, aus der andern Seite des Flusses, schaute aus
Bananen-Büschen das Schilfdach eines Hauses hervor.
Dort beschlossen wir zu campiren, setzten unsere Kessel aufs
Feuer.und bereiteten das Nachtlager. Es dauerte nicht
lange, so zeigte sich vor dem Hause in Front die dunkle
Gestalt eines Ehunchus, dann kam ein Anderer und zuletzt
mochten 89 bis 99 dort versammelt sein, jeden Alters und
Geschlechts. Durch unsere Zeichen ermnthigt, wagte sich
eines der Kinder herüber, und als es beschenkt zurückkehrte,
folgten ihm mehre, und bald waren wir in einem lebhaften
T auschhandel begriffen. Die meisten Ehunchus waren
schwarz bestrichen mit einer Art von Lehm, der ihnen
als Schutz gegeu Jusekteu diente, und zugleich auch
als Bekleidung, zu welch letzterer die Frauen noch den
Luxus eines Blattes fügten. Ihr Körper ist klein und
Vankees im Goldlande von Peru. 4j
schmächtig, aber in der Bewegung der Glieder liegt etwas,
was an den Thiertypus erinnert, ebenso wie die aus der
Kehle schroff hervorgestoßenen Laute ihrer Sprache. Lauge,
schwarze Haare häugeu straff über das flache, breite Gesicht,
dessen nnstäter Ausdruck sich dem der Idioten nähert. In
einigen Physiognomien wollte der Führer Beimischung
peruanischen Blutes erkennen. Der Wairi (Häuptling),
ein größerer Mann als die Uebrigen, war mit rothen
Ringen auf dem schwarzen Grund der Arme und Beine
bemalt. Er hatte aus jeder Seite der Oberlippe drei lange
Borsten, die in darin gebohrte Löcher durch einen Pfropf,
eine Art Korkholz, befestigt waren, und als wir ihm einen
Spiegel gaben, amüsirte er sich höchlichst damit, seinen
Schnurrbart zurechtzuzieheu oder vielmehr zu stecken.
Kaum hatte der Spiegel unter den Ehunchus die Runde
gemacht, als auch die ganze schöne Welt derselben, die durch
eine etwas sorgfältigere Verhüllung ihrer Reize Nichts ver-
loren haben würde, um uns herum war und uns Bananen,
Platanos, Uucas, Ananas, Korbgeflechte, Feder-Orna-
mente, Vogelbälge, ja Alles anboten — für Spiegel.
Selbst die sonst so gesuchten Messer wurden jetzt weniger
geschätzt.
Wir dachten nun die vielen freundlichen Besuche zu
erwiedern und unsererseits den Fluß zu passiren; aber
sobald die Ehunchus uns dazu Anstalten treffen sahen,
liefen sie sämmtlich mit großem Geschrei dem Hanse zu.
Ich suchte dem Wairi, der uns Alle, naß wie wir aus dem
Flusse kamen, ans Herz gedrückt hatte, unsere friedlichen
Absichten zu erkennen zu geben, aber er antwortete uns
nur abwehrend mit einem erzwungenen Husten und einigen
Gebärden, die anzudeuten schienen, daß er fürchte, unsere
Gegenwart werde das Hans mit dem, den Wil-
den nur von den Weißen her bekannten Eatarrh
insieiren und ihnen eine tödtliche Epidemie
bringen. Auch empfing Keiner etwas aus
unseren Händen, ohne es vorher abgewaschen
zu haben, und nachdem unser Tauschhandel durch den
Sonnenuntergang abgebrochen war, sahen wir die ganze
Gesellschaft ein Reinigungsbad nehmen, bevor sie ihre
Wohnung betrateu.
Kaum war der kurzen Dämmerung die Dunkelheit der
Nacht gefolgt, als sich plötzlich über dem Walde hinter der
Chunchn-Colonie in weitem Umkreise eine dunkle Rothe,
als von unzähligen Wachtsenern herrührend, erhob und
wilde Töne und verworrenes Geschrei, worin die Melodie
schwer zu erkennen war, sich die ganze Nacht von dort
herüber hören ließ. Wir stellten Wachen zu beiden Seiten
des Lagers auf, obwohl die Führer in dem Umstände, daß
den Frauen ebenfalls mit uns zu handeln erlaubt gewefeu
fei, ein^ausgesprochenes Freundschaftszeichen sahen. Mit
dem Frühesten unternahmen wir am andern Morgen den
Uebergang über den Fluß, trotz der abwehrenden Zeichen
der Ehunchus, die dann, ehe wir noch das Ufer erreicht
hatten, auf eine Entfernung vou etwa 2 Büchsenschüssen
flohen und von dort aus unsere Handlungen beobachteten.
Das Haus war als Rechteck gebaut mit zwei einander
gegenüberstehenden Thüren. Das Innere war äußerst
reinlich; au der Wand lief eine Reihe schmaler, kojenartiger
Betten hin, und ein breiteres, gleich einem Tische, fand
sich in der Mitte, das des Wairi, der, wie uns der Führer
erklärte, zwei Frauen habe, während es den Uebrigen
nur nach Ermordung eines Weißen erlaubt
wäre, mehr- als eine Ehe einzugehen. In den
Betten fanden sich Pfeifen aus Armadillo- Schalen, Muschel-
gehänge, Flechtwerke, Federschürzen und Kränze, Lanzen
und Pfeile, von welch letzteren die zum Fischfang mit fünf
46 Einblicke in dm
Spitzen versehenen sehr zierlich gearbeitet waren. Nach
dem von uns gefaßten Beschlüsse wurde nichts von den
vorhandenen Gegenständen angerührt, so wenig wie in dem
sehr gut in Ordnung gehaltenen Garten.
Wir wendeten uns von dort einigen Hügelreihen zu,
an deren Kamme wir längere Zeit entlang zogen und zur
Stillung des Durstes nur das bittere Wasser der Rohr-
pflanzen finden konnten. Der Führer schien seines Weges
nicht gewiß, er stieg vielfach aus Bäume, um die Gegend
zu übersehen, bis er Plötzlich eine von der bisherigen ganz
verschiedene Richtung einschlug und uns nach ziemlich
steilem Bergabsteigen zu einem durch ein enges Thal strö-
menden Flusse brachte, den er den Rio Colorado nannte.
Hier wurden nun die Arbeiten eifrig in Angriff genom-
men, und im Anfange schienen wirklich einige Anzeichen
von Goldgehalt da zu sein, aber dieselben verloren sich bald
wieder. Verschiedene Löcher, die auf der Oberfläche eine
unbedeutende Quantität gegeben hatten, ließen auch diese
beim tiesern Eindringen, noch ehe der „bedrock" erreicht
war, und auf diesem selbst vermissen. Ein Versuch, deu
Fluß auszutrocknen, zeigte sich ebenfalls erfolglos. Endlich
zerstreute sich die Gefellschaft durch den ganzen Fluß, um
an möglichst vielen Stellen Beobachtuugeu anstellen zu
können; doch deuselbeu Tag geschah ein allgemeiner An-
griff der fast schon vergessenen Chunchus, die sich erst, als
sie uns alle im Lager vereinigt fahen, nach einigen Salven
zurückzogen, aber seitdem uns beständig umschwärmten und
besonders Nachts mit ihren Pfeilen belästigten. Die da-
durch verursachten Wunden heilten im Ganzen leicht nach
der Ausschneidung.
Als letzten Versuch zwangen wir den Führer, den Viele
gern an einen Baum gebunden seinen Freunden, den
Chnnchns, zurückgelassen hätten, uns unter der Bedeckung
der Niflemen an die Stelle zu führen, von wo er drei
Unzen aus einer Pfanne wollte gewaschen haben. Er
wusch und zeigte uns, aus drei Pfannen, einen Centwerths.
Satis est! Wir traten den Rückweg au.
Bei unserer Ankunft an dem Basiri trafen wir die
Compagnie in der Auflösung begriffen, welche durch unsere
Nachrichten nur beschleunigt wurde.
manischen Orient.
In der Zwischenzeit war der schon erwähnte Padre,
Don Julian Bovo de Revello, von seiner Haeienda in
Paueartambo dorthin gekommen, um uns zur Beschissung
des Madre de Dios zu begeistern. Aber die Mittel
fehlten; die nnfrigen waren in einer Phantastischen Chimäre
aufgeflogen, der arme Padre hatte über keine Reichthümer
zu verfügen, und obwohl die Regierung 10,009 Dollars
zu diesem Zwecke schon früher ausgefetzt haben follte, so
war für die mögliche Herbeischaffnng derselben in der da-
maligen Zeit der Revolution doch nicht die mindeste Aussicht.
Das Ende war gekommen. Die Gesellschaft schlug
deu Rückweg nach der Küste ein, wo ich später die Meisten
noch in Callao traf, auf eine Gelegenheit zur Heimkehr
und die Geldmittel wartend, oder über neue in Ecuador
und Neu-Grauada aufgetauchte Goldnachrichteu specu-
lirend. Ich blieb, um eine mir auf dem Wege zugezogene
Verletzung zu kuriren, mit dem mich mit neuen Plänen
über die fein Leben abforbirende Idee unterhaltenden Padre,
noch einige Zeit an dem Basiri zurück, von wo derselbe
Ausflüge in die Umgebung zur Vervollständigung feiner
geographischen Routen machte und seine schon gewonnenen
Erfahrungen verarbeitete. Gleich den enthusiastischen
Missionären der spanischen Zeit, deren Erfolge tu den alle
Wände bedeckenden Gemälden des Klosters von Oeopa
aufbewahrt sind, wird er bis zum letzten Athemznge an
der Bekehrung der Heiden Südamerikas arbeiten, und die
Civilisation der Chuuchus, mit deren Sprache er sich speeiell
beschäftigt hat, könnte allerdings nicht wirksamer befördert
werden, als durch die Erforschung des Madre de Dios und
die Colonisirung dieser an allen tropischen Erzeugnissen so
überschwänglich reichen Gegenden. Die Zeit dazu scheint
nicht mehr ferne zu fein, die Schifffahrt auf dein Maranon
und die Verwerthung der in feinen weiten Thälern brach
liegenden Capitalieu hat die Aufmerksamkeit unternehmen-
der Handelsleute erregt, deren Thätigkeit bald zum Ziele
führen wird. Der gauze östliche Abhang der Anden ist
mit zwingender Notwendigkeit für feine Ausfuhr auf deu
Atlantischen Oeean hingewiesen, wohin ihm die herrlichsten
Wasserstraßen gegeben sind, während die Verbindung mit
dem allerdings weit näheren Pacific durch das Dazwischen-
treten der Cordillerakette unendlich erschwert wird.
Einblicke in den os manischen Drient.
Mesopotamien und Bagdad.
I.
Die protze mesopotamische Ebene und die aste Karawanenstraße. — Arbela. — Die Dattelhaine bei Bagdad. — Die Stadt der
Chalifen. — Mauern, Citadelle. — Leben und Treiben in den Straßen. — Reiter und Rosse. — Die Gärten. — Verwüstungen,
welche der Tigris anrichtet. — Die Basare. — Der alte Palast der Chalifen.
Es wird die Zeit kommen, in welcher die kürzeste
Straße zwischen Europa uud Iudien durch Syrien
und Mesopotamien ziehen wird. Schon jetzt geht der
elektrische Telegraph nach Bombay und Calcntta durch diese
Regionen, und vielleicht erlebt noch unser Jahrhundert den
Tag, an welchem eine Enphratbahn durch die Heimat
des Erzvaters Abraham zieht und Gegenden berührt, in
denen die alten Kulturreiche Assyrien und Babylonicn
blühten, wo der Macedouier Alexander und Kaiser Julian,
der geistreiche Apostat, ihre Augen schlössen, wo weise und
prachtliebende Chalifen thronten, wo Semiramis und Nebu-
kadnezar mächtig waren. Palmyra und Bagdad werden
ihre Bahnhöfe haben.
An die Stelle der hohen Bliithe ist nnn allgemeiner
Verfall getreten. Natürlich, die Türken herrschen im
alten Assyrien und Babylonicn, und durch sie hat nichts
Einblicke in den i
gewonnen als die Wüste; diese vergrößerte sich, alles
Andere ging zurück. Unter osmanischem Tritte, der ja kein
Gras aufkommen läßt, unter einer Mißverwaltung, die
lediglich auf Druck und Erpressung steht, darf man einen
Aufschwung zmn Bessern nicht erwarten.
Aber die Civilisation drängt sich trotz alledem nach und
nach in diesen osmanisch-versumpften Orient ein, der
Handelsverkehr mit Allem, was er in seinem Gefolge hat,
rüttelt ihn auf, fo unbequem es ihm auch fein möge. Er
muß sich fügen und nachgeben, und feine stupide Trägheit
reicht keineswegs ans zu erfolgreichem Widerstande. Mefo-
Potamien und Syrien sind fchon in den Tagen des Alter-
thums wichtige Passageländer gewesen, sie blieben es
auch im Mittelalter und gewinnen durch den Umschwung
in den Verkehrsverhältnissen jetzt eine gesteigerte Bedeutung.
Schon ist der Euphrat bis Vir hinauf von Dampfern
befahren worden, und man weiß, daß dieser Strom eine
Fahrbahn bis in die Nähe Syriens und Assyriens bilden
kann; er mündet, nach seiner Vereinigung mit dem Tigris,
als Schat cl Arab, in den Persischen Meerbusen, 'der heute
schon zu einer britischen Handelsdomäne geworden ist.
Eine Euphratbahu wird Leben anziehen und weit und breit
anregend wirken; sie wird dazu beitragen, den türkischen
Bann zu brechen. Bis Basra hinauf fahren indische
Dampfer aus Karratschi und Bombay, und das untere
Mesopotamien sammt einem Theile des benachbarten
Persiens sind nun längst mit engen Banden an Ostindien
geknüpft. Das ganze Gebiet, insbesondere das Deltaland
des Schat el Arab, mnß schon wegen seiner ganzen Welt-
stellung für alle Zeiten von großer Bedeutung bleiben,
und gegenwärtig ist Europa auch mit dem fernsten Asien
in einer unauflöslichen Verbindung. England hat das
längst begriffen und deshalb deu Persischen Meerbusen von
Korsaren gesäubert, in mehren Städten Handelsfaktoreien
begründet und sich Ansehen und Uebergewicht verschafft.
Was Bagdad anlangt, so ist dieses einer der wich-
tigsten Stapelplätze für den Handel mit dem innern Mefo-
potamien und auch mit Armenien und Syrien; er vertheilt
Güter auch nach Persien und Arabien, theilweife selbst nach
Indien. Vieles in der mesopotamifchen Region ist Wüstenei
geworden, Vieles aber auch fruchtbares Land geblieben.
Bagdad sendet im Jahre durchschnittlich an 2000 Kameel-
ladnngen Güter nach Erseräm in Armenien, noch viel mehr
nach Mossul, Diarbekir und Orfa, und nach Aleppo an
6000 Kameelladungen. Es bezieht Waaren aus Kerman,
Aezd, Kaschmir und überhaupt aus dem ganzen Indien,
aus Damaskus und Aleppo.
Von der alten Herrlichkeit sind nur noch Trümmer
übrig; statt der Tempel, die einst zum Himmel empor-
ragten und dann in Schntt zerfallen sind, sieht man
Moscheen und Minarets, und statt der prächtigen Königs-
bürgen schmutzige Karawanserais. Aber die grünen Dattel-
Haine sind geblieben, große Handelsemporien haben sich
durch alle Zeiten erhalten. Von frischem, regem, beweg-
lichem Leben keine Spur!
Die nachfolgenden Schilderungen gewähren einen
klaren und tiefen Einblick in die gegenwärtigen Verhältnisse
jener in hohem Grade interessanten Region und schildern
mit photographischer Treue. Sie rühren von einem Manne
her, welcher iiu Gebiete des osmanischen Reiches lebt. Wir
sind nicht ermächtigt, den Namen unseres deutscheu Lands-
manne^ zu nennen, können aber sagen, daß derselbe etwa
cm Jahrzehnt in den Gegenden gelebt hat, welche er hier
so anziehend und umfassend darstellt. Längere Zeit ver-
wellte er in Bagdad, der Stadt der Chalifen, und diese
nimmt er zum Ausgangs- und Mittelpunkt; wir glauben
manischen Orient. '
mit vollem Rechte, denn dieses Bagdad ist, neben Basra,
eine echt mesopotamische Charakterstadt und für den Ver-
kehr von nicht geringem Belang. A.
Wenn der Reifende die alte Karawanenstraße ver-
folgt, welche von Mossul über Kerkuk und Kysfri nach der
berühmten Chalifenstadt führt, verläßt er niemals die am
linken Tigrisuser sich ausbreitende unermeßliche Ebene des
alten Ehaldäa. Gleichwohl ist diese Ebeue, wie alle an-
deren der Welt, die nicht von reinen Alluvialbildungen an
den Mündungen der Flüsse in das Meer herrühren, keine
vollkommene. Sie charakterisirt sich, abgesehen von ein-
zelnen wellenförmigen Partien, namentlich durch schnür-
grade von Osten nach Westen hinstreichende Höhenzüge,
welche dieselbe durchsetzen und abtheilen. Diese Miniatur-
gebirge von kaum 100 Fuß relativer Höhe erscheinen nichts
destoweniger dem unerfahrenen Auge bei der vorherrschen-
den Luftspiegelung als mächtige Alpenketten, die in nebel-
Heister Ferne am Horizont aufzutauchen beginnen. Erst
wenn man sie zu überschreiten im Begriff steht, erkennt man
seinen Jrrthum. Zwischen den einzelnen Zügen, deren
innere Masse durchgängig ans schwefelsaurem Kalk besteht,
breitet sich meist eine horizontale Fläche aus, welche je nach
der Bewässerung, die anf ihr zu ermöglichen ist, entweder
als Acker - und Gartenland oder Weide benutzt wird, oder
wüst und unfruchtbar von einer unerbittlichen Sonne ver-
brannt, daliegt. In jenen regenarmen Ländern hängt die
Kultur nicht nur innig mit der Irrigation zusammen, son-
dern geradezu von ihr ab. Der nahe, wasserreiche, aber
sehr tief eingebettete Tigris trägt dazu so gut wie uichts
bei; die Bewohner verdanken vielmehr das lebenerweckende
Element den zahlreichen Strömen, die aus deu Rand-
gebirgen Irans reichlich hervorquellen. Die wichtigsten
auch der Beschiffung zugänglichen zwischen Mossul und
Bagdad sind: die Hasa, die große und kleine Saab, das
Altyn Sn ^Goldwasser) und die Djala, Flüsse, welche in
Verbindung mit den übrigen Bächen mehr als hinreichend
wären, das ganze östliche Ehaldäa in einen blühenden
Garten zu verwandeln.
Daß dein einst so war zur Zeit der Assyrer, der Perser
und Araber, beweisen, redender noch als alle geschichtlichen
Überlieferungen, die Spuren der großartigen Kanali-
sation, welche das ganze Gebiet des Euphrat und Tigris
bis an den Persischen Golf und weit in die heutige syrisch-
arabische Wüste hinein netzartig bedeckte und Millionen
thätiger und civilisirter Menschen einen reichlichen Unter-
halt bot. Wie ist das so anders geworden unter den Huf-
tritten der Schaaren des „lahmen Eisens", wie noch trau-
riger unter der türkischen Paschawirthschaft! Alle 8 bis 12
Wegstunden, meist auf Einöden zurückgelegt, stößt man auf
eiu Dorf oder einen Flecken, in welchem sich einige hundert
diebische Türken, Kurden und Araber vom Gartenbau und
dem Kleinhandel mit den durchziehenden Karawanen nähren.
Dort liegt auch Arwyl (Arbela uach unserer altgrie-
chischen Aussprache), eiu Nest wie die anderen, wo der große
Alexander nichts als zu siegen wußte.
In dem eigentlichen Mesopotamien sieht es noch
elender aus. Dort ist jede Spur von Anbau verschwunden.
Ans der ununterbrochenen Steppe schweifen die unab-
hängigen Stämme der Schammar-Araber und leben
von der Viehzucht und der Plünderung ihrer ansässigen
Nachbarn. Die Aussicht auf der Reise ist eine gewiß noch
beschränktere, als in Holland oder anderen tiefliegenden
nordischen Gegenden, wenn die Herbstnebel aufsteigen.
Zwar zeigt in Ehaldäa das Hygrometer kaum Spuren von
48 Einblicke in den
nicht chemisch gebundener Feuchtigkeit in der Atmosphäre,
und von Nebeln ist dort selbst im Winter nie etwas entdeckt
worden; allein die über dem erhitzten Boden aufquellenden
und wallenden Luftschichten verlieren durch die Bewegung
und die damit verbundene Spiegelung alle Durchsichtig-
feit, so daß sie grauen Dünsten oder besser noch gleißenden
wenig entfernten Seen gleichen. Diese Erscheinung ist so
lebhaft, daß auf einem ihr günstigen glatten weißen Terrain
jede Aussicht über 500 Schritt benommen wird; nur die
höher, als diese unmittelbar von der zurückstrahlenden
Bodenhitze bewegte Luftschicht gelegenen Gegenstände, ragen
inselhaft, oft riesenmäßig ans weiter Entfernung optisch
emporgehoben und nahe gerückt, daraus hervor. So er-
blickt man rechts und links vom Wege die Fächerkronen
der schlanken Dattelpalmen geisterhaft nickend über dem
Dunste.
Gäbe es hier Pyramiden, Städte, Ruinen, wie in
Aegypten oder Sicilien, man würde die ganze Pracht der
Fata morgana vor sich aufdämmern und verschwinden
sehen, leider aber sind fast alle Zeugeu des ehemaligen
Glanzes von Assnr und der Chalifen vernichtet, oder durch
den Staub und den Zerfall zu glatteu Hügeln geworden.
Erst wenn man Bakuba, ein an dem Ufer der Djala
gelegenes Dorf mit seinen Dattelhainen hinter sich hat,
und mm sein Roß in eine mit einer Tenne zu vergleichende
Ebene von grauem salzhaltigen Allnvialboden lenkt, wo
kein Hülm sproßt, kein Bach rieselt, wo nur, dem Schnee
vergleichbar, Salz und Natronsalpeter stellenweis als
seiner Krystall anschießt, gewahrt man 10 Stunden Wegs
vor sich die Mauern und Flankenthürme, die Kuppeln und
Minarehs einer großen orientalischen Stadt über dem
Dunstozean; rechts dagegen Dattelkronen und wieder
Dattelkronen.
Jene Stadt ist Bagdad, die Hauptstadt von Irak,
der Sitz eines Generalgouverneurs, das Entrepot des
Handels für einen großen Theil von Persien, Arabien und
Anatolien.
Lange, sehnsüchtig lange muß man mit den stoisch
gleichmütigen Maulthieren durch die breuueude Wüste dem
willkommenen Ziele entgegenziehen, ehe es sein trügerisches
Scheinbild verliert und in den Dünsten untertaucht, um
endlich wieder als ein reelles Etwas, materiell und uube-
weglich, dicht vor dem erfreuten Wanderer zum Vorschein
zu kommen. Kein Wölkchen an dem weiten Firmament.
Die Septembersonne sendet ihre glühenden Strahlen aus
einer Himmelskuppel von oben blau und am Horizonte
bronzefarben angelassenem Stahl und heizt unerbittlich den
ungeheueren gelbgrauen Ziegelofen, wie die graue Wüste
um denselben. Ein glühender Wind, träg, schwer und
stöhnend, wirbelt aus der Wüste stoßweise dichte Staub-
masseu über die Stadt, und wie leidend schwingen und
wiegen sich die Fächer der Palmen, die einzeln und in
Gruppen über den Mauern hervorragen, in der entzündeten
Atmosphäre. Der Thermometer zeigt 40° R. im Schatten.
Wohl dem, der eine solche Temperatur nie wochenlang,
geschweige denn auf einer Reise anszuhalteu hatte! Mau
reist gewöhnlich nur in der Nacht, und eine wahrhaft gefähr-
liche Neugierde allein kann den Touristen verlocken, der
entsetzlichen Tyrannin des Tages zu trotzen. Orangerien,
Springbrunnen, köstliche Früchte und Sorbete, welche die
Phantasie hinter jenen Mauern vermuthet, trösten in Anti-
cipation deu Dulder für die Leiden des Weges, erweisen
sich jedoch gewöhnlich für den Fremden als unerreichbar,
was er einsieht, wenn er in der dunklen von Schmutz star-
renden Spelunke eines Hauses seine Herberge nehmen
manischen Orient.
muß. Der einen Gastfreund findet, ist natürlich ungleich
besser daran.
Der Umfang der Stadt, deren größere Hälfte sich an
dem linken Ufer des Tigris hinzieht, ist fehr bedeutend und
dürfte nicht weniger als drei deutsche Meilen betragen,
wenn man auch den jenseits gelegenen Stadttheil, dessen
Mauern jedoch längst in Verfall gerathen sind, mit hinzu-
rechnet. Beide Viertel sind mit einander durch eine er-
bärmlich construirte Schiffbrücke verbunden. Das linke,
rings von Mauern umgürtet, bildet die eigentliche von
den Türken noch als Festimg betrachtete Stadt uud zeigt,
mit Ausnahme der den natürlichen Kurven des Stromes
folgenden Seite am User, die Form eines Oblongums.
Die Befestigung dürfte nach den Begriffen der heutigen
Militäringenieure für sehr unzureichend erklärt werden,
selbst wenn sie in einem weit besseren Zustand erhalteu
würde, als sie es wirklich ist. Zur Zeit des Bogens und
der Schleudermaschinen mag sie eines dauernden Wider-
standes fähig gewesen sein, und noch heute erschwert sie
den Beduiueuhorden, welche oftmals ihrer uubefchützten
Schwesterstadt kostspielige Besuche abstatten, das Ein-
dringen; ihr Hauptwerth indeß besteht in der Erleichterung
der Accise. Die Mauer ist sehr solid aus einer doppelten
crenelirten Bogenstellung von Ziegelsteinen aufgeführt und
oben mit Zinnen versehen; stellenweis angebrachte Treppen
führen hinauf. Viereckige Thürme flankiren dieselbe, unter
denen sich namentlich der sogenannte Adjemi-Thurm
durch seine Größe und den Thatbestand auszeichnet, daß
hier die wackereu Mongolen Hulagu's in die gläubige Stadt
draugen. An den hervorspringenden Punkten hat man
auch in späterer Zeit zur besseren Flankirnng Rondele an-
gebracht , welche zur Aufstellung von Geschützen dienten,
oder vielmehr noch dienen. Unförmliche Feuerschlünde
aller Länder, mit welchen die Osmanen je Krieg geführt
— darunter auch veuetiauifche und österreichische — ruhen
hier auf zerbröckelten Lasteten und harren mit vollkommener
Unschuld auf ihre Metamorphose, die theilweis durch die
Orydatiou vor sich geht, wahrscheinlich aber bald durch
Fuad Pascha in irgend einer englischen Münze eine prak-
tische Form gewinnt. Nur mißverstandene Pietät hat bis
jetzt das Kabinet am Ruder abgehalten, die Bronzemassen
mit 80 Procent Reingewinn in Circulation zu setzen. Die
Gräben, ehemals ties und naß, sind gegenwärtig durch den
Wüstenstaub und Regeueinschwemmungen zu drei Viertel
ausgefüllt und haben ihren Werth als Hindernißinittel total
verloren. Das Wasser kann nicht mehr in dieselben ein-
dringen, uud nur ein sehr geringer Theil, vor derCitadelle,
welche an der Nordseite das Thor und den Fluß beherrscht,
ist versumpft, zum großen Nachtheil für die Gesundheit der
Einwohner.
Die Citadelle selbst schließt sich der übrigen Mauer
an, ist aber auch gegen die Stadt zu vertheidiguugs-
fähig. Sie birgt in ihrem geräumigen Innern Kasernen,
Stallungen, Depots und Magazine für einen Theil der
Garnison, namentlich der Artillerie und Kavallerie. Auf
fortificatorischen Werth darf sie ebenso wenig wie die übrigen
Anlagen Anspruch erheben. Auch das Serai des General-
gonverneurs ist sammt den dazu gehörigen Kasernen und
Hospitälern von einer Mauer eingefaßt und bildet einen
integrirenden Theil der Befestigungen am Strome. Von
der Landseite führen nur drei enge Thore in die Stadt,
von Süden die Krankapu, von Osten die Adjemkapu und
von Norden die Imam Asamkapu. Das letztere ist bei
weitem das srequentirtere und deshalb auch interessantere,
durch welches alle Karawanen von Anatolien und Persien
ihren Weg nehmen.
Einblicke in bat o
Mit gespannter Neugierde zieht der europäische Reisende
ein. Vielleicht hat er kurz vorher die schönen Märchen der
„tausend uud eine Nacht" gelesen und versetzt sich zurück in
die Tage Harun al Raschids, Zobeidas und Djiafsars,
träumt von Marmorhallen im Style der Alhambra, von
üppigen Weibern, welche sich gelangweilt nach Abenteuern
sehnen, von kopfabsäbelnden Negersclaven, Zauberern und
Genien. Um so schlimmer für ihn, wenn er sich urplötzlich
aus seinen Idealen in den realen Schmutz uud Staub der-
setzt sieht, der seine Seh - uud Geruchsorgane auf das uuau-
genehmste begrüßt. Nirgends, nirgends Paläste, nirgends
Rosen, nirgends Prachtgewänder! Zu beiden Seiten der
uugepflasterteu Straße Paradiren elende, von Ziegelbruch-
stücken und Schlamm aufgeführte, mit Dattelstämmen und
Matten gedeckte, gegen die Witterung durch einen Lehm-
estrich geschützte Barracken, die theils als Werkstätten für
Hufschmiede und Sattler, theils als Getreidemagazine,
theils als Kaffeehäuser dienen. So zieht sich diese Avenue
einige hundert Schritte bis zu dem Meidau, dem vor-
nehmsten Platz von Bagdad, fort. Hier finden sich die-
selben Barracken, hinter denen sich die etwas höheren, aber
in keiner Weise eleganteren Privatwohnungen erheben.
Hat sich die Architektur hier auch nur in ihren Primi-
tivsten Anfängen gezeigt, so entschädigt uns dafür der
Totalanblick des geschäftlichen Volkslebens der Stadt und
des Landes. Der liebe Pöbel ist natürlich vorzugsweise
vertreten. Gassenjungen, Tagediebe, keifende Weiber uud
flegelhafte Polizisten und Soldaten fehlen felbst in Arabien
nicht. Es wird gekauft und verkauft. Eier, Fleisch, Ge-
miise, Früchte, Utensilien für Karawanen, Milch — natür-
lich nur sauere — bieten männliche und weibliche Handels-
firmen, welche ihre Waarenlager provisorisch unter einer
Schilfmatte, zum Schutz gegeu die Sonnenglut, aufge-
schlagen haben, mit betäubendem Geschrei feil. Durch die
bunte Menge von Fellahs^ Türken, Persern uud Negern
treiben die Sakkas (Wasserträger) brüllend ihre Esel,
sorciren Roßtäuscher abgetriebene Gäule, schreiten die ver-
mummten Gestalten der gesitteteren Weiber, reiten Stutzer
schellenklappernde schneeweiße Langohren. Hier erwischt
man einen armen Tenfel, der eine Gurke eseamotirt hat,
dort fährt eine schwarzbraune 40jährige Tochter der Wüste
einem kurdischen Soldaten in die Haare, welcher, nachdem
er seine sauere Milch unschuldig verzehrt hat, sich, wie
gewöhnlich, ohne Bezahlung aus dein Staube machen will.
Der junge Krieger bändigt jedoch die betrogene Wilde,
indem er mit frecher Faust sie au deu ungeheueren Ringen
ihrer Nasenflügel im Zaum hält. Juden werden geprügelt,
Gefangene in Ketten zu Zwangsarbeit geführt, Truppen-
kommaudos marschiren aus dem angrenzenden Thor der
Citadelle und der Lärm wächst und nimmt ab wie die Ebbe
und Flut.
Die durchziehenden Karawanen von Kameelen und
Manlthieren beleben jedoch die Scene am höchsten. Vor
den Kaffeehäusern, den Tschibnk oder den Nargileh am
Munde, ein Kafseeschälchen in der Hand, sitzen indolente
betnrbante Gestalten mit großen Barten, meistentheils
Türken, und blicken in behäbiger Verachtung auf die Menge
der Beherrschten. Jetzt klingelts und vorbei ziehen in
langer Reihe auf hohen Manlthieren sitzend persische Pilger
uut spitzen Astrachanmützen uud röthlich gefärbten Voll-
barten, die Flinte auf der Schulter, die Peitsche in der
Hand. Die Beturbanten wechseln grimmige Blicke mit den
ketzerischen Ankömmlingen, obschon Bagdad fast ausschließ-
uch denselben einen Rest seiner Handelsbedeutung verdankt.
Der Reugtonshciß herrscht vor. — Andere Marktplätze von
minderer Dichtigkeit liegen in dem südlichen Theile der
Globus X. Nr. 2.
nMüschen Orient. 49
Stadt., Es werden dort meist Getreide, Töpferwaaren,
Wolle und Baumwolle in den angrenzenden Magazinen
zum Verkaufe ausgeboteu.
Eine wüste, sehr große Stelle, welche sich an der
östlichen Mauer hin ausdehnt, scheint, ihrer tiefen Lage
nach zu urtheileu, eine ehemalige Lehmgrube gewesen zu
sein. Sie versumpft im Winter und man kann dort wilde
Enten uud Gänse schießen; im Sommer tummeln da die
Stallknechte, Bereiter und Liebhaber ihre Rosse in einer an
die Zeit des Wurfspießes erinnernden Manier. Ein
europäischer Pferdekenner und Stallmeister hat gerade keine
Ursache, die Art, wie man hier die edelsten Thiere behandelt,
besonders zu bewundern. Das Abrichter- uud Reitertalent
dieser Araber ist geradezu eine romanhafte Erdichtung
unaufmerksamer oder unwissender Touristen. Das Herr-
lichste Thier wird in einem Alter von nur anderthalb
Jahren schou zu Grunde geritten. Eine äußerst scharfe,
eng au die Kinnladen anschließende Kandare, statt der
Kinnkette mit einem Bügel und an dem Balken des Gebisses
mit einer langen Zunge versehen, zerreißt dein Pferde das
Maul, und angstvoll streckt es den Kopf in die Höhe, um
der Peinigung auszuweichen. Die beständigen Galopp-
sprünge, woran man die Thiere gewöhnt, die scharfen
Paraden aus den stärksten Gangarten ruiniren die Vorder-
beine und deu Bug dermaßen, daß man nur felteu, selbst
unter deu edelsten Rassen, Reitpferde findet, welche nicht
überköthen und ohne alle Veranlassung stolpern und stürzen.
Die arabischen Stutzer indessen lieben diese Dressur, weil
sie, ihrer Meinung nach, gnt aussieht und es ihnen gefällt,
die Angst und den wilden Schmerz des armen Gaules als
übersprudelndes Feuer uud kaum bezähmbaren kriegerischen
Mnth auszugeben.
Auf diesem Platze liegt an einer höhern Stelle auch ein
Begräbnißort, einige Monumente von Heiligen und ein etwa
50 Fuß hoher vou Mauerwerk durchzogener Erdklumpen,
auf welchem vormals eine Burg gestanden haben soll. An
der Stadtmauer werden hier die größeren Thiere für den
Fleischbedarf geschlachtet. Deshalb kreisen in der Nähe
beständig Schaaren von hungrigen Falken, Raben und
Möwen, mit heiserem, durchdringendem Geschrei sich anf
die Abfälle stürzend; ebenso lagern hier die Rudel jener
häßlichen, degenerirten Hunde, welche den orientalischen
Städten eigenthümlich sind. Der Platz trägt, wie das
angrenzende Thor, seinen Namen von einer einsamen
Moschee mit kegelförmiger Bedachung und windschiesem
Bünaret, welche einem der vorzüglicheren mohammeda-
nischen Heiligen, dem Scheich Omer, geweiht ist. Solch ein
Ding heißt ein Sijaret und wird an bestimmten Tagen
von Wallfahrern, worunter sich die Weiber meist sehr voll-
zählig einfinden, lebhaft besucht. Es ist immer mit einer
Mauer, zuweilen auch mit einem Graben umgeben, um die
Schätze, welche die opferfreudige Frömmigkeit dort nieder-
legt, vor räuberischen Angriffen zu hüten.
Im Südeu dehnen sich, wie wir bereits bemerkt haben,
mehr oder minder mit Häuseru untermischte Gärten aus.
Hier wachsen die in Asien so ausschließlich beliebten Gemüse
und Früchte aus der Familie der Cucurbitaceen: die
Gurken, Kürbisse, Patlischams, Bananen, die Coloqninten,
Zucker- und Wassermelonen; hier reifen in dichten schattigen
Gebüschen und stattlichen Stämmen Orangen und Granat-
äpsel, hier rankt sich der Weinstock an den Mauern hin, und
über Alles wiegen im heißen Wüstenwinde die Palmen ihre
fahlgrauen, schattenarmen Fächer.
Ju diesem Theile der Stadt trifft man ein durch das
Wasser gäuzlich zerstörtes Quartier, eiu Loos, das Bagdad
schou mehr als eiumal heimgesucht und zu einer gänzlichen
50 Einblicke in den >
Veränderung seiner Physiognomie beigetragen haben mag.
Gewiß vernichtete der Tigris mehr Denkmäler
des Alterthums und richtete größeren Schaden
an, als es je die Mougoleu und Türken gethan
haben. In manchen Iahren schwillt der Strom im
Frühjahre, wenn der Schnee in den kurdischen Gebirgen zu
plötzlich schmilzt, ungewöhnlich an, zerreißt seine Dämme
und setzt die Stadt und die Ungebung ganz oder theilweise
unter Wasser. Dann aber stürzen ganze Straßen der
schlecht ohne Mörtel ausgeführten Häuser ein.
Der Stolz einer orientalischen Stadt sind ihre Basars
oder die Tscharschi, wie es richtiger heißen muß. Die
von Bagdad nehmen einen bedeutenden Raum ein und
ziehen sich, besonders parallel mit dem Ufer, eine Strecke
von einer Viertelmeile und darüber hin. Sie sind meist
hoch überwölbt und datiren sich wahrscheinlich aus der
alten Glanzepoche her. An den Orten dagegen, wo das
Gewölbe eingestürzt ist und wo die Handwerker arbeiten,
hat eine ökonomischere Verwaltung die kostspieligen Repa-
ratureu außer Acht gesetzt. Die türkischen Behörden lehrten
ihren kunstbeflissenen Unterthanen die praktische Wahrheit,
daß Rohrfaschinen von Stangen getragen, mit Schilfmatten
und Erde bedeckt, eben so gut Schatteu werfen, als die
meisterhaft ausgeführten Kunstwerke der Architektur. Zur
Rechten und Linken dieser Basarstraßen reihen sich nun
Bude an Bude, Magazin an Magazin, Werkstatt an
Werkstatt als Verkaufsläden hin, angefüllt mit alleu nur
denkbaren Artikeln des Morgen- uud Abendlandes, für den
gewöhnlichen Gebrauch sowohl, als selbst für den Luxus.
Die Waareu Englands, Deutschlands und der Schweiz
gesellen sich hier zu denen aus Indien, Persien uud China,
ausgewählt für die Ansprüche des wilden Beduinen und
Kurden, wie des gezähmten Städters und des europäischen
Ansiedlers. In jedem dieser gewölbten Löcher hockt ein
indolenter Türke, ein pfiffiger Armenier, ein schlauer
bärtiger Perser mit der Schafpelzmütze, ein verschmitzter
Jude, ein lauernder Araber, und Alle harren und hoffen
auf Kunden, mit denen sie dann unter fürchterlichen Gri-
mafsen, Theatercoups, Gezänke und falschen Anpreisungen
einen vorteilhaften Handel abzuschließen versuchen, indem
sie gleich von vornherein den vierfachen Werth eines Gegen-
standes verlangen. Zu ihren Füßen drängt sich, hin - und
herströmend, eine bunte Menge von Käufern, Geschäftigen
und Müßigen, worunter auch viele Fremde aus Persien und
nicht weniger Landvolk und Beduinen aus dem Innern
Arabiens anzutreffen sind.
Die Basars mit ihren schattigen, stets mit Wasser
besprengten Gängen, ihrem weichen, gedämpften Lichte,
ihrer mannigfachen Ausstellung uud dem bunten Verkehrs-
treiben sind der Lieblingsaufenthalt der Pflastertreter von
Bagdad, und es gibt deren nicht wenige. Diese Herren
und die Soldaten handeln von Gewölbe zu Gewölbe, ohne
etwas zu erstehen, unter dem Verwände, es sei zu theuer,
freuen sich, wenn sie nur sprechen können, uud escamotiren
auch wohl, was ihnen gerade in die Hände fällt. Auch
Cafe's, Garküchen, Zuckerbäcker, Weinschenken und Schnaps-
kneipen bieten dein Hungrigen und Durstigen, je nach
seinem Gefchmacke, iu primitiver Einfachheit die entsprechen-
den Erquickungen an. Abends, wenn die Tagesgeschäfte,
schon aus Mangel an Licht, aufhören, schließt jeder Eigen-
thümer sein Magazin mit einem hölzernen, zum Nieder-
klappen eingerichteten Laden, die Menge verliert sich und
in deu öden, hie uud da vou Naphthalampen erhellten
Gängen wachen die Hunde, deu Spätling laut anbellend,
schleicht der afghanische Nachtwächter, forscht eine Patrouille
nach Dieben.
manischen Orient.
Für die Waaren en Gros, die Geldwechsler, die
Juwelenhändler und Goldschmiede, für die Eomptoirs der
größeren Kaufleute uud die Fremden existiren dicht bei den
Basars massiv gebaute, feuerfeste uud diebssichere größere
uud kleinere Chans, meist Werke aus der Chalifenzeit.
Sie sind inwendig in klosterähnliche, gewöhnlich zwei Stock-
werk übereinander stehende Zellen getheilt, von denen jede
ihren eigenen Miethsmann besitzt. Das Vermiethen dieser
Chans ist für die Eigenthümer eiues der einträglichsten
Geschäfte. Für Waaren ist gut genug gesorgt, aber um
so weuiger für die Unterkunft der Reisenden. Solch ein
verlorener Mensch, wenn er keine Empfehlungen an irgend
einen Einwohner besitzt, muß iu die unerleuchtete, unglaub-
lich schmutzige, vou Uugezieser wimmelnde Zelle eines
Chanes mit seineu Effekten kriechen und sich selbst betten,
bedienen, beköstigen und bewachen. Ein Gasthof ist ein
oecidentaler, iu der Türkei uoch nicht eingebürgerter Luxus.
Die Garkuchen verarbeiten nur schauderhafte Amalgame
von Bockfleisch, Zwiebeln, Knoblauch, Talg und Oel, und
können höchstens, indem sie den Appetit verderben, den
Hunger stillen.
Außer deu Basars und Chans hat Bagdad wenig monu-
meutale Gebäude aufzuweisen. Nur zwei seiner Moscheen
verdienen ihrer Größe wegen einige Erwägung. Ihr
Unterbau ist ohne Kunstsinn aus behauenen Ziegeln auf-
geführt, ihr Juueres ist weiß und kahl, und nur ihre Kuppe
von persischer, kappenartiger Form verräth in ihrer Aus-
schmückung einigen Geschmack. Sie sind mosaikartig aus
blauen, gelben, Weißen und schwärzen glasirten Ziegeln zu-
sammengesetzt. Dieser Schmuckstein ist kein Fabrikat des
Landes, sondern in früheren Zeiten aus China nicht als
Luxus, sondern als eine notwendige Sache eingeführt
worden. Die Ziegel von Bagdad nämlich, welche aus
sehr salzhaltigem Thone nur ganz leicht gebraunt werden,
schwinden geradezu wie zerfressen unter dem Einflüsse der
Atmosphäre, manche krystallisiren ganz uud gar und werden
zu Salz uud Natronsalpeter, so daß der geringste Regen
sie wegwäscht. Ein derartiges Material war zu der äußern
Bekleidung der EinWölbungen nicht zu verwenden, Wohl
aber widersteht der Schmelz des chinesischen Ziegels besser
noch als Kupfer, Blei oder Ziuk allen Unbilden der
Witterung.
Leider haben sich nur wenige in dieser Weise geschützte
und gezierte Gebäude erhalten. Rings um den Vorhof
der mohammedanischen Tempel befiuden sich Zellen, wo
Softus, Hafis, Jmams und andere weise, fromme und
fanle Anhänger des Islam und Diener der Moschee ein
beschauliches Lebeu führen; doch legt man auch Waaren
dort nieder. Der Hof selbst ist mit Ziegelfliesen bedeckt.
Das Serai, der Sitz der Regierung und die Woh-
nuug des Gouverneurs, ist nebst dem Militärhospitale, den
Gefängnissen und einer Jägerkaserne durch eine Mauer
von der übrigen Stadt abgeschieden. Seiue Lage am Flusse
ist kühl und angenehm; allein es zeichnet sich mit seiuen
Nebengebäuden durch nichts, weder an Geschmack, noch
Styl, noch Eleganz, noch Größe vor den gewöhnlichen
Privatwohnungen aus, ja es ist womöglich noch häßlicher
und bildet eiuen unästhetischen Klumpen von Dreck und
Ziegelsteinen, die au einigen Stellen glücklicherweise über-
tüncht wurden. Seine Höfe sind nackt und uuerquicklich,
und nur in der Haremsabtheilung des Serai erfrent ein
kleiner Garten das Auge. Die Douaue ist vielleicht das
einzige Wohlerhalteue Monument aus der Zeit der Chalifeu.
Es ist meist aus Quadern, die aus der Ferne hergeschafft
wurden, erbaut und trägt an seiner Frontseite, die auf den
Fluß blickt, eine arabische, erhaben in den Stein gemeißelte,
Die Gibellinenstadt S
lange Inschrift. Dies War der alte Palast der
Chalifen. Das Innere zeigt jetzt nur düstere, aller
Herrlichkeit entkleidete Gewölbe und ist zur Niederlage von
zu verzollenden Maaren geworden. Ein anderer Ueberrest
ist ein geschmackvoll aufgeführtes Portal zur Seite einer
Gasse des Basars, und endlich wäre noch ein altes thnrni-
ähnliches Minaret in der Mitte der Stadt Bemerkenswert!),
in dessen Brüchen, Rissen und Kornischen nunmehr tauseude
von wilden Tauben nisten. Mit Ausnahine einiger
ta in Mittelitalien :c. 01
Festungswerke, Fundamente und Sijarets ist das Ange-
führte Alles, was au Ruinen der Vorzeit zurückgeblieben
ist. Der Grund, warum Bagdad sowohl, als das uicht
minder mächtige und reiche Babylon so wenig Spuren
hinterließen, liegt, wie wir es bereits zu bemerken Gelegen-
heit hatten, in den allgemeinen Verwüstungen des Wassers,
dem schlechten, fast nur aus salzhaltigen Ziegeln bestehen-
den Material und der auf das trockene Klima berechneten,
höchst unsoliden Bauart.
Dir Gibrllinrnstadt Sic»» in Mittclit-üini, ihre Dcnliinälcr und geschichtlich«,
Erinntnmgen.
Die Universität.
Wettrennen. —
II.
— Einzug bolognesischer Studenten, — Jneunabeln und Miniaturen, — Die siebenzehn Contrade und ihre
Aus dsr Geschichte der Stadt. — Gememdefreiheit. — Kaiser Friedrich II. — Kämpfe der Guelfeu und
Gibellinen. — Die Schlacht von Monte Aperti.
Siena heil sich seit Jahrhunderten durch Pflege der
Wissenschaften ausgezeichnet, und die Universität erfreute
sich eiues großen, oftmals wohl verdienten Rufes. Manche
nehmen an, daß sie bis ins Jahr 1293 hinaufreiche, weil
iu demselben Pergamente ausgefertigt wurden, in denen
einiger Doetoren und Studenten Erwähnung geschieht.
Gewiß ist, daß sie schou 1246 vorhanden war; von da ab
hat man ein Verzeichniß der Professoren, das eine ununter-
brochene Reiheufolge darbietet. Die junge Lehranstalt
erhielt einen werthvollen Zuwachs, als 1321 eine beträcht-
liche Menge Studenten aus Bologna her einwanderte.
Einer ihrer Commilitonen, Jakob von Valenza, war zum
Tode verurtheilt wordeu. Das verdroß sie sehr, und Wil-
Helm Tolomei, der ans Siena gebürtig war, stellte sich an
ihre Spitze. Er war Professor des Rechts in Bologna
und zog mit ihnen nach seiner Vaterstadt. Mehre andere
Professoren schlössen sich an und die Ankömmlinge wurden
von der Republik sehr freundlich aufgenommen. Denn sie
gab ihnen nicht nur das Bürgerrecht, sondern zahlte auch
6999 Gulden für die vou ihnen in Bologna verpfändeten
Bücher. Jeder Professor bekam 399 Gulden Jahresgehalt
und für den Anfang auf 16 Monate freie Wohnung.
Trotzdem blieben sie aber nicht lange in Siena, weil man
in Bologna alles Mögliche aufbot, sie zur Rückkehr zu
bewegeu. Sie erhielten neue Privilegien und man bat sie
wegen alles desseu, was vorgegangen sei, um Eutschuldi-
gnng. So zogen denn viele Studenten wieder nach Bo-
logna und die Universität Siena war bis 1357 in keinen
glänzenden Umständen. Dann aber wurden einige neue
Lehrstühle gegründet, und Kaiser Karl IV. ertheilte ihr
mehre Privilegien und Immunitäten. Hatten doch die
Sieuesen die Krone eingelöst, welche er bei den Floren-
tinern als versetztes Pfand zurückgelassen!
Um 1323 gab es keiu besonderes Universitätsgebäude;
^^ Professoren hielten ihre Vorlesungen in Privathäusern,
und die Republik zahlte die Miethe für die Auditorien.
Erst 1498 wurde das Studio im alten Spitale der
Mlscricordla eingerichtet, welches seitdem die stolze Be-
nennung Easa della Sapienza führte. Dasselbe ist
dann bis 1816 Umversitätsgebäude geblieben, damals aber
der Akademie der schönen Künste eingeräumt worden; die
Auditorien wurden in das Vigiliusklostex verlegt. Dieses
bildet einen großen Palast mit langen Gängen und großen
Sälen, in welchen schon im zwölften Jahrhundert ernste
Camaldnlensermönche auf- und abwandelten. Dort ver-
weilte König Karl VIII. von Frankreich, im Juni 1495,
als er aus Süditalien zurückkehrte. Ludovico il Moro
von Mailand hatte den fremden Monarchen nach der
Apenninenhalbinsel gerufen; derselbe hatte ganz Italien
durchzogen, Neapel ohne Schwertstreich erobert, und die
Festungen hatten ihre Thore geöffnet, um ihn einreiteu zu
lassen. Aber der Stern seines Glückes verdüsterte sich,
während er in Siena verweilte. Die Neapolitaner
wandten sich ihrem frühern Könige wieder zu; derselbe
Ludovico il Moro, welcher jeneu gerufen, bildete eine Liga
gegen ihn und drohte, ihm den Rückzug abzuschneiden.
Er niußte sich mit den Waffen einen Weg bahnen und die
Schlacht von Fornovo bestehen. Diese bildet gewisser-
maßen das Vorspiel der vielen blutigen Schlachten, welche
unter Karl V. und Franz I. auf Jtalieus Boden geschlagen
wurden. In jenem Kloster hat der obengenannte Karl auch
slorentinische Gesandte empfangen, welche von ihm die
Rückgabe Pisa's forderten^ das ein verhaßtes Joch abge-
schüttelt hatte. Seit 1496 war sie der mächtigen Neben-
bnhlerin unterworfen; da benützte sie die günstige Gelegen-
heit, um sich zu befreien, und wandte sich mit Bitten an
den König, daß er sie beschützen möge. Er überantwortete
sie indessen wieder an Florenz , indem er abzog, ohne den
Streit zwischen beiden auszumachen. Die zwei Republiken
bekämpften einander auf Tod und Leben von 1496 bis
1599; iu diesem Jahre blieben die Florentiner definitiv
Sieger.
Siena seinerseits war zu Eude des fünfzehnten Jahr-
Hunderts von Parteien zerrüttet. Es bat den ausländischen
König, er möge eine Besatzung in der Stadt zurücklassen,
um die Monte dei Nove, eine der zahlreichen Faetioncn,
besser im Zaume halten zu köuneu. Karl nahm also
Siena „unter seinen Schutz", und der Eommandant der
französischen Besatzung, Seignenr de Ligny, wurde dann
von der Republik zu ihrem Hauptmann erwählt; er erhielt
52 Die Gibellinenstadt C
eine Summe von 20,000 Dukaten, wofür er eine Garde
von 300 Mann unterhalten sollte. Aber bald nachher
kam die Partei der Nove oben auf und jagte diesen Stell-
Vertreter des Königs von Frankreich aus der Stadt.
Siena hat eine Bibliothek, welche mancherlei Schätze
enthält und etwa 50,000 Bände zählt; darunter befinden
sich 650Jncunabeln, und die Zahl der Handschriften beträgt
nahezu 3000. In der Autographensammlung findet man
Schriftzüge von der heiligen Katharina und dem heiligen
Bernhard, von Kaiser Karl V. und manchen anderen
berühmten Personen. Ein griechischer Evangeliencoder aus
dem zehnten Jahrhundert ist 1359 mit mehr als 3000
Gulden bezahlt worden. Bemerkenswerth sind noch: ein
Antiphonarinm mit Miniaturen von Paolo dal Poggio
m in Mittelitalien sc.
fest. Jede dieser städtischen Abtheilungen hat ihre eigene
Fahne, ihre Kirche, ihren eigenen Heiligen nicht zu ver-
gessen; sie hat auch ihre eigeue Geschichte, ihre Nebenbuhler
uud Verbündeten. Jeder bildet gleichsam einen kleinen
Staat in der Stadt. Jeder Sienese schwärmt für seine
Contrada; bei den Wettrennen folgt er mit Leidenschaft und
Spannung deu Nossen und Reitern seiner Contrada und
jubelt Himmelauf, wenn sie Sieger bleiben. Dann werden
seine Straßen erleuchtet uud der glückliche Fantino wird
von den Frauen geküßt. Die Glocken werden geläutet,
um allen anderen Contraden den Sieg zu verkünden, die
Kirchenthore sind weit geöffnet und die Menge strömt ein,
um dem Heiligen für den Triumph zu danken. Auch
zündet man unzählige Wachskerzen an und der Fantino
aus Florenz uud eiu 1494 illumiuirtes Buch der Stunden
von Littifredi Corbizi. Der Graf Scipione Borghesi
besitzt eine Sammlung von mehr als 3000 Pergament-
Manuskripten; unter denselben befindet sich auch das Ori-
g i u a l t e st a m e n t B o c c a c c i o' s; es ist lateinisch und aus
dem Jahre 1374.
An wohlthätigeu Anstalten hat Siena keinen Mangel;
ebensowenig an schönen Frauen, welche schon vor langer
Zeit der Deutsche Schröder als Deliciae Italiae bezeichnet
hat, und man muß ihm darin Recht geben. Ein wahrer
Blüthenflor erfreuet das Auge bei den Wettrennen der
Contrade. - Die Stadt ist amtlich in Viertel und Pfarr-
sprenget eingetheilt, aber das Volk hält, heute wie in
früheren Jahrhunderten, an seinen si e b e n z e h n C o n tra d e
wird ans den Schultern der freudetrunkenen Menge bis
vor deu Altar getragen, wohin man nicht selten auch das
Roß führt, welches ihn znm Siege getragen hat. Diese
Rennen finden am 15. August auf der Piazza del Campo
statt und ein Fremder, der dann in Siena verweilt, wird
sich über Mangel an Unterhaltung nicht zu beklageu
haben. —
Schern im ersten Aufsätze ist darauf hingewiesen wor-
den, daß der Freuud der Geschichte in dieser schönen Stadt
vollauf fciit Genüge findet. Ohnehin hat ja in Italien
jede Stadt eine mehr oder weniger bewegte Geschichte, jede
war, in kleinerm oder größerm Maßstab, ein politischer
Mittelpunkt, eine Kapitale, in gewissem Sinne sogar eine
Nation. Ueber ganz Italien hat nur allein Rom geboten,
KiMi
Das Stadthaus zu Siena. (Nach einer Photographie.)
Die Gibellinenstadt Sicna in Mittelitalien :c. 5o
und dieses ließ den von ihm abhängigen Mnnicipien kaiserlicher Proeonsnl ließ dem eifrigen Anhänger des Pro-
manche Freiheiten. Dann aber kamen die deutschen Völker pheten von Nazareth den Kops abhauen. Unter den Lon-
und schlugen mit ihren Barden und Schwertern die Krone gobarden sprach ein Gastalde Recht in des Königs Namen,
der Cäsaren in Trümmer. Jede Stadtgemeinde gewann unter den Karolingern walteten und schalteten ^ Grafen,
seitdem eine schärfer ausgeprägte Individualität, und wäh- Macht und Ansehen derselben wurden allmälig abge-
rend der langen Streitigkeiten zwischen Kaisern und Päpsten
wuchs die Gemeindefreiheit.
Ueber Siena's Anfänge wissen wir Zuverlässiges nicht,
aber sie reichen wahrscheinlich in die Zeiten der alten Etrns-
ker hinauf. ErstPlinins nnd Tacitns erwähnen der Stadt;
sie war zu des Augustns Zeiten eine der damals vorhan-
denen ^ „Kolonien". Durch Auicius Ansanus wurde
sie im Jahre 393 zum Christenthume bekehrt; aber ein
schwächt durch die Bischöfe, welche zu Anfang des zwölften
Jahrhunderts großen Einfluß übten. Damals kam auch
eine Consnlarregierung ans; schon 1125 wird eines Con-
snls erwähnt. Aber die Regierungsform hatte bis dahin
noch keine Stetigkeit gewonnen; bald üben die Confnln
die oberste Gewalt allein, bald in Gemeinschaft mit den
Bischöfen, und manchmal machen beide einem Signore
oder Rector Platz, welchem dann, z. B. im Jahre 115V,
Die Gibellinenstadt Si
ein Rath zur Seite steht. Nach 1212 ist von Consuln keine
Rede mehr.
Während des langdauernden Streites zwischen Päpsten
und Kaisern, welcher ganz Italien in zwei gegen einander
auf das Höchste erbitterte Parteien theilte, stand Siena
fast immer ans Seite der letzteren; es war durch und durch
gibellinisch. Und doch hat es sich gefügt, daß gerade
die Doetrinen, auf welche die päpstliche Gewalt viele ihrer
Ansprüche stützte, in Siena aufgestellt wurden. Der
Verfasser des berühmten Decretum Gratiani, welches die
Grundlage des canonischen Rechtes bildete, welchem Europa
dann Jahrhunderte lang sich unterwarf, — dieser Graziano
war ein Mönch von Chiusi. Auch Papst Gregor VII.,
dieser gewaltige Pontifer, wurde im Sienesischen geboren,
und Alexander III. (Roland Bandinelli), das Haupt der
lombardischen Liga, von welcher Kaiser Friedrich Rothbart
bekämpft wurde, stammte aus einer sienesischen Familie.
Aber Siena lag stets int Kampfe gegen die Guelfen,
und eigentlich hat es nur frisches Leben und Bedeutung
gehabt, so lange es gibellinisch war und blieb. Als
Guelfen die Oberhand in der Stadt gewannen, war diese
nicht mehr von erheblicher Bedeutung für die Geschicke
Toscana's; sie hörte auf bestimmend einzuwirken und
mattete sich dnrch innere Streitigkeiten ab.
Also die gibellinische Zeit bildet den Glanzpuukt in
Siena's Geschichte. In guten wie in schlimmen Tagen
hielten die Sienesen dem Kaiser Friedrich II. die Treue;
dieser war in Italien geboren und erzogen und liebte vor
Allem die Insel Sieilien. Er nannte sich in den „Eon-
stitntiones", welche er denSicilianern verlieh, Italiens;
er strebte nach einer Wiederherstellung des römischen Rei-
ches und nach einer Einheit Italiens. Aber er lebte im
dreizehnten Jahrhundert, und damals mußte fehlschlagen,
was im sechszehnten möglicherweise hätte gelingen können.
Der Kaiser war seiner Zeit weit voraus; die Muuieipal-
freiheit galt de» Italienern mehr als die Einheit der ganzen
Halbinsel.
Es gab Zeiten, in denen ganz Toseana, an der Spitze
die Florentiner, sich der kaiserlichen Gewalt entzogen hatte;
dann standen nur allein die Sienesen und Pisaner auf
gibellinischer Seite. Als im Juli 1258 die Uberti, welche
an der Spitze der Gibellinen in Florenz kämpften, aus dieser
Stadt verjagt wurden, fanden sie nebst anderen Fuorus-
citi, Vertriebenen, willige Aufnahme in Siena, das als
feste Burg ihrer Partei betrachtet werden konnte. Der
Krieg begann zwischen den beiden Städten. Dante, selber
ein eifriger Gibelline, hat zwei Führer seiner Partei in
Siena, denProvenzano Salvani und Farinata degli Uberti,
unsterblich gemacht. Beide waren gleichsam die lebendige
Fahne ihrer Partei, aber sie hatten einen schweren Stand
gegen die Uebermacht der Guelfen. Deshalb wandten sie
sich um Beihülfe an Manfred, König von Neapel, Fried-
richs II. Sohn. Sein Antwortschreiben vom 11. August
1259 ist noch heute im Archive zu Sieua vorhanden; er
verspricht, eine Heeresmacht zu schicken, welche der Sache
der Gibellinen wieder aufhelfen könne; aber er sandte
nur 109 deutsche Reiter, welche im Dezember eintrafen.
Was sollte ein so schwaches Häuflein nützen? Aber Fari-
nata sprach unverzagt: „Wir haben nun die Fahne des
Königs, und das genügt." Als dann die Florentiner
anrückten und Siena einschlössen, opferte der Italiener die
deutschen Hilfstruppen. Er versprach ihnen doppelten
Sold, gab^ ihnen Wein vollauf zu trinken und schickte sie
dann als Todesopfer gegen den Feind. Und die deutschen
Reiter hieben so tapfer ein, daß die Florentiner geworfen
wurden und fast die Belagerung aufgehoben hätten. Aber
ia in Mittelitalien ;c. 00
von Siena aus ließ man jene braven Männer ohne Unter-
stütznng; sie wurden von der ganz uuverhältuißmäßigen
Uebermacht geradezu erdrückt und Alle entweder gefangen
genommen oder getödtet. Die Florentiner erbeuteten Man-
freds Fahne uud schleisteu sie in den Koth.
Das Letztere hatte Farinata gewollt. Manfred, über
diesen Schimpf erbittert, sandte im Juli 1260 ueue Trup-
pen; diesmal 800 deutsche Reiter unter den Befehlen seines
Neffen Giordano Lancia d'Angalone; auch Pisa stellte Trup-
pen, und nach Verlauf einiger Zeit waren in und bei Siena
27,500 gibellinische Streiter versammelt; davon 9000 Rei-
ter, das übrige Fußvolk. Sie belagerten Montalcino, um
den Feiud dorthin zu locken, aber die Florentiner rührten
sich nicht uud dadurch wurde die Lage ihrer Feiude täglich
schlimmer. Die Sienesen hatten keine Mittel mehr, die
deutschen Reiter zu unterhalten, uud wenn es nicht bald zu
einer Schlacht kam, war Gefahr, daß das gauze Heer sich
auflösen werde. Man ersann eine List. Farinata stem-
pelte zwei Mönche; diese mußten insgeheim nach Florenz
gehen und der dortigen Regierung die Mähr erzählen, daß
sie im Austrage mißvergnügter Sienesen kämen. Man
sei unzufrieden mit Provenzano Salvani, welcher sich die
oberste Gewalt anmaße und wolle sich seiner entledigen.
Wenn nun die Florentiner, scheinbar um Montalcino Ent-
satz zu bringen, bei Siena erschienen, dann würde dafür
gesorgt werdeu, daß man ihnen ein Stadtthor öffne.
Die Florentiner gingen in die Falle. Ihr Volk erhob
sich in Masse; sie schickten Boten an alle guelfischen Städte
nicht nur Toscana's, sondern auch nach Bologna, Perugia
und Orvieto. So brachten sie 33,000 Manu zusammen,
was für jeue Zeit als eine sehr beträchtliche Heereszahl
angesehen werden kann. Die Armee zog in der festen
Hoffnung auf einen glänzenden Sieg heran uud machte
am 2. September, unweit von Siena, bei Monte Aperti
Halt. Die Stadt wurde nicht nur zur Uebergabe aufge-
fordert, sondern man verlangte auch, daß sie selber eine
Bresche in die Mauer macheu solle, durch welche das guel-
fische Heer seinen Einzug halten könne.
Die Sienesen wandten sich an ihre heilige Jungfrau,
hielten Bußübungen und feierliche Umgänge uud zogen
bei Einbruch der Dunkelheit aus der Stadt gegen Monte
Aperti. Am andern Morgen, es war der 4. September
1260, trafen beide Theile aufeinander. Sie wußten, daß
Toscana s Schicksal auf dem Spiele stand und kämpften
mit äußerster Erbitterung. Lange blieb die Entscheidung
ungewiß; da hieb Boeea degli Abati, ein Gibelline,
welcher in den Reihen der Guelfeu kämpfte, dein Fahnen-
träger der letzteren, Jacopo de Pazzi, die Hand ab. Die
Fahne sank, man ahnte Verrath, die gnelfische Reiterei
begann zu fliehen und warf sich in wilder Unordnung anf
das Fußvolk, das bald in völliger Auflösung war. Dann
begann ein Gemetzel, in welchem nahe an 10,000 Guelfen
fielen; von deu überlebenden wurden die meisten gefangen
genommen.
_ Heute bildet jenes Schlachtfeld von Monte Aperti eine
weite Einöde; dort steht kein Haus, wächst kein Baum,
keine Aehre, kein Grashalm.
Am 5. September hielten die Gibellinen ihren Sieges-
einzng in Siena. Man läutete mit alleu Glocken. Der
gnelfische Herold, welcher die Stadt zur Uebergabe auf-
gefordert hatte, saß rücklings aus einem Esel und nun
wurde die Fahne des florentinischen Volkes durch deu Staub
geschleift. Während man hier den Sieg feierte, kamen
Flüchtlinge nach Florenz und verkündeten die Nachricht von
dieser gewaltigen Niederlage. Da eilten viele Bürger nach
Lucca, um dort Schutz zu suchen. Diese Stadt war nun
Die Gibellinmstadt Siena in Mittelitalien :c.
die einzige Zuflucht der Guelfen; so rasch hatte sich die Lage
der Dinge geändert. Ja, die Gibellinen machten in allem
Ernst Anstalt, Florenz zu zerstören, aber Farinata degli
Uberti wandte das grause Schicksal ab.
Später hat sich dann das Blatt gewandt und die
Gibellinen geriethen abermals in Bedrängniß. Papst
Urban IV. rief, gegen seinen Feind Manfred, aus Frank-
reich Karl von Anjou zu Hilfe, der am 6. Januar 1266
in Rom zum Köuige von Sicilien und Apulieu gekrönt
wurde. Freilich gab der heilige Vater Etwas, das ihm
nicht gehörte, aber der Graf von Anjou nahm die Krone
eines — Ercommunicirten. Kaum sechs Wochen später
he Beiträge. OY
fiel Manfred, verrathen und verlassen von den Seinigen,
am 26. Februar, in der Schlacht bei Benevent, und daraus
ersolgte eiu Rückschlag auf Toscana. Sechs Jahre nach
dem Tage von Monte Aperti mußten die Gibellinen in
die Verbannung ziehen, und die Uebermacht der Guelfeu
war wieder gesichert. Aber Siena blieb der gibellinifchen
Sache getreu und hielt zu Conradin von Schwaben. Dann
sind noch manche Wechselsälle gefolgt, in die wir nicht
weiter eingehen wollen. Am 3. Juli 1577 wurde es von
dem spanischen Philipp II. an den Florentiner Cosmus
von Medieis übergeben und hörte fortan auf, selbstständig
zu sein.
Anthrop ologi
Die Ausrottung wilder Völker durch die
civilisirteu Leute.
Wir haben den Vorsatz, unter der Ueberschrist „An-
thropologische Beiträge", eine Reihe von Aufsätzen
zu liefern, in denen Gegenstände aus der „Menschenkunde"
behandelt werden. Auf dem Gebiete der Anthropologie
wird Aufklärung Vielen nicht unwillkommen sein. Diese
Fundamentalwissenschaft bricht sich jetzt mehr und mehr
Bahn; sie wird, das unterliegt keinem Zweifel, als Siegerin
aus harteu Kämpfen hervorgehen, weil am Ende Jeder-
mann Thatfacheu gelten lassen muß. Juzwischeu hat
sie, da sie althergebrachten Vornrtheilen und der Unkunde
entgegen tritt, viele Ausechtuugeu zu besteheu. Sie zählt
unter ihren Gegnern die speeififch Gläubigen, welchen
Bileams Thier und Jakobs Leiter für unanfechtbar gelten
und denen Adam eine geschichtliche Person ist; sodann solche
Gelehrte, welche in der Routine des Ueberkommenen stehen
bleiben, und denen neue Wahrheiten unbequem sind; end-
lich auch einen großen Theil der sogenannten Philanthropen,
die ihre Ansichten und selbstverfertigten Götzen nicht voin
Altar herabstoßen lassen wollen und nicht eingestehen
mögen, daß ihr ganzes BeHaben einen radikalen Gegensatz
zu der wahren Menschenfreundlichkeit und zur prak-
tischen Menschenliebe bilde.
Die pseudophilanthropischen Ansichten beherrschen jetzt
noch die bei weitem überwiegende Menge des „gebildeten
Publikums" und haben auch großeu Anhang unter man-
chen „Gelehrten". Aber es läßt sich nicht verkennen, daß
schon seit einer Reihe von Jahren eine Rückwirkung einge-
treten ist, welche die modischen Formeln und die alten Vor-
urtheile mit den Waffen der Wissenschaft bekämpft. Die
Anthropologen kämpfen unverdrossen, wie es Reformatoren
geziemt, und lassen sich durch die specisisch Gläubigen oder
die philantropischen Tetzel und Eck nicht im Mindesten ein-
schüchtern. Als Dr. Huut, Präsident der londoner anthro-
pologischen Gesellschaft, in der Versammlung des Vereins
für sociale Wissenschaft erschien, zischte man ihn aus, weil
er iu seinem Buche: y,On tlie Negros Place in Nature"
gegen weit verbreitete Vorurtheile mit unleugbaren That-
sachen ausgetreten war. Seit drei Jahren hat die londoner
„Authropological Society" vergeblich beantragt, in
Globus X. Nr. 2.
sche Beiträge.
der „british Association" eine besondere Abtheilung bilden
zu dürfen; man wies sie unter nichtigen Vorwänden, aller-
dings bevor Jamaica eine so drastische Lehre gegeben hatte,
zurück und sagte, sie möge sich bei den Zoologen oder
Ethnologen einreihen lassen.
Die Folge war, daß hunderte von vorurtheilsfreien
Freunden der Wissenschaft sich zur Aufnahme in den Verein
meldeten, der nun in hoher Blüthe steht und viele der besten
Köpfe Großbritanniens, vor allen Naturforscher und Rei-
sende ersten Ranges unter seinen Mitgliedern zählt. An-
thropologische Vereine haben wir jetzt außer iu London
auch in Paris, welchem die Priorität gebührt, in
Madrid, in Neuyork, in St. Petersburg, und die
deutsche anthropologische Gesellschaft wird in den nächsten
Wochen mit der Veröffentlichung ihres „Archivs" begitt-
nett. Die Bülletins und Memoiren sowohl der pariser wie
der londoner Gesellschaft enthalten eine Menge neuer Wahr-
heiten und Thatfachen, aber die Gegner des Fortschritts
und der gesunden menschheitlichen Entwicklung, welche an
Phrasen und Formeln haften, hüten sich wohl, denselben
eine weitere Verbreitung zu gebe,:.
Jedenfalls wird es unseren Lesern nicht unwillkommen
sein, zu erfahren, was auf dem so wichtigen Gebiete der
Menschenkunde gährt und treibt, welche Thatsachen in
den Vordergrund gestellt werden, wie man dieselben
erklärt, welche Schlüsse und Folgerungen aus denselben
gezogen werden. Es sind, wie gesagt, nicht geringe Män-
ner, insbesondere Männer der Naturwissenschaft,
Reisende ttttd auch Staatsmänner, welche int In-
teresse der Wissenschaft und der Humanität den Kampf
gegen alte Ansichten aufgenommen haben. Sie fassen den
Begriff der Anthropologie nicht etwa eng uttd lediglich
anatomisch und physiologisch auf; der psychische Theil
des Menschen findet nickt minder Beachtung wie der körper-
liehe. Auch dieAlterthümer desMenschengeschlechts
gehören in das Bereich anthropologischer Forschung und vor
allen Dingen das Rassenelement mit allen seinen
Konsequenzen.
Wir sind nun längst darüber hinaus, an die Erschei-
nungen, welche die Menschheit darbietet, einen lediglich,
sagen wir der Kürze wegett kaukasischen oder europäischen
Maßstab zu legen. Ein solcher ist veraltet und wissen-
L
58 Die Ausroitm
schaftlich nicht zu rechtfertigen. Wir leiten die eigenartigen
(Zivilisationen, z. B. Chinas oder Japans und Alt-
amerika's nicht aus Aegypten oder Assyrien ab; wir sehen
den Wanderungstheoretikern scharf auf die Finger und der-
stehen zu individualisiren. Daß jene Civilisationen eigen-
artig und vollberechtigt seien, das will dein europäischen
Hochmnthsdünkel, welcher ohnehin oftmals nicht über die
zum gründlichen Urtheilen erforderlichen Kenntnisse ver-
fügt, keineswegs in den Kopf. Er weiß nicht oder kümmert
sich nicht darum, daß jene Civilisationen nicht aus den
Elementen der nnsrigen hervorgegangen sind, sondern aus
ganz anders gearteten, und daß sie auf einer ganz andern
ethnischen Grundlage ruhen. Daraus schon folgt mit
Notwendigkeit, daß der Fortgang ihres innern Wachs-
thums und ihrer Entwicklung sich jener der kaukasischen
Menschheit uicht nur nicht assimiliren konnte, sondern
von derselben weit abweichen mußte. Alle Versuche, gleich-
viel ob aus mildem Wege oder aus jenem des Zwangs,
werden weder den Chinesen noch den Indianer:e. enro-
päisch ummodeln können; höchstens wird man die Haut
ritzen.
Der Anthropolog schwört nicht auf überkommene Leh-
ren oder Formeln, welche von fo Vielen im „gebildeten
Publikum" ungeprüft als richtig angenommen werden,
sondern er geht wissenschaftlich zu Werke, indem er unter-
fu ch t. Sodann bestrebt er sich, g er e ch t g e g e n All e zu
sein, und mnthet keiner Menschengruppe mehr und Anderes
zu, als sie ihrer ureigenen Begabung gemäß zu
leisten vermag. Er prüft das intellectuelle Vermögen, die
geistige Anlage und Beschaffenheit, das ganze Morale der
Gruppen ebeu fo genau, wie Knochen- und Muskelbau.
Er geht in die fernste Vergangenheit, welche bekanntlich
nun weit über die historischen Zeiten hinausliegt.
Als eine Hauptausgabe der augewandten Anthropologie
erscheint es, die gegenseitigeStellnng der verschie-
denen Rassen, die doch nun einmal da sind und uicht hin-
weggeleugnet werden können, gründlich zu ermitteln. Die
Eigenartigkeit der Rassenelemente verdient eine ein-
gehende Würdigung. In praktischer Beziehung hat sich der
Neger mit der allerfchärfsten Ecke in den Vordergrund gerückt
und über ihn wird der Streit fast mit Erbitterung geführt.
Der Herausgeber des „Globus" hat seit beinahe fünf
Jahren seine Ansichten über diesen Punkt oftmals aus-
gesprochen; von Seiten Vieler sind sie gebilligt, von Vielen
anch getadelt worden. Er will nun seinerseits eine Zeit-
lang sich selber dieser Frage gegenüber passiv verhalten,
könnte es aber bei den Lesern, gleichviel welcher Richtung
sie angehören, nicht verantworten, wenn er ihnen vorent-
hielte, was die Anthropologen und Reisenden in den ver-
schiedenen anthropologischen Gesellschaften über diesen
Gegenstand zu sagen haben. Es handelt sich um eine der
verhängnisvollsten Fragen dieses Jahrhunderts, und eine
Aufklärung muß Jedem willkommen sein, dem an einem
Einblick in einen Gegenstand gelegen ist, welcher nach und
nach zu einem inhaltschweren staatlichen und „gesellschast-
lichen" Problem sich umgestaltet hat. Man blicke nach Nord-
und Südamerika und nach Westindien.
Die Anthropologie lehrt uns, daß wir die verschiedenen
Menschengruppen uicht allesammt in derselben Weise be-
urtheilen und behandeln dürfen, wenn wir die Gesittung
fördern wollen. Die Geschichte der europäischen Colonien
würde weniger dunkle Seiten darbieten, wenn man ver-
standen hätte zu individualisiren.
Wir wissen, daß in Amerika, Australien, Afrika, auf
wilder Völker.
Neufeeland und auf vieleu Eiländern int Großen Ocean
Colonifation und Ausrottung der Eingebornen
zusammenfallende Begriffe sind, lieber die Vernichtung
der Eingebornen, der „Wilden", haben wir im „Globus"
eiue Menge von Thatsachen beigebracht; ohnehin ist die
Sache selber kein Geheimniß. Aber zumeist hat man die
Schuld den Wilden zugewälzt und die Weißen haben sich
allemal rein zu waschen gesucht. Aber in mindestens
neunzig Fällen unter hundert fällt sie auf die
letzteren.
Ein Mann, welcher namentlich in Australien eigene
Beobachtungen angestellt hat, erörtert den Gegenstand in
folgender Weise (Antbropological Review Nr. 12.
1866): —
In vielen Gegenden haben allerdings Krankheiten und
Branntwein viel zur Ausrottung der Eingebornen beige-
tragen, aber durch sie allein wird das Hinsterben nicht
erklärt. Aus vorsätzlichen Mord kommt eine nicht
geringe Summe, auf Mord, welchen die weißen An-
fiedler verüben. Ich weiß wohl, was ich sage, und daß
ich hier ein schweres Verbrechen auf die Schultern unserer
eigenen Landsleute werfe. Noch mehr; ich schließe von der
Beschuldiguug nicht einmal die Frauen aus, welche aus
einen Rang in der Gesellschaft Anspruch machen.
Die Geschichte der europäischen Ansiedelungen in Nord-
amerika ist eine zusammenhängende Kette schauderhafter
Barbareien. Viele nun verschwundene Stämme verdanken
ihren völligen Untergang jenem unerklärlichen Durste uach
Blut, der in geheimnißvoller Weise über den civilisirten
Menschen kommt, sobald er in Berührung mit niedriger
gearteten Stämmen geräth und sich nicht durch bürgerliche
Gesetze eiugeeugt sieht. Ein Farmer, der viele Jahre in
Teras gelebt hat, erzählt, nach dem Bericht eines alten
Ansiedlers, das Schicksal des letzten Carankowa-
Indianers.
Durch einen Mann dieses Stammes war eine Weiße
Frau getödtet worden; es wird aber nicht gesagt, ob etwa
vorher irgend eine Provocation stattgefunden hatte. Das
ist überhaupt ein Punkt, über welchen wir nur selten etwas
erfahren. Um jenen Tod zu rächen, machte der Mann der
Frau mit einigen Genossen sich auf und erschoß den Häupt-
ling der Caraukowas. Daun ries er weit und breit die
Ansiedler zusammen, damit sie behülflich seien, den ganzen
Stamni auszurotten. Heute erhebt sich die Stadt Mata-
gorda auf der Stelle, wo jene Ansiedler über den Stamm
herfielen und mit kaltem Blute Alle, Männer, Weiber und
Kinder, niedermachten. Nur drei Indianer entkamen, und
der letzte der Caraukowas war noch vor wenigen Jahren
als Bettler in den Straßen von Matagorda zu sehen.
Aehnliche Gefchichteu haben in Nordamerika sich in
Menge zugetragen, und noch in diesem Augenblicke nimmt
das Niedermetzeln der Indianer im Westen ununterbrochen
seinen Fortgaug. Die Spanier in Südamerika und West-
indien haben in ähnlicher Weise gewirthschastet, die Hol-
länder am Vorgebirge der Guten Hoffnung haben auch
eine große Summe von Barbarei auf dem Kerbholz; die
Franzofen gleichfalls haben unter einigen Stämmen Neu-
caledoniens aufgeräumt. Und die Engländer? Man blicke
nach Australien und Neuseeland! Man schießt die Einge-
bornen nieder, als wären sie Fasanen!
Nun sagt man, wie schon angeführt wurde, die Wilden
feien zuerst Angreifer gewesen; ich weiß aber bestimmt,
daß das sehr häusig nicht der Fall ist. Als Regel steht
sest, daß fast ohne Ausnahme die Provokation von den
Colonisten ausgeht. Bei genauer Untersuchung stellt sich
beinahe immer heraus, daß Mordthaten, welche von den
Die Ausrottun
Eingebornen verübt werden, als Wiedervergeltnng erschei-
nen. Man muß, um die Dinge richtig zu beurtheilen, die
Verschiedenheit in der Lage und in den Verhältnissen beider
Rassen in Anschlag bringen. Man kann von „Wilden"
nicht erwarten, daß sie die Anschauungen, Sitten und Ge-
wohnheiten der Europäer haben sollen. Es ist auch sehr
leicht erklärlich, daß sie diesen gegenüber Mißtrauen zeigen
und in manchen Fällen auch die Absichten und Handlungen
derselben mißdeuten. Der Weiße seinerseits versteht sich
nicht aus die rohen Ideen des Wilden; dieser ist ihm ein
Gegenstand des Widerwillens oder des Lächerlichen, und
allerdings kennt er keine Art sich zu rächen als eine Weise,
bei welcher der Tod die Hauptrolle spielt.
Ganz abscheuliche Dinge gehen eben jetzt in
Queensland vor. Die niederträchtigsten Mordthaten,
—• ich kann mich nicht milder ausdrücken, — sind an der
Tagesordnung. Ganze Stämme Eingeborner wer-
den durch die Weißen ausgerottet, und die Regie-
rung ist Mitschuldige an den Verbrechen, weil sie nicht
dagegen einschreitet. Was einst auf Vandiemensland vor-
ging, wiederholt sich jetzt in Queensland. Hier kennen
die Colouisteu nur eiue eiuzige Methode, mit den Schwar-
zen umzugehen; man schießt sie tobt und entfaltet dabei
einen Eifer, der einer bessern Sache würdig wäre. Die
Laudespolizei ist dabei behülflich; man streckt ohne Unter-
fchied Männer, Frauen und Kinder mit der Kugel nieder.
Dieses System ist aber uicht auf Queensland allein be-
schränkt. Es ging einst auch iu Victoria im Schwang, und
geht, wenn auch nicht mehr in so weitem Umfange, noch jetzt
im westlichen Neusüdwales und im Norden und Westen
Südaustraliens. Eine Rechtfertigung für dasselbe liegt aber
im Wesen und im Charakter der Eingebornen mit nichten.
Sie sind harmlos und im Grunde gauz freundlich gesinnt,
nicht kriegerisch wie die Indianer Nordamerikas oder wie
die Maoris auf Neuseeland, auch nicht blutdürstig und
verrätherisch wie die Malayeu im Archipelagns. Die
Entdeckungsreisenden Bnrke und Willis sind von den
Stämmen im Innern sehr freundlich behandelt worden
und verdankten ihnen manche Wohlthateu.
Auch die Vandiemensländer waren friedlich und
noch weit harmloser als die eigentlichen Australier, und
doch sind sie zu Grunde gegangen. Es ist in dieser vor-
maligen Verbrechercolonie ganz schauderhaft und gottlos
gewirthfchaftet worden.
„Ich habe einst zu Pferd eine Reise durch die Jusel
gemacht, um mich an ihren landschaftlichen Reizen zu
erfreuen und von den Eolonisten zu lernen, was zu lernen
war. Ich war meilenweit unter Akazien hingetrabt, deren
balsamische Blüthendüfte die Luft erfüllten, und kam dann
in ein von bewaldeten Höhen begrenztes Thal, durch wel-
ches ein klarer Bach fließt. In demselben stand die Woh-
nnng eines Ansiedlers. Der Mann war früher Beamter
gewesen und hatte, wie viele andere seinesgleichen, sich auf
Kronländereien niedergelassen. Dort wurde ich gastlich
empfangen und verweilte einige Tage in der Familie.
„Man erzählte mir Mancherlei, und ich war erstaunt
und empört über die Weise, in welcher es geschah. Der
Vater war nun alt und kränklich; aber seine Familie war
um ihn, und die Tochter, ein nicht mehr junges Frauen-
zinimev, trug Sorge für die Gäste. Sie gab uns Manches
über die Behandlung der Eonvicts (deportirten Verbrecher)
zum Besten, und ihr alter Vater, der einst Friedensrichter
wilder Völker. oy
gewesen, konnte seinerseits auch manche merkwürdige Ge-
schichte erzählen. Doch am meisten hörten wir über die
Eingebornen.
„Die Tochter erinnerte sich noch recht wohl der Zeit,
da manche östlichen Stämme in jenem Thale sich einfanden
und dort Nahrung suchten. Die sind nun aber, so sagte
sie mit großer Gemüthsruhe, alle getödtet worden; was
von ihnen noch etwa übrig geblieben sein sollte, ist unter
dein Regiernngsschntze hingestorben. Sie erzählte, daß
es eine Hauptbelustigung (favourite amusement) ge-
wesen, auf die Schwarzen Jagd zu machen. Dabei
ging es in folgender Weise zu. Man lud die Ansiedler in
der Umgegend mit Weib und Kiud zu einem Picknick ein
und speiste vor dem Hause unter dem Schatten der Bäume,
und Alle waren heiter und guter Dinge. Nach Tische
nahmen die Herren ihre Flinten, riefen die Hunde und ein
paar Convicts und gingen in den Busch (Wald), um
schwarze Leute (black fellows) zu jagen. Manchmal hatten
sie nichts erlegt, denn dieses Wild war uicht gerade
häufig, zuweilen aber hatten sie eine Frau ge-
schössen, und wenn das Glück gut gewesen war, auch
wohl ein Männchen.
„Alle diese Einzelnheiten wurden so kaltblütig erzählt,
daß uns der Athem stockte. Wir sahen uns fragend an
und jeder dachte, die Erzählungen seien erdichtet oder min-
destens übertrieben. Aber leider war Alles und Jedes
buchstäblich wahr. Am Scheußlichsten jedoch bleibt, daß
Frauen und Töchter bei diesen Menschenjagden zugegen
und behilflich waren. Warum auch nicht? Die Colouisteu
sagten ja: „Wenn man diese Schwarzen nicht todtschießt,
dann stehlen sie Hühner aus dem Stalle." —
In Vandiemensland, das heute in das weniger an-
rüchige Tasmanien umgetauft worden ist, ist der Ein-
geborne verschwunden und damit auch die Möglichkeit, Jagd
auf ihn zu machen. Aber in Queensland wiederholen
sich folche Auftritte.
Wir schließen hier einen Brief an, welchen James
Benwick zn St. Kilda, Melbourne unterm 25. Oktober
1865 an Dr. Hunt in London gerichtet hat.
„Bischof Pattison von der melanesischen Mission
sagte am letzten Sonntag in seiner Predigt, er sähe die
Notwendigkeit, daß der Schwarze gegenüber dem Weißen
verschwinde, nicht ein; aber leider sei dieser Unter-
gang ein Resultat des gegenseitigen Verkehrs.
Es schmerze ihn, als einen Missionär und Bischof, in
tiefster Seele, daß ersähe, wie alle Anstrengungen und
Bemühungen anf den Inseln (der Südsee) vergeblich
seien. Er sprach dann von der reißend schnellen Abnahme
der Bevölkerung auf Neuseeland, wo man vom Christen-
thum völlig abgefallen sei und sich dem stupiden Aberglau-
beu des Pai Marire wieder zugewandt habe. Uebrigens
beklagte er sich über die Art und Weise, wie die Lehrer zu
Werke gingen uub daß sie oftmals Mangel an Urtheil
zeigten; wir hier sollten für unsere Schwarzen gut sorgen;
er meinte, sie seien wohl fähig, die christliche Religion zu
begreifen. Ich meinerseits muß bekennen, daß ich daran
zweifle; ich'glaube nicht, daß von der sogenannten Civili-
sation und vom Christenthum etwas für sie zu hoffen fei.
Leider! Wir verbessern ihre Lage nicht und bringen sie
nicht zu höherer Gesittung. Hier sind Viele, welche nicht
umhin können, die Kraft Ihrer (Hunts) Beweisführung
anzuerkennen."
60 Ein Ausflug in die
Gin Ausflug in die
Die blutigen Vorgänge auf dieser Jusel haben überall
Entsetzen erregt und nehmen die Aufmerksamkeit des gebil-
deten Europa's in Anspruch, das bisher von den dortigen
Zuständen nur wenig gewußt hat. Die euglische Regie-
rung beeilte sich, eiue außerordentliche Untersuchnngseom-
Mission nach Jamaica zu senden, und einige große londoner
Zeitungen schickten Berichterstatter, denen sie strenge Unpar-
teilichkeit zur Pflicht gemacht haben. Es liegt den Englän-
dern offenbar daran, endlich einmal die reine Wahrheit zu
erfahren und nicht mehr, wie so lange geschehen ist, ein-
seitige Angaben baptistischer Missionäre zu lesen, die sich
besonders auch dadurch charakterisiren, daß sie viele der
wichtigsten Dinge verschwiegen und andere einseitig dar-
stellten.
Der Berichterstatter der „Times" hat im Anfange
Februars von Kingston aus einen Ausflug iu das Gebirge
unternommen und schildert, was er gesehen. Er verließ
„die Stadt und ihre staubigen Gassen, ihre von Schmutz
starrenden Häuser, verfallenen Läden und leeren Maga-
gute", um frische Luft im Hochlande zn schöpfen. Die
Gebirge hoben sich scharf vom blauen Himmel ab. Dicht
unter dem St. Catherines Pik liegen die Neweastle-Käser-
nen, die eine durchaus gesunde Militärstation bilden;
das Speisezimmer der Offiziere liegt 4599 Fuß über dem
Meere, nur 13 Miles von Kingston entfernt. Man hat
von dort oben eine entzückend schöne Aussicht.
Unterwegs traf der Reiter „nur allzuviel Busch",
d. h. Ländereien, die einst bebaut waren und nun wieder
Wildniß sind. Statt der Plantagen sieht man Hütten von
Negern. Swatton Field, einst eine Zuckerplantage des
von den Negern ermordeten Baron Ketelholdt, ist in kleine
Stücke getheilt von je 1 oder 2 Acres, und dort leben etwa
190 bis 150 Schwarze. Ihre Hütten sind im allererbärm-
lichsten Zustande, die Erdmauern werden nicht ausgebessert
und die Dächer sind im kläglichsten Verfall. Der Hütten-
bewohner brauchte nur ein paar Stunden Arbeit daran
zu wenden, um Alles wieder in leidlichen Zustand zu
bringen, und die Sache würde ihn nicht einen Schilling
kosten; denn wenn er nur die Haud ausstrecken wollte, so
hätte er Bambus und Material zum Decken des Daches in
Fülle. Aber der Hüttenneger kümmert sich nur allzuoft
nicht um häuslichen Comfort und verwendet feine Muße-
zeit, welche er iu Hülle itub Fülle hat, zu anderen Dingen.
Wenn man nicht sehr genau zusieht, so findet man, des
üppig überwuchernden Bnfches wegen, seine Hütte nicht
einmal. Ain Wege bemerkt man keinen Maierhof und
keinen Fleck bestellten Feldes, wohl aber zwischen Bananen,
Eacaobänmen und Bams, von Blättern fast überdeckt, eine
niedrige, armselige Hütte.
Jamaica liefert bekanntlich den Piment (rothen
Pfeffer, neue Würze, Jamaica-Pfeffer, All spiee der Eng-
länder). Er wächst nur allem auf dieser Jusel und dann
noch in Aucatan, wo er aber keinen Ausfuhrartikel bildet.
Die Versuche, ihn aus St. Domingo und Euba mit Erfolg
zu bauen, sind alleinal mißlungen. Die Pimentpflanzung
St. Anns liegt 1500 Fuß über dem Meere, etwa 10 Miles
von Kingston, und der Weg zu ihr ist steil. Sie hat unge-
fähr 800 Acres. Dort wachsen und gedeihen Orangen,
Citronen, Wein, Brotfrüchte, Pompelmns, Bananen,
Kokos- und Kohlpalmen, Zuckerrohr, Kaffee, Aams,
Kassave, Arrowroot und Gemüse. Der Pimentbaum ähnelt
etwa uuserm Apfelbaum an Größe und Art des Wuchses,
Gebirge Jamaica's.
Gebirge Jamaica's.
gehört aber zu den Myrtaeeen, hat dichteres Laubwerk
und dunkle glänzende Blätter, welche gleich der Frucht
aromatisch sind. Der Stamm ist weiß, weil er alljährlich
die Rinde abwirst; er blüht zweimal im Jahre, aber nur
die eine Blüthe trägt Früchte. Die Beere ist bekannt und
in jedem Specereiladen zu finden; sie muß gepflückt werden,
wenn sie noch grün ist; sobald sie reif ist, hat sie das Aro-
matifche verloren und wird süß. Mau bricht sie mit den
Zweigen ab, weil das gut für den Baum fein soll. Die
Ernte ist unsicher und schlägt zuweilen einige Jahre hinter-
einander fehl.
Jamaica hat zwar nahe an 400,000 Bewohner, aber
es fehlt an solchen, die Lust zur Arbeit haben. Vor mehren
Jahren war große Roth ans Madeira und deshalb wan-
derten einige hundert Portugiesen mit Weib und Kind
nach Jamaica. Ein Theil derselben wurde auf jener
Pimentpflanzung angesiedelt. Die Männer sind bei weitem
nicht so kräftig gebaut wie die Neger, arbeiten aber sehr
fleißig und ausdauernd. Neben dem schwarzen Qnaschi
(so bezeichnet man den Neger) nahmen sich diese oliven-
gelben, hageren Europäer, leiblich betrachtet, keineswegs
Vortheilhaft aus; aber die Kinder waren offenbar im besten
Gedeihen. Jede Familie hat ihre Hütte und ein Garten-
feld, baut Bananen, Nams und noch vielerlei andere Lebens-
mittel für ihren Unterhalt, zahlt weder für Haus noch
Land irgend welche Pacht, und der Mann erhält 13 Silber-
grofchen Taglohn, in der Erntezeit aber das Doppelte.
Auch Frauen und Kinder helfen arbeiten und erhalten
Lohn; das Piment- und Kaffeepflücken erfordert ohnehin
keine Mühe. Diefe Leute erübrigen etwas und sparen
auch ihr Geld sehr sorgsam.
Dem Reiseuden wurde erzählt, daß man mit den
Chinesen auf Jamaica schlecht gefahren sei; essen und
trinken wollten sie wohl auf der Plantage, aber arbeiten
nicht; freilich waren sie ans dem Abschaum der chinesischen
Städte aufgerafft worden und nicht zu vergleichen mit
chinesischen Landleuten. Die meisten starben, andere
gingen wieder fort und einige sind als Hau sirer und Krämer-
zurückgeblieben.
Was andere Einwanderer anlangte, so bezeichnet
man als Emancipado einen Neger, der aus Euba nach
Jamaica hinüber gekommen ist. Afrikaner sind
Schwarze, welche von englischen Kreuzern auf Sklaven-
schiffen weggenommen wurden; sie müssen drei Jahre lang
bei Pflanzern arbeiten; nach Ablauf dieser Zeit können sie
über sich selbst verfügen. Ostindische Kulis, die von
Haus aus au Feldarbeit gewöhnt sind, machen sich gut;
jene, die aus Städteu kamen, wollen oder können nicht die
ungewohnte Feldarbeit ertragen. Es ist ihnen nnverwehrt,
in ihr Heimatland zurückzukehren, und der Arbeitgeber hat
zu diesem Zweck eiue gewisse Summe zu hinterlegen; wenn
sie aus Jamaica bleiben, und viele thun das, dann erhalten
sie doch dieses Rückfahrtsgeld. Seit langer Zeit findet
aber keine Kulieinwanderung statt, und der Pflanzer muß
sehen, wie er mit den Negern zurecht kommt. Weder
Portugiesen uoch Kulis verstehen sich zu Zwischenheiraten
mit Negern.
Mein Ausflug in das Gebirge überzeugte mich von der
überfchwänglichen Fruchtbarkeit dieser Gegend.
Hier sahen die Hütten nicht ganz so verkommen aus und
die Schwarzen schienen von bessern: Schlage zu sein, als
jene im Unterlande. Nur wenige Männer arbeiten auf
Ein Ausflug in die
Plantagen, die meisten bestellen ihr eigenes Feld, das zum
Theil gepachtet, aber fast durchgängig freies Eigenthum
derselben ist. Ein Neger besaß sogar eine Zuckerrohrpresse
und ein Siedehalls. Aber das war eine Ausnahme.
Durchgängig begnügt sich der Neger damit, von dem
wenigen Zuckerrohr, das zn baueu er sich herbeigelassen hat,
den Saft auszupressen und denselben in einem gemietheten
oder geborgten Topfe 51t kochen. Diesen bringen dann
die Frauen nach der Stadt zu Markte, wo sie gesalzene
Fische, ein buntes Tuch, Kattun uud dergleichen für den
Erlös einkaufen. Syrnp haben die Schwarzen in Menge
und sie verbrauchen viel davon. Jener Neger, der eine
Zuckerpresse besitzt, ist, wie mein Begleiter betonte, eine
Ausnahme; dieser Mann arbeitet ordentlich und ist auch
ein recht guter Zimmermann. Uebrigens hat sast jeder
,,kleine Eigentümer" ein Pferd oder Maulthier. Mau
kann diese Leute an Sonntagen zn Dutzenden zur Kirche
reiten sehen. Man hat mir erzählt, daß sie am Black
River eine Versammlung hielteu, um der Regieruug ihre
große Roth und Armnth ans Herz zu legen nnd um
Unterstützung zu bitteu. Die Pferde aber, aufweichen
diese hilfsbedürftigen Schwarzen zur Versammlung geritten
kamen, hatten unter Brüdern einen Geldwerth von 3000
Pfund Sterling, sage mehr als 20,000 Thalern!
Ich ritt am Souutag Nachmittage durch eine Gegend,
in welcher viele kleine Eigeuthümer wohnen. Ich hörte
Singen und ritt zu den Leuten heran. Sie faßen etwa
30 an der Zahl, Männer und Frauen, am obern Ende einer
Bergschlucht in der Souue, streugteu ihre Lungen und
Kehlen sehr stark au und hielten ein Meeting zur Be-
förderuug der Eintracht. Ein solches veranstalten
sie zweimal in jeder Woche und dabei ist allemal ein In-
strnctor zugegen, welcher deu Gesaug leitet. Europäische
Maßstäbe darf man aber an denselben nicht legen. Mein
Begleiter äußerte: „Wenn doch diese Leute eben so eifrig
arbeiten als singen wollten! Da sehen Sie nur, in
welchen: Zustaud dieses Stück Weges sich hier befindet! Ein
Neger ist gemiethet worden, nm dasselbe auszubessern; aber
er hat noch keine Hand angelegt." Wir kamen dann an
eine schadhafte Einzäunung. Der Neger George hatte
hoch itnd theuer versprocheu, gegen guten Lohu natürlich,
dieselbe auszubesseru, aber auch er hatte kerne Hand gerührt.
Mein Begleiter gibt sich die größte Mühe, in seinem Garten
Ordnung zu halten, aber in einem Lande, wo Niemand sich
um Ordnung kümmert.
In diesen und anderen von mir besuchten Bezirken
kommt man bald dahin, den Erzählungen Glauben beizn-
messen, welche allgemein über die Ausartung und Ver-
schlechteruug der Negerjugend vernommen werden.
Das System, demgemäß man so viele „kleine Eigen-
thümer" hat, führt dahin, daß die Schwarzen sich weit und
breit zerstreueil und vereinzeln; sie bleiben fern von den
Mittelpunkten der Eivilisation, gleichviel wie gering die
letzteren hier zu Laude auch seiu mögen.
Das junge Volk bleibt ohne alle Erziehung, bekommt
nur sehr unvollkommene Begriffe von Religion und ist all
und jedem Zwange völlig entrückt. Hier, mitten im Ge-
birge, kaufen oder pachten die Neger ein kleines Stück
Land oder hocken (squatteu) ohne Weiteres aus anderer
Leute Grund und Boden; ein weißer Mensch weiß nicht
einmal, wo sie zu finden sind, oder ahnt nicht einmal etwas
von ihrem Dasein. Der Geistliche mag sich alle mögliche-
Miihc geben, aber sein Sprengel dehnt sich über viele
Meilen aus und er kann eine so zerstreute Heerde uicht
überwachen. Was wird dabei aus dem Schulbesuch? Und
Gebirge Jamaica's. "1
da,• wo Neger als Lehrer oder Prediger wirken, sind diese
selber oftmals Leute, die weder Erziehung noch Religion
haben. Es gibt unter den schwarzen Pastoren gewiß
manche brave Männer, aber diese werden am ersten znge-
stehen, daß uuerzogene und ungebildete Menschen, die sich
halb als Prediger, halb als Politiker benehmen und nur
Unheil anrichten, zu verwerfen seien. Man sagt so oft,
daß die Schwarzeu in diesen entfernteren Gegenden wieder
in die Barbarei zurückfallen, und darin mag eine Ueber-
treibnng liegen; so viel aber kann ich nach Aussage
genauer Beobachter wiederholen, daß es mit dem ganzen
Treiben der jüngern Generation sich arg verschlechtert,
und daß unter den Alten der Obeahismns und der
Meyalismus (d. h. die Schlaugeu- und Fetisch-
anbetnng) wieder zu Ehren kommen. (Dasselbe ist auf
Haiti der Fall. Rückfall in den Schlangenknltns zeugt aber
doch von Barbarei. —)
Wenn ich die geradezu erstaunliche Fruchtbarkeit des
Landes bedenke, die Leichtigkeit, mit der Jemand Grund-
befitzer werden kann, wie überall Nachfrage nach Arbeit
vorhanden ist, dann erscheint es klar, daß der Neger
der glücklichste Landmann in der Welt sein
könnte.
Ein draller, munterer Bnrsch von 19 Jahren, der
meinen Reisebeutel trug uud mir als Führer über einen
Paß in den Port Royal Bergen diente, erzählte mir
Mancherlei. Er hoffe, sagte er, binnen hier und zwei
Jahren eiu paar Acker Laudes zu kaufen und sie zu
bestellen, „wenn er einmal Lnst dazu habe". Seine
Begriffe über Wohlergehen und Glück des Menschen liefen
anf Folgendes hinaus: Ja nicht arbeiten, wenn das
irgend möglich ist. Da aber eine solche Glückseligkeit nicht
zu erreichen ist, so muß »mit nur arbeiten, wenn man
gerade einmal Lust dazu hat. — Ich glaube gern, daß die
Vorstellung dieses Negers vom höchsten Gute wohl auch
uuter anderem Klima ihre Freunde habe, und ich gestehe,
daß schon mein erst kurzer Aufenthalt unter tropischem
Himmel mich zur Nachsicht gegen diese Negerphilosophie
stimmt. Er erzählte, daß er früher von Morgens 6 bis
Abends 6 in Arbeit gestanden und dafür wöcheutlich
7 Schilling erhalten habe; er sei damals ein Knabe gewesen;
aber jetzt verstehe er es besser; er arbeite gelegentlich
auf einer Kaffeeplantage, aber viel lieber trage er Bnckra's
(d. h. eines Weißen) Reisegepäck, besorge Briefe, sei
Fremdenführer uud verrichte allerlei sonstige Aufträge.
Wenn er 21 Jahr alt sei, wolle er sich, wie gesagt, ein
paar Acker Landes kaufen; der Acre koste 4 bis 5 Pfd.
Sterling. Dann habe er ein ,,'tablishement", d. h. eine
Hütte nnd eine Frau dazu. — Ich erzählte ihm, daß viele
hunderte von Familien in England mit Frau und Kind von
Arbeitslöhnen leben müßten, die nicht beträchtlich höher
seien, als das, was er, der Negerbnrsch, spielend leicht ver-
diene, daß sie, was Alles in dem warmen Jamaiea über-
flüssig sei, davon auch Kleider, Deckeu und Kohlen beschaffen
müßten. Mein Neger begriff aber nicht, wie ein Bnckra
für geringen Lohn sich an irgend eine Stätte binde und
Tag für Tag arbeiten könne; er lächelte zu dem, was ich
ihm sagte, ungläubig und äußerte, er möge in England
nicht leben.
Wir befanden uns eben am Fuße der Liguaua-Ebeue,
die einst weit und breit mit Zuckerrohr bestellt war; jetzt
ist sie Busch geworden. Wir stiegen dann bergauf
durch romantische Thäler und Schluchten und hatten von
den Höhen eine Aussicht, die lieblicher nicht gedacht werden
kann. Uud wie balsamisch und erfrischend war die Luft!
62
Aus allen Erdtheilen.
Ans allen
Nähere Nachrichten über Baron von der Deckens Er-
mordung in Berdera. Man hat von einigen Seiten her sich
der leider ganz unbegründeten Hoffnung hingegeben, daß Herr
von der Decken uoch am Lebeu sei, und klammerte sich dabei an
allerlei Scheinvermuthungen. Es traf sich aber, daß schon
wenige Tage später der pariser „Moniteur" aus Sansibar ein
Schreiben des dortigen französischen Consuls brachte, das alle
Zweifel beseitigte. Dazu ist dann noch ein Bericht gekonnnen,
welchen der jetzt eben in London verweilende britische Consul,
Oberst Play fair, aus Sansibar erhalten hat. Derselbe wurde
in der Sitzung der londoner geographischen Gesellschaft am
12. März vorgelesen, und er bestätigt die Angaben Brinkmanns,
• welche wir (Globus IX, S. 384) 'mittheilten. Dieser neueste
Bericht lautet dahin, daß Herrn von der Deckens Dampfer auf
dem Dschubstrome, oberhalb der Stadt Berdera, am 26. Sep-
tember Schiffbruch litt. Am folgenden Tage begab sich jber
Baron mit Dr. Link in einem Boote nach Berdera zurück;
Lieutenant von Schickh blieb inzwischen in dem Lager unweit
vom Wrack. Am 1. Oktober kam eiue bewaffnete Bande So-
malis von Berdera her und griff das Lager an; dabei sielen
zwei Europäer. Herr vou Schickh sah, daß 'dasselbe uicht länger
zu halten war und verließ das Wrack, indem er in einem Boote
mit seinen noch übrigen Gefährten abfuhr. Er wollte nach
Sansibar und von dort Hülse für den Baron holen, der sich in
großer Gefahr befaud. Inzwischen war das Boot des Herrn
von der Decken gestohlen worden. Er hatte sich am 30. Sep-
tember vergebliche Mühe gegeben, wieder nach dem Wrack zu
gelangen; er mußte am 1.'Oftober nach Berdera zurückkehren,
jieß aber Dr. Link und einen Neger aus Sansibar zurück,
um weitere Erkundigungen einzuziehen. Während der Baron
eine Besprechung hatte, die zum Schein veranstaltet worden
war, lockte man verrätherischer Weise seine schwarzen Diener
fort und nahm ihnen ihre Feuergewehre weg. Als er nach
seiner Wohnnng zurückging, stürzte eine Anzahl Männer über ihn
her, sie banden ihm die Arme und führten ihn an den Strom.
Dort wurde er getödtet und seine Leiche ins Wasser geworfen.
Dr. Link kam am andern Tage von seinem Besuche bei dem
verlassenen Wrack zurück und' erlitt dasselbe Schicksal. Die
schwarzen Begleiter des Barons durften nnbelästigt nach Brava
sau der Küste) zurückkehren; dort lag eiu englisches Kriegsschiff,
das zu etwaigen Hilsfleistnngen bereit war.
Consul Playfair sprach die gewiß richtige Ansicht aus, daß
man schwerlich Genngthuung für diese Mordthat erhalten werde.
Ohne Zweifel stecke der Sultan von Berdera dahinter; aber
sowohl er, wie die mächtigen Häuptlinge im Innern könnten
von dem starken Arme europäischer Seemächte nicht erreicht
werden.
Mac Jntyre's Expedition znr Anfsnchnng Ludwig Leich-
Hardts gescheitert. Die Anfänge dieser Reise ließen sich, wie
die Leser des „Globns" wissen, vielversprechend an, und Alles
schien einen günstigen Fortgang zu nehmen. Die jüngsten Nach-
richten meldeten, daß Mac Jntyre an dem, während der letzt-
verflossenen fünf Jahre so viel genannten und ans allen neueren
Karten verzeichneten Coopers Creek angekommen sei.
Nun aber bringen Briefe aus Brisbane in Queensland,
vom Anfange des Januars 1866, eine sehr betrübende Nach-
rieht. Dr. Murray, welcher sich als Arzt der Erpedition an-
geschlossen hatte, kam nach Willnmbillah zurück nnd meldete
dort, daß die Reisegesellschaft sich aufgelöst habe. In der Ge-
gend am Coopers Creek herrschte eine so entsetzliche Dürre (der
Fluch, welcher auf dem größten Theil Australiens lastet), daß
Alle dem Verenden nahe waren; doch blieb Mac Jntyre mit
drei Gefährten, darunter einem Jndier, noch zurück. Von den
14 Kameelen waren 12 verschmachtet; auch sämmtliche Pferde,
40 an der Zahl, waren mngekommen.
Am 10. Januar kamen zwei andere Mitglieder der Expe-
dition in Dalby an, um nach Brisbane weiter zu gehen. Sie
berichteten !»iesen Verlust an Thieren; nach einem Briefe Mnr-
ray's an Dr. M. F. Müller in Melbourne wären die Kameele
noch am Leben, aber die Pferde nicht mehr.
Wir ersehen ans der zu Melbourne in Victoria erschei-
nenden „Germania" vom 18. Januar, daß der Frauenverein,
welcher dort bisher der Erpedition Vorschub geleistet hat, ent-
Erdthrilcn.
schlössen war, derselben auch jetzt hilfreich beizustehen uud ihr
die Mittel zu verschaffen, damit sie bei Eintritt der Regenzeit
das in so bedauerlicher Weise unterbrochene Unternehmen wieder
aufnehmen könne.
Du Chailln's westafrikanische Pygmäen. Wir haben
früher schon erwähnt, daß der Reisende auf seiner letzten, miß-
glückten Wanderung vom Fernand Vaz nach dem Innern, in
dem Gebirge zwischen 1 und 2 Grad südl. Br. eiu „Volk von
Pygmäen"' gefunden haben will. Als dagegen Zweifel erhoben
wurden, veröffentlichte er Folgendes:
„Ich betrachte diese kleinen Leute, die Obongo, gleichsam
als die Zigeuner jeuer Gegenden. Sie ziehen nämlich hin und
her uud haben ihr zeitweiliges Obdach unter Bäumen. Ihren
Lebensunterhalt erwerben sie dadurch, daß sie Thiere in Fallen
fangen; das Wild vertauschen sie dann in den Dörfern gegen
andere Nahrungsmittel; im Nothfalle stehlen sie auch. Die
Bewohner dieser Region sind höher gewachsen als jene an der
Küste; diese Obongo haben aber keine so dunkle Hautfarbe und
sehr kurzes Haar, das in Büschelu auf dem Kopfe wächst. Da-
durch unterscheiden sie sich von den ansässigen Leuten, welche
das Haar möglichst ausgethürmt tragen. Sie haben einen wil-
den, scheuen' Ausdruck des Auge's, welches aufgeschwollen
erscheint. Ich gab manchem Obongo Glasperlen, um ihn zu
veranlassen, nicht wegzulaufen; die ansässigen Bewohner führten
mich insgeheim zu diesen Leuteu, aber alle Männer machten
sich sofort ans dem Staube und nur eiu Knabe nebst einigen
Frauen blieb. Mein Besuch scheint sie mit Besorgniß erfüllt
zu haben, denn obwohl ich in dem nächstgelegenen Dorfe eine
Woche lang verweilte, ließen sie doch nichts wieder von sich
hören und sehen. Meine Messungen ergaben Folgendes an dem
einzigen Manne, dem ich beikommen konnte. Er hatte 4' 6"
englisch. Eine Frau hatte 5' l/4" und diese galt für sehr
groß, ich zweifle aber nicht, daß anch Männer diese Höhe errei-
chen. Von den übrigen Frauen hatte eine 4' 8"; 4' 7Y4";
4' 7", und die kleinste 4' y4". Weuu ich diese Frauengruppe
mit einem Gesam.mtblick betrachtete, kam es mir vor, als ob die
durchschnittliche Höhe 4' 5" bis 4' 6" betrage. Die kleinste
Frau hatte den dicksten Kopf, nämlich 1' 101/'" im Umfange;
der kleinste Kopf hatte 1' 9"."
Ein Volk, in welchem Individuen mehr als 5' hoch wer-
den, kann man, wenn anch die Mehrzahl diese Höhe nicht
erreicht, kaum als Pygmäen bezeichnen. Man könnte ja dann
diese Bezeichnung auch auf viele Eskimos anwenden.
Das Problem in Algerien.
Nachdem wir den S. 41 mitgetheilten Brief unsers Lauds-
maunes Gerhard Rohlss in die Druckerei gesandt hatten,
lasen wir die Erörterungen, welche in den ersten Tageu des
März im gesetzgebenden Körper zu Paris über diese
„brennende Frage" Algeriens stattfanden. Algerien ist seit nun
36 Jahren im Besitze der Franzosen. Herr 'v. Lanjuinais
erklärte, daß die Lage dieser „Dependenz" (und allerdings kann
von einer Colonie keine Rede sein) eine „ruinöse" sei
Durch die Briefe über Algerien, welche der Kaiser an den Mar-
schall Mac Mahon geschrieben, nachdem er eine flüchtige Reise
unternommen habe, seien die Ansiedler nicht etwa beruhigt
worden.
Aus den Debatten ergab sich, daß unter den Männern,
welche sich fpeciell mit den Angelegenheiten Algeriens beschäf-
tigen, zwei durchaus entgegengesetzte Ansichten Herr-
schen. Die eine findet Alles weise, was der Herrscher geäußert
hat; _ sie glaubt, oder stellt sich wenigstens, als ob sie'glaube
an die „P ersecti b i lität" der Araber, welche fähig seien, nach
dem europäischen Muster „civilisirt" zu werden, und daß sie
sich auch allmälig zun: Christenthum herbeilassen würden nicht
nur im eigentlichen Algerien, sondern auch iu der Wüste' Auch
seien wohl ihre Herzen nicht unbedingt verschlossen gegen die
Gefühle der Brüderlichkeit, als welche zu einer freiwilligen Ver-
schmelznng der Nassen und der Interessen führen werde (!).
Der Staatsminister äußerte seinerseits, er könne sich gar
nicht vorstellen, daß in unserm Zeitalter der „Civilisation und
Aus allen
des Fortschrittes", die Araber Algeriens, ob schon sie Moham-
medaner seien, nur ein einziges Gefühl, das des Hasses, hegen
sollten gegen eine Bevölkerung (die europäischen Ansiedler), welche
weniger kriegerisch aber weit eivilisirender sei, als eben jene
Araber.
Dieser ganzen Auffassung, welche sich um die Lehren einer
zweitauseudjährigen Geschichte und um die Ethnologie durchaus
nicht bekümmert, trat man von anderer Seite nachdrücklich ent-
gegen. Berryer meinte, es liege gar kein Grund zu der
Annahme vor, daß man die Araber europäisch um-
civilisiren und noch weniger sie zum Christenthum
bekehren könne. Die Erfahrung aller Zeiten spreche da-
gegen; die ganze Rassenanlage, Religion, Vorurtheile und selbst
die Interessen drängten dem Beobachter eine ganz andere Schluß-
folgernng auf als jene, zn welcher der Staatsminister gelangt
sei. Von Wichtigkeit für Frankreich werde es sein, mit den
Kabylen in das beste Einvernehmen zu gelangen. Diese (sie
sind bekanntlich berberischen Stammes) seien' intelligent und
arbeitsam, und in religiöser Hinsicht weniger fanatisch als
die Araber. Mit diesen letzteren werde man 'nichts anfangen
können, so lange sie Mohammedaner bleiben, und seinem Glau-
ben werde der Araber niemals entsagen; derselbe sei eng ver-
wachsen mit seinem freien Leben, seinem Hange zum Plündern
und mit dem Niedermetzeln seiner Feinde. Nie könne der
Araber zum Franzosen werden, nie sich französischen
Gesetzen unterwerfen, niemals die Interessen der Europäer zu
den seinigen machen. Er werde bleiben, was er stets gewesen,
ein unversöhnlicher Feind der Franzosen." Wohl ntag er, über-
legener Streitmacht gegenüber, eine Weile sich ruhig verhalten,
aber allemal wird er eine ihm günstig dünkende Gelegenheit
wahrnehmen, um sich zu erheben, nnd dann sagen: Was habe
ich zu fürchten? Mißlingt mein Unternehmen, dann weiche ich
in bte Wüste zurück, wo ich vollauf Schutz für mein Pferd und
für mich selber finde, und bleibe ich Sieger, so dränge ich die
Franzosen in die See.
Auf die europäischen Ansiedler scheint es einen schlimmen
Eindruck gemacht zu haben, daß Kaiser Napoleon von einem
„ewxirej »rsdö" gesprochen. Deshalb erklärte General Allard,
dieser Ausdruck sei lediglich als eine Redensart (uns formuie
de langage) zit betrachten. In Betreff der Auswanderung
äußerte der Staatsminister, man werde keine beträchtlichen
Summen zur Organisation derselben verwenden, dagegen für
das Wohlergehen der schon vorhandenen Ansiedler sorgen.
Diese sind, beiläufig bemerkt, sehr schlimm daran, weil die Alles
reglementirende, straffe Verwaltung ihnen jede freie Thätigkcit
und Beweglichkeit unmöglich macht. Dieses Bevormunden bis
in die allerkleinsten Dinge hinein ist auch Schuld, daß es mit
dem Anbau der Baumwolle uicht vorwärts geht,
Eiu neuer Senatsbeschluß ist von seltsamer Art. Die Be-
stimmungen desselben sind darauf berechnet, deu Scheiks eine
größere Gewalt in die Hände zn spielen. Die Eingebornen
sollen von nun an „Franzosen" sein, aber nicht „französische
Bürger"; sie werden „einverleibt", aber „nicht den französischen
Gesetzen unterworfen".
Alles in Allem genommen, ist die Lage Algeriens sehr
unbefriedigend. Diese 'Thatsache wurde auch von keiner Seite
her in Abrede gestellt; aber Niemand konnte sagen, wie man
den Uebelständen abhelfen könne. Seit länger als einemViertel-
jahrhuudert ist unablässig erperimentirt worden, und die Ver-
Hältnisse sind immer schlimmer geworden.
Die Prinz Edwards-Insel, im Süden des St. Lorenzo-
golfes, ist unter den britischen Eolonien Nordamerikas die
kleinste, hat aber au Volksmenge und Wohlstand verhältniß-
mäßig mehr und rascher zugenommen als manche andere. Im
Jahre 1842 hatte sie 47,034 Einwohner und 1865 zählte sie
deren mehr als 85,000; die Einnahmen stiegen von 13,745 ans
00,000 Pfd. St., statt 121 Schnlen sind deren mehr als 300
vorhanden; statt 644,824 Büschels Hafer sind 1865 mehr als
dritthalb Millionen geerntet worden.
Handelsverkehr über die nordamentanrichen Pralrien.
Dieser Karawanenhandel ist sehr bedeutend. _ 3™ $cchre 180o
gingen von der kleinen Stadt Atchinson un Staate Kansas
(welche in Bezug auf Ausrüstung der Karawanen wichtiger
geworden ist als ^ndependenee, welches früher vorzugsweise den
Ausgangspunkt für dieselben bildete) 2IV2 Millionen Pfund
assortirter Waaren über die Prairien. Die etwa 5000 Fracht-
wägen wnrden von mehr als 7000 Manlthieren und Pferden
und 28,000 Ochsen gezogen; die Zahl der Treiber K. betrug an
DOOO. Die Hälfte der Frachten war nach dem neuen goldreichen
Erdtheilen. öö
Staate Colorado bestimmt; das übrige vertheilte sich auf Utah
Montana, Nevada, Idaho, Neumerico, Nebraska und das West-
lichc Kansas. Das in diesem Geschäft angelegte Kapital überstieg
6 Millionen Dollars, nnd 27 Firmen waren bei dem Geschäfte
betheiligt. Dieses hat sich gegen 1861 versiebenfacht. Die
Ueberlandkutscheu, welche 1865 trt Atchinson ankamen und von
dort abgingen, beförderten mehr als 5000 Fahrgäste, 600 Centner
Expreßgüter nnd 2,400,000 Dollars Baargeld. So dringt reges
Leben in Gegenden ein, die noch vor 10 Jahren wüste Ein-
öden waren.
Amerikanische Archäologie. In Bezng ans diese macht sich
bis heute der Dilettantismus außerordentlich breit und durch
ihn sind viele geradezu widersinnige Ansichten in Umlauf gebracht
worden, die gleichsam als gangbare Münze umlaufen. Es ist
also sehr erfreulich, daß eiue Anzahl englischer und französischer
Gelehrten gemeinschaftlich den amerikanischen archäologischen
Studien specielle Forschungen widmen. Gleich in der ersten
Zusammenkunft der Gelehrten zeigte sich, wie nothwendig der-
gleichen erschien. Ein Herr Bnrke rückte mit der Ansicht her-
aus, daß eine uralte (!) europäische Civilisation wohl beträcht-
lichen Einfluß auf die Erbauung der gigantischen Mauern in
Peru gehabt habe, und ein Herr Mackenzie wies auf die
„mögliche Wahrscheinlichkeit" hin, daß die autochthonen Völker
Amerika's Einflüsse empfangen hätten aus — Awa (!!) uud
Polynesien, wo man in Bezug auf Gebräuche uud Götterver-
ehrung Manches finde, das an Amerika erinnere! Ein sehr
gründlicher Kenner, Bollaert, welcher einen großen Theil seines
langen Lebens in der „Neuen Welt" zugebracht und insbesondere
ethnologischen Studien obgelegen hat, erklärte entschieden, er sei
der ganz willkürlichen Theorie, welche die Men-
schen aus der alten Welt kommen läßt, durchaus ent-
gegen. Was die alten Peruaner geleistet haben, das schufen sie
aus sich selber heraus. „Ich habe jeue Denkmäler mit eigenen
Augen gesehen und muß durchaus in Abrede stellen, daß sie den
Charakter des Entlehnten tragen, daß sie Spuren des fremden
Einflusses ausweisen. Auch ist der Mensch der Neuen Welt
durchaus sui generis, er ist eine besondere Specks." Davon
sind wir unsrerseits auch überzeugt.
Thee- nnd Seidenbau in Japan.
Bekanntlich sind die Japaner unter allen Asiaten die eivi-
lisirtesten und uns Europäern in manchen Dingen überlegen.
Alle unsere Gärtnerkunst steht weiter hinter jener der Japaner
zurück, und in manchen Gewerben haben wir noch viel zu
lernen, bevor wir ihnen auch nur nahe kommen. Auch im
Ackerbau sind sie ausgezeichnet; das hat uns schon unser Lands-
mann, der alte Kämpfer, gesagt und alle Neueren geben die Be-
stätigung. Der Feldbau wurde im Reiche des Souueuaufgangs
laugst schon ralionell betrieben, als man in Europa noch in
bloßer Empirie steckte.
Theeban uud Seidenzucht sind für Japan voll großer Be-
dentnng. Man hat überall im Lande, auch auf herrenlosem
Boden, an allen Flüssen und Bächen Maulbeerbäume
gepflanzt, und der erste beste kann die Blätter nehmen. Man
pflanzte sie anch am Rande der bestellten Felder, welche dadurch
in eine Menge kleiner Vierecke zerfallen. Man kappt die Bäume,
damit sie recht buschig wachsen und die Blätter mit Bequem-
lichkeit gepflückt werden können. Fast jede Familie züchtet
Seideuwürmer, haspelt selber die Cocons ab und bringt
die Seide zn Markte. Dieser wird an bestimmten Tagen gehal-
ten und der kleine Prodneent weiß, daß er Abuehmer findet.
Die Seidenzncht uud das Abhaspelu wird von Frauen und
Kindern besorgt; der Manu behält seine ganze Zeit für andere
Arbeiten. Nach der Seidenernte sehlägt die Frau den Webstuhl
auf uud dann gehen aus manchen schlichten Hütten Gewebe her-
vor, so fein, schön und geschmackvoll, daß europäische Fabrikate
dagegen in Schatten treten.
Die „Nenyork Tribüne" hat in Kanagawa einen Corre-
spondenten, welcher über den gegenwärtigen Stand des Acker-
banes in Japan berichtet. Wir entlehnen demselben das Fol-
gende über den Theeban. Auch diesen besorgen zumeist die
Frauen und Kinder. Man Pflanzt den Strauch zur Einfriedi-
gung der Felder, oder iu laugeu Reihen oder auch so, daß er
Gebüsche bildet. Die Zwischenräume werden mit Getreide und
Feldfrüchten bestellt. Der Thecbau gewährt einer großen Anzahl
Menschen lohnende Beschäftigung.
Im Bezirk Udschi, der wegen seines ausgezeichnet feinen
Blattes berühmt ist, wird der Tag, an welchem die ersten jungen
Blätter gepflückt werden, feierlich begangen; an anderen Oert
64 Aus allen
lichkeiten, wo man Thee ausschließlich für den Kaiser bereitet,
gibt das Pflücken der Blätter gleichfalls Anlaß zn Feierlich-
fetten. Die Blätter müssen von jungen, noch nnentweihten
Mädchen gepflückt werden; diese ziehen, jede einzelne gleichsam
eine Maikönigin, in Prozession auf das Feld, barfuß, mit neuen
Kleidern angethan und neue Körbe tragend, in welche die
Blätter gethan werden. Voran gehen Spielleute und machen
Musik. In jedem Jahre, mitten im Sonnner, zieht ans der
großen Landstraße (Tokaido) von Miyako ans eine Prozession,
welche als Geschenk des Oberkaisers (des Mikado, welchen man
oft unrichtig als „geistlichen" Herrscher bezeichnet, während er
doch nur der altlegitime Monarch ist) eine Sendnng Thees an
den Tarknn (den faktischen Kaiser, der eigentlich eine Art Lehns-
träger des legitimen ist) bringt. Dieser Thee befindet sich in
einer ganz schlichten, unbemalten Holzkiste, die auf einer Trag-
bahre steht uud mit feinem Zeug überdeckt ist; auf diesem sieht
man das kaiserliche Wappen eingewirkt. So wird die Kiste
80 deutsche Meilen weit von Männern getragen; voran schreiten
hohe Beamte, und andere Würdenträger schließen beit Zug. Auf
der ganzen ^ Strecke darf die Tragbahre nicht den Erdboden
berühren, überhaupt nicht abgefetzt werden; eine Trägerabthei-
lnng legt sie auf die Schulter der andern, von welcher sie abge-
löst wird. In jedem Dorfe, durch welches der Zug kommt, ver-
kündet der Herold, daß die Kiste nahe, und die Leute knieen
nieder, wann sie vorüber kommt. Dieser japanische Kaiser-
thee, bei dessen Zubereitung alle nur denkbare Sorgfalt ange-
wandt wird, läßt an Wohlgeschmack und feinem Duft auch die
allerfeiusten chinesischen Sorten weit hinter sich.
Die Kurgane in den südrussischen Steppen.
Ueber diese künstlich aufgeworfenen Erdhügel, welche noch
immer in mancher Beziehung räthfelhaft erscheinen, haben wir
viele Schilderungen, sind jedoch über Zweck, Entstehung und
Gründer immer noch nicht im Klaren. Diese Knrgane 'findet
man, und zwar in verschiedenen Gestalten über eiue' sehr weite
Region verbreitet, vou den südrussischen Steppen an durch das
ganze südliche Sibirien hindurch bis in das Gebiet des Amur
hinein. Man unterscheidet Grabkurgane, Erdaufwürfe über
Gräbern, und einfache Kurgaue, welche letztere immer in
einer gewissen Verbindung zwischen den ihnen zunächst liegenden
stehen. Man meint nun, daß diese, keine Gräber enthaltenden
Kurgane in alten Zeiten errichtet worden seien, um als Weg-
weiser durch die flachen Steppen zu dienen; es ist wahrschein-
lich, daß sie keine religiöse Bedeutung hatten, trotz der Stein-
fignren („Baba's", d.h.Mütterchen), welche auf vielen derselben
gestanden haben („Globus" V, S. 217 f.).
Vor einiger Zeit hat Alexander Petzholdt (in seiner
„Reise im westlichen und südlichen Rußland", Leipzig bei Fries,
1864) den Kurganen besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Sie
tragen dazu bei, der Steppe ein eigenthümliches Gepräge zn
verleihen, und namentlich in den östlichen Theilen hält es schwer,
einen Standpunkt zu finden, von welchen: aus man nicht einen
oder mehre solcher Kurgane oder Mogils erblickte. Petzholdt
konnte nirgends bemerken, daß sie nach irgend einem bestimmten
Plan aufgeworfen wordeu wären; erfand vielmehr die größte
Unregelmäßigkeit in Bezug auf Größe und Vertheilnng
über die Steppe und selbst auf Gestalt. Es gibt kleine und
große; durchschnittlich sind sie 15 bis 20 Fuß hoch und haben
an ihrer Basis einen entsprechenden Umfang. Im Osten der
Steppe kommen sie häufiger vor als im Westen; bald stehen
mehre in kleineren Entfernungen von einander, bald treten sie
nur sehr vereinzelt auf; auch Doppelkurgane kommen vor,
aber nur selten; diese haben in der Mitte eine sattelförmige
Einsenkung. Bald stehen sie auf Höhen, bald in den Vertie-
fnngen.
Wir haben nicht den mindesten geschichtlichen Nachweis,
von welchem Volke diese Hügel herrühren, und bei keinem Volk
hat sich über die Erdaufwürfe irgend eine Tradition erhalten.
Anf der Spitze derselben hat man, wie schon angedeutet wurde,
aus Stein gehauene Bilder menschlicher Gestalten, meist von
übermenschlicher Größe und stets sehr plump angefertigt gefunden.
Nicht alle sind weibliche Figuren. Leider hat man diese Babas
sehr wenig geschont; man hat sie allerwärts vou den Knrganen
herabgestürzt, zum größten Theile fortgeschafft, ist anch' sonst
übel mit itytten umgegangen und heute kann man bei vielen
nur noch mit Mühe dle Umrisse der menschlichen Gestalt erken-
nen. Petzholdt sah hunderte von Kurganen, und kein einziger
Erdtheilen.
trug eine Baba. Manche sind nun in der Steppe aufgestellt
worden, damit das Vieh sich daran reibe, oder sie dienen als
Thürpfosten und Prellsteine; im Gouvernement Jekaterinoslaw
hat man mit ihnen die Landstraße eingefaßt oder sie liegen auch
zerschlagen anf der Steppe umher. Manche stehen anch noch
als eine Art von Zierrath in Gärten, und diese sind am besten
erhalten.
Hr. v. Haxthausen hat behauptet, sie seien aus einem
Steine gehauen, welcher an der Stelle, wo man sie finde, gar
nicht vorkomme, Petzholdt erklärt diese oft wiederholte Angabe für
durchaus falsch. „Wenigstens habe ich in den östlichen
Theilen der europäischen Steppe und überhaupt im Gebiete des
podolifchen Granitplateaus diese Steinbilder, so oft ich sie
genauer untersuchte, stets nur aus Granit oder Gnciß gehauen
gefunden, während sie im Bereiche der Kohlenformatiön aus
Kohleufandstein angefertigt waren; davon habe ich mich auf
das Bestimmteste überzeugt. Es wird sich wohl bei allen Babas
das gleiche Resultat herausstellen, daß nämlich das Material,
aus welchem sie gefertigt werden, das nächst anstehende
feste Gestein ist, und daß demnach alle jene Hypothesen,
welche zu ihrer Stütze und Durchführung eines weiten Herzu-
schaffend der Babas bedürfen, fallen müssen."
Falsch ist auch die Annahme, der zufolge das Erdreich, aus
welchem die Kurgaue aufgeschüttet worden seien, aus der Ferne
stamme. Petzholdt saud sehr häufig, daß der Knrgan von einer
breiten, rinnenartigen Vertiefung umgeben ist, aus welcher die
Erbauer wohl das zur Aufschüttung nöthige Erdreich genommen
haben. Diese Vertiefungen sind zwar flach, aber sehr breit.
Obdachlose Menschen in London. Ein Herr Thomas
Beggs hat viel Zeit und Mühe darauf verwandt, sich mit den
Verhältnissen der ärmsten Leute in London näher bekannt zn
machen und jüngst in einem öffentlichen Vortrage seine Ersah-
rangen mitgetheilt. Demgemäß ist der Panperismns in
London fehr bedenklich im Anwachsen. „Man kann sagen,
daß ungefähr 100,000 Menschen gar kein Obdach
haben." Ein großer Theil derselben besteht aber nicht aus
eingebornen Londonern. — Vor einiger Zeit bereiste ein Geist-
sicher der anglikanischen Kirche, Farrar, einige Grafschaften,
nm sich über den sittlichen Znstand des Volkes näher zu unter-
richten. Er saud, daß an 40,000 Menschen den Namen Gottes
nicht kannten, und er hat über seine Beobachtungen in der An-
thropologifchen Gesellschaft zu London einen Vortrag gehalten.
Solchen Verhältnissen gegenüber erscheint es eigenthümiich, daß
man in England jährlich etwa 10 Millionen Thaler auf aus-
wartige Missionen, z. B. auch zur Bekehrung der Juden,
der orientalischen Christen ^c. verwendet.
Tod durch Unglücksfälle. Der bekannte pariser Statistiker
Legoyt hat Tabellen zusammengestellt, aus denen sich ergibt,
in welchem Verhältnisse die Zahl der durch unglückliche Er-
eignisse hervorgerufenen Sterbefälle zu den Gesamintsterbefällen
steht. In England ist der Procentsatz am höchsten: 632 anf
eine Million; dann folgten Norwegen mit 673 und die Ver-
einigten Staaten von Nordamerika mit 575; Rußland
mit nur 201 nimmt die niedrigste Stelle ein. In England und
Nordamerika sind solche Todesfälle zumeist die Folge von Zer-
quetschen und Verbrühen, iu den übrigen Ländern von Ertrin-
ken. In den Sommermonaten ist das Verhältniß ungünstiger
als im Winter. In Frankreich hat sich die Ziffer gegen
1825 nm beinahe das Doppelte gesteigert.
Rübenzucker im deutschen Zollverein. Die Zuckerindustrie
nimmt mehr und mehr einen großartigen und durchaus gesunden
Aufschwung und die Zahl der Fabriken steigt. Im Jahre 1865,
in welchem 17 neue entstanden waren, stellte die Zuckererzeugung
sich auf 3,413,214 Centner, gegen 3,023,600 Centner in 1863.
Die Nnbenernte von 1865 hat nahe an 43 Millionen Centner
betragen. Vor zehn oder zwölf Jahren erklärten die Rohzucker-
importeure in unseren Seehäfen, daß diese Rübenzuckerindustrie
„unnatürlich, künstlich und verderblich" sei; sie ließen drucken,
daß bei einer Ausdehnung derselben Deutschland ganz unfehlbar
„einem gänzlichen Ruin verfallen müsse". Diese Prophezeiung
ist nicht eingetroffen; vielmehr exportirt der Zollverein nicht
nur sehr beträchtliche Quantitäten Rohzncker aus Rüben nach
Frankreich und England, sondern auch nach Bremen, von
wo aus dieser Gewerbzweig sehr lebhaft befehdet wurde.
Herausgegeben von Karl Audree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghaiisen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Ans MnmMmc's südafrikanischen Reisen.
i.
Livingstone's Leistungen und drei großen Expeditionen in Südafrika. — Seine Jugend. — Aufenthalt bei deu Bakuene. — Aben-
teuer mit einem Löwen. — Mission in Kolobeng — Regenmangel und Dürre.' — Hopojagden. — Die Kalahariwüste, ihr
Pflanzenwuchs und ihre Bewohner. — Häufiges Zusammentreffen mit Elephanten. — Reichthum des Thierlebens in Südafrika. —
Das Hippopotamus im Sambesi.
David Livingstone, dieser mnthige, unerschrockene A!an kann gegen manche Urtheile, die Livingstone über
Reisende, den das afrikanische Fieber mehr als vierzigmal Menschen und Dinge fällt, viele wohlbegründete Einwen-
heimgesucht hat, läßt sich nicht abschrecken. Er trat im düngen erheben, und sie sind ihm auch nicht erspart geblieben.
Hippopotamus im Sambesi. (Nach Livingstone.)
Sommer des vorigen Jahres seine dritte große Er-
pedition an, befand sich, wie wir seiner Zeit gemeldet
(laben, im Herbste zu Bombay in Ostindien, um die
nöthigen Vorbereitungen für seine neue Wanderung zu
treffen, und fuhr gegen Ende des Jahres von dort nach der
Ostküste von Afrika ab.
Globus X. Nr. 3.
Er hat manche Hoffnungen geäußert, die in Nebelbilder
zerflossen, wie z. B. seiu afrikanisches Baumwollen-
Paradies. Auch ist sein Benehme« nicht allezeit klug
gewesen; cs war nicht umsichtig gehandelt, daß er mit
jenen nichtswürdigen portugiesischen Mulatten, die im
östlichen Südafrika das schnöde Gewerbe des Sklaven-
9
66
Aus Livmgstone's südafrikanischen Reisen.
raubes und Sklavenhandels in großem Maßstabe treiben,
sich bitter verfeindete, denn es lag in ihrer Macht, ihm alle
möglichen Hindernisse in den Weg zu legen, und sie haben
es gethau. Nicht minder haben seine Vorschläge über
Gründung von Missionsstationen einen höchst beklagens-
werthen Ausgang gehabt und manchem Europäer das
Lebeu gekostet. Es war auch uicht vorsichtig gehandelt, daß
er sich mit den Waffen in die inneren Streitigkeiten der
schwarzen Völker einmischte; ohnehin konnte er wissen, daß
er dadurch au deu Zuständen jener Barbaren nichts ändern
würde, und er hätte sein eigenes Leben nicht auf das Spiel
setzen sollen.
Also der Mann hat auch seine schwachen Seiten. Aber
sie treten zurück hinter seine wahrhaft großartigen Leistnn-
gen, seine Aufopferungsfähigkeit, seine geradezu beispiellose
Zähigkeit und seinen unbezähmbaren Drang, die noch
wenig oder gar nicht bekannten Theile Afrika's im Süden
des Aequators zu erforschen und die Wissenschaft der Erd-
künde zu bereichern.
Was hat Livingstone bisher geleistet und
was ist der Zweck seiner gegenwärtigen Erpe-
dition?
Seit 1840 ist er in unermüdlicher Thätigkeit und nur
selteu hat er sich geringe Zwischenräume der Ruhe gegönnt.
Sechszehn Jahre, bis 1856, zog er in Südafrika umher;
durch ihn lernten wir das Land der Betschuanas und die
Kalahariwüste näher kennen; er entdeckte den Ngami-See,
zog 1853 an den obern Sambesi, erforschte damals, theilweise
wenigstens, das Stromgebiet seines obern Laufes, verweilte
unter den Makololos uud deu Makalakas, drang nach
Nordwesten hin in das große Land der Balondas, ging
über die Wasserscheide zwischen dem Indischen und dem
Atlantischen Ocean und gelangte glücklich nach San Paulo
de Loanda, der portugiesischen Hafenstadt in Angola, am
ZI. Mai 1854. Hier hatte er deu Atlantischen Ocean
erreicht; er war durch Regionen gekommen, die vor ihm
keines weißen Mannes Fuß betreten hatte; nur Ladislaus
Magyar ist durch einen Theil derselben gezogen.
Von Loanda aus brach er dann nach Osten auf, um
das Festland Südafrikas iu seiner ganzen Breite zu durch-
messen. Auch das war vor ihm keinem Europäer gelungen.
Auf dieser Reise gelangte er an die wunderbar großartigen
Wasserfälle des Sambesi, ging dann stromabwärts bis zu
den portugiesischen Niederlassungen Tete und Senna uud
erreichte, zwar oftmals vom Fieber heimgesucht uud dem
Grabe nahe, am Ende doch Qnilhnane am Indischen
Ocean, a,n 20. Mai 1856, und war in der Mitte Dezem-
bers nach langer Abwesenheit wieder in Europa.
Seiue Reiseschilderuugeu erregten allgemeine Aufmerk-
samkeit uud nahmen mit vollem Recht das Interesse der
Gelehrten und überhaupt der gebildete» Leute in Anspruch.
Sie bereicherten nicht nur iu vielseitiger Weise die Wisseu-
schast und enthüllten uns eine große Region, von welcher
zuerst Livingstone den Schleier hinweggezogen, sondern sie
spannten auch wie ein fesselnder Roman, denn jedes Kapitel
brachte Neues und oft Ueberraschendes. Gewiß bleiben
auch in jenen Regionen Afrika's noch manche Probleme zu
lösen, z. B. über deu Lauf der Flüsse im Innern; indeß
Livingstone hat Bahn gebrochen.
Er hätte in der That auf Lorbeeren ruhen können,
aber bald nachher entzog er sich der Muße, um seinem
Forschungsdrange zu genügen. Schon im Januar 1858
hatte er sich zu einer zweiten großen Erpedition ge-
rüstet, über welche erst vor ein paar Monaten in London
seine ausführliche Darstellung veröffentlicht worden ist.
Wir werden demnächst ans dieselbe eingehen uud hier nur
bemerken, daß die englische Regierung ihn schon damals
zum Eonsnl für die portugiesischen Besitzungen in Afrika
ernannte uud sein Unternehmen durch eine Geldsumme von
5000 Pfd. Sterling unterstützte. Livingstone wollte einen
hoch und gesund liegenden Platz ausfindig machen, um eine
europäische Niederlassung zu gründen, von welcher man
„Civilisation uud Christenthum" unter den Eingebornen
verbreiten könne. Dieser Plan ist gänzlich mißlungen.
Am 10. März 1858 segelte er von London ab. Wenige
Monate später folgten ihm, durch seine „Hoffnungen"
bewogen, etwa 80 Leute beiderlei Geschlechts, um für
Missionszwecke in Südostafrika zu wirken. Es ist ihnen
traurig genug ergangen, und nicht wenige derselben sind
vom Fieber hiuweggerafft worden.
In Bezug auf Länder- uud Völkerkunde ist aber auch
diese zweite Expedition sehr ergiebig gewesen. Der Rei-
sende erforschte diesmal die Region des untern Sambesi
näher; wir erfuhren durch ihn, daß dieser Strom den
Schirefluß aufnimmt, welcher seinerseits aus einem
großen Binnensee, dem Nyassa, abströmt. Dieser ist
der Marawi der alten portugiesischen Karten, nndLiving-
stone hat denselben theilweise befahren können.
Nun hat er seine dritte Reise angetreten und den
„Missionär abgestreift", d. h. er will sich nicht wieder mit
Experimenten zur Umwandlung urafrikanischer Zustände
befassen. Daran thut er sehr Wohl, denn seine früheren
Anstrengungen sind fruchtlos gewesen und haben viel Geld
und Menschenleben gekostet. Vielmehr tritt er nun in der
Gestalt auf, in welcher wir ihn am liebsten sehen, als
Geograph uud Entdeckungsreisender, um, so viel an ihm
liegt, eine große Lücke in Südostafrika auszufüllen. Es
kommt ihm darauf an, den nördlichen Theil des Nyassa-
Sees genau zu erforschen und dann zu ermitteln, wie es
sich mit der Orographie und Hydrographie zwischen diesem
Nordende des Nyassa und dem Südende des Tanganyika-
Sees verhält, welchen Burton, von Speke begleitet, 1859
entdeckte. Ueber den südlichen Theil desselben wissen wir
noch eben so wenig wie über den nördlichen, an dessen
Rand Speke in gewissenloser Weise seine, von ihm selbst
erdachten, fabelhaften „Mondgebirge" als Hufeisen ein-
zeichnete. Auch soll von der südostafrikanischen Küstenregion
der Theil zwischen den Mündungen des Sambesi und der
Insel Sansibar untersucht werden. Wünschen wir, daß
Livingstone glücklicher sein möge, als unsere Landsleute
Albert Roscher uud Karl von der Decken. Zu er-
forscheu ist uoch viel in jenen Regionen, und wenn der Leser
den Blick auf eine Karte von Südafrika wirft (z. B. jene
von E. G. Ravenstein, in Meyers Handatlas), dann
kann er nicht blos die früheren Reisen Livingstone's genau
verfolgen, sondern auch sehen, welche Lücken zwischen dem
20 uud 5" südlicher Breite noch auszufüllen sind.
A.
Wir geben hier, gleichsam als Einleitung und um von
vornherein den Mann zu kennzeichnen, einige Schilderungen
aus seiner ersten Reise.
David Livingstone ist ein Schotte, dem seine Groß-
mutter gaelische Lieder vorsang. Man schickte den zehn-
jährigen Knaben als Arbeiter in eine Spinnerei; für einen
Theil seines ersten Wochenlohnes kaufte er sich eine latei-
nische Grammatik, und als er 16 Jahre alt war, konnte er
Virgil und Horaz übersetzen, las auch mit Vorliebe Reise-
beschreibnngen, und dann kam der Fabrikarbeiter, denn das
war er immer noch, zu dem Entschlüsse, Missionär zu wer-
den und nach China zu gehen. Im 19. Jahre, nachdem
Aus Livingstone's südafrikanischen Reisen.
67
er sich auch mit'Geologie beschäftigt hatte, war er Baum-
Wollenspinner iu Glasgow. Dort hörte er in den Abend-
stunden Vorträge über griechische Sprache, über Mediciu
und Theologie, und trat einige Zeit nachher mit der lou-
doner Missionsgesellschaft in Verbindung. Er studirte
emsig weiter, wurde Doctor der Arzneikunde und wollte
sich eben nach China einschiffen, als 1839 die Engländer
den ersten Opiumkrieg vom Zaune brachen. Dadurch
erhielt seht Streben eine andere Richtung; er ging 1841)
nach Südafrika, um von der Missionsstation Kuruman
oder Lattaku nach Norden zu reisen und sich über die
Verhältnisse der dortigen Völkerschaften zu unterrichten.
In Begleitung eines andern Missionärs begab er sich iu
das Land der Bakueue, deren Häuptling Setschele im
Dorfe Schokuane verweilte. Drei deutsche Meilen von
dem letztern liegt oder lag das Dorf Litubaruba oder
Lepelole, wo Livingstone ein halbes Jahr lang, ohne
allen Verkehr mit irgend einem Europäer, verweilte, um
Sprache und Sitten der Leute, welche zu der großen söge-
nannten Betschuaua-Gruppe oder Familie der „Kaffern"
gehören, genau kennen zu lernen. Dann ging er weiter
nach Norden hin zu deu Bakaa und Bamanguato.
Er kam bis zum 22" südl. Br. und kehrte wieder nach
Kuruman zurück. Hier war, in Folge von Viehraub, eine
blutige Fehde zwischen deu Bakuene und den Barolongs
ausgebrochen, und an Gründung einer Mission unter solchen
Umständen nicht zu denken. Livingstone lernte aber auf
Ochsen zu reiten, worauf sich bekanntlich die Kaffernstämme
meisterhaft verstehen, und begab sich wieder nach Norden,
um eine Station in dem fruchtbaren Mabotsethale,
(25" 14' südl. Br., 26° 30' östl. L.) zu errichten.
Dort bestand er ein Abenteuer, das leicht einen sehr
schlimmen Verlauf hätte nehmen können. Man hat au der
Wahrheit der nachstehenden Einzelnheiten zweifeln wollen,
aber Livingstone hat dieselbe mehrfach ausdrücklich bekräf-
tigt, und wir finden gar keine Ursache, Zweifel in die Ver-
sicherung des ehrlichen Mannes zu setzen.
Die Bakatla im Dorfe Nabotsa, so erzählt er wörtlich,
wurden in sehr empfindlicher Weise von Löwen belästigt.
Nicht nur bei Nacht brachen die wilden Thiere ein, um
Kühe zu rauben, sondern auch am hellen lichten Tage
fielen sie über das Vieh her. Das Volk vermuthete nun
Herenkünste und meinte, ein benachbarter Stamm habe
durch Zauberei die Bakatla in die Gewalt der Löwen
gegeben. Die Leute waren zu feig, um sich selber der
lästigen Thiere zu entledigen. Nim weiß man, daß die
Löwen sich aus einer Gegend fortziehen, sobald einer aus
dem Truppe getödtet worden ist. Als nun wieder einmal
die Heerde überfallen worden war, zog ich mit meinen
Bakatla hinaus, und wir fanden die Löwen auf einem
kleinen, mit Bäumen bewachsenen Hügel. Sogleich schlössen
wir einen Kreis und gingen auf sie zu. Neben mir stand
ein eingeborner Schulmeister, der Mebalue hieß. Er gab
Feuer auf einen Löwen, der auf einem Steine saß. Die
Kugel schlug auf diesen letztern und der Löwe biß nach ihr,
etwa wie ein Hund nach einem Stück Holz oder einem
Steine beißt. Dann sprang er auf, brach durch den Kreis
und entkam.
Jetzt gewahrten wir aber noch zwei andere Löwen;
diese brachen gleichfalls durch, da wir nicht feuern mochten,
weil wir möglicherweise einen Menschen hätten treffen
^unen. Nun hätten allerdings nach Landesbrauch die
ocifcitla ihre Speere gebrauchen müssen; das thaten sie
aber nichts als wir dann unverrichteter Dinge nach dem
Dorfe zurückgehen wollten, sah ich wieder einen Löwen.
Er saß ans einem Felsen hinter einem kleinen Busche. Ich
zielte aus einer Entfernung von etwa 30 Schritt aus beiden
Läufen. Die Bakatla riefen, er sei getroffen, und sie
wollten hingehen. Ich sah, daß er seineu Schweif iu die
Höhe streckte und sprach: „Wartet ein wenig, bis ich wieder
geladen habe."
Während ich damit beschäftigt war, hörte ich einen
lauten Schrei und blickte zur Seite. Eben war der Löwe
im Begriff, auf mich einzuspringen. Ich stand auf einer
kleinen Anhöhe. Im Sprunge packte er meine Schulter
und wir sielen beide zur Erde nieder. Er brüllte mir ins
Ohr und schüttelte mich, wie der Terrierhund eine Ratte, und
ich wurde dadurch in einer Weise betäubt, wie etwa eine
Maus, welche von einer Katze gepackt worden ist. Es war
eine Art von Traumzustand, in welchem ich nichts von
Schreck oder Schmerz verspürte, obwohl ich recht gut
wußte, was mit mir vorging. Es mag mein Zustand ahn-
lich gewesen sein, wie jener eines chloroformirten Patienten;
er sieht die Operation, fühlt aber vom Messer nichts.
Dieser eigeuthümliche Zustand war nicht das Resultat
eines geistigen Prozesses; die Furcht war durch das Rütteln
und Schütteln beseitigt und mich schauderte nicht, als ich
die Bestie anblickte. Wahrscheinlich tritt ein solcher Zn-
stand bei allen Thieren ein, welche den Fleischfressern zur
Beute werden. Ich drehte mich um, weil der Löwe schwer
auf mich drückte; seine eine Tatze lag ans meinem Hinter-
köpf, und ich sah, wie sein Auge auf Mebalue gerichtet
war, der etwa 15 Schritt von uns entfernt stand und eben
anschlug. Aber sein Doppelgewehr versagte.
Nun ließ der Löwe mich fahren, um über jenen herzu-
fallen, dem er einen Biß ins Dickbein versetzte. Ein
anderer Mann, welchen ich einmal gerettet hatte, als er von
einem Büffel niedergerannt worden war, versuchte jetzt
den Löwen zu speeren, welcher an Mebalue hing. Das
wüthende Thier ließ nun den letztern los und packte jenen
Mann au der Schulter. Zum Glücke wirkten gerade in
diesem Augenblicke die Kugeln, und der Löwe sank todt zu
Bodeu.
Das Alles war eiu Werk nur weniger Augenblicke
gewesen. Am andern Tage machten die Bakatla eiu großes
Freudenfeuer über dem todteu Löwen, welchem sie auf
solche Weise den Zauber rauben wollten. Ihrer Aussage
zufolge war er der größte, welchen sie je gesehen hatten.
Er hatte mir einen Knochen zu Splitter zermalmt, und am
Oberarme zählte ich elf Wunden, die er mir mit seinen
Zähnen versetzte. Sie sahen aus, als wären sie mir durch
eine Kugel versetzt worden, eiterten stark und schmerzten
auch nach der Heilung periodisch. Ich trug bei jenem
Vorfall eine wollene Jacke, in welcher der Geifer von deu
Zähnen haften blieb, und mir drang nichts davon in Fleisch
und Blut. Ich kam mit einem zersplitterten Knochen da-
von, während meine Gefährten viele Schmerzen litten.
Der Mann, welchem der Löwe die Schulter zerrissen, zeigte
Mir, ein Jahr nachdem er das gefährliche Abenteuer über-
standen, feine Wunde, welche genau in demselben Monate
wieder aufgebrochen war!
Livingstone befreundete sich mehr und mehr mit den
Bakuene, deren Häuptling Setschele damals in Schokuane
wohnte. Sie waren sich der leidigen Thatsache, daß auch
diese Gegend Afrika's allmäliq immer mehr austrocknet,
sehr wohl bewußt. Wasser aber ist für ein Volk von Vieh-
züchtern eine Lebensfrage; sie suchen dasselbe durch Zauber
herbei zu ziehen, und Setschele galt auch für einen Regen-
doctor. Livingstone bekehrte ihn, soweit bei diesen Völkern
überhaupt von Bekehrung die Rede sein kann, zum Christen-
70 Aus Livmgstone's sü
thum, und der Häuptling erklärte, nachdem er die Taufe
empfangen, nichts sei ihm so schwer geworden, als sich von
dem Glauben an Regenzauber freizumachen. Zu jener
Zeit hielt die Dürre vier volle Jahre laug an. Zu Kolo-
beug, Livingstone's späterer Station, etwa 59 deutsche
Meilen nördlich von Kurnman (Lattakn), etwa unter
25° südl. Br. verschwand fast alles Wasser aus Fluß und
Brunnen. Nähnadeln, die man monatelang unter freiem
Himmel liegen ließ, rosteten nicht. Die Hitze stieg manch-
mal auf 134" Fahrenheit.
Auf Livingstone's Antrieb siedelten sich viele Bakuene
in Ko lob eng an, und er lehrte diese Afrikaner manche
nützliche Dinge, z. B. die Bewässerung der Felder und den
Bau eines viereckigen Hanses für den Häuptling. Er
hämmerte mit den Schmieden, war Maurer, Zimmermann,
Gärtner, Arzt und Prediger, während seine Frau Seife
kochte, Lichter zog und Kleider verfertigte.
Aber die Zeit der Trübsal war schwer. Binnen zwei
Jahren fielen zusammengenommen uoch uicht 10 Zoll
Regen, der Kolobeng trocknete völlig ans, die Fische starben
ab, und selbst die iu ganzen Schaaren herbeiziehenden
Hyänen waren nicht im Stande, die faulenden Massen
völlig zu verzehren; ein alter Aligator lag unter deu
Fischen aus dem trockenen Schlamm und starb vor Durst.
Bei solcher Roth ist es für die Bakuene gleichsam ein
Geschenk des Himmels, daß sich Büffel, Nashörner,
Zebras, Giraffen, Gnu's und eine Menge von Antilopen
an den Wasserlöchern versammeln, an welchen sie den
brennenden Durst zu stilleu vermögen. Dann bauen die
Menschen eine besondere Art von Fallen, um der Thiere
habhaft zu werden. Sie veranstalten Hopojagden.
Ein Hopo besteht aus zwei Zäunen, welche die Ge-
stalt einer römischen V bilden. Sie sind an den Winkeln
sehr stark und dick, lausen aber an der Spitze nicht etwa so
zusammen, daß sie schließen, sondern sie bilden einen
schmalen, etwa 50 Schritt langen Gang, an dessen Ende
sich eine, 5 bis 6 Ellen tiefe und 8 Ellen breite Grube
befindet. Vom Gange felbst her kann die Falle aber nicht
bemerkt werden, weil Baumstämme über dieselbe weit hin-
gelegt werden itub eine Art von Ueberhang bilden. Das
Ganze wird mit Binsen und Rohr überdeckt unb so gleicht
diese Fanggrube einer verborgenen Falle. Manchmal sind
diese Zäune eine halbe Wegstunde lang und liegen an ihren
äußeren Enden eben so weit auseinander. Vor diesen
letzteren bilden dann die Jäger einen Kreis von ein paar
Wegstunden Ausdehnung; sie schließen denselben allmälig
immer enger, so daß das Wild gleichsam in einen Kessel
getrieben wird und in den Hopo läuft, weil ihm kein anderer
Ausweg bleibt. Während es dorthin von außen her ver-
folgt wird, liegen Männer hinter dem spitz zulaufenden
Ende des Zaunes. Diese schlendern ihre Speere in die
Massen der eingeschüchterten Thiere hinein, welche einander
immer weiter vorwärts drängen und endlich in die Grube
fallen. „Es ist ein entsetzlicher Anblick, zu sehen, wie dort
Alles übereinander stürzt, und wie namentlich die hübschen
Antilopen getödtet werden. Vermittelst solcher Hopojagden
haben die Bakuene nicht selten im Lauf einer einzigen
Woche mehr als 60 Stück Hochwild erlegt. Die Beute
wird redlich vertheilt, und man bedenkt dabei eben sowohl
die Armen wie die Neichen."
Während der Dürre hatten Livingstone und seine
Familie manchmal keine andere Nahrung als Kleienbrot.
Setschele, der kraft seiner Häuptlingswürde das Anrecht auf
das Brustfleisch von jedem Thiere besaß, welches geschlachtet
wurde, schickte dem Missionär dann und wann einen An-
theil, aber zuweilen mußten doch Heuschrecken die Stelle
afrikanischen Reisen.
des Rindfleisches ersetzen. Diese Insekten sind, als Nah-
rungsmittel betrachtet, eine wahre Wohlthat für jene
Gegenden, und der Regenmacher wird hoch belobt, wenn er
sie herbeizaubert. Die Heuschrecke nimmt einen vegetabi-
tischen Geschmack von der Pflanze an, die ihr gerade zur
Nahrung dieut. Mau genießt sie gern mit Honig, und
geröstet, zu Mehl zerstampft und mit einer Zuthat von
Salz hält sie sich monatelang und schmeckt gut; man darf
sie aber nicht kochen, dann ist der Geschmack unangenehm.
Für Livingstone's Kinder war der Matlametlo, ein
großer Frosch, ein wahrer Leckerbissen; dieser Pyricephalns
adspersns erreicht eine Länge von 5 bis 6 Zoll, und gekocht
sieht er aus wie eiu Küchlein. Diesen Frosch empfiehlt
Livingstone den Franzosen, den Italienern dagegen zur
Reinigung ihrer von Schmutz starrenden Städte den
„Dreckfeger", einen großen Käfer, welcher in Menge vor-
Händen ist, überall die Unfauberkeiten wegschafft und diese
in die Erde vergräbt, nachdem er seine Eier hineingelegt hat.
Wir sagten schon, daß Südafrika ein ungemein reiches
Thierleben habe, uicht nur iu den Stromthälern und Wäl-
dern, sondern auch aus deu Ebenen, welche man gewöhn-
lich als Wüsten bezeichnet. Livingstone war darüber
namentlich in der Kalahariwüste erstaunt. Diese durch-
zog er, als er mit drei Landsleuten, Oswell, Vardon
und Murray sich aufmachte, um bis zum Ngami-See
vorzudringen, dessen Lage den Eingebornen wohl bekannt,
bis zu welchem aber vor 1849 noch keiu Europäer vorge-
drangen war.
Man bezeichnet den Landstrich, welcher vom Oranje-
fluß nach Norden hin bis zun: Ngami-See sich ausdehnt
(von 20" östlicher Länge nach Westen hin), als Kalahari-
wüste, weil derselbe ohne Flüsse und Brunnen ist. Aber
er hat doch feine, theilweise sogar recht üppige, Vegetation,
namentlich saftige Gräser, Kriech- und Knollenpflanzen,
beerentragende Reben und an manchen Stellen auch Ge-
sträuche und sogar Bäume. Auch ist er uicht unbewohnt;
neben den Buschmännern, den eigentlichen Urbewohnern,
leben Bakalahari, ausgewanderte Betschnanas, welche vor
langer Zeit iu dieser Eiuöde eiue Zuflucht gefunden haben.
Die ersteren streifen umher und halten, außer armseligen
Hunden, gar kein Vieh; sie leben von dem Wilde, welches
sie erjagen, und von Knollengewächsen und Beeren, die
von ihren Frauen eingesammelt werden. Die Bakalahari
dagegen haben sich die alte Neigung zur Viehzucht und zu
einigem Ackerbau ungeschwächt bewahrt, und sehr richtig
sagt Livingstone, indem er auf die große Verschiedenheit
zwischen Buschmännern und Bakalahari hinweist, welche
doch beide unter denselben Einflüssen leben: „Auch hier
haben wir einen Beweis, daß die Oertlichkeit, an welcher
Völker leben, zur Erklärung eines Rassenunterschiedes nicht
ausreicht."
Die Reise von Kolobeng, am Rande der Kalahari hin,
bis zum Ngami-See nahm die Zeit vom 1. Juni bis
1. August 1849 iu Anspruch. Während derselben wurde
es den Reisenden erst recht klar, von welcherVerdörrnng
jene ganze Region mehr und mehr heimgesucht wird.
Viele alte Brunnen sind ausgetrocknet; hin und wieder-
fand man Wasser in Sandsteinvertiefungen, und solche
„Saugeplätze", die nian als Serotlis bezeichnet, sind nicht
häufig. An den Thieren, welchen dort der Mensch begeg-
net, kann er abnehmen, wie weit etwa ein Wasserplatz eut-
serut sei. „Es ist eine Thatsache, daß die Elennantilope
monatelang ohne alles Wasser sich behelfen kann; dasselbe
ist der Fall mit dem sogenannten Ducker (Cephalopus mer-
Aus Livingstone's fit
gens), mit den Steinböcken ^Iragulus ruxöKtris), mit dem
sogenannten Gemsbock (Oryx capensis) und dem Stachel-
jchwein (Hystrix cristata). Diese alle können des Wassers
entbehren, weil sie Knollen fressen, welche Feuchtigkeit ent-
halten. Dagegen sieht man andere Thiere nur an solchen
Stellen, wo Wasser in der Nähe ist. Rhinoceros, Bussel,
Gnu, Giraffe, Zebra und die Pallahantilope entfernen sich
immer nur wenige Stunden von demselben.
Am südlichen Ufer des Ngami fanden die Reifenden
Elephanten in „erstaunlicher Menge". Sie kommen Nachts
zur Tränke, spritzen Wasser umher und schreien vor Wohl-
behagen. Den ihnen gelegten Fallen weichen sie vorsichtig
aus und gehen deshalb iu einer langen Reihe einer hinter
dem andern.
Livingstone erzählt eine Menge von Begegnungen, die
er mit Elephanten gehabt hat. Wir heben eine der-
selben heraus, welche am 13. Dezember 1855 am mittlem
Sambesi stattfand. In einem Thal mit üppigem Pflanzen-
wuchs hatte er eben drei Kugeln gegen einen Büffel abge-
feuert, als ihm und seinen Begleitern durch mehre Ele-
phauteu der Rückzug abgeschuitten wurde. Sie flüchteten
sich auf einen ziemlich steilen Felsen und schössen von dort
herab einen dieser Elephanten nieder. Am andern Morgen
kamen viele Neger herbei und es wurde ein leckeres Mahl
gehalten. Livingstone untersuchte eben die geognostische
Beschaffenheit einer Felsgruppe und sein Blick schweifte
über das reizende Thal hin. Da sah er in einiger Eut-
fernuug zwei Elephanten, — ein altes Weibchen, welches
mit seinen großen Ohren lebhafte Bewegungen machte,
während sein Junges sich vergnügt im Schlamme wälzte.
Er sah aber auch, daß beide Thiere von einer Anzahl
seiner Gefährten beschlichen wurden. Er stieg etwas höher
hinauf, um diese Jagd genauer betrachten zu köuueu.
Das Weibcheu ahnte die Nähe der Feinde nicht und
das Junge fing an, ruhig zu saugeu; es mochte etwa zwei
Jahre alt sein. Dann gingen beide an eine Stelle, wo
der Bach eine Art,von Kessel bildet; sie spielten im Wasser
und im Schlamme; das Kleine klappte mit seinen Ohren
und warf den Rüssel hin und her, während man der Mutter
ansah, daß sie vergnügt und guter Diuge war. Da fingen
plötzlich die Jäger zu pfeifen an und dann schrien sie die
Thiere laut an: „Wir kommen, um Dich zu tödteu; Du
und andere, Ihr sollt sterben. Die Götter haben es ge-
sagt!" :e.
Die solchergestalt aufgeschreckten Elephanten gingen
nuu aus dem Bache weg, während die Jäger nahe kamen
und die Verfolgung begannen. Das Junge lief voraus iu
gerader Linie, fand aber den Ausgang des Thales mit
Männern besetzt und kehrte deshalb zur Mutter zurück,
welche ihm als deckender Schild diente und ihm mehrmals
mit dem Rüssel auf den Rücken schlug, gleichsam um es
zu beruhigen. Dann und wann schaute sie sich uach deu
Feinden um, welche ununterbrochen schrien und nur noch
etwa 59 Schritte von ihr entfernt waren. Sie kamen
jedoch immer näher. Die Elephanten mußten nun den
Bach an einer Stelle durchwaten; diesen Umstand benutzten
die Jäger, bis auf 29 Schritte nahe zn kommen und ihre
Speere zu werfen. Bald war der große Elephant mit
denselben gleichsam bespickt, er blutete aus vielen Wunden
nud schien sich jetzt nicht mehr um das Junge zu beküm-
meru. Livingstone hatte seinen Leuten befohlen, das letztere
zu verschonen. Es lies so schnell als möglich, aber nicht
im Galopp, welchen der Elephant überhaupt nicht kennt.
Einige Jäger, denen jener Befehl nicht zugekommen war,
überholten das arme Thier und erlegten es. Die Alte
fing an, langsam zu gehen, drehte sich um, stöhnte einen
afrikanischen Reisen.
Wuthschrei hervor und griff nun die Jäger an, welche ihr
gewandt auswichen. Dreimal suchte sie einem Manne
beizukommen, der ein Stück hellfarbigen Tuches auf dem
Leibe hatte, erhielt dabei noch immer mehr Speerwürfe,
verlor eine Menge Blutes, fing dann zn wanken an, sank
in die Knie und verendete.
Der Elephant, welchen Livingstone selber ain Abend
vorher geschossen hatte, war ein gewaltig großes Männ-
chen; auch dieses Weibchen hatte seine völlige Entwicklung
erreicht. Der afrikanische Elephant ist bekanntlich
vom indischen verschieden; man sieht das gleich auf deu
ersten Blick, weil jener unvergleichlich größere Ohrlappen
hat; sie sind manchmal über zwei Ellen lang und über drei
Fuß breit, also um zwei Drittel beträchtlicher als jene des
indischen Elephanten. Schon den Völkern des Alterthums
ist dieser Unterschied aufgefallen.
Man hat gemeint, daß der afrikanische Elephant sich
nicht zähmen und nutzbar verwenden lasse; das ist aber
unrichtig. In dem Münzkabinete des verstorbenen Ad-
mirals Smyth sind zwei römische Medaillen vorhanden,
auf welchen wir afrikanische Elephanten sehen; die gewal-
tigen Ohrlappen lassen darüber keinen Zweifel. Zwei
ziehen einen Wagen und auf jedem sitzt ein Reiter. Man
sand die afrikanischen noch gelehriger als die indischen,
man lehrte sie z. B. auf einem gespannten Seile gehen.
Jene beiden Medaillen sind aus dem Jahre 197 nach
Christus; die eine ist von der älteru Faustina, die andere
von Septimius Severus. Die Neger haben es nicht
verstanden, den Elephanten zn zähmen und nutzbar zu
machen. —
Es gibt keinen Reisenden in Südafrika, der sich in
seinen Beschreibungen nicht ausführlich aufJagdgeschich-
teu eingelassen hätte. Jeder ist mehr oder weniger ein
Nimrod, nachdem er Stadt oder Dorf verlassen hat. Bald
stellt er Thieren nach, um sich Nahrung zu verschaffen,
bald fchießt er dergleichen, um Elfenbein zu erbeuten, bald
erlegt er Löwen nud Hyänen oder endlich er schießt, um
sich einen Zeitvertreib zn machen und in seinem Tagebuche
recht viele Nummern verzeichnen zn können.
Auch Livingstone war zugleich Forschungsreisender,
Missionär uud Nimrod. Als er auf seinem Zuge nach der
Ostküste, ziemlich in der Mitte des Festlandes, sich im
Stromthale desKasne befand, welcher etwa unter 16" südl.
Br. sich in den Sambesi ergießt, kam er in eine, zumeist
flache Waldregion. Nach Osten hin wurde der Horizont
von Bergen begrenzt, an denen sich lange Nebel- oder
Wolkenstreifen hinzogen. Am linken Ufer des Kafne fand
er ein so überschwänglich reiches Thierleben, daß selbst er,
welcher doch Südafrika so genau kannte, darüber in Er-
staunen gerieth. In den Lichtungen zählte er hunderte
von Zebras und Büffeln und eine Menge von Elephanten,
und er bedauerte, daß solch ein Bild sich nicht photogra-
phiren lassen kann. Denn sobald Männer mit Feuer-
gewehreu bis in jene Gegenden dringen, ist es vorbei mit
diesem Jagdparadiese.
Alle jene Thiere sind durchaus nicht schüchtern. Als
der Reisende mit seinem Makololo - Gefolge näher kam,
blieben die Elephanten ruhig stehen und ließen die Männer
bis auf hundert Schritt heran kommen; die mächtigen
Eber (Potamochoerus}, deren Zahl „ungeheuer" ist,
staunten, als sie die Lente sahen und blieben ruhig. „Ge-
radezu wunderbar ist die Menge der Thiere auf jenen
Ebenen; es war mir, als fände ich mich in die Zeiten ver-
fetzt, in welchen das Megatherium ungestört iu den Ur-
Wäldern weidete. Als wir durch ein Dickicht zogen, wnr-
den wir von Büffeln angegriffen. Einer meiner Leute
Livingstone's Begleiter werden von Büffeln angegriffen. (Nach Livingstone.)
74 Das Tepi, die Nmformm
wurde reichlich dreißig Schritte weit auf den Hörnern eines
gewaltigen Bullen fortgeschleppt und dann erst in die Luft
geschleudert. Er kam mit einigen Quetschungen davon!
Am andern Morgen erlegten unsere Jäger nicht weniger
als sechs junge Büffel aus einer unzähligen Heerde, uud
unzählig war auch die Menge der Antilopen."
Unter solchen Umständen begreift man, daß die Löwen
und Hyänen gute Tage haben. Von den Menschen werden
diese Nanbthiere gar uicht behelligt; ohnehin glauben ja
die Eiugebornen, daß die Seele ihrer verstorbenen Hänpt-
linge in denselben wohne; ja sie wähnen auch, ein Hänpt-
liug, falls er Lust habe einen andern Menschen zu tödten,
könne sich iu einen Löwen verwandeln und nachher wieder
feiue frühere Gestalt annehmen. Deshalb klatschen sie,
sobald ein Löwe sich blicken läßt, in die Hände. Das ist
nämlich ihr Zeichen des Grußes. Naubthiere sind in sol-
cher Menge vorhanden, daß Wanderer Nachts auf Bäume
klettern müssen, weil sie sonst unfehlbar zerrissen würden.
Dann und wann sind auch im Walde kleine Znflnchts-
Hütten vorhanden, welche nothdürftigen Schutz gewähren.
Wir müssen zum Schlüsse noch eines Thieres erwäh-
nen, das für Afrika charakteristisch ist; wir meinen das so
weit verbreitete Hippopotamns. Livingstone fand das-
selbe auch am oberu Sambesi in wahrhaft überraschender
der Sprache, auf Tahiti.
Menge, namentlich auch zwischen Katima-Motelo und
Nameto, auf der Strecke, wo der Fluß viele Stromschnellen
bildet. In dein tiefen Wasser unterhalb derselben hält
sich das Hippopotamns vorzugsweise gern auf. Ueberall
am Ufer sieht mau die tief eingetretenen Pfade, auf welchen
das Thier bei Nacht ans Land geht, um zu weiden. Es
findet seinen Weg vermittelst des scharfen Geruches, dieser
aber läßt es im Stiche, wenn starker Regen gefallen ist;
dann wird es unsicher, findet den Rückweg zum Wasser,
in welchem es sicher ist, nicht leicht, und'daranf rechnen die
Jäger.
Am Tage halten sich die „Flußpferde" fast immer in
ruhigem Wasser auf, weil sie dann schlafen können, was
bei heftiger Strömung nicht anginge. Das Junge sitzt,
so lauge es noch klein ist, oft auf dem Rücken der Mutter,
welche des Athemholens wegen oft über den Wasserspiegel
hervortaucht. Viel Intelligenz hat das Hippopotamns
nicht, weiß aber wohl, wo und wann ihm Gefahr droht.
Am oberu Sambesi, wo mau ihm nicht viel nachstellt,
kommt es mitten im Strome mit Rücken und Brust aus
die Oberfläche; weiter nach Norden hin, iu Louda, wo die
Neger eifrige Jäger sind, verbirgt es sich unter Wasser-
pflanzen, streckt nur seine Naslöcher hervor und zieht den
Athem gauz leise eiu.
Das Tcpi) die Amformun
Wir finden iu einer der neuesten Nummern des „Le
Tour du Monde" folgende kurze Notiz:
„Seit Cooks Reisen sind ans der Sprache von
Tahiti von den Benennungen der zehn Zahlen
fünf verschwunden uud durch andere Wörter
ersetzt worden. So z. B. hieß zwei früher rna, jetzt
piti; ans rima, fünf, ist pae geworden. Wir haben
hier ein Beispiel mehr von der Raschheit, mit welcher
ungeschriebene Sprachen sich verändern und umbilden."
Die Sache selbst ist von hohem Interesse; es handelt
sich hier um die Umsormuug der Sprache. Mar Müller
hat den Gegenstand iu seinen mehrfach von uns erwähnten
„Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache" (Leipzig
1865) eingehend behandelt uud namentlich die Uniformung
auf Tahiti erörtert.
Die Bewohner, sagt er, haben außer ihren metapho-
rischen Ausdrücken noch eine andere, ihnen eigene Weise,
ihre Ehrfurcht vor ihrem Könige durch einen Gebrauch, den
sie Tepi nennen, auszudrücken. Sie enthalten sich uäm-
lich in der gewöhnlichen Sprache des Gebrauchs solcher
Wörter, welche den Namen des Königs oder eines seiner
nächsten Verwandten im Ganzen oder zum Theil in sich
enthalten, und erfinden neue Ausdrücke, welche an
die Stelle der verpönten treten. Da alle Eigen-
namen im Polynesischen bedeutungsvoll sind und ein
Häuptling gewöhnlich verschiedene führt, so wird man
einsehen, daß dieser Gebrauch eiue bedeutende
Umwandlung in der Sprache hervorbringen
muß. Zwar ist diese Wandlung nur eiue zeitweilige, da
man beim Tode des Königs oder des Häuptlings das neue
Wort wieder fallen läßt uud den ursprünglichen Ausdruck
wieder aufnimmt; aber es ist kaum anzunehmen, daß man
der Sprache, auf Tahiti.
sich nach einer oder zwei Generationen auf die alten Wörter
wieder besinnen und sie abermals an die ihnen gebührenden
Stellen setzen werde.
Jedenfalls ist es eine Thatsache, daß die Missionäre
durch Anwendung vieler der neuen Ausdrücke diefeu eiue
so feste und dauernde Stellung verschaffen, daß sie der
ceremoniellen Loyalität der Eiugebornen endlich Trotz
bieten. Vancoüver bemerkt, daß bei der Thronbesteigung
Otu's, welche in der Zeit zwischen seinem und Cooks
Besuche stattfand, nicht weniger als 49 oder 50
der gewöhnlichsten, im täglichen Verkehr vor-
kommenden Wörter vollständig verändert oder
vertauscht worden waren.
Es ist nicht nothweudig, daß alle die einfachen Wörter,
welche bei der Bildung eiues zusammengesetzten Wortes
mitwirken, ausgetauscht werden. Die Abänderung eines
einzigen wird für genügend gehalten. So hat man wäh-
rend der Regierung der Pomare, welches die Nacht,
po, des Hustens, mare, bedeutet, nur Po fallen laffcu
und statt dieses Wortes mi in Gebrauch genommen. Sc,
ist bei Ai-mata (Augenesser), den: Namen der jetzt
regierenden Königin, das ai, esfeu, in amu verwandelt,
aber mata, Auge, beibehalten worden. Bei Te arii na
vaha roa, d.h. der Häuptling mit dem großen
M nnde, ist nur roa mit m a o r o vertauscht worden. Es
ist eben so, wie wenn bei der Thronbesteigung der Königin
Victoria entweder das Wort Vietory im Ganzen ver-
boten worden wäre, oder nur ein Theil desselben, z. B.
tori; so daß es zu Hochverrath würde, während ihrer
Regierung von Tori es zu sprechen; das Wort müßte mit
einem andern vertauscht werden, etwa mit Liberal -Couser-
vative. Der Zweck jener Maßregel war offenbar der,
H. Meier: Der Maibaum in Ostfrieslcmd.
75
einen selbst nur zufälligen Gebrauch des Herrschernamens
im gewöhnlichen Gespräche zu verhüten , und dieser Zweck
ist dadurch erreicht worden, daß es sogar verboten ist, nur
einen Theil dieses Namens auszusprechen.
Aber diese Veränderung wirkt nicht nur auf die Wörter
selbst, fondern fogar auf Sylben von ähnlichem
Klang in anderen Wörtern ein. So wurde, da
einer der Könige Tn hieß, nicht nur dieses Wort, welches
stehen bedeutet, in tia umgewandelt, sondern im Worte
setu, Stern, wurde mit der letzten Sylbe, obgleich sie,
außer im Klauge, zu tu, steHeu, gar keine Verbindung
hat, dennoch dieselbe Umwandlung vorgenommen. Man
sagte statt setu nun setia; tui, schlagen, wurde zu
tiai, und tu pa pau, ein Leichnam, zu tia pa pau.
So ist, nachdem ha, vier, iu maha übergegangen war,
das Wort aha, gespalten, in amaha, und muriha,
der Name eines Monats, in Muri aha verwandelt
worden.
®s ist offenbar, daß, wenn die Regel nicht bestände,
nach welcher die alten Ausdrücke bei dem Tode der Person,
durch deren Namen sie verdrängt wurden, wieder aufleben,
die Sprache in wenigen Jahrhunderten vollständig umge-
staltet sein würde, wenn auch nicht in ihrer Grammatik, so
doch gewiß in ihrem Wörterbuche.
Man könnte nun sagen, daß dieses Tcpi eine blos zu-
fällige Erscheinung sei, aber in den Kafirsprachen
kommt eiue sehr ähnliche Eigentümlichkeit vor.
Der Geistliche I. W. Appleyard bemerkt in seinem
Werk über die Sprache der Kaffern: „Die Kafirweiber
haben viele ihnen eigentümliche Wörter, gemäß einem
Nationalgebrauch, der U k u h l o n i p a genannt wird.
Dieser verbietet ihnen irgend ein Wort aus-
zusprechen, das zufällig einen Klang enthält,
welcher dem iu deu Namen ihrer nächsten männ-
lichen Verwandten ähnelt. — In der Kafirsprache
finden wir deutliche Spuren, daß das, was ursprünglich
blos eiue Eigentümlichkeit weiblicher Sprechweise gewesen
sein mag, seinen Einfluß weiter ausbreitete. Denn auf die-
selbe Weise, wie die Weiber Wörter vermeiden, welche
eine den Namen ihrer nächsten bräunlichen Verwandten
ähnlich klingende Sylbe enthalten, hegen auch die
Mäuuer gewisser Kafirstämme eiue Abneigung
gegen den Gebrauch vou Wörtern, die im
Klauge dem Namen eines ihrer früheren
Häuptlinge gleichen. So gebrauchen die Am am-
balu deu allgemeinen Ausdruck für Sonne, ilanga,
darum nicht, weil ihr erster Häuptling Ulanga hieß; sie
sagen dafür ifota.
Der Maibaum
Von Hermann \
Upstalsboom! Bei diesem Namen schlägt noch heute
jedem Ostfriesen das Herz hoch und laut, denn er erinnert
an eine schöne Vergangenheit. Hier kamen in der Pfingst-
Woche eines jeden Jahres die Abgeordneten des ganzen
Landes zusammen, unter Gottes blauem Himmel, beschattet
von gewaltigen Eichen, um das Wohl des Vaterlandes zu
berathen. Die Ankommenden begrüßten sich mit echt
deutschem Handschlag und mit den Worten: Eala sria
Frese na (Willkommen freier Friese!). Dann ließen sie
sich im Schatten der ehrwürdigen Eichen auf die Rasen-
bänke nieder, einer der Priester trat in ihre Mitte und
sandte ein Gebet für des Vaterlandes Wohl zum Himmel
empor. Dann begannen sie Angesichts einer großen Zu-
Hörerschaar ihre Berathungen über Krieg und Frieden,
über öffentliche Wohlfahrt und innere Ruhe, sowie über
Streitigkeiten der Eingesessenen.
Wann die erste Versammlung bei Upstalsboom (un-
weit Altrich) abgehalten wurde, ist nicht bekannt, aber
schon 1237 werden sie von einem Abte uralt und greis
genannt. Die letzte Zusammenkunft fand dort 1327 statt.
Noch im Jahre 1600 war eine der gewaltigen (Sichert zu
sehen. Jetzt erhebt sich dort eilte ans Felssteinen ausgebaute
und weißcmgetünchte Pyramide, ein Denkmal für die bei
Waterloo gefallenen Söhne des Vaterlandes. —
Wenn dort bei Upstalsboom die ernsten Väter des
Landes tagten, dann pflanzte jede Gemeinde am Tage vor
Pfingsten sich ihren Mai bäum ans. Hoch über alle
Bäume und Gebäude des Orts erhob derselbe seiu kühnes
Haupt, um anzuzeigen, daß der Friese seine Freiheit über
Alles setze und ihm nichts höher gehe als dieses Kleinod.
n Dstsriesland.
leter in Emden.
Und um anzuzeigen, daß die Freiheit zum Glück und zur
Würde erhebe, das Menschliche im Menschen wecke und
fördere, streckte der Maibaum feine riesigen Arme nach
Osten und Westen aus und war nach beiden Seiten hin
mit Kronen und Kränzen reichlich geschmückt.
Ueberhanpt liebte es der Friese, feine so ängstlich
gehütete, so tapfer vertheidigte Freiheit unter dem Bilde
eines belaubten Baumes darzustellen, und feine Ehrfurcht
Vorderselben, sowie seine stete Bereitwilligkeit, sie gegen
jeden Angriff bis zum letzten Blutstropfen zu vertheidigen,
versinnlichte ein geharnischter Mann, der im Schatten
dieses Baumes mit entblößtem Schwert in der Rechten und
mit einem Spieß in der Surfen als Wache stand. Alle
Berathungen, der großen Körperschaften sowohl wie jene
der Gemeinden, wurden unter einem Baum abgehalten,
i)cnu im Schatten des Baumes fühlte sich der Friese im
Schatten seiner Freiheit.
Einst — so erzählt eine unserer wenigen Sagen, die
noch jetzt im Munde des Volkes fortleben — wurde der
Kaiser von den Türken hart bedrängt und rief deshalb
feine getreuen Friesen zur Hilfe herbei. Mit bedeutender
Macht eilten sie gegen den „Erbfeind der Christenheit".
Angesichts der Türken machten sie in einem Tauttenwäld-
chcit Halt und die Heerführer geboten, daß jeder Krieger
sich einen jungen Baum abhauen und denselben als Schutz-
Waffe gegen die feindlichen Pfeile vor sich her tragen solle.
So geschah es und die Friesen zogen in dichten Reihen dem
Feind entgegen. Der Schatten aber, welchen diese abge-
schlagencn Bäume warfen, erinnerte sie lebendig an ihre
Freiheit daheim, steigerte ihren Muth zur Begeisterung und
10*
76 H. Meier: Der Mc
ein furchtbares Kriegsgeschrei, das durch die Lüfte schallte,
machte ihrem vollen Busen Luft. Im feindlichen Lager
war man schon vom Heranrücken der furchtbaren Friesen
unterrichtet. Jetzt ging es wie ein Lauffeuer vou Gezelt
zu Gezelt. „Die Friesen sind da, und ihr gewaltiger Gott
geht in Gestalt eines grünenWaldes vor ihnen her!" Diese
Nachricht brachte Schrecken und Verwirrung unter das
feindliche Heer, bald lösten sich alle Bande der Ordnung
und Jeder suchte in wilder verzweifelter Flucht seine
Rettung. —
Kein Wunder, daß der Friese die Träger des grünen
Laubes doppelt liebte. So lange der Maibaum seine
schirmenden und segnenden Arme über einen Ort oder ein
Haus ausbreitete, war dort nur Frieden zu finden.
Jedes Schwert ruhte in der Scheide, aller Hader hatte ein
Ende, aller Zwist, auch der heftigste, war beigelegt und
durfte bei schwerer Ahndung nicht erneuert werden, so lange
das Palladium aufgerichtet dastand. Friedlich ging der
Feind neben dem Feinde einher und die Abgeordneten zum
Upstallsboom waren überall sicher, befanden sich überall
im Angesicht des Symbols ihres heiligsten Guts und wur-
den beständig an die hohe Ausgabe ihrer Sendung erinnert,
die ja keinen geringem Zweck hatte, als die Freiheit zu
erhalten und auszubreiten.
So war es, aber so ist es nicht mehr. Die Friesen
sind Hannoveraner geworden, die Eichen am Upstallsboom
sind verschwunden, und statt dort tagen jetzt die Deputirten
des Landes am 10. Mai eines jeden Jahres aus dem
Provinzial-Landtage zu Aurich.
Die alten Sitten und Gebräuche unserer Väter ver-
schwinden wie der Schnee vor der Lenzsonne; nur noch in
einigen Gegenden nnsres Landes, die auf langsamem Wege
von der Kultur beleckt werden, hat sich noch Dies und
Jenes aus längstentschwuudeneu Zeiten erhalten. In deni
„aufgeklärten" Krummhöre, einer hinter Emden liegenden
Landschaft, ist der Maibaum theils ganz verschwunden,
theils wird er nur uoch bei besonderen Gelegenheiten auf-
gerichtet. Wenn im Laufe des Jahres das Dorf einen
neuen Geistlichen oder Lehrer erhalten hat oder wenn ein
neuer Bauer ins Dorf gezogen ist, dann steht ganz bestimmt
an dem erstfolgenden Psingstmorgen ein geschmückter Mai-
bäum vor seiner Thür, und für solche Ehre muß er mit
einem oder einigen Geldstücken sich dankbar erzeigen; dieses
Geld wird dann vom „Jungvolk" gemeinschaftlich ver-
jubelt. Wenn Derartiges im Dorfe sich nicht begeben hat,
wird auch kein Maibaum aufgerichtet.
Hier ist alfo das Symbol der Freiheit bereits zum
Götzen des Egoismus Herabgefunken und hat seine eigent-
liche Stellung im Volksleben längst verloren.
Ein echtes Fest der jugendlichen Bevölkerung ist das
Aufpflanzen des Maibaums noch auf unsrer größten und
schönsten Nordseeinsel, auf dem Badeeiland Borkum.
Kaum ist am Abend vor dem Pfingstfeste die Sonne
in ihr kaltes Wittwerbett gestiegen, dann wird es ruhig-
laut. Die ganze unverheiratete männliche Bevölkerung,
soweit solche nicht mehr die Kinderschuhe trägt, beeifert sich,
nach Kräften beim Aufrichten und Schmücken des Mai-
baums behülflich zu fein. Das Holz dazu nimmt man
weg, wo man es findet, und Mancher, der noch am Abend
Balken und Latten vor seiner Thür liegen hatte, kann diese
am andern Morgen hoch oben am Maibaum prangen sehen.
Das nimmt indessen Niemand übel, denn so hat mans ja
immer getrieben, und wenn man auch die Planken und
Latten von den Garteneinfnedigungen losreißt und in die
Lüfte schickt, so erzeugt es doch kein einziges faures Gesicht,
da man ja bestimmt weiß, daß kein Stück des Eigenthums
>aum in Osifriesland.
verloren geht, sondern am Tage nach dein Feste getreulich
zurückgeliefert wird.
Das Aufrichten des Maibaums ist also hier Sache der
erwachsenen Jugend, Kinder Werden nicht dabei geduldet,
ihnen gehört erst der Baum, wenn er ganz fertig dasteht.
Darum ist denn auch am Psingstmorgen Alles auf den
Beinen, denn Jeder ist neugierig das Werk der Nacht zu
schauen, zu mustern und zu bewundern.
Der Maibaum steht hier immer auf demselben Platz
in der Mitte des Dorfs, ist mit Blumen und frischem
Grün geschmückt und trägt oben einen mächtigen Flieder-
strauch. Während der Feiertage umtanzt die heitere
Kinderschaar den Baum und singt dabei einige Strophen,
die aber so verballhornisirt sind, daß weder Sinn noch
Verstand darin zu sein scheint. In der Nacht zwischen
dem Pfingstmontage und dem Dinstage wird der Baum
wieder abgebrochen und alsdann jedes geliehene Stück
getreulich zurückgeliefert. Das Erbauen und Abbrechen
geht mit manchem Vergnügen gepaart; die erwachsene
und heranwachsende Jugend sehnt sich deshalb schon lange
vorher nach dem Maibaum.
J,u Sinne der Väter findet die Feier des Maibaums
nur noch im Harlingerland, dem nordöstlichsten Theil
Ostfrieslands, statt. Dort baut vor den Pfingsttagen nicht
nur jede Gemeinde, sondern fast jedes einzelne GeHöst
einen Maibaum. In diesen Tagen wäre es mehr als
bittere Armuth, keinen solchen Schmuck im Dorf, oder beim
Haufe zu haben. Auch hier errichtet man denselben vor
dem ersten Feiertage und schmückt ihn mit Blumen und
jungem Grün. Während die Jünglinge den Baum zim-
mern und binden, machen die Jungfrauen Kränze und
Gewinde in großer Zahl. Eine solche Nacht ist für die
Betheiligten schön, wie fast keine zweite, und wenn auch
der „liebe" Branntwein eine dabei keineswegs untergeord-
nete Nolle spielt, so gibt es doch auch edlere Vergnügungen,
und Mann und Frau erinnern sich noch lange der unschul-
digeu Freuden, die sie als Bräutigam und Braut all-
jährlich beim Bauen und Schmücken des Maibaums ae-
uossen.
Sobald derselbe aufgestellt und nach allen Seiten wohl
befestigt ist, wird er bewacht, und diese Wache bleibt da, bis
er wiederum abgetragen wird. Denn mit den benachbarten
Söhnen und Knechten ist kein sichrer Bund zu flechten und
das Unglück schreitet schnell. Denn das gehört zu den
größten Freuden, aus der Nachbarschaft erneu Maibaum
zu rauben und denselben als Siegestrophäe neben den
ihrigen hinzustellen. Stundenlang liegen sie oft, Wege-
lagerern gleich, auf der Lauer, um iu einem unbewachten
Augenblicke, wenn die Hüter vielleicht beim Glase sitzen
oder eingenickt sind oder am Fenster ihres Mädchens ihre
Pflicht vergessen, die befestigenden Taue abzuschneiden, den
Maibaum auszugraben und ihn dann im Galopp mit
lautem Hurrah ins eigene Dorf zu bringen. Werden sie
aber vor vollbrachter Arbeit von den zurückkehrenden oder
erwachten Wächtern überrascht, dann entsteht ein wüthender
Kampf, es gilt ja die Ehre des Dorfes. Manches blaue
Auge, zuweilen auch nicht unbedeutende Wunden werden
aus dem Kampfe mit heimgenommeu, und meistens müssen
alsdann die Stürmenden ihr Heil in wilder Flucht suchen,
verhöhnt und beschimpft von den Bewohnern des Dorfs.
Gelingt aber der Raub, so ist des Jubels au der einen, des
Aergers an der andern Seite kein Ende, denn mit dem
Maibaum hat das Dors seine Ehre, sein Palladium ver-
loreu und ist dein Hohn und Schimpf der ganzen Umgegend
anheimgefallen. Darum singt man auch beim Aufstellen
M. Rosen: In dm ri
des Baums und indem die liebe Jugend denselben später
umtanzt:
Maiboom, Maiboom, hol di fast,
Morgen koomt de frömmde Gast,
De willt uns de Biaiboom nehme».
Dann mößt wi uns doch wat schäme».
An: nächstfolgenden Sonntag wird der geraubte Baum,
welcher bis dahin aufs Schärfste bewacht wurde, da die
ursprünglichen Eigentümer weder List noch Gewalt scheuen,
wieder in Besitz desselben zu gelangen, in Begleitung der
ganzen männlichen Bevölkerung seinen Eigentümern zu-
rückgebracht, wofür diese jene in gebührender Weise „trak-
tiren". Die ganze Umgegend ist alsdann auf den Beinen,
uni der Auslieferung des Gefangenen beizuwohnen und an
dem damit verbundenen Gelage Theil zu nehmen.
fischen Ostseeprovinzen. 77
Wie sehr man sich vor der Schande und dem Hohn
fürchtet, sich seinen Maibaum wegholen zu lassen, zeigt fol-
gendes Beispiel recht deutlich. Ein in einem isolirt stehen-
den Hause wohnender Bauer hatte mit seinen beiden
erwachsenen Söhnen sich ebenfalls einen Maibaum vor der
Hansthüre ausgepflanzt. Da man aber von gewisser Seite
aus Neckerei gedroht hatte, den Baum wegholen zu wollen,
leitete der Bauer die denselben befestigenden Taue durch
Löcher im Dache und in der Mauer in die Wohnstube, da-
mit man sofort ein Attentat bemerken könne; die Söhne
aber hielten mit geladenem Gewehre Wache und wurden
dabei von einem in der Umgegend sehr gefürchteten riesigen
Hunde unterstützt. Und doch wurden alle vom Schlafe
übermannt und der Maibaum stand am nächsten Morgen
in einem naheliegenden Dorfe auf dem Kreuzwege.
In den russischen D st s e c p r o v i n z e n.
Von Memel nach Riga und Dorpat.
Von Max Rosen.
I.
Die einförmige Landschaft in Kurland. — Ades, Edelhof?, Städte. — Die Bauern und ihre Hütten.
Lebensweise des Landvolkes. — Mitau und die kurländische Gesellschaft.
Letten und Lithaucr. —
Ich begab mich von Memel aus nach Rußland. Unter
dem lustigen Geklingel der Halsglocken rannten nebenein-
ander gespannt drei russische Pserde mit meinem leichten
Wägelchen in das kurische Flachlaud hinein. Nun sollte
man, die Karte des Landes überschauend, wohl glauben,
die weiten Seen, Bäche uud Flüßchen müß-
ten diesen: Landstriche eine angenehme Ab- ...
wechselung gewähren; aber nein! die Natur
ist zu einförmig. Von Haide zu Haide,
von Wald in den Wald geht der Blick,
und die dazwischenliegenden Felder bieten
zu wenig Abwechselung. Auch macht die
Eintönigkeit der Färbung und der Mangel
an Schattirung in jeder Landschaft das
Land uninteressant. Den Hauptton bildet
das Schwarzgrün der Tannenwaldung, als
Mitteltinte dient das Lichtgrün der Birken
und Felder, als Lasirung das Violet der
Haide. Auch nur zwei EoNturliuien sind
vorhanden: die gerade der Feld - und Haide-
fläche uud die leichtgekrümmte des Wald-
hintergrundes. Wo sich aber je eiue Fläche
zum Becken einsenkt, steht ein zusammen-
gelaufenes Wasser, dessen Wellen langsam rings im Sande
oder Grase verfließen, oft breit und lang, immer aber
melancholisch, wie ein grauer Herbsttag. Das sind Kur-
lands Seeu. Und wenn des Wassers zu viel wird, sucht
solch ein See sich irgendwo einen Ausweg, entweder zur
Ostsee hin, oder nach der Minge, der Aa oder Windau.
Das sind Kurlands Flüßcheu. Zwar tragt jedes von
Seen, Flüßcheu und Bäche sind zwar äußerst fischreich, aber
solch unsichtbarer Reichthum ist nur nützlich, schön nicht.
Die hübschesteu Gegenden bieten noch die Uferlande der
Düna, der Aa und besonders derMinge. Wirklich reizend,
mit Hügeln, Thälern und Laubgehölze ausgestattet, sind die
Umgebungen der kleineren Städte;
wenn nur diese selbst nicht so abscheulich
aussähen! Meistens bestehen sie aus
kleinen, hölzernen, einstöckigen Häusern,
welche sich um einen unbedeutenden Kirch-
thurm winden, und durch die schmutzigen,
nngepflasterten Straßen schleicht das Elend
in Gestalt der Juden oder der Jammer im
Gewände zerlumpter L i th au er, Letteu
uud Russen. Selten sieht man eilten
freien frischen Menschen auf der Straße.
Manchmal aber saust die übermüthige
Troika (ein Dreigespann) eines kurischen
Edelmannes an den niedrigen Häusern
vorbei, und deunithig verneigt sich die gauze
Einwohnerschaft vor solch einem aristokra-
tischen Gesicht; sehr natürlich, da die Mehr-
zahl der Stadthäuser Eigenthum der aus
dieseu Punkt zusammenstoßendenLandgüter des Edelmannes
ist, so daß eigentlich keine unabhängige Bürgerschaft existirt.
Außerdem dienen sie den im weitern Binnenlande nicht ge-
duldeten Inden zur Zufluchtsstätte. Nur die Seestädte
machen davon eine Ausnahme, zum Theil auch Mi tau. Das
Bürgerthum hat überhaupt in Kurland uie recht gedeihen
M ,.... ^........u. A_____ . wollen; dazu war der Adel stets zu mächtig; er ist noch
ihnen einen bestimmten Namen, aber die Kurländer nennen heute neben der Krone Herr aller liegenden Gründe; über
die namenlosen wie die benannten „eine Bäche". Diese Zweidrittel des Landes gehören ihm. Dennoch zeigen seine
Jude in Kurland.
(Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
M. Rosen: In den russischen Ostseeprovinzen.
Wohnungen äußerlich fast nirgends die alte Feudalpracht,
wie wir sie im Westen Enropa's zu sehen gewohnt sind
und noch mehr gewohnt waren. Ge-
wohnlich liegen die Edelhöfe in-
mitten des zu ihnen gehörigen Gebietes,
mehr oder weniger frei, fast immer auf
lichter Fläche. Meistens ist das Wohn-
Hans ein langes, einstöckiges Gebäude
aus Holz, oft mit einem Frontispiz
versehen und mit Dachziegeln gedeckt.
Seine Hauptzierde bildet eine lauge
Zimmerreihe, deren Hälfte stets für
Gäste offen steht. Um das Herrenhaus
herum liegen die Wirtschaftsgebäude:
die Herberge, das Bauernmagazin, die
D a r r i g e, d. h. eine Scheuer zum
Trocknen des Getreides durch Feuer,
das Fahlland (Viehhof) und die
unvermeidliche Branntweinbrennerei.
Immer zeichnet ein Park oder Baum-
garten das Rittergut aus, und die
nächste Umgebung bilden die „Hofes-
feld er".
Erbärmlich aber fiud dieVaueru-
Wohnungen; sie bestehen aus Bal-
kenlagen von acht Fuß Höhe und haben
nur eine Wohnstube und ein geräumi-
ges Vorhaus. Die Hauptsache in der
Wohnstube ist ein ungeheuerer Ofen
aus Feldsteinen und Lehm gebaut, der
nicht nur die Stelle eines Heiz- und Backofens vertritt,
sondern auch als Küche und Getreidedörre dient. Schorn-
steine sind unbekannt; Fenster sel-
ten; gewöhnlich nur Wandlöcher
mit einem Schieber, die aufgezogen
werden müssen, sobald das Zim-
mer geheizt wird, bis der Rauch
Bauern auf der Winterwanderung.
(Nach einer Zeichnung von d'Henriet,)
seu
sich verzogen hat und der
selbst geöffnet werden kann. So
befinden sich nun die Einwohner
solcher Hütten mit den Füßen ans
dem kalten Estrichboden, der im
Winter überdies noch vom Vieh
verunreinigt wird, und mit dem
Kopfe nahe an der Stnbcndecke im
Rauch und in unerträglicher Hitze,
von Zugwind umgeben. Sobald
Thüre und Fenster verschlossen sind,
ändert sich die Seene. Der Ofen
strahlt feine Hitze aus, wird aber
gleichwohl rings von Ruhenden
und Schlafenden umgeben, die
noch dazu häufig in Schafpelze
gewickelt sind, fo daß alle sich in
einem förmlichen Schwitzbade be-
finden. Rechnet man hierzu noch
den Tabaksqualm der Männer und
den Dunst der flammenden Kien-
Holzspäne, so ist das Gemälde voll-
kommen. Wird es dem Bewohner
solcher Hütte zu unbehaglich, dann
lustwandelt er so lange im Hose
in Schnee und Eis, bis er hin-
länglich abgekühlt ist.
Die Bevölkerung Kurlands besteht ans Deutschen,
Letten und Lithanern; die beiden letzteren Volksstämme
Ein Bettler in Livland,
(Nach einer Zeichnung von d'Henriet,)
haben große Abneigung gegen einander; insbesondere ver-
achtet der Lette den Lithauer als schmutziger und ungesitteter.
Die Stammverschiedeuheit wird da-
durch noch gesteigert, daß die Lithaner
im Süden durch die Verbindung mit
Polen dem Katholicismus, die Letten
im Norden durch die deutsche Herrschaft
dem Lutherthum zufielen. Beide, Letten
und Lithaner, leben neben- und mit-
einander und haben entschieden densel-
ben Nationalcharakter, in der Haupt-
sache auch dieselben Sitten, Trachten
und häuslichen Einrichtungen; sie sind
Völker ohne welthistorische Energie.
Beiden ist es nicht gelungen, ihren
Nationaltypns irgend einer andern
Nation aufzudrücken; vielmehr haben
sie beide bei sich beständig die Herrschaft
fremder Eroberer geduldet und sogar
da, wo sie selbst als Sieger auftraten,
die Sitten der Fremden angenommen
und deren Herrschaft ertragen. Auch
während der Zeit der politischen Größe
des lithauischen Stammes, als viele
russische Volksstämme ihm huldigten,
nahmen die lithauischen Großen und ihr
Hof russische Sitten an, und während
der 'politischen Verbrüderung mit den
Polen ging polnisches Wesen auf den
Adel der Lithaner so sehr über, daß er
mit dein polnischen fast verschmolz.
Nichtsdestoweniger erhielten sich unter dieser nur leicht
aufgetragenen fremden Uebertün-
chung bei dem gemeinen Volke
die uralten Sitten in wunder-
barer Reinheit, so daß selbst die
christliche Religion das Heiden-
thuin nur oberflächlich beseitigte.
Auch hierin erinnern die Lithaner
und Letten an Indien, dessen Völ-
ker von jeher eben so nachgiebig
gegen fremde Eroberung waren
und fast beständig unter fremder
Herrschaft standen, dennoch aber
ihren alten Glauben und ihre
Sitten mit hartnäckiger Zähigkeit
Jahrtausende hindurch festhielten.
Da das Christenthum durchaus in
die Gemüther des Volkes nicht tief
eindrang, fo kann wohl noch heute
von einem religiösen Naturdienst
der Letten die Rede sein. Wir
verweisen in Hinsicht der poeti-
schen Darstellung derselben, so
wie überhaupt in Bezug auf let-
tische Dichtkunst auf Herder und
Hippel, welche größere Gamm-
lungen, und auf Platen und
Ehamiffo, welche einzelne Lieder
ans diesem Kreise mitgetheilt ha-
ben. Es wäre auf der einen Seite
eine große Verleumdung, wenn
man sich die alten Letten als im
völligen Fetischdienste versunken
dächte, wie es auf der andern Seite eine Übertriebeue
Schmeichelei wäre, wenn man behaupten wollte, daß die
M, Rosen: In dm russischen Ostseeprovinzm.
79
heutigen christlichen Letten einem lautern Ehristenthume Estheu, trotz der Dampfbäder, die sie täglich brauchen,
hnldigten. Die Badestube besteht aus einem kleinen Gemache, in
Der Anzug der Bauern besteht bei den Esthen und welchem sich ein Ofen ohne Schornstein und eine Anzahl
Lithanern in einem braunen, bei den Letten in einem grauen von Feldsteinen zur Erzeugung des Wasserdunstes befinden.
Rocke, welcher bis weit über die Waden heruntergeht und Wird der Ofen geheizt, fo findet der Ranch keinen andern
durch Haken geschlossen wird; er ist für das Klima zweck- Ausweg, als durch die Thür; von Fenstern oder Fenster
mäßig, insofern er fast den ganzen Körper bedeckt. Im löchern ist hier keine Spur; es
Sommer trägt der Bauer
einen niedrigen schwar-
zen Hut, in: Winter eine
Pelzmütze oder wohl auch
eiuetucheueKapuze. Der
Hals wird nur leicht mit
ciuem Halstuch umwun-
den; im Sommer bleibt
er frei. Eine bis zur
Hüfte reichende Tuchweste
zeigt schon einen wohl-
habenden Bauer au. Die
Beinkleider find von gro-
bem Drillich und reichen
bis zum Knie. Das
Haar läßt man lang
wachsen und scheitelt es.
Im Winter zieht man
meistens einen Schafpelz
über den Rock. Die Fußbekleidung besteht aus Schuhen,
entweder aus Linden- oder Weidenbast geflochten, oder aus
einem Stück ungegerbten Rindleders ohne Sohlen; sie wer-
den durch Biudfadeu befestigt, der um deu Fuß bis zum
Kuie hiuauf gewuudeu ist. Nur Wohlhabeude tragen wol-
lene Strümpfe oder hohe lederne Stiefel, die Frauen San-
dalen. Ihre Fußbekleidung erinnert an Griechenlands Sitte.
Das Weib-
l i ch e G e -
schlecht trägt
außer deu ge-
wohnlichen
Röcken und ei-
nein verschnür-
ten Leibchen bei
den Lettinnen
einen braunen,
beidenLithaue-
rinnen einen
blauen Tuch-
rock, im
Schnitte dem
der Männer
fast gleich, nur
kürzer. Das
Haar wird eut-
weder in zwei
Zöpfen gefloch-
ten, welche in
Forin eines
Kranzes um
den Kopf be-
festigt werden,
oder es hängt
den Gegenden,
Bauern in Kurland. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
Bauernhütte in der Umgegend von Dorpat. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
Wohlgeordnet frei und lang ■ herab. In
wo die erstere Tracht herrscht, bedecken die
en den Kopf nur mit einem Weißen Tuche, welches
mit zwei Zipfeln unter dem Kinn befestigt wird, Während
der dritte Zipfel hinten lose herabhängt. Die Weiber hin-
gegen bedecken den Kops mit einer weißen Haube.
Reinlichkeit ist wohl die schwächste Seite der Letten niid
herrscht eine vollkommene
Finsterniß. Der größte
Theil des Rauches bleibt
natürlich in der Stube
zurück, so daß uns schon
beim Eintritte die Augen
thränen.
Die Hauptspeise
der Landleute besteht aus
Mehl - od. dickem Erbsen-
brei, ans Sauerkraut und
Kartoffeln. Arme wie
Reiche essen Korfbrot,
d. h. sie reinigen den
ansgedroschenen Roggen
nicht von der Spreu, foii-
deru mahlen und backen
beides miteinander. Oft
ist dies Brot so trocken,
daß mein es am Feuer
anzüuden kann. Nur an Festtagen ißt man Weizenbrod
oder Kilcheu. Vou Fleisch genießt man am meisten Schaf-
und Schweinefleisch. Der Herbst ist die Zeit des Wohl-
lebens; in ihm finden die meisten Hochzeiten und Feste
statt. Ein Lieblingsgericht sind scharf gesalzene Fische,
besonders Stiute, deren Wohlgeschmack sich ihnen steigert,
wenn erstere bereits zii faulen beginneil. Das Haupt-
getränk besteht
aus einem Ge-
«lisch von Mehl
mit etwas ge-
säuertem Was-
ser iliid geron-
neuer Milch,
welches man
zum sogenann-
ten Thaar-
trank gähren
läßt. Groß
aber ist der
Verbrauch von
Branntwein;
schou dem
Säugling wird
er eingegossen.
Kein Geschäft,
kein Fest kann
ohne ihn abge-
macht werden.
Die Feld-
arbeiten sind
mühsam,beson-
ders in sumpfi-
gen Gegenden. Arbeiter, welche weit von dem ihnen ange-
wiesenen Feldplatze wohnen, gehen Abends nicht nach
Haufe, sondern verbringen die Nacht ans dem morastigen
Boden und in dem aus ihm aufsteigenden Nebel. S ch eun en
find unbekannt. Das geerntete Getreide wird in großen
Hänfen zusammeugestellt nnb bleibt so lange den äußeren
Witterungseinflüsseu ausgesetzt, bis es zum Dreschen kommt,
80
M. Rosen: In dm russischen Ostseeprovinzen.
was oft erst im Winter geschieht; deshalb wird es künstlich
getrocknet in den sogenannten „Riegen".
In einer ebenen, sandigen Gegend an der knrländischen
Aa liegt Mi tau, lettisch Jelgawa, mit ungefähr 25,000
Einwohnern, ehemalige Residenz der knrländischen Herzöge,
meistens deutsch, gegenwärtig
fast nur als Aubau vom Edel-
Hofe des Kettlerschen Hauses
geltend, nur durch dieBedürf-
uisse und das Geld des um-
wohnenden Landadels empor-
wachsend und niemals eigent-
licher Sitz des Bürgerthums;
es ist weder schön noch groß-
artig, aber sauber, zierlich,
adrett, — kurz k u r i s ch
adelig in seiner äußern Er-
scheinung. Die verhältniß-
mäßig breiten Straßen, deren
Häuser, nicht wie in Deutsch-
land, zu vier Stockwerken sich
emporthürmen, weil uns jeder Fuß breit Landes zu thener
dünkt, sind breit und behaglich, sich langhin ausdehnend.
Beim Hineinfahren in diese Straßen ist es dem Fremden,
als müßte aus jeder Thür einer der schlanken, blonden
Kurländer treten und mit stolzer Miene an dem geldgierigen
Esthnische Fuhrleute. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
kühlen Dialekte zwischen beiden hindurch, wie mit ihren
glatten kühlen Manieren durch die ganze Welt.
In allen parkettirten Zimmern Europa'» hat man sie
gern, diese durch und durch eleganten und gewandten Kur-
länder; auch auf dem noch glättern Eisboden St. Peters-
burgs wissen sie, ohne anszn-
gleiten, bis zu den sammet-
beschlagenen Thronstnsen zu
steigen. Das kommt daher,
weil sie vom Süden und
Westen einst gefällige Bildung
mit in ihr Land genommen
und gesellige Formen; von
Osten wehte ein leichter Hauch
slavischer Schmiegsamkeit über
sie hin; in freiem, mnnterm
Jagdleben wachsen sie auf,
und feine Wendung im Re-
den, wie im Handeln gibt
ihnen das Beispiel des Baters,
wie die Lehre der Mutter.
So siud sie vielleicht die liebenswürdigsten und vollkommen-
sten Gesellschafter der Welt geworden. Wer mag denn bei
fo glänzender Aenßerlichkeit auch nach der rechten Inner-
lichkeit fragen? Im geselligen Leben halten sie stets mit ein-
ander; im Sommer gern entfernt vom Rauch und Onalm der
Bauernfuhrwerk in Kurland. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
Rennen der Krämcrjnden vorbeischreiten, sein nnvermeid-
liches ,,Fni" auf den aristokratischen Lippen; denn „Pfui"
können sie nicht sagen und „Fui" brauchen sie sehr oft; die
Doppelconsonanten sind ihnen zu hart, wie die Doppel-
vocale zu breit; darum fprecheu sie sich mit ihrem glatten
Städte, am Liebsten in Seebädern am Strande; darum
haben sie auch Mit au nur als Winterquartier in der Mitte
ihrer Landgüter aufgeschlagen, um die Gesellschaften der
Sommer-Edelhöfe uud des Strandes hier fortzusetzen, wenn
draußen der Herbst- und Wintersturm wüthet und aus der
82 A. Bastian: Erzählungen
Ostsee die Wolken schneiend über das Flachland fliegen.
Erst im Spätfrühling, wenn Feld und Gärten blühen,
fahren sie dann wieder aus der Stadt; darum hat Mitau
zwei ganz verschiedene Perioden: eine belebte, groß-
städtische des Spätherbstes und Winters und eine öde,
kleinstädtische zur Sommerzeit. Zur Stadteutwickluug hat
dem Orte uichts verholfen, als seiue Lage. Nur weil der
Punkt so recht im Ceutrum Kurlands liegt, haben die Her-
zöge früher ihr Schloß dorthin gebaut, und weil mau mit
dem Herzoge verkehren mußte, bauten die Edelleute ihre
Häuser daneben; .Juden und Krämer aber konnten ihre
Waaren dort bequemer absetzen, als von Edelhof 311 Edel-
hof wandernd; darum setzten auch sie ihre Budeu (so
heißen noch heute alle Kaufmannslokale in Kurland)
d Fabeln aus Hintcnndicn,
zwischen die Häuser des Adels. — Auf solche Art ward
Mitau Residenz und ist es uoch heute; früher war es
Herzogsresidenz, jetzt Adels -Wiuterwohuuug. Da tan-
zen die kurischen Adelsherren mit ihren Schönen und
amüsiren sich und bringen alle Eleganz des Auslandes
mit hinein, um sie dem Fremden zu zeigen. Nächst
dem Petersburger Adelscasiuo kennt man keiue elegan-
tere und geschmackvollere Gesellschaft in ganz Rußland,
als die in Mitau. Und um zu zeigeu, wie dies Easiuo
ein rem aristokratisches Gesellschastslokal sei, haben sie die
Wappen aller eingebornen kurischen Familien streng nach
der Folge der Ritterbauk cm bat Wänden rings aufgehängt;
sogar die längst ausgestorbenen adeligen Familien leben
hier sort.
Erzählungen und Fabeln aus Hinterindien.
Von Adolf Bastian.
Die Jndochinesen sind reich ein Märchen und
lungen verschiedener Art, die sich theils in ihrer Literatur
geschrieben siudeu, theils mündlich sortgepslauzt werden.
Sie tragen vielfach das Gepräge eines indischen Ursprungs,
oder lehnen sich au das Chinesische, andere sind ans dem
Malayischeu übersetzt, andere wieder aus dem Javauischeu,
indem sich die verschiedenartigsten Einflüsse auf der hinter-
indischen Halbinsel gekreuzt habeu. Daneben her laufeu
die historischen Sagen der nationalen Traditionen, und
dann findet sich noch eiu uuerschöpslicher Fabelschatz, der
den heiligen Textbüchern entnommen ist, vorzüglich den
559 Vorexistenzen Bnddha's, welche die kleineren heißen,
im Gegensatz zu deu zehn letzten oder großen Wuttu's der
Tataka.
Vou deu hier folgenden Übersetzungen sind die bir-
manischen Märchen nach mündlicher Mittheilung
aufgezeichnet, die siamesische Erzähluug dagegen ist aus
einem Buche uiedergeschriebeu, das ich in Bangkok entlehnte
und das den Titel „Sibsonglien" führte. Es enthält
einen Kreis von 12 Erzählungen, die, wie iu der Einlei-
tuug bemerkt wird, auf deu 12 (sibsong) Eckeu (lim) des
Sarkophages eines berühmten Königs (Naosavan genannt)
gefunden wurden. Das Buch, welchem das letzte Märchen
entnommen ist, heißt „Pisat-Pakaranam" und enthält
Gespenstergeschichten in jener in einander gewebten
Form, wie sie bei den indischen Fabelsammlungen häufig
wiederkehrt.
1. Die Wunderharfe.
(Nach dcm Birmanischen.)
Auf zwei hohen Bergen lebteu einst iu grauer Vorzeit
zwei Eremiten (Uathay), die das Abkommen getroffen
hatten, sich Lichter zu zeigen, um sich gegenseitig Kunde von
ihrem Leben zn geben. Eines Nachts konnte der eine
Eremit kein Licht auf dem andern Berge bemerken, und er
schloß daraus, daß fem Freund das Zeitliche gesegnet habe
und in deu Stand der Dämonen (Nats) übergegangen fei.
Bald darauf erhielt er auch einen Besuch vou dessen Ge-
spenst, und da er sich über die wilden Elephanten beklagte,
welche ihn vielfach belästigten, eine Harfe zum Geschenk,
durch deren Spielen er je nach der Melodie die Elephanten
herbeiziehen oder vertreiben könne.
Eines Tages hörte er in der Wildniß das Gejammer
eines Kindes, und als er darauf zuging, fand er, trostlos
aus einem Baume sitzend, eine Königin mit einem Säug-
liug im Arme. Sich im Hofe ihres Palastes sonnend,
war sie durch deu herbeischwirrenden Riesenvogel aufgepackt
und aus dem Kreise ihrer jammernden Ehrendamen fort-
geführt worden, um ihm iu seinem Neste zur Speise zu
dienen.
Der Eremit verbarg sie in seiner Einsiedelei und ver-
mählte sich mit ihr; den königlichen Sohn, Ondinath,
adoptirte er, mit der Wunderharfe ihn beschenkend. Einst
im Dunkel der Nacht sah der Eremit einen der glänzend-
sten Sterne am Himmel sich plötzlich verdüstern und
erkannte daraus, daß der große König, der Ondinath seinen
Ursprung gegeben, sein Leben geendet habe, und der Sohn,
davon hörend, beschließt in sein väterliches Reich zurückzu-
kehren. Auf hohem Elephanten thronend, begleitet von
den fämmtlicheu Elephanten des Waldes, laugt er vor den
Thoren der Hauptstadt au, die er verschlossen findet, und
das ganze Volk in Trauer, da dcm Laude eiu Herrscher
fehlt. Durch die Wahrzeichen eines Ringes und Gürtels,
welche seine Mutter ihm mitgegeben, wurde er als der Erb-
Prinz erkannt und von den Edelleuten auf deu Thron
gehoben.
Zu jener Zeit erfüllte die Tochter eines Pana (Brah-
maneu) mit dem Rufe ihrer Schönheit die Reiche der Erde,
und aus allen Gegenden strömten Bewerber um ihre Haud
herbei, aber Niemand fand Gnade vor ihren Augen. Der
Vater begegnete einst Myatzoa-Phaya (Buddha), und über-
wältigt von dem göttlichen Glanz seiner Herrlichkeit, dachte
er in ihm einen passenden Schwiegersohn zn finden. Er bat
ihn, in einem Hause zu warten, da er seine Tochter herbei-
bringen wollte, aber als er zurückkam, war fein Gast fort-
gegangen und hatte nur deu Abdruck seines Fußes zu-
rückgelassen. Die in der Kenntniß der Beden (Bedas) wohl
unterrichtete Tochter erkannte aus deu Figuren, daß es die
A. Bastian: Erzählungen i
Fußsohle des Gottes sei, und wurde von unbezwinglicher
Sehnsucht ergriffen, sich ihm zu vermählen. Seinen Spuren
nachgehend, holte sie Myatzoa-Phaya ein, dieser aber wies
ihre Liebe zurück, da er auf dem Wege nach Baranasi
(Benares) war, um dort den Thron zu besteigen, und Ueber-
flnß an Frauen ihn schon erwartete. Die verschmähte Schöne
traf im Walde mit Oudinath zusammen, und jetzt weniger
wählerisch geworden, erlaubte sie ihm, sie als seine Königin
sich zur Seite zu setzen.
Nun geschah es, daß ein benachbarter König, der Ondi-
naths Zauberinstrument zu besitzen suchte, auf eine List
sann, ihn in seine Gewalt zu bekommen. Er läßt die große
Figur eines weißen Elephanten aus Holz verfertigen und
mit Soldaten gefüllt in den Wald stellen. Als Jäger an
Oudiuath berichten, ein Thier höchster Vollkommenheit ge-
sehen zu haben, zieht dieser aus, um dasselbe zu saugen.
Aber zum ersten Male versagen die Töne der Harfe ihren
Dienst. Statt zu folgen entfernt sich der Elephant, und
Oudiuath, überrascht und verwundert, verfolgt ihn so eifrig
auf seinem Pferde, daß er bald von seinem Jagdgefolge
getrennt ist. An einer versteckten Stelle des Waldes sprin-
gen die Soldaten aus dem Bauche des Elephauteu hervor
und führen Oudinath als Gefangenen zum König. Dieser
verlangt die Mittheilnug seiner magischcu Geheimnisse, kann
aber die hartnäckige Verschwiegenheit Oudinaths nicht beste-
gen, da selbst Todesandrohungeu fruchtlos blieben. Znletzt
erbietet er sich, als Bedingung der Freiheit, ein Sklaven-
mädcheu darin zu unterrichten; der König aber snbstituirt
seine eigene Tochter, die er hinter einen Vorhang stellt und
ihr sagt, daß sie von einem weisen Manne unterrichtet wer-
den würde, der aber körperlich ein abschreckendes Scheusal
und aussätzig sei. Als während des Unterrichtes Oudinath
sie ausschilt, weil sie uicht rascher begreife, schmäht sie auf
ihn als einen Aussätzigen zurück. In der Lebhaftigkeit des
Zankes wird der Vorhang bei Seite geschoben, Beide erblicken
sich und verlieben sich sterblich in einander aus Wahlver-
Wandtschaft, da sie fchou in einer frühern Existenz Gatte
und Gattin gewesen. Sie entwerfen einen Plan und
theilen dem Könige mit, daß zur Ausführung der Zauber-
ceremonien Blätter eines fremden Baumes uöthig seien.
Darnach ausgeschickt, entläuft die Prinzessin, welche die
Wachen des Gefangenen fortgcsendet hat, mit ihm nach
seinem Reich, und sie wurde ihm als die erste Königin ver-
mahlt. Die dadurch eifersüchtige Brahmanin benützt eine
Abwesenheit des Königs, um eiue zwischen Blumen versteckte
Schlange auf deu Thron zu stellen und die Königin des
Verraths zu beschuldigen. Die Minister, welche die her-
vorzüngelnde Schlange sehen, erkennen sie für schuldig, und
die Brahmanin, der sie zur Hut übergeben ist, verbrennt sie
in einem durch Teppiche verhängten Hose des Palastes.
Als der König bei seiner Rückkehr davon hörte und deu
Zusammeuhaug der Sache erfuhr, gerieth er in den größten
Zorn. Er läßt das ganze Geschlecht der Pona herbeiholen,
sie auf einem Felde eingraben und dann ihre Köpfe ab-
pflügen. Für die Ponatochter selbst aber wird die grau-
samste Strafe ausgesouueu. In dem obersten Gemache
des Palastes eingeschlossen, wird ihr jeden Tag ein kleines
Stück ihres Fleisches abgeschnitten, vor ihren Augen in ein
Ragout gemischt und ihr zum Essen eingezwängt, um die
Pein zu verlängern; aber während dieser ganzen Zeit betet
die Ponatochter täglich zu Myatzoa-Phaya, deu sie durch
c!u ^c*ue,g Loch aus dem Dache ihres Gefängnisses über
sich am Firmament umherwandeln sieht. Daß die Pona-
tochter, obwohl sie so eifrig Myatzoa-Phaya verehrte, diese
schmerzliche Strafe ausdulden mußte, war die Folge einer
in früherer Existenz begangenen Sünde. Als sie.einst
>d Fabeln aus Hinterindien. 83
aus dem Bade hervorkam, und der Tag etwas kühl war,
machte sie sich Feuer an im Walde. Durch die zurück-
gebliebenen Kohlen entstand nach ihrem Fortgehen ein
Waldbrand, und ein heiliger Rochanda, der, in Meditation
versunken, im Walde saß, wäre fast verbrannt, wenn er
nicht, durch die Fähigkeit zu fliegeu, iu die Höhe gestiegen
und entkommen wäre. —
Diese Erzählung ist in veränderter Form auch in ein
Drama verarbeitet, das in Birma oftmals aufgeführt wird.
2. Eiue birmanische Fabel.
Zu Schin-tai, dem Löwenkönige der Thiers, kamen alle
Bewohner des Waldes, um ihre Huldigung darzubringen.
Auch die kleine Ameise kam herbei, sich vor ihm zu ver-
neigen, aber die Edelleute trieben sie verächtlich weg. Als
der Ameisenkönig davon hörte, gerieth er in Zorn und
schickte einen Wurm, sich iu das Ohr des Löwen einzu-
schleichen und ihn zu quälen. Auf das erschreckliche
Schmerzgebrüll kamen die Thiere von allen Seiten herbei-
gelaufen, boten ihre Dienste an und wollten den Feind
bekämpfen, wo und wer er auch sei. Aber Keiner konnte
Hilfe leisten. Zuletzt, uach vielen demüthigen Botschaften,
ließ sich der Ameisenkönig bewegen, einen seiner Unter-
thanen zu schicken, der in das Ohr hineinkroch und den
Wurm herausholte. Seit der Zeit haben die Ameisen das
Privilegium, überall und an jedem Platze zn leben, wäh-
rend den anderen Thieren ihre Ausenthaltsorte ange-
wiesen siud.
3. Eiue siamesische Erzählung.
In alten Zeiten lebte ein mächtigerKönig, Hnma jnm
genannt, der mit großer Macht und Pracht über das Laud
Batharath herrschte. Als er eiues Tages mit seiner
Armee marschirte, fühlte er Durst und verlangte nach
Wasser, aber obwohl überall darnach gesucht wurde, war
in der Gegend keines zu finden. Beim Umherreiten kam
der König zu einem Fruchtgarten mit Granatbäumen, und
cr fragte den alten Hüter, der denselben besorgte, ober
ihm Wasser bringen könne, um seinen Durst zu stilleu.
Der Gärtner erwiderte: „Wasser gibt es hier nicht, aber
Granaten die Fülle; wenn ihr einige zu esseu wünscht, bitte,
kommt herein und ruhet iu diesem Lusthause für eiu Weil-
chen, ich werde gehen und einen Trunk aus frischem Frucht-
saft bereiten."
Nachdem König Hnmayum eingetreten war und sich in
dem Pavillon niedergesetzt hatte, pflückte der Gärtner eine
Frucht ab und legte sie auf eiu reines, weißes Tuch. Als
er sie auszudrücken begann, füllte ihr klarer Saft bis zum
Räude deu ganzen Becher, den er dann feinem Gaste dar-
reichte; nachdem der König sich daran erquickt hatte, fragte
er deu alteu Gartenhüter, ob diese Fruchtbäume Abgaben
zahlten oder nicht. Der Gärtner sagte iu Erwiederung:
„Diese Fruchtbäume haben früher nie Abgaben bezahlt
und sind'auch jetzt frei davon, aber es gibt in der Nähe
hier Pflanzungen anderer Eigentümer, die steuerpflichtig
sind." Der König fragte weiter, für welchen Preis er die
Früchte dieses Gartens zu verkaufen pflege? Der Gärtner
erwiderte, daß sie im letzten Jahre 390 Gold-Salüug, ein-
gebracht hätten, und daß noch immer außerdem genug wäre,
um nach Herzenslust zu essen.
Der König überlegte dann bei sich und dachte in seinem
Sinn: „Die Pflanzungen dieses Frnchtgartens sind sehr
ausgedehnt; wenn ich diese Gartenbäume besteuern sollte,
11 *
84 ' H. Birnbaum: Die Erhebungen i
so Würde ich ein gutes Geschäft machen." Mit diesem
Gedanken in seinem Herzen bat er den Gärtner, eine neue
Frucht für ihn auszupressen und die Schale noch einmal zu
fülle«. Der Aufseher brachte eiue Frucht, die er abgepflückt
hatte, und drückte sie vor den Augen des Königs aus, aber
er bedurste einer zweiten, und noch einer andern, und bis
zu zehn, und immer blieb die Schale ungefüllt, so lange er
auch preßte.
„Was ist denn das?" fragte der König. „Vorher
war der Saft einer einzigen Granate genügend, um die
Schale zu fülleu, jetzt habt ihr schou zehn Früchte ansge-
drückt und sie ist immer noch nicht voll."
Der alte Gärtner schüttelte den Kopf und antwortete:
„Sieh, Freund, ich will dir sagen, wie das zugeht. Ohue
Zweifel muß Seiue Majestät, der große Köuig, der über
unser Land herrscht, so eben zu dem Beschlüsse gekommen
sein, diese Grauaten mit Steuern zu belegeu. Sobald
das der Fall ist, trocknen sie auf und man kann Nichts aus
ihnen herauskriegen."
Der König Hnmayum fagte zu sich selbst: „Als wir
beschlossen, die Früchte zu besteuern, vertrocknete ihr Saft,
wenn wir nun das Gegentheil beschließen sollten, was wird
dann geschehen?" Und alsobald überlegte der königliche
Herr bei sich, im Stillen sprechend: „Wir müssen diese
Granaten unbesteuert lasseu." Dann bat er den Gärtner,
hinzugehen, eine neue Frucht zu holen und es noch einmal
zu Probiren.
Der Greis that so, und als er die abgepflückte Frucht
zu drücken anfing, füllte sie nicht nur den Becher bis zum
Rande, sondern da war selbst eine große Menge Saft noch
außerdem und nebenher.
Da jubelte der alte Mann, der Gartenhüter, und er
lachte vor Freude und sagte: „Sieh hier, Freundchen, ich
will dir sagen, wie das ist. Ohne Zweifel hat Seine
Majestät, der große König, der über unser Land herrscht,
gerade jetzt bei sich den Gedanken gefaßt, keine Steuer von
diesen Fruchtbäumen zu erheben. Ich habe gehört, daß es
als alte Ueberliefernng durch Geschlecht zu Geschlecht von
unseren Vorfahren her mitgetheilt ist, daß, wenn der Land-
Herr Taxen auf Fruchtbäume legt, die früher solche uicht
bezahlt haben, die Bäume sich verschlechtern, die Früchte
ihr Aroma und ihre Süße verlieren, und allmälig zu
Grunde geheu. So ist es auch mit den anderen Sachen,
auch mit deu Steuerpflichtigen, wenn die Abgaben das
gewöhnliche Maß überschreiten. Die Bäume saugeu dann
) Senkungen der festen Erdrinde je.
an zu verdorren, die Bebauung wird vernachlässigt, Gärten
und Pflanzungen verkehren sich in eine Wildniß. Wer zn
Viel will, erlangt nur Weuig, wer sich mit Wenigem be-
gnügt, wird Viel gewinnen."
Der König fragte nach der Ursache, warum es so sei,
und der Gärtner gab ihm dann folgende Erklärung: „Wenn
die Summe der zu zahlenden Steuern zu sehr erhöht wird,
dauu hören die Eigeuthümer der Gärten, Felder und
Pflanzungen zu arbeiten auf und lassen Alles verfallen.
Es wird sich also in dem Steuer-Einkommen ein Abbruch
zeigeu. Weuu dagegen die Taxen niedrig bleiben, so sind
die Leute eifrig dabei, Gärten und Felder zu bebauen und
in gutem Stande zu erhalten. Weil sie sehen, daß sür sie
selbst Gewinn und Vortheil bleibt, so arbeiten sie mit
gutem Willen und muntern sich gegenseitig ans. Solche,
die früher nur zwei oder drei Bäume zu pflanzen pflegten,
werden jetzt hinzufügen und neun Bäume, und zehn Bäume
pflanzen, so daß die Steuersumme wachsen und größer sein
wird, als vorher."
Der König Hnmahum erkannte die Wahrheit dieser
Bemerkungen. In der Zwischenzeit war sein Gefolge und
die Edelleute, die ihn suchten, herangekommen; als sie
sich am Lusthause aufstellten, merkte der Gärtner, daß er
die ganze Zeit mit des Königs Majestät gesprochen habe,
und er war zum Tode erschrocken. Sein Herz zitterte und
sein Gesicht war leichenblaß. Der König aber befahl seinen
Ministern, dem Greis sür seinen Garten Jndemnitäts-
Papiere ausfertigen zu lassen, und er setzte ihn zum Ver-
Walter des ganzen Distrikts ein, mit voller Macht zu
handeln.
Nachdem der König Hnmaynm nach seiner Residenz
zurückgekehrt war, erließ er au seine Beamten eine Verord-
nnng folgenden Inhalts: „Gegenstände, die früher keine
Taren bezahlt haben, müssen nicht damit belastet werden,
und alle Abgaben in den Zollämtern und Marktplätzen
müssen auf eiu geringeres Maß als früher erniedrigt wer-
den. Alle Beamten der Verwaltung haben diesen Bor-
schristen gemäß zu handeln."
Von der Zeit nahmen die Einkünfte in Abgaben und
Steuern jährlich zu, und das Volk lebte in glücklicher Zu-
friedeuheit unter der weifen Regierung seines großen
Fürsten. —
Diese und die anderen Erzählungen derselben Samm-
luug scheinen die Siamesen durch Vermittlung der Dscham
Mampa) erhalten zu haben.
Die Erhebungen und Senkungen der festen Erdrinde in Mittel- und Südeuropa»
Nordasrika, Centralasten und Südamerika,
Von Dr. H. Birnbaum.
I.
In eben dem Maße, wie Südeuropa sehr begünstigt
ist dnrch eine reiche Fülle von Contourformen in seinen
Gestaden, zeichnet sich dasselbe auch vor allen anderen
Ländern aus durch eine wechselvolle Oseillationsthätigkeit
in seiner Oberflächen-Rinde. Erinnert nun eine folche
Mannigfaltigkeit der horizontalen Küstenentwicklung schon
lebhaft an den vielgliedrigen Bau eines in sich belebten Or-
ganismns, so thut dies uoch viel mehr der Erhebungs- und
Senkungsprozeß in den vertiealen Oberflächenformen dieser
Erdgegend. Wir verfolgen aber diesen Gegenstand, den
bekanntlich Carl Ritter geistreich und mit Meisterschaft
zum Hauptthema einer geographischen Untersuchung gemacht
H. Birnbaum: Die Erhebungen >
hat, nicht weiter, sondern gehen sogleich wieder an die
Lösung unserer speeiellen Aufgabe, wobei wir, wie in einem
früheren Artikel *) stets mehr Gewicht auf Thatsacheu, als
auf Speeulatioueu legen werden.
Unser Erfahrungswissen hat in den bezeichneten Länder-
gebieten gerade in Hinsicht der Erhebungstheorie sehr
wichtige Schätze eingesammelt, und es ist auch dem denken-
den Geiste der Forscher vortrefflich geglückt, das Ganze zu
einer übersichtlichen Einheit zu verarbeiten. Man hat
Gesetze aufgefunden, wodurch sich die große wechselvolle
Erhebungsthätigkeit mit übersichtlicher Leichtigkeit geistig
beherrschen läßt. -Allerdings stieß man dabei auch auf
Abnormitäten, welche die Regelmäßigkeit wieder in Frage
stellten, oder doch wenigstens daran erinnerten, daß die
Untersuchung noch nicht ihren letzten Abschluß erreicht habe.
Und obgleich gerade unser Europa in dieser Hinsicht am
gründlichsten erforscht worden ist, so fehlt es doch auch hier
uicht an Punkten, bei denen es bis jetzt noch nicht möglich
war, eiue sichere Spur des Oscillatiousprozesses auszu-
finden, oder die Grenzen desselben genau festzustellen.
Indeß bei den Ländern, welche das Mittelländische
Meer umsäumen, kommen solche Ausnahmen fast gar
nicht vor. Es betrifft dies eine zwischen dem 40° und
30° nördl. Br. gelegene Zone, die sich nicht blos auf
Europa und Afrika beschränkt, sondern selbst noch die
Tatarei mit in sich schließt. Das ist nun aber eine Strecke
der Alten Welt, welche am meisten der vulkanischen
Thätigkeit unterworfen ist; also fehlt anch dabei der
Fingerzeig zur Erklärung des Phänomens nicht. Dann
wollen wir im Allgemeinen noch darauf aufmerksam machen,
daß eben so wie bei der früher untersuchten nördlichen
Zone Skandinavien den Kulminationspunkt aller Erhebung
ausmachte, für die vorliegende Zone die östliche Hälfte
des Mittelländischen Meeres den Centralpuukt
aller Senkung bildet, so daß also zwischen diesen beiden
großartigen Tätigkeiten der Erde hier eine Art der Polari-
satiou zu bestehen scheint.
Die Gestalt des Mittelländischen Meeres war früher
eine ganz andere; sie war besonders im Süden durch Afrika
hindurch offeu und frei mit dem Atlantischen Oeean verbun-
den. Von dem Golf von Sidra ging ein Zweig dieses Meeres
von durchschnittlich 20 geographischen Meilen Breite durch
das Flachland der jetzigen Berberei, bis er sich in der Nähe
der Cauarischen Inselgruppe mit dem offenen Weltmeere
verband. Hierzu habe» die von Charles Martins,
Esch er von der Linth und Desor im Winter 1863
ausgeführten Reisen durch die Wüste Sahara die sicherste
Grundlage abgegeben. Auch haben die sachverständigen
Untersuchungen von Charles Laurent bestätigt, daß
der Saud der vorhin bezeichneten Wüstenstrecke ganz von
derselben Art mit dem an den Gestaden des Mittelländischen
Meeres sei, und daß beide dieselben Muschelschalen ent-
halten. So fand sich z. B. Cardinm ednle überall vor,
und nicht blos in den Tiefen, sondern in der Höhe bis zu
709 Fuß hinauf. Die Sahara Algeriens gehört daher
der neuen geologischen Erhebungsperiode an. Mehre
Niederungen, die zum Theil 270 Fuß unter dein Niveau
des Meeres liegen, sind dadurch allmälig von der unmittel-
baren Meeresverbindung abgeschlossen worden und bilden
jetzt weit ausgedehute sumpfige Moorlager. Der 15 Meilen
lange nnd 5 Meilen breite, aber doch überall sehr seichte
Schiskal el Low Den-See, der Laens Triconis der
Alten, hat sogar erst in unserer historischen Zeit aufgehört,
*) Globus, IX, S. 344.
d Senkungen der festen Erdrinde?c. Li)
ein zusammenhängender Theil des Meerbusens von Kabes
zu sciu.
Dies war der letzte Rest des Meerarmes, welcher den
afrikanischen Continent von dem Atlasgebirge trennte
und diesem nicht blos eine sehr verschiedene äußere Structur,
sondern auch eiue ganz andere Natur der Pflanzen und
Thiere in Vergleich zu Libyen sicherte. Für die wahr-
scheiuliche Existenz eines solchen Meeresarms in Afrika,
der jetzt mit Wüstensand, Salz und nackten Felsen erfüllt
ist, bringen Esch er von der Linth und Lyell anch
noch besonders Halt durch ihre Hypothesen über die frühere
viel größere Ausdehnung der Gletscher in Europa. Denn
es liegt der Gedanke sehr nahe, daß vor der Austrocknung
dieses afrikanischen Innenmeeres die darüber hinweg-
geführten gegen Norden strömenden Luftmassen sich stark
mit Feuchtigkeit sättigten und die Gipfel der Alpen fort-
während mit neuen Schneelagern versorgten, während jetzt
der gefürchtete Föhn dafür an den Platz getreten ist,
welcher auf seinem Wege über Afrika sich zu einem ansge-
dörrten, Wasser verschluckenden und Schnee verzehrenden
Luftstrome umgewandelt hat.
Ferner steht der Möglichkeit nichts entgegen, daß die
Schwcizeralpen durch die seit der Gletscherperiode statt-
gehabte übrige Erhebung eine relative Erniedrigung er-
fahren haben. Auch kann dieselbe Schwankung der Erd-
rinde, welche den Voden des ehemaligen Libyschen Meeres
gehoben und trocken gelegt hat, die Alpen herabgedrückt
haben, denn es fehlt uns nicht an Beispielen, wo zur Aus-
gleichung der Wirkung eine solche entgegengesetzte Thätig-
keit wirklich vorgekommen ist.
An den Gestaden des Mittelländischen Meeres zeigen
sich die Spuren der Erhebung übrigens auch noch in großer
Anzahl. Ju Guerius Reise nach Tunis, welche hanptsäch-
lich archäologischen Zwecken diente, wird berichtet, daß sich
die Häfen der Alten stark verengt und verseichtet haben,
daß mehre Buchten ganz ausgefüllt und früher gar uicht
gekannte Landspitzen jetzt sichtbar geworden sind, — lauter
Beweise für deu Erhebuugsprozeß Libyens. Eben so kann
Sieilien in seiner Verbindung mit Pantellaria und den
von Tunis anslanfenden Felsriffen, wodurch das Gauze
zn einem theilweife noch submarinen Isthmus geworden ist,
als eine vulkauische Aufblähung angesehen werden, welche
unserer Hypothese zur Grundlage nnd zum Beispiel dieut.
Auf den Höhen, welche die Bucht von Palermo be-
herrschen, bemerkt man bis zu 166 Fuß hinauf Grotten,
deren Aushöhlung vom Meere bewirkt wurde, und in denen
Ablagerungen von den noch jetzt existirenden Conchylien
aufgefunden worden sind. An der Ostseite dieser Insel
hat Gemellaro eine neue Erhebung von nahe 40 Fuß
nachgewiesen. Auf Sardinien, nicht weit von Cagliari,
so berichtet de Lamarmora, besiudet sich in der Höhe
von 222 uud 394 Fuß ein solches Conchylienlager mit
Topfscherben untermischt, wodurch offenbar bestätigt
wird, daß diese Plätze so hoch aus dem Meeresgrund empor-
gehoben worden sind, und zwar zu einer Zeit, wo das Land
schon vou Menschen bewohnt gewesen ist. Und um die
Revue der Hauptthatsacheu dieser Erhebung zum Abschluß
zu bringen, so mußte man anch noch eine Menge ähnlicher
Wahrnehmungen auf deu Balearen, die alten Meeres-
grotten von Ventimille, Mentone und Risso am Cap Saint
Hospien in einer Höhe von durchschnittlich 36 Fuß mit
ihren Conchylienlagern zur Sprache bringen. Es fehlt
uns daher durchaus uicht an Belegen, welche uuseru Glau-
ben an eine gemeinsame Erhebung dieser Länderstrecke voll-
kommen rechtfertigen können.
86 Leben und Treiben int
Mehre Geologen däucht es auch noch wahrscheinlich,
daß ganz Frankreich sich fortwährend hebe, aber in sehr
geringem Maße und wie von einem leichten Beben begleitet,
und daß die Hauptare dieser Erhebung von dein Golf von
Lyon nach der Bretagne gerichtet sei. Wie weit diese
Vermnthung auf Wahrheit beruht, müssen wir dahin gestellt
sein lasseu; so viel scheint indeß gewiß zu sein, daß die
Küsten von Poiton, Aunis und Saintonge während der
historischen Zeitepoche nicht aufgehört haben, sich mehr und
mehr empor zu heben. Die überlieferten Sagen dieser
Küstenbewohner sprechen stark für diese Hypothese, denn
es gilt dort ganz allgemein „la banche pousse" für cht
wahres Sprüchwort.
Aehuliche Erscheinungen kommen auch iu den mehr öst-
lichen Theilen des Mittelländischen Meeres vor. Gerade wie
bei Sicilien und den meisten Uferpunkten Italiens und
Griechenlands ist eiue große Zahl von Inseln wie Malta,
Rhodus, Cypern von kreisförmigen Terrassen des früheren
Meeresstrandes umgeben, die sich bald mehr, bald weniger
über das jetzige Niveau des Meeres erheben und ans
Felsen von Kalk und Sandstein der neueren Formation zu-
sammengesetzt sind. Hierauf hat vor allen Albert Gandry
in seiner geologischen Reise hingedeutet.
Das geologische Studium der Küste von Kleinasien
hat bewiesen, daß seit der Zeit, wo die Erde von Menschen
ongresse zn Washington.
bewohnt wird, diese Gegend nicht ausgehört hat, sich zu
erheben, und zum Theil sogar sehr rasch. Seit der histo-
rischeu Zeit hat sich hier der Continent auf Kosten des
Aegäischen Meeres bedeutend vergrößert; und dies kann
weder durch Anschwemmungen von den Flüssen, noch durch
die des Meeres zu Stande gekommen sein, denn die Flüsse
Anatoliens sind alle klein und von schwacher Strömung,
und das Meer, welches die Küsten bespült, hat eine so
schroff abfallende Tiefe, daß auch von dieser Seite an ein
Ablagern von Meeresboden nicht zn denken ist. Es müssen
daher die Ruinen von Troja, Smyrna, Ephesns und
Milet durch eiue allmälige Erhebung der Erdrinde sich so
weit von dem Meeresufer entfernt haben, wie wir sie im
Vergleich zu ihrer ursprünglichen Lage jetzt antreffen. Aus
eben dem Grunde müssen viele der Inseln, von denen die
Alten geredet haben, jetzt zum Continente gekommen
sein, da sie als Inseln gar nicht mehr aufzufinden sind und
einige Höhen und Hügel des Festlandes mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit dafür an den Platz treten. Während der
Blüthezeit Griechenlands vereinigten sich die ursprünglich
gesonderten Theile Lesbos, Jssa und Antissa zu
einer zusammenhängenden Festlandsmasse. Und seit jener
Zeit ist nun auch die Insel Lade, in deren Nähe die
jonische Flotte mit der persischen einen großen Seekampf
ausfocht, ein Theil des Continents geworden.
Leben und Treiben im
Der „Rumpscongreß" der Nordstaaten, welcher in
Washington tagt, und durch desseu ultraradikale Mehrheit
die große Union jetzt wieder einmal in eine gefährliche
innere Revolution hineingedrängt wird, bietet einen merk-
würdigen Anblick dar. Ein gesitteter Europäer, überhaupt
ein Mann von Erziehung, der an Anstand und gutes
Betragen gewöhnt ist, kann sich des Erstaunens nicht
erwehren, wenn er sieht, wie es bei diesen Vertretern der
Republik zugeht. Freilich haben gebildete Amerikaner selbst
schon oftmals dieses ganze Treiben für einen „Schimpf
und eine Schande" erklärt, aber damit an der Sache nichts
zu ändern vermocht. Das wüste Wesen dauert fort. Wir
könnten aus der amerikanischen Presse selbst die schärfsten
Urtheile zusammenstellen, ziehen es aber vor, einen enro-
päischen Augenzeugen, welcher sich der Objeetivität be-
fleißigt und mit photographischer Genauigkeit schildert, was
er seit Monaten täglich vor Augen hat, reden zulassen.
Die ultraradikalen Correspondenten, welche gleichsam ein
Monopol erworben haben, unsere politischen Zeitungen iu
Deutschland mit Berichten aus Nordamerika zn versorgen,
und deren Verschweigen v o n T h a t s a ch e n charakteri-
stisch für diese Publicisten der „republikanischen" Partei
ist, erzählen ohnehin nicht gern unliebsame Diuge. Die
nachfolgenden Schilderungen sind dein Washingtoner Be-
richterstatter der „Times" entlehnt und vom 16. Februar
1866 datirt. —
Zuerst wird darauf hingewiesen, daß zwischen der PHty^
siognomie des Parlamentes in Nordamerika und jeuer der
gesetzgebenden Körper iu Europa ein großer Unterschied
herrsche. Die „Gleichheit" spiele eine große Rolle. Der
Kutscher, welcher vom Bock herabspringt und ins Weiße
zn Washington.
Haus geht, um auch seinerseits dem Präsidenten die Hand
zu schütteln, benimmt sich nicht eben mit Ergebenheit gegen
ein einfaches Eongreßmitglied. Ohnehin fehen die Wähler-
in einem Congreßmanne, falls derselbe nicht etwa, aus-
nahmsweise, durch hervorragende persönliche Eigenschaften
sich auszeichnet, eine Person, die eigentlich unter ihnen
steht; er gilt für einen bezahlten Diener und muß sich Höf-
lich gegen die benehmen, welche ihn angestellt haben; er
muß vor alleu Dingen ihre Interessen in Obacht nehmen;
wenn er das nicht thnt, gilt er für nicht des Geldes Werth,
das er bekommt. Für die einflußreicheren Wähler muß er
A eint er und Stelleu ausfindig machen; wo nicht, darf
er auf keine Wiedererwähluug rechnen. Deshalb ist das
Eapitol allezeit mit freien, unabhängigen Wählern um-
drängt, die Sorge dafür getragen haben, daß ihre ge-
Heime Abstimmung nicht geheim geblieben ist. Sie sind
gekommen, um für ihre Söhne eine Stelle, etwa im Post-
amte, Sit erbitten oder in irgend einem andern Verwal-
tnngszweige.
In keiner andern Stadt Nordamerikas kann man eine
buntere und schärfermarkirte Sammlung nordamerikanischer
Menschentypen beisammen sehen, als gerade in Washing-
ton; sowohl in den Straßen wie in den Corridors und
„Lobbies" (Vorzimmern) des Eapitols. Da erscheint der
typische Amerikaner mit seinem langen, dünnen, knochigen
Antlitz, gelb wie Pergament, mit mürrischem und keines-
Wegs angenehmem Gesichtsausdrucke; er hat am Kinn
einen Büschel dicken Haars und zwischen Zähnen und Backe
ein Priemchen Kantaback. So sehen im Durchschnitte diese
Leute aus; daß es auch andere, ansprechendere Erscheinnn-
gen gibt, versteht sich natürlich von selbst.
Leben und Treiben im
Diese „Geutlemeu" haben sehr desnltorische Gewohn-
heilen, sind immer auf den Beinen und streifen umher;
für ihre Hauptunterhaltung sorgt der Congreß, und sobald
die Thüren des Capitols geöffnet werden, beginnt der An-
drang dorthin. Von irgend einem Hinderniß bemerkt man
nichts; vielmehr wird derBesuch dieserGentlemen erwartet;
nian kann das schon abnehmen aus der unzähligen Menge
von Speibecken (Qnispeldosjes würde ritt Hol-
länder sagen); sie sind ans Gatta pertscha verfertigt und
stehen in langen Reihen an den Wänden, sind auch sehr
groß; aber gegen 3 oder 4 Uhr Nachmittags ist doch über-
all der Fußboden naß und schlüpserig von dem gelben
Speichel.
Seuat und Repräsentantenhaus halten in ganz ent-
gegengesetzten Theilen des Gebändes ihre Sitzungen, und
die Menge wogt von einem Ende zum andern hin und her.
Viele bleiben unter der Kuppel stehen, um die Gemälde zu
bewundern, welche Austritte aus der Geschichte Nord-
amerika's darstellen, oder die oberen Fresken, „ein wunder-
volles Gemälde"; denn alle möglichen Götter werfen
Segensfülle auf die Republik herab. Jiu alten Senats-
saale, welcher zwischen den jetzt benützten „Hallen" liegt,
stehen mehre nichts weniger als hübsche Büsten Lincolns
und Johnsons, einige Statuen und eine große Gypsfignr,
welche die Freiheit darstellen soll. Die Amerikaner bewnn-
dern diese Figur und sagen: sie sei ein mächtiges Ding,
„a big tliing". Man besieht sich auch die Broncethüren,
von denen manchmal Stücke gestohlen werden. Man hat
das so arg getrieben, daß jüngst der Sprecher des Reprä-
sentantenhanses die Sache zur Sprache brachte und sich
über diesen schamlosen, der amerikanischen Bürger keines-
Wegs würdigen Diebstahl bitter beschwerte.
Im Capitolinm findet man auch allerlei Gewerbs-
zweige installirt, welche in Europa von den Parlaments-
gebäuden ausgeschlossen sind. Da sieht man Höker-
stände, wo bestaubte Kuchen, „Eitronensoda", Photo-
graphien, Marmorstücke und wer weiß was noch sonst
feilgeboten werden. Da findet man auch eine komödiantisch
herausgeputzte Figur, den in Thierfelle gekleideten „Cali-
fornischen Jäger", der feinen Stand dicht an der Eingangs-
thüre hat und allezeit von biederen Landleuten umstanden
ist, welche mit offenem Munde den Mann anstarren.
Dienerschaft oder Polizei hält sich nur an den Thüren
auf. Die „Erfrischungssäle" sind auch dein Publikum
zugänglich; geistige Getränke, deren Genuß durch Eon-
greßverordnung hier verboten worden ist, werden nicht ver-
abreicht. Das ganze Gebäude wird durch Nöhrenleitnng
erwärmt, ist aber fast immer unerträglich heiß, und den
Sitzungssälen schien alle Vorkehrungen zur Ventilation.
In dem sehr geräumigen Saale des RePräsen-
tantenhauses könnten sechsthalbhundert Mitglieder
(wenn alle Staaten vertreten sind) statt der 277 Reprä-
sentanten Platz haben, vorausgesetzt, daß die Pulte weg-
genommen würden. Das Licht fällt von oben herein, und
in der Mitte jeder Scheibe befindet sich das Wappen eines
Staates. Der Sprecher sitzt dicht an der Mauer unter einer
der Gallerieu; über ihm sieht man einen großen Adler von
Messing und zwei Flaggen. Ihm gegenüber sind im
Halbkreise die Pulte der Mitglieder aufgestellt, und rings
nm die Halle laufen die Gallerien für die Zuhörer; sie
können wohl an 1500 Menschen fassen. Die Leute gehen
ab und zu, wie es ihnen beliebt, „ohne Unterschied der Rasse
oder ^arbe"; auf einigen Gallerien dürfen jedoch Männer,
welche keine weiblichen Personen bei sich haben, nicht
erscheinen. Ai'ii' den diplomatischen Körper ist allerdings
eine besondere Gallerie bestimmt', doch ist die Loge stets
ongresse zu Washington.
von dreimal mehr Frauen besetzt, als überhaupt Diplo-
maten iu Washington sind, meist Gattinnen von Reprä-
sentanten, die erschienen sind, um die Reden ihrer Män-
ner anzuhören und'manchmal sehr vernehmlich mit hinein-
zusprechen.
Auf diesen Gallerien herrscht allezeit mehr oder weniger
Geräusch und Confnsion, und sehr oft werden die Debatten
des Hauses durch Beifallsbezeigungen unterbrochen. Im
Senate werden dergleichen sofort unterdrückt, weil es hier
ordentlicher und würdiger zugeht. Freilich sind nur etwa
69 Senatoren (wenn sie aus allen Staaten der Union da
sind) im Hause und davon oft kaum 20 anwesend, wäh-
rend von den jetzt IUI. Repräsentanten insgemein nur
wenige fehlen; die 86 Repräsentanten der südlichen Staa-
ten sind bekanntlich noch nicht zugelassen worden; der Eon-
greß ist also nur ein Rumpf.
Die Farbigen bilden den ruhigsten Theil der Zu-
Hörerschaft. Sie finden sich in großer Menge ein und
sitzen stundenlang da, ohne daß sie irgend welches Interesse
an den Verhandlungen erkennen lassen. Die höheren
Klassen der Farbigen gehen am liebsten in den Senat;
dort zeigen sich ihre Damen in Pnrpnr und Scharlach mit
echten oder nicht echten Spitzen, mit Shawls auf dem
Rücken und allen Blumen des Feldes aus den Hüten.
Sie bringen Maisbrot mit, weil sie ihr Diner nicht ver-
Itcreit mögen und gehen nur vom Platze, wenn der Thür-
steher den Wink dazu gibt.
Fast so zahlreich wie die Zceger siud auch die verab-
schiedeteu Soldaten und dann die Leute jener in Washington
sehr zahlreichen Klasse, die weiter nichts zu thuu hat, als
Gast- und Schenkhäuser zu besuchen. Sie gehen auch
gern ins Capitol, um sich dort zu wärmen. Bei gutem
Wetter finden sich hunderte von Ladies im Capitol ein;
sie nehmen aber keinen lebhaften Antheil an den Ver-
Handlungen, verweilen nur kurze Zeit iu dem einen und
dem andern Haufe, unterhalten sich sehr lebhaft über
Dinge, welche nur für Frauen Interesse haben, oder sie
häkeln und lesen Romane, während ein Mitglied sich müh-
sam durch ein dickes Manuskript arbeitet und dein Haus
auseinander setzt, wie die Union reconstruirt werden müsse.
Der Sprecher des Hauses, Herr Colfax, hat einen
lebendigen Blick und eine gute Stimme. Es ist Brauch,
diesen Beamten bei einer neuen Session des Eougresses
durch Ballot zu erwählen, und das älteste „construetive"
Mitglied nimmt ihm den Eid ab. Nachher läßt er dann
alle anderen Mitglieder schwören. Er trägt sich ganz
bürgerlich, ohne irgend ein Abzeichen; wenn er „den Sessel"
verlassen will, schickt er eine Notiz an irgend ein ihm belie-
biges Autglied, welches dann präsidirt. Er bezeichnet sich
gewöhnlich als „der Sessel" (tlie cliair) und sagt bei Abstim-
mungen : „Der Sessel meint, daß, die dafür sind, die Majo-
rität bilden (the chair thinks tlie ayes have it)." In
Bezug auf einen Ordnungsruf hat der Sprecher keine
definitive Entscheidung; das zur Ordnung gerufene Mit-
glied kann Einwendungen dagegen machen und dann kommt
die Sache ans Haus, das dann entscheidet; bei Stimmen-
gleichheit hat der Sprecher deu Sticheutscheid. Er ernennt
alle Ausschüsse und übt dadurch einen mächtigen Einfluß
auf die öffentlichen Angelegenheiten aus. Insgemein
ernennt er mehr Mitglieder seiner eigenen als der Gegen-
Partei, welche letztere aber anch in den Ausschüssen ver-
treten sein soll; das wenigstens ist so Herkommen. Im
gegenwärtigen Congreß hat Colfar seine Befngniß derart
ausgeübt, daß die Radikalen in allen Ausschüssen die
Mehrheit bilden. Der Senat dagegen ernennt dieselben
durch geheime Abstimmung. Ruhe gebietet der Sprecher,
88 Leben und Treiben im
indem er mit einem Hammer, den er oftmals sehr stark in
Bewegung zu setzen hat, auf den Tisch klopft.
Wir gehen in das Technische der verschiedenen Ab-
stimmungsarten hier nicht ein, wollen aber eine Eigen-
thümlichkeit hervorheben. Es ist herkömmlich im Reprä-
sentantenhanse, daß ein Mitglied über eine Bill so oft
reden kann, als ihm beliebt; im Senate darf Einer aber an
demselben Tage sich an einer Debatte nur zweimal bethei-
ligeu, es sei denn, der Senat gäbe Ertraerlaubniß. Die
Geschäftsordnung wird jedoch nur feiten genau beobachtet;
meist nur dann, wenn ein Mitglied speciell darauf dringt-
Im Hanfe soll Keiner länger als eine Stnnde reden, in
der Praxis aber hält man sich daran nicht. Auf eine
Stunde hat der Redner also ein Anrecht; es kommt aber
vor, daß er nur fünf Minuten sprechen will;' ihm gehört
aber „the flooi-", und er verfügt über feilte Stnnde derart,
daß er die überschüssige Zeit uuter seine Freunde ver-
theitt. „Ich trete tlie floor (eigentlich den Fußboden, die
Tenne) auf zehn Minuten an das Mitglied für Maine
ab;" oder: „nun gebe ich fünf Minuten dem Mitgliede
für Pennsylvanien" und sofort, bis eine Anzahl derPartei-
genossen bedient worden ist. Der Sprecher verkündet,
wann jedes Redners Zeit abgelaufen sei.
Ein Repräsentant oder ein Senator, welcher zum
Hause redet, kann von den Mitgliedern dnrch Fragen oder
Widerspruch unterbrochen werden, wenn er nichts dagegen
einzuwenden hat. Diese Freiheit wird vielfach mißbraucht,
und es kommt nicht selten vor, daß die älteren Mitglieder
ein jüngeres hänseln und in Verwirrung zubringen suchen.
Manchmal dienen solche Unterbrechungen zur Aufklärung
der Sache, zumeist aber geschehen sie in mnthwilliger
Absicht.
In der jüngsten Zeit hat das Repräsentantenhaus
großen Gefallen an Soldatenvergötterung gefunden.
Sobald ein Generalmajor sich „auf der Flur" blicken läßt,
wird er in Beschlag genommen und aufgefordert, eiue
Rede zu Heilten. Der erste Unfug dieser Art geschah,
als General Sherman ins Hans trat. Raymond aus
Neuyork sprach gerade über Reconstruetion. Die Mit-
glieder verließen ihre Plätze, umringten den General, und
das Händeschütteln nahm lange kein Ende. Die Ge-
schäftsordnung war unterbrochen. Ein Mitglied von
Illinois schlug eine Snspendirung derselben „auf fünf
Minuten" vor, damit das Haus dem General vorgestellt
werden könne. Angenommen. Der Sprecher verließ
seinen Sessel, ging dnrch die Halle, nahm den General
beim Arme und führte ihn auf den „Ehair". Dort um-
lagerten ihn dann die Mitglieder, während der grimme
Thaddäus Stevens (der wilde, blutgierige Erzfanatiker
aus Pennsylvanien) starr und zornig sitzen blieb. Die
Gallerien tobten Beifall und das ganze Hans war in Ver-
wirrung. Diefe Art von Enthusiasmus hat sich dann
mehrfach gegenüber weniger ausgezeichneten Soldaten
wiederholt; aber zu viel ist zu viel; das Haus wurde der
Soldatenvergötteruug müde, und nun hüten sich die paar
hundert Generalmajore, von denen es in Washington Wim-
nielt, aus die Flur zu kommen.
Bemerkenswerth ist auch die Nachsicht, mit welcher selbst
der allerlangweiligste Redner seine Sachen zum Besten
geben darf. Da holt ein Mitglied ein dickes Manu-
fkript hervor und fängt an zu lesen. Er arbeitet sich ab,
nm bei seinen hochtrabenden Redensarten und Floskeln
und seiner faden Deklamation, die er zn Hause mühsam
aufs Papier gebracht hat, sich zu steigern und lebendig zu
werden. Wenn er dann das Haus mit seinen Blicken
mustert und mit den Armen herumfuchtelt, trifft es sich
ongresse zn Washington.
wohl, daß er beim Wiederblicken auf das Manuskript sich
nicht zurecht finden kann. Er wiederholt also ein paarmal
seine letzten Redensarten, sucht und sucht dabei iu seinem
Hefte, murmelt etwas Unverständliches vor sich hin, gewinnt
endlich den Faden wieder und arbeitet dann fort, bis er zu
Ende gekommen ist. Das Haus hört freilich kaum auf
das, was er zum Besten gibt, verhält sich aber ruhig.
Diese abgelesenen Redeübungen werden ihrer ganzen
Länge nach dem „Congressional Globe" einverleibt,
und manchmal füllt die Stylübung eines höchst unbedeu-
tenden Mitgliedes 15 bis 20 eng gedruckte Spalten. Die
Druckkosten werden von der Regierung getragen. Neulich
bestand eine einzige Tagesnummer des „Globe" aus —
68 Seiten! Alles Redeübungen, aber abgelesene, einer
Sitzung; iu dieser weiten Wüste von Worten war aber
nur wenig Beachtenswerthcs zu finden. Es kommt
manchmal vor, daß ein Mitglied des Hanfes
bittet, seine Rede als vorgelesen anzunehmen,
und sie wird dann im „Globe" abgedruckt, als
ob sie wirklich gehalten worden wäre. Das ganze
Verfahren bringt Schlotterigkeit in die Verhandlungen, und
es ist gar keiue Rede davon, die Mitglieder anzuhalten,
daß sie sich mit dem Gegenstande beschäftigen, der gerade
auf der Tagesordnung steht. Die Regierung zahlt dem
Drucker des „Globe" eiue bestimmte Summe für jede
Seite, und jedes Mitglied bekommt kostenfrei 25 Crem-
plare einer jeden Nummer. Das Blatt hat feine eigenen
Berichterstatter, und die Debatten werden unverkürzt gege-
ben. Aber zwei Drittel der Reden, welche vor-
kommen, werden im Voraus dem Redakteur
eingehändigt, der fie drucken läßt, und die
„Redner" lesen dann ihre schon gedruckten
Reden ab! Man nimmt dabei an, daß Alles, was solch
ein Redner zu sagen hat, lediglich für feine speciellen
Wähler bestimmt sei; ohnehin liest Niemand Anders sie.
Styl und Charakter dieser rhetorischen Auslassungen
sind sehr oft von ganz extraordinärer Beschaffenheit, wenig-
stcns nach europäischen Begriffen. Man citivt Bibelverse,
um die Gegner zum Schweigen zubringen, und während
der jetzigen Debatten über den Süden vergehen selten
24 Stunden, ohne daß Pontius Pilatus und Judas
Jscharioth weidlich herhalten müssend)
Vor etlichen Tagen schloß ein Mitglied im Repräsen-
lauteuhaus seine Rede so, daß er den ganzen Gesang:
„Wie sie so sanft ruhen, alle die Seligen" (How
sleep tlie brave tolio sink to rest) hersagte. Die „Ladies"
auf deit Gallerien waren davon höchst gerührt und sehr
erbaut, aber der Sprecher schrieb inzwischen, und die meisten
Mitglieder — schliefen. Bald nachher wurden die Ver-
Handlungen etwas aufgeweckter. Ein Mitglied hatte dem
andern gesagt, es habe eine „Unwahrheit" geäußert; worauf
die Entgegnung erfolgte, man werde sich nicht hinter die
parlamentarische Geschäftsordnung verkriechen; der Freund
werde wissen, wo man zn finden sei.
*) Der Apostel Paulus spielt bei den biderben Uankees
auch eine Nolle. Ich fand in den Berichten über die Senats-
Verhandlungen voin 10. Januar 1866 Folgendes:
„Senator Howe von Wisconsin reicht einen Beschluß ein:
man möge eine provisorische Regierung für die Bevölkerung des
Territoriunis ernennen, welches vor Kurzein Krieg gegen die
Vereinigten Staaten geführt und dadurch alle politischen und
sonstigen Rechte verwirkt habe. Seiue Rede begann folgender-
maßen:
„Als der heilige Paulus auf dem Hügel des
Mars staud und proklamirte, daß Gott alle Na-
tionen der Erde von einem Blute machte, spielte
der Herr da den Demagogen?" Und so weiter.
Mage's und Qnintins Reise
Die Verherrlichung der amerikanischen „Jnsti-
tootions" ist in der That, man muß es gestehen, wnn-
dervoll und wird allemal mit großem Applaus aufgenom-
men. Hier eine Probe aus der allerjüngsten Zeit. Der
Repräsentant, welcher Folgendes sprach, ist ein Herr
Grinnell.
„Nein, Herr Sprecher, wir wollen es der Welt verkündigen
und es möge hier gesagt werden, daß, nachdem nur die Re-
bellion besiegt, nachdem wir die Rebellmarmee unterworfen
haben, wir'auch vorbereitet sind, dieses Land ju beherrschen
und unser Volk frei zn machen. Und wenn jener stolze,
alte Vogel der Freiheit durch das Land hin kreischt,
in seinem Schnabel das breite Banner des Ruhmes
und der Schönheit tragend, dann mögen alle ent-
rollten Sterne desselben der Welt kund thnn, —
kuud thuu in einer Sprache, vor welcher alleThrone
und Tyranneien bis in ihr Centrum erzittern: —
Dies ist die Heimat der Freiheit." (Beifall.)
Die Theorie, daß Könige, Königinnen und Kaiser un-
ablässig vor dem „besternten Banner" zittern, gilt für eine
ausgemachte Wahrheit, und im Congreß wird man nie
müde, dieselbe zum Besten zu geben, öfter jedoch im Re-
präsentantenhaus als im Senate. Humor gehört unter*
die Seltenheiten; man strebt nicht dahin, ein Lächeln her-
vorzurufen, Alles ist erschrecklich ernst an diesen Debatten,
sarkastische Reden kennt man kaum, und eine lebhafte im-
provisirte Erörterung ist in dieser Session noch gar nicht
vorgekommen. Die meisten Redner bethenern gewöhnlich
mit großem Nachdruck, wie aufrichtig und uneigennützig sie
seien, nitd diese Stellen sind auf ihre Wähler berechnet.
Folgende Stylprobe, welche ein Herr Williams
aus Pennsylvanien zum Besten gab, läßt gewiß nichts zu
wünschen übrig: —
„Und wenn ich hier auf diesem Flur allein stände und es
wäre mein letztes Wort, das ich hier spreche — ich halte die
Treue und Wahrhaftigkeit, welche Gott mir verliehen hat, gegen-
über einem Volke iu Nötheu und im Angesicht der düsteren,
Unheil verkündenden Vorzeichen, welche den Horizont umwölken
und sogar die uns umgebende Atmosphäre erzittern macheu.
Ich will dem Volte zurufen: Erhebe dich aus deiner falschen
Sicherheit oder bereite dich vor auf ein zweites Schlacht- und
Braudopfer. Hier habe ich meinen Stand genommen und mit
Gottes Hilfe will ich ihn bis au mciu Ende behaupten. An-
dere mögen wauken uud schwanken inmitten der großen Heim-
suchung, — durch mich aber soll kein Recht verkürzt, kein Pri-
vilegium preisgegeben, kein einziges Blatt abgepflückt, kein
Juwel gebrochen' werden ans der Krone des repräsentativen
Körpers'."
Aehnliche Blüthen der Cougreßrhetorik werden täglich
Mage's und Nuinüns Reise
Seit einem Jahre ist mau in St. Louis am Senegal,
wie iu Europa, ohne alle Ktmde von den beiden Reisenden.
Unsere Leser erinnern sich, daß wir im Globus das Vor-
dringen derselben bis nach Sego am obern Niger ver-
folgt haben; wir konnten aber nur vereinzelte Notizen
geben, wie wir sie eben fanden. Jetzt bringt die „Revue
maritime et coloniale", Februar 186G, eiue übersichtliche
Darstellung, welcher wir das Nachstehende entlehnen. Ueber
Hadsch Omar und dessen Pläne haben wir verschiedene
Globus x. Nr. s.
vom Senegal nach Timbnktu. 69
, ausgestreut. Ein Herr Newell hat in diesen Tagen auch
! Einiges geleistet: —
„So wird unser geliebtes Vaterland, von seinen Wunden
geheilt und freigewordeu von dem Zauberbanne, welcher dasselbe
■ hundert Jahre lang gebunden hielt, in ein neues Daseiu spriu-
gen, um iu Großartigkeit uud Größe auch die ausschweifendsten
Visionen unserer patriotischen Ahnen zu übertreffen, und sein
! Banner, ausgepflanzt auf den ewigen Hügeln der Wahrheit und
j Gerechtigkeit, soll zum Leuchlthurm werden für die unterdrückten
Kinder der Leute, welche hierherwärts kommen und für sich und
ihre Kinder und Kindeskinder eine Zufluchtsstätte und ein Erb-
theil finden, bis es keine Zeit mehr gibt!"
Außerhalb des Kongresses sind die volksthümlichen
Reden von noch ganz anderer Art. In einer Staatseon-
vention in Mississippi sprach, laut deu Zeitungsberichten,
ein Mann in solgender Weise: —
„Ich bin dort unten her ans dem Moorbruche, Sir, uud
stehe heute hier als Vertreter von Jones County. Das Volk
sagt, Jones County habe sich vom Staate Mississippi getrennt.
Ja, Sir, wir secedirten von der Conföderation, und, Sir, wir
bekämpften sie gleich Hunden. Wir schlugen sie tobt wie Teufel,
wir begruben sie wie Esel. Ja, wie Esel, Sir! Meine Leute
bort unten in Jones County secedirten kraft ihrer souveränen
Machtvollkommenheit uud wurden Moorbruchleute. Wir be-
kämpften sie, als ob sie Hunde feien und schlugen sie tobt wie
Höllenhunde; das sage ich, Sir. Ich kam aber nicht hierher,
um Gas zu machen,'Sir, und ich trete mein Aurecht auf deu
Flur ab, Sir, will aber noch das eine Gefühl äußern, daß ich
mich hier für Jones Connty im Allgemeinen erhob; ja, Sir,
ich bin allezeit für Jones Connty. In meinem Connty, das
viel gelitten hat, steigt das Wehklagen von 380 zn Wittwen
gewordenen Frauen und Kindern mit zerrisseneu Hemden empor
zum Gölte des Rechts und appellirt in Zähren zu deu bestall-
ten Gewaltet: um Unterstützung."
Bis zu dieser Höhe der Rhetorik versteigt malt sich im
Congreß nicht gerade ost, aber jener Styl hat dort auch
seines Gleichen; man bezeichnet ihn als „Puffer" (blower).
Entsetzlich viel Zeit wird mit unnützen Dingen vergeudet,
und eines der gelesensten ueuyorker Blätter sagte neulich:
„Wir hätten eine praktische Gesetzgebung nöthig und
statt dessen haben wir in den Debatten eine öde Wüstenei.
Uns thut Versöhnung und Großherzigkeit noth, und statt
derselben haben wir ein zur Schau tragen von Despotis-
mus und Nach gl er, die unter allen Umständen einer gesetz-
gebenden Versammlung unwürdig sind."
Jedes Mitglied deS Repräsentantenhauses bekommt
jährlich 2000 Dollars uud Reisegeld je nach der Meilen-
entfernung ; es hat Postfreiheit für alle seine Briefe und
die gedruckten Berichte, bekommt 25 Exemplare des„Globe"
und noch 3 Tagesblätter. Senatoren können nicht wegen
Schulden verhaftet werden.
vom Senegal nach Timluckln.
Male ausführlich gesprochen und brauchen also hier nur
anzugeben, was zum Verständniß unbedingt nöthig ist.
Im Jahr 1854 wurde von Seiten der Franzosen der
Plan entworfen, ihre Besitzungen südlich vom Senegal
uud bis an den obern Laus des Stroms auszudehnen. Um
dieselbe Zeit predigte ein Toncouleur (d. h. ein Misch-
ling von Fnlbe und Neger), der Hadsch Omar, den heiligen
Krieg. Seilt nächster Zweck war, diejenigen Länder der
Schwarzen, welche sich noch nicht zum Mohammedanismus
12
90 Mage's und Qnintins Reise
bekehrt hatten, zu unterjochen, insbesondere Kaarta und
Bambarra, selber ein Reich zu gründen und dem Vor-
dringen der Weißen eine Schranke zu setzen. Schon 1855
waren die Agenten dieses Marabnt im westlichen Senegal
umhergezogen, um alle Mohammedaner in Aufregung zu
bringen. Dann brach der Krieg aus, welcher bis 1869
dauerte. Hadsch Omar sah, daß er am Senegal den Fran-
zosen keine Provinz aberobern könne, und wandte sich dann
gegen Osten. Im Jahr 1862 war er auf einige Zeit Ge-
Bieter der Landschaften Kasso B am buk, Kaarta, des
Fulbereiches Masina, von Sego in Bambarra, und selbst
Timbuktu fiel in seine Gewalt. So hatte er ein, aller-
dings ephemeres Reich am obern Senegal und obern Niger
von etwa 20,000 Quadratmeilen Größe.
Den Franzosen am Senegal lag daran, die Lage der
Dinge im innern Sudan näher kennen zu lernen, und man
beschloß den Schiffslieutenant Mage dorthin zu senden.
Derselbe hatte schon 1861/63 eine Reise zu den Ducnsch
gemacht, einem berberischen Volk am rechten Ufer des
obern Senegal. Eben damals kam der Lieutenant Aliun
Sal, dessen Erlebnisse wir im Globus erzählt haben, von
seiner Reise (Juli 1860 bis 1862) zurück; er war bis
in die Nähe von Timbuktu gekommen.
Mage sollte sich mit Hadsch Omar in direkte Verbin-
dung setzen, als Bevollmächtigter des Gouverneurs aus-
treten uud dem mächtigen Marabnt, eventuell dessen Nach-
folger, Vorschläge zu einem Handelsvertrage machen. Er
wurde mit Geldmitteln reichlich versehen, vollständig aus-
gerüstet, wählte sich selber zehn schwarze Landsoldaten
und Matrosen (Laptots) aus und nahm ein tragbares
Boot mit. Sein europäischer Begleiter war ein Arzt,
Dr. Quintin.
Wir haben nun auch deu Text seiner Instructionen vor
uns. Mage sollte die Laudstrecke, sageu wir die Linie,
näher erforschen, durch welche die am weitesten landein
gelegenen Handelsfaktoreien (die zugleich eine Art von
Forts bilden), nämlich Bakel uud Med ine, mit dem
obern Niger in Verbindung stehen, namentlich mit
Bammaku, das schon an diesem Strome (dem Dschioli
ba) liegt. Von dort sollte er nach Bangassi, der Haupt-
stadt von Fuladugu, gehen. Es ist die Absicht der franzö-
fischen Regierung, zwischen Medine und Bammaku drei
oder vier Handelsfaktoreien anzulegen; die erste
in Basulabe, wo der Basing, d. h. der eigentliche obere
Senegal den Bakhoy aufnimmt. Von dort aus will
man den westlichen und centralen Sudan mit europäischen
Waaren versehen. Es wurde dein Reisenden freigestellt,
nach Vollzogenein Auftrage gerades Weges uach St. Louis
an der Senegalmündung zurückzugehen, oder den Niger
abwärts nach Timbuktu vorzudringen und vou dort ent-
weder durch die Wüste nach Algerien oder stromab bis an
die Mündung zu gehen und sich ans einem englischen
Packetboot einzuschiffen.
Der Reisende hatte ein amtliches Schreiben an Hadsch
Omar und blieb während der letzten Monate des Jahres
1863 am obern Senegal, um sich wieder etwas an das
Klima zu gewöhnen und die nöthigen Erkundigungen ein-
zuziehen. Ohnehin hätte er während der Regenzeit die
Wanderung nicht antreten können. Im Oktober erhielt er
eine Meldung vom Gouverneur Faidherbe, des Inhalts:
Hadsch Omar sei durch den Scheich El Bakay aus Tim-
buktu verdrängt worden und laufe Gefahr, auch das von
ihm eroberte Masina zu verlieren. Der Gouverneur
erwähnte auch, daß er a,u 4. September 1863 mit einem
Schwestersohne El Bakay's, dem Sidi Mohammed ben
Sin el Abidin ben el Scheich Sidi Mochtar ein Ueber-
vom Senegal nach Timbuktu.
einkommen wegen gegenseitigen Schutzes abgeschlossen habe.
Sidi Mochtar trat als Repräsentant des mächtigen Stam-
mes der Kuutah aus(—dieser ist rein arabischen Blntes
und hat sich von aller Vermischung mit Negern fern
gehalten —); El Bakay's Familie ist, wie wir aus Heinrich
Barths Berichten wissen, in diesem Stamme die ange-
sehenste. Sie übernahm den Schutz der Europäer, welche
in den Sudan kommen würden.
Am 24. November 1863 brachen Mage und Quiutiu
von Medine aus, besauden sich am 30. an den Wasser-
fällen von Gonine und am 10. Dezember in Bafu-
labe, das schon in dem, Hadsch Omar unterworfeneu
Gebiete lag. Dort wurden sie von den Behörden sehr gut
aufgenommen. Am 6. Januar 1864 hatten sie von
Kundian, einem festen Platz am Basing, 18Lieues süd-
lich von Bafnlabe, einen Brief nach St. Louis geschrieben,
wo inzwischen die Nachricht eingetroffen war, daß Hadsch
Omar in Hamd Allahi, der Hauptstadt von Masina, bc-
lagert worden, und nachdem man ihn gefangen genommen,
getödtet worden sei. Es ließ sich voraussehen, daß nun
in dem rasch zusammen eroberten Reiche große Verwirrung
nicht ausbleiben werde, aber man glaubte annehmen zu
können, daß Hadsch Omars Nachfolger, von ihren Feinden
hart bedrängt, einen französischen Bevollmächtigten gut
aufnehmen würden, um die Zahl ihrer Gegner nicht noch
zu vermehren.
Hadsch Omars Tod wurde von seinen Heerführern und
Häuptlingen geheim gehalten, und das Volk glaubte uoch
nicht an fein Ableben.
An: Ende Aprils 1864 meldete der Commaudaut vou
Bakel nach St. Louis, daß dort zwei Toucouleurs aus
Sego eingetroffen seien. Sie berichteten, Mage und
Quintin seien am 28. Februar 1864 in dieser Stadt ange-
langt und von Ahmedu, eiuem Sohne Hadsch Omars,
der König von Sego geworden ist, gut aufgenommen wor-
deu. Im Juni trafen Briefschaften von den Reisenden
selbst ein, datirt Sego (oder Segu) 23. April 1864, und
sie bestätigten die Angabe der beiden Toucouleurs. Mage
schrieb, er habe den Weg über Bangassi in Fuladugu
nicht nehmen können, weil es in dieser Provinz sehr unruhig
hergehe; deshalb sei er gezwungen gewesen, nach Norden
hin abzubiegen und über Diangunte zu gehen; von
dort aus gelangte er am 22. Februar uach Nyamina am
Niger und am 23. nach Sego. Dort versprach Ahmedu
ihn demnächst nach Hamd Allahi (Hamdu Allah) abreisen
zu lassen, „wo Hadsch Omar verweile". Man wußte aber
iit Sego allgemein, daß schon seit drei Vierteljahren, seit
der Mitte 1863, die Verbindung mit Masina unterbrochen
war. Schon gegen Ende des Jahres 1862 war ein Heer,
welches Ahmedu seinem Vater zu Hilfe geschickt hatte, auf
dem Wege dorthin völlig aufs Haupt geschlagen worden.
Im August 1864 ging Gouverneur Faidherbe selber
uach Medine, konnte aber dort keine näheren Nachrichten
über deu Stand der Dinge in Sego erhalten. Er traf
dort Häuptlinge aus Bambarra, welche früher Herren in
Kaarta gewesen waren, mit den Uled Embarek-Mauren
im Bunde standen und eben jetzt im Kriege mit solchen
Häuptlingen waren, welche Hadsch Omars Partei ergriffen
hatten. Jene Bambarrahäuptlinge waren den Franzosen
freundlich, weil sie früher während ihres Kampfes gegen
Hadsch Omar von denselben manche Begünstiguugen er-
fahren hatten.
Am 28. Oktober 1864 trafen in Bakel zwei Leute aus
dem Gefolge Mage's ein, Sidi und Bakary; der letztere
war ein Vertrauensmann des Reisenden und brachte eine
Fr. Dentler: !
Vockshaut, in welcher sich Briefe befanden. Faliu, Com-
Mandant von Bakel, rieth ihm, diese Bockshaut sofort aus
der Post zu depouireu; Bakary erklärte jedoch, er habe
strengen Befehl von Mage, dieselbe dem General Faidherbe
persönlich zu überreichen und nahm sie mit sich in das
Haus, in welchem er Unterkommen gefunden. Am an-
dern Morgen war sie verschwunden und hat auch
nicht wieder aufgefiluden werden können. Das ist ein
empfindlicher Verlust, weil die Briefe ohne Zweifel um-
fassende Nachrichten über den Stand der Dinge am obern
Niger enthielten.
Jene zwei Boten gingen dann nach St. Louis und
statteten dem Gouverneur mündlichen Bericht ab. Mage,
so erzählten sie, wäre sehr ungeduldig geworden itnb wolle
Sego verlassen. Er habe dem Ahmadu erklärt, daß er
wohl oder übel am andern Tage weiter reisen wolle und
habe auch schou seiu Gepäck in Bereitschaft. Der König
aber ließ die Thore der Stadt schließen und erklärte: „Du
bist vom Gouverneur beauftragt worden, meinen Vater zu
sehen; jener würde auf Dich und auf mich böse werden,
wenn Du fortgingst, ohne seinem Willen nachzukommen."
Faidherbe schickte die beiden Leute zurück mit einem
Brief an den König von Sego. Er schrieb demselben, daß
er fctite beiden Bevollmächtigten heimkehren lassen möge;
man werde andere schicken, um den Vertrag abzuschließen.
Mit dem Briese gingen anch Geschenke ab, und Ahmedn
erhielt auch das Versprechen, man wolle den Leuten des
Königs, welche die Reisenden wohlbehalten auf franzö-
sifches Gebiet brachten, eine lange Kanone geben; ver-
mittelst derselben könne der König dann Sansanding
(eine Stadt am Niger, unterhalb Sego, noch in Bambarra,
aber unweit der Grenze von Masina) erobern. Ahmedn
belagerte dasselbe seit längerer Zeit vergeblich. Die
Boten nahmen auch allerlei Sachen für die Reisenden mit,
namentlich Arzneien, denn Quintin hatte in Sego eine
große Praxis.
Das waren die letzten direkten Nachrichten.
Gegen Ende Dezembers 1864 ging Andr6, Unterliente-
nant bei den senegambischen Scharfschützen in Medine,
nach Kuniakari iu Kaarta und fand dort eine gute
Die Halbi
Von Friedi
Von der blauen Flnt der Ostsee unirahmt hebt sich au
der Nordküste Westpreußens eine fünf Meilen lange Land-
zunge empor, deren Form und Gestalt wohl wenigen Lesern
dieses Blattes bekannt sein mag. Diese abgeschlossene
Scholle deutscher Erde besitzt viele Eigenthümlichkeiten; fast
könnte man sie einen eigenen Kulturbezirk nennen, welcher
fast gar nicht mit der Außenwelt in Berührung tritt und
feine primitive Form hinsichtlich der Sitten und Gebräuche
beibehielt. Keulenförmig erstreckt sich diese Landzunge —
Halbinsel Hela genannt — von Nordwest nach Südost und
ist an ihrem Anheftepunkt kaum eiue achtel, au ihrem End-
Punkt eine halbe Meile breit. Der durch sie gebildete
Meerbusen heißt Putziger Wyck.
Läugs dem Ostseestrande zieht sich ein vom Festland
ie Halbinsel Hela. 91
Aufnahme. Der Militärhäuptling der Provinz, Terno
Mnfa, war eben ans Sego angekommen; dort habe er die
beiden Weißen in bester Gesundheit verlassen. In Bezug
anf Hadfch Omar wollte er glauben machen, derselbe sei
nicht todt, sondern „an einem Orte, dessen Namen Keiner
kenne"!
Am 25. Januar 1865 unternahmen Perraud,
Lieutenant bei den Spahis, und der Marinewundarzt
Beliard gleichfalls von Medine ans einen Ausflug
nach Kaarta und kamen ain 10. Februar nach dessen
Hauptstadt Nioro. Dort befehligte im Namen Hadsch
Omars der Häuptling Mustapha. Sie wurden gut auf-
genommen, sahen sich aber unangenehm überrascht, als sie
in Nioro die beideu Boten Sidi und Bakary antrafen.
Diese konnten nicht weiter, weil die Straßen zwischen
Nioro und Sego von den Bambarras und Uled Embarek
verlegt waren. Nun wollten Perrand und Beliard selber
nach Sego gehen, aber davon mochte Mustapha uichts
hören, weil das rein unmöglich sei, wenn man nicht eine
ganze Armee habe, und über eine solche verfüge er gegen-
wärtig nicht. Perraud mußte also unverrichteter Dinge
nach Medine zurückgehen. (— Inzwischen melden Nach-
richten vom Senegal, Januar 1866, daß jene beiden Boten
bis in die Nähe von Sego gekommen seien. Dort habe
ein Mann sie getroffen, welcher aus dem Innern her in
Bakel augekommeu war. —)
Seit März 1865 hat man in St. Louis am Senegal
keine direkten Nachrichten mehr aus Sego. Im Oktober
1865 kamen übrigens Schwarze von dort, durch Fula-
dugu, nach den französischen Handelsposten; sie erzählten,
Mage habe, allein und an einer Dysenterie leidend,
Sego mit dem König Ahmadu verlassen; man wisse aber
nicht, wohin er gegangen sei. Andere Schwarze haben
ausgesagt, er sei iu guter Gesundheit iu der Nähe von
Timbnktu gesehen worden. Gelangte er dorthin, so traf
er den Scheich el Bakay nicht mehr ain Leben. Wir wissen
durch Gerhard Rohlfs, von Ghadames aus, daß der ehr-
würdige Manu auf einer Erpedition von Timbuktu nach
Hamd Allahi gestorben ist, in demselben Jahre, in welchem
auch sein Freund Heinrich Barth die Augen schloß.
n f t l H c l ,1.
ch Dentler.
ausgehender Dünengürtel daher, welcher, einen riesigen
Meerdeich bildend, Schutz vor deu furchtbaren Sturmfluten
gewährt, welche häufig die Landzunge zu durchbrechen
drohen und wirklich in früheren Jahren, als die Dünen
noch nicht mit Elymus avenarins (Sandrohr, Sandhafer)
und Arnndo avenaria bepflanzt und befestigt waren, Durch-
brüche verursachten, deren (20 bis 30 an der Zahl) Oeff-
nungen bereits aufwehender Treibsand zuschüttete.
Die Spitze Hela's flacht sich allmälig ab und endet
mit einer in der Ostsee verschwindenden Sandbank, welche
nur bei niedrigem Wasserstande sichtbar wird.
Nackt und öde, mit Juniperus und Kieferngestrüpp
bewachsen, beginnt die Laudzuuge an ihrem Anheftepunkte
mit der Dorsschaft Großendorf, die ihren Namen führt,
12*
92 Aus allen
weil sie sich so sehr lang hinstreckt. Sie besteht, ebenso wie
das nächste Dors Kathen sCeynowa), ans elenden, arm-
lichen Fischerhütten.
Kußfeld, Putziger- und Dctuziger-Heisternest
— letzteres ein Kirchdorf und wegen seiner nicht vor zu
langer Zeit experimentirteu Hexenproben bekannt —
folgen auf Ceynowa. Hinter Danziger-Heisternest beginnt
ein, sich bis ans Ende der Landzunge erstreckender Kiefern-
Wald, der vor Hela, einer Stadt, der kleinsten Stadt
im preußischen Staat, die Breite einer viertel Meile ein-
nimmt.
Vor Hela stand früher Alt-Hela, ein nicht uubedeu-
tender Ort, welchen eine furchtbare Sturmflut zerstörte.
Einzelne Fischerhütten und die Trümmer und Schutthaufen
einer zerfallenen Kirche bilden seine Ueberreste. Die Ein-
wohner Alt-Hela's flohen nach der Spitze der Landzunge
und erbauten hier auf einer höher gelegenen Stelle die neue
Stadt Hela.
Diese zählt 300 Seeleu; sie liegt, wie eben mitge-
theilt, auf einem natürlichen Erddamm, nach dem Putziger
Wyck, also nach dem Festlande gekehrt und besteht aus
etwa 60 Häusern, welche in zwei Reihen stehen und nur
eine Straße bildeu. Sie sind winzig klein, mit Pfannen
gedeckt und weiß übertüncht, besitzen einen Flur und zwei
kleine Zimmer. Das Vorder- oder „Pntzzimmer" liegt
nach der Straße, das Arbeitszimmer nach der Hinterseite
gekehrt. Im ersten paart sich Sauberkeit mit Aermlichkeit;
im Arbeitszimmer, dem gewöhnlichen Aufenthalt der
Familie, werden die Fischernetze ausgebessert, Stränge
gedreht und überhaupt die häuslichen Geschäfte verrichtet.
Beim Eingange in diese „Stadt" fällt unser Blick
auf die Kirche und das Pfarrhaus, vor welchem ein kleiner
Garten sich befindet. Diese Kirche war früher eine Kapelle;
die Hauptkirche stand in Alt-Hela, durch einen Anbau
erhielt sie die jetzige Größe. Die Pfarrstelle gilt für eine
Art von Exil; und iu der That hat der Pfarrer kein
beueidenswerthes Loos. An der Spitze der Stadtver-
fassung steht ein „Vogt", dessen Wille und Gebot viel
gelten.
Von den Sitten und Gebräuchen dieser Stadt, welche
mit der übrigen Welt kaum in Verbindung steht, ist eine
Eigentümlichkeit hervorzuheben, die sich auf die Hochzeiten
und ihre Vorbereitungen bezieht.
Sonntag Nachmittags vor der Hochzeit besuchen die
Brautleute den Herrn Pfarrer zum Kaffee, und nach ihm
alle diejenigen, welche zum Feste eingeladen werden sollen,
Erdtheilen,
mit anderen Worten: die Brautleute selbst bitten sich ihre
Gäste zusammen.
Hinter Hela liegt bis zum Wald eine Mulde, wo die
Stadtbewohner ihre Gärten haben, in welchen sie Gemüse
und Kartoffeln bauen. Zu den Hauptereignissen gehören
Schiffsstrandnngen zur Herbst- und Frühjahrszeit.
Sobald ein Fahrzeug iu Sicht ist, das aus deu Strand 31t
laufen droht, eilt Jung und Alt an die Küste, um bestmög-
lichst Hilfe zu leisten. Dann wird aus einem dazu eigens
coustruirteu Geschütze eine Kugel, woran ein Strick befind-
lich, auf das Schiff geschossen. Gelingt dieses, dann wird
der Strick befestigt und an demselben klettert das Schiffs-
Volk ans Land, oder setzt ein Boot in die See und benutzt
den Strick wie bei einer Fähre als Leitseil, um au die Küste
zu gelangen. — Die Helenser sehen eine Strandnng nicht
ungern, denn sie führt ihnen werthvolle Sachen zu: Talg,
Holz, Seife, Spiritus und viele andere Gegenstände, die
sich nützlich verwenden lassen.
Eine viertel Meile hinter Hela steht von dunklem
Waldesgrün umgeben der Leuchtthurm. Allnächtlich
strahlt sein Feuer hinaus aus das Meer, um den Schiffen
den Weg in den Danziger Hafen, Neufahrwasser,
zu weisen. Früher befand sich das Leuchtfeuer auf dem
helaer Kirchthurm, und jene Kirche hat sich durch die daraus
fließenden Einkünfte ein nicht unbeträchtliches Vermögen
erworben.
Während die Stadt Hela protestantisch und
„deutsch" ist, beginnt mit Heisternest das polnisch
slavische Element hervorzutreten, welches den Katholieis-
mus repräsentirt. Dort herrscht Sauberkeit und Reinlich-
keit, hier Völlerei, Trunksucht und Schmutz. Unter diesen
beiden Nationalitäten ist kein Verkehr, kein Umgang — die
Leute kennen sich nicht.
Sämmtliche Bewohner der Landzunge leben von
Fischerei. Der Fang auf Lachs, Dorsch, Stöhr und Flunder
ist bedeutend; von ihm hängt die ganze Existenz der
Helenser ab.
Die Trachten dieser Landzungenbewohner haben längst
ihren ursprünglichen Typus eingebüßt und beschränken sich
jetzt auf Folgendes: Mädchen tragen ihr freies Haar,
Frauen eine weiße Strichmütze, und alte Frauen wickeln
um diese weiße Mütze ein schwarzseidenes Tuch, welches
aus deu Scheitelbeinen zugeknotet wird. Die Männer
kleiden sich in Schifsertracht und in weite Leinwandhosen;
die Kopsbekleiduug besteht aus dein bekannten Südwester.
Aus allen Erdtheilen.
Nähere Nachrichten über den Ausgang der Expedition
von der Deckens.
Allmälig laufen Berichte ein, welche nähere Mitthcilnngen
über das tragische Ende nnsres milchigen Landsmannes bringen.
Neber den Ausgang der Expedition selbst ist kein Zweifel mehr;
über manche einzelne Umstände lauten die Angaben nicht immer
zutreffend;' das erklärt sich aber aus der geringer« Intelligenz
der schwarzen Begleiter des Barons. Beim Hamburger Senat
ist der Bericht des Consulatsverwesers in Sansibar, Herrn
T h e 0 d 0 r S ch u l tz, eingetroffen und veröffentlicht worden. Der
Inhalt ist folgender:
„Im Verfolg meines Schreibens vom 30. Oktober habe ich
i mit Bedauern die traurige Nachricht von dem Tode des Barons
Karl Klans von der Decken und der Auflösung der ostafrikani-
scheu Erpedition zu melden. Herr von Schickh ist inzwischen
vom Norden zurückgekehrt, und auch der englische Kriegsdampfer
„Vigilant", Commandeur Latham, welcher sofort nach Ankunft
zur möglichen Rettung des Barons und des ihn begleitenden
0r. Linck nach Brava geeilt war, hat auf hier zurückkommen
müssen, ohne Weiteres zu erreichen als die Constatirnng ihres
Schicksals
„Bon deu Eingebornen, welche die Expedition theils als
Diener, theils für den Schiffsdienst au Bord des „Wels" enga-
Aus allen Erdtheilen.
93
ßirt, begleiteten, sind inzwischen 12 hier eingetroffen. Ich habe
chre Aussagen zu Protokoll genommen, sobald sie den Fuß in
Samidar ans Land setzten, um zu verhindern, daß ihr Zeugniß
durch andere Personen beeinflußt würde. Inwieweit demselben
Glauben zu schenken ist, zeigen die Widersprüche, welche sich in
den Aussagen wiederholen. Alle sind Neger, die keinen Unter-
Ichied zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu machen wissen,
und die nur zu leichl das, was sie selbst gesehen, mit dem Ge-
hörten verwechseln.
„Auf den Wunsch des Herrn von Schickt) wandte ich mich
an Se. Höh. den Sultan, um durch dielen ein weiteres Ve>hör
veranstalten zu lassen nnd die durch Widersprüche sich selbst
verdächtig Machenden zu bestrafen. Diesis Verhör ist noch nicht
beender, und ich werde nicht verfehlen, das Resultat mitzntheilen.
Said-Madschio hat sofort die nöthigen Schritte gethan, um das
Eigenthum der Erpedition, welches innerhalb semer Besitzungen
am Fe»land zum Vorschein kommen möchte, auf hierzu bringen,
nnd um die Papiere, namentlich das Tagebuch, welches der
Baron von der Decken bei sich führte, zu retten. Hoffentlich
wird _ es den Bemühungen Sr. Höh. gelingen, des Somalen
Abdio Bu-Abdenor habhaft zn werden, um anszusinden,
ob sich derselbe des Venraths am Baron nnd seinen Begleitern
schuldig gemacht hat, oder durch Furcht vor den Berdcra-Leuten
zurückgehalten und nicht im Stande gewesen, dieselben zu retten.
Herr von Schickh und die überlebenden Mitglieder der Erpe-
dition werden mit nächster Gelegenheit nach dort (Europa) zu
rnckkehren.
„Die erste Zeugenaussage vom 33. November d865 ist die
des Mabrok vom Stamme Miau, welcher bereits die Speke-
sche Erpediiion nach dem Nil begleitet hatte und vom Baron
von der Decken für seine Expedition mit 3 Thlr. per Monat
engagirt worden war. Die Aussage lautet: „Als der Baron
das Lager nnd den Dampfer am Jnbafluß verließ, nahm er
mich mit zum Rndern, sowie Soliman, Mbarnko nnd Ahmed.
Anßer dem Baron gingen ins Boot der Arzt (vi-. Linck), der
Somali Abdio, Baraka, ein freier Mann nnd Kero, der Sklave
eines Somali (Anwes). Wir gingen früh Morgens fort, des
Tags erinnere ich mich nicht, nnd kamen Mittags in Berdcra
an. Alles ging ans Land. Mbarnko blieb beim Boot, bis
Abdio ihn abrief. Darauf wurde das Boot nach dem gegen-
überliegenden Ufer geschafft. Der Baron sandte mich ans, um das
Boot zu suche», doch fand ich es nicht. Unterwegs machte eine
Frau mir Zeichen, daß man uns den Hals abschneiden wolle.
Ich warnte den Baron, doch sagte mir dieser, ich solle nicht
bange sein. Auch die folgenden Tage gingen wir ungehindert
in Berdcra spazieren. Wir konnten nicht" verstehen, was die
Somali mit einander sprachen. Mbarnkn nnd Ahmed waren
im Hans, wo der Baron übernachtete, um anf die Thür zn
Passen, als der Baron von Abdio abgerufen wurde, um Schauri
(Unterredung) zu halten. Abdio überredete Baraka und Ahmed
ebenfalls fortzugehen, da Niemand etwas stehlen würde. Als
auch diese fortgingen, wurden die Gewehre aus dem Hause
geholt. Als der Baron zurückkam, erkundigte er sich, wo die
Gewehre geblieben. Wir erklärten ihm, daß Abdio an Allem
schuld sei/ Der Baron forderte seine Gewehre zurück, doch hielt
man ihn mit Versprechungen hin. Mittags trafen Hanns, Paul
Meyer (ein freier Neger), Mbarnk Charles, Juma mit Hamadi
in Berdcra ein und erzählten von dem Gefecht beim Dampfer
im Jnbaflnß, und daß zwei Europäer getödtet seien. Der Baron
bat aufs neue um seine Gewehre. Die Somali willigten schein-
bar ein, die Gewehre wieder zu bringen. Die Gewehre wurden
geholt, aber im Augenblick, als der Baron sich bückte, um sein
Gewehr aufzunehmen, stürzten Somali auf ihn zn nnd banden
ihm die Häude anf den Rücken. Der Doctor wurde nicht ge-
bnnden, aber festgehalten. Mich und die anderen Begleiter des
Barons überwältigte man ebenfalls. Abdio lief fort, als man
den Baron festband. Man hielt nns in der Hütte, doch konnte
ich sehen, daß man den Baron nnd den Arzt nach dem Fluß
führte nnd dort erstach. Den Baron stach man zweimal
in die Brust, den Arzt einmal. Beide starben sofort.
Ich sah, wie man die Leichname in den Flnß warf,
nnd daß der Strom sie fort trieb. Abdio war rncht da-
bei, als dieses geschah. Die Mörder waren Somali, aber
keine Chefs von Berdcra. Das Geld nnd Alles, was der Baron
bei sich führte, wurde ihm weggenommen, nachdem er erstochen
war. Nur ein Hemd ließ man dem Leichnam. Man wollte uns als
Sklaven behalten, doch bestimmte der Chef, dessen Namens ich
mich nicht erinnere, man solle sich mit den Sachen der Europäer
begnügen und uns die Freiheit geben; Abdio bekam einen Theil
von dem Geld, welches vertheilt wurde. Mit Abdio, drei So-
malis und dem Seliman, Hanns, Jnma, Ahmed, Hamadi,
Baraka, Salemini, Barnko, Mbarnk Charles nnd Meyer ging
ich nach Brava. Später trafen auch Gering nnd Feretji dort
ein. Ich blieb ungefähr zehn Tage in Brava bei Addio nnd
mußte Arbeiten wie ein Sklave verrichten. Mbarnk Charles
und Paul Meyer nahm Addio ebenfalls zu jich. Ich fand
einen Nakoda ^Capitän), der mich ans Gntmülhigkeit mit an
Bord nahm uno nach Lamo brachte. Dort fand ich Capitän
von Schickh, wir liefen Mombas an nnd kamen henke so eben
hier an"
„Die zweite Zeugenaussage ist die des freien Negers Paul
Meyer; derselbe bestätigte zunächst die heimliche Wegnahme der
Gewehre nnd sagte dann ferner aus: „Der Baron forderte
seine Gewehre wieder. Die Somali brachten dieselben und stellten
sie gegen die Wand. Der Baron lag auf der Kitanda (Bett),
als die Somali ihn ergriffen nnd die Hände auf den Rücken
banden. Der Doctor war nicht dabei (vgl. oben). Wir Anderen
waren beim Hans, konnten aber keine Hilfe bringen, da zu viele
Somali anwesend waren. Man brachte den Baron nach dem
Flußufer und erstach ihn. Ich sah später seine blutigen Bein-
kleidet nnd den Speer, womit man ihn erstochen. Ich hörte,
daß man ihm den Finger abschnitt, nm seinen Ring zn bekommen,
auch nahm man die silberne Pfeife nnd Kette fort." Zwei Tage
später ist dann Dr. Linck ermordet worden; Zeuge hat zwar
nicht gesehen, wie sie ihn todtstachen, hat aber seinen Leichnam
durch die Straßen tragen gesehen nnd gehört, daß er in den
Fluß geworfen worden sei."
Das Cameronesgebirge in Westafrika ist bekanntlich vor
vier Jahren von Richard Burton erstiegen nnd in einem
sehr lehrreichen Werke ausführlich beschrieben worden. Dadurch
hat sich Professor Mi lue veranlaßt gefunden, dieses äquatoriale
westafrikanische Gebirge nnn ancd in Bezng auf die botanischen
Verhältnisse genau zu erforschen. Er hat im Januar feine
Expedition begonnen, und dieselbe wird ohneZweifel der Wissen-
schaft reiche Früchte eintragen.
Die augeblichen Quellen des Oxns. Vor längerer Zeit
veröffentlichte der sehr verdienstvolle steifende Weninkosf die
Denkschrift eines Ungenannten „über das Hochplateau von Pamir
nnd die Quellen des Orns in Centraiasien". Rawlinson
hat nun dieselbe einer genauen Prüfung unterworfen und am
26. März in der londoner geographischen Gesellschaft die Ergeb-
nissc mitgetheilt. Man glaubte in Rußland, daß die Angaben
des Ungenannten richtig nnd zuverlässig feien; die amtlichen
russischen Karten nnd dann auch Kiepert in Berlin und Stan-
ford in London benützten dieselben. Nnn hat sich aber heraus-
gestellt, daß jene Angaben erfunden sind und gar keine Glaub-
Würdigkeit verdienen. Anonymus fchildcrt einen thätigen oitl-
feilt, der nördlich von Srinaggar liege; nun ist aber jene
Gegend von den Engländern genau durchforscht worden nnd
»on einem feuerspeienden Berge auch keine Spur vorhanden.
Der Ungenannte will die Reise zwischen Srinaggar und dem
Indus, 120 Miles, in 2 Tagen, und jene vom Jndns bis
Kaschgar in 25 Tagen gemacht haben. Das ist einfach ein Ding
der Unmöglichkeit. Er will mit einem englischen Offizier,
Hervey, zusammengetroffen sein, nnd ein solcher fehlt in der
Liste der ostindischen Compagnie. In Kaschgar will er Armenier
gefunden haben, nnd man weiß, daß dergleichen dort nicht vor-
Händen sind. Er gibt für manche Punkte Längen- nnd Breiten-
angaben ohne jeden weiteren Nachweis über seine Jnstrn-
mente ?c. Er erwähnt nicht des Grnnzochsen (Uak) nnd eben
so wenig der wilden Ziegen, will aber wilde Kaninchen von
schwarzer Farbe gesehen haben, die überhaupt nicht eristiren;
endlich will er durch die schwierigsten Gebirgsgegenden auf
Kameelen gereist sein. Das Ganze'stellt sich als ein Humbug
heraus.
Das böse Klima in Hongkong. Diese Insel hat aller-
dings eine sehr vortheilhafte Handelslage nnd die Engländer
legen Werth auf sie, weil sie von ibr aiis einen nicht geringen
Theil der südchinesischen Küste auch militärisch eontroliren können.
Aber das Klima ist ungesund nnd hat namentlich viele Sol-
baten hmweggerasst. Es kann allerdings auffallend erscheinen,
daß die „praktischen" Engländer in den Colonien nicht selten
frevelhaft widersinnig in Bezug auf Leben und Gesundheit
ihrer Soldaten verfahren. Wir wollen nur an den Krieg in
Afchanti an der afrikanischen Westküste erinnern, über den wir
seiner Zeit ausführlich gesprochen haben. Den Truppen in
Hongkong gegenüber benimmt sich die londoner Regierung eben
so strafbar. 'Dort standen zn Anfang 1861 in der Garnison
94 Aus allen
1204 europäische Soldaten, welche schwer von Krankheit heim-
gesucht wurden. Die Stabsoffiziere und Aerzte machten schon
im vorigen Jahre dringende Vorstellungen und baten um Er-
laubuiß,' die Leute in ordentlichen Kasernen unterbringen zu
dürfen, sie den mörderischen Einflüssen der Malaria zu ent-
ziehen und den schweren Dienst in solchen Umgebungen durch
asiatische Truppen verrichten zu lassen, welche an dasKlima besser
gewohnt seien. In London blieb man taub, man schickte ein
Bataillon aus dem gesunden Caplande nach Hongkong, wo es
im Mai, also in der ungesundesten Jahreszeit eintraf, uud ohne
daß die dringend anemvfohlenen Vorkehrungen getroffen worden
wären. Die'Zahl der Ankömmlinge betrug 2079 Köpfe, und
sie mußten sofort angestrengten Dienst verrichten. Die Cholera
war da, die Leute mußten in ungesunden Räumen schlafen, und
nach einigen Monaten waren 4 Offiziere gestorben und 5 inva-
lide geworden; von den Soldaten 95 todt und 292 invalide;
von den Frauen 9 todt und 39 invalide; dazu starben 88 Kinder
und 38 waren invalid. In Summa: je der vierte Mensch war
gestorben oder schwer krank.
Dampfschifffahrt im Stillen Ocean. Die Panama,
New Zealand ano Australian Royal Mail Company wird
iit der"Mitte des Jahres 1366 ihre Fahrten beginnen; dieselben
stehen mit deu Royal Westindia Mail Dampfern in Verbin-
dung; einer dieser letzteren geht am 2. Juni von Sonthampton
ab und bringt die Passagiere nach Aspinwall. Von dort wer-
den sie über die Jsthmnsbahn nach Panama befördert und
besteigen hier den paciftschen Dampfer. Die Fahrkosten von
Sonthampton nach Australien betragen 105 Pfd. St, für erste
nnd 65 Pfd. St. für zweite Kajüte.'
' Australische Notizen. — Die Entdeckung edler Me-
teilte nimmt ihren Fortgang. Man hat nun anch inTas-
manien (Vandiemens laud) Gold gefunden. Ein Herr
Cor fand dasselbe im Oktober 1864 am Piper River in den
sogenannten Dan-Ranges, nnd bald nachher ein zweites gold-
haltiges Quarzriff im 'Bette des Piper selbst. — Ju einem
Alluvialschachte bei Woods Point, Victoria, ist ein Gold-
klumpen von 60 Unzen Schwere zn Tage gefördert worden.
Im Rapid-Bay-Distrikte, Südaustralien, hat man Silber-
und Bleiadern entdeckt.
Der Victoria ström im australischen Nordterritorium
(das einen Zubehör Südaustraliens bildet) sollte, deu Angaben
der Entdecker nnd mancher Hirten zufolge, sehr bequem für die
Schifffahrt sein. Jetzt ist er näher untersucht worden und es
stellt sich heraus, daß er für größere Fahrzeuge praktikabel erst
dann fein'werde, wenn man auf Stromarbeiten etwa 100,000
Pfd. Sterl. verwandt habe. Am obern Adelaidefluß will
man gutes Land mit fließendem Wasser gesunden haben. Die
Küstenstrecke vom Carpeutariabusen bis zum Victoriaflusse ist
jetzt näher untersucht worden.
Einnahmen der Colonien in Australien 1865.
Der materielle Fortschritt im „fünften Welttheile" läßt Nichts
zn wünschen übrig. Die Einnahmen von Victoria betrugen
2,933,192 Pfd. Sterl.; jeue von Südaustralien 1,089,247,
was eine Mehreinnahme von 313,410 Pfd. Sterl. über das
Vorjahr ergab. Diese Colonie erportirte für 2,754,657 Pfd.
Sterl., was anf den Kopf nicht weniger als 17 Pfd. 11 Schill,
und 7 Peuce ausmacht; die iu der Colonie zum Verbrauch ge-
langten Einfuhrwaaren stellten sich anf 2,252,407 Pfd. Sterl.,
also einen außerordentlich hohen Betrag, wenn man in Anschlag
bringt, daß die Gesammtbevölkeruug nur 156,704 Seelen be-
trug. Im Laufe des Jahres war sie um 9363 Köpfe gestiegen.
— In Queensland betrugen die Einnahmen 631,432 Pfd.
Sterl. gegen 502,456 Pfd. Sterl. im Jahre 1861. —In Neu-
südwales stellten sich die Ausgaben aitf 1,738,693 Pfd.
Sterl. und sie wurden völlig durch die Einnahmen gedeckt.
Ein Kängeruh als Treibkraft. Einem Gärtner bei
Portland in der Colonie Victoria ist es gelungen, ein Kängc-
ruh, das er wild eingefangen, derart abzurichten, daß es ein
Mühlrad mit einer halben Pferdekraft treibt. Er hat in sinn-
reicher Weise eine eigene Art von Tretmühle ersonnen, in wel-
cher das fleißige Thier sich seinen Schweif nicht beschädigen
kann. Dasselbe erspart ihm mehre Arbeiter, denn es treibt
einen Mühlstein, schneidet Rüben uud Stroh, uud setzt auch
eine Waschmaschine in Bewegung, — Alles zu gleicher Zeit.
Außerdem arbeitet es dann nnd wann ait einem Brunnen und
bewässert den Garten.
Erdth eilen.
Der Versuch, Lachse und Forellen in Neusüdwales ein-
zubürgern, kann jetzt, Nachrichten aus Melbourne vom Jannar
zufolge, als gelungen betrachtet werden.
Notizen aus Brasilien. — Im Hafen Rio Grande
sind 186i) eingelaufen 284 Fahrzeuge aus fremden Län-
deru; ihre Tragfähigkeit betrug 51,043 Tonnen; auf die
Küstenschiffahrt kommen gleichfalls 284 Schiffe mit 63,282
Tonnen; zusammen 568 Schiffe mit 114,325 Tonnen. Aus-
gelaufen sind nach überseeischen Häfen 274 Schisse mit
56,293 Tonnen; nach anderen brasilianischen Häfen 289 Schiffe
mit 66,250 Tonnen; im Ganzen 563 Schiffe mit 122,543
Tonnen. — Die deutsche Schifffahrt war bei den einge-
laufenen Schiffen mit 48 Fahrzeugen betheiligt; davon waren
Oesterreicher 4, Hamburger 3, Hannoveraner 29, Oldenbur-
ger 2, Preußen 10. — Unter den Ausfuhren befanden sich
1,840,071 Arroben Xarque (getrocknetes Rindfleisch). Man
will in der schönen Provinz Rio Grande do Snl, die so reich
ait Hornvieh ist, die Fabrikation von Lieb ig s Fleisch-
extract betreiben, und die erste Anstalt wird wohl nach dem
Muster jener von Fray Bentos in Uruguay, iu oder bei der
Stadt Pelotas iu Betrieb gesetzt werden.
Die Erforschung des Flnßsysteins in der Provinz
Minas durch zwei Nordamerikaner, welche zur Erpedition
des Professors Agassi; gehören, hat sehr gnte Resilltate gehabt.
Sie wandten ihre Aufmerksamkeit den Flüssen zu, welche die
Serra do mar durchschneiden, nnd insbesondere dem sehr wich-
tigen Rio Doce, und der gauzeu Küsteuregiou von 50 Leguas
Länge, von der Mündung des Flusses bis zu jener des Rio
Pardo. Den Mittelpunkt dieser Gegeud bildet der Haseu von
Caravellas, der iu einer weit ius Land schneidenden Bay
liegt uud Schiffe von 10 Fnß Tiefgang aufnehmen kann.
Diesem Binnenhafen schließt sich als Außenhafen der Abrolhos-
Kanal an; jener erstere steht durch eine fahrbare, tiefe Wasser-
straße mit dem Golfe von Viyosa in Verbindung, und der-
selbe wird schon seit längerer Zeit von Postdampferu befahren.
Von Vi?osa fahren dieselben 14 Leguas deu Peruipe hin-
auf und holen den Kaffee der Colonie Leopoldina, der nach Rio
und nach Bahia exportirt wird. — Ein Nebenfluß des
Peruipe, der Paulo Alto, steht in Verbindung mit dem
Mncurysinho und mithin mit dem Mucury und kann der
Dampfschifffahrt zugäuglich gemacht.werden. Andererseits kann
der Mucury durch Vermittlung des Flüßchens Rendeira mit
dem Jtaunas verbunden werden, der sich in der Nähe von
San Mathens in den Ocean ergießt und 5 Legnas weit für
große Schiffe zugänglich ist (bis zum Arraial de Jtaunas).
Jtaunas steht mit San Mathens durch eiueu vor einiger
Zeit eröffneten Kanal in Verbindnng. Sobald man erst anf
dem Flusse San Matheus ist, kann man von dort den Rio
Preto hinaufschiffen, der ein südlicher Nebenfluß desselben ist,
wie er, entspringend in der Lagoa Secca, sich in den San
Matheus ergießt. Dieser See „Lago Secca" kann durch Ver-
besseruug eines bereits vorhandenen Kanals in direkte Verbin-
dnng mit dem Rio Doce gesetzt werden. —
Hierans geht hervor, daß jene Gegenden eines der wich-
tigsten hydrographischen Systeme der Küste aufweisen, denn mit
Hülfe einiger leicht zu eröffnenden Kanäle kann der Rio
Doce von E s c a d i n h a s abwärts bis z n seiner M ü n -
dnng nnd zum Rio Preto in seiner ganzen Aus-
dehnnng bis zur Mündung in den San Matheus
beschifft werdeu; der Sau Matheus vou den Stromschnellen
ab bis zum Jtaunas; sodann der Jtatmas bis zum Mucury
(vermittelst des Rendeira); hiernach der Mucury von Santa
Clara vermittelst des Mucurystnho bis zum Peruipe; und
endlich der Peruipe vou der Colonie Leopoldina von Vi?oza
an bis Caravellas, wo der Dienst heute bereits vou Dampfern
besorgt wird. Im Norden von Caravellas ist es ebenfalls leicht,
den Rio Caravellas mit dem Rio Alcoba?a in der Provinz
Bahia durch eiueu Kanal zn verbinden.
Die Untersuchung dieser an Wasserstraßen so äußerst rei-
cheu Gegend dnrch Sie amerikanischen Reisenden wird jeden-
falls die_ Aufmerksamkeit der Regieruug uud der Nordamerika-
nischen Einwanderung auf dieselbe lenken, und bald werden dort
Flußdampfer sich kreuzen nnd den Verkehr heben, was für die
Deutschen vou Leopoldina und vou Mucury von großer Wich-
tigkeit sein wird.
In den deutschen Colonien von San Leopoldo,
Provinz Rio Grande do Sirl, befindet sich das Schulwesen
im beste» Gedeihen. Sie zählen jetzt, allein im Municipium
San Leopoldo, 15,855 Seelen; binnen 10 Jahren hat die Be-
Aus allen
völkernng um 40 Procent zugenommen, und doch sind viele
Hunderte, wie aus einem Bienenstocke, nach anderen Colonien
hingezogen. Im Jahr 1854 zählte man auf 11,344 Seeleu 816
Schüler; 1865 aber 1958. Die Colonien von San Leopoldo
haben jetzt 56 Schulen mit 49 Lehrern und einer Anzahl von
Lehrerinnen. Man fühlt jetzt das Bedürfniß, eine höhere
Lehranstalt für Knaben und anch^ eine solche für Mädchen zu
gründen. — Von den obigen 15,855 sind 6795 Katholiken und
9060 Evangelische.
Der Signalcodcx für die Schifffahrt aller Nationen.
Am 25. Juni 1864 wurde von Seiten Englands und Frank-
reichs eine Commission zur Abfassung eines solchen niedergesetzt.
Ihre Arbeit ist volleudet, und der Signalcodex soll im Laufe des
Jahres 1866 allgemein werden. Vermöge der geringen Zahl
von nur 18 Flaggen hat man mehr als 78,000 Combinationen
zusammengestellt und man glaubt nun mit Zuversicht, daß eine
allgemeine Seezeichen-Sprache gewonnen worden sei.
Wir wollen beiläufig bemerken, daß der erste praktische Entwurf
zu einer solchen von einem Deutschen, Rhode, herrührt.
Die Rettnngsanstalten für Schiffbrüchige. Für dieselben
zeigt sich jetzt auch in Deutschland eine große Theilnahme, und
wir haben bereits eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Rettnngs-
stationen an der Nord - und Ostsee. Im Laufe des Jahres 1866
werden sie noch beträchtlich vermehrt werden. Die britische
Royal national Lifeboat Institution hat so eben einen
Bericht über ihre Wirksamkeit veröffentlicht, ans dein wir Eini-
ges herausheben. Sie besitzt an den verschiedenen Küsten der
britischen Inseln 162 Rettungsboote, für deren Bemannung
sich etwa 20,000 Freiwillige haben einschreiben lassen. Früher
gingen im Jahr etwa lOOOMenfchenleben an jenen Küsten durch
Schiffbruch verloren, jetzt höchstens 500. Im Jahr 1865 sind
37 neue Rettungsboote gebaut und manche zweckmäßige An-
stalten getroffen worden, um dieselben rasch nach den Punkten
zu schaffen, an denen Hilfe nöthig ist. Vermittelst jener 162
Boote sind im Jahr 1865 nicht weniger als 532 Menschen und
20 Schiffe gerettet worden. Die Institution verausgabte 4986 Pfd.
An den britischen Küsten fanden 1865 nicht weniger als 1738
Schiffbrüche statt, und dabei verloren 472 Menschen das
Leben. Sie besteht seit nun 42 Jahren und hat in dieser Zeit
14,980 Menschen gerettet uud 136,881 Pfd. Sterl. verausgabt.
Im vorigen Jahre haben nur 6 Rettungsleute ihr Leben ver-
loren. Im Ganzen hat sie 82 goldene und 739 silberne Me-
daillen vertheilt und 22,140 Pfd. St. verausgabt. Sie hatte
im vorigen Jahre eine Einnahme von 28,932 Pfd. Sterl.
Zur Statistik des Königreichs Italien. Die Regierung
desselben gibt sich große Mühe, über die statistischen Verhältnisse
des Landes ins Klare zu kommen. Die Bildung dieses neuen
Staates fällt bekanntlich in das Jahr 1860; die erste Volts-
zähluug wurde am 31. Dezember 1861 vorgenommen uud ergab
21 704)000 Seelen; man schätzte sie für den 1. Januar 1866
auf etwa 22,300,000 Seelen. Die Italiener sind bekanntlich in
überwiegender Menge mit Ackerbau beschäftigt; die Zahl der
eiaentlich großen Städte ist nicht beträchtlich. Florenz hatte
114 000, 'Neapel 417,000, Turin 180,000, Mailand
219 000, Palermo 186,000 Einwohner. Man gibt sich in
Italien große Mühe, so viel als möglich vom levantinischen
Handel nach den Häsen des Adriatischen Meeres zu ziehen und
hofft nach Vollendung der Eisenbahnen dilrch den Mout Seins
uud über den St. Gotthard auch auf sehr lebhaften Verkehr
mit dem Norden. Sodann erwartet mau viel vom Suezkanal.
Haupterzeugnisse sind Oel, Wein, Seide, Reis, Südfrüchte;
und anch die Baumwolle gedeiht im Süden. Du 2)JiueicU-
schätze sind bisher sehr mangelhaft ausgebeutet worden, und
aroße Strecken Landes wären durch Bewässerung, andere dmch
Entwässerung nutzbar zn machen. Die Schattenseite des neuen
Staates wird durch die Finanzen gebildet. Die Steuern.sind
gegen früher mindestens verdreifacht. Das stehende Heer bildet
anch dort einen fressenden Krebs. Das Deficit betragt seit
Jahren monatlich 25 Millionen Lire (Francs), in jedem
Jahr über 330,000,000! Die Staatsschuld ist auf die für einen
solchen Staat schon ganz ungeheuere Summe von 1240 Millionen
deutschen Thalern angeschwollen und wächst jährlich um 70
Millionen! Dieses finanzielle Chaos könnte nur einigermaßen
gelichtet werden, wenn gleichzeitig zwei Maßregeln energisch
durchgeführt würden: Verminderung der Armee nni die Hälfte
Erdtheilen. 95
und Verdoppelung der ohnehin schon ungemein drückenden
Steuern.
Die Ausfuhren Großbritanniens im Jahre 1865. Wir
wollen nicht unterlassen, auch für 1865 einige Angaben über
die Ausfuhren Großbritanniens zu machen.
Der Werth derselben betrug 1864 schon 160,449,053 Pfd.
Sterl. und hat sich 1865 gesteigert auf die ungeheure Summe
von 165,862,402 Pfd. Sterl., also aus weit über 1000,000,000
deutsche Thaler. Davon gingen in die britischen Besitzungen und
Colonien nur 29 Procent'; das Uebrige vertheilt sich auf andere
Länder.
Deutschland ist für Großbritannien einer der besten
Kunden nud steht nur hinter Indien (18,254,570 Pfd. Sterl.)
und den Vereinigten Staaten von Nordamerika (21,235,790)
zurück; es erhielt nämlich ans England für 17,878,213 Pfd.
Sterl. und Frankreich nur für 9,034,883. Die Exporte nach
diesem Laude sind also nur etwa halb so beträchtlich wie jene,
welche wir von den Engländern erhalten. Es kamen nach den
Hansestädten 15,091,373 Pfd. Sterl., Preußen 2,102,714,
Hannover 399,933, Schleswig-Holstein 147,313, Meck-
lenburg 76,993 und Oldenburg 59,887 Pfd. Sterl. Dazu
sind aber noch die Exporte zu rechnen, welche ans England über
Belgien und Holland zu uns kommen, und außerdem der
österreichische Kais er staat, welcher direkt, ans dem See-
wege, für 877,325 empfing.
Unter den eigentlichen Colonien (denn Indien ist keine
solche, sondern nur eine Besitzung) steht Australien in vor-
derster Reihe mit 13,352,357 Pfd.Sterl.; das britische Nord-
am cri ka bezog für 4,705,079; Westindien für nur 1,945,466,
weil die Neger nur eine sehr geringe Kaufkraft haben. Hong-
kong nahm für 1,561,851; die Capeolonie für 1,454,540;
Singavore für 1,442,450 Pfd. Sterl.
Nach der rasch aufblühenden Argentinischen Republik
gingen für 1,951,048Pfd.Sterl., nach Brasilien für 5,668,089;
dieses Land ist also für die britischen Exporte eben so wichtig
wie China, mit 3,609,301, wenn man die Exporte nach
Hongkong mit einrechnet. Mit Japan hat sich der Verkehr
ungemein gesteigert; 1864 bezog dasselbe für nur 627,383 und
1865 schon für'1,529,195 Pfd. Sterl. Ganz Italien tritt in
der Exportliste mit mir 5,376,836 auf; fällt also nicht so schwer
ins Gewicht wie Aegypten mit 5,985,037. Rußland steht
weit zurück, 2,921,496; auch Spanien hat nur 2,427,861
Pfd. Sterl. aufzuweisen; das viel kleinere Portugal beziffert
sich mit fast eben so viel, 2,216,900, steht aber hinter Neil-
Granada, 2.372,497 Pfd. Sterl., zurück.
(Aus dem Cityartikel der „Times" v. 22. März 1866.)
Weineinfuhr in Großbritannien. Dieselbe stellte sich 1865
auf 14,269,750 Gallonen; 1864 auf 15,451,594; 1863 auf
14,185,195; 1857 nur erst 9,481,880 Gallonen. — Alte Weine
werden in England mit außerordentlich hohen Preisen bezahlt
Zil Mitte des März war in London eine Versteigerung bei
welcher sür das Dutzend Flaschen Domecqs Sherry 162 bis
194 Schilling bezahlt wurde; für Portwein von 1827 11 Pfund
15 Schillinge; für Cognac von 1811 für das Liter 28 Schillinge.
Besteuerung des Weins in Paris. Das Hektoliter Wein
muß beim Eingang in die Stadt Paris 20 Francs 35 Centimes
Abgabe zahlen. Davon bekommt der Staat 8 Frcs. 80 Cent,
und die Stadt (von wegen der „Verschönerung") bezieht 11 Frcs.
55 Cent.; also zahlt der Cönsument mehr Abgaben als der
Kaufpreis beträgt! Im Jahre 1863 ergaben diese pariser Wein-
zolle eine Summe von^ 38 Millionen für den Staat; 1847
nur 11,800,000 Frcs. Im Ganzen betrug die Einnahme dafür
1847 erst 25 Millionen und 1865 schon 87 Millionen, also die
Kleinigkeit von 50 Millionen Francs Zollabgabe vom Weine
mehr als damals. Das Kaiserreich ist theuer.
Auf welche Weise nimmt ein Volk die Sprache eines
andern Volkes an?
Dieser Gegenstand kam in der anthropologischen Gesellschaft
in Paris zur Erörterung. Es war von der Abstammung der
Kelten die Rede, undGirard de Rialle behauptete, die'alten
Ureinwohner ans dem Steinzeitalter seien von den 'eingewan-
derten Völkern arischer Abstammung fast ganz ausgerottet wor-
06 Aus allen
den. Die Hypothese, daß die Ureiugebornen nickt verschwunden
seien, sondern von den gaelo-kimriscken Ariern Civi'isation und
Svrache angenommen hätten, sei unstatthaft. Nie habe ein
Volk, das uur irgend zahlreich und mächtig gewesen, ans solche
Art seine Sprache gewechselt; diese sei auf das allerinnigste mit
dem Wesen desselben verbunden.
Dagegen bemerkteBroca: Diese Bemerkungen konnten sich
hören lassen, wenn nachgewiesen wäre, daß die neue Sprache
plötzlich und mit einem Schlage an die Stelle der alten
getreten wäre. Ein Reisender, der nach 10 Jahren wieder in
ein Land käme und dort eine ganz andere Sprache fände, wäre
allerdings zu dem Schlüsse berechtigt, daß das eroberte Volk
ausgerottet worden sei oder sich durch Flucht seinen Drängern
entzogen habe. Aber solch einen Verlans haben die Dinge in
Westenrova nicht genommen, als die Völker kamen, welche die
indoeuropäischen Sprachen brachten. Es kommt allerdings nicht
selten vor, daß die Sprachen eroberterVölker verschwinden, ab er
das geschieht uur allmälig. Mit jeder neuen Generation
vermindert sich die Zahl derer, welche sich noch der alten Sprache
bedienen, und diese erlischt erst nach manchen Generationen oder
Jahrhunderten. Anfangs fehlt es dabei allerdings nicht an
Gewaltthätigkeiteu, nachher macht sich aber Alles gleichsam von
selbst. Nachdem Cäsar Gallien erobert hatte, wich die keltische
Sprache nicht etwa auf einmal dem Lateinischen. Dieses wurde
allerdings amtliche Sprache, aber das Volk sprach noch Jahr-
hunderte lang Gallisch (ceitice). Noch im fünften Jahrhundert,
zur Zeit des heiligen Hieronymus, redeten die Trevirer eine
Svracbe, die große Aehnlichkeit hatte mit jener der Galater, die
sich 273 vor Christus in Kleinasien niedergelassen hatten. Ans
anderen eben so bestimmten Angaben geht hervor, daß die
Sprache der alten Kelten als Patois, wenigstens in einem
Theile Galliens, sich bis in das siebente Jahrhundert hinein
gehalten hat. Ans ähnliche Art ist, ganz allmälig, die Langne
d'oe, welche im Mittelalter blühete, zum Patois geworden; sie
verliert jetzt immer mehr Boden und wenn die Dinge so fort-
gehen, wird sie vielleicht nach vier Generationen ganz ver-
schwnnden sein. Die Gelehrten werden ihre literarischen Denk-
mäler kennen, das Volk selbst, dessen Vorväter diese Sprache
redeten, wird von ihr gar nichts mehr wissen. Das Ueber-
gewicht der französischen Sprache in den Gegenden der Langne
d'oc_ ist durchaus nicht das Ergebniß irgend welcher Gewalt-
thätigkeit. Diese Länder gehören seit manchem Jahrhundert zur
französischen Monarchie. 'Das Französische gewann dort Boden
zuerst in den Schlössern, dann in den Städten und jetzt greift
es auch auf dem platten Lande um sich. Man kann hier ein-
wenden, die Langne d'oe und die Langne d'oil seien zwei
Schwestersprachen,' beide Töchter des Lateinischen und hier sei
der Uebergang von der einen zur andern nicht gerade schwer;
Wurzelwörter ltttd Grammatik seien fast dieselben. Aber um
linguistische Sprachverwandtschaft kümmert sich der Bauer nicht;
er lernt Französisch, weil das in seinem Interesse liegt und
würde aus demselben Grund auch eine andere Sprache sich an-
eignen. Das würde etwas langsamer gehen, aber es ginge auch.
Der elsässische Bauer gibt nach und nach feilt allemannisches
Patois auf; der Bauer im englischen Cornwallis weiß kein Wort
mehr vou dem Coruisch, das in seinem Laude bis ins achtzehnte
Jahrhundert gesprochen wurde. Die Sprachgrenze zwischen der
Bretonisch und der Französisch redenden Bretagne liegt heute viel
weiter westlich als im zehnten Jahrhundert, und jetzt, da die
Eisenbahnen in das alte Armorica eindringen, kann es nicht
ausbleiben, daß die drei keltischen Dialekte' der Niederbretagne
langsam dem Französischen Platz machen werden. Hier stehen
nicht etwa Schwestersprachen einander gegenüber. 'Und man
denke nur an die Aqnitanier, welche einst Baskisch oder eine
demselben nahe verwandte Sprache geredet haben. Sie sind nie-
mals ausgerottet worden, haben aber diese Sprache verlassen,
n> d darin liegt eine ganz und gar radikale Veränderuug-
Dionysius von Halikarnässus sagt, daß die Etrusker iu Sitte
nnd Svrache mit keinem andern Volke Aehnlichkeit gehabt hätten,
und jetzt reden sie längst Italienisch. Manche Völker in West-
enropa haben mehrmals ihre Sprache gewechselt und dennoch
ihren alten Typus im Wesentlichen sich bewahrt.
Die Etymologie der Ortsname».
St. Diese hat in vielen Fällen Dunkel, theils weil die Namen
im Laufe der Zeit bedeutend verstümmelt wurden nnd nicht
mehr den ursprunglichen Lautbestand errathen lassen, theils und
Erdtheilen.
vielleicht noch öfter weil die Ortsnamen treuer ihre Ursprung-
liche Lautbeschaffenheit bewahrt haben, als die anderen Stücke
der Svrache. Gerade in den Ortsnamen finden wir Ueber-
reste einer vorhistorischen Zeit, Denkmäler einer sonst bereits
vergangenen Svrachepoche," die um so mehr interessant und
bedeutungsvoll sind, als es keine anderen des Alters gibt.
So wird endlich die Deutung der Ortsnamen meist dadurch
erschwert, daß oft nicht sogleich einleuchtet, ob der Ursprung ein
einheimischer oder ein fremder ist. Das letztere ist namentlich
bei den keltischen und lithauischen Ortsnamen der Fall,
bei denen man sehr oft in Verlegenheit kommt, ob sie aus
dem Lettische« oder Lithauischen, oder aber vielleicht aus dem
Deutschen, Russischen oder Livischen herzuleiten sind. Wenn
dieser Ursprung aufgefunden werden kann, so lassen sieh nicht
unwichtige Resultate erzielen, nicht allein betreffs der Sprach-
entwicklüng, sondern auch rücksichtlich der Geschichte der Urbe-
wohner dieser Provinzen. Völkerschaften, die untergegangen oder
verdrängt, die uoch herrscheu oder die blos durchgewandert sind,
haben alle iu deu Ortsnamen ihre Spuren dem Grund und
Boden ausgedrückt.
Nach Bielen st ein, „die lettische Sprache," Berlin 1864,
lassen die livischen Ortsnamen in dem ursprünglich söge-
nannten Kurland, d. h. dem Dreieck zwischen Riga, Libau
und Domesneß, schließen auf eine in alter Zeit viel weitere
Verbreitung liviscker Stämme sogar bis ins Innere des Landes
hinein, als heutzutage sich wirklich Reste derselben vorfinden,
also auf ein allmäliges Zurückgedräugtwerden der Liven durch
die vom Süden heranziehenden lettisch-lithauischen Völker.
Ebenso zeugen die livisch-esthnischen Ortsnamen int südwest-
lichen, jetzt ganz von Letten bewohnten Livland zwischen der
Düna uud Salis, z. B. Uerküll, Jerküll, Nurmis, Loddiger nnd
viele andere für die ehemalige Existenz der Liven in diesem
ganzen Landstrich.
Die deutschen Ortsnamen haben alle ihren Ursprung
aus jüngerer Zeit und finden sich vornehmlich an denjenigen
Wohnsitzen, welche vou deu eingewanderten Deutschen angelegt
worden sind.
Eine andere Bewandtnis; aber hat es mit den Ortsnamen
Kurlands, die nur mit dem Lithauischen sich deuten lassen.
Ans denselben darf weder gefolgert werden, daß ursprünglich
seßhafte Lithauer aus kurischen Distrikten verdrängt seien, denn
die Völkerbeweguug ist hier von Südost nach Nordwest und
nicht umgekehrt gegangen, uoch auch, daß Lithauer später etwa
über daselbst wohnhafte Letten herrschend gewesen oder zu ihnen
eingewandert wären nnd ans ihrem Idiom Ortsbezeichnungen
geschaffen hätten. Dafür fehlt jeder historische Nachweis. Viel-
mehr muß mau annehmen, daß diese lithauisch scheinenden
Namen uur Reste des Altlettischen, das dem Lithauischen näher
gestanden hat, sind, oder aber Bildungen, wie sie noch heutzu-
tage in deu Grenzdistrikten Kurlands, wo beide Völker zusammen-
stoßen, vorkommen.
Wir wollen jetzt, nach Bieleusteiu, Neimen von einigen
Städten und Flecken innerhalb der Grenzen lettischer Zunge
angeben: Riga, Riga; Jelgawa, Mitau; Lepäja, Libar
sLindenstadt von lepa, Linde); Wentaspile, Windau (eigentl.
Windausburg, von Wenta, Windaustrom und xl'ls, Burg);
Kuldiga, Goldingen (möglicherweise deutschen Ursprungs);
Tukkums, Tuckum; Kandawa, Kandan; Jäbile, Zabele;
Ais Putte, Hasenpoth; Talse, Talseu; Döbele, Dobleu;
Jlukste, Jllnrt; Walmare, Wolmar; Walka, Walk;
Limbascha, Lemsal.
Die meisten dieser Namen sind sehr dunkler Herkunft.
Ueber den Namen Jelgawa, Mitau, stellt Bieleusteiu fol-
gende interessante Hypothese auf. Er sagt: Jelgawa ließe sich
zur Roth aus dem Lettisch-Lithauischen erklären, — „tief Wasser",
dsilscb, tief, und awa, Flußname Act. Diese Erklärung würde
auch ganz gut zn bev niedrigen, wasserreichen Lage 'Mitan's
passen. Trotzdem aber ist die unmittelbare Herleitung vou dem
livischen Worte jälgab, Stadt, viel wahrscheinlicher, da die
mitausche Gegend zur Heit der deutscheu Eroberung noch von
Liven bewohnt war. Darnach würde der Name von Friedrich-
stadt an der Düna: Jaun- Jelgawa, eigentlich Neustadt, be-
deute«.
Zum Schluß uoch einige Städtenamen aus acht lithauischen
Gegenden: Klaipeda, 'Memel; Tilie, Tilsit; Nagaine,
Ragnit; Jsrutis, Jnsterbnrg (von Jsrä, N. Jnster); Gnm-
bine, Gumbiuueu; Labgnvä, Labian; Pilkalnis, Pilkallen
(wörtlich Schloßberg, pilis, Schloß und kälnas, Berg); Königs-
berg heißt: Karaliaucsus (^aiälius, Köuig).
Herausgegeben von Karl Audree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) iu Hildburghausen.
Aus MimKmc's siidchiknnischen Reisen.
II.
Das Land im Osten der Kalahariwüste, — Linyanti, die Hauptstadt der Makololo, — Hofhalt des Häuptlings Sekelctu. —
Naliele im Lande der Barotse^ — Der Liambayistrom. — Wasserfälle. — _ Makalakavölker. — Der Tschobeflnß. — Aufenthalt
beim Balondahänptling Schinte. — Die Balonda. — Wasserscheide. Die großen Katarakten im Sambesi. — Nach Kilimane
an der Ostküste. — Tod des Makololo Sekuebu.
Der Landstrich, welcher sich am östlichen Rande der
Kalahariwüste hinzieht, ist von Knrnman bis Kolobeng
Aber in jenen Gegenden ist viel Fleischnahrung unbedingt
nöthig und ihr Genuß erzeugt nicht etwa, wie in manchen
Stutzer am Sambesi. (N°ck> Livingstone.)
und weiter nach Norden hin bis unter den 21° südl. Br.
sehr gesund, sowohl für Eiugeborne, wie für Europäer.
Globus X. Nr. 4..
anderen Gegenden, Gallenkrankheiten. Bloße Pflanzen-
kost hat nachtheilige Folgen. Schon unter dem 20. Grade
13
98 Aus Livingstone's sü
ist dagegen das Klima sehr ungesund, und dort wurden
Livingstone's säinmtliche Begleiter vom afrikanischen Fieber
ergriffen. Der Reisende hat von da an während der
ganzen Erpedition in ganz Südafrika eigentlich gar keine
gesunde Gegend mehr angetroffen; im Grunde genommen
hat ihn das Fieber Jahre lang nicht mehr verlassen.
Wir haben schon früher gesagt, daß es sein Plan war,
den obern Sambesi zu erforschen, und die Verhältnisse
waren günstig, da er mit den Makololo, die von allen
Betschnanastämmen am weitesten nach Norden hin leben,
im besten Einvernehmen stand. Er ging nach Linyanti
(18° 17' 2" südl. Br., 23° 50' 9' östl. L.),' der Haupt-
stadt der Makololo, wo ihr großer Häuptling Sekeletu
Hof hielt. Dieser Ort zählte mehr als 6000 Bewohner,
und der weiße Mann wurde vom Herrscher im königlichen
Styl empfangen, d. h. man setzte ihm eine Menge von
Töpfen vor, die mit Boyaloa, d. h. Bier gefüllt waren. Für
die Zustände des Volkes erscheint es bezeichnend, daß jede
Frau, welche einen Topf brachte, einen tüchtigen Schluck
daraustrank, um den Beweis zu liefern, daß das Vier
nicht v ergiftet sei.
Sekeletn (— der im Jahr 1865 gestorben ist und die
Hoffnungen, welche Liviugstoue 1853 auf ihn setzte, in der
Folge keineswegs erfüllt hat, denn er wurde ein Trinker
und kouute den Barbaren nicht verleugnen —) war ein
junger Mann von etwa 18 Jahren; feine Haut hatte jene
hellbraune Kaffee- und Milchfarbe, auf welche die Mako-
lolo sehr stolz siud; sie uuterscheideu sich dadurch von den
schwarzen Leuten, welche an den Flüssen wohnen. Uebri-
gens ist die Mehrzahl der eigentlichen echten Makololo,
welche vor einigen Generationen als Eroberer bis in diese
Gegend vordrangen, vom Fieber hinweggerafft worden.
Im Vergleich zu ihren südlich wohnenden Stammverwand-
ten, den Barotse und Bauyeti, haben die Makololo
ein kränkliches Ansehen. Die Familien dieses herrschenden
Volkes sind im ganzen Lande verbreitet, und die verschiede-
nen, ihnen unterworfenen schwarzen Völkerstämme werden
als Makalaka bezeichnet; sie sind in gewisser Beziehung
leibeigen, aber das Verhältniß ist sehr mild, und harte Be-
Handlung kommt nur äußerst selten vor. Livingstone
betrieb mit Eifer sein Bekehrnngswerk und heilte auch
Kranke. Aber der Häuptling wollte nichts mit dm
„geheimnißvollen Buche" zu thun haben, welches dem
Manne gebiete, nur eiue einzige Frau zu haben. Schon
am siebenten Tage, bei kaltem Ostwinde, erkrankte der
Europäer am Fieber; die einheimischen Doctoren wandten
bei ihm Räucherbäder an, aber ohne Erfolg; am Ende
heilte er sich selber durch nasse Umschläge und ein gelindes
Purgirmittel. Aderlaß ist unbedingt schädlich.
Nachdem Livingstone einen Monat zu Linyanti ver-
Weilt hatte, brach er nach Sescheke auf (17° 31' f. Br.),
um von dort aus stromauf zu fahren. Von diesm Punkte,
nach Norden hin, bis ins Land der Barotse, dessen
Hauptstadt Naliele ist (15° 24' 17" südl. Br., 23" 5'
54" östl. L.), begleitete ihn der Makololohänptling Seke-
letn mit einer Kriegerschaar. In allen Dörfern wurde der
Zug von Frauen begrüßt, die mit kreischender Stimme ihm
ein „Lnlliln" zuriefen und dann laut sprachen: „Großer
Löwe, großer Häuptling, schlafe, o Herr!" Von Sefcheke
ging der Weg nach Norden hin in die Region, welche nian
als Katongo bezeichnet, und wo Naliele liegt. Der
Strom, welcher auf dieser ganzen Strecke das Barotsethal
durchfließt, wurde von den Makololo als Liambayi,
d. h. der Große Strom oder das Wasser bezeichnet. Er
sührt in verschiedenen Theilen seines Laufes die Benen-
nungen: Luambedschi, Luambesi, Odschimbesi und
afrikanischen Reisen.
Sambesi, je nach den Mundarten, welche in den verschie-
denen Gegenden gesprochen werden. Alle bedeuten dasselbe:
Großer Strom, welcher den großen Abzugskanal für
die Gewässer nach Osten bildet.
In Sescheke wurden Kähne herbeigeschafft; der, welchen
Livingstone bestieg, war 34 Fuß lang, aber nur 18 Zoll
breit und wurde von 6 Ruderern fortbewegt. Die Maka-
laka sind auf dem Wasser sehr gewandt. In dieser Gegend
war noch nie ein Europäer gewesen. Der Liambayi, d. h.
obere Sambesi, floß majestätisch dahin und hatte manchmal
eine Breite von einer halben Wegstunde. Die Scenerie ist
sehr schön; der Reisende fand, was auffallend genug in
einem solchen Klima ist, Dattelpalmen, sodann auch
Palmyrapalmen. Der Boden ist fruchtbar und die Ba-
nyeti bauen viel Getreide. Weiterhin wird das Flußbett
felsig und bildet eiue Reihenfolge von Stromschnellen und
Katarakten; bei niedrigem Wasserstande ist deshalb die
Schiffsahrt unterbrochen. Bei vollem Wasser sind die
Stromschnellen nicht sichtbar, aber die Fälle von Nam-
bne, Bombne und Kalne sind zu allen Zeiten gefähr-
lich. Dann folgen die 30 Fuß hohen Katarakten von
Gonye, und dort wurden die Nachen eine halbe Stunde
weit über Land getragen.
Die in dieser Gegend wohnenden Banyeti sind den
Makololo tributpflichtig; sie brachten Nahrungsmittel und
Thierfelle. Das eigentliche Barotsethal wird alljährlich
vom Liambayi überschwemmt und die Dörfer stehen auf
Erdhügeln, Wurthen, die durch Menschenhand gemacht
sind. Während der Ueberschwemmnng gleicht das ganze
Thal einem See.
So wurde Naliele erreicht. Der Reisende war nicht
wenig überrascht, als ihn dort einige Mambari besuchten.
Diese Leute gehören zur großen Stammfamilie der Am-
bonda, welche das Land im südöstlichen Angola bewohnt
und die Bundasprache redet; zu dieser gehören
auch die Muudarteu der Barotse, Bayeye ?e.,
überhaupt aller jener schwarzen Völker, welche man unter
dem Gesammtnamen Makalaka begreift. Die Mambari
kommen als Handelsleute tief ins Innere und gehen bis
nach Linyanti. Uebrigens ist „in jener ganzen Gegend
keine Stelle fieberfrei"; auch nichtKatongo, obwohl
dasselbe hoch liegt. Sobald die Ueberschwemmnng aufhört
und das Wasser zurücktritt, entwickeln sich böse Dünste und
selbst die Eingebornen werden schwer vom Fieber heim-
gesucht.
Der Liambayi floß oberhalb Naliele zwischen niedrigen
Ufern bis Libonta, 14° 59' südl. Br.; etwa 8 bis 10
deutsche Meilen weiter liegt die Mündung des Flusses
Louda oder Luuda, der auch Liba und Lo'iba genannt
wird. Livingstone fuhr bis 14° 11' 3" südl. Br., wo der
Liambayi den Namen Ka bompo führt und von Osten
her zu kommen scheint. Er ist dort- ein schöner Strom,
etwa 300 Schritte breit; der Liba etwa 250. Unterhalb
des letztern mündet ein kleinerer Fluß, der Luti oder
Loeti. In Libonta hielten sich damals Araber aus
Sansibar auf; man sieht, wie Handelsleute von der
östlichen und der westlichen Küste sich tief im afrikanischen
Binneulaude begegnen.
Bor dein Reisenden lag, wie schon gesagt, eiue von
Europäern niemals besuchte Gegend. Er verweilte von:
September bis in die Mitte des Novembers 1853 iu
Linyanti, wohin er über Sescheke zurückgekehrt war. Dort
beschloß er uach Loauda weiter zu wandern. Wir begleiten
ihn hier nur eiue Strecke weit. Die Makololo, deren
Herrschast jenseits Libonta ein Ende nimmt, beschlossen,
ihm 27 Mann als Begleiter mitzugeben und an der Küste
Aus Livingstone's südafrikanischen Reisen.
99
Handelsverbindungen anzuknüpfen. Er war stark durch
Fieber abgeschwächt, hatte Gallenbeschwerden und sank vor
Mattigkeit oftmals zu Boden. Dessen ungeachtet trat er
die Wanderung an. Am 11. November 1853 verließ er
Linyanti, das am Flusse Tschobe liegt. Auf diesem fuhr
er iu den Liambayi, war ain 19. in Sefcheke und am
17. Dezember wieder in Libonta, der äußersten Ortschaft
der Makololo. Von dort bis in das Land Lunda folgt
ein Strich unbewohnten Grenzlandes.
Am 27. Dezember befand sich Livingstone an der
Mündung des Liba in den Liambayi, 14" 10'
52" südl. Br.; der erstere kommt von Nordeu, der audere
von Osten her. Der Reisende fuhr den Liba aufwärts,
der iu ruhigem Bette strömt. Unterwegs traf er mit
Balonda - Männern zusammen, welche uoch uie einen
Weißen gesehen hatten. In Manenkas Dorf herrschte
ein weiblicher Häuptling. Hier verließ der Reisende
den Strom, weil diese Hänptlingin Nayamoana ihn bat,
ihren Bruder Schmie zu besuchen, der nicht am Wasser
wohne; auch habe der Fluß weiter aufwärts einen Katarakt.
Auch Manenka, gleichfalls eine Schwester Schinte's, sprach
dieselbe Bitte aus. „Sie ist eine vierschrötige Dame von
etwa 29 Jahren, ganz mit Zierrath und Zauber behängt;
ihr Leib war mit Fett und rothein Oker beschmiert, welche
die Bekleiduug ersetzen mußten, denn im Uebrigen gehen
die Balondafranen gauz entsetzlich nackt. Sic haben ihre
ganz besonderen Ansichten von dem, was sich ziemt und was
schmückt."
Die Reise ging eine Strecke weit durch so dichteu
Wald, daß man sich den Weg mit der Axt bahnen mußte;
auch siel ununterbrochen Regen; die Gegend war äußerst
ungesund „und ich wurde das Fieber gar nicht los". Nach
einigen Tagen erschienen Boten von Schmie, welche mel-
deten , daß der hohe Herr gegen die Reise des weißen
Mannes nichis einzuwenden habe; er wolle sich freuen,
wenn künftig weiße Leute zu ihm kämen; dann könne er ja
so viele Schmucksachen kaufen, als ihn: beliebe. Diese
Botschaft wurde durch Geschenke bekräftigt; sie bestanden
in Maniokmehl und Fischen.
Am 16. Januar 1854 erreichte Liviugstone die Stadt
Kabompo's oder, wie er sich lieber nennen hört, Schinte's
(12° 87' 35" südl. Br., 22° 47' vstl. £.), zwischen Bana-
ueu und blätterreichen Bäumen. Die Straßen siud gerade
und bilden einen Gegensatz zu denen der Betschuanadörfer,
iu denen Alles krumm durcheinander läuft. Hier sah
Livingstone zuerst viereckige Hütten mit runden Dächern.
Neben Bananen und Zuckerrohr pflanzen die dortigen
Balonda anch Taback. Sie sind echte Neger und haben
auf dem Kopf und am Körper weit mehr Wollhaar als die
Kaffern- und Betschuauastämme. Die meisten sind sehr
dunkel gefärbt und haben sehr wulstige Lippeu und breit-
geplätschte Nasen.
Schinte empfing den Fremden feierlich in großer
Audienz; er saß auf einem, mit Leopardeufell bedeckten
Throne, trug ein bnntes Wamms und einen Hüftenschurz
von rother Wolle mit grüner Einfassung; am Halse hingen
viele Stränge großer Glasperlen, und an Armen und
Beinen hatte er viele dicke Ringe von Kupfer und von
Eisen. Der Helm war aus Glasperlen recht hübsch her-
gestellt und mit Gänsefedern geschmückt. So präsentirt
sich ein Potentat im Lande der Balonda. Man begrüßte
ihn mit Händeklatschen; Unterwürfigkeit bezeigt man da-
durch, daß man sich Arme und Brust mit Asche reibt.
Jeder Vorsteher eines Stammes begrüßte den Herrn'mit
Asche, und die Krieger führten mit gezogenen Schwertern
ein Scheingefecht auf. Nachher begannen Spiele, bei denen
häufig Luftsprünge gemacht werden. Hinter dem Könige
saßen etwa 100 Frauen, welche ihren besten Schmuck, roth-
wollenes Zeug, angelegt hatten. Die Hauptfrau war eine
Zulu-Kafferin, faß vorne an und trug eine Kappe von gauz
eigenthümlicher Form. Auch Spielleute fehlten nicht, und
dann traten Hintereinauder neun Redner auf, die sehr viel
zum Besten gaben. Auch einige Frauen redeten. Ihr
Kopfputz ist von ganz eigenthümlicher Art. Ueberhäupt
geben die Neger ungemein viel auf Haarschmuck, und man
könnte mit deu verschiedenen Arten desselben ein ganzes
Modejournal füllen. Bei den Balonda setzen die Stutzer
einen Stolz darein, ihren Kopf so herzurichten, daß er dem
eines Büffels gleicht; weiter nach Südosten hin, am Sani-
besi, setzen sie trichterförmige Mützen auf deu Kopf.
Die Balondavölker halten sehr viel aus Etikette
und Umständlichkeiten; sie genießen z. B. keine Speisen in
Gegenwart von Fremden und sind auch im Umgang mit
einander sehr peinlich. Jede Hütte hat ihr eigenes Feuer,
und mau wird Brand oder Flamme niemals von einem
Nachbar holen. Vor jedem Dorfe sieht mau ein Fetisch-
bild in Gestalt eiues Menschenhauptes oder Löwenkopfes
oder einen mit Zauber bestrichenen krummen Stecken;
manchmal auch steht weiter gar nichts da als ein „Mediein-
topf" in einer ganz kleinen Hütte aus einer Erhöhung.
Abergläubige Furcht und Angst zieht sich durch das gauze
Leben und Treiben auch der Balonda-Peger. Da, wo der
Wald am dichtesten und recht dunkel ist, sieht man das Bild
eines menschlichen Antlitzes in die Baumrinde geschnitzt;
deu Pfaden entlang sind in die Rinden mancher Bäume
Einschnitte gemacht worden, und an deu Zweigen hängen
Opfergaben von Maniokwurzeln und Maiskolben. Dann
und wann liegen, in Zwischenräumen von einer Wegstnnde
oder mehr, Hänfen von kleinen Stäben, nnd jeder, der vor-
über geht, wirft einen Stecken hinzn nnd liefert seinen Bei-
trag. Wer solch einen Stecken im Pfade liegen findet,
weicht demselben sorgfältig aus; es würde ihm Unglück
bringen, wenn er hinüber ginge oder spränge.
Nördlich von Schinte's Stadt liegt eine weite flache
Ebene, welche im Januar und Februar zum großen Theil
unter Wasser stand, ans dem hohes Gras hervorragte; ste
ist ganz wagerecht, ohne Baum- und Waldwnchs, und
in der heißen Jahreszeit, nachdem das Wasser verdunstete,
ohne Brunnen oder auch nur Wasserlöcher. Dann kam
der Reisende, gegen Ende Februars, au ein der Ueber-
flutung nicht mehr ausgesetztes Gelände, jenseits jener
Ebene, die gar keinen Abzug durch Flüsse hat. Sie bildet
aber die Wasserscheide zwischen deu nach Norden nnd nach
Süden fließenden Gewässern. Livingstone befand sich mm,
znm ersten Male, seitdem er Kolobeng verlassen, in einem
wirklichen Thalgrunde.
Wir wollen ihm von hier ans, am Kasa'i, einem Zn-
flnsse des Zaire, nicht weiter ans seiner Wanderung nach
Westen hin folgen und nur bemerken, daß er am letzten
Tage des Maimonats San Panlo de Loanda erreichte.
Dort blieb er etwa vier Monate und trat dann seine Rück-
reise nach Linyanti an, wo er am 22. August 1855 wieder
eintraf, mit den Makololo, welche von dort als Begleiter
mit ihm an die Küste des Atlantischen Oeeans gegangen
waren.
Jetzt stellte er sich die Anfgabe, durch den östlichen
Theil des Continents bis an die Gestade des Indischen
Weltmeers zn wandern. Eine Zeitlang war er nngewiß,
ob er, in der Richtung gegen Nordosten hin, den Versnch
machen könne, Sansibar zn erreichen,, oder ob er in der
Region des Sambesi bleiben solle. Er entschloß sich zn
letzterm, weil möglicherweise der große Strom, von welchem
13*
100
Ans Livmgstone's südafrikanischen Reisen.
man noch so lückenhafte Kunde besaß, ohne Zweifel viel
Neues und Wissenswürdiges darbot.
Am 3. November 1855 verließ er abermals das gast-
liche Linyanti. Er gab den Makololo noch allerlei gute
Lehren, z. B. daß sie sich in Zukunft der Feindseligkeiten
und Raubzüge gegen ihre Nachbarn enthalten möchten.
ihm: „Wenn wir Worte über andere Sachen hören, dann
können wir sie behalten. Aber Du erzählst uns wunder-
bare Dinge, dergleichen wir nie gehört haben; wir wissen
nicht, wie es sich damit verhält und sie laufen aus
unseren Herzen weg." Der Missionär fügt hinzu:
,Auf die Mehrzahl bringen die Lehren gar keine Wirkung
Hofdamen des Königs Schiute
Sie haben aber diesen wohlgemeinten Rath nicht befolgt.
In Bezug auf das, was der Missionär ihnen „über
Sonnen- und Mondfinsternisse und über jene andere Welt,
wo Jesus herrscht" vorpredigte, meinten sie, das seien
„seltsame Dinge", und sie äußerten, wie Livingstone selber
erzählt: „Wissen wir, wovon er spricht?" Einige sagten
i Balonda. (Nach Livingstone.)
hervor; sie wenden nichts gegen die Wahrheit ein, blei-
ben aber ganz erstaunlich gleichgültig und äußern
wohl: Wir wisseu davon nichts, oder (— und das glauben
wir sehr gern —Wir verstehen das nicht." —
Livingstone bestand gleich im Anfange gewaltige Regen-
güfse, Donner und Blitz. Die Makololo hatten ihn mit
Aus Livingstone's südafrikanischen Reisen^
102
Aus Livingstone's südafrikanischen Neifcn^
manchen notwendigen Dingen versorgt und ihm eine An-
zahl von Begleitern gegeben, die er mit nach Europa
nehmen sollte.
Da, wo der Tschobe in den Sambesi mündet, liegt
die Insel Mparia; weiter abwärts hat der letztere Strom
Wieder mehre Inseln, aus welchen früher schwarze Ba-
toka's lebte«, die aber von den Makololo ausgerottet
wurden. Etwa dritthalb deutsche Meilen weiter gelangt
man an die Insel Nampene, und in der Nähe derselben
beginnen die Wasserfälle des Sambesi.
Der Reisende verließ seinen Kahn, ging am Ufer hin,
überschritt den Lekone oder Lekuineflnß und erreichte
Kala'i, die auch Sekote's Jusel heißt. Sekote war
der letzte Jnselhäuptling der Batoka's. Die Kotla,
d. h. der Versammlungsort des Stammes,• vor der Hütte
des Häuptlings war noch mit Menschenschädeln „geziert";
sie steckten auf hohen Stangen. Das Grab des wilden
Häuptlings sah Livingstone mit Elephantenzähnen ge-
schmückt; diese dienten gleichsam als Leichensteine. Man
hatte das Ganze nicht angetastet, denn die Makololo
glaubteu, Sekote habe einen Zaubertops vergraben, und
sobald man diesen öffne, werde Pestilenz über das Land
kommen.
Von dieser Insel Kala'i aus besuchte Livingstone den
großen Wasserfall des Sambesi. Die Eingebornen
bezeichnen denselben als Mosioa tunya, d. h. der
Rauch, welcher ein Getöse macht, oder auch als
Schon gue.
Als er deiu Katarakte näher kam und nur uoch etwa
ciue deutsche Meile von demselben entfernt war, sah er
Dunst- oder Rauchmassen emporsteigen; das Ganze er-
schien etwa so, wie wenn große Strecken dürren Grases
abgebrannt würden. Bald nachher konnte er fünf Dampf-
säulen erkennen, deren Gipfel sich mit den Wolken zu ver-
einigen schienen; unten waren sie weiß, nach oben hin
wurden sie dunkel wie Rauch. Die ganze Scenerie war
ungemein schön; Inseln und Stromufer siud mit üppigem
Pflanzenwnchfe bedeckt, der gewaltige Baobab, dieser
Affenbrotbaum, der so massig erscheint, stand neben luftigen
Palmen, deren schlanke Blätter sich scharf von dem blauen
Himmel abhoben; der silberfarbige Mohonono, welcher an
die libanotische Ceder erinnert, sticht amnuthig ab von dem
dunkeln Motsurri, der cypressenartigen Wuchs hat und
scharlachrothe Beeren trägt; andere Bäume erinnern an
unsere Eichen und Ulmen.
Dieses innerafrikanische Naturschauspiel hatte nie zuvor
ein weißer Mann gesehen. Livingstone beklagt, daß dort
eine Gebirgslandschaft fehle; der Katarakt ist auf drei
Seiteu von etwa 300 bis 400 Fuß emporsteigenden Höhen-
zügen umgeben, die bewaldet sind.
Etwa eiue Viertelstunde Weges vom Falle verließ der
Reisende seinen Nachen und bestieg einen kleinen Kahn. Die
Ruderer waren mit den Strömungen genau bekannt und
brachten ihn wohlbehalten bis zu einer Insel, die mitten
im Strome liegt, am Rande des Abgrundes , in welchen
sich die Wassermenge stürzt. Von dort aus gesehen, schien
es, als ob dieselbe sich in der Erde verliere; denn der gegen-
überliegende Randabfall der Spalte, in welcher es ver-
schwand, war noch etwa 40 Schritt entfernt. Livingstone
kroch bis an den Rand und blickte hinab in den tiefen
Spalt, welcher über die gauze Breite des Sambesi von
einem Ufer bis zum andern reicht.
Nun erkannte er genau, daß eiu etwa 3000 Fuß
breiter Strom ungefähr 100 Fuß hinabstürzte und dann
plötzlich in ein Bett von 50 bis 60 Fuß Breite eingeengt
wurde.
Dieser gewaltige Katarakt ist ganz einfach eine Spalte
in den: harten Basaltgesteine, welche sich vom rechten Ufer auf
das linke hinüberzieht; von diesem letztern aus verlängert sie
sich etwa 30 bis 40 englische Meilen weit durch das Hügel-
laud. Wer auf der rechten Seite der Insel in den Spalt
hinab blickt, sieht nichts weiter als eine dichte, weißeWolke,
welche eben damals zwei schöne Regenbogen zeigte; aus
derselben stieg ein Dampfstrahl mehr als 200 Fuß empor.
In dieser Höhe verdichtete er sich, wurde dunkel wie Rauch
und fiel wie ein Regenschauer herab, welcher die immer
grünen Bäume stets feucht erhält. Auf der linken Seite
der Insel kann man bis in die Tiefe hinabblicken; das
Wasser bewegt sich dort als eine weiße rollende Masse
nach der Verlängerung des Spaltes hin, der am linken
User abzweigt. Von der linken Seite der Insel ist ein
mächtiges Felsenstück hinabgestürzt und ragt noch aus dem
Wasser hervor.
Die Wände dieser gigantischen Erdspalte fallen fenk-
recht ab und bestehen aus einer gleichartigen Gesteinmasse.
Der Rand der Seite, über welche das Wasser hinabstürzt,
ist zwei oder drei Fuß abgerieben; einzelne Stücke sind
hinuntergefallen und das Ganze sieht etwas gezackt aus.
Dagegen ist jener Rand, über welchen das Wasser nicht
hinabfällt, ganz gerade, mit alleiniger Ausnahme der linken
Ecke, ein der man einen Riß erblickt; es hat den Anschein,
als ob dort bald eine Felsenmasse hinabstürzen werde.
Im Allgemeinen aber ist das Ganze wohl noch in dem
Zustande wie damals, als der Spalt gebildet wurde. Das
Gestein ist dunkelbraun bis auf etwa 10 Fuß vou unten,
denn weiter abwärts gewann es durch das alljährlich ein-
tretende Hochwasser eine andere Färbung. Auf der linken
Seite der Jusel hat man einen guten Ueberblick der Wasser-
menge, aus welcher einer der Dampfsäulen emporsteigt;
sie springt ganz klar über das Gestein und bildet dann bis
unten hinab gleichsam ein dichtes, ununterbrochenes Vließ
von schneeiger Weiße; die einzelnen Wasserstücken, wenn
dieser allerdings bezeichnende Ausdruck erlaubt ist, fallen
sämmtlich in einer und derselben Richtung hinab. Jedes
derselben gab verschiedene Strahlen Schaumes von sich,
etwa so wie Stahlstäbchen in Oxygeugas Funken sprühen.
Diese schneeweiße Decke sah aus, wie Myriaden von
Kometen, welche sich alle nach einer Richtung hin bewegen
und hinter ihrem Kern einen Schaumstreifen zurück lassen.
Die fünf Dampfsäuleu werden offenbar durch den
Druck gebildet, welchen das Wasser durch seinen eigenen
Fall in einem keilförmigen Rann: erleidet, der nicht nach-
giebt. Die beiden zur rechten Seite und eiue auf der
linken waren die stärksten. Die Makololo sagten, nach
Osten hin fei der Spalt noch viel tiefer und an einer
Stelle der Abhang so allmälig, daß sie sitzend hinabrutschen
könnten.
An drei Stellen unweit der Katarakten brachten einige
Batokahäuptlinge dem Barimo, ihrem höchsten Geist, Opfer
an solchen Stellen dar, wo sie das Getöse des Wasserfalles
noch vernehmen können. Den Fluß selbst betrachten sie
mit heiliger Scheu, und in einem Gesänge der Ruderer
heißt es: „Der Liambayi! Niemand weiß, woher er kommt
uud wohin er geht." Livingstone ging nach der Insel Kala,
zurück (17" 51' 54" südl. Br., 25° 41' östl. L.), pflanzte
Kaffeebohnen, Pfirsich- und Aprikosenkerne und schnitt in
die Rinde eines Baumes seinen "Namen, nebst der Jahres-
zahl 1855.
Nachdem er das „Wunderwerk der Natur" genugsam
angestaunt, zog er weiter gegen Osten mit 114 Makololo,
welche Elfenbein für Rechnung Sekeletn's uach der Küste
Antiquitäten- nnd Rar
bringen sollten. Er kam glücklich bis zur portugiesischen
Niederlassung Tete und dann weiter, den Sambesi ab-
wärts nach Genna. Acht Makololo wollten mit bis nach
Kilimane an der Küste, um das östliche Weltmeer zu
sehen.
Livingstone erreichte glücklich Kilimane, das auf einer
großen Schlammbank steht, und, von Sümpfen umgeben,
im höchsten Grad ungesund ist. Jeder vollblütige Mensch
verfällt unabwendbar dem Fieber, und die Eingebornen
sagen: „Ach, der wird nicht lange leben." Eben damals
war ein deutsches Fahrzeug aus Hamburg auf der Barre
gescheitert; das Schiffsvolk lebte sehr enthalsam, aber auch
bei dieseu Deutschen wirkte das Fieber wie langsames
Gift. „Anfangs fühlten sie sich nur unwohl; dann wurden
sie bleich, blutarm, magerten ab, die Schwäche nahm zn und
endlich fielen sie, wie Ochsen, die von der giftigen Tfetfe-
fliege gestochen worden find."
Nachdem Livingstone fechs Wochen in dem pestilentia-
lifchen Kilimane verweilt hatte, warf die englische Kriegs-
brigg Frolic vor der Barre Anker. Sie brachte ihm allerlei
Vorräthe und Geld zur Rückreise nach Europa.
Der uachfolgende Vorfall ist iu authropologischer
Hinsicht sehr interessant; er zeigt, wie Barbaren durch
Berührung mit der europäischen Civilisation so leicht das
citensammler in Japan. 103
geistige Gleichgewicht und den Verstand verlieren und dann
zu Grunde gehen.
Ein getreuer Makololo, Namens Seknebu, hatte den
weißen Mann bis Kilimane begleitet und war, auf seines
Häuptlings Sekeletn Befehl, entschlossen, die Reise nach
Europa mitzumachen. Livingstone nahm ihn mit nach
Mauritius, wo er den Dampfer nach Suez erwartete. Der
Wilde wußte sich auf dem Kriegsschiffe, wo Alles neu für
ihn war, gar nicht mit sich selber zurecht zu finden; er
wunderte sich auf dem Meere, daß er Wasser und immer
nur Wasser sehe. Nebenher lernte er einige Brocken Eng-
lisch. Auf Mauritius, wo er nun gar eine schöne Stadt
sah, hatte sein Erstaunen keine Grenze. Aber diese
geistige Anstrengung war zu stark für ihn und
er verlor seinen Verstand. Livingstone glaubte, der
Wilde habe sich betrunken, aber dem war nicht so. Der
arme Makololo sprang in eine Schaluppe und rief, er wolle
allein sterben, Livingstone solle ihm nicht folgen. Gewalt
mochte man, aus mehr als einem Grunde, gegen ihn nicht
anwenden, ans Ufer wollte er nicht zurückkommen. Am
Tage hatte er nach einiger Ruhe wieder einen Anfall von
Wahnsinn, stach mit feinem Speer nach einem Matrosen
und stürzte sich dann in die See. Seine Leiche hat man
nicht wieder gefunden.
Antiquitäten- und Raritätensammler in Japan.*)
Die Japaner legen anf Alles hohen Werth, was alt
nnd selten ist. Sie sind ganz entschiedene Raritätenkrämer;
sie haben für Dinge, welche unter den Begriff Miscrasji
fallen, eine Vorliebe, die sich bei Vielen bis zur Leiden-
schaft steigert und ein ganz eigenartiges Gepräge trägt.
Je älter irgend ein Gegenstand ist, für um so schätzbarer
und werthvoller wird er gehalten; kunstreiche Arbeit und
werthvolle Zierrathen weiß man allerdings zu schätzen, auch
wenn sie neu sind. Die Hauptsache jedoch, welche cnt-
scheidet, bleibt das Alter.
Ein Gleiches gilt auch im gesellschaftlichen Verkehr.
Der reichste und angesehenste Meurn im Laude hält es für
feilte Pflicht, sich vor dem Greise zu verneigen, so arm und
gering dieser auch sein möge, und nie würde ein Jüngerer
wagen, die Rede eines alten Mannes zu unterbrechen.
Diese Ansichten sind von sehr wohlthätigem Einfluß auf
das Familienleben; kindliche Pietät durchdringt dasselbe,
und die Söhne bieten Alles auf, um deu Eltern eine forg-
lose Stellung zn bereiten; sie sind ihnen in allen Stücken
dienstbeflissen. In der Schule wird deu Kindern einge-
prägt, daß sie, wenn sie alte Leute scheu, sich au deu Ruhm
ihrer Vorfahren erinnern sollen; denn durch die Weisheit
der Alten sei Glück nnd Segen über das Land gekommen
und das Reich aufgerichtet worden. Unsere Vorfahren, so
wird gelehrt, stammten von Göttern, Weisen nnd Helden
ab. Zu ihrer Zeit begaben sich viele Wunder, und die
) Ich entlehne diese Mitteilungen dem Werke: Bydragen
tot de kennis van het Japansche Ryk, door I. F. Over-
meer Flssch er, Amsterdam 1833. 4". Das Werk ist theuer
nnd scheint selten zn sein; cs ist bisher wenig benutzt worden,
gibt aber manche interessante Nachrichten über das innere Leben
des japanischen Kulturvolkes. a.
Menschen erreichten eine höhere Lebensdauer als iu unseren
Tagen. Man muß Denen, welchen man das Dasein ver-
dankt, für dieses Gesche.uk iu jeglicher Weise dankbar sein,
ohne sie hätte man das Leben nicht, das ein so hohes Gut
ist. Nicht mir die Eltern selbst sind ehrwürdig; auch was
sie nach ihrem Tod auf Erden hinterlassen, ist schon deshalb
theuer und Werth, weil es ihnen gehörte, von ihnen berührt
wurde und an sie erinnert. Am fünfzigsten Jahrestage
veranstaltet die Familie des Verstorbenen auf dem Grabe
desselben eiue rührende Todtenfeier.
Während in den europäischen Ländern die Raritäten-
kammeru Merkwürdigkeiten aus allen Erdtheilen enthalten,
sehen sich die Japaner vorzugsweise auf ihr eigenes Land
angewiesen, oder doch auf die ihnen benachbarten Gegenden
■ des östlichen Asiens. Trotzdem haben sie ungemein reiche
Sammlungen von Rocoeco aller Art. Man begegnet
denselben auf Tritt und Schritt. Kein Tempel ist ohne
Alterthümer, die häufig gleich am Eingange auffallend ins
Auge stechen. Man findet zum Beispiel deu Namen des
Stifters oder Erbauers auf einer Säule; eiue Zuschrift
besagt, daß er dort eine Tanne gepflanzt oder ein Thor
errichtet habe. An den Wänden hängen Gedenktafeln für
Priester oder Helden; wer zum erstenmal eiueu solcheu
Tempel betritt, läßt sich vor allen Dingen von einem Be-
amten desselben die Geschichte des Gebäudes erklären,
bringt dem Andenken der Stifter seine Huldigung dar
und schreibt seinen Namen ein. Alle Bndsdotempel ge-
währen einen sehr ansprechenden Anblick; sie sind mit
Bildern und Opfergaben ausgeschmückt, haben schöne
Altäre, und die verschiedenen musikalischen Instrumente
sind in geschmackvoller Ordnung aufgehängt. Das Alles
bietet eine ganz ungemeine Mannigfaltigkeit von Formen
104 Antiquitäten - und Nar
dar, und viele Gegenstände sind mit einer wahrhaft bewnn-
dernngswürdigen Kunstfertigkeit gearbeitet, vor welcher die
nicht selten reiche Verzierung mit edlen Metallen verschwin-
det. Außerdem hat jeder Tempel noch Reliquien, die
nicht offen zur Schau ausgestellt, sondern nur bei seier-
lichen Gelegeuheiten sichtbar werden. Dann tritt der
Priester festlich geschmückt vor den Altar; ein Laie sragt,
im Namen der Anwesenden, ehrerbietig, ob es erlaubt sei,
die Hülle von den Reliquien zu entfernen und sie zu berüh-
ren. Die Erlanbniß wird gegeben, und dann erscheinen
Bücher, die in das ehrwürdige Alter von zweitausend
Jahren hinaufreichen. Overmeer Fisscher erzählt, daß er
mehre derselben gesehen und in der Hand gehabt habe; sie
waren aus schönes Papier mit kleinen Lettern aber unge-
mein deutlich geschrieben. Auch goldene Bilder von Göttern
oder Heiligen werden in den Tempeln aufbewahrt, Hand-
schristen der Gesetzbücher, Waffen, Flaggen und andere
Zierrathen, namentlich Kleider; sodann phantastische Ge-
stalten auf Holz oder Stein, die manchmal fo vortrefflich
nachgebildet werden, daß man sie für Erzeugnisse der Natur
halten könnte.
Die japanische Fabellehre ist ungemein reichhaltig und
mannigfaltig, und gewährt der Phantasie wundersame
Stoffe in Hülle und Fülle zur Combination von ungeheuer-
lichen Gestalten, die beim Volk ungemein beliebt sind. Sie
meinen ihren Kanus oder Göttern keine größere Ehre
erweisen zu können, als wenn sie ihnen recht seltsame
Gegenstände zur Opfergabe darbringen. In diese Klasse
von Raritäten gehören auch dieSeejungfern oder Sire-
n en, welche 1822 und 1823 zu Paris und London gezeigt
wurden, und über welche 1852 wieder viel die Rede
gewesen ist, als der berüchtigte Marktschreier Phineas
Taylor Barnum in Neuyork eine derartige Sirene aus-
gestellt hat, die er für eiu bei den Fidschi-Inseln gesange-
nes Wesen ausgab.*) Die Japaner verfertigen dergleichen
aus demKopf eines Affen und demSchwauz einesFisches,
Welchen die Holländer „Jakob Everts" nennen; das
Fabrikat wird mit einer so außerordentlichen Geschicklichkeit
zusammengestellt, daß auch eiu scharfes Auge keine Naht
gewahren kann. Jene Seejungfer, welche in Neuyork
fo großes Aufsehen machte, war von den Holländern in
Japan erstanden worden. Ein amerikanischer Kapitän
kaufte sie 1822 in Batavia und brachte sie nach London,
wo sie für Geld gezeigt wurde. Jetzt steht sie im natur-
wissenscha ftlich en Mus cum zu Boston; es gibt aber auch
noch eine Anzahl ähnlicher Exemplare, von denen sich eins
im Haag befindet. Um das Publikum zu täuschen, wurde
eine Fabel in Umlauf gesetzt. Ein armer Fischer, Namens
Simbe, habe die Sirene an der Nordküste von Japan in
der Landschaft Katfa im Netze gefangen; sie habe nur kurze
Zeit gelebt, aber vor ihrem Tode prophezeit, daß man zehn
Jahre hintereinander reiche Ernten hoffen dürfe; dann aber
werde eine Senche das Land heimsuchen, der aber Jeder
entgehen könne, welcher im Besitz der Seejungfer selbst oder
wenigstens einer Abbildung derselben sei. Diese Mähr
fand in Japan vielfach Glaubeu; die Leute drängten sich
herbei, um eine solche Abbildung zu bekommen, und der
angebliche Fischer wurde ein reicher Mann. Andere Spe-
kulanten verfertigten andere Wunderthiere, zum Beispiel
menschliche Gestalten mit zwei Köpfen, Menschen, welche
den Kops am Bauche hatten, Figuren mit Teufelsköpfen,
Drachen mit zwei Köpfen, und dergleichen Ungeheuer mehr.
Vornehme Leute, welche einen Tempel besuchen, lasseu
*) The life 0f P. T. Barnum, written by himself. Neu-
york 1855, S. 233, 599. A.
Stenfammler in Japan.
dort gewöhnlich irgend eine Rarität als Gabe zurück; Viele
schenken Räuchergesäße, alte Münzen, gedruckte Bilder,
Waffen oder Naturalien; Andere geben Geld, damit die
Priester irgend eine Merkwürdigkeit dafür kaufen. Der Euro-
päer erstaunt über die gewaltige Größe der Glocken,
die häufig mit schönen gegossenen Basreliefs verziert sind,
sie haben aber keinen Klöppel, sondern werden mit einen:
Holzstabe horizontal von außen angeschlagen. Der Klang
ist gewaltig. Diese Glocken bestehen gleich den Gongs
und Tamtams der Chinesen aus einer eigentümlichen
Metallmischung, die zu zerbrechlich ist, als daß man sich
bei ihnen der Metallklöppel bedienen dürfte.
Außer den Tempeln sind auch die Paläste reich aus-
geschmückt; aber hier sind die Schmucksachen und Zier-
rathen von einer durchaus andern Beschaffenheit. Vor
allen Dingen fehlen niemals Wandschirme mit Ge-
mälden, welche Schlachten und heilige Stätten der Vor-
fahren darstellen; auch wird auf denselben die Chronologie
eines Herrscherstammes oder einer angesehenen Familie
verzeichnet; eine Sammlung von Waffen und Harnischen
würde kehl wohlhabender Mann entbehren mögen, sie bil-
det den Hauptschmuck des Rittersaal es, falls dieser Aus-
druck erlaubt ist. In anderen Zimmern ist die Biblio-
thek ausgestellt, welche insgemein auch Stammbäume edler
Familien und deren Geschichte enthält; der Besitzer legt
viel Werth darauf, daß dergleichen Manuskripte Meister-
werke der Kalligraphie bilden. In einem besondern Ge-
mache stehen alte lackirte Gerätschaften, die man in
jeder Hinsicht für werthvoller hält als dergleichen aus
neuerer Zeit, und es ist allerdings richtig, daß die Arbeit
an jenen den Fabrikaten der spätem Zeit bei weitem vor-
zuziehen ist. Bei uns in Europa finden die japanischen
Lackarbeiten mit vollem Recht großen Beifall, sie gehören
aber fast ohne Ausnahme nur Waaren geringerer Klasse
an, während die vorzüglichsten Arbeiten im Lande zurück-
bleiben. Nur dann und wann haben die Holländer auf
der Reise von Nagasaki nach der Hauptstadt lackirte Pracht-
stücke zum Gescheuk erhalten, die sich in der Sammluug
des Königs der Niederlande im Haag befinden.
Auf besondere Prunktafeln stellt man metallene
Blumenvasen, Räucherbecken und Holzschnitzereien, die
gleichfalls allefammt um fo höher geschätzt werden, je älter
sie sind. In einen: solchen Gemach befindet sich kein
anderes Stück Hausgeräth. Im Uebrigen sind die Zim-
mer sehr einfach, und die Liebhaberei zum Sammeln be-
schränkt sich ans die oben angegebenen Gegenstände, von
denen leider Manches durch die im Lande so häufigen
Feuersbrünste verloren geht. Man zieht solche Dinge
vor, die sich im Nothfalle leicht fortschaffen lassen, zum Bei-
spiel Gemälde und Münzen. Von diesen letzteren wird
besonders ein Stück gesucht, welches die Japaner Hanno
nennen, und das sie für ihre älteste Landesmünze halten.
Klaproth weist aber aus dem Buch Fookouna Siriak oder
„Abhandlung überden Ursprung der Reichthümer inJapan"
nach, daß erst im Jahre 683 unserer Zeitrechnung Kupfer-
münzen in Japan geprägt worden seien; vor dieser Zeit
habe Japan nur Tauschhandel gehabt. Dagegen ver-
sicherten die Landeseingebornen Herrn Fisscher, die Hannos
seien neunzehnhnndert Jahre alt. Ist das der Fall, so
sind sie chinesischer Herkunft. Der Aberglaube legt den
alten Kupfermünzen wunderbare Eigenschaften bei; sie sind
als Talismane wirksam. Wer solch ein Amulet trägt,
kann in der Schlacht nicht verwundet werden und aus See
keinen Schiffbruch leiden, auch bewahren sie nicht nur vor
Seuchen und Schlangenbiß, sondern sogar gegen Der-
armnng. Matt trägt sie an einer Schnur um den Hals
Antiquitäten- und Raritätensammler in Japan.
105
und bezahlt sie mit hohem Preise, ja nicht selten wiegt man
sie mit Gold auf.
Alte Gold - und Silbermünzen sind äußerst selten, vor
allen die Obang, von länglich runder Form, die 6 Zoll
lang und 4 Zoll breit sind, und somit fast die Größe einer
Hand haben. Man kann sie weniger als Münzen, denn
als Medaillen betrachten, auch werden sie ausschließlich für
den Kaiser geprägt, der sie als Geschenke an solche Männer
vertheilt, welche dem Staat wichtige Dienste geleistet
haben. In diesem Falle wird von einem dazu besonders
ermächtigten Beamten ein besonderes Schriftzeichen anf
dem Obang angebracht, das allemal zu erneuern ist, wenn
es sich etwa im Fortgange der Zeit abgegriffen hat.
Durch Verleihung eines solchen Obang aus den Händen
des Kaisers wird nicht nur der Empfänger hoch geehrt,
sondern die Auszeichnung wirft auch einen Glanz auf
defseu Familie; sie wird ähnlich angesehen wie in Europa
die Ertheiluug eines Verdienstordens. Bei festlichen
Gelegenheiten holt der Inhaber den Obang hervor und
zeigt ihn seinen Gästen. Es mag hier bemerkt werden,
daß die Japaner numismatische Werke besitzen;
eines derselben hat der Fürst von Tamba versaßt, und er
beschreibt in demselben eine von ihm angelegte Sammlung
europäischer Münzen. Der Kaiser hat, man kann wohl
sagen ganze Magazine, die voll sind von Kostbarkeiten und
Raritäten; er läßt die Sachen, nachdem sie einige Zeit für
den Hof zur Schau ausgestellt sind, in zierlich gearbeitete
Kisten und Kasten verpacken, und sie kommen dann nur
ausnahmsweise wieder ans Tageslicht.
Auch seltene Naturalien werden theuer bezahlt, vor
allen Dingen Fossilien und überhaupt Dinge, welche man
tief aus der Erde hervorgegraben hat. Japan ist ein
vulkanisches Reich, es hat mehr als ein Pompeji
oder Herculanum; eine Menge von Tempeln sind durch
Fluten, vulkanische Ausbrüche oder Erdbeben zu Grunde
gegangen und werden gelegentlich, nach Verlauf von Jahr-
Hunderten, wieder entdeckt. Dergleichen Aufgrabungen
sind allemal glückliche Ereignisse für die Raritätenfammler,
welche insbesondere die Antiquitäten aus dem Tempel
Kiomisi hochschätzen. Dasselbe ist der Fall mit Ueber-
resten der vorweltlichen Flora und Fauna. Die Japaner-
Haben Sagen von einer großen Flut. Ihre Chronik
enthält sichere Angaben freilich erst über die Zeit nach
Simu Tenno's Regierung; was sie aber von einer allge-
meinen Ueberfchwemmnng des Landes erzählt, ist sehr
wahrscheinlich. Steinen und überhaupt Mineralien, Mn-
scheln, Stücken Holz und überhaupt Gewächsen von eigen-
thümlicher Gestalt geben sie durch künstliche Nachhilfe gern
eine möglichst phantastische Form, und je monströser
ein Ding aussieht, um so werthvoller und
hübscher erscheint es ihnen. Einen alten kupfernen,
nut Beulen bedeckten Theekefsel ziehen sie dem werthvollsten
und geschmackvollsten Silberservice vor, wenn das letztere
neu ist.
Overmeer Fisscher erzählt, daß er sah, wie angesehene
Männer Kleider trugen, die über 50 Jahre alt waren. Sie
bestanden aus sogenanntem Tafsachelas, einem gingham-
artigen Leinengewebe, das iu Bengalen verfertigt wird, aber
ehemals von viel besserer Onalität war als gegenwärtig.
Man versicherte ihn, daß in Jeddo noch dergleichen Stoffe
aufbewahrt werden, welche die Holländer in der ersten
Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts nach Japan gebracht.
Die Japaner kennen den raschen Wechsel der Mode nicht
und halten dafür, daß auch bei Kleiderstoffen allemal das
Alte weit besser sei als das Neue. In dieser Beziehung
Globus X. Nr. 4.
kann man ihre Meinung nicht als eine eigensinnige bezeich-
nen, weil sie seit Jahrhunderten Muster von allen mög-
liehen Gegenständen sorgfältig aufbewahrt haben. Diese
vergleichen sie mit den neueren Artikeln, und die Europäer-
Haben deshalb alle mögliche Ursache, auf diesen Umstand
Rücksicht zn nehmen; die Japaner kaufen keine
schlechte Waare.
Zu deu Alterthümern rechnen die Japaner auch das
Kameh oder Schildpat und den Matsi oder Tannen-
bäum. In der Zucht und Pflege dieses letztern haben sie
eine bewunderungswürdige Vollkommenheit erreicht; sie
haben zum Beispiel in ihren Gärten Tannenbäume, die
weit über hundert Jahre alt sind, in Töpfen stehen; wäh-
rend der Stamm verknorrt und verkrüppelt erscheint, ist das
Wachsthum der grünen Nadeln ungemein üppig, und doch
hat der ganze Baum eine Höhe von nur etwa drei Fuß,
und breiter ist auch sein Gezweig nicht. Und im Gegensatz
zu diesen verkünstelten Zwerg bäumen stehen neben manchen
Tempeln Riesentannen von ungeheuerer Größe, die
gleichfalls ungemein sorgfältig gepflegt werden. Man
bindet von Anfang an die Zweige auf Stangen, die etwa
acht Fuß über der Wurzel iu horizontaler Richtung laufen;
der Baum gewinnt nach und nach an Breite uud bildet im
Fortgange der Zeit eiu schattiges Dach von nicht weniger
als dreihundert Fuß Durchmesser. Der Japaner zieht
einen verkrüppelten Baum, wenn er nur seltsam und aben-
teuerlich aussieht, dem schönsten schlanken Stamme vor,
und irgend eine Rarität, welche die See ans Land wirft,
oder ein ordinärer Stein von abenteuerlicher Form ist ihm
lieber als eiu werthvoller Edelstein; man versteht, beiläufig
bemerkt, das Schleifen der letzteren nicht, und Juwelen
werden nur gering geschätzt.
An die Stelle unserer Diamanten und Edelsteine tritt
bei den Japanern ein eigentümliches Kunstwerk, das sie
Sjaksdo nennen. Sjakfdo sind kleine Dosen oder ver-
zierte Platten von Gold und Silber. Der Grund ist
gewöhnlich schwarz und besteht aus einer Vermischung von
Gold mit Kupfer oder Eisen; die Figuren werden aus
einem beliebigen Metalle roh eingetrieben oder auch mit
großer Sorgfalt gravirt. Die Farben, welche man in
Europa durch Emailarbeit hervorbringt, erhält man bei
Sjakfdoarbeiteu durch die Zusammenstellung verschieden-
farbiger Metalle. Proben dieses Schmucks sind in Gens
genau untersucht worden, und die dortigen Sachkenner-
Haben erklärt, daß dieser Industriezweig iu Europa noch
durchaus unbekannt sei. Die Muster selbst siud iu der
Regel klein und einfach. Hauptsache ist die geschmackvolle
Arbeit. Mit Sjakfdo's legt man den Handgriff oder die
Stoßplatte der Säbel ein; man verziert mit ihnen die
Schlößchen an den Brieftaschen oder die Gürtelhaken, und
je nach dem Alter oder der Güte der Arbeit wird solch ein
Kunstwerk mit Hunderten und taufenden von Guldeu bezahlt.
Es gibt übrigens auch uachgemachtes Sjakfdo, das man
indessen leicht erkennt, weil bei einer solchen falschen Platte
die Figuren gegossen oder getrieben, und im Feuer gefärbt
worden sind. Von echter Waare geht selten etwas außer Lan-
des, weil die Japaner selbst höhere Preise dafür bezahlen,
als ein Europäer, der au solche» Raritäten keinen Ge-
schmack hat, dafür bewilligen würde. Es ist dasselbe Ver-
hältniß wie mit manchen Gegenständen, die wir mit Gold
aufwiegen, während derJapaner, dessen Geschmacksrichtung
von der unfern in fo vielen Dingen verschieden ist, dafür
keinen Thaler geben würde.
Die japanischen Küsten sind reich an Sckaalthieren und
auch die Perlenanster kommt häufig vor, namentlich in der
14
106 M, Rosen: In den 1
Landschaft Omnra, deren Fürst Perlen von ganz nnge-
meiner Größe besitzt. Doch werden alle Perlen hoch im
Preise gehalten, entweder weil sie nicht gerade häufig oder
die Gewinnungskosten, z. B. Arbeitslohn für die Taucher,
zu hoch siud. Der Kaiser hat sich von den Holländern
eine Taucherglocke ausgebeten, die ihm auch aus Europa
zugeschickt wurde. Kleinere Perlen werden zerstampft und
als ein, wie die Japaner glauben, blutreinigendes Arznei-
mittel angewandt, aber natürlich nur von reichen Leuten;
rothe Perlen kommen viel seltener vor als weiße.
Ueberall in Japan gibt es Antiquitätenhändler
und Raritätenkrämer, die sehr belangreichen Umsatz machen.
fischen Ostseeprovinzen.
Sie verkaufen nicht nur die oben erwähnten Gegenstände,
sondern auch lebendige Thiere, namentlich allerlei Vögel,
Hunde, Katzen, Grillen, Hirsche, Rehe, junge Bären, Weiße
Mäuse, Streithähne, Zwerghühner, Enten, Kaninchen,
seltene Blumen, Sämereien, Muscheln und Mineralien.
Dergleichen Magaziue findet man jedoch hauptsächlich nur
in den großen Städten mit Allem reichlich versehen, z. B.
in Jeddo, Miaeo und Osaeca. Meylan sah ein Arznei-
kästchen von 6 Zoll Höhe, 4 Zoll Breite und IV2 Zoll
Tieft, iu welchem eiu Tannenbaum, ein Bambus und ein
Pflaumenbaum wuchsen. Diese Rarität wurde mit 400
Kobaugs, also mit 1200 holländischen Gulden bezahlt.
In den russisch c n D st s c e p r o v i n z c n.
Von Memel nach Riga und Dorpat.
Von Max Rosen.
II.
Noch einmal Mitau. — Der Weg nach Riga. — Deutsches Bürgerthum iu der alten Hansestadt. — Nach der Universitätsstadt Dorpat.
Man kann es den Kurländern nicht verdenken , wenn Coterieinteresse ist das einzige, welches sich ans den kurischen
sie aus ihrer einförmigen Heimat sich nur zu gern hinaus- Flächen so allgemein entwickelt hat, wie die Fichten- und
sehnen und nach Deutschland, Frankreich, Italien und Gott Tannenwälder.
weiß wohin reisen; aber gänzlich von der Heimat sich Aber zurück auf Mitau selbst! Die Stadt ist regel-
Auf dem Eise der Düna- (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
loszureißen vermögen sie nicht; denn alle kennen einander,
sind mit einander verschwägert und vervettert und nennen
sich darum auch nie mit den Familiennamen, sondern stets
mit dm Namen ihrer Besitzungen. Das ganze Land ist
wie eine Stadt, deren Häuser nur der Zufall mehr oder
weniger auseinander gelegt hat. Das Familien- und
mäßig gebaut, hat aber meistens nur hölzerne Häuser.
Ueber die Aa führt eine Schiffsbrücke. Der Fluß wimmelt
voll schmutziger Lithauer-Kähne, welche anzuschauen sind wie
wunderbare riesige Fischleiber. DerObertheil eines solchen
Kahnes ist mit Holz überwölbt, und aus einem Loche dieses
ungeschlachten Diuges kriechen schlottrige Menschen hervor
Eine Brücke bei Wolmar in Livland,
gestiftete k u r l ä n d i s ch e G e s e l l s ch a f t für Literatur und
Kunst in Mitau, welche in ihrem Provinzial-Museum eine
nicht unbedeutende Sammlung von Naturalien, Gemälden,
Münzen und Alterthünieru besitzt und ihre Schriften durch
den Druck bekannt macht. Elise von der Recke hinter-
(Nach einer Zeichnung von d'Henriel.)
geht Weg und Blick in ein Waldmeer; rückwärts endet
Blick und Pfad, an Sumpf und Haide vorüberstreifend,
ebenfalls in dunkle Forste. Das ist das Land der lichten
Birken und der blonden Kurländcr, der dunkeln Fichten
und der grauen Letten. —
14*
M. Rosen: In dm russischen Ostseeprovinzen.
mit schmutzigen blauen Kleidern und holpriger Sprache,
Lithauer. Nur feiten erscheint ein oberländisches Boot mit
seinen grau gekleideten Letten. Noch aus der Leibeigen-
schaftszeit her habeu sie die leideudeu Gesichter bewahrt und
die furchtsam ver-
stohlenen Gebär-
deu; von noch älte-
rer Zeit her aber
die mongolische Ge-
sichtsbildnng. Zwi-
schen durch huschen
schmutzige Juden,
das traurigste Ue-
berbleibsel polni-
schen Regiments im
Lande, in langen,
zerrissenen Röcken,
mit ewig gestiknli-
renden dürren Ar-
men und ewig plap-
perndem Munde,
immer anscheinend
beeinträchtigt und
immer in Wahrheit
betrügend. — Eiues der ansehnlichsten Gebäude der Stadt ist
das Gymnasium illustre mit einer Bibliothek von
36,000 Bänden und einer Sternwarte. Den regen Sinn der
Kurländer für geistige Interessen bezeugt die im Jahre 1816
In einem Inländischen Dorfe. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
ließ derselben einen großen Theil ihrer von bedeutenden
Männern und Frauen empfangenen Briefe. Jenseits der
Aabrücke steht das herzogliche Schloß^ bestehend aus
einem großen Hauptgebäude und zwei Flügeln. Den
Bau desselben be-
gann 1739 der be-
kannte Biren, wel-
chen die Kurländer
1737 auf seiner
Gönnerin, Kaiserin
Anna, Geheiß zil
ihrem Herzoge ge-
wählt hatten. Jetzt
befinden sich in ihm
russische Bureaus.
Auf der breiten
Landstraße, welche
der Kaiser dem fit=
rischen und livifchen
Adel erbaut hat, ga-
loppirt man schnür-
stracks aufRiga zu.
Aber traurig mn-
thet alles Land das
fremde Auge im Vorüberfahren an. Zur Rechten Sumpf-
gelände und Haidegrund, Krüppelfichten und isolirte
Tannen, dahinter schwarzgrüner Waldsaum; zur Linken
kein Unterschied, nur der Schwarzwald näher; vorwärts
M. Rosen: In den russischen Ostseeprovinzen.
Hier schleicht Nachts der Wolf durch die Landschaft;
hier trabt noch das riesige Elenn im dichten Tann; hier
lauert der Luchs iu den Zweigen der Fichte auf Beute und
über den Wäldern hin, durch der Bäume Wipfel, schwirrt
der schillernde Auerhahn, das stahlblaue Birk - und braune
Haselhuhn; Nachts aber ertönt das schaurige Gekrächze des
Kranichs und der Rohrdommel, während der schwarze
Storch und aschgraue Reiher hoch in den Lüsten schweben.
Und noch ist es kein Jahr-
hundert her, da lagerte
auch der Bär, brummend
und an seinen Tatzen sau-
gend, hier im Dickicht.
Aber von all diesem Thier-
leben gewahrt man natür-
lich im Vorübersausen
nichts; todtenstill und ein-
sam erscheinen Wald und
Moor. Nur höchst selten
taucht ein kleines Hans
oder deren ein Paar, grau
wie die Baumstämme und
ohne Schornstein, aus den
Bäumen hervor, uud Men-
schen sieht man hier meilen-
weit nicht. Noch viel sel-
tener blickt ein Landhaus
hinter einer zwergartigen
Obstbaumgruppe hervor,
wie der halbvergessene An-
bau eines in dieses Wald-
meer Verirrten. Sogar
die Felder verstecken sich
hinter dem wüsten Laude
der nächsten Umgebung
und selbst die Heerden ver-
bergen sich in das un-
durchdringliche Dunkel der
Waldung. Solche Todten-
einsamkeit erblickend, bc-
greift man auch, warum
die kleineu Pferde au deu
kleinen Wagen der kleinen
grauen Letten sich alle auf
der großen Straße znsam-
mengedrängt haben und so
eilig vorüberjagen; sie alle
sucheu so schnell wie mög-
lich der öden Landeinsam-
feit zu entfliehen und wie-
der unter Menschen zu kom-
men. Gott aber mag wissen,
was in Knr- und Livland
diese Letten verführt hat,
sich so einzeln und ifolirt
in der weiten Ebene anzn-
bauen, als fürchte Einer des
Andern Berührung. Wenn dann plötzlich einmal die Land-
straße lebhaft wird, erwartet man mit Gewißheit, jetzt kommt
ein Dorf oder ein Städtchen; aber mit Nichten; immer weiter
galoppiren die armen Pferde durch die Wald- und Sumpf-
einsamkeit, bis plötzlich die Bäume enden und Riga vor
uns liegt. Im sausenden Galopp geht es über die Düna-
brücke, deren Geländer durch anliegende Schiffe gebildet
wird; fort geht es über das holprige Pflaster, und auf
dem Residenzplatze wirbelten eben die Trommeln einen
Zapfenstreich, von den wilden Zigeunertönen der Querpfeife
begleitet, als ich im Hotel zur Stadt Petersburg abstieg.
Noch später klang von Viertelstunde zu Viertelstunde der
lang ausgehaltene melancholische Anruf der Wachtposten von
der Hauptwache und von den Wällen und Cafematten der
Stadt volltönig herüber über die schlafenden Häuser in die
weiten Zimmer meines Gasthauses hinein; sonst nicht das
mindeste Geräusch; die Stadt hat am Tage zu laut gelebt
und muß des Nachts aus-
ruhen.
Der Unterschied zwi-
schen Riga und Mi tau
ist groß, und eben in die-
ser Verschiedenheit offen-
baren beide Städte ihren
innersten Charakter. Riga
ist Handels- nndKanf-
mannsstadt, das zeigt
die Düna, auf deren Flnt
finnische Schooner, solide
schwedische Kauffahrer und
Schiffe fast aller nordeuro-
päifcheu Nationen flaggen;
dabei ist Riga ursprünglich
deutsch, ehemalige Hau-
seatin, uralt, von bremer
Schiffern gegründet(welche
auf ihrer Fahrt nach Wisby,
auf der Insel Gothland, an
die Mündung der Düna
verschlagen wurden), durch
sich bestehend, eine Bür-
gerstadt. Die eigentliche
Stadt hat daher denn auch
ganz das Aussehen einer
alterthümlich deutscheu
Stadt, mit überaus engen
Straßen und Nebengäß-
che«; sie ist von Wällen
und Bastionen , mit einer
Citadelle umgeben und liegt
größtenteils auf dem rech-
ten Ufer der Düua, eine
Meile von deren Mündung
in den Golf der Ostsee.
Das Schloß war ehemals
Sitz der livländischeu Heer-
meister des deutschen
5^
r-
Livländische Bauern in Wintertracht. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet.)
dens und beherbergt jetzt
die Gouvernements -Be-
Hörden. Vor demselben
steht auf einem hübschen
Platze eine Granitsäule
mit einer vergoldeten
Victoria, einen: Geschenk
Alexanders aus dem Jahre
1.814.
Riga hat drei Vorstädte, von denen zwei, die Peters-
burger und moskauer, auf der rechten Seite der Düna
hinter der Stadt liegen, während die dritte auf dem linken
Ufer erbaut ist; sie nehmen einen größern Raum eiu, als
die Stadt felbst und sind regelmäßig angelegt. Die an-
ziehendsten Punkte bildet das Dünaufer an der Stadtseite,
wo die Schiffe befrachtet und ausgeladen und die Wochen-
Märkte gehalten werden, nebst der Schiffbrücke, welche
iu einer Länge von 899 Schritten über den Strom
M. Rosen: In den russischen Ostseeprovinzen.
geschlagen ist; sie gewährt den interessantesten Spazier-
gang, welchen man in Riga haben kann, insofern unmittel-
bar längs der Brücke flaggende Schiffe ans allen Welt-
gegenden in langen Reihen aufgepflanzt sind. Außerhalb
der Stadt wird vorzüglich die Esplau ade und der schon
von Peter dem Großen angelegte „kaiserliche Garten"
viel besucht. Im Ganzen aber ist die Gegend reizlos, flach,
ja sandig. Nach der Mündung des Stromes hin erheben
sich wahre Sandhügel.
Gleichwohl scheuen die
wohlhabenden Städter
weder Mühe noch Ko-
sten, um ihre Landsitze
iu der Nähe der Stadt
auf das Freundlichste
auszustatten.
Der Sinn für Ver-
schönernng und Erl)ei-
teruug des Lebens ist
den baltischen Deut-
scheu eigen; daher fehlt
es hier nicht an Gele-
genheit zu geselligen
Freuden, und Theater
und Concerte erfreuen
sich eines guten Rufes.
Auch hängt damit die
hier allgemein Herr-
schende Gastlichkeit zu-
stimmen, die dem Deut-
schen im fremdenLande
so wohl thnt. Bekannt ist ferner der Wohlthätigkeitssinu
der Rigaer; eine Menge von Vereinen und Anstalten legt
dafür Zengniß ab. Von den 65,909 Einwohnern wohnen
in der Stadt vorzugsweise Deutsche, in den Vorstädten
Russen. Der Haudel ist bedeutend. Insbesondere werden
Flachs, Hanf, Lein - und Hanfsaat, Holz, Talg und Getreide
ausgeführt, welche Rohprodukte aus deu oberen Düna-
gegenden auf fla-
chen Kähnen (Wit-
tinnen), die man
nachher zerschlägt
und als Holz ver-
kaust, zur Stadt ge-
bracht. Der Werth
dieser transportir-
ten Produkte wird
jährlich auf.mehr
als 30 Mill. Rubel
angeschlagen.
"Der Strich L i v -
lands, welcher in
nordöstlicher Rich-
tung nach St. Pe-
tersburg zu hin-
läuft, hat im Gan-
zen die Beschaffen-
heit des Bodens mit
Kurland gemein. Auch ist hier wie dort der Adel, die
Geistlichkeit und die Mehrzahl der Stadtbewohner deutschen
Stammes, die Zahl der Juden ist gering. Den Haupt-
theil der Bevölkerung bilden im Norden die Esthen, im
Süden die Letten. Der eigentlichen Liven, welche sin-
nischen Ursprungs sind, ist nur uoch eiue geringe Anzahl.
Bei Hilchensähr wird die livländifche Aa pafsirt, welche
der Größe nach Livlands zweiter Fluß ist. Unfern der
In der Umgegend von Dorpat. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet)
Reiter ans dein Land in Kurland. (Nach einer Zeichnung von d'Henriet)
kleinen Stadt Wenden liegt die schönste Gegend Livlands,
die man wohl stark euphemistisch die „livische Schweiz"
nennt.
In einem etwa 100 Fuß tiefeu Bergkessel liegt recht
angenehm die freundliche Universitätsstadt Dörpt oder
Dorpat (russisch Jurgef) am Embachflüßcheu, das in den
Peipnsfee fließt. Diese altersgraue Stadt, die iu den
Kämpfen zwischen Rußland, Schwertrittern, Polen und
Schweden viel u. mehr
noch durch zwei Brände
im vorigen Jahrhun-
dert gelitten hat, be-
steht aus der eigent-
lichen Stadt und zwei
Vorstädten. Sehens-
Werth ist die alte stei-
nerneBrücke über den
Fluß, das schöue, große
U u i v e r s i t ä t s g e -
bäude und der Dom
auf einer ehemals be-
festigten Anhöhe, eine
zum Theil wiederherge-
stellte Ruine, in welcher
die Universitätsbiblio-
thek eine sehr zweck-
mäßige Aufstellung ge-
sundeu. Dorpat war
ehedem auch als Han-
delsstadt von Bedeu-
tung ; sie bildete die
Vermittlern! des Handels zwischen dem innern Rußland
und der Ostsee und gehörte deshalb mit zur Hansa. Ihre
neuere Erhebung datirt aus der Zeit der zweiten Katharina.
Noch merkwürdiger als das Schicksal der Stadt ist das ihrer
Universität, die ihren Ursprung Gustav Adolf ver-
daukt; ihre gegenwärtige herrliche Ausstattung gab ihr
Alexander I.^Sie ist zwar zunächst nur für die drei Osts ee-
Provinzen be-
stimmt u. nähert sich
daher in ihrer innern
Einrichtung unter
allen russischen Uni-
versitäten noch am
meisten den dent-
schen Vorbildern,
allein ihre Bedeu-
tnng geht weit über
diesen Kreis hinaus.
Es studireu nicht
allem fortwährend
auch Rusfeu hier,
sondern es gibt auch
unzählige durch sie
gebildete Gelehrte
und Beamte über
alle Theile des gro-
ßen Reiches zer-
streut, welche die Elemeute deutscher Bildung weithin
verbreiten. Aber auch auf andere Weife bildet Dorpats
Universität neben St. Petersburg die Vermittlerin zwischen
Deutschland und Rußland. Nächst Moskau ist sie zu-
gleich die frequeuteste russische Universität; sie zählt 600
Studireude und über 80 Lehrer. Reich ausgestattet ist
das astronomische Observatorium, lange Zeit von Struve
dirigirt. Wer hätte nicht von dem Frauenhofer'schen
110 Einblicke in dm
Niesen -Refractor gehört! Und als besondere Eigeuthüm-
lichkeit der Universität nmß noch das sogenannte „Professor-
Institut" erwähnt werden. Es besteht nämlich die Ein-
richtung, daß junge Nüssen, welche Fähigkeiten und Neigung
zeigen, aus Kosteu der Regierung hier stndiren, mit der
Bestimmung, einst als Professoren sich da verwenden zu
lassen, wo es die Regiernng für passend findet. Gewöhn-
werden diese sogenannten Kronstudenten zur Vollendung
manischen Orient.
ihrer Ausbildung noch auf auswärtige Universitäten ge-
schickt, namentlich nach Berlin. Die russische Regierung
sah sich zu dieser Maßregel dadurch veranlaßt, daß ein-
heimische, wie fremde Gelehrte sich nur ungern int Innern
Rußlands, namentlich in den kleineren Provinzialstädten
des Reiches anstellen ließen, weshalb an vielen russischen
Hochschulen und Gymnasien das Lehrerpersonal unvoll-
ständig blieb.
Einblicke in den o
Mesopotamier
Die Häuser und ihre innere Einrichtung. — Kellerwohnungen, B
Die Umgebungen der Stadt; Gärten. — Der Nimrodthuriu nnd
Herten; die Aleppo-Pustel. — Die Tiefländer am Euphrat all
Datteln und andere
Die Straßen von Bagdad sind unregelmäßig und nicht
gepflastert. Die Häuser der Privaten, große und kleine, er-
scheinen dein Ankömmling als wahre Muster von Allem, was
die menschliche Einbildungskraft an Unzweckmäßigem und
Unbequemlichem erfinden kann. Sie sind offenbar einzig in
der Absicht gebaut, sich und seine Faniilie, namentlich aber
die schönere Hälfte des menschlichen Geschlechts, hermetisch
von der Außenwelt abzuschließen. Die Christen, welche die
mohammedanischen Sitten nicht immer billigen mögen,
müssen sich ihnen nichtsdestoweniger ans Furcht vor Ans-
rühr, Raub und Mord fügen. Solch ein Haus ist eine
Art von oben offenen: Kasten aus Ziegelsteinen. Die vier
äußeren Mauern ragen mit verzweifelter Einförmigkeit an
den Nachbarhäusern und auch an deu Straßen empor —
nichts als gelbgraue Ziegel und Lehm — und zeigen im
allgemeinen nirgends Fenster oder auch nur Luftlöcher.
Erst in der allernenesten Zeit, als ein Zeichen der andringen-
den Civilisation, wagen es einige Freigeister, Fenster und
Erker nach Außen anzulegen, eine Einrichtung, die früher
nur bei den Selamliks, der Abtheilung für die Dienstboten
itud zum Empfang männlicher Besucher, in türkischen
Häusern bestand. Gewöhnlich ein hölzerner Vorbau im
zweiten Stockwerk, breit genug, um eiue Ottomane anzu-
bringen. Andere Verschiedenheiten als diese ansnahms-
weise Neuerung hat äußerlich kein Gebäude vor dem
andern aufzuweisen, es sei denn die Größe und die mehr
oder minder sorgfältige Construktion. Wird Einem nun
auf Anklopfen die massiv gearbeitete Thür eines Hauses
von Mittlerin Umfang aufgemacht, fo tritt man durch einen
düsteren engen Gang in den innern rings von den ver-
schiedenen Piecen umgebenen Hofraum. Dies ist ein vier-
eckiger mit gelben Ziegelplatten belegter ebener Platz, der,
wie auch das ganze Hans, Han'wsch genannt wird. Manch-
mal ziert ihn in seiner Mitte ein Miniaturgarten, aus dem
sich einige dustlose Blumen, ein Orangenstrauch und viel-
leicht eiue kleine Grnppe Dattelpalmen emporheben. Auch
überschattet wohl ein einsamer immergrüner Laubholz-
bäum mit unansehnlichen Steinfrüchten, der Nabnk, das
Innere.
Dies sind in der eigentlichen Stadt fast die einzigen
smanischen Drient.
und Bagdad.
^randahs und der Rosfi. — Bauweise der arabischen Maurer. —
die nackte Wüste. — Klimatische Verhältnisse; Hitze und Krank-
?r Meeresboden. — Erdpech nnd türkische Volkswirthschast. —
Nahrungspflanzen.
Spuren von Gärten; die Einwohner lieben sie selten, weil
sie erstens, wegen der Bewässerung durch Zuträger, umstand-
lich und kostspielig sind, nnd zweitens dadurch das geflügelte
Geschmeiß, besonders die Fliegen, Mücken und Wespen,
angezogen wird. Der Hos wird unmittelbar durch den
Unterbau eingefaßt. Die äußere Bekleidung desselben
besteht in den besseren Wohnungen aus glatt behauenen
durch Gypsmörtel verbundenen Ziegeln, welche, um graziös
zu erscheinen, Nischen im runden und im spitzen Bogenstyl
bilden. Hier befinden sich gemeiniglich auf zwei Seiteu die
Küche, das Bad, verschiedene Gelasse für Vorräthe nnd ein
Appartement für die Dienerschaft, auf den beiden anderen
ragen die oberen Theile der Wohnkeller, Serdab
genannt, mit ihren von Holzrosten verschlossenen breiten
gewölbten Oessnnngen in den Unterbau hinein. Diese
Keller, deren jedes Haus einen bis drei besitzt, dienen
im Sommer als Aufenthaltsort, weil man es bei der
Höllentemperatur von 40° R. im Schatten nicht gut auf
der Erdoberfläche aushalten kann. Man steigt 10 bis 20
Stnfen unter den Boden hinab; je tiefer um so kühler
erscheint das Souterrain, aber es ist auch dann, wie man
behauptet, um so ungesunder. Kreuzgewölbe mit Pfeilern
oder auch einfache Tonnengewölbe im maurischen Ge-
schmack, so zierlich wie möglich mit Gyps und Backsteinen
ausgeführt, decken den Serdab; unten ist er mit Fliesen
gepflastert, und in der Seite befinden sich einige kaminähn-
liche Luftabzüge , welche bis zu der Terrasse hinaufsteigen,
dort in Windsängen enden und den Zweck haben, die Ven-
tilation zu unterhalten. Zuweilen leitet man dieselben anch
unterhalb des Serdabs über Brunnenwasser oder bedeckt
sie oben mit feinem Dorngesträuch, das man beständig an-
feuchtet, wodurch man frischern Zugwind erhält. Auch der
Brunnen ist im Unterbau angebracht. Das Wasser jedoch,
von widerlichem, bittersalzigem Geschmack, ungenießbar,
wird lediglich zum Besprengen des Hofes verwendet. Das
Waffer zum Waschen, Kochen nnd Trinken bringen die
Sakkas in Schläuchen auf Eseln aus dem Tigris herbei,
oder man empfängt es aus den durch Pferdearbeit gespeisten
Röhrenleitungen, wofür man dem Waknf (Moscheengut)
jährlich eine bestimmte Summe entrichtet.
Einblicke in den
Den obern Rand des Unterbaus krönt eine gedrechselte
Balustrade; auf seiner obern ebenfalls bepflasterten Fläche
bildet er eine mehr oder minder breite Veranda, zn der
man durch eine gemauerte Treppe hinaufsteigt. Das über
die Zimmer hinausgebaute, von hölzernen Mastern getra-
gcite, unten nach arabischer Weise ausgetäfelte Dach bedeckt
dieselbe und endet in Spitzenzierrath.
Von der Veranda, dem Stolz der Bagdader, tritt man
in die nebeneinander gereihten Stuben, welche unter sich
nicht im Zusammenhang stehen, sondern von denen jede
nach dem Hofe zu ihre besonderen Fenster und Thören
hat. Ju der Mitte vou jeder der vier Seiten, aus denen
auch das obere Stockwerk besteht, wölbt sich eine offene,
mit Nischen und schlechter Arabeskenmalerei ausgeschmückte,
meist durch einen großen gesteppten Vorhang verschließbare
Halle, der Eiwe genannt, wo der Eingeborne, aus Baum-
wolleukiffeu gelagert, seine Frühlings - und Herbsttage hin-
zutränmen Pflegt. Sie erinnert an den Beduinen, der sein
Zelt auch im Schooße eines ansässigen Lebens nicht ganz
vergessen mochte. Der Ro s si ist ein anderes an seiner Front
mit Tafelwerk, bunten Gläsern und größeren zum Ausschie-
beu eingerichteten Läden versehenes Gemach; dasselbe wird
bei etwas niedrigerer Temperatur als der Eiwe bewohnt.
Die eigentlichen Zimmer empfangen Luft und Licht aus
zwei Reihen übereinander stehender Fenster ohne Scheiben
und Nahmen. Die oberen kleineren sind spitz zugewölbt,
die unteren dagegen bilden Rechtecke. Sie sind nach Außen
durch ein Gitterwerk ans kleinen in Arabesken zusammen-
gefügten Holzstückchen, nach Innen durch gewöhnliche
Läden verschlossen. Statt der letzteren haben die oberen
Fenster oft bunte Scheiben. Die Räumlichkeiten sind meist
sehr hoch, doch entbehren sie der Zugluft. Nischen, Simse
und Cornischen bilden gemeiniglich den einzigen Schmuck der
weißgetünchten Wände, dann und wann jedoch trifft man
darauf die ungeschickten Fresken eines einheimischen Kunst-
lers und eingemauerte prismatische Spiegel an.
Der Fußboden ist nie gedielt und selten bepflastert,
vielmehr aus gestampfter Erde hergestellt. Darüber breitet
man zuerst Schilfmatten und dann jene weltberühmten
köstlichen persischen Teppiche aus, die, wie es die Sitte des
Landes will, aus einem Mittel- und zwei schmäleren
Seitenstücken von andern: Dessin zusammengesetzt werden.
Dielen würden dein zahlreichen, oft giftigen Ungeziefer
Herberge bieten. Glücklicherweise kennt man in Bagdad
— wer weiß es nicht zn würdigen! — die Plage der schlaf-
suchenden Menschheit, die Wanzen, nicht.
Kein Haus besitzt mehr als ein über den Unterbau
aufgeführtes Stockwerk. Vou hier aus steigt man ans das
flache, auswärts durch eine 10 Fuß hohe Randmaucr,
innen durch eine Balustrade umfaßte Dach. Seine Regen-
dichtigkeit erlangt es durch eine auf Schilfrohr und Matten
ausgebreitete mit Häcksel vermischte starke Thonlage, die
auch wohl mit Ziegelplatten belegt ist. Diese Terrasse
ist ein höchst wichtiger Abschnitt der Wohnung, denn, wäh-
rend man den größten Theil des Tages in den oben
beschriebenen Serdabs zubringt, schläft man auf ihr Nachts
sechs Monate hindurch unter freiem Himmel. Das
obere Stockwerk ist nur bei den Wohlhabenderen mit
Mörtel beworfen, geweißt und das Holzwerk gefirnißt oder
angestrichen, bei der großen Masse der Bevölkerung findet
mau nur die rohen, düstereu, durch Thon verbundenen
Ziegelwände. Auch besitzen die Armen nicht vier bewohn-
bare Hauvseiten, sondern nur eine, und die übrigen werden
durch die Mauern der Nachbarhäuser geschlossen. Türkische
Wohnungen haben, wie schon bemerkt, gegen die Straße
hin noch einen mehr vernachlässigten Vorbau: den Selamlik.
-manischen Orient. 111
Das Amenblement beschränkt sich durchgehends aus eine
an die Fensterbrüstung gelehnte auf dem Boden liegende
Ottomane von mehr oder minder reichem Stoff und mit
Baumwolle gepolstert. Tische, Stühle, Kommoden und
was wir Europäer sonst noch als unentbehrliche Bestand-
theile der häuslichen Existenz betrachten, gibt es selten.
Nur die Neichen haben sich, den Engländern nachahmend,
in der letzten Zeit ans Indien bezogene, sehr solide, aber
außerordentlich thenre Möbel aus Teakholz angeschafft.
Jedes andere Holz, wenn es besonders ans einem curo-
päischen Klima eingeführt wird, springt, zerreißt und ver-
biegt sich durch die außerordentliche lang anhaltende Hitze
und Trockenheit.
Die Küchen- und Wirthschastsgeräthe bestehen, wo es
immer angeht, aus verzinntem Kupfer, wie überall im
Orient, wo man die Vorzüge des Eisens und der Faß-
binderarbeit noch kaum zu würdigen weiß. Ein broncenes
Kohlenbecken von antiker Form vertritt die in unseren
rauheren Klimaten gebräuchlichen Oefeu und Kamine.
Man zieht zur Feuerung die rothgebrannte Kohle der
schwarzen vor, da jene weniger Gas entwickelt. Das
Wasser wird in größeren uuglasirteu, trichterförmigen
Thongefäßen aufbewahrt. Indem es durch dieselben
filtrirt, erhält es sich durch die rasch von Statten gehende
Wärme bindende Ausdünstung beständig kühl und klärt
sich gleichzeitig. Nur wenn, was zum Glück selten ist, ein
mit Dünsten geschwängerter Süd- oder Westwind weht
und jenen Prozeß verlangsamt, bleibt das Wasser lau.
Den größten Theil des Sommers herrscht der Nordost.
Ein Hans in der Stadt der Märchen aus Tausend und
eine Nacht ist bei aller Unzweckmäßigst auch eine sehr
unsolide, der Gnade eines Regensturzes anheimgestellte
Construktiou. Die oft au 3 bis 4 Fuß dicken, aber auch
au 60 Fuß hohen Mauern werden mit Ausnahme der Ge-
wölbe und einzelner Schichten ohne Mörtel errichtet, und
überdies sind die dazu gebräuchlichen Backsteine Fragmente,
welche schon im Laufe der Jahrhunderte unzählige Male
architektonische Dienste leisten mußten. Neue Ziegel sind
aus Mangel an Brennmaterial ziemlich kostspielig. Die
Gruben und Oefen liegen an der nördlichen und östlichen
Seite der Stadt am Rande der großen Thonwüste, welche
Bagdad umgibt. Eine stachelige Natroupflauze, die dort
weichst, wird von armen Weibern zusammengelesen und
zum Backen der Steine verwendet; da aber die Hitze nicht
intensiv genug erzeugt werden kann, fallen sie schlecht aus.
Der Mörtel, Traß und Gyps mit Erdpech gebrannt, ist
beinahe ein Lnrnsartikel.
Der arabische Maurer legt nie ein Gerüst an. Er
stellt sich auf die Mauer und baut unter seinen Füßen fort,
indem er die größeren Steine zur Bekleidung verwendet;
mit dem Gerümpel aber, das ihm wie der Schlamm, den
er zur Verbindung benutzt, von Knaben auf Leitern zuge-
tragen wird, füllt er das Innere aus. Merkwürdig
erscheint, daß er auch die Gewölbe ohne Schablone aus
freier Hand von unten nach obeu herrichtet, ohne daß die
frisch aneinander gekitteten Steine herabstürzen, wozu die
Trockenheit der Luft und der Cement natürlich Alles bei-
tragen. Siud Bäume in die Mauern eingelegt und die
Ziegel behauen, so halten sie schon besser, aber nicht aus-
reichend. Wenn es iiu Winter etwas über die Norm
regnet, und auch bei deu gewöhnlichen Witternngsverhält-
nissen stürzen immer eine Menge Häuser ein.
Zum Glück bekundet sich die Katastrophe durch Risse, welche
sich langsam erweitern. Niemand miethet eine Wohnung,
wenn er auch nur die geringsten Sprünge in den Mauern
entdeckt, denn er ist gewiß, daß sie ihm bei dem nächsten
112 Einblicke in den
Regen über den Kops zusammenfallen würde. Dagegen
ist die Feuersgefahr gering, und bei einem Brande, der
sich nur in der Bedachung äußern kann, werden selten mehr
als drei Häuser zerstört.
Die große Masse derselben sind elende, für einen
civilisirten Menschen vollkommen unbewohnbare Schmutz-
löcher; findet man, was schwer hält, eine einigermaßen
anständige Wohnung, so muß man sie nicht nur, von
200 Thaler jährlich an, theuer genug bezahlen, sondern,
ehe man sie beziehen kann, noch umfassende Reparaturen
und Veränderungen vornehmen. Die gesuchtesten Legali-
täten liegen an dem linken Ufer des Tigris, und ans-
gezeichnet durch ihre Größe sind die Palais des englischen
und des persischen Generaleonsuls und der Konak eines
pensionirten indischen Nawabs auf der andern Seite des
Flusses. Allein auch sie halten keinen Vergleich mit einem
mittelmäßigen europäischen Hause aus. Neubauten sind
sehr theuer, besonders am Wasser.
Die nächste Umgebung der Stadt ist nur an den
Ufern des Stromes pittoresk. Hier liegen zwischen den
Dattelgärten, welche ihn zu beiden Seiten mit geringer
Unterbrechung besäumen, dieDörser derFellahs, dieserFeld-
arbeiter ohne liegendes Eigenthum, welche mit ihrem Vieh-
staud in elenden Schlammhütten wohnen. Von Strecke zu
Strecke stößt man auf eine sogenannte To lumb e, eine Art
Ziehbrunnen, in welchen das Wasser des Tigris zu allen
Jahreszeiten tritt, und den man für die Bewässerung der
knltivirten Striche benutzt. Hier ziehen Tag und Nacht, in
eine zu dem Zweck ausgegrabene Vertiefung hinabdrückend,
magere Pferde und Rinder große Schöpfschläuche über
eine aus Ständern ruhende Walze empor, und ihre Treiber
ergießen dann den Inhalt in die dazu eingerichteten Rinnen,
welche mit den Gräben, die netzförmig über Gärten und
Felder ausgebreitet sind, in Verbindung stehen. Tag und
Nacht hört man diese Rollen knarren und seufzen, als ob
sie die Klage der armen, stummen Geschöpfe, welche zu
dieser überaus harten Arbeit verdammt sind, wiedergeben
wollten. Gemeiniglich mildert eine die Tolumba über-
schattende Baumgruppe die Glut der Sonnenstrahlen. Die
Gärten, welche im Durchschnitt ziemlich verwildert aus-
sehen, sind von Schlammmauern umzogen; sie enthalten
Dattel- und Orangenhaine, und vereinzelt sonstige Obst-
bäume, sodann Rosenhecken, Weingelände, Grünfutter-
und Gemüsefelder. Im Frühjahr, dem März und April,
wenn der uuvergleichliche Duft der Orangenblüthen die
Luft mit süßer Würze ausfüllt, wenn die Rosen auskuospeu,
alle Kräuter sprießen und die Bnlbnl im Gebüsch zarte
Weisen flötet, gewähren die Gärten einen herrlichen Anfent-
halt. An Landhäusern fehlt es zwar, aber hie und da
findet sich ein Köfchk — natürlich kein architektonisch
elegantes, sondern eben nur ein Obdach — wo man einige
Tage an den Wassern ländlich hinbringen kann. Wohl-
habende Leute lassen dann in einem Garten für sich und
ihre Familie Zelte aufschlagen und halten ein paar Wochen
Villegiatur, bis sie es vor Hitze und Geschmeiß nicht mehr
ertragen können.
Längs den Ufern ziehen sich nur für Reiter benutzbare
Wege hin. In einem Lande, das flach und fest ist, wie
eine Tenne, wo Regenwetter gar nicht in Betracht zu ziehen
sind, sind die Wagen seit Jahrtausenden außer Gebrauch
gekommen, und es ist auch in der That unter den gegen-
wärtigen Verhältnissen nicht gut thunlich, sie wieder einzu-
führen, weil die zahllosen, entweder gar nicht oder höchst
unvollkommen überbrückten Gräben den Fuhrwerken kein
Fortkommen gestatten. Die Regierung brauchte nur zu
manischen Orient.
befehlen und darauf zu halten, daß die Eigentümer oder
Pächter der Kanäle, wo dieselben die Verkehrstraßen durch-
schneiden, Brücken anlegen, und wenn sie dann selbst mit
einem guten Beispiel bei den größeren Wasserläufen vor-
anginge, so stünde dem weit Wohlseilern Transport durch
Wagen nichts weiter im Wege. Leider verausgabt die
Pforte für die ihrer Obhut anvertrauten Länder kein nutzen-
stiftendes Wort, geschweige denn einen Groschen, sondern
sucht sie uach Möglichkeit in der blinden Gier des Augen-
blicks auszubeuten.
Aus dem linken User an der nördlichen Stadtfront
führt die Straße aus dem Thor von Im am Asam nach
dem eine halbe Stunde entfernt gelegenen Marktflecken
gleichen Namens, wo sich eine größere Moschee, das Sijaret
desselben Heiligen, befindet. Noch bedeutender an Umfang
erhebt sich ihr schräg gegenüber die Moschee des Jmam
Mussa mit ihrer vergoldeten Kuppel und vier hohen
Minarets. Beide enthalten bedeutende Schätze, welche die
Pilgerndell Schia's aus Persien dort niederlegen, doch
halten sie Seinen Vergleich mit den Reichthümern aus, die
iu Nedschef nnd Kerbela in der Nähe des Euphrats dem
Chalifen Aali und seinem Sohn Hussein zu Ehren auf-
gehäuft sind. Die türkische Regierung würde iu ihrer
Permanenten Finanznoth dieselben längst eonfiseirt haben,
wenn sie nicht einen augenblicklichen Ausstand der Bevöl-
kernng und als Zugabe einen Krieg mit Persien fürchtete.
Während jene Heiligen einer so kostspieligen Auszeichnung
genießen, ist das Grabmal der schönen Zobe'ide,
der Gemahlin des Chalifen Harun al Raschid, kaum des
Beinerkens Werth. Kegelförmig erhebt es sich, ans Back-
steinen errichtet, einsam in der wenig besuchten Wüste,
welche den Stadttheil des rechten Users einschließt. Dort
erblickt man auch in der Entfernung eine altertümliche
pyramidale Konstruktion, aus Schilf, Erdpech und an der
Sonne getrockneten Ziegeln dennoch solid zusammengesetzt,
aus der man nichts Bestimmtes zu deuten weiß. Der
Ball heißt im Volke, wie fast alle Ueberbleibsel der chal-
däischen Epoche, der Nimrodthurm. Wahrscheinlich
diente er vormaleinst als Wartthurm und Wahrzeichen, um
den Bewohnern die Annäherung des Feindes oder des
Hochwassers zu verkündigen.
Oestlich und westlich von den Gärten und den gelegent-
lichen Ackerfeldern dehnt sich unabsehbar die nackte thon-
graue Wüste ans. Sie beginnt unmittelbar an den
östlichen Mauern der Stadt. Auf ihrer ebenen kahlen
Oberfläche, höchstens von leichten Senkungen, welche alte
Kanäle andeuten, durchzogen, gleißen uud flimmern, wie
nahe Wasserseen, unaufhörlich die seltsamen Erscheinungen
der Luftspiegelung und versperren bis auf tausend Schritt
die Aussicht. Nnr am frühen Morgen bringt sie die Gegen-
stände näher, und beim Sonnenaufgang gewahrt man zu-
weilen, sich Wolkenhaft am Horizonte abzeichnend, die bläu-
lichen Randgebirge Irans. Diese heutzutage trostlose
Einöde ist ein äußerst stickstoffhaltiger, des höchsten Er-
träges fähiger Alluvialboden, der im Laufe der Jahrhun-
dcrte auch ohne den geringsten Dung nicht zu erschöpfen
ist; aber ernf ihm ruht die fürchterliche Verwünschung einer
schlechten Regierung, und ehe nicht irgend ein mannhafter
Ritter die arme Prinzessin Vegetation voll dem bösen
Zauberer iu Coustantinopel befreit, wird es immer so
bleiben. Vormals bedeckten prachtvolle Gärten uud üppige
Saateil, von taufenden weit hergeleiteten Kanälen befruchtet,
diese Wüsteneien, und dazwischen erstreckten sich die volk-
reichen Vorstädte Bagdads. Das ist seit vielen Jahren
anders geworden, weil der Türke, der fanatische Un-
mensch, feine Geißel über die von der Natur am reichsten
Einblicke in dm
ausgestatteten Länder Asiens schwingt, wo er kann, zer-
stört und verzehrt und nichts aufbaut und erhält, als
das sinnlose System einer barbarischen Tyrannei. Er
haust noch heute wie ein fremder Eroberer im Lande und
spricht noch heute seinen Bewohnern jedes zu Recht
bestehende Grundeigenthum ab.
Das Klima Bagdads ist afrikanisch, und wenn auch
uicht allzu uugesund, doch von störender Einwirkung aus
den Fremden. Der Sommer ist wahrhaft furchtbar. Dann
steigt der Thermometer bis 41" R. im Schatten und fällt
auch Nachts nicht unter 28" herab. Es herrscht hier dem-
nach eine Temperatur, wie sie wahrscheinlich nicht viel
höher auf der Erde angetroffen wird. Diefe höllische
Hitze, unter der die Gläser zerspringen und das Holzwerk
weit aufklafft, wird nur dadurch erträglicher, daß bei dem
trockenen Zustande der Luft der aus den Poren hervor-
brechende Schweiß fchnell abforbirt und somit aus der Haut
eine gewisse Frische erzeugt wird. Bei feuchtem Wiude
aber leidet man entsetzlich. Eier kann man im Wasser,
wie im Sande an der Sonne sieden und man verbrennt sich
mit jenem. Zur Tortur, und Manchem tödtlich, steigt hin-
gegen die Temperatur, weun der furchtbare Samum über
die brennende syrische Wüste wie aus dem Racheu eines
Flammenofens herfegt und schwere Wirbel von glühendem
Staub uud Sand über die Stadt führt. Dann nimmt der
Himmel die Farbe des rothglühenden Eisens an und die
Sonne verschleiert sich hinter düsteren Wolken, aus denen
statt des erfrischenden Regens gleichsam Feuer herabfällt.
Zum Glück waltet dieser versengende Wind nur ungefähr
sechs Wochen lang in: Juli und August vor, wo er dann
regelmäßig einigen Menschen, namentlich Reisenden, das
Leben raubt; sonst mildern die von den kurdischen Gebirgen
herabwehenden Nordwinde wenigstens Nachts die Tempera-
tur und gestatten den Einwohnern den Schlaf auf ihren
Terrassen.
Im Winter fällt das Quecksilber bis auf 3" unter
Null; es friert, Eis erzeugt sich aus den vom Regen
zurückgelassenen Lachen; selbst im Tigris treibt eine ver-
einzelte Scholle, doch Schneefall ereignet sich vielleicht alle
20 Jahre nur einmal. Die mittlere Temperatur des
Jahres dürfte nach einer ungefähren Schätzung 18" R.
betragen. Thau schlägt sich im Sommer nicht nieder, weil
sie gegen Morgen nie so weit abnimmt, daß die in der
Atmosphäre chemisch gebundene Feuchtigkeit sich in genug-
samen Quantitäten ausscheiden und niederschlagen könnte.
Die Regen beginnen im November und dauern bis zum
Mai, fallen aber so spärlich und wenig anhaltend, daß sie
mehr für das Wachsthum des Grases auf den Weideplätzen,
als für den Ackerbau in Betracht gezogen werden. Ich
erinnere mich, daß es vor drei Jahren nur siebenmal im
Jahre geregnet hatte; doch ist dies keine Norm, sondern
meist findet der Niederschlag häufiger und in bedeutenden
Quantitäten statt. Gewitter treten merkwürdigerweise nur
int Winter ein, während ein Regen im Sommer, ja nur
eine Wolke zu den ganz ungewöhnlichen Phänomenen
gehört. Hagelschlag ist ebenfalls äußerst selten.
Wer sich einmal an das Klima gewöhnt hat, findet es
zuträglich, obschon viele Krankheiten Menschen hinraffen.
Eine Quarantäne besteht zwar, doch beschästigen sich die
löblichen Mitglieder derselben mehr mit der beschaulichen
Beobachtung als der Bekämpfung der Seuchen und ihrer
Ursachen. Früher grassirte in Bagdad die Pest uud raffte
die Einwohner massenhaft hin, doch hat sie sich feit ungefähr
20 Jahren nicht mehr blicken lassen, statt ihrer aber stattet
ihr Schwesterwürgengel, die Cholera, der Stadt im
Herbste alljährlich einen Besuch ab und fordert zahl-
Globus x. Nr. 4.
osmanischen Orient. 113
reiche Opfer. Sie wird ausschließlich von den Persern
eingeschleppt und findet namentlich reiche Nah-
ruug in den mephitifchen Ausdünstungen der
Leichen wohlhabender Leute, welche karawanen-
weise von jenen frommen Schiiten ohne vor-
hergegangene Einbalfamirung hunderte von
Meilen nach Kerbela und Nedsches transpor-
tirt werden, damit ihnen durch ein Begräbniß an
heiliger Stätte die Auferstehung gesichert sei. Solch ein
persischer Karawanenknecht behauptet in seiner religiösen
Begeisterung, der halbverweste Leichnam eines reich ver-
storbenen Mannes rieche nach Jasmin und Rosenessenzen,
und hält es für eine unvergebliche Sünde, demselben der
Gesundheit schädliche Einflüsse zuzuschreiben.
Die Quarantäne hat wenigstens, Dank der Verwen-
dung des ihr zugetheilten europäischen Jnspeetors, so viel
erreicht, daß dergleichen Pilgerzüge die Stadt selbst nicht
mehr Passiren uud zum Ruhepunkt wählen dürfen.
Eine eigenthümliche Art Schwindsucht rafft viele Per-
fönen beiden Geschlechts hin; gewöhnlich sterben die Kranken
im August. Ein gebildeter Arzt schreibt diese Erscheinung
dem im Sommer herrschenden Mangel an Sauerstoff zu;
eine Annahme, die in einem pstanzenarmen Lande viel
Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wirksame Mittel gegen
dies verbreitete Leiden gibt es nicht. Diarhöen, Dysen-
terien und Unterleibsbeschwerden sind klimatisch, wie in den
meisten heißen Ländern und tragen oft einen chronischen
meist immer verderblichen Charakter. Drogueu erweisen
sich dabei ohne Erfolg, doch eine strenge Diät mit nur
Stärke enthaltender Nahrung führt zur Heilung.
Fieber waren in Bagdad früher so gut wie unbekannt,
seitdem aber die türkischen Machthaber mit ihrer sprich-
wörtlichen Indolenz einen Theil des Grabens der Citadelle
versumpfen ließen, haben sich auch diese Leideu eingestellt,
doch treten sie meist in latenter Form auf. In der ganzen
Türkei gibt es überhaupt weit mehr ungesunde, als gesunde
Orte, und besonders wird der Reisende von sehr hart-
nackigen Wechselfiebern, die oft traurig enden, bedroht.
Die Aerzte verwenden zu der Kur derselben — einer wie
der andere — schwefelsaueres Chinin, welches sich gegen
die Fieber der Sumpflande nicht nur durchgängig unzu-
reichend, sondern auch für den Körper als ein die Leber
und die Milz angreifendes Gift erweist. Auch nach der
stärksten Dosis kehrt die Krankheit am 13. Tage wieder und
jene muß immer erneuert werden, so daß der Patient
geradezu nur die Wahl hat, entweder am Fieber oder an
Gift zu sterben. Arsenik gar, mit dem zum Glück nur
wenige Aerzte erperimentiren, ruinirt vollends jeden Rest
von Gesundheit. Kurz und gut, Tausende erliegen jähr-
lich, selbst wenn sie sich aus Verzweiflung der Hydropathie
in die Arme werfen; aber von wunderbarer Kraft bewährt
sich, wie ich an mir und Anderen erfahren, ein anderes selten
gekanntes Mittel: das Tan in. Zieht man einen zer-
stoßenen Gallapfel eine Nacht über in Branntwein aus
und nimmt die Flüssigkeit, etwa ein Gläschen voll, ein, so
ist man gewiß, wenn man nur wenige Tage in derselben
Weise fortfährt, das hartnäckigste Wechselsieber gründlich
zn heilen. Ein mir bekannter Mann, der zehn Jahre
daran litt, wurde vollkommen wieder hergestellt. Fast
follte man der Vermnthung Raum geben, daß der wirksame
Stoff der Chinarinde das in derselben enthaltene Tauin
sei. Jedenfalls möchte ich eine an mir selbst durchgemachte
Erfahrung zum Besten der leidenden Menschheit der Be-
achtung derjenigen Heilkünstler empfehlen, welche mit einer
wahren Sucht von den Darstellungen der experimentirenden
Chemie hoffen, was aller Welt vor Augen liegt.
15
114 Einblicke in den
Eine vielverbreitete Plage ist die epidemisch auftretende
ägyptische Augenentzündung, welche von mikro-
skopischen Geschwüren, die an der innern Fläche des untern
Lides entstehen, herrühren soll. Wenige bleiben von diesem
sich oft chronisch verlängernden Uebel verschont. Das
bewährteste Mittel dagegen ist unstreitbar eine schwache
Auflösung von salpetersauerem Silberoryd, das man zu je
einem Tropfen mit Hilfe einer Federspule in die Thränen-
drüse träufeln läßt. Einige Aerzte wenden auch Kupfer-
und Zinksalze an; die Eingebornen aber halten sich, trotz
der traurigsten Erfolge, an ihre Charlatans und gebrauchen
ein ätzendes Bleipulver. Als Resultat wimmelt es von
Blinden und Einäugigen.
Es wäre eine Lücke, von den Tigrislanden zu erzählen
und der merkwürdigen Geschwüre, welche dort charak-
teristisch sind, nicht zu gedenken. In Europa kennt man
sie nur unter dem französischen Namen der Aleppo-
Pustel, les boutons d'Alep; von den Eingebornen werden
sie Churma tschiban, d. h. Dattelgeschwüre ge-
nannt. Dieser Name verleitet Manchen zu dem irrigen
Glauben, daß sie von dem Genuß der Dattelfrucht her-
rühren. Daß dies aber nicht der Fall, beweist sowohl das
Nichterscheinen derselben in anderen Ländern, wo die Dattel
wächst, als auch das Erscheinen in solchen, wo die edle
Palmfrucht entweder gar nicht existirt, oder nur zu den
ausnahmsweisen Genüssen gehört. Gewiß ist, daß sich seit
dem grauen Alterthum die Jünger des Aesculap vergebens
den Kops darüber zerbrochen haben, welcher Ursache jene
eigentümliche Hautkrankheit zuzuschreiben und wie sie in
ihrem Ausbruch zu verhindern sei. Alle bis jetzt ange-
wandten Kurversuche haben nur Verschlimmerung herbei-
geführt. Meine unmaßgebliche Ansicht ist, da nur solche
Gegenden, welche ihr Wasser aus dem überaus
stark kupferhaltigen Taurus (Machrab) empfan-
gen, der räths'elhasten Heimsuchung unterworfen sind, daß
eben die Kupferlösung verändernd aus den Organismus
wirkt, bis sich derselbe ohne Beschwerlichkeit an die unzu-
kömmliche Stoffaufnahme gewöhnt hat. Engländer, die
dagegen anführen mögen, daß sie während ihres Ausent-
Halts in Bagdad nie Wasser, sondern nur Pale Ale
getrunken hätten, sind offenbar im Jrrthum begriffen, denn
ihre Speisen sind schwerlich mit Bier zubereitet worden.
Die Churma Tschiban greifen fast alle Ansässigen jedes
Alters und Geschlechtes, seieu sie nun Einheimische oder
Fremde, gleich unbarmherzig an und entstellen namentlich
die Gesichter der Frauen und der zarten Kinder. Ganze
Wangen, Nasen, Augen und andere Gesichtstheile werden
zerfressen; doch bei den erwachsenen Europäern läuft das
Uebel meist ziemlich gelinde ab. Das Geschwür dauert
eiu Jahr und darüber; wer davon verschont geblieben,
quält sich gewöhnlich mit Drüsenanschwellungen und Aus-
wüchsen.
Kinder von europäischen Eltern bleiben,
wenn sie im Lande geboren sind, sehr selten
am Leben, ist dagegen die Mutter eine Ein-
geborne, so gedeihen sie gnt.
An leidlichen Aerzten ist kein Mangel, und besonderes
Vertrauen verdienen diejenigen türkischen und englischen
Doetoren, welche mit den Eigenthümlichkeiten des Klimas
durch eine längere Erfahrung bekannt geworden, selbst
wenn sie, was allgemeine Gelehrsamkeit anlangt, nicht
gerade Sterne erster Größe sind. In den Apotheken und
Droguenhandlnngen finden sich die gebräuchlichsten Medica-
mente vor, reich sogar ist die Pharmakopoe des türkischen
Militärhospitals.
nanischen Orient.
Werfen wir nun einen Blick auf die drei Reiche der
Natur, die dem Menschen vorangegangen, nothwendig um
so sehr wie das Klima und die Gestalt des Landes seine
ihm eigene Lebensweise zu verdeutlichen, so finden wir zu-
erst das Mineralreich äußerst schwach vertreten. Ein
Stein ist in der ganzen Umgegend nicht zu
finden, er sei denn durch Menschenhände oder durch den
Strom importirt worden. Der Boden besteht aus einer
thonartigen, aus calcinirten Natron - Magnesia - und Borax-
salzen zusammengesetzten Masse. Diese Salze krystallisiren
an Stellen, wo sich die Winterfeuchtigkeit länger hält, an
der Oberfläche und bedecken einem Schneefeld vergleichbar
oft weite, bei Regenwetter sich in Morast verwandelnde
Strecken. Es ist klar, daß die Tiefländer des
Euphrat und Tigris und die ganze syrische
Küste den Boden eines weiten Meeresbeckens
bildeten, von dem der jetzt sich mehr und mehr ver-
schlammeude Persische Golf der Ueberrest sein mag. Die
beständigen Überschwemmungen der Flüsse setzten das Ge-
röll der kurdischen und armenischen Hochgebirge in ihren
Thalflächen ab, während jenseits des Euphrats in der
Wüste die tertiäre Formation zu Tage tritt. Vulkan streitet
indeß gewissermaßen mit Neptuu um die Ehre, an der
Herrschaft des Landes Theil zu habeu, denn an vielen
Orten, wenn auch uicht in der Nähe Bagdads, befinden sich
heiße, namentlich Schwefelquellen, und insbesondere
ist das Bitumen stark vertreten. Vielleicht in keinem Lande
der Welt gibt es so viele Naphtaqnellen und Brunnen.
Schon Herodot weiß davon zu erzählen. Beiläufig bemerkt,
scheint er in seiner Beschreibung Babyloniens nur vom
Hörensagen geleitet worden zu sein, während der kühne
Landsknecht Xenophon nach eigener Anschauung ohne
Phantasiesprünge berichtete und in jeder Beziehung volles
Vertrauen verdient.
Die Naphta, welche jetzt zur Bereitung des luft-
förmigen, wie des flüssigen Gases sich vorzüglich verwenden
läßt und daher einen bedeutenden Exportartikel abgeben
könnte, dient gegenwärtig höchstens zur Ernährung
schlechter Nachtlampen in den Basars von Bagdad, und
das Erdpech wird gebraucht, um gemauerte und hölzerne
Behälter wasserdicht auszufüttern. Das Naturprodukt
darf nicht erportirt werden; warum wissen die
Götter! Der englische Generaleonsul, Oberstlieutenant
Kinball, hatte einmal dem Statthalter der Provinz lang
und breit die Vortheile auseinandergesetzt, welche die
Pforte, das Land, ja er selbst einernten könnte, wenn der
Handel mit dem Berg öl nach Indien freigegeben würde,
weil dadurch die Steiukohle zur Erzeugung von Leuchtgas
in Bombay und anderen Städten augenblicklich von dem
Markt gedrängt werden müßte. Der biedere Satrap, der
natürlich von alledem kein einziges Wort begriffen, ant-
wortete beipflichtend mit Jnschallah und Maschallah, dachte
sich aber insgeheim, daß der Jnglis-Giaur ihm einen Fall-
strick legen wolle. Nach längeren Verhandlungen über
diesen Gegenstand kam endlich der definitive Bescheid
von Konstantinopel, daß Bitumen als ein Mi-
neral zu den verbotenen Ausfuhrartikeln ge-
höre, weshalb man bedauere, deu wohlwollenden Antrag
des Eonsuls nicht weiter berücksichtigen zu dürfen. Die
Türken hegen überhaupt eine entsetzliche Besorgniß, daß
durch die Entdeckung irgend eines größeren Naturschatzes
die Habgier der Franken unwiderstehlich gereizt werde, und
wären im Stande, einen etwa entdeckten Goldplacer, so sehr
es ihnen auch um das edle Metall zu thun ist, in aller
Stille zuzuschütten.
Kalisalpeter findet sich häufig in dem Schutte der
Einblicke in den
sehr zahlreichen Ruinen der babylonischen Landschaft, doch
bis jetzt wurde nur der Boden von Ktesiphon zur Gewin-
nung desselben bearbeitet. Seine Reinigung ist mit großen
Schwierigkeiten wegen der mit ihm reichlich vorhandenen
Meersalze verknüpft, und da zudem das Eindampfen an
der Sonne, wie in Ostindien, nicht das ganze Jahr hin-
durch betrieben werden kann, die Feuerung und die Arbeit
aber sehr theuer sind, verlohnt sich seine Darstellung nicht
der Mühe und wäre er billiger durch den Handel von
Bombay zu beziehen.
Sand und Kies ist nur im Flußbett vorhanden,
worunter zuweilen ein Saphir oder ein anderer Edelstein
gemengt ist. Die Pflanzenwelt stimmt, wie mir ein
leidlicher Botaniker versichert, im Allgemeinen so ziemlich
mit der der übrigen gemäßigten Zone überein, doch trifft
man auch, wie iu Aegypten, Uebergänge zu der heißen und
selbst wirkliche Tropengewächse, wenn auch nur selten, an.
In einigen Gärten stehen Bananenstauden, doch erinnere
ich mich uicht, je Früchte au deuselben bemerkt zu haben.
Olivenbäume sind auffallend felteu, und das Baumöl wird
zu sehr hohen Preisen, 20 Piaster die Okka, importirt.
Daran ist keineswegs das Klima Schuld, denn es existiren
mehre Exemplare vortrefflich gedeihender Bäume; man
muß alfo die Vernachlässigung dieser einträglichen Kultur
anderen Ursachen beimessen. Wahrscheinlich steckt die weise
Regierung selbst, wie bei der jetzt verloren gegangenen
Seidenzucht, dahinter. Früher gewann man in Bagdad
nicht nur viel Rohseide für deu Bedarf der eigenen Web-
stühle, sondern konnte noch ansehnliche Quantitäten aus-
führen. Ein Pascha gedachte nun eines Tages an dem
Gewinn nach seiner Art zu participireu, und damit ihm
durch den Schmuggel keine Abgabe entging, zählte und
besteuerte er die Maulbeerbäume statt des Fabrikats und
zwar so hoch, daß Angesichts des häufigen Vorkommens
des Mißrathens der Würmer an keinen Profit der Arbeiter
mehr zn denken war. Die armen Seidenzüchter berath-
fchlagteu sich kurz und hieben in einer Nacht ihre Plantagen
um. Seitdem bezieht man die Rohseide aus Persien.
Die Oliven dürfte ein gleiches Schicksal getroffen haben.
An Orangen aller Art fehlt es nicht. Die Bäume erreichen
eine stattliche Höhe, auch die Früchte sind von guter Ouali-
tät, aber wegen der Hitze halten sie sich den Sommer hin-
durch, weuu ihr Genuß am wünschenswerthesten, nicht.
An guten Aepfeln, Birnen, Pflaumen, Pfirsichen und
Apricoseu gebricht es, obschon sie durchaus nicht fehlen;
die Weintrauben gerathen leidlich; an Kirschen und Erd-
beeren jedoch fehlt es gauz. Zu ungemeiner Größe reifen
die Granatäpfel und die Melonen heran.
Bagdads Ruhm, die Lebensessenz seiner Bewohner,
sind die Datteln. Es soll von ihnen über 30 Abarten
geben, die übrigens nur ein großer Kenuer alle genauer
von einander zu unterscheiden vermöchte. Im Frühjahr
schießen au zähen Stengeln unterhalb der Blätterkrone
smanischen Orient. 115
Blüthendolden hervor und beladen sich an den weiblichen
Stämmen im August mit den anfangs grünen, dann aber
goldgelb und pflaumeublau an der Sonne gekochte», zucker-
reichen Steinfrüchten. Em Baum trägt 20 Pfund bis
über einen Centner. Sie machen die beliebteste Zuspeise
der Bevölkerung aus. Eiuige Gerstenfladen und eine
Handvoll Datteln bilden die ausschließliche Nahrung der
Armen. Man preßt sie im Winter theils in Schläuchen
zusammen; theils bewahrt man sie trocken auf. Kästäue
heißt die vorzüglichste Oualität. Aus den schlechteren
Sorten kocht man einen beliebten Syrup oder destillirt einen
wohlschmeckenden Arak. Von der Ergiebigkeit der Dattel-
palmen hängen infolge des allgemeinen Consums eng die
Preise des Getreides ab. Der Stamm erreicht gemeiniglich
eine Höhe von 50 bis 60 Fuß und wächst gerade oder wind-
fchief; er ist nicht weiter als höchstens zur Ueberbrücknng
eines Grabens zu benutzen, weil er nicht aus Holz, fondern
vielmehr aus einein Bündel verflochtener, aber doch verein-
zelter Röhrenfasern besteht. Ein Wurm greift ihn bohrend
an. Die Blattäste hingegen, welche elastischer und fester
Natur sind, werden zu Bettstelleu und Käfigen verarbeitet,
indem man die stärkeren mit einem Hohleisen von drei zu
drei Zoll durchlocht und gitterwerkartig sie hierdurch mit
dünneren oder zu dem Zweck gespaltenen Rutheu verbindet.
Ein solches Machwerk hält jedoch nicht lange, weil es im
grünen Zustaude angefertigt werden muß und später unter
dem Einfluß der Hitze wackelicht wird und aus allen Fugen
geräth.
Unsere Kohlarten, Bohnen, Artischocken, Rüben und
Paradiesäpfel kommen vortrefflich fort, und die ersteren
erreichen eine iu kälteren Landstrichen unbekannte Größe;
man verwendet indeß wenig Fleiß auf ihre Zucht; sie sind
insgesammt erst seit wenigen Jahren eingeführt wordeu,
weil die Einwohner, wie alle Asiaten, mit ganz besonderer
Vorliebe an den Cucurbitaceen, besonders den Gurken
und Bannen, hängen. Alle uns bekannte Getreidearten
sind in Chaldäa, mit Ausnahme des Hafers und der
Erbsen, vertreten; Mais wird nur sehr spärlich und
mehr als Leckerbisseu angebaut; hingegen erfreut sich der
Reis einer sehr ausgedehnten Kultur in allen Bezirken,
wo es möglich ist, ihn ohne Kunstnüttel unter Wasser zu
halten. Das ist namentlich am Euphrat der Fall, doch
ist auch die Djalla, ein Nebenfluß des Tigris, ein Ge-
Wässer von Belang für die Agrikultur. Der Tigris, weil
er nur selten in die Felder tritt uud in einem sehr tiefen
Bett strömt, genießt bei dem Fellah keines großen An-
sehens. Der Reis zeichnet sich, wenn er auch nicht weiß
ausfällt, durch einen guten Geschmack und starkes Auf-
quellen beim Kochen aus und ist namentlich zu der Be-
reitung des orientalischen Pilaffs geeignet. Von wilden
Pflanzen sind fodahaltige Kräuter und ein Ueberflnß von
Ricinus bemerkenswert!). Wälder gibt es nicht, doch trifft
man am Euphrat auf Tamariskengestrüpp und Dschungles.
15*
HG
H, Birnbaum: Die Erhebungen nnd Senkungen der festen Erdrinde x.
Die Erhebungen und Senkungen der festen Erdrinde in Mittel- und Südeuropa,
Nordasrika, Centratasten und Südamerika.
Von vr. H. Birnbaum.
II.
Die Ufer, welche das Schwarze Meer in Europa
und Asien begrenzen, tragen ebenfalls sichere Zeichen der
allmäligen Erhebung, ja es ist sogar deutlich zu sehen,
daß dies in der sogenannten historischen Zeit durchgeführt
sein muß. Außer anderen Anzeichen lassen sich die Lager-
moderner Conchylien entfuhren, welche v. Tschichatscheff
ans denHöhen Thraciens und Anatoliens ausgefunden
hat. Darauf deuten auch die um die Krim gelegenen
Salzseen und modernden Sümpfe, welche der Enxinns
bei feinem Rücktritt zurückgelassen hat. Und die neueren
geologischen Forschungen im asiatischen südlichen Rußland
lassen kaum darau zweifeln, daß das Easpische Meer
sich von dem Schwarzen Meere durch die Erhebung der
Steppen des Don getrennt habe. Daß sogar noch jetzt
eine unterirdische Verbindung zwischen den beiden Meeren
eristire, ist eine Vermnthung, die wir hier blos erwähnen,
ohne sie weiter zu verfolgeu, da sie nicht eigentlich in unsere
Untersuchung paßt. Die gewaltige Depression der cas-
pischen Flachländer, welche bis 80 Fuß unter das Niveau
des Meeres hinabsteigt, und nach Halley durch den Zn-
sammenstoß der Erde mit einem Kometen erzeugt fein soll,
hat sicher ebenfalls nur in dem Acte der allmäligen Er-
Hebung und Senkung der Erdoberfläche ihren wahren Grund.
Derselben unterirdischen Kraft sind auch das Absondern
des Aralsees und der vielen kleinen Seestücke, womit
die Steppeu der Ural- und Altairegion überdeckt sind,
zuzuschreiben. Auf dieseu Puukt machte besonders Manry,
der berühmte amerikanische Seekundige, aufmerksam, als
er die asiatische Erhebung mit jener der Anden in Vergleich
brachte. Und Alexander v. Humboldt's geistreiche
Erforschungen Eeutralasiens lassen die viel weiter gehende
Hypothese gur nicht mehr für zn gewagt erscheinen, daß
einst das Schwarze Meer bis zum Obi-Gols gereicht
und hier mit dem Eismeer in unmittelbarer Verbindung
gestanden habe.
Die neueren mit wissenschaftlicher Gründlichkeit durch-
geführten Niveau-Unterfuchnngen an den Gestaden
des Mittelländischen Meeres haben nicht blos eine Bestäti-
gnng der allmäligen Erhebung und Senkuug dieses Bassins
und der anliegenden Länder gegeben, sondern auch die
Greuzeu der Ausdehnung dieses Prozesses mit großer
Wahrscheinlichkeit bestimmt. In Syrien und Palästina
wechselten Erhebungen und Senkungen nacheinander ab.
Während die Ufer des Golfs von Jskanderia durch
die Festlandserhebung fortwährend an Breite und Höhe
gewonnen haben, zeigt sich bei Beirut eine Küstenstrecke,
welche unaufhörlich dem Senkungsprozesse unterworfen
war. Weiter nach Süden ist die Insel Tyrns der Alten
zum Eontinent gekommen, und mehre Stellen dieser jetzigen
Halbinsel trageu noch deutliche Spuren ihres früheren
submarinen Aufenthaltes an sich. Viele Orte von Palä-
stina sind im Acte des langsamen Hinabsinkens begriffen,
wie dies die ehemals über dem Niveau des Meeres und
jetzt darunter gelegenen Fortisikationsmerkmale deutlich au
den Tag legen. Die Küsten Aegyptens haben sich früher
einmal fehr rafch erhoben, denn die Bitterseen und die User
des Nils deuten in ihren Ueberbleibseln des Meeres überall
darauf hin. Dagegen ist diese Erhebung in unseren Tagen
sehr langsam und kaum nachweisbar. Im Gegentheil fehlt
in dieser Gegend eine stark ausgeprägte Depression
nicht. So sind die Ruinen in der sumpfigen Ebene des
seichten Sees Mensaleh den größten Theil des Jahres
vom Meere überdeckt; der Boden, aus dem sie ruhen, muß
sich also uothweudig geseukt habeu. Ferner hat man noch
einen alten Nilarm aufgefunden, dessen Ufer jetzt ganz
von dem Wasser des Mittelländischen Meeres überdeckt sind.
Diese wunderbaren Phänomene der Senkung fehlen auch
selbst jenseits des Deltas nicht. Die alten Beschreibungen
von Alexandrien und seinen Umgebungen würden gar
nicht richtig zu verstehen seiu, wenn man das erklärende
Licht dnrch die Hypothese der Senkung vernachlässigen
wollte. Alte von Menschenhand angelegte Grotten und
Katakomben, welche zur Zeit der Ptolemäer sicher oberhalb
des Wasserspiegels augelegt worden sind, und die man jetzt
sehr unpassend die „Bäder der Cleopatra" nennt,
liegen in unseren Tageu aus immer unter dem Niveau des
Meeres begraben. An den Usern des Rothen Meeres,
nicht weit von Suez, befinden sich andere in den Kalkstein
eingehauene Begräbnißhöhlen, welche ebenfalls durch den
allgemeinen Senkungsprozeß unter das Waffer gesunken
sind. Die Insel Ereta zeigt ans der Westseite eine Er-
Hebung von 24 Fuß Höhe, auf der Ostfeite dagegeu eine
gar nicht unbedeutende Depression. Hier stoßen wir also
auf eine ziemlich genau ausgeprägte Grenzlinie zwischen
beiden Oscillationen. Man hat daher auch schou äuge-
saugeu, gerade für diesen geologischen Zweck, die Ostseite
des Mittelländischen Meeres, das „Aegyptische
Meer der Depression" zu nennen. Nach diesem wich-
tigen geologischen Erfahrungssatze wäre auch der Isthmus
von Suez mit in dieseu Senkungsprozeß einbegriffen und
man darf daher den beabsichtigten Durchstich desselben für
nichts Anderes halten, als für eine Versriihung eines später
gewiß eintretenden Actes der Natur. Der oft ausgeworfene
Zweifel, ob dieses seit einigen Jahren in Angriff genom-
menen Menschenwerk nach seiner Vollendung sich wohl
erhalten könne, ob dasselbe nicht doch bald wieder von den
beständig dagegen kämpfenden Kräften der Natur vernichtet
werden würde, verlöre hierdurch (wie man fehr sanguinisch
behaupten will) fast ganz seinen Halt.
Längs dem Ufer des Ad riatischen Meers im Nor-
den von Zara und Pescaro habeu die Geographen
ebenfalls Senkungsphänomene beobachtet, welche den großen
Raum der mittelländischen Erhebung im Norden begrenzen.
Von Angiolo Eremitano ging schon im 16. Jahrhun-
dert die Behauptung aus, daß die kleinen Inseln Vene-
digs sich tiefer ins Meer hinabsenkten, und daß diese
Versenkung in jedem Jahrhunderte etwa einen Fuß betrage.
Diese Hypothese, welche sich auf das Vergleichen des alten
H, Birnbaum: Die Erhebungen
Straßenpflasters mit dem neuen und auf Merkzeichen an
den alten Bauwerken dieser berühmten Lagunenstadt stützte,
ist seitdem noch vielfach auf audere Weise bestätigt worden.
Auf der Insel St. Georg liegen jetzt mehre alte Römer-
werke unter dem Niveau des Meeres, welche ursprünglich
sicher darüber augelegt worden sind. Das alte Loconca,
welches nicht weit von Cattoliea an der Mündung des
Crustummio lag, ist schou seit einigen Jahrhunderten
submarin; bei ruhigem Meere sieht man noch an den
Ueberresten zweier seiner Thürme, Giacinto und Eollegno,
die Spuren der vom Po und anderen Flüssen herabgeführten
Anschwemmungen. Auch au den gegenüberliegenden Ge-
staden Jstrieus und Dalmatiens fehlen diese Merk-
zeichen nicht. Bei Trieft, Zara und auf Poraguitza
sieht man verschiedene Menschenwerke; z. B. Straßen,
Mosaike und Sarcophagen unter dem Meere gelegen.
Archäologische Soudirungen haben diesen Senkungsact in
neuerer Zeit auch bestätigt. Der Boden, den man aus diese
Weise unter den Lagern der Anschwemmung vorfand, lag
einst über dem Niveau des Meeres.
Den Senkungen im Adriatischen Meere entsprechen
ähnliche Wahrnehmungen in den südlichen Zweigen der
Nordsee und im Canal. Man hat sogar schon die Der-
muthung ausgesprochen, daß beide zu einem Ganzen zu
verbinden seien, wodurch dann Centralenropa einer
großartigen allmäligeu Depression unterworfen
wäre. Wir lassen indeß diese Speculation ans sich beruhen
und begebeu uns sogleich wieder in das Gebiet der That-
sachen. Aus dem umfangreichen Littoral der Normandie
und Bretagne deuten die vielen unter Wasser anfgefnn-
denen Waldungen und Mauerwerke auf den Act der Erd-
senknng. Es scheint auch, daß hier, ähnlich wie an den
Gestaden Syriens, abwechselnde Oscillationen vorge-
kommen sind, denn man findet an mehren Orten Lager von
Sand und Conchylien des Meeres in einer Höhe von
36 bis 45 Fuß. In einer frühern, aber doch schon den
Menschen betreffenden Zeitepoche erhob sich das Thal der
Somme, dann senkte sich dasselbe wieder, denn die snb-
marinen Wälder dieser Gegend und auch die vom Meere
überdeckten Torflager von Abbeville sind bis in die Bai der
Somme zu verfolgen; sie enthalten Ueberreste von den noch
lebenden Thieren und Pflanzen des süßen Wassers.
In Flandern und Holland ist die Erdoberflächen-
Senkung weniger beträchtlich durch die gemessene Tiefe als
dnrch die schreckliche Wirkung aus das Geschick der Be-
wohner. Eine gauze Reihe höchst beklagenswerter Ereig-
nisse hat man hier dadurch erleben müssen. Das Land ist
ausgezeichnet durch seine Fruchtbarkeit, erhebt sich aber nur
wenig über den Spiegel des Meeres und wird daher durch
deu Act der Depression fortwährend in Gefahr gebracht.
Die bloße Aufzählung der Katastrophen dieser Art gibt
uns eiu beklageuswerthes Bild der Geschichte dieses Landes.
Im Laufe des 3. Jahrhunderts soll sich nach glaubwürdigen
Sagen die Insel Walcheren von dem Festlande los-
gerissen haben. Im Jahre 860 hat der Rhein durch
Senkung der Erdrinde sein Flußbett verlassen, die nahe-
liegenden Länder verwüstet und seine Mündung zersplittert;
die Feste des Caligula blieb von den Fluten umgeben
isolirt zurück. Gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts
kam der Angriff wieder vom Meere, wodurch der Flevo-
See sich in einen Golf umwandelte, welcher sich dann
immer mehr und mehr auf Kosten des Landes erweiterte,
bis er 1225 zu dem Zu y der-See heranwuchs.' Im
Jahre 1231 fing der Haarlemer-See an, sich durch feine
sinkenden Grenzen zu vergrößern; er verschluckte allmälig
immer mehr Land, bis er im 16. Jahrhundert zu einein
>,d Senkungen der festen Erdrinde?c. 117
förmlichen Mittelmeere wurde; seine Oberfläche überdeckte
33,090 Morgen des fruchtbarsten Bodens und es ist
leider die Aussicht da, daß diese Verwüstung noch lange
nicht ihr Ende erreicht habe. In den Jahren 1277 und
1421 vergrößerten sich plötzlich zwei Golfe, der Dollart
und Biesbofch, durch das Sinken des Bodens, wobei
taufende von Menschen nicht blos ihre Habe, sondern auch
das Leben verloren. Die künstlich dem Meere abgewon-
nenen Länder, die sogenannten Polder, zeigen nach
Emil de Laveleye noch jetzt deutliche Spuren des fort-
gesetzten Hinabsinkens. Wie eine überladene Flöße, sagt
er, allmälig tiefer und tiefer in das fpecifisch leichtere
Element sinkt, bis sie zuletzt gauz davou verschluckt wird,
ebenso werde auch Holland langsam, aber unvermeidlich
dem vernichtenden Abgrund verfallen; der Kampf der Be-
wohner gegen diesen Angriff der Natur ist ein verzweifelter,
sie haben sich aber dennoch dazu entschlösse«, uud man muß
ihren Mnth bewundern. Mit gewaltigeu Dämmen suchen
sie ihre Wieseu, Triften und Felder, ihre Städte und
Dörfer vor dem verschlingenden Meere zu schützen, auch
haben sie weder Arbeit noch Kosten gescheut, die fortwährend
nöthige Entwässerung siegreich durchzuführen.
Einige Gelehrteu, au deren Spitze der Geologe Star-
ling steht, sind der Meinung, daß das allmälige Sinken
dieser eingedämmten Länder seinen alleinigen Grund in der
beständig vergrößerten Anhäufung des angeschwemmten
Bodens uud in dem niederdrückenden Gewichte der nnge-
heueren Dämme und Straßen habe. Dagegen spricht aber
nicht blos die Erfahrung, fondern hauptsächlich auch das
statische Gesetz der Ausgleichung der Wirkung, wonach die
weniger belasteten Polderflächen sich in eben dem Maße
mehr heben müßten, als die Umsäumung stärker aus den
Untergrund drückte. Indeß was auch die Ursache des
ganzen Naturereignisses sein möge, so steht doch tatsächlich
fest, daß seit einem Zeitraum von fünfzehn Jahrhunderten
das Hinabsinken der Erdrinde hier ununterbrochen fort-
gedauert habe. Es fehlt uns daher jeder Grund, diese von
Elie de Beanmont zuerst aufgestellte geistreiche Hypo-
these des allmäligen Hinabsinkens der Erdrinde hier in
Zweifel zu ziehen.
Alle benachbarten Küsten Südenglands, Hannovers
und Schleswigs liefern die Beweise einer ganz ähnlichen
Thätigkeit des Erdinnern; es fehlen hier auch die subma-
rinen Torflager, Waldungen und Bauten nicht. Die West-
lichen Meeresufer Schleswigs sind in der bezeichneten
Periode um wenigstens 12 Fuß erniedrigt worden, und
Förch Hamm er hat in der Nähe von Bornholm sogar
eine Senkung von 24 Fuß nachgewiesen. Auch scheiut
ganz Pommern und Ostpreußen au dieser Depression
Theil genommen zu haben, denn an vielen Punkten der
Gerade hat man hier versunkene Wälder entdeckt, welche
mehre Fuß ties unter dem Niveau des Meeres gelegeu sind.
Der englische Canal und die damit verbundenen Süd-
theile der Nordsee nnd der Ostsee können daher als eine
Furche der allgemeinen Depression, als ein Thal
der Senkung der Erdrinde angesehen werden, wodurch
die im ersten Artikel besprochenen Erhebungen Nordenropa's
sich charakteristisch absondern.
Wir lenken nun unsere Aufmerksamkeit auch einmal
auf die Neue Welt, auf diesen Doppelcontinent, dessen
geographischer Bau sich so hervorragend durch Einfachheit
auszeichnet, daß ihn Karl Ritter die schlanke Palme nennt,
während er die Continentalvereinigung der Alten Welt mit
einer alten deutschen Eiche in Vergleich bringt. Diese
Einfachheit der Gesammtform herrscht auch in der ganzen
HB E, Schlagintweit: Dl
Natur Amerika's vor, und sie fehlt auch selbst in der
Oscillatiousthätigkeit seiner Erdrinde nicht. Daher wird
sich unsere Untersuchung hier leicht durchführen lassen.
Zuerst war es Darwin, welcher durch eiue ebeu so au-
dauernde als gründliche Beobachtung herausgefunden hat,
daß ein großer Theil Südamerikas in einem ununter-
brochenen Erl)ebuugsProzesse begriffen sei. Und alle
übrigen Gelehrten und Reisenden, welche seitdem ihre Auf-
merksamkeit auf diesen Gegenstand gelenkt haben, konnten
die von ihm aufgefundenen Resultate nur bestätigen oder
ganz in seinem Geiste erweitern.
Zunächst sind es die Küsten von Chile, welche die
Spuren einer allgemeinen Erhebung fest eingegraben an
sich tragen. An der Oberfläche eines jeden Gestadevor-
spruugs, an den Ausgängen fast aller Thäler, an den com-
Pakten Felsmassen findet man die Zeichen des alten Meeres-
strandes, Lager von den Conchylien der Gegenwart, ganz
ähnlich den jetzt in dem benachbarten Meere lebenden
Schalthieren. Diese Gestadeüberreste, welche die schroffen
Felswände und Böschungen von einander sondern, gleichen
den Stufen einer gigantischen Treppe. Bei genauer Be-
trachtung stellt sich auch sogleich heraus, daß sie uicht in
demselben Niveau gelegen sind, also muß ihre Erhebung
eine ungleiche gewesen sein; ebenso erkennt man unter
ihnen eine gewisse Zusammengehörigkeit und schließt daraus
auf gesonderte Zeitepochen ihres Entstehens. Auf deu
Hügeln der Insel Ehiloe sand Darwin einige auf
früheren Meeresgrund deutende Conchylienlager in einer
Hohe von 320 Fuß; nördlich von Eoncepcion entdeckte
er Niveaueinschnitte von früherem Meeresstande in 600 bis
1900 Fuß Höhe, und nahe bei Valparaiso zeigten sich
diese Erhebnngsmerkmale sogar 1200 Fuß über dem Niveau
des jetzigen Meeres.
An Boliviens Küste erreichen diese Einschnitte indeß
nur die Höhe von 180 bis 225 Fuß. Aehnliche Wahr-
nehmungen hat man überall in dieser Gegend gemacht und
daraus geschlossen, daß selbst die hier vorkommenden
Andes-Gipfel, wie der Aconcagna, Maypu und Tu-
Nordrand von Berma u\
puugato daran Theil genommen haben. Man kann
daher die Gipfel dieser Berge als die Centralpunkte an-
sehen, worauf die unterirdische hebende Kraft am mäch-
tigsten eingewirkt und sogar die Oberfläche der Erde durch-
brochen habe. Und in der That zeigen die chilenischen
Niveaueinschnitte, gerade wie die norwegischen, eine geneigte
Lage, so daß sie sich dem Meere zu hinab und dem Ge-
birge zu hinaus neigen. Die Kraft der Hebung war daher
in den chilenischen Anden viel intensiver als in den benach-
barten Ländern. Und da diese Kraft noch immer in Thätig-
keit ist, fo muß auch die Höhe der höchsten Gipfel dieser
Bergriesen im fortwährenden Wachsen begriffen sein.
Die während einer langen Reihe von Jahren durch-
geführten trigonometrischen Messungen werden später Ge-
legenheit geben, dies eben erwähnte wahrscheinliche Steigen
der Gebirgshöhen durch Maß und Zahl festzustellen, befon-
ders mit Hilfe der Schneegrenze. In Bezng auf die untere
Hebung hat man fchon jetzt sehr interessante entscheidende
Resultate erlangt. Darwin hat gefunden, daß sie in einem
Zeitraum von 17 Jahren (1817 bis 1834) 9,6 Fuß
betrug, daß also der Durchschnittswerth für jedes Jahr
0,56 Fnß ausmachte. Dieser jetzigen Periode der über-
raschend schnellen Erhebung ging aber eine andere der
relativen Ruhe voran, denn in den zwei Jahrhunderten
von 1617 bis 1817 betrug die Gesammtsteignng nur
5,4 Fuß. Zu Coquimbo, Eoncepcion und auf der
Insel Ehiloe ist noch jetzt die Erhebung eben so nnmerk-
lich und langsam. Jedenfalls gibt aber diefe unterirdische
Thätigkeit die sichere Aussicht, daß die Formation der
gesammten Westküste Amerika's mit der Zeit noch großen
Aenderungen unterworfen sein werde. Schon jetzt sind
alte einst viel besuchte Hasenplätze dadurch unzugänglich
geworden, ja einige sind so trocken gelegt, daß sie gar nicht
mehr an ihre ursprüngliche Bestimmung erinnern. Die
zahlreichen Inseln, welche den indischen Namen Huapi
trugen, stehen jetzt mit dem Festlande in comp akter Ver-
binduug, sie sind durch die Bodenerhebung zu Vorgebirgen
geworden.
Der Nordrand von Derma und der neue
Von Emil
Seitdem die Engländer durch die erfolgreichen Kriege in
den Jahren 1824 bis 1826 und 1851 bis 1853 das Reich
Berma von der See abschlössen und das ganze Küsten-
gebiet ihren Besitzungen einverleibten, haben sie sich mit
Eifer der Erforschung der topographischen und commer-
ciellen Verhältnisse des bermesischen Reiches zugewandt.*)
Die Frage der Eröffnung eines lebhaften Handelsverkehrs
mit Berma, und in zweiter Linie die Erlangung des Zu-
*) Gewöhnlich schreibt man Birma oder auch Wanna;
die Engländer, diese unverbesserlichen Kakographen und Kako-
phonen, schreiben Burmah; man sagt nud schreibt Barmanen,
Birmanen, Wirmesen, Bnrmanen; oben im Texte lesen
wir nun Berma und Bermefen. Was ist richtig? Wahr-
scheinlich Berma. Es gehört zu deu Verdiensten der Gebrüder
Schlagintw eit, daß sie in ihrem großen Prachtwerke über Judien
und auf ihren Karten die indischen Namen phonetisch mit-
thnlen. A.
Handelsweg nach dem Innern von China.
chlagintweit.
tritts zu den chinesischen Märkten an der bermesischen
Grenze war seit Langem das Ziel ihrer Bemühungen.
Jetzt endlich scheinen auch Garantien gegeben für die Aus-
führung dieses Plans; der Weg nach China durch
Berma liegt jetzt in genauer Beschreibung vor
nnd kann schon in nächster Zeit einen großen Tanschver-
kehr zwischen chinesischen und europäischen Manufakturen
zur Folge haben. Es wird nicht unpassend sein, die in
den Berichten der asiatischen Gesellschaft zu Calcutta und
in den „Annales de la propagation de la foi" zerstreuten
Nachrichten hier in Kürze einem größern Publikum vorzu-
führen.*)
*) Die wichtigsten Abhandlungen der einschlägigen Literatur
sind: Memorandum on the Countries between Thibet, Yunan
and Burmah. By tlie Reverend Thomined 'Mazure, Vicar apo-
stolic of Thibet; communicated by Dr. Col. Phayre, with
E, Schlagintweit: Der Nordrand von Berma sc.
119
Der Nordrand von Berma. Die untere Grenze
des tibetischen Gebietes und des Einflusses der chinesischen
Behörden sällt östlich vom 95. Längengrade von Greenw.,
und endet nahezu am 28. Breitengrade. Von da an theilen
unsere Karten das Land Berma zu, und nicht ganz mit Un-
recht, da die Völker dieser Gegenden zu Berma die meisten
Beziehungen haben und vorübergehend auch vollkommene
Unterthanen dieses früher viel bedeutendem Reiches waren.
Gegenwärtig jedoch erfreuen sich diese Gegenden einer ziem-
lich vollständigen Unabhängigkeit, ja durch ihre Raublust
sind sie sogar sehr unbequeme Nachbarn geworden, sowohl
der Bermesen als der Engländer, die von Assam aus nicht
blos gegen den Himalaya zu, sondern auch gegen die süd-
lich vom Brahmaputra liegenden Hügel-Regionen hin ihr
Gebiet erweitern. Die Ränder dieser Hügel-Regionen
sind bereits mehrfach untersucht worden, auch mein Bruder
Hermann kam vielfach in Berührung mit Angehörigen der
Stämme der Abors, Mischmis und Sing-Phos am rechten
Brahmaputra-Ufer, mit Nagas, Karens, Khamtis vom
linken Ufer. Weniger bekannt sind die inneren Theile der
südlichen Hügel-Ketten; die neuesten Daten erhalten wir
in den bereits angegebenen Abhandlungen.
Diese Hügel-Region füllt das ganze Nordgebiet von
Berma, vom 24. bis 28. Breitengrade und dem 95. bis
98." 30' östl. Länge von Greenw. Ihre Grenzen fallen
nahezu zusammen mit den Linien dieser Grade, nur an der
Westgrenze reicht das englische Gebiet bereits über den
96. Grad herein. Einen allgemeinen Namen für dieses
Terrain kennen nur die Tibeter, sie nennen es „Lokatra",
mit der Bedeutung „Land der feindlichen Völker mit tätto-
Wirten Lippen"; ich vermnthe eine Schreibart lho-kha-
(lpags-dra), wörtlich: (Völker des) Süden mit Lippen-
Gittern, d. h. mit gitterartigen Verzierungen auf den
Lippen. Die Bermesen nennen das Land nach den zwei
wichtigsten Stämmen bald „Land der Schans", bald „Land
der Kakhyens". Die Bevölkerung wird zu etwas über
3 Millionen angegeben; sie ist in zahlreiche kleine Stämme
zerspalten, längs der Grenze gegen Tibet allein werden an
20 verschiedene Völkerschaften genannt, und Bigaudet sagt
von den Theilen um den 26. Breitengrad: jedes Dorf habe
seinen Ches, der sich rühmt, ein selbstständiger Herrscher zu
sein. Die zwei großen Gruppen der Schau und Kakhyen
charakterisiren sich durch Sprache und Aeußeres als zwei
der Abstammung nach verschiedene Völkerschaften.
Die Schans bewohnen die nordöstlichen Theile,
nämlich die an Nuu - uau angrenzenden Distrikte, ferner das
Thal des Taping-Flusses, der sich bei Bhan-mo (24° 16'
nördl. Br. und 96° 57' östl. L. von Greenw.) in den Jra-
vadi ergießt, und das Thal des Schue-li- Flusses, der un-
gefähr unter 23Vs° mit dem Jravadi sich vereinigt. Sie
bilden acht Staaten, die je unter einem erblichen Chef,
Tfaubva genannt, stehen; sie sind benannt nach den Haupt-
orten; ihre Namen sind, wenn wir im Norden beginnen:
Mainti, Sauda, Maingla, Lassa, Hotha, Movun, Maingmo
und Nanngsnn oder Kaingma. Nach der Karte von Wil-
liams ist Folgendes die Breite und Länge der Hauptorte:
notes et a comment by Dr. Co). Yule. With a Map of the
E. Frontier. Asiatic Journ. 1861. Memorandum on the
Question of British trade with western China viäBurmah. By
■Dr* C- Williams. Mit 2 werthvollen Karten. Asiatic Journ.
t0 ßliamo (Winter 1864) by Dr. C.Williams.
JJftt 1 -Plane. Asiatic Journ. 1864. Religion etc. among the
Karens. ByRev. P.Mason, Asiatic Journ. 1865. TheKaren
Apostle. London, lieligious tract society, Bigandet. Vicariat
apostolique de la Birmanie. Nach Briefen des Vic. aPost, für
Berma tu: Annales de la propagation 1866. Viel hierher
Gehörendes sindet sich bei ^ ule Mission to Ava, 1857.
nördl- Br. östl. L. v. Greenw.
Mainti
Sanda
Maingla .
Lassa . .
Hotha . .
Movun .
Maingmo
Nanngsnn
24° 49'
24° 41'
24° 37'
24° 28'
24° 24'
24" 171/,/
23° 49'
23° 42'
98° 22'
97° 57'
98° 6'
97° 56'
95° 4'
98° 7'
98° 5'
97° 34'.
Die bedeutendsten Orte sind Sanda, Movun und
Maingmo. Ihre Unabhängigkeit erlangten diese Staaten
im Jahre 1769 unter, der Regierung Königs Shingpyn
Shing von Berma. In engerem Verbände stehen noch die
in Bhan-mo und nördlich am Jravadi wohnenden Stämme;
in Bhan-mo, auch Bhamo, Bamo gesprochen, sind sie die
vorherrschende Bevölkeruug. Die Ortsnamen sind meist
Schan-Worte; so bedeutet Bhan-mo „Stadt der Irden-
waaren", weil die Thonwaaren-Fabrikation hierin sehr
vollkommener Weise ausgeübt wird.
Diese selbstständigen Reiche entfalteten niemals große
Macht, ein steter Fehdekrieg hindert ihre Entwicklung und
ihre Vereinigung zu einem großen Reiche. Neuerdings
gelangten einzelne der Fürsten zu großem Ansehen in der
chinesischen Provinz Nun-uau unter der Regierung der
mnssalmanischen Pansis, welche dort in den letzten acht
Jahren hauptsächlich mit Hilse vou Truppen der Schans
und Kakhyens die chinesische Gewalt unterdrückt und ein
bisher noch sehr grausames Regiment au desseu Stelle
gesetzt haben. Die erfolgreichen Eroberer sind Mussal-
manns und nennen sich Pansis; Glaubensbedrückung gab
Anlaß zu einem allgemeinen Aufstande der mussalmanni-
scheu Bevölkerung, die, obgleich nur au 20,090 Mann
stark, ihr Heer doch durch Zuzug von Abenteurern aus Nun-
nan und den südlichen Staaten bis zu angeblich 300,000
Mann vermehrte und Jahre hindurch Sieger gegeu die
Chinesen blieb. Die Chinesen im Osten durch die Tai-
piug, die aber mit den Pansis in keiner Beziehung stehen,
noch gefahrvoller bedrängt, als in Nun-nan, vermochten
den Pansis keine neuen Truppen entgegen zu senden, und
so konnten diese, wie die neuesten Nachrichten melden, eine
vollkommen orgauisirte Regierung au die Stelle der chine-
fischen Herrschaft setzen. Der König der Pansis nennt
sich Tuvinseu, seine Residenz schlägt er inTali auf(22^0'
nördl. Br. und 98" 3' östl. L. von Greenw.), der zweit-
größten Stadt Yun-nans. Der Pansi-König zeigt sich
den Fremden günstig, und wenn auch Nun- nan noch gegen-
wärtig arg verheert ist, so scheint doch diese Revolution für
die europäischen Verbindungen günstige Folgen zu haben.
Die Schans zeigen ihre Stammeszusammengehörigkeit
besonders in der Sprache; sie ist bei Allen dieselbe, einige
dialektische Formen und Worte abgerechnet. Von dem
Genuesischen unterscheidet sie sich nur in der Aussprache
und durch die Aufnahme mancher Ausdrücke aus der Sprache
der sie umgebenden Völkerstämme; das Bermesische ver-
stehen alle Schans, auch bedienen sie sich der bermesischen
Schrift. Die Schans haben kein Alphabet. Die Verwandt-
fchaft zwischen den beiden Sprachen, sowie mit dem Sia-
mesischen, ist so groß, daß die Schans und die
Bewohner von Berma und Siam als zu der-
selben Familie gehörend sich darstellen; die Tibeter
vermögen Schans und Bermesen nicht zu unterscheiden,
wohl aber diese von den Kakhyens. Den Europäern
sind die Schans im Allgemeinen nicht abgeneigt, beson-
ders ist dies in den Assam benachbarten Gebieten der
Fall, von wo aus bereits Viele in britisches Gebiet über-
siedelten, zum Theil durch Bedrückungen der Bermesen
veranlaßt. Aber auch die viel größere Gelegenheit zum Ver-
120 E, Schlagintweit: Di
dienste mag sie angezogen haben, da die Märkte am Jra-
vadi in den letzten Jahren der Unruhen in Bun-nan wegen
nur wenig mehr von auswärtigen Käufern besucht zu wer-
den pflegten. Die Schans der „acht Reiche" dagegen sind
weniger sichere Freunde des Fremden; theils sind sie für
ihre Selbstständigkeit besorgt, theils hat die Theiluahme
an den Plünderungszügen der Pansis sie an ein Raub-
ritterthum gewöhnt, dein Einzelne Wohl erst nach ernstlicher
Züchtigung entsagen werden.
Die Schans werden übrigens als sehr industriell und
arbeitsam gerühmt, ihre Manusakturwaaren sind besser ans-
geführt als die der übrigen Stämme. Dicht bevölkert sind
die acht Reiche; gegen den Jravadi hin sitzen sie gemischt
mit Singphostämmen. Sie sind in eine Menge kleinerer
Völkerschaften gespalten, die sich mit eigenem Namen
nennen; die der Palung gegen Westen und die Pvon
und Kadns im Innern dieser Reiche sind sehr industriell.
Die Kakhyeus. Dieser Name wird von den Ber-
mesen denjenigen Stämmen gegeben, welche zu beiden
Seiten des Jravadi bis an Assam und Tibet hin wohnen,
gegen Osten sind sie durch die Reiche der Schans begrenzt.
Sie selbst haben keinen gemeinsamen Namen; sie sind in
eine große Zahl von kleineren Stämmen zerfallen je mit
besonderen Namen; mit den Maren, Lapai, Nakum, Kauri,
Karen sind die Europäer in Berührung gekommen. Ihrer
physischen Gestalt nach sind die Kakhyens ein Zweig der
Sing - Phos am Südrande von Assam, mit welchen sie auch
in Anzug und Gebräuchen vollkommen übereinstimmen;
sie sind demnach den Aboriginer-Nassen Indiens
zuzurechnen, mit denen sie auch in Sprache große Aehn-
lichkeit zeigen, während sie darin von den Schans und
Bermesen ganz verschieden sind. Ein Alphabet haben sie
nicht; die Karens haben darüber folgende Legende: Das
höchste Wesen, welches sie Ta-Ywa nennen, habe einst alle
Völker zusammengerufen, um sie leseu zu lehren; alle
folgten dem Rufe und hörten eifrig zu, nur die Karens
vermochten nicht ruhig sitzen zu bleibeu, wie die Weißeu,
die Chinesen und Bermesen, sondern gingen ab und zu,
durch Belustigungen und Neckereien der Anderen sich zer-
streuend. Nach einiger Zeit entließ das höchste Wesen die
Völker in ihre Heimaten, alle hatten Lesen gelernt, nur die
Kareus nicht. Doch gab ihnen Gott, wie den Uebrigen,
das geschriebene Alphabet mit, sie aber ließen es aus Un-
achtsamkeit ins Feuer fallen; erst als das Feuer die Buch-
staben in Asche verwandelt hatte, erkannten sie ihre Nach-
lässigkeit; sie zeichneten die Figuren der Asche aufmerksam
nach; aber die Schrift war verwischt. Lesen konnten sie
dieselbe nicht mehr, sie übertrugen aber die geretteten
Formen auf Gewänder, und daraus entstanden die Muster
der Stickereien, in welchen sie bald die übrigen Völker
übertrafen. So die Legende; die Reisenden rühmen die
Schönheit der Farbenmuster auf den Geweben.
Ihre Religion ist eine Mischung buddhistischer Moral-
sätze mit dem alt-heidnischen Kultus der Naturkräfte und
bösen Geister. Glück hienieden zu erlangen ist Zweck ihrer
Religionsübung ^ während es bekanntlich Fundamentalsatz
der Buddha-Lehre ist, daß Besolgnng ihrer Vorschriften
Glück bringe im zukünftigen Leben, wo den ganz Tugend-
haften ein Zustand völliger Lösung von allen Banden
der Existenz erschafft wird. Auf die Religion der ortho-
doren Buddhisten sehen sie mit Verachtung herab. „Go-
tama ist trunken, Hilfe kann er nicht gewähren", ist ein
auf den Stifter des Buddhismus gesungenes, aber auf die
sehr unmäßigen Buddha - Priester abzielendes Spottlied.
Vor den Pagoden, den Reliquienbehältern, (Dagopa auf
Ceylon, Stupa in Indien genannt) der südlichen Bermesen
r Nordrand von Berma x.
bezeigen sie keine Verehrung, nicht selten plündern sie die-
selben; auch wissen sie ein artiges Stückchen zu erzählen,
wie sie einst den Berma-König überlistet hatten. Ein
junger Karen, Namens Sanken, habe einst eine Ratte
gefangen und wollte sie umbringen; sie bat ihn um ihr
Leben unter dem Versprechen, ihm dafür die Hand der
Tochter des Königs zu verschaffen. Der Fänger ließ die
Ratte los; sie ging in den Tempel, kroch in die Figur,
welche die Vorderseite der Pagode schmückte, und wartete
auf den König. Dieser warf sich vor der Pagode nieder
und wandte sich an die Gottheit mit der Bitte, Macht
und Ruhm ihm zuzuwenden. Da antwortete ihm die
Ratte, es werde geschehen, wenn er seine Tochter dem
Sanken zur Gemahlin gebe; der König dachte, die Figur
in der Pagode habe gesprochen und brachte seinem Ruhmes-
verlangen das große Opfer. Die Karens lachen aber über
feinen Unverstand, da er den Ton einer Ratte für die
Stimme des Gottes genommen habe.
Alles Unheil geht von den böfen Geistern aus, die sie
Rhäts nennen; sie ergreifen Besitz vom Menschen, Magen-
affektion gilt als Zeichen ihrer Anwesenheit. Man stellt
sie von menschlichem Antlitz dar; eine Abbildung, die
Williams gibt im „Trip to Bhamo", zeigt einen rohen
aus Holz geschnitzten Kopf auf einer glatten Holzfäule von
5 bis 6 Fuß Höhe, die Ohren hängen bis auf die Schultern
herab, die Ohrläppchen sind gespalten, um Ohrgehänge
einzuhängen, die von den Eingebornen bis zu einer Schwere
von einem halben Pfund getragen werden; eine spitze Mütze
bedeckt den Kopf; Augen sowohl als Nasen sind vertieft.
Die Figur steht in einer Art Bethaus, einem in Form
unseren Schilderhäusern ähnlichen Holzgebäude, ein roher
Tisch auf Pfosten von 1 Fuß Höhe ist bedeckt mit Thon-
gefäßen, Lampen, Blumen :e. Die größeren Opfer sind
blutige, selbst Büffel werden ihnen gelegentlich geschlachtet,
gewöhnlich werden aber Reis, Gemüse und Hühner darge-
reicht. Das Opfern ist ein wichtiges Amt, jedes Dorf
hat seinen Burno oder Oberhaupt der Rhats (Mumo heißt
es auf Tibetisch). Wie bei allen Völkern, die in solch aber-
gläubischen Vorstelluugen befangen sind, gilt der Burno
allein im Besitze der Fähigkeit, mit dem Rhät zu verkehren,
er allein kann das Opfer in erfolgreicher Weife vollziehen,
ein wesentlicher Theil der Opfergabe fällt ihm zu als Be-
lohnung. Es gilt für höchst gefährlich, den Rhat-Bildern
nicht in Ehrfurcht sich zu nahen, oder nicht ihrer bei Ge-
lagenje. zu gedenken. Bei Todesfällen legt man dem
Todten Geld in den Mund, damit er auf der weiten Reise
sich Nahrung kaufen könne.
Seinem Charakter nach ist der Kakhyeu gutmüthig; die
Europäer fanden sie stets willig gegen Bezahlung Dienste
als Träger und Führer zu leisten. Dabei haben sie aber
einen großen Freiheitssinn; gegen die Bermesen sind sie
feindselig gesinnt, hauptsächlich aus Furcht vor Unter-
drückung ihrer Selbstständigkeit. Die geringste Kränkung
gibt Veranlassung zu Raubzügen in die Ebenen, die denn
auch durch diese schlimme Nachbarschaft wesentlich in ihrer
Entwicklung gehindert sind. Der Chef jedes Stammes heißt
Tsobona; die Würde ist erblich, und selbst der noch im
Kindesalter stehende Sohn des verstorbenen Fürsten wird
als Oberhaupt anerkannt. Zur Vergleichung mag an das
System inearnirter Würdenträger bei den Tibetern erinnert
werden, die ebenfalls Kindern göttliche Verehrung bezeigen,
wenn nach dem Tode des bisherigen kirchlichen Ober-
Hauptes in einem Kinde Zeichen sich kund geben, daß in
ihm der Gott wieder ein neues Erdenwallen begonnen
habe. Steuern werden nicht erhoben, die Ländereien des
Fürsten werden durch Frohnden bestellt; dafür hat er aber
E, Schlag int weit: D
wieder große Gelage zu geben, welche an die Vergütungen
erinnern, die im deutschen Mittelalter den Zinsbauern bei
Abgabe des Zinses und Zehnten gegeben wurden. In:
Allgemeinen sind die Tsabonas sehr wohlhabend.
Sklaverei ist ein großes wirthschaftliches Uebel der
Kakhyens sowohl als der Schans. Entstehungsgrund ist
Kriegsgefangenschaft und Insolvenz des Schuldners. Wenn
die Kakhyens Sklaven bedürfen, fallen sie bei den Schans
oderBermefen ein und rauben Leute; im Verkaufsverkehre
wechselt der Preis eiues Sklaveu von 1 bis zu 4 Pfd. St.
Die Sklaven sind im Allgemeinen gnt gehalten; die Skla-
verei wegen Schulden hört anf, sobald die Schuld durch
Arbeitsdienste abgetragen ist.
Die Kakhyens geheu stets bewaffnet; ihre Waffen sind
ein knrzes Schwert, eine Lanze ans Bambusrohr mit eiser-
uer Spitze und eiue Lunteufliute. Sie verfertigen sich die
Waffen selbst, die Güte des Stahles und der Arbeit wird
gerühmt. Das interessanteste Stück ist das Schwert, be-
sonders anch der Art des Tragens wegen. Die Klinge ist
gerade und flach, die Scheide ist nur halb vou Holz, Quer-
bäuder aus Calamus rotang Linn, geflochten schützen vor
dem Herausfallen. Das Schwert hängt nicht zur Seite
des Fußes, etwa um die Hüfte befestigt, sondern es liegt
unter dem linken Arme, und zwar wird es getragen an einem
Reife aus Calamus rotang. Es ist merkwürdig, daß wir
diese eigenthümliche Art das Schwert tragen nur bei
den Sing-pho- und Abor-Stämmen finden, Stämmen, die
wie bereits bemerkt, auch in Körpereonstitution viele Aehn-
lichkeiten mit den Kakhyens haben. — Der Anzug ist äußerst
einfach ; Kinder gehen ganz nackt, Männer haben ein langes
Stück Zeug um die Lenden geschlungen, Reichere tragen
noch eine kurze seidene Jacke, das Haupt ist mit einem
Turban bedeckt. Die Frauen haben eine kurze bis unter
die Brüste reichende Jacke, welche die Brüste bedeckt und
den Rücken freiläßt, ferner ein Tnch um die Lenden und
einen Turban, wenn sie verheiratet sind. Tand aller Art
umhängt den Nacken und ist in die bei Frauen meist auf-
gelösten Haare gebunden; ungemein entstellt das ohne-
hin nicht schöne Gesicht die Sitte, den halben Vorderkopf
zu rasiren. Der Schmuck ist meist buutes Glas und Aehn-
liches, Reichere haben aber auch ganze Reife schweren Sil-
bers, und uie fehlen ihnen große Ohrgehänge. In der
ethnographischen Sammlung meiner Brüder befinden sich
Ohrschmucke von den Sing-Phos, den Stammesbrüdern
der Kakhyens, von einem Durchmesser vou 1 bis 2"; das
Ohrläppchen wird dnrch schmerzhaftes Eintreiben von Ca-
lamnsrohr, das gespalten und durch Keile auseinander-
getrieben wird, allmälig zur Aufnahme eines Loches von
so großem Umfange erweitert. Die gleiche Sitte muß in
früherer Zeit auch in Indien bestanden haben, denn die
ältesten Abbildungen des Bnddha zeigen ihn schon mit lang-
geschlitzten, bis auf die Schultern herabreichenden Ohr-
läppchen. Die Kleider werden von den Fraueu gewebt,
die Farben sind grell, die Muster geschmackvoll.
Die Häuser sind aus Bambus gefertigt, sie ruhen auf
Pfosten, die Diele befiudet sich an 4' über der Erde, das
konische Dach reicht aber herab bis an den Boden. Dieser
das eigentliche Wohnhaus einschließende Raum dient als
Speicher, Tenne, Hühnerstall zc. Im Allgemeinen hat
nicht jede Familie ihr eigeues Haus, bis zu 10 Familien
wurden in einem Hause gezählt. Die innere Einrichtung
ist weniger einfach als man erwarten möchte; ein langer
Corridor theilt das Ganze in zwei Theile, rechts und links
sind durch Querwände abgetheilte Gemächer, der Herd ist
am Ende des Corridor. In der Höhe dieser Zimmer
läuft um das ganze Haus eiue Altaue, meist der Anfent-
Globus X. Nr. 4.
c Nordrand von Verma 121
Haltsplatz der müssigen Männer, die hier ihre Waffen
pntzen und die Köpfe der erschlagenen wilden Thiers zur
Schan ausstelleu.
Der Ackerbau fällt deu Männern zu, die gewerblichen
Arbeiten sowie alle Hausgeschäfte besorgen die Frauen.
Die Bestellung des Feldes ist eine fehr einfache. Zunächst
wird das Terrain von allem Unkraute gereinigt durch
Niederbrennen des überall sehr üppig emporschießenden
Gestrüppes; kurz vor dem Anfang der Regenzeit, im
Monat Juni, wird die Erde mit einem rohen Pfluge auf-
gefurcht und der Same eingestreut. Gemüse, Reis, In-
digo und Baumwolle sind die Haupterzeugnisse. Daneben
bauen sie noch etwas Mohn zur Opiumgewinnung, den
größern Theil des Bedarfes beziehen sie aber aus China.
Dem Laster des Opiumrauchens sind leider Männer und
selbst Frauen in hohem Grade ergeben; überdies berauschen
sie sich gerne in einem schlechten Reisarak, besonders
geschieht dies vor dem Angriffe, und die Missionäre schrei-
ben die Grausamkeiten, welche dabei verübt werden, der
Wirkung der geistigen Getränke zu.
Der neue Handelsweg nach China. Diese
Völkerstämme und ihre Gewohnheiten waren etwas aus-
führlich zu schildern, weil in neuester Zeit versucht wird,
durch ihr Gebiet einen neuen Handelsweg nach China zu
erschließen. Die Erfahrungen, welche feit Jahrzehnten, ja
fast Jahrhuuderteu in deu chinesischen Seehäfen gemacht
wurden, haben gezeigt, daß alle Handelsvortheile, welche
die chinesische Regierung anf dem Papiere zngesteht, die so
sehnlichst erstrebte Erschließung' des Innern doch nicht
zur Folge hatten; denn wenn europäische Reisende auch in
das Innere gelangten, so hatten sie stets die größten Be-
drückungen zu erdulden. Deshalb war schon vor Jahren
gleich nach den Erfolgen der Engländer gegen die Ber-
mefen, 1824 bis 1826, von dem Engländer Sprye auf
die Nothweudigkeit hingewiesen worden, von Berma aus
einen Zugaug zu den inneren Provinzen von China zu
erhalten; was er jedoch zur Ausführung vorschlug, war
nicht geeiguet, den damals in ungemein enthusiastischer
Weise aufgenommenen Plan zu verwirklichen. Sprye
ging von der Ansicht ans, Esm ok, von den Eingebogen
Mangla genannt und unterm 21<>55'n.Br.u. 101"40',
östl. L. v. Greenw. gelegen, sei der von den Europäern
anzustrebende Marktplatz; Esmok, an der Grenze von
China, und sehr nahe dem siamesischen Reiche, war von
seinen Berichterstattern als ein großes Handelsemporium
gepriesen worden, der Zugang dazu durch Berma galt als
leicht. ^ Die politischen Beziehungen zu Berma hinderten
aber die Ausführung, und die in den letzten Jahren mit
großer Gründlichkeit gepflogenen Erknndignngen wiesen
anch so bedeutende Terrainschwierigkeiten nach, daß von
diesen: Projekte abgesehen werden muß; denn Esmok liegt
überdies zu weit ab vom Uantse kiang, dieser großen
Handelsader des chinesischen Reiches, und die nördlich von
Esmok liegende chinesische Provinz Kiangsi gilt als wenig
wichtig.
Ungleich günstiger liegen aber gegenwärtig die Ver-
Hältnisse auf der von Dr. C. Williams gründlich erforschten
Ronte von Raugun den Jravadi aufwärts mit
Dampfern bis Savudi bei Bhan-mo (24" 16'
u. Br., 96° 57' östl. L. v. Greenw.), von da über das
Kakhyengebirge in nordöstlicher Richtung nach
Sanda (24" 41' n. Br., 97° 57' östl. L. v. Greenw.),
dem Grenzorte gegen China; die Entfernung von Savudi
nach Sauda beträgt au 30 engl. Meilen — Bigandet
rechnet nur 3 Tagmärsche —, das Gebirge ist wenig
hoch (2000'), und nach allen Richtungen hin sind leicht
16
122 W. Gottschildi Eine Fa'
Karrenwege anzulegen. Größere Schwierigkeiten würde
allerdings ein Schienenweg machen, doch ist dazu vorerst
noch kein Bedürfniß.
Ein wesentlich günstiger Umstand ist vor Allem dieser,
daß das englische Reich dem ganzen Küstenrande entlang
bis zum 10. Breitengrade sich erstreckt; Berma wurde da-
durch ein Binnenstaat und kommt in jährlich sich steigernde
Abhängigkeit von den Engländern, die auch vou Assam aus
gegen seine Nordgrenze hin vordrängen. Ferner ist wichtig,
daß bis Ava, der frühern Hauptstadt von Berma, bereits
seit Jahren britische Dampfer fahren; im Jahre 1862 bis
1863 wurden europäische Waaren im Betrage von über
18 Lakhs Rupies (1 R. = 20 Sgr., 1 L. = 100,000)
auf die bermesischen Märkte gebracht, Zwischenhändler
bringen die europäischen Kattune bereits jetzt bis zu den
Schans und Kakhyens. Eine wichtige Frage war, ob der
Jravadi auch noch aufwärts vou Ava befahren werden
könne. Williams fuhr in einem Boote bis nach Savudi
und fand überall, auch au den ungünstigsten Stelleu, Tief-
gang für Schiffe von 5 bis 6'; er bemerkt dabei, daß die
große Veränderung des Flußbettes durch die stets wechseln-
den Formen der Sandbänke, sowie drei Stromschnellen aller-
dings Schwierigkeit bieten, aber mit einem Steuermann
„with an eye for water" sei nirgends Gefahr. Wenn wir
dabei bedenken, daß auf dem Brahmaputra unter gleichen
Umständen jetzt Dampfer gehen bis Dibrugarh, so wird
auch auf dem Jravadi die 'Schifffahrt bis Savudi zur Aus-
führung kommen. Dann ist noch das Gebirge zu über-
steigen; aber wie bereits bemerkt, ist es weder hoch, noch
sind die Thäler steil, während dagegen der den Anbau sehr
lohnende Thalboden den Karawanen den nöthigen Bedarf
an Cerealien bietet. Die das Gebirge bewohnenden Völker-
schasten sind zwar nicht ganz ergeben, doch werden die
Engländer schon Ordnung und Achtung vor europäischer
: nach Belgrad m Serbien.
Energie herbeizuführen wissen. Für die Eommunication
mit Britisch-Indien kann leicht durch Anlegung einer
Telegraphenlinie gesorgt werden; sie ginge von Ealeutta
durch Assam bis Manipur, von da aus bermesischem Ge-
biete bis Bhan-mo, von wo sie längs des Jravadi leicht
bis an die Küste fortgesetzt werden kann.
Die politischen und topographischen Verhältnisse sind
demnach aus dieser Route sehr günstig; betrachten wir jetzt
auch die commereiellen Chancen. Berma, das Durchzugs-
land, ist reich an guten Ackergründen, die Bevölkerung der
ebeneren Theile, etwa 4Mill., wird sich bei geordneten Ver-
Hältnissen vermehren und noch mehr als bisher an euro-
päischen Produkten consumiren. Die Gebirge sind reich an
Mineralien; Eisen-, Blei - und Silbermiueu werden bereits
jetzt an vielen Orten ausgebeutet, Kohlenlager sind an ver-
schiedenen Punkten ausgefunden worden. Bun-nan, die
nächste chinesische Grenzprovinz, zählt au lOMill., und 21
große Städte; Thee ist der wichtigste Artikel, seine Güte
wird als die beste gerühmt, der kaiserliche Hos soll damit
versorgt werden. Hinter Uun-nan liegt Sn-tschuen,
eine Provinz von an 30 Millionen Einwohnern. Seide
kann von hier in größter Güte bezogen werden, der Thee-
ban bringt ebenfalls sehr vorzügliches Produkt. Außer
Seide und Thee kann Moschns, Rhabarber, Honig, dann
aus dem Mineralreiche Gold, Silber, Kupfer, Eifen,
Quecksilber, Arsenik, Blei und Kohle ans den Markt
gebracht werden, Alles Artikel, die den Verkehr mit diesen
Gegenden wünschenswerth machen.
In Ealeutta hat die Nachricht von dieser neuen Han-
delsronte große Hoffnungen erregt; schon die nächstenJahre
werden lehren, ob die Erwartungen sich erfüllen. Nach-
richten darüber, ob Dampfer versuchsweise bereits bis
Savudi gingen, sowie ob die Route bereits von Europäern
benützt werde, sind bis jetzt noch nicht bekannt geworden.
Eine Fahrt nach Belgrad in Serbien.
Von Wilhelm Gottschild.
Die historischen Bewegungen ans der Balkanhalbinsel. — Terra incognüa. — •Dcitciit abwärts nach Semlin. — Belgrad, die weiße
Stadt. — Aus der vornehmen Welt Serbiens. — Charakter der Stadtbazare. — Die Türkenstadt. — Die Umgebungen. —
Oessentliche Anstalten. — Milosch und der schwarze Georg.
In „das Land der Märchen und der Wunder" will ich
den Leser führen, denn so muß ich wohl das Land nennen,
dessen Inneres bei weitem weniger erforscht ist, als z. B.
die Nordküste Afrika's, obwohl die Karte des civilisirten
Europa es unter ihren Ländereompler verzeichnet. Der
Name Enropa's ist bei der Mehrzahl seiner Bewohner ver-
klnngen, und begriffslos wird unser abendländischer Wohn-
ort in eine nebelige Ferne des Nordens gerückt, „ w o d i e
Welt aufhört". Für den Bekenner Mohammeds eristirt
nur der Süden, wo das Grab des Propheten, der Osten,
wo die Soune ans-, und der Westen, wo sie untergeht.
Wohl kein Land der Erde hat seine Bewohner so viel-
fach gewechselt, als das türkische, und immer unter Vernich-
tenden Kriegen, die nicht selten mit Ausrottung der früheren
Bewohner endigten; die unzähmbare Begier nach Wohn-
sitzen in dem sonnigen Süden führte die wilden Slaven-
Völker herüber über den Jster und warf die Bollwerke des
oströmischen Kaiserreichs in Trümmer; die Gothen, Völker-
germanischen Stammes, mußten ihnen nachgeben, an der
rohen scythischen Kraft erlahmte ihre Stärke, und was
endlich der Trieb nach leiblicher Existenz nicht verändern
konnte, ^das veränderte zuletzt christlicher und mohammeda-
nischer Fanatismus.
Lauter Momente, die den Reisenden zu einem Besuche
des merkwürdigen Landes anspornen, wenn nicht noch hin-
zukäme, daß in dem Innern der Türkei da, wo die
Morawa ihre Wasser nach Norden sendet und der schnell-
fließende Vardar, der Arios der Griechen, seine Fluten
durch des euge Desil« von Bader zwängt, in einem langen
Zeiträume die Fäden der römischen Politik gesponnen
wurden. Eine Reihe von Kriegsherren geht aus jenem
Lande hervor, — es ist die illyrische Provinz —
welche die Regierung, nachdem die Staatskraft der ewigen
Stadt vollkommen verbraucht war, an sich nehmen. Im
W. Gottschild: Eine Fcch
Lager hatte sich eine illyrische Schule oder Partei gebildet,
welche ganz dazu angethan war. das Uebergewicht über die
fremden Elemente zu behaupten. Sollte es da nicht mög-
lich sein, noch Traditionen unter der Bevölkerung aufzu-
finden, oder Bauüberreste, welche manchen dunkeln Punkt
in der vielverschlungenen Geschichte, namentlich des byzan-
tinischen Reiches, aufhellen könnten? Dazu kommt noch
die Betrachtung der Lebensweise, der Sitten, der Anschau-
ungen, welche oft diametral den abendländischen entgegen-
gesetzt sind. Doch selbst abgesehen hiervon muß jedem
Ethnographen schon die Beobachtung der bunten Menge
von Völkern, welche die Balkanhalbinsel bewohnen,
von denen die einen, die Serben und Bulgaren, berufen
zu sein scheinen, eine große politische Zukunft zu erlangen,
die anderen, die Osmanli, im Aussterben begriffen sind,
einen bedeutenden Impuls geben, diese Völker einmal in
der Nähe in ihrem Leben und Streben zu beobachten.
So unternehme ich, in einer Reihe von Aufsätzen dem
Leser meine Erfahrungen, welche ich in dem Jahre von
1858 auf 1859 durch die Türkei und zwar von Belgrad
nach Salonik als Sekretär des k. k. österreichischen Eon-
snls für das östliche Griechenland Dr. v. Hahn machte, in
möglichst anschaulicher Weise mitzntheilen. Dazn bemerke
ich uoch, daß diese Aufsätze einer Reihe von Vorträgen ent-
springen, die ich in den geographischen Vereinen zu Frank-
furt ct. M. und Darmstadt gehalten habe. —
Es war in den ersten Tagen des August 1858, als ich
von Herrn v. Hahn eingeladen wurde, ihu auf einer Reise
in den Orient zu begleiten. Ich nahm das Anerbieten
sofort an, und kanm waren die letzten Festklänge von dem
dreihundertjährigen Jubiläum der Universität Jena, an
welcher ich bisher studirt hatte, verhallt, als ich nach Wien
eilte. Hier erfuhr ich, daß Herrn v. Hahn von der k. k.
österreichischen Akademie der Wissenschaften die Aufgabe
gestellt worden sei, jene terra incognita südlich von
dem jetzigen Serbien und dem Jastrebaß zu er-
forschen, wo Kiepert aus seiner großen Karte der Türkei
von 1858 einen weißen Fleck gelassen hat. Hier mußte die
Heimat der alten Dar d an er sein.
Doch welches war die geographische Be-
schasfenheit des Landes? Wer mochte jetzt dort
wohnen? Wir konnten nicht annehnien, daß dieses große
Terrain gauz unbewohnt sei, da schon Ami Bous in seinem
trefflichen Reisewerke über die Türkei davon andeutend
berichtet. Herrv. Hahn vermnthete, daß dort Albanesen
sitzen müßten, und allerdings haben wir dort Albanesen
sehr zahlreich gefunden, die in immer weiterm Vor-
schreiten nach Osten und Süden begriffen sind.
Mit guten Kapeller'fchen Barometern und einem Ane-
roid versehen, fuhren wir am 11. September genannten
Jahres von Wien die Donan stromabwärts und erreichten
am 13. September, nachdem wir einen Tag in Pesch Halt
gemacht hatten, Semlin. Nur von unserer Aufgabe
erfüllt, schenkten wir den Ufern der Donau wenig Aufmerk-
samkeit. Wir eilten vorüber an Preßburg und seinem
Krönungshügel, vorüber an dein in dem ungarischen Kriege
so heldenmüthig vertheidigten Komorn und der Insel
Schntt mit ihren mächtigen Wäldern, vorüber an Gran
mit seiner weißen Kathedrale, welche majestätisch einen aus
der Sohle der Donau aufspringenden Felsen krönt, vorüber
an des Corvinus Burg, von deren einstiger Größe noch die
weiten Trümmer zeugen. Die Donau wird breiter und
breiter, genährt von den mächtigen Strömen, die sie nach
und nach aufnimmt, in zahlreichen Armen wälzt sie ihre
Wasser dahin; endlich bespült sie die drohenden Wälle von
Peterwardein. Noch wenige Stuudeu und wir sind in
; nach Belgrad in Serbien. 123
Semlin, dem letzten Vorposten des Abend-
land es. Noch einmal heimelt uns das Vaterland an,
wir sehen in Semlin noch einmal das treue Abbild einer
sächsischen Landstadt; daß aber unser Traum uicht zu lange
währe, dafür sorgt das auf der Höhe gegenüberliegende
Belgrad mit seiner Festung, deren Werke sich bis herunter
an den Donauspiegel ziehen, mit seinen in der Sonne
glänzenden Minareten und der in reicher Vergoldung
prangenden Kuppel des Thurmes der griechischen Kirche.
Noch von dem Savastrom genährt, breitet sich hier die
Donau weithin aus. Doch wir halten uns nicht auf,
ein kleines Dampfboot vermittelt unfern Eintritt in die
,,Levante". Wir sind in Belgrad, der weißen Stadt,
der Hauptstadt des Fürstenthums Serbien, welches jetzt
freilich nur einen geringen Brnchtheil des einstigen serbischen
Reiches ausmacht und welches schon Herodot kennt, der
zwar das Land nicht nennt, aber seine Hauptflüsse beschreibt,
den Angros und Brongos, d. h. die bulgarische nnd
serbische Morava.
Belgrad liegt zum Theil ziemlich hoch über dem
Donauspiegel und scheidet sich in zwei Haupttheile, in die
Ober- und in die Unterstadt. Ein ziemlich beschwerlicher
Weg führt von dem Landungsplätze steil aufwärts in die
Oberstadt, an welche sich die Festung schließt, die aber voll-
kommen abgesperrt ist. In der Festuug liegt die türkische
Besatzung, denn Belgrad gehört zu denjenigen serbischen
Städten, in welchen die Pforte noch Garnisonen hält; in
der Festung wohnt auch der Pascha. An sie stößt dann die
Türkenstadt. Kein Türke darf in dem serbischen Theile
Belgrads wohnen, nur auf dem Bazar hat er sein Verkaufs-
lokal. Wir quartierten uns in dem Hotel „zur serbischen
Krone" ein, dem einzigen Gasthofe, wo man anständig
logiren kann, obgleich es auch in ihm an dem gewöhnlichen
orientalischen Schmutze nicht fehlt. Ein herrlicher Abend
war einem heißen Tage gefolgt. Die Luft wehte mild und
der Mond goß sein Silberlicht über die Moscheen, deren
Minarete mit ihren metallbeschlagenen Spitzen hell lench-
teten. Tiese Ruhe lag über der Stadt. Ich stand an dem
geöffneten Fenster und sah ans den vor dem Gasthofe sich
ausbreitenden großen nngepflasterten Platz, der, von
unregelmäßigen Gebäuden umgeben, mir als Marktplatz
bezeichnet wurde. Ich dachte an die unheimliche Gestalt
Soliman Pascha's, der hier im letzten Kriege auf einmal
150 Serben enthaupten und ihre Köpfe auf den Festnngs-
thoren aufstecken ließ, als plötzlich ein wüster Lärm aus
dem untern Stockwerke des Gasthofs herauftönte und mich
aus meinem Denken Heransriß. Der Kellner, den ich nach
der Ursache befragte, sagte, es sei große Gesellschaft im
Salon. Ich bestellte das Abendessen dorthin und war
erfreut, gleich am ersten Abend in Belgrad mit der „gnten
Gesellschaft" bekannt zu werden, denn gewöhnliche Leute
konnten es wohl uicht fein, die in dem ziemlich thenern
Hotel verkehrten. Als ich in den Salon, der allen An-
sprächen auf Comfort entsprach, eingetreten war, sah ich,
daß sich hier eiue bunte Menge von Herren nnd Damen
durcheinander bewegte. Man hatte sich zum Theil um
kleine runde Tische gruppirt uud war fröhlich nach Herzens-
lust. Ich traf einige obere Manthbeamte, deren Bekannt-
schaft ich schon am Nachmittage gemacht hatte und die mir
über die verschiedenen Persönlichkeiten Aufschluß gaben.
Sofort siel mir auf, daß die Herren ganz europäisch
gekleidet waren, während die Damen meist die serbische
Nationaltracht trugen, ein zierlich um den Kopf geschlunge-
nes Tuch, welches'aber uoch das dunkle in üppige Flechten
geflochtene Haar sehen ließ, und eine mit Pelz schön ver-
brämte Jacke. Ich habe überhaupt auf der ganzen Halb-
16 *
124 W. Gottschild: Eine Fa
insel die Bemerkung gemacht, daß dort völlig im Gegensatz
zu uns die Frauen in Beziehung auf die Mode das couser-
vative Element bilden; nur ungern geben sie ihre aller-
dings malerische Nationaltracht auf. Besouders fiel mir
hier au den Frauen uoch der prächtige Teint auf, allein ich
kam bald dahinter, daß das Schminktöpfchen gehörig in
Anspruch genommen worden war. Die Haare färben sie,
und nicht leicht trifft man eine Serbin in grauem Haar.
Mitten unter der Menge hatten serbische Offiziere Platz
genommen, unter ihnen der Schwager des Fürsten Alexan-
der. Eine Flasche Champagner um die andere wurde
geleert. Um den Lärm vollständig zu machen, stellte sich
eine ungarische Kapelle um das Billard herum und spielte
in ohrzerreißenden Tönen Nationalmusik und straußische
Walzer. Auf einmal wurde der Marseillermarsch ange-
stimmt, und als er geendet, wurde er stürmisch noch einmal
verlangt; namentlich schien sich der fürstliche Schwager sehr
daran zu belustigen. Kaum hatte man ihn aber zum
zweiten Male durchgespielt, als sich auch seine revolutionäre
Kraft äußerte. Ein außer Dienst gekommener Kellner
hatte sich eingeschmuggelt und seinen Wein umsonst trinken
wollen; über diese der haute volee angethane Beleidigung
erbittert, erhob sich die ganze Gesellschaft, Damen und
Herren, und warf den Kellner zur Thür hinaus.
Nach dieser Erpedition zog ich mich üt mein Zimmer
zurück; ich hatte einstweilen genug von der serbischen
haute volde. Der Lärm dauerte uoch lange bis nach
Mitternacht fort. Es frappirte mich, daß ich viel Deutsch
sprechen hörte, Wollteich aber selbst Deutsch sprechen, so
sprach man Serbisch oder Französisch. Ueberhaupt gab
man sorgfältig auf mein ganzes Benehmen Acht; wie jeder
Orientale ist auch der Serbe gegen den Fremden vorsichtig,
und es danert lange, bis man seine Freundschaft gewinnt.
Die Vorsicht zeigt sich auch in dem Blicke, der dem sonst
männlich schönen Gesichte nicht zum Vortheil gereicht. So
sehr sich auch die Serben gegeu das Eindringen abendlän-
discher Eultnr stemmen, so können sie dieselbe doch nicht
aufhalten; nur pflücken sie nicht immer die guten Früchte
von ihr, die Auswüchse derselben sind ihnen, wie allen
Orientalen, oft genehmer. Es ist nicht selten, daß reiche
junge Serben nach Paris gehen; mit der französischen
Sprache bringen sie aber auch französische Unsitten mit.
Am andern Tage besah ich mir die Stadt. Sie breitet
sich ziemlich weit auf einer Hochebene aus. Die Häuser
sind meist klein, die Straßen unregelmäßig uud uicht oder
nur zum Theil gepflastert. Unter den Vorstädten zeichnet sich
die Savavorstadt aus mit ihren Waaremnagazinen und zum
Theil stattlichen Gebäudeu; ehemals standen hier kleine
Fischerbaracken. Milosch wollte aber seine Mauthgebäude
dort anlegen, die Baracken wurden niedergebrannt und die
Fischer obdachlos. Kein Heller Entschädigung wurde
gezahlt. Ein schönes Gebäude ist die Metropolitankirche,
in byzantinischem Style gebaut, während der Konak (WoH-
nung) des Fürsten ein sehr einfacher Bau ist. Unter den
Eousulatsgebäudeu zeichnet sich das österreichische aus.
Der Bazar ist verfallen, doch.lebhaft. Mit einem deutschen
immerwährenden Jahrmarkt könnte man am treffendsten
einen solchen Bazar vergleichen, nur daß in den Buden
nicht blos verkauft, fondern auch vor Aller Augen gearbeitet
wird. Bei untergehender Sonne begiebt sich der Kauf-
mann oder Handwerker in seine Wohnung, die er im
Innern der Stadt hat.
Ein wichtiger Handelsartikel ist für Belgrad der
Taback; hier uud in Konstantinopel erhält man die
feinsten Sorten; mehre Karawanen versorgen alljährlich
den Marktaus dem Süden der Türkei, namentlich ans
: nach Belgrad in Serbien.
Jenischeh. Der Preis für die Occa (etwas über 2 Pfund)
beträgt 15 bis 20 Zwanziger. Eine große Annehmlichkeit
für Belgrad sind die türkischen Bäder; die Bedienung ist
äußerst reinlich uud die Behandlung des Körpers, das
Reiben uud Kueteu wohlthueud, bis der Badediener sein
Opfer aufrecht setzt, ihm das Knie in den Rücken stemmt
um die Ellenbogen zusammenzuklappen. Bei dieser letzten
Procedur glaubt man den Geist aufgeben zu müffeu.
Der Festuugskommaudaut Ismail Pascha war früher
Admiral gewesen. Er wohnt in der Festung. Wir folgten
einer Einladung, ihn zu besuchen. Der Empsang war-
freundlich. Die Wände seines Audienzzimmers waren
ganz kahl, ringsherum liefen Divane, den Boden bedeckten
prächtige smyruiotische Teppiche. Nachdem wir uns gegen-
seitig begrüßt, nahmen wir stunun auf den Divanen Platz.
Plötzlich traten drei Neger herein, jeder mit einem langen
Tfchibnk (Tabakspfeife) bewaffnet, — es waren prächtige
Jasminröhre mit großen Bernsteinspitzen. — Soldaten-
mäßig traten die Tschibnktschi au und wie auf Kommando
führten sie uns die Spitzen zun: Munde. Noch durfte
nicht gesprochen werden, nur mächtige Rauchwolken stieß
Einer um den Andern aus. So verlangt es das orientalische
Eeremoniell; die deutsche Art, in kleinen Zügen zu rauchen,
kennt man dort nicht. Damit die Teppiche nicht beim
Rauchen verletzt werden, stehen bekanntlich unter jedem
Pfeifenkopfe metallene Schüsselchen, in denen er ruht.
Endlich kam der Kaffee in sehr kleinen Tassen, die auf
silbernen Untersetzern ruhten. Der Pascha trank nach
orientalischem Brauche zuerst. Wir folgten nach und be-
grüßten uns gegenseitig nochmals, indem wir die Hand auf
Herz und Mund legten. Hierauf begauu die Unterhal-
tuug. Der Pascha erkundigte sich nach europäischen Wer-
Hältnissen und ließ dann eine Menge von Karten bringen,
in denen er eifrig zu stndiren schien. Plötzlich überraschte
er uns mit der Frage, ob wir uns nicht fürchteten, jetzt eine
Reise zu unternehmen, da eiu Komet am Himmel
stäude uud sicher ein Krieg ausbrechen werde. Nun,
er konnte leicht aus den: Erscheinen des Kometen einen
Krieg vermutheu, da die Engländer kurze Zeit vorher
Djedda bombardirt hatten, eine Thatsache, die jeder gemeine
türkische Soldat kannte; Rache dafür zu nehmen war jeder
in jedem Augenblicke bereit. Man hatte kurz vor unserer
Anknnft in Belgrad auf deu englischen Generaleonsnl
geschossen.
Ungehindert konnten wir in der Festung herumgehen.
Sie steigt von dem Donauspiegel terrassenförmig in die
Höhe. Die äußeren Werke sind zum Theil sehr verfallen,
laffetenlos liegen die Kanoneu auf deu Mauern, als solle
nie mehr ein Schuß aus ihnen gethan werden. Die Sol-
daten hocken, kurze Tschibuks rauchend, auf den größeren
Plätzen umher und lassen sich von der Masse Hnnde be-
schnobbern, welche in der Festung die Straßenpolizei bilden.
Die türkischen Truppen sehen den serbischen gegenüber sehr
dürftig aus. Ihre blauen, rothpaspelirteu Uniformen
waren meistens abgerissen. Die Subalternoffiziere, oft
ungebildete Menschen, unterschieden sich nur wenig von
den gemeinen Soldaten.
Einen guten Eindruck machten die serbischen Trup-
Pen. Es waren meist schöne Leute in grünem Waffenrock
mit rotheu Aufschlägen. Sie liegen in der Serbenstadt.
Ihre Offiziere wählen sie sich selbst; nur die Artillerie hat
Offiziere, welche in der Militärakademie zu Belgrad gebildet
sind uud sich in Bezug auf militärische Bildung getrost mit
europäischen Offizieren messen können. Namentlich haben
sich die Professoren der polytechnischen Schule in Paris,
Aus allen
wohin viele noch zu weiterer Ausbildung gehen, sehr aner-
kennend über sie ausgesprochen.
Als Sehenswürdigkeit betrachtet man in der Türken-
stadt den in Trümmern liegenden Palast Prinz Eugens,
die Serbenstadt dagegen hat noch ein von Laudon erbautes
Thor.
Der Beobachter des Kulturfortschritts wird noch die
Akademie besuchen, in welcher Philosophie, Geschichte,
Staatswissenschasten gelehrt werden, und die öffentliche
Bibliothek. Rühmend muß man es bei den serbischen
Gelehrten anerkennen, daß sie außerordentlichen Fleiß auf-
bieten, um ihr Volk heranzubilden, damit es Theil nehmen
könne an den geistigen Schöpfungen der westlichen Völker.
Außerdem vermittelt uoch eine Art geistigen Verkehr die
Staatszeitung, damals von Dr. Gaj geschickt redigirt.
Die Umgegend von Belgrad ist schön. Namentlich
führt ein herrlicher Weg nach dem Lustschlosse des Fürsten,
nach Toptschider, einem reizenden Fleckchen Erde südlich
von Belgrad. Rechts hat man die Sava, links bewaldete
Höhen. Das Lustschloß ist eine einfache Villa. Der Fürst
Alexander war gerade anwesend, ein freundlicher bejahrter
Herr. Seine Haltung war gebengt lind fein Antlitz zeigte
keine Spur von der den Serben eigenen Energie. Er trug
einen blauen Oberrock mit einem Stern auf der Brust.
Er bewirthete uns mit Slatko, eingemachten Früchten,
einer Delikatesse, welche mit einein Glase Wasser genossen
wird und im Sommer angenehm kühlt. Mitten auf einer
grünen Matte steht der Villa gegenüber der Kiosk von
Milofch. Er ist ganz in türkischem Style gebaut. In
dem obern Saale, der schön mit Schnitzwerk geziert ist,
hingen Eopien von Bildern ans der niederländischen Schule.
Von dem Saale führt eine enge geheime Treppe herunter,
an deren Ausgang manches Opfer tyrannischer Willkür
geblutet haben soll. Mi losch wird sehr verschieden beur-
theilt. Die Einen nennen ihn einen hochsinnigen Fürsten,
Andere verdammen ihn. Die Stimmen unter den Serben
waren getheilt. Jedenfalls muß es mit seiner Gewissens-
ruhe eigeuthümlich ausgesehen haben, wenn er, wie Cyprien
Robert in seinein bekannten Werke über „die Slaveu der
Türkei" erzählt und was nicht in Abrede gestellt wurde,
jede Nacht iu seiner Antichambre zwei Momkeu (Leibwächter)
mit geladenen Karabinern als Wache hatte und außer-
dem an seinem Bette der treue Major Auastasius wachen
mußte. Trotz dieser Vorsichtsmaßregeln soll er oft, von
einem panischen Schrecken ergriffen, plötzlich aus dem
Schlafe aufgefahren sein und um Hilfe gerufen haben.
Erdtheilen. 125
Es dürfte zu weit führen, auf das Leben des Fürsten
Milofch näher einzugehen.
In der Nähe von Toptschider ist die Strafanstalt.
In ihr besteht die merkwürdige Einrichtung, daß die Sträf-
linge im Sommer auf einige Wochen während der Ernte
die Erlaubniß bekommen, nach Hause zu gehen und die
Ihrigen in der Feldarbeit zu unterstützen. Pünktlich nach
abgelaufener Frist kehren sie zurück und es ist noch kein
Fall vorgekommen, daß ein Sträfling zurückgeblieben
wäre. Der Grund liegt darin, daß die Sträflinge nur
uach der Türkei oder nach Oesterreich entweichen können;
die Türkei hassen sie aber und von Oesterreich werden sie
ausgeliefert.
Nicht weit von der Strafanstalt befindet sich die Acker-
bauschule, in welcher junge Serben in der rationellen
Feldwirtschaft unterrichtet werden. Die Zöglinge sind
ganz militärisch geordnet und unisormirt, namentlich wun-
derte ich mich über die Reinlichkeit, die im ganzen Gebäude
und besonders in den Schlafsälen herrschte.
Geht man weiter an der Sava stromaufwärts, so kommt
man an den. Platz, wo Kara Georg, der schwarze Georg, von
seiner schwarzen Mütze so benannt, Serbiens Befreier,
s e i n en Bat er niederschoß. Als 1787 die Oesterreicher
einzufallen drohten, nahm er an dem Aufstaude seiues Vol-
kes gegen die Türken Theil. Er muß fliehen, den greisen
Vater und seine ganze bewegliche Habe nimmt er mit sich.
Sie kommen näher und näher an die Sava, der Alte will
nicht flüchtigen Fußes seine Heimat verlassen, er räth zur
Rückkehr; demüihige sich Georg, so werde ihm gewiß ver-
ziehen werden. Sie sind an der Sava. Georg bleibt
standhaft; da sagt der Vater endlich: so ziehe allein, ich
bleibe in meinem Vaterlande. Georg ist innig bewegt,
noch einmal stellt er ihm die ganze Gefahr vor, die ihm
von den Türken droht. „So soll ich erleben, daß die
Türken dich langsam zu Tode martern? Besser ist's, dn
stirbst von meiner Hand." Die Pistole blitzt und der
Alte liegt zuckend am Boden; ein Diener gibt ihm uoch
den Gnadenstoß. Georg fordert die Bewohner des nächsten
Dorfes auf, den Alten da draußen zu begrabe» und für
seine Seele „eiu Todteumahl zu trinken". Er verschenkt
sein Vieh und überschreitet den Fluß. Nun ist er abwech-
selnd österreichischer Feldwebel, Haiduck, d. h. Räuber, iu
seinen heimatlichen Bergen, zuletzt Waldhüter iu einem
Kloster. Die Bewegungen seiner Heimat rissen ihn Wieder-
aus diesem Leben heraus und er begann die hervorragende
Rolle eiues Führers seines Volkes zu spielen.
Aus allen Erdtheilen.
Die Aufsuchung der Spuren Leichhardts. Wir finden
darüber in der „Germania" vom 22. Februar folgende An-
gaben:
. Nach einem Berichte aus Brisbane in Queensland
befand sich Mac Jntyre mit zwei Begleitern am 12. Januar
am Thompson River; er wollte von dort nach dem 120 Miles
entfernten .tramae Creek reisen. Es war Regen gefallen und
die noch vorhandenen Pferde und Kameele hatten sich etwas
erholt. Der Reisende war durch das bisherige Mißgeschick keines-
wegs entmuthigt und wollte seine Wandenrng zur Aufsuchung
der Spuren Lerchhardts fortsetzen. In Adelaide beabsichtigte
man, eine Anzahl Männer mit 10 Kameelen an den Coopers
Creek nachzusenden, falls die Regierung von Victoria zu dm
Kosten beisteuere.
Dr. F. Müller hat folgende Nachricht von einem Herrn
Sutherlaud in Betreff des verschollenen Dr. Ludwig Leich-
Hardt erhalten. Ein dritter, mit einem 18 Zoll langen und
14 Zoll breiten L gemarkter Buchsbaum ist am linken Ufer des
F l in ders-River, ungefähr 25 bis 30 Meilen unterhalb der
Mündung des O'Counclls Creek gefunden worden welches un-
zweifelhaft zeigt, daß Leichhardt am Flinders-River
hinabgegangen ist. Em gewisser Kir hat den Baum ge-
126 Aus allen
sehen, als er sich nach einem Weideplatz umsah. Der Baum
wurde zuerst von einem der Arbeiter des Herrn Hays gefun-
den. Weitere Spuren eines Lagers fanden sich bei demselben
nicht vor.
Australische Notizen. Die melbonrner „Germania" vom
26. Februar, deren Zusendung wir hiermit bescheinigen, führt
Klage darüber, daß die Colonie Victoria, welche jetzt
626,530 Seelen zähle, nicht genug Getreide für den eigenen
Bedarf erzeuge. Man freue sich allemal, wenn die Ankunft
eines mit Korn nnd Mehl beladenen Schiffes aus Chile oder
Californien gemeldet werde, weil dann der Thenerung zeitweilig
abgeholfen werde. Die Sache, meinen wir, erklärt sich leicht,
wenn man in Erwägung zieht, daß die Goldgräbers eine so
große Menge von Arbeitskräften in Anspruch nimmt und die
bisherige Gesetzgebung über Grund und Boden sehr Mangel-
hast war.
Die Gesammteinnahme der Colonie Victoria hat nach dem
Berichte des Finanzministers im Jahre 1865 die Summe von
3,960,265 Pfd. Sterl. betragen, im Vorjahre nur 2,954,538
Pfd. Sterl.
Aus Neusüdwales werden die Klagen wegen desUeber-
Hand nehmens der Buschklepper ei immer lauter. Der
Unfug ist dort so tief eingerissen, daß man vorerst daran ver-
zweifelt, ihn ausrotten zu können. Die Polizei ist jedoch in
unermüdlicher Thätigkeit, und die Regierung von Sydney hat
auf die Ergreifung des Buschrangers Clarke, 'welcher das
Handwerk ins Große treibt, eine Belohnung von 200 Pfd. Sterl.
ausgesetzt.
In Sydney baut man jetzt auch Dampfer; im Januar
ließ die australische „Steamship Company" einen Danipfer mit
doppelter Schraube vom Stapel. Man will in Bezug auf den
Schiffsbau nicht länger von England abhängig sein.
In dem anfangs so viel gerühmten Nord-Territorium,
welches bekanntlich, bis auf Weiteres, einen Theil der Colonie
Südanstralien bildet, ist nun der Oberstlieutenant Finniß,
der sich so viele Mißgriffe zu Schulden kommen ließ, definitiv
abberufen worden. Er kam am 14. Februar vou der Adams-
bay in Port Adelaide an. Nun ist der bekannte Forschungs-
reisende Mac Kinlay im Nordgebiete, wo man wieder einmal
einen „herrlichen Strich Landes" aufgefunden haben will. Die
nene Hauptstadt sott etwas südlich von den Escape Cliffs an-
gelegt werden.
In der Umgegend von Nairne, Südaustralien, ist Gold
gesundeu worden.
Von den Neuen Hebriden in der Südsee. Diese Inseln
wnrden bisher als ein sehr günstiger Boden für die Einführung
des Christenthums unter den Heiden geschildert. Die Pres-
byterianer hatten dort Missionen gegründet, namentlich ans der
Insel Tanna. Doch entsprach der'Erfolg keineswegs den Er-
Wartungen, nnd die Häuptlinge waren schwer zu behandeln. Nun
meldet die „Australiern Gazette" in einer Februarnummer, daß
die Sendboten verjagt, die eingebornen Lehrer verfolgt, die Vor-
räthe gerankt worden sind. Gleichzeitig ist auf der Insel Erro-
mango der Missionär Gordon sammt seiner Frau getödtet
worden; die ganze Missionsanstalt wurde von den Eingebornen
dem Boden gleich gemacht. Die Missionsfreunde zu Sydney in
Neusüdwales veranlaßten den Gouverueur?)oung, ein Schiff
nach den Neuen Hebriden zu schicken, um die Dmge näher zu
nntersnchen. Atfo ging Commodore Seymour nach Tanna, und
dort versprachen die Häuptlinge, fernerhin keine britischen Unter-
thanen mehr ums Lebeu zu bringen, auch wollten sie die Mis-
sionäre beschützen. Sie hielten aber nicht Wort, sondern warfen
die Neuangekommenen Missionäre mit Steinen und trachteten
ihnen sogar nach dem Leben; die Hänser der einzelnen Christen
wurden niedergebrannt. Die Sendboten Paton und Mathieson
konnten nur mit genauer Noch ihr Leben rette». Die Häupt-
linge feuerten sogar auf englische Fahrzeuge, als diese Matrosen
ans Land setzen wollten. Auf Erromango haben die Leute des-
selben Stammes, welche den Missionär Gordon getödtet, einige
zwanzig Personen, welche auf der Insel Sandelholz einkaufen
wollten, todtgefchlagen und aufgefressen. Als diese Vorgänge
in Neusüdwales bekannt wurden, ging das Schiff „Cnrä<?ao",
vom Commodore Wifemann befehligt, nach Aniteum (Anitom)
um zu seheu, wie es dort stehe, und die Auslieferung von
Missethätern und Menschenfressern zu verlangen. Dessen wei-
gerten sich die Häuptlinge; sie zeigten Lust, es mit dem „großen
Schyfe" aufzunehmen. ' Nun aber bombardirte Wifemann die
Dorfer des Häuptlings Navka, der Schuld an der Ermordung
Erdtheilen.
eines britischen Unterthans auf Tanna gewesen war. Auch ließ
er Truppen ans Land setzen, um die Schiffe und Dörfer der
Eingebornen zu zerstören. Die Insulaner feuerten wacker, und
ein Engländer blieb todt auf dem Platze, während jene sich in
die Wälder zurückzogen, wo man ihnen nichts anhaben konnte.
Dann fuhr der Commodore nach Erromango, schoß zwei
Dörfer in Brand und berührte auf der Rückfahrt noch einmal
Tanna, wo die Häuptlinge abermals das Beste versprachen;
der Missionär Paton möge nur wiederkommen; es solle Alles
gut gehen. Die „Australiau Gazette" hebt hervor, daß die
Missionäre Vorläufer für den Kaufmann seien und stellt die
Moral auf: — ,,Wir haben ein Reckt, Gewalt gegen wilde
Stämme anzuwenden, mit denen wir in Berührung kommen."
Aber man ist dock» von den Wilden nicht gerufen worden. Unser
Aufsatz über die Ausrottung der eingebornen Völker durch die
civilisirten Nationen (X, 57)' gibt einen Commentar zu den obi-
gen Mittheilungen.
Aus der Capcolonie. Bekanntlich leidet ein nicht geringer
Theil der südlichen Halbkugel, namentlich in Australien und
Südafrika, oftmals an lang anhaltender Dürre und diese bildet
auch in der Capregion einen sehr empfindlichen Uebelstand.
Jene von 1865 hat großen Schaden angerichtet, doch trat end-
lich im Januar Regen ein. Die Colonie schreitet indessen in
gesunder Weise vorwärts. Die Einfuhren betrugen 1865 den
Geldwerth von 2,125,332 Pfd. St., gegen 2,471,339 Pfd. St.,
die Ausfuhren refpective 2,145,234 und 2,395,673 Pfd. St.
Das Nomausland, welches seit einigen Iahren weiße
Ansiedler erhält und über das wir früher im „Globus" aus-
sührliche Mittheilungen gegeben haben, ist mit der Colonie
Natal vereinigt worden. Die Engländer bezeichnen jetzt das
Nomansland als — Alfred e a. Also ein geschmackloser
Name mehr.
Der Krieg zwischen den Bafntos und den holländischen
Bauern des Freistaates dauert fort, scheint aber unblutig gewor-
den zu sein, und der Viehraub ist nun Hauptsache bei beiden
Th eilen.
Nachrichten aus China. Wir erwähnten vor einiger Zeit,
daß der Seeraub in den chinesischen Gewässern wäh-
rend des Jahres 1865 größere Dimensionen als je zuvor ange-
nommen habe. Jetzt meldet der pariser „Monitenr" aus Canton
vom 1. Februar 1866, daß der Unfug wo möglich uoch ärger
geworden sei. Eine Menge von Seeräuberdschoukeu werdeu im,
Flusse vou Cautou ausgerüstet, und ihre Keckheit ist nnver-^
gleichlich. Allein in der zweiten Hälfte des Januars hatten sie
aus der Höhe von Puty, bei Tantn uud an der Küste vou
Formosa "drei europäische Fahrzeuge ausgeplündert. Die Ka-
nonenboote der Engländer vernichten allwöchentlich ein paar
Piratenfahrzeuge; aber der Hydra wachsen die Köpfe immer
wieder nach.
Was die Rebellion betrifft, so glauben die Engländer,
daß uach Hinrichtung des Königs der Tai'ping die Ruhe wieder-
kehren und die Autorität des Kaisers sortau unangefochten blei- *
ben werde. Die Leser des „Globus" werden sich erinnern, daß 1
wir diese Hoffmmg nicht theilten, uud wir entwickelten seiner
Zeit die Gründe für unsere Ansicht. In der That ist die große
Rebellion nicht zu Boden geschlagen, vielmehr sind die Aus-
ständischen, welche seit etwa anderthalb Jahren als Nien fe'i
auftreten, nicht blos Gebieter in mehren großen Binnen-
Provinzen, sondern nun auch in die Südprovinzen, namentlich
in Kuang tung (Canton) eingerückt und verbreiten weit und
breit Schrecken. Der Kaiser hat nicht Truppen genug, um
ihnen wirksam die Spitze bieten zu können, er hat 'auch keiue
tüchtigen Feldherren. Uebrigens soll die Zahl der Nien sei
nicht beträchtlich sein; wir wissen darüber jedoch nichts Näheres.
Jedenfalls stören sie den Handel in empfindlicher Weise, und die
Zufuhren nach den Seehäfen aus dem Innern her sind unbe-
trächtlich; namentlich leidet Canton sehr. In dieser Stadt haben
die Franzosen eine Kathedrale erbaut.
Die Engländer wollen ans den ihnen eingeräumten „Con-
cessions-Reserven", d.h. einer gewissenBodenfläche, welche ihnen
zu ihrem speciellen Gebrauch angewiesen worden ist, zunächst in
Schang ha'i, dann auch in Japan Gebäude errichten, welche zu
Marinezweckeu dienen sollen.
Ein Deutscher, Dr. Legge, der sich um die Kunde des
südlichen China entschiedene Verdienste erworben, hat jüngst den
dritten Band seiner Ausgabe der chiuesischeu Klassiker
veröffentlicht. Er gibt dem kritisch bearbeiteten Text erläuternde
Ausfallen
Anmerkungen bei, bie von großer Wichtigkeit sind. Der Bericht-
erstatter des „Momteur" sagt, daß Legge für die Geschichte
China's etwa dasselbe sei, was Niebnhr für die römische Ge-
schichte 'gewesen. Er habe die Fabeln und Sagen vom Ge-
schichtlichen gesondert, und ihm zufolge beginnt das histo-
rische Zeitalter in China um 1700 vor Christi
Geburt. Alles, was über diese Zeit hinaus liegt, ist ungewiß
und fabelhaft.
Der höchste Berg im britischen Birma. Indische Blätter
berichten, daß derselbe vom Oberstlieutenant Graham erstiegen
worden sei. Der Berg gehört zu einer Kette, welche etwa
12 deutsche Meilen von der Stadt Tungu entfernt liegt; in
diesem Gebirge liegen die Quellen des Aunsalin, welcher in
den Salven fließt.' Den höchsten Gipfel bezeichneten die Vir-
manen als Rat Tnng, die Wohnung desNat, der für einen
sehr mächtigen Geist (Gott) gilt, oder auch Tung Chnng to,
kahles Haupt. Die Karens bezeichnen ihn als Tan tieh; dieses
Wort bedeutet Kamm. Aus der Ferne gesehen ist der Gipfel
allerdings ausgezackt; die Sage erzählt, der Berg sei einst von
einer gewaltigen Flut bedeckt worden, nur allein auf der aller-
höchsten Spitze sei ein kleiner Raum von der Größe eines
Kammes trocken geblieben. Der Culminationspunkt des Rat
Tnng befindet sich nicht auf der Kammhöhe des Gebirges, son-
dern auf einem südöstlichen Vorsprunge, von welchem der Nun-
salin herabkommt; seine Höhe beträgt 7500 engl. Fuß. Mau
hat von ihm einen prächtigen Blick aus die ausgedehnte Ebene
von Pegn; dann und wann wird zwischen Wäldern der Silber-
streifen des Sittangflnsses sichtbar, und jenseits der Ebene
steigt die Uomakette empor. Hinter dieser liegen die Gebirge,
welche Pegn von Arrakan scheiden. In den Legenden der Karens
spielt der Rat Tung eine große Rolle. Das Volk hat sich früher
einmal auf diesen Berg geflüchtet, um ungestört seinen Gott ver-
ehren zu können, und es meint, dieser Gott werde künftig ein-
mal erscheinen, um es zu befreien.
Der sibirisch-amerikanische Telegraph. Die Untersnchun-
gen des Obersten Bnseli ergaben, daß im hohen Norden
wesentliche Hindernisse nicht vorhanden sind. Der Meeresboden
sowohl in der Behringsstraße wie im Busen von Anadyr ist
eben und sandig; auch sind die Strecken, auf welchen hier der
Draht submarin gelegt wird, nur kurz. Die gegen Norden
ziehende Strömung lenkt die Eisberge von der Behringsstraße
ab und die Nordwinde üben Einfluß nur auf die Oberfläche
des Meeres. Die Pfähle stehen in dem gefrornen Boden so
fest, als wären sie eingemauert; sie sind stark genug, um den
Windstünnen zu widerstehen, und in jenen waldlosen Gegenden
ist keine Gefahr, daß sie durch umstürzende Bäume niedergerissen
werden. Die Strandbewohner sind friedliche Leute. Der Be-
richt, welchen die verschiedenen Untersnchnngskommissionen ver-
öffentlichen wollen, wird ohne Zweifel sehr interessant sein und
die Wissenschaft bereichern.
Der Mörderberein der Capoeiros in Brasilien.
Wir sinden in dem soeben (bei Brockhaus in Leipzig) er-
schienenen ersten Bande der „Reisen durch Südamerika vou
Johann Jakob von Tschndi" folgende Mittheilung:
„Ich will des Capoeiragem erwähnen, den ich noch in
keinem über Brasilien handelnden Werke besprochen sinde, und
theile mit, was'ich darüber von Polizeibeamten und anderen
wohlunterrichteten Männern erfahren habe. Capoeiro heißt
im Portugiesischen eigentlich Geflügeldieb.
Die Capoeiros, deren scheußliches Treiben Capoeira -
gem genannt wird, sind entweder Mulatten, freie Neger oder
Sklaven und bilden einen Mörderverein der eigenthüm-
lichsten Art. Manche Anzeichen lassen vermuthen, daß ihre
Verbindung nach gewissen geheimen, wenn auch höchst einfachen
Statuten organisirt und geleitet ist. Ich habe indessen darüber
keine Gewißheit erlangen können.
Die Capoeiros fangen ihre Laufbahn als Kopfborer an.
(Bekanntlich versetzt der Neger seinem Gegner nicht Faustschläge,
wie das Leute anderer Rassen thnn, sondern er rennt mit dem
Kopfe gegen ihn an, wie ein Widder, und das thut einem
Schädel, auf welchem man Backsteine zerschlagen kann, eben
keinen Schaden.) _ Sie rennen mit den Schädeln gegen einander,
weichen ab, greifen wieder an und kämpfen' stoßend oft so
heftig, daß der Eine oder Andere todt auf dem Platze liegen
bleibt.
An Sonn- und Festtagen, am meisten aber bei großen
Prozessionen, vereinigen sie sich, beginnen bei passender Gelegen-
127
heit mit Kopffechtett, montiren sich dabei, bis sie in eine Art
blinde, thierische Wnth gerathen und durchziehen dann wie Be-
fefsene die Straßen, niii einen unbezwiuglicheu Mord-
trieb zu befriedigen. Treffen sie dabei einen Sklaven, der
schlecht bei ihnen angeschrieben steht, weil er entweder ihrer
Verbindung nicht beitreten wollte, oder den sie als Verräther
betrachten, so ist er unrettbar dem Tode geweiht. Es beginnt
nun eine wüthende, tolle Jagd. Der Bedrohte sucht zu ent-
fliehen, die Capoeiros verfolge» ihn, verwunden ihn, jagen ihn
wieder auf, verwunden ihn wieder, ohne ihm den Todesstoß zu
geben nnd treiben dieses gransame Spiel so lange fort, bis der
Unglückliche, förmlich zu Tode gehetzt, leblos zusammenstürzt.
Kommt ihnen kein feindlicher Sklave vor, so morden sie den
ersten besten, der ihnen gelegentlich in den Weg tritt, sei er
Farbiger, oder Weißer, Brasilianer oder Fremder; morden
müssen sie. Sie führen weder Messer noch Dolche, son-
dern lange Nadelu und Pfriemen, welche sie dem
Todgeweihten zwischen die Rippen stoßen. Nachdem
einige Opfer gefallen sind, verschwinden die Capoeiros spurlos,
und oft bedient ein solcher Mörder, wenige Minuten nachdem
er sein Verbrechen begangen hat, seinen Herrn mit der nnschul-
digsten Miene von der Welt, als hätte er den ganzen Tag das
Haus nicht verlassen.
Ich sah eiust an einem schönen, mondhellen Sonntagabend
an der Ecke der Rna de Santo Amaro, in Rio de Janeiro,
eine Anzahl Neger sich versammeln, und bald waren sie unter
Gelächter und Lärm im heftigsteu Kopfboren begriffen. Die
Stöße waren so heftig, daß man weit weg das Anprallen der
Schädel hörte. _ Ich hielt es nicht für gerathen, bei diesem mir
neuen Schauspiele lange zu verweilen, und eilte, meine Woh-
nnng zu erreicheu. Am folgenden Dinstage las ich in der
Zeitung, daß zwei Tage früher die Capoeiros zwei Sklaven nnd
einen Freien ermordet hatten.
Raub und Diebstahl wirft man den Capoeiros nicht vor.
Den größten Anstrengungen der Polizei gelang es noch nicht,
diese furchtbare Mörderbande auszurotten. Der Capoeiro, wel-
cher als Mörder ergriffen wird, erleidet Todesstrafe; er erhält,
falls ihm ein Mord nicht nachgewiesen werden kann, die schärfsten
körperlichen Züchtigungen, nnd mancher hat schon in Folge da-
von den Geist aufgegeben. Selbst der Vermittlung der ange-
sehensten Standespersonen gelingt es nur sehr selten, einen
Lieblingssklaven von der so sehr verdienten Prügelstrafe zu be-
freien; denn gewöhnlich hat er dieselbe nach summarischem Ver-
fahren schon erhalten, ehe sein Besitzer in Kenntniß davon gesetzt
wird, daß er sich in den Händen der Polizei befinde.
Die Capoeiros sollen unverbesserlich sein und wenn auch
wiederholt hart abgestraft, der Verbindung dennoch nicht ent-
sagen, sondern das Kopffechten nnd nachfolgende Mordrennen
als Ehrensache betrachten.
Der Capoeiragem scheint mit der Einfuhr von Sklaven
gewisser afrikanischer Stämme auf brasilianischen Boden ver-
pflanzt worden zu sein. Es erinnert lebhaft an den Todtenlauf
(Ainock) auf mehren Sundainfeln (das aber doch mit einer
geheimen Verbindung nichts zu thun hat, sondern lediglich indi-
viduell ist), und es dürfte ihm ursprünglich eine religiöse Be-
dentnng zu Grunde gelegen haben."
Nordamerikanische Finanzen. Unter der Überschrift:
„Was wir binnen zwei Jahren zu zahleu haben?
schreibt eiue ueuyorker Zeitung vom 7. April Folgendes:
Aus deu Debatteu über die Anleihebill im Hanse ergibt
sich nach den pflichtmäßigen Angaben des Finanzeomites, daß
die Gesammtschuld der Bundesregierung am 1. März d. I.
2,711,850,000 Doll. betrug, von welcher Summe mehr als die
Hälfte uicht fundirt ist. Im Laufe der nächsten drei Jahre sind
1,600,000.000 Doll. zur Heimzahlung verfallen und werden die
Noten bei dem Finanzministerium produeirt werden. Die Zah-
lung muß unter allen Bedingungen prompt geleistet werden,
denn wenn einmal protestirt, ist unser Credit verloren!
Doch sehen wir die offizielle Tafel an, auf der die einzelnen
verfallenden Schuldposteu aufgezeichnet stehen, welche binnen zwei
Jahren gedeckt werden müssen. Wo Zahlen so deutlich sprechen,
ist jede weitere Erklärung überflüssig.
Am Anfang März wäre ein zeitweiliges Anlehen zum Be-
trage von 119,335,194 Doll. 50 C. zu bezahlen gewesen; die
Gläubiger köunen jeden Augenblick mit ihren Forderungen
kommen, und zehn Tage nach Produeiruug der Noten muß die
Zahlung stattfinden. Es wird angenommen, daß innerhalb der
nächsten Monate diese Summe eingefordert werden wird
Außer diesem verfallenen Posten von 119,335,195 Doll.
50 C. verfallen am 30. Juni d. I. 138,674,874 Doll. 82 C.
128 . Aus allen
und bis zum 31. Dezember 1866 müssen weitere 47,665,060
Doll. bezahlt werden. In den ersten 6 Monaten 1867 ver-
fallen 8,471,000 Doll. und bis Ende Dezember 1867 weitere
350,000,000 Doll. Sodann verfallen am 30. Juni 1868
369,415,000 Doll. und in der andern Hälfte des Jahres bis
Dezember 1868 28,504,482 Doll., so daß zwischen dieser und
der nächsten Congreßsitzung baar 1,201,890,607 Doll. 62 C, ab-
getragen werden müssen.
Dabei versteht es sich von selbst, daß hierunter die laufen-
nen Ausgaben, welche das Gouvernement nöthighat und die
sich jährlich auf etwa 5 bis 600 Millionen belaufen, nicht in-
begriffen sind. ___
Die Pflanze des kalten Fiebers. Wir lesen in einem
neuyorker Blatte folgende Notiz, die wir mittheilen, wie wir
sie finden.
Es wurde jüngst die Fieberpflanze entdeckt und zwar nicht
jene, welche Fieber curirt, sondern welche Fieber verursacht.
— Dr. I. H. Salisbury von Cleveland, Ohio, kündigt im
„Am. Journal of Medical Sciences" an, daß das kalte (Wechsel-)
Fieber durch eine mikroskopische Pflanze verursacht werde, welche
man findet, wo faules, stillstehendes Wasser eben vertrocknet ist.
Die Sporen oder der Fortpflanzungsstanb dieser kleinen Pflanze
werden durch die feuchten Nachtuebel verbreitet, und in den
Organismus durch das Athmeu aufgenommen, verursachen sie
jene weitverbreitete Krankheit der Wechselfieber. Die Wirkungen
dieser kleinen Pflanzen kommen vollständig mit dem überein,
was früher unter dem Vorkommen von Miasmen vermnthet
wurde, und daß sie die wirkliche Ursache desselben seien, wurde
bewiesen, indem man Kästen mit Erde, welche sie enthielt, an
Ort und Stelle brachte, wo das Wechselfieber nie, so viel man
wußte, vorgekommen war. In ungefähr zwei Wochen, nachdem
die Fieberpflanze dorthin gebracht worden war, traten ganz scharf
ausgeprägte Fälle dieser Krankheit auf. Diese Entdeckung erwei-
tert bis jetzt nicht unsere Kenntniß der Mittel, uns davon zu
befreien, allein es wird wahrscheinlich noch dieses Resultat er-
reicht werden; und selbst derjenige, welcher nun begreift, wie er
sich so ein Fieber zugezogen, hält sich schon für halb geheilt.
Die Sporen erheben sich blos in der Nacht und dann zn einer
Höhe, die uach der Lokalität verschieden ist, 30 bis 100 Fuß.
Dieses erklärt die Thatsache, warum die Nachtluft uns Fieber
bringt und warum höhere Lagen frei davon sind. Nachdem der
Fiebersame in den Organismus aufgenommen, pflanzt sich das
Gewächs dort fort und der Patient wird eine Art thierisches
Treibhaus.
Die Pfahlbauten bei Robenhansen. Zu deu „Sehens-
Würdigkeiten" der Schweiz sind jetzt auch die Pfahlbauten ge-
kommen und viele Reisenden machen gern einen kleinen Umweg,
um diese interessanten Ueberreste von Menschen aus vorgeschicht-
licher Zeit mit eigenen Augen zu betrachten. Dann und wann
trifft es sich, daß'ein Tourist gerade zu rechter Zeit kommt, um
zu scheu, wie einzelne Theile von Pfahlbauten wieder ans
Tageslicht gezogen werden. Franz Leib ing, der jüngst recht
fließend und verständig geschriebene Reiseskizzen herausgegebcu
(„Natur, Kunst und Menschen in Oberitalren und der Schweiz",
Leipzig 1866, Verlag von A. Fritfch) machte von Zürich aus
einen Abstecher uach Wetzikou und ging von dort nach dem
Dorfe Robenhausen am See von Psäffikon. Dort
befinden sich die vielgenannten, dem Schulpfleger Mefsikomer
gehörenden Pfahlbauten.
„Nach wenigen Schritten holte nns ein Mann ein, den ich erst
für einen aufdringlichen Führer Hielt, bis er sich als Messikomer
selbst zu erkennen gab; er hatte einige Herren vom züricher
Polytechnikum vergeblich erwartet. Er'erzählte, daß er vor acht
Jahren eine Schrift von Keller in die Hände bekommen habe,
welche die Pfahlbauten des Züricher Sees behandelt. In Folge
dessen begann er im Teiche seines Dorfes, der früher ein Theil
des Pfäffikon - Sees gewesen, seine Untersuchungen. Unterwegs
trafen wir in einen: Bauernhause die Herren aus Zürich und
begaben uns mit ihnen auf die Fundstätte; sie liegt dicht am
Linthkanal, der hier durch Nagelfluh gegrabeu ist. Das um-
liegende Gebiet bildete früher einen Theil des Seebeckens, der
sich um ein Viertel bis Fünftel seiner jetzigen Länge weiter
ausdehnte. In der Mitte der alten Pfahlbauteu-Niederlassung
hat Messikomer auf _ einem Räume von etwa 500 Onadratfuß
den Torf bis zur Tiefe von 6 Fuß herausgehoben und fo den
Unterbau der Anlage bloß gelegt. _ Eben jetzt war er an drei
Stellen mit Nachgrabungen beschäftigt.
Er dth eilen.
Diese wunderbaren Reste urältester europäischer Gesittung
haben allerdings auf deu ersten Blick nichts Bestechendes. Man
erblickt nur einige mit trüber Sumpflache gefüllten Gruben von
etwa 5 Quadratfuß, aus denen einige dünne Pfähle hervor-
ragen. Diese traten in größerer Zahl zn Tage, als man das
Wasser herausgeschöpft hatte. Ihre quadratische Stellung schien
den Umkreis einer Hütte zn bezeichnen, deren Boden durch
einige im Mittelpunkte stehende Pfähle noch besonders gestützt
war. Diese bestanden meistens ans Nadelholz und maßen 5
bis 7 Zoll im Durchmesser. Das Holz war vou breiartiger
Weichheit, wurde jedoch an der Luft bald hart. Nur an einer
Stelle fand sich Eichen.bolz. Aus einer Tiefe von etwa 3 Fuß
mußte eiu schwarzer Schlamm hervorgehoben werden, der viel-
fach mit Lehm untermischt war; dieser hatte den Boden der Hütte
gebildet. Bei näherm Nachsuchen entdeckte man hier alle die
Bestandtheile, welche von der Kultur der ältesten Bewohner
dieser Gegend Zeugniß ablegen. Jeder Schaufelstich förderte
Reste von Nahrungsmitteln zu Tage, z. B. Getreidekörner, ge-
dörrte Aepfel, Himbeersamen, Haselnüsse, Brotstücke und zer-
brochene Knochen von Jagd- und Haussieren. Au manchen
Stellen fanden sich Massen von Steinen, welche die Spuren
von Bearbeitung und Benützung an sich trugen. Mehre große
Sandsteine lagen um die Fundgrube und zeigten durch ihre
ausgehöhlten Flächen, daß auf ihnen andere Steine, wahrschein-
lich Steinbeile, geschliffen worden waren.
Nach mehrstündiger Arbeit fanden wir selbst ein schönes
kleines Steinbeil aus grünem Serpentin, verschiedene Steine,
die zum Zerquetsche» dcs Kornes gedient zu haben scheinen,
einige Rippenknochen von Thieren, deren Kanten zum Schmiden
künstlich geschärft worden waren, viele Bruchstücke von Thon-
geschirren und mannigfache bearbeitete Steine, deren Zweck sich
nicht sofort mit Sicherheit angeben ließ.
An einer Stelle am Ufer des Kanales lagen im Quer-
durchschnitte die Bodenschichten besonders lehrreich vor Augen.
Unter der Erdschicht befand sich der alte Lehmboden in einer
Dicke vou 5 bis 6 Zoll. Dieser ruhte auf einem wagerechten
Holzboden, der aus übereinander gelegten dünnen Stämmchen
von Tannenholz bestand, welche ihrerseits, bevor sie beim Zer-
fallen der Hütte in die Tiefe gesunken waren, auf den oben
beschriebenen Pfählen geruht hatten.
Messikomer hatte' in seiner Wohnung ein buntes Chaos
der verschiedensten Gegenstände aus seinen Fundstätten auf-
gehäuft, gegen welche die Sammlung in Zürich selbst arm zu
nennen ist, — darunter in Hirschhorn gefaßte Steinwaffen, und
als das Merkwürdigste von Allem eine Anzahl von Geweben
und Geflechten aus Flachs, deren Textur deutlich zu erkeuueu
war. Auch hatte sich eiue Anzahl der ans Thon verfertigten
Gewichte des Webstuhls vorgefunden.
Messikomer ist ein Mann von schlichter Ehrlichkeit, uner-
müdlich im Erklären gegenüber dem Fremden, welcher seine
Fundstätte besucht, und bescheiden in seinen Forderungen für
Gegenstände, welche man etwa zu erwerben wünscht."
Melville Bells System der sichtbaren Rede. Wenn das-
selbe sich bewährt, dann ist für die Linguistik und für die
geistige Verständigung überhaupt unendlich viel gewonnen; die
„Pasigraphie", nach welcher unser Philosoph Krause so
eifrig suchte, wäre gefunden. Im Kunstverein zu London legte
in der Mitte des März der Erfinder Proben ab. Sein Alphabet
besteht aus nnr 30 Zeichen; vermittelst derselben und einer An-
zahl verschiedener Combinationen kann Bell jeden Ton bezeichnen,
welchen die menschliche Stimme hervorbringt. Der Philosoph
Ellis erkärte das System für praktisch und bewunderns-
würdig, und betonte, daß das Alphabet sehr leicht zu begreifen
fei. Dann trat Bell auf. Eiue Anzahl Bonner sagten ihm eine
große Menge von Sätzen ans sehr verschiedenen Sprachen vor:
Arabisch, Chinesisch, Hottentotisch, verschiedene europäische Dia-
lckte:c. Diese schrieb er in seinem Alphabete nieder. Es kamen
dabei manche Töne vor, die er znvor nie gehört hatte. Dann
wurde sein Sohn herbeigeholt und las Alles mit stannens-
werther Genauigkeit vom Papier ab, selbst die Schnalztöne der
Hottentotten, Nasentöne, die langgezogenen Töne verschiedener
Provinzialdialekte, kurz er gab Alles mit den betreffenden Fein-
heiten und Eigentümlichkeiten wieder. Alle Anwesenden waren
von der praktischen Anwendung überzeugt. Bell zeigte dann
sein Alphabet vor; er will sein System demnächst „unter der
Autorität einer gelehrten Körperschaft" veröffentlichen, uud er
erklärt es für anwendbar auf die Telegraphie. Es ist eiu
Phonetisches System.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hitdburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Von Cadiz über Icrcz und Arcss dc la Konter» nach Sevilla.
Das alte und neue (Sabij. — Die schönen Gabunerinnen. — Confiteria^. — Cigarreras und Marineros,
und bie sSSaSS.-SRajo« und Aficionados. - Die Plaza und der Toro del Aguardiente. - Der Wem
und Keller. — Arcos de la Frontera und dessen Brücke. — Der Manzamllawem. — Palos und Chnstop
Herradero. —• Fahrt aus dem Guadalc>uwlr uach Sevilla.
Jerez de la Frontera
von Jerez, die Pressen
Christoph Colnmbus. Ein
Cadiz ist eine der ältesten Städte Europa's. Sie hatte
schon eine hohe Handelsblüthe erreicht, bevor Rom erbaut
dort aus unterhielten sie den Verkehr sowohl nach den
Küsten Afrika's, wie nach den europäischen Gegenden am
Kirche in Arcos de la Frontera. (Nach einer Zeichnung von G. Dorö.)
wurde. Die Phönizier legten auf der heutigen Insel Leon
eine Colouie au, welche sie mit Mauern umgaben und
Gadir nannten, d. h. die umhägte, eingezäunte. Von
Globus X. Nr. s.
Mittelmeer und am Atlantischen Oeean. Im Fortgange
der Zeit gelangte sie in den Besitz der Karthager, nach dem
zweiten punischen Kriege in jenen der Römer, von welchen
17
130 Von Cadiz über Jerez und Ar«
sie große Gunst erfuhr. Keiue andere Stadt des Reiches,
Rom und Padna allein ausgenommen, war so volkreich als
Gades, wo allgemeiner Wohlstand und großer Luxus
herrschte. Diese Stadt an den Säulen des Herknles hat
sich durch alle Jahrhuuderte hindurch ihre Bedeutung zu
erhalten gewußt; in der That ist auch die günstige Lage
„unverwüstlich".
Die beiden Reisenden Davillier und Dors besuchten
auf ihren Streifzügen durch Andalusien auch Cadiz. Die
Spanier sageu, wenn man dasselbe aus der Ferne betrachte,
gleiche es einer taza de plata en el mar, also einer auf das
Meer gelegten Schüssel. Die Häuser sind hoch, hellfarbig
angestrichen und gewähren bei dem lichten Sonnenschein
und dem tiefblauen Himmel einen sehr angenehmen Anblick.
Die meisten haben sechs bis sieben Stockwerke, denn da die
Stadt von Festungswerken umschlossen ist, so kann sie sich
nicht ausdehnen und man muß in die Höhe baueu. Jedes
hat statt des Daches eine Azotea, d. h. ein offenes Bel-
vedere, oder auch einen kleinen viereckigen Thurm, auf
welchem eiu Flaggenstock nicht fehlt. Die Fensterläden
sind grün und das gibt der ganzen Stadt etwas Freund-
liches; im ersten Stock findet man allemal einen Mira-
dor, Söller, Balkon, der mit Glasfeustern geschlossen
werden kann.
Von den marmornen Prachtbauten aus dem Alterthum
ist nichts übrig geblieben; die Monumente aus den letzt-
verflossenen Jahrhnnderten sind ohne künstlerische Be-
deutuug.
Das ganze Leben und Treiben in Cadiz ist angeregt
und angenehm, und wer Abends aus der Alameda lust-
wandelt, überzeugt sich bald, daß Cadiz noch heute, wie in
den Tagen des Dichters Martialis, eine „lebensheitere"
Stadt ist, jocosa Gades. Und wenn man im Alterthum
die Damen wegen ihrer Schönheit und freundlichen Ge-
sprächigkeit rühmte, so gilt auch das jetzt uoch in vollem
Umfange von den Gaditanerinnen. Martial freilich nennt
sie improbae gaditanae; sie waren berühmt als Tänze-
rinnen, sie ließen die baetica erusmata erschallen, d. h. sie
klapperten schon mit Castagnetten, und wer weiß, ob nicht
der berühmte Ole gaditano schon in den Zeiten der Kar-
thager oder Römer dort getanzt wurde? Lord Byron sagt
in seinem Childe Harold: „Das stolze Sevilla ist schön,
aber Cadiz ist doch noch anziehender."
Auf der Alameda wachsen Palmen, aber sie sind dem
Seewind allzusehr ausgesetzt und bieten keinen freundlichen
Anblick dar. Man richtet das Auge lieber auf das bunte
Menschengewühl, denn gerade in Cadiz hat man die beste
Gelegenheit, sich das heitere, lachende, lebhaft-rege Anda-
lusien zu betrachten; dort findet man „meneo, sal und
sandunga, d. h. jene Anmnth, das Reizende, den unge-
zwnngenen Anstand, die ein Privilegium der Audalusier,
insbesondere aber in hohem Grade der Gaditanerinnen sind.
Ihr Augengefnnkel, das „ojear" (das man im nördlichen
Deutschland als „glimmern" bezeichnet, und wofür der
Franzose sagt: lancer des oeillades, oder auch oeillader),
ist unvergleichlich. Die alte fpanifche Tracht ist verschwun-
den, nur die Mantilla, welche so kleidsam erscheint, erhält
sich für und für.
In keiner andern Stadt findet man verhältnißmäßig
so viele Consiterias, in denen eine merkwürdige Menge
von Zuckersachen feilgeboten werden. Da hat man cabellos
de angel, ein Confect, das lange Fasern bildet, wie das
blonde Haar eines Engels; da sind esponjados und azu-
cariiios, langgebackenes, schwammiges Bisenit, mit weichein
man das Trinkwasser zuckert. Der Audalusier liebt die
Süßigkeiten. —
s de la Frontera nach Sevilla.
Es wird Abend; die Tagesarbeit ist vollendet. Nun
erscheinen auf der Alameda die Cigarreras, zumeist
junge Mädchen, welche in der Tabacksfabrik beschäftigt
werden. Diese ist immerhin belangreich, wenn auch nicht
so bedeutend wie jene in Sevilla, in welcher mehre tausend
Frauenzimmer Arbeit finden. Die andalusifche Cigarrera
ist ein andalnsifcher Charaktertypus, und wir werden mehr
von demselben sagen, wenn wir Sevilla schildern. Sie
spielt selbst in Romanen eine Rolle.
Der Hafen ist sehr belebt und in ihm wehen die
Flaggen aller Handelsvölker. Der Marinero von Cadiz
erscheint uns als eine interessante Figur. Zwar kommt er
in deu Salonromanzen nicht vor, gleich dem in diesen uu-
gemein idealisirten Gondolier von Venedig oder dem neapoli-
nischen Barcajnolo, aber seine besonderen Romanzen hat
auch er. Man bezeichnet sie in Andalusien als Playeras,
Gesänge vom Strande, und sie werden mit der
Gnitarre oder Baudurria gesungen. Der Curro, Cur-
rito oder Curriyo fehlt in denselben niemals; mit diesen
Ausdrücken bezeichnet die Maya ihren Qu endo, das
Mädcheu den Geliebten. Hier eine Probe aus einer solchen
Player«.
„Ich sehe die Vorzeichen, welche Sturm verkünden, so
spricht die Querida zu ihrem Curro; aber wenn ich bei
Dir bin, fürchte ich mich nicht; ich helfe Dir rudern. Laß
uns beide rudern, Curro, und verfehle den Weg nicht.
Rudere rascher, Curro mio; ich fühle, daß mein Herz mir
enteilt." —
Die Reifenden verließen Cadiz an einem frischen
Morgen in einer Barke mit laugen lateinischen Segeln.
Diese Fahrzeuge heißen Faluas und sind nicht selten,
gleich einer sicilianischen Speromare, vorne mit zwei
großen, rothfarbigen Augen bemalt. Die Barke steuerte
rasch durch die Wellen der Bay von Cadiz nach dem nur
etwa 3 Stunden entfernten Puerto. Zur Seite lag Rota,
wo vortrefflicher Wein wächst.
Puerto Santa Maria liegt an der Mündung des
Gnadalete, und von hier aus werden die Jerezweine ver-
schifft. Die Stadt nimmt sich aus wie ein Diminntivnm
von Cadiz; feine Plaza de Toros ist unter deu Asiciouados
weit und breit berühmt und in mehr als einem Gesänge
verherrlicht worden.
Von Puerto nach Jerez fuhren die Reifenden in einer
andalnsischen Calesa, welche dem neapolitanischen Corri-
colo gleicht. Sie stammte sicherlich aus dem Anfang
unseres Jahrhunderts, hatte außerordentlich hohe Räder,
und der Sitzkasten war mit rofenrothen Amoretten auf see-
grünem Grunde geschmückt.
Der Calesero gab sich als einen Sohn der Stadt Jerez
zu erkennen und war in der That das wahre Urbild eines
redseligen, schwatzhaften und aufschneiderischen Andalusiers.
Seine Zunge war ununterbrochen in Thätigkeit und er wußte
wahre Wunderdinge über die Großthaten zu erzählen, die
er verübt haben wollte. „Als ich jung war, fürchtete ich
mich vor einem ganzen Regiments Soldaten nicht. Kein
anderer Mann hat sich jemals so gut darauf verstanden,
den Spielern ihren Barato abzunehmen; die aller-
wildesten Majos wurden weicher als Syrnp, wenn sie mich
nur aus der Ferne sahen, und wenn ich Abends zu meiner
Chiea ging, die mich an der Reja ihres Fensters erwartete,
dann hätte es kein Mozo gewagt, sich in der Straße zu
zeigen!"
Die Jerezanos gelten unter allen Andalnsiern für die
zungenfertigsten und schwatzhaftesten, und dieser Calesero
war in seiner Art ein vollendetes Exemplar. Es muß
übrigens bemerkt werden, daß die Andalnsier selber ein-
Von Cadiz über Jerez und Arcos de la Frontera nach Sevilla.
131
gestehen, daß sie die ärgsten Schwätzer in ganz Spanien
seien, und sie thnn es mit Unbefangenheit, Anstand und
Gntmüthigkeit.
Jerez heißt de la Frontera, weil es in Estre-
madura eine kleine Stadt Jerez de los Caballeros
gibt; es liegt unfern der portugiesischen Grenze. Ehemals
schrieb man leres, nun aber ist durch die neuere spanische
Orthographie das I vielfach an die Stelle des £, des G
und in manchen Fällen selbst an jene des S getreten.
lnsische Tracht und verstehen mit der Navaja vortrefflich
umzugehen; es ist mit ihnen nicht zu spaßen.
Die Plaza von Jerez gehört zn den größten und
schönsten in Spanien, und auf derselben werden die Stier-
gesechte gehalten. Das berühmteste fällt allemal auf
Iohanni und zieht von weit und breit eine große Menschen-
menge an. Als die Reisenden einem solchen Gefechte bei-
wohnten, wurden acht Stiere getödtet, und dazu kam noch
der Branntweinstier, der Toro del agnardiente, mit
^__^
Ein Majo und Bauern aus der Umgegend von Jerez. (Nach einer Zeichnung von G. Dorö.)
Die Stadt macht in angenehmer Weise den Eindruck
des Wohlstandes, der Behäbigkeit, ja des Reichthums. Sie
ist auch reinlicher, als sast alle anderen spanischen Städte,
und während des letztverflossenen Vierteljahrhunderts hat
sich die Einwohnerzahl verdoppelt. Man rechnet jetzt etwa
50,000 Seelen.
Die Jerezanos haben weit und breit einen Namen als
Majos, als Toreros und auch als Contrabandistas. Auch
sind sie ausgezeichnete Tänzer, und der Jaleo de Jerez
ist weltbekannt. Die Stutzer (Majos) kleiden sich in anda-
welchem es folgende Bewandtniß hat. Man bezeichnet so
einen Stier, welcher dem gemeinen Volke, das diesen
Kämpfen leidenschaftlich ergeben ist, überliefert wird. Man
übergibt ihm denselben in der Morgenstunde, wenn die
Leute ihr Gläschen Branntwein, copita d'aguardiente,
trinken; sie nennen das: den Morgen zu sich nehmen,
tomar la manana. Der Branntweinstier wird insgemein
von Leuten bekämpft, die mehr hitzigen Eifer als Erfahrung
haben, und so kommt es denn zuweilen, daß solch ein
leidenschaftlicher Aficionado todtauf dem Platze bleibt
17*
132
Von Cadiz über Jerez und Arcos de la Frontera nach Sevilla.
oder doch schwere Wunden davon trägt. Bei der Corrida,
welche Davillier und Dors mit ansahen, wurden 8 Stiere
und 29 Pferde todt aus dem Nedoudel hinweggeschleppt,
ungerechnet die Gäule, welche man außerhalb niederstechen
mußte. Ein kühner Banderillero erhielt einen scharfen
Denkzettel an der Schulter, seine mitSilberfranzen bestickte
apfelgrüne Jacke triefte von Blut. Aber Alles iu Allem
geuommen war das Ganze eine „sehr gute Corrida".
Mau besucht in Jerez die Cartuja, Karthause, die
jetzt verlassen dasteht, ehemals aber eines der berühmtesten
Die Wingerts von Jerez nehmen einen Flächenraum
von etwa 12,090 Aranzados ein, also etwa 6000 Hektaren,
und liefern, ein Jahr ins andere gerechnet, etwa 5000
Botas oder 15,000 Barricas Wein. Das macht etwa
dritthalb Millionen Liter. Der größte Theil der Wein-
berge befindet sich im Besitze der reichen Weinhändler, die
zugleich Weinbauer und Fabrikanten sind und in ihren
großen Werkstätten auch die Fässer bereiten lassen. Einige
beschäftigen überhaupt bis nahe an eintausend Arbeiter,
z. B. die Häuser Doinecq und Gordon. Dem erstern
Winzer bei Jcrez de la Frontera. (Nach einer Zeichnung t>oit Dorö.)
OiBRUX.
Klöster in Spanien war. Auch die schönen Gemälde sind
nicht mehr da. In der Nähe, unweit von den Ufern des
Gnadalete, dehnen sich die Weingärten aus, welche die
berühmten Xeresweiue liefern. Ihr Adelstitel, sagt
Davillier, ist freilich nicht so alt als jener des Malvasiers
oder des Madeira; man kannte sie zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts kaum, und erst seit etwa 80 Jahren spielen
ste im Handel eine Rolle. *)
„ *) Ich will aber doch anmerken, daß schon bei den alten
Romern der Wein von Asta regia, d. h. dein heutigen Jerez,
allgemein bekannt nnd sehr geschätzt war. A.
gehört der berühmte Macharnudoweinberg, der an
500 Morgen groß ist und in jener Gegend eine ähnliche
Bedeutung hat, wie etwa der Johannisberg am Rhein.
In der Nähe der Weinberge stehen große Gebäude, in
welchen ein beträchtlicher Theil der Arbeiter theils das ganze
Jahr hindurch, theils nur zur Zeit des Herbstens Unter-
kommen finden. Insgemein sind diese Häuser von hohen
Bäumen überschattet, welche erquickende Kühle spenden.
In denselben befinden sich auch die Pressen, los lagares,
und ctit großer Keller, bodega, in welchem der eben gekel-
terte Wein einige Tage lang aufbewahrt wird. Ein Saal
134 Von Cadiz über Jerez und Arcos de la Frontera nach Sevilla.
dient als Speise- und Schlafzimmer; iu deu Winter- süßen Most, der auf Fässer gefüllt wird und gähren muß.
monaten flackert auf einem gewaltigen Kamin ein lustiges So bleiben sie bis etwa in den Januar hinein liegen, und
Feuer, dessen Flammen ein unsicheres Licht auf die ver- dann ist der Mosto zu Wein geworden, der nun abgefüllt
fchiedenen umherlagernden Gruppen werfen. und weiter behandelt wird.
Der Fremde betrachtet mit Interesse eine solche Ter- Die Weine von Jerez werden vor der Versendung alle-
tulia der Arbeiter. Da ist Alles so heiter und malerisch, mal geschönt, gewöhnlich mit Eiweiß und einer kreide-
Das knisternde Feuer wurde mit Rebeuholz unterhalten, artigen Erde, welche in der Umgegend gefunden wird,
während eiu dicker Eicheuklotz mitten auf den Heerd ge- Nach dem Schönen wird etwas Mutterwein, vino madre,
worsen wurde. Gleich uachher kam aus der Rinde desselben hinzugethau, und hinterher noch Branntwein, der für un-
eine Legion großer Ameisen, welche sämmtlich dem Flammen- bedingt nothwendig gehalten wird, insbesondere für die
tode verfielen. Hier saßen etwa zwanzig stark gebrannte Sorten, welche nach England erportirt werden. Angeblich
Andalnsier in ihrer malerischen Tracht um den Heerd und wird zu je 60 Liter Wein nur 1 Liter Branntwein hinzu-
rauchten ihre Cigarretten, während ein vierschrötiger Bursch gethan, in der That ist aber der Zusatz weit beträchtlicher,
langsam und näselnd Verse aus dem Taug o am eri cano, Man bezeichnet die Weine von Jerez als trockene,
einem sehr beliebten Volksgesange, zum Besten gab. Der secos, und süße, dulces. Unter deu elfteren stehen der
Virtuose verarbeitete seine Gnitarre mit gymnastischer eigentliche Jerez seeo und der Jerez amontillado voran.
Kunst; die Zuhörer schlugen oder traten den Takt, klatschten Beide kommen von derselben Traube und demselben mosto,
auch dann und wann in die Hände, und am Schlüsse jeder manchmal sogar aus einer und derselben Presse, und doch
Copla wurde der Vers wiederholt verlangt. Dabei haben sie weder dieselbe Farbe, noch dieselbe Blume oder
flogen Andaluzadas herüber und hinüber, das heißt auch nur denselben Geschmack. Das liegt aber lediglich
Scherz- und Witzworte, gleichsam wie Schwärmer und an der Behandlung.
Raketen. Während der guten Jahreszeit versammeln die Der Jerez seco hat einen ganz eigenthümlichen
Arbeiter sich unter den großen Bäumen und dort halten sie eigenartigen Parfüm, der weit schärfer hervortritt, als jener
dann auch ihre Ruhestunden. des Amoutillado; man unterscheidet drei Sorten: paja,
Das Hans, welches die Reisenden besuchten, enthielt oi-o und oscuro, d. h. strohgelb, goldgelb und dnnkel;
auch die Wohnung des Eigentümers, eine Kapelle für die Lente mit feiner Zunge rühmen ihn sehr. Der Jerez
Arbeiter und eine große Küche. Hier standen vier große osenro ist beinahe dunkelbraun und wird zumeist, uachdem
kupferne Kessel auf dem Feuer; sie waren angefüllt niit er sehr stark mit Branntwein versetzt worden ist, nach Eng-
Rindfleisch, Speck, Kichererbsen (Garvansen), Piment und land ausgeführt, wo er als browu Sherry sehr ge-
Paradiesäpfeln, und der Geruch hätte Appetit erregen sucht ist.
können, wenn nicht der Dust von ranzigem Oele sich in Der Amontillado ist mehr oder weniger dunkel
unangenehmer Weise bemerkbar gemacht hätte. In gewal- strohgelb; die Kenner wollen an ihm einen nußartigen
tigen Näpfen von grober Fayence mit grünen Verzierungen, Geschmack finden; gewiß ist, daß er voller schmeckt, als der
— sie werden in Sevilla verfertigt, — schwamm Gaz- Seco, auch wird er theurer bezahlt. Amontillado heißt
pacho, eine kalte erquickende Suppe, welche das Volk er, weil sein Geschmack an den Wein von Montilla in der
gern ißt; die weißen Alcarrazas aus Andnjar enthielten Provinz Cordova erinnert.
Wasser, das in diesen porösen Geschirren immer frisch ist. Süße Weine vou Jerez sind der Pajarete, der im
Die Wingerte bei Jerez werden mit großer Sorgsalt Haudel auch als Pacaret, gewöhnlich aber als Pedro-
gepflegt, und sobald die Zeit des Herbstens gekommen ist, Jimenez vorkommt, und der Moscatel. Der erstere
theilen sich die Arbeiter in Rotten, Cuadrillas, vou je wird aus einer Traube gekeltert, welche man 10bisl4 Tage
10 Personen. Jede derselbe steht unter einem beaufsichti- der Sonnenwärme aussetzt; sie ist, wenn man sie dann
genden Obmann, Capataz, geht an die Arbeit, und die unter die Presse bringt, beinahe schon zur Rosiue geworden
Vendimia, das Lesen, beginnt. Der Wingertsmann und stark zuckerhaltig.
hat iu Andalusien nicht etwa leichte Arbeit; für Frauen Die Jerezweine halten sich sehr lange; die Reisenden
wäre sie zu beschwerlich. Aber die Männer, kräftige Ge- tranken an Ort und Stelle einige Sorten, die über 80 Jahr
stalten, arbeiten den lieben langen Tag unter einer wahr- alt waren. Fremde werden sehr freundlich aufgenommen
Haft afrikanischen Sonne. Den Kopf beschattet ein alter und man zeigt ihnen gern die Pressen und die zum Theil
Hut, eiu Sombrero ealanes, und manchmal nur ein großartigen Kellerräume. Diese letzteren, Bodegas, sind
Tuch, dessen Zipfelseiten über den Hals herabhängen. Sie massenhafte Gebäude, die von Außen gesehen nichts Male-
haben ein kleines Rebmesser und eine hölzerne Tragkufe, risches darbieten, dagegen sind sie für den Geruchssinn höchst
welche nach unten hin verjüngt zuläuft; Körbe sind beim angenehm, denn ringsum duftet Alles nach Weinblume,
Traubensammeln nicht zweckmäßig, weil Traubensaft durch- und wenn der Solano weht, ist die ganze Stadt mit Wohl-
sickern würde, und der Wein theilweise so gut ist, daß das geruch aus den Bodegas geschwängert.
Liter schon an Ort und Stelle einen Thaler Werth ist. Die Das Innere derselben hat, gleich jenen der Chaix in
Winzer durchstöbern den ganzen Weinberg oftmals und Bordeaux, etwas „Erhebendes", denn dort liegen Fässer
nach allen Richtungen hin, weil es darauf ankommt, Aus- verschiedener Größe in langen Reihen vier bis sechsfach
lese zu halten, das heißt, allemal nur die Vollreifen Perkel übereinander, und die Lüftung ist so zweckmäßig, daß in
herauszupflücken und die übrigen noch sitzen zu lassen, den Kellern stets eine angemessene Temperatur unterhalten
Was gelesen worden ist, legt man ans große Binsenmatten, werden kann. Im Durchschnitt lagern in einer Bodega
esteras de esparto, und zwar so, daß sie von der Sonne vier bis fünf Ernten, denn der Wein wird vor dem fünften
beschienen werden. Während der Nacht deckt man sie zu, Jahre nicht verkauft. Eine besondere Abtheilung enthält
damit kein Than ans sie falle, und nachher wendet man die folche Weine, die auf dem Lager recht alt werden sollen,
Trauben um, damit sie, der Verdunstung halber, gleich- vinos anejos, und dann die Mntterweine. Gewöhnlich
mäßige Sommerwärme erhalten. enthält ein Keller 5000 Botas, je von 30 Arrobas (zu
Erst nachdem sie „trocken" sind, bringt man sie in die 15 bis 16 Liter), aber in Domeeqs Keller sind nicht
Pressen, lagares, uud dann geben sie zuerst deu mosto, weuiger als 15,000 Gebinde vorhanden. Die Reisenden
Von Cadiz über Jerez und Al
fanden in denselben wahre „Alleen von Fässern" und kosteten
vom besten Weine, welche der Capataz mit einem Heber
ans dem Fasse hob und in Canas laufen ließ. Diese
Canas de Jerez, lang und hoch, etwa wie ein in der
Mitte durchschnittener Lampencylinder, spielen in den
Volksgesängen der Andalusier eine Nolle neben den Cig ar-
ros, Trabneos, der Sandunga und anderen cosas
de Andalucia. Zum Beispiel:
Tu sandunga y un cigarro
Y una cana de Jerez;
Mi jamelgo y un trabuco,
Que mas gloria puede havcr?
Der andalusische Stutzer (Mayo) sagt also zu seiner
Geliebten: „Deine Anmuth und eine Cigarre, und ein
Glas Jerezweiu; dazu mein Roß und meine Büchse, was
kann es Schöneres auf der Welt geben?" —
Auch die Böttcherei ist großartig; hunderte von Arbei-
tern sind ununterbrochen thätig, um das sogenannte hol-
ländische Stabholz zu Fässern zu verarbeiten.
Die Reisenden verließen angeheiterten Sinnes das
schöne Jerez; vorher besuchten sie einen Hügel am Gna-
dalete, an welchem einst viel Blut geflossen ist. Dort
nämlich wurde Roderich, der letzte König der Westgothen,
von den Arabern aufs Haupt gefchlageu, welche dann fast
achthundert Jahre lang auf der pyrenäifchen Halbinsel
festen Fuß behielten.
Arcos de la Frontera liegt unweit von der Eisen-
bahn, die von Cadiz nach Sevilla führt, befindet sich aber
nicht inmitten des lebhaften Verkehrs und hat sich deshalb
seinen alten andalusischen Charakter bewahrt. Vom Gua-
daleteflnß führt eiue lange Straße, die steil und abscheulich
gepflastert ist, zur Höhe hinauf. Die Wände sind, nach
maurischer Weise, mit Kalk angestrichen, die platten Dächer
mit großen Ziegeln gedeckt, vor jedem Fenster sind Eisen-
gitter (rejas), und so nimmt sich diese Hauptstraße ganz
pittoresk aus. Ganz oben stehen neben der Kirche mau-
rische Thürme, und von dort herab hat man eine Herr-
liehe Rundschau. Da liegeu Hügel, die mit Oelbäumen
bepflanzt sind, der Gnadalete zieht sich als Silberband
durch eine sorgfältig bebanete Ebene, und in der Ferne ragt
die Serrania de Ronda empor.
Die Brücke von Arcos ist sprichwörtlich geworden,
wie in Frankreich die von Avignon. Wenn Jemand etwas
anfängt und nicht zu Ende führt, dann vergleicht man ihn
mit jener Brücke, zu der wohl Steine und Mörtel herbei-
geschafft wurden, mit der man aber nie zu Eude kam.
Cono il la puente de Arcos
Te lia de suceder;
Que trajeron cal y canto,
Y se quedo por hacer.
Oder: Wer zu hoch sich erheben will, fällt tief hinab,
wie die Brücke von Arcos.
San Lucar de Barrameda ist nicht weit entfernt.
Die Stadt hat weit und breit guten Ruf wegen der dort
verfertigten thönernen Wasserkrüge, wegen des trefflichen
Weizens und der hübschen Mädchen (para alcarrazas, para
trigo, y para ninas bonitas). Sie liegt am linken Ufer
des Guadalquivir, unweit von der Mündung, die zuletzt
sehr breit wird. Das Klima ähnelt dem von Malaga, und
Palmen gedeihen sehr wohl. Der Weinhandel ist schwnng-
Haft; was von Manzanilla kommt, wird hier verschifft.
Dieser Manzanilla ist ein vortrefflicher Wein, hellfarbiger
als der Jerez und er steigt weniger zu Kopse; deshalb ist
er bei den Spaniern sehr beliebt.
Die Küste Andalusiens ist im Norden der Mündung
des Guadalquivir fast überall flach und sandig und der
de la Frontera nach Sevilla. 135
Pflanzenwuchs dürftig. Nicht weit von der portugiesischen
Grenze liegt der kleine Hafenplatz Palos, welcher durch
Christoph Columbns einen so großen Namen gewonnen
hat. Dort schiffte sich der kühne Seemann in: April 1492
ein, fuhr mit drei kleinen Caravellen ins Atlantische Meer
hinaus und entdeckte die „Nene Welt".
Dore und Davillier wollten den Guadalquivir von
der Mündung bis nach Sevilla hinauffahren und gingen
von San Lucar nach Bonanza. Dort halten die Fahr-
zeuge an, welche täglich zwischen Cadiz und Sevilla den
Verkehr unterhalten. Hier befindet sich auch ein Zollhaus.
Der Name bedeutet: „Ruhe" oder „Stille", und paßt recht
gut, denn die Stadt liegt da, wo von der Seeseite her der
Strom beginnt und das Wasser ruhig wird. Etwas weiter
abwärts, wo das gelbe Wasser des alten Baetis sich mit
den blauen Wellen des Oceans vermischt, liegt die berüch-
tigte Barre des Guadalquivir, wo starker Wogen-
drang vorhanden ist.
Das Wort Guadalquivir (Uai> al Kebir) bedeutet
großer Strom, und das ist auch der Sinn von Len Baro,
womit die Zigeuner ihn bezeichnen; er ist der Baetis
der Alten, und nach ihm wurde die Landschaft Baetica
genannt.
Das Schiff segelte nur langsam stroman. Oberhalb
Trebnjena wird der Strom schmäler und ist nicht breiter
als die Seine bei Paris; die Ufer sind flach. Bald nach-
her bildet der Strom einige Inseln.
Aus den ausgedehnten Wiesen an beiden Usern weiden
Pferde und ganze Heerden von Hornvieh, das die Opfer
für die Stiergefechte liefert. Auf diesen Wiesen, dehesas,
steht dann und wann eine Choza, d. h. eine aus Schilf
verfertigte Hütte; von einem Baume keine Spur. Manch-
mal kamen einige Bullen ans Ufer, gingen bis an die Knie
ins Wasser und stierten mit wildem Blicke das Schiff an.
Der berühmte Picador Calderon (welcher den Lesern aus
früheren Schilderungen bekannt ist und der mit am Bord
war) betrachtete diese Stiere mit Kennerauge und stellte
jedem einzelnen ein Prognostiken für die Zukunft.
Die Toreros tragen auch auf Reisen andalusische Klei-
düng. Calderons Jacke war mit Silberschmuck förmlich
überdeckt, und der ganze Mann sah malerisch genug aus.
Die Reisenden tranken mit ihm Manzanillawein; der
Torero war ein Lebemann, un hombre de rumbo y
trueno, und leerte manches Glas. Sein Lieblingsgedanke
ging darauf hinaus, die Stiergefechte mit aller ihrer
Glorie den Parisern vorzuführen. Er lud die beiden
Franzosen ein, mit ihm in der Posada de Toreros
zu Sevilla abzusteigen, und versprach, sie mit zu einem
Herradero zu nehmen. Das letztere nahmen sie gern
an, denn es handelte sich dabei um ein interessantes
Schauspiel.
Herrad ero bedeutet das Zeichnen des Jungviehs, ins-
besondere der Novillos, d. h. jungen Stiere, mit einem
glühenden Eisen, und auch den Ort, wo dieses geschieht.
Man scheidet dann auch die Bullen, welche als tanglich für
Stiergefechte erscheinen, von jenen, welche Ochsen werden
und als Zugvieh dienen sollen.
Wir fuhren, so schreibt Davillier, früh Morgens in
einer Calesa nach einer Hacienda (Meierhof), die etwas
oberhalb Coria unweit vom Guadalquivir liegt. Nun
gilt ein Herradero in Andalusien für ein wahres Volksfest,
Aficionados (Liebhaber und Kenner) aus Stadt uud
Land finden sich in großer Menge ein; manche kamen in
Calesas, andere aus prächtigen andalusischen Rappen, aber
auch Bauern, die in plumpen, hochräderigen, von Ochsen
gezogenen Carros saßen, fehlten nicht.
138 Robert Hertmanns
Der eingehägte Platz, auf welchem das Brennen vor-
genommen wurde, nahm sich sehr primitiv aus; keine
Spur von Mauern oder Wänden. Da lagen Fässer und
Bretter, da waren Seile gezogen, da standen Karren,
Karreten und andere Gefährte; da und dort war auch ein
Leinwanddach ausgespannt und gewährte Schutz vor den
Sonnenstrahlen. Das Fest begann. Zuerst wurde ein
Novillo herbeigeführt und vom Tentadero gemustert;
dieser prüft sorgfältig und als gewiegter Sachkenner, ob
der junge Bulle alle jene Eigenschaften besitze, die man
von einem Toro de muerte verlangt. Dann kommt der
Herradero und drückt sein Eisen ein. Auch die Afi-
cionados sind mit ganzer Seele bei der Sache. Sie
mustern den Bullen und sehen zunächst, ob er guten pelo,
glattes Haar, habe, und dann die pinta del toro; d.h. sein
Aussehen im Allgemeinen, ob er also einen richtigen und
günstigen Eindruck mache. Auch bekümmern sie sich um
las libras, sein Schwergewicht; denn ein Kampfbulle darf
nicht zu schwer sein, nicht aplomado, also nicht zu viel
„Blei" haben, weil er dann zn leicht müde würde.
Auch Augen und Blick des Thieres kommen in Be-
tracht; jene, bei welchen in dieser Hinsicht nicht Alles so
ist, wie es sein sollte, sind burriciegos; und mit den tuer-
t03, den schielenden, läßt man sich auch weiter uicht ein;
ohnehin sind sie beim Kampfe zu gefährlich, weil ihr Blick
unberechenbar ist. Sodann prüft man auch Zähne und
Hörner; die ersteren sind im dritten Jahre alle vorhanden
und bleiben bis zum sechsten weiß, späterhin werden sie
gelb. Die Hörner heißen las astas, Spieße, und nach
ihnen kann man das Alter mit Sicherheit abschätzen.
Calderon war entzückt von einem novillo de buen
trapio, welchen er als einen Prachtbullen laut rühmte.
„Sehen Sie," rief er, „das weiche, dichte, glänzende
Haar, die nervigen, dürren Beine, die schöne Muskulatur!
Die Hörner stark, nicht zu groß, gleichmäßig, schwarz,
'izzen der Nilländer.
Schweif lang, fein, gut behaart, Augen lebhaft, Ohren
behaart und beweglich, — der hat alle guten Eigen-
schaften!"
Inzwischen waren mehre Asicionados in den Ring
gesprungen, um capear le novillo, vor dem Stier mit
einem Stücke Zeug allerlei Schwenkungen zu machen;
einige Bauern bedienten sich dazu ihrer Manta. Eal-
deron hatte als Kenner genrtheilt; das Thier war voll
Kraft und Muth, und man brachte es nur mit Mühe zu
Boden, wo es dann rasch von einemBaner an der Schulter
gebrandmarkt wurde. Der Novillo brüllte vor Schmerz
und streckte die Zunge weit aus dem Maul hervor. Aber
gleich nachher sprang er ans, man ließ ihn laufen und er
rannte auf die Wiese hinaus. Jeder Bulle, der zum
Stiergefecht tauglich erachtet wird, bekommt einen Namen,
welchen ihm gewöhnlich die anwesenden Damen beilegen;
z. B. Indio (Jude); Sastre (Schneider); Brujo (Hexen-
meister; oder auch Moreno (der Braune), der Löwe ?e.
Die Kenner täuschen sich nur selten über die Tüchtig-
keit eines Bullen, klagen aber, daß jetzt nicht mehr so
sorgfältig wie ehemals auf reine Raffe gehalten werde.
Beiläufig mag uoch bemerkt werden, daß in Andalusien
fast jedes Dorf seine lokalen Stiergefechte veranstaltet,
denn die Bauern sind eben so leidenschaftliche Asicionados
wie die Städter.
Doch zurück auf den Guadalquivir. Oberhalb der
Isla menor wird der Strom noch enger; sein gelbes
Wasser gemahnt an die Tiber. Man kommt, wie schon
bemerkt, am Coria vorüber, wo ungeheuere große tinajas
imd jarras, wafferkühleude Gefäße, verfertigt werden; man
sucht San Juan de Alfarache, das durch Mateo Ale-
maus herrlicheu Sittenroman: „Der Erzschelm (picaro)
Don Guzman von Alfarache" berühmt geworden ist, und
kommt dann bald in Sicht von Sevilla, über dessen
Häuser die Giralda emporragt.
Robert Hartmanns Skizzen der Nilländer.
vr. Hartmann war bekanntlich mit dem Freiherrn Adal-
bert von Barnim, dft- zu Roseres starb, als ärztlicher Be-
gleiter in der Nilregion, welche er bis in das Gebiet der
Berta-Neger hinauf kennen gelernt hat. Dem Titel
zufolge foll das Buch eine „naturgeschichtlich-medi-
cutis che Skizze" sein (Berlin 1866. Verlag von Fr i ed r.
Schulze); es ist aber viel mehr. Denn es enthält nicht
blos eine sehr eingehende, mit preiswürdigem Fleiß und
großer Einsicht abgefaßte Geographie und „Naturgeschichte"
der Nilländer und einen anthropologisch-medicinischen
Versuch über dieselbeu, sondern es gibt eine reiche Fülle
geschichtlicher Thatsacheu und wirft interessante Streiflichter
anf die Kultur- oder vielmehr Unkulturzustände dieser
Regionen. Was wir bis jetzt über dieselbeu, vom Delta
an, bis zu deu Gebirgen Äbyssiniens einerseits und bis
zum Nyauza andererseits wissen, das ist von Herrn Hart-
mann sorgfältig zusammengestellt worden, und sein Werk
erscheint als ein fortan unentbehrliches Hand - und Nach-
schlagebuch, in welchem wir eine große Menge sonst nur
zerstreut vorkommender Nachrichten und Angaben sorg-
fältig angeführt und übersichtlich gruppirt finden. Wir
wollen insbesondere anf die Beschreibung der Flüsse hin-
weisen, die sehr klar ist; daß der Fachmann den botanischen
und zoologischen Theil gründlich bearbeitet habe, dürfen
wir bei einem so gewissenhaften Gelehrten als sich von
selbst verstehend annehmen. Ganz vortrefflich ist der anthro-
pologisch-ethnologische Abschnitt, und wenn wir anch gegen
einige von Herrn Hartmann ausgesprochenen Ansichten
Zweifel haben, fo erscheinen diese ganz unerheblich gegen
die Vorzüge, welche dieser gründlichen Abhandlung (S. 209
bis 313) nachzurühmen sind.
Wir stimmen überein mit der ethnologischen Auffassung
Hartmanns, daß die Völker der Nilregion (wir
würden nicht sagen alle und „ganz", sondern) wesent-
lich unverändert geblieben sind im Laufe der
Jahrtausende, daß sie (nicht „ganz" aber) im Wesentlichen
noch so sind, wie in den Zeiten der Pharaonen. „Die
alten Gemälde in Theben erinnern, was den Habitus, die
Tracht, das Geräth und die Sitte der daselbst abgebildeten
Menschen anlangt, noch durchaus an die heutigen Be-
wohner des obern Nil. Wie wenig hat sich da im langen
Laufe der Zeiten geändert. Sogar die Namen vieler
Robert Hartmanns
Stämme sind seit Aufstellung der Völkerlisten zu Kar-
nak k. bis auf unsere Tage dieselben geblieben. Nun
sind aber uicht wenige dieser Nationen nach und nach Um-
wälzungen unterworfen gewesen. Ein Stamm hat den
andern besiegt, aus seiner ursprünglichen Heimat verdrängt,
hat ihn unterjocht, die Unterdrückten öfters zu einer Art
von Helotenthum gezwungen, ihnen seine specielle Sitte,
sein Recht ausgenöthigt oder auch seinerseits Sitte und Recht
der Unterworfenen für sich angenommen. Zwischen Siegern
und Besiegten, zwischen Nachbarn und Freunden sind durch
häufige Kreuzungen gewisse schroffere Stammesgegensätze
mehr und mehr verwischt. Allein es konnten durch
solche Kreuzungen nicht ganze Völkertypen
ausgelöscht oder vernichtet werden. Wohl haben
in geschichtlicher Zeit Einwanderungen fremder Völker,
besonders asiatischer (Hyksos, Perser, arabische Nomaden,
Türken k.) in Nordostafrika stattgefunden, indeß ver-
mochten auch solche Einwanderungen die physische Be-
schaffenheit der Nordostafrikaner durch Kreuzung k. nicht
dergestalt umzustimmen, daß durch sie gewissermaßen neue
Völkertypen an die Stelle älterer, schon vorhandener gesetzt
worden wären. Man hat jedenfalls die Bedeutung
dieser Einwanderungen überschätzt, wenn man
annahm, die heutige Bevölkerung von Abyssinien, Sennar,
Nitlnett k. verdanke ihren Ursprung zum nicht geringen
Theil arabischen Einwanderungen; wenn man meint,
letztere bildeten, in nnvermischter Reinheit, noch gegen-
wärtig eine große Anzahl der dortigen Bewohner. Viel-
mehr glauben wir, anerkennen zu müssen, daß die in
Nordafrika eingewanderten Stämme (— mehr
oder weniger —) aufgegangen seien in der unend-
lich vorwiegenden Masse einer antochthonen Be-
völkernng, deren große Lebenskraft wohl dazu geeignet
war, heterogene Elemente zu assimiliren." Herr Hartmann
meint: „auch gänzlich zu verschlingen"; was vielleicht zu
viel gesagt ist; ebeu so wenn es heißt, daß der Nord-
asrikaner „auch in moralischer Hinsicht so tüchtig sei".
Gegen diese Annahme spricht der ganze Inhalt der Buches
selber. —
Wir wollen uns, da wir so Vieles loben können, auch
einige kleinere Ausstellungen erlauben. Die eine bezieht
sich auf das Aeußere. Ein solches Werk, das recht eigent-
lich als ein Hand- und Nachschlagebuch betrachtet werden
kann, sollte nothwendig ein Register haben, dazu auch
Columnentitel, oder zum allermindesteu eine sehr
specielle Inhaltsangabe. Das Alles fehlt hier gänz-
lich. Ueberhanpt reißt die Unart und UnHöflichkeit, welche
dem Leser, insbesondere aber dem Gelehrten, diese noth-
wendigen Beigaben wissenschaftlicher Werke entzieht,
leider immer mehr ein. Solch ein Buch aber, wie das
vorliegende, ist keine ephemere Flugschrift. Wir unserer-
seits haben uns das Register jetzt mit großem Zeitaufwand,
um künftigen zu ersparen, selber machen müssen.
Anstoß nehmen wir ferner an der Schreibart arabischer
und afrikanischer Namen, die uns pedantisch, unpraktisch
und unnütz vorkommt. Es mag sein, daß die orthogra-
Phische Umschreibung die itu Sudan übliche Aussprache
arabischer Wörter annähernd genau wiedergibt; es hätte
aber vollauf hingereicht, wenn die Schreibart der am hän-
sigsten vorkommenden Namen in einem Anhange nach H.s
Methode „orthographisch umschrieben" worden wäre. Jene
Aussprache ist doch nur mehr oder weniger lokal; wohin
würden wir kommen, wenn die Reisenden in jeder Land-
schast, wo man Arabisch spricht oder arabische Namen hat,
dieselben in ähnlicher Weise „orthographiren" wollten?
Ohnehin wird Herr H. mit seiner Schreibweise nicht durch-
kizzm der Nilländer. 139
dringen. Wir werden auch fernerhin nicht Hyq'sos schreiben,
sondern, was in der ganzen Welt geschieht, bei Hyksos
bleiben; nicht Qamar oder Qomr, sondern Keimen* und
Komr; nicht Qualabät, sondern Geil(ibeit; nicht Queneh
und gar Quger, sondern Kenn eh und Kosei'r; nicht
Moqätham, sondern Mokatham; nicht Qobeh, sondern
Kobeh, uud am allerwenigsten Mohammed-'Ali-Bäschä,
sondern nach wie vor Mehemed Ali.
Gleich ans der ersten Seite des Werkes ist Hartmann
in dem Glauben befangen, daß die „aus den althindosta-
nifchen Puranas von Lieutenant Wilsord veröffentlichte
Karte des Nilquellsees Amara, als westlich vom Schandri-
sthan oder Mondlande" entworfene Karte echt sei. Speke
hat dieselbe wieder veröffentlicht und Phantasien daran
geknüpft. Nun war freilich Speke ein sehr kühner Rei-
sender, aber schwach in der Wissenschaft und ohnehin kein
kritischer Kopf. Er hätte aber wissen können, denn es war
bekannt genug, daß Wilsord von den Brahminen zum
Besten gehalten wurde, und daß er selber sich davon über-
zeugte. Jene Karte ist, wie wie unsererseits im Globus
schon vor längerer Zeit erwähnten, ein reines Phantasie-
gebilde.
Dasselbe gilt von Speke's Mondgebirge, das
angeblich um das Nordende des Tanganyika-Sees sich her-
umzieht. Schon Burton hat nachgewiesen, daß Speke
gewissenlos genug war, dasselbe auf seiner Karte einzn-
tragen, obwohl er wußte, daß dasselbe gar nicht vorhanden
sei, und sein Reisegefährte Grant hat nicht umhin gekonnt,
Speke's Leichtfertigkeit zuzugeben. Diese „Mondgebirge"
sind allerdings ein Humbug und, um mit H. zu reden, ein
„unverzeihlicher".
Doch die kleinen Ausstellungen, welche wir hier machen,
thnn dem großen Werthe des Buches nicht den mindesten
Abbruch. Um zu zeigen, wie gut Hartmann ethnologische
Charakterbilder entwirft, wollen wir seine Schilderung der
Kopten mittheilen.
„Die Kopten sind ebenfalls direkte Nachkommen
der New, der Altägypter. Der arabische Nationalname
Qubthi, Qibthi, d. h. Kopte, hängt nach Brngsch' Dar-
stellung mit Ai'yvTiToe, dies mit dem alten Worte Ha-ka-
ptah („Hans der Verehrung des Ptah" nach Brngsch),
Bezeichnung für Memphis und den Oberlauf des kano-
pischen Nilarmes, zusammen. Der Name Ha-ka-ptah
ward von den Griechen, unter Verstümmelung in Älyvmos,
dem ganzen Lande beigelegt und ist daraus „Qubthi"
gebildet worden, das die Abyssinier wieder in Gibtzi
umgestalteten und auch als Collektivnamen für alle nicht
abyssinischen Christen gebrauchen. Die Kopten werden
von Türken und ägyptischen Städtern verächtlicherweise
Nas - e' - Firaun oder Ahl-Firauu, Pharaos Volk, ge-
nannt, eine Bezeichnung, welche unter ersteren übrigens
auch auf die Fellahhin Anwendung findet.
Die Kopten sind von allen Aegyptern die reinsten
Nachkömmlinge der Retn. Sie haben den Typus der-
selben leichter bewahrt, als Fellahhin und Stadtbewohner.
Die zum Christenthnme übergetretenen Altägypter nämlich
nahmen nach Eroberung des Landes durch Amru-Jbn-el-
Afi entweder den Islam an, oder sie blieben der Religion
des Heilandes getreu und bewahrten ihren Glauben mit
unerschütterlicher Zähigkeit, trotz der über sie durch Jahr-
hunderte verhängten, blutigen Verfolgungen. Letztere nun
sind die Kopten. Während sich aber die ersteren nach ihrer
Mohammedanisirung auch mit eingedrungenen Arabern
vermischten, hielten dagegen die christlich gebliebenen Kopten
140 Robert Hertmanns
durch einseitige Heiraten strenge untereinander zusammen,
sie waren daher einer Kreuzung mit mohammedanischen
Eindringlingen nur wenig ausgesetzt. Ju vielen koptischen
Gemeinden herrscht daher noch große Stammesreinheit.
Der Typus vieler dieser Leute ruft den der monumentalen
Retn in häufig höchst überraschender Weise ins Gedächtniß
zurück. Man findet unter jenen feine, schlanke Gestalten
mit den angenehmen, intelligenten Zügen der Rhamses-
Statuen. Ausnahmen, Leute mit plumpen Formen und
breiten, eckigen Zügen, finden sich hier, wie ja unter Indi-
viduen jeder auch iu sich abgeschlossenen Nationalität. Im
Allgemeinen sind die Kopten hellfarbiger und weniger mus-
knlös als die Fellahhiu, indem erstere nicht so häufig
Landbauern, als letztere, daher auch den Einflüssen der
Witterung und harten Arbeit nicht in gleichem Maße
unterliegen.
Die Kopten schließen sich in Tracht, Sitten und Ge-
bräuchen genau den Neuägypteru an. Die Männer halten,
einem ihueu zu Anfang des Jahres 1000 n. Chr. von den
Chalifen auferlegten Gebote gemäß, noch viel auf schwarzen
Kaftan und schwarzen Turban, oder sie tragen beides
dunkelblau. Uebrigens aber erlauben sie sich in dieser
Beziehung unter den gemilderten Verhältnissen der Gegen-
wart mancherlei Abweichungen. Ihre Sprache, die uu-
mittelbare Abkömmlingin der altägyptischen, wird bekannt-
lich mit modisicirten griechischen Buchstaben von links nach
rechts geschrieben; sie ist im Volke verloren gegangen und
durch die arabische ersetzt wordeu. Die koptische Sprache
existirt nur noch in den liturgischen Büchern, itni) die Priester
bedienen sich beim Ablesen der koptisch geschriebenen Gebete
zugleich einer arabischen Uebersetznng.
Das Volk theilt sich iu monophysitische (jaeobitische)
und melekitische, katholische Christen. Beide Parteien
pflanzen den religiösen Hader, in welchen sie schon unter
Byzauz verfallen, noch heute gegeneinander fort. Der
Kopte ist ein erbitterter Gegner der anderen christlichen
Confessionen; er haßt z. B. die Europäer weit mehr, als
die mit ihm durch Heimat, Sprache und Sitte verbundenen
Mohammedaner. Der Glanbenseiser der Kopten ist sehr
groß. Er hat diese Leute dazu gestählt, Jahrhunderte hin-
durch die schwerste» Bedrückuugen zu ertragen und trotz
derselben ihrer Religion mit Festigkeit anzuhängen. Den-
noch ist die Religiosität der Kopten keine innige, sie
beschränkt sich nur mehr auf leidigen Formelkram, anf ein
recht ostensibles Znrschantragen gewisser christlicher Ge-
bränche, deren Symbolik von den rohen, ungebildeten An-
hängern der koptischen Kirche nicht im Mindesten verstanden
zu werden pflegt. Die Priester haben auf ihre Diöcefane
großen Einfluß. Leider aber sind sie keine wahren Priester
im Herrn, sondern eine schlimme Rotte geistig verkom-
mener, unwissender, hochmütiger, der Völlerei ergebener
Menschen.
Wie bemerkt, sind die Kopten, seit Ainrn's Einfall, den
schwersten Bedrückungen, den grausamsten Verfolgungen
Pizzen der Rillender.
preisgegeben gewesen. Das hat sich nun seit des großen
Mohammed Ali erleuchteter Herrschaft sehr wesentlich
geändert. Die Kopten sind freier geworden, der religiöse
Druck hat, namentlich seit Veröffentlichung des Tanzimat,
so gut wie aufgehört. Sa id- Pascha und Jsma il-Pascha
haben sehr Vieles gethan, das politische und gesellschaftliche
Loos dieses armen, böse heimgesuchten Geschlechtes gründ-
lich zu bessern.
Der lange, schwere Druck hat übrigens den traurigsten
Einfluß auf den Charakter der Ko-pten ausgeübt.
Diese Menschen zeigen sich finsteren Sinnes, mißtrauisch,
versteckt, heuchlerisch, kriecheuder, demüthiger, als die
Fellahhin und stets tückisch berechnend. Ihr geistiges Ver-
mögen ist uicht unbedeutend, äußert sich aber leider nur in
jener Geriebenheit, welche zum Geschäft des Maklers,
Rechnungsbeamten, des Wechslers gehört, daher deuu auch
solche Erwerbsquellen von den Kopten in den Nillanden
als eine Art Monopol ausgebeutet werden. Die ägyptische
Regierung reerutirt ihre Sekretäre, Schreiber und Revi-
soren sast ausschließlich unter Kopten. Letztere vollführen
ihre Obliegenheiten mit Geschick, bewähren sich jedoch
immer als gierige Geldnienschen, sie üben gern Erpressung
und Schwindelei. Derartige Charakterfehler treten bei der
humanen Behandlung, welche die Regierung ihnen gegen-
über iu unseren Tagen obwalteil läßt, um so leichter zum
Vorscheiu. Im mohammedanischen Volke Aegyptens herrscht
zwar noch mancher Widerwille gegen die christlichen Kopten;
letztere werden vom Fellah immer noch ungern gesehen,
und wenn man sie auch durchaus nicht verfolgt, so befin-
den sie sich dennoch, gegenüber vielen Landlenten, unter
einem gewissen passiven Drucke, welcher sich leicht in den
Schmähtiteln Nasrani — Christ — Kafir — Ungläu-
biger— u.dgl. Luft macht. In manchen oberägyp-
tischen Gemeinden gemischter Religion dagegen ist auch
dieser Mißstand als so gnt wie beseitigt anzusehen. Hier
besuchen schon christliche Frauen in Gemeinschaft mit
Mohammedanerinnen die Gräber gegenseitiger Anver-
wandten, schmücken dieselben und verkehren überhaupt
untereinander iu freundlicher, ungezwungener Weise. Im
Sudan gar erfreut sich der koptifche Regierungsbeamte
eines ebeufo großen Ansehens, wie der mohammedanische.
Die Kopten sind unsauber, dem Trunk und geschlecht-
lichen Ausschweifungen ergeben. Obgleich die Männer
ihre Frauen anscheinend strenge überwachen, sie gleich den
Bekennerinnen Mohammeds tief verschleiert einhergehen
lassen, so arten Koptinnen dennoch leicht in grobe Wollust
aus und geben ein bedeutendes Kontingent für die feilen
Weiber der Nilländer ab. Koptische Mütter bieten ihre
Töchter für baare Münze an Bekenner jeglicher Religion
dar. In Cairo genießt in dieser Beziehung das sogenannte
„Koptenviertel" eiues sehr üblen Rufes. Viele koptische
Männer führeu als Mönche ein Leben voll der lüderlichsten
Fanllenzerei und bilden vielleicht die faulste, bettelhafteste,
verkommenste Gesellschaft des Landes.
Anthropologische Beiträge.
141
Anthropologische Beitrage.
Fernere Betrachtungen über die Ausrottung
uncivilisirter Völker.
Die Andeutungen, welche in einer frühern Nummer
(S. 57 ff.) über diesen, für unser Jahrhundert kennzeich-
nenden Gegenstand gegebeu worden sind, bezogen sich im
Allgemeinen nur aus die eine Seite dieser Angelegenheit.
Es wurde gezeigt, welche Schuld die Weißen Leute tragen,
indem sie den „Wilden" planmäßig ausrotten, ihn, wie
die Nordamerikaner auf den Prairien und im weiten
Westen, als „Ungeziefer" betrachten.
Es gibt aber andere Einflüsse, die weitgreifender
wirken, als Mord und Branntwein. Ich erinnere mich,
gelesen zu haben, daß auf einer Insel der Südsee die
Mannschaft eines Walfischfahrers ans Land ging. Alle
Seilte waren gesund, auch unter den Eingebornen herrschte
keinerlei Art von Krankheit. Aber ein paar Monate,
nachdem der Walfischfahrer jenes Eiland besucht hatte,
brach unter den letzteren eine bis dahin unbekannte Seuche
aus, von welcher viele braune Menschen hinweggerasst
wurden. Hier waren Einflüsse wirksam, die wir noch nicht
näher nachweisen können, aber die Thatsache steht fest.
Ich habe schon vor Jahren die Wirkungen, welche der
gegenseitige Eontaet zwischen Weißen und Braunen und auch
schwarzen Leuten im Großen Oeean ausübt, stark betout.
„Die Berührung mit den Europäern wird für alle
Eingebornen Australiens und Polynesiens geradezu
verhänguißvoll. Sie alle sind, mehr oder weniger,
bei sehr verschiedener Anlage und Begabung, im Vergleich
zum Weißen, ein passiver Menschenschlag. Der Weiße
tritt überall, wohin er auch komme, als Gebieter auf, und
aus hundert Ursachen und Gründen fällt ihm die Herrschaft
von selbst zu. Der Braune oder Schwarze mag anfangs
noch so heftigen Widerstand leisten, — am Ende fügt er
sich doch und gehorcht dein höher civilisirten Menschen, der
dann seine ethnische und geschichtliche Ueber-
legenheit im Guten wie im Schlimmen geltend
macht."
Ich bezweifelte stark, daß die von den Missionären und
Philanthropen so sehr gerühmte „(Zivilisation" der Südsee-
Insulaner mehr als ein „Anflug" sei, und folgende An-
sichten sind durch die Ereignisse der letztverflossenen Jahre
nur allzusehr bestätigt worden:
„Auf Nenseelaud erfolgen immerfort Rückschläge in
die alte Barbarei, und das alte wilde Wesen tritt gerade
am schärfsten bei solchen Häuptlingen hervor, welche man
für die eifrigsten Bekehrten gehalten und deren Christen-
thum und kirchlichen Eifer man als so erbaulich und der
Nachahmung würdig gepriesen hatte." Schon 1858 äußerte
ein Arzt in New Plymonth, indem er sich verpflichtet
fühlte, das „getäuschte, aber gläubige Publikum" in Eng-
land über den wahren Sachverhalt aufzuklären, Folgendes:
„Die Maoris verachten uns und unsere Gesetze.
Mit ihrer ganzen vielgerühmten Civilisation
ist es nichts; was man darüber sagt, ist eitel
Wind und Aufschneiderei. Sie nehmen unsere Klei-
dung, unseren Pflug und manches Andere an, weil sie
Vortheil davon haben, aber Wilde sind und bleiben sie
II.
trotzdem, denn die Barbarei steckt ihnen im Blute.
Unsere Missionäre haben seit einem Vierteljahrhundert
unter ihnen gearbeitet und sich großer Erfolge gerühmt;
sie müssen aber jetzt mit Betrübniß gesteheu, daß die ver-
meintlich Bekehrten nicht nur wieder verwildern, sondern
daß sie weit schlimmer sind, als in der Zeit, da sie noch
Heiden waren." So der neuseeländische Arzt.
Bekanntlich waren es bekehrte Maoris, welche 1865
den Missionär Völkner barbarisch ermordeten, und tan-
sende haben sich als „Hanhans" dein wilden fanatischen
Aberglauben des Pa'i Marire zugewandt, über welchen
die Leser des Globus in den früheren Bänden unserer
Zeitschrift eingehende Nachrichten finden. Ich sagte ferner: .
„In Polynesien hat der Andrang der Weißen kaum
erst begonnen und doch tritt schon jetzt klar zu Tage, daß
alle diese Polynesier rettungslos dem Unter-
gange geweiht sind. Das Verhängniß will
seine Erfüllung haben und läßt sich nicht ab-
wenden; alle Bemühungen, dem Verlaufe der
Dinge Stillstand zn gebieten, werden vergeb-
lich fein."
„Diese Polynesier mit ihrer halben oder völligen Bar-
barei sind durch die Europäer und Nordamerikaner aus
dem Gleichgewichte geworfen worden. Das Alte ist un-
wiederbringlich dahin, und das Neue vermögen sie, ihrer
ganzen Beschaffenheit und Anlage zufolge,
nicht zu bewältigen. Sie nehmen es an und auf, aber es
bleibt ihnen innerlich theils ganz fremd, theils nur
bis zu einem gewissen Grade verständlich. Ein
schlimmerer Feind als die Blattern sind die geistigen Ge-
tränke." —
„Aus dem Zusammenleben der verschiedenen
Nassen entsteht eine Mischung, welche mit allen Mängeln
der Halbschlächtigkeit behaftet ist. Die Natur hat der-
gleichen Blendlinge überall nnr ungern und vervielfäl-
tigt dieselben aus ihnen selber heraus zuerst mit
Widerwillen, bis sie ihnen endlich, meist schon in der
vierten Generation, die Zeugungs- und Säuguugsfähigkeit
entzieht. Mischlinge aus grundverschiedenen Rassen,
welche fortbestehen wollen, müssen sich stets Zuschuß au
Blutlaus den reinen, nicht aus den hybriden
Schlägen holen."
„In der Südsee nehmen die Dinge einen solchen Ver-
lauf, daß diese Blendlinge vor den weißen Menschen ver-
schwinden; er zersetzt und vernichtet auch sie. Das braune
Menschengeschlecht der Polynesier also, der Misch-
ling, wie der Urtypns, ist im Abzüge, und wenn noch
nicht unser Jahrhundert, so doch sicher eines der nächsten,
wird den Tag sehen, an welchem der letzte nreingeborne
Polynesier verschwindet. Gleich den braunen Menschen
werden auch die schwarzen Stämme untergehen, viel-
leicht in weniger friedlicher Weife. Aber verenden
werden sie alle an der ihnen zugebrachten euro-
päifchen Civilisation."^)
*J „Das Erwachen der Südsee" in „Geographische
Wanderungen von KarlAndree , Dresden 1859. II S 318 sf
Der Aufsatz war 1358 geschrieben worden und erschien zuerst
in der „Wissenschaftlichen Beilage zur Leipziger Leitung".
142 Anthropologe
( Die oben ausgesprochenen Ansichten sind seit jener
Zeit vielfach auch von Anderen geäußert und in den ver-
schiedenen anthropologischen Vereinen durch manche neue
Thatsachen umfassend begründet worden. Auch die jüngst
erschienene Nummer 13 der „Anthropologie«! Review"
kommt auf den Gegenstand zurück. Sie hebt hervor, daß
eine planmäßige Ausrottung eingeborner Völker von Seiten
der „eivilisirten" Weißen allerdings nicht in Abrede gestellt
werden könne, daß aber die Vernichtung vorzugsweise durch
ganz andere Wirkungen beschleunigt werde, so z. B. auf
den Sand wich-Inseln und auf Tahiti, durch böse Krank-
heiten und starke Getränke. Die elfteren zählten vor einem
Jahrhundert, zu Cooks Zeit, mehr als 200,000 Einwohner,
jetzt kaum 60,000. Sie sind, so sagt der Revtewer, seit
langer Zeit dem Namen nach christianisirt worden, d. h. ihre
alten heidnischen Vorstellungen und Gebräuche siud in Ab-
gaug gekommen, und die amerikanischen Missionäre lehrten
das Christeuthum. Mit Einführung desselben wurde die
Eilandgruppe von der Civilisation heimgesucht, die auch
hier Fluch und Segen im Gefolge hatte. Auf Tahiti
haben die Dinge einen ähnlichen Verlauf genommen.
Männer und Frauen sind in Schrecken erregender Weise
dem Trunk ergeben, die letzteren zum größten Theil der
Prostitution verfallen und sie bleiben ohne Nachkommen-
schast. Diese wird nur noch von solchen Frauen erzielt,
welche mit den protestantischen und katholischeu Missionen
in engster Verbindung stehen, denn nur solche führen ein
regelmäßiges Leben. Die übrigen sterben fast ohne Aus-
nähme kinderlos. Was die Krankheiten anlangt, so
richtet eine böse, von den Matrosen in die Sndsee ver-
schleppte, welche wir nicht näher bezeichnen wollen, große
Verheerungen an; dazu kommen dann noch die Blattern
und die Influenza. Was hier von den beiden genannten
Inselgruppen gesagt wird, gilt in gleichem Maße auch für
Rarotouga, die Hauptinsel der Harvey-Gruppe.
Auf den Samoa-Eilanden (den Navigatoren) ist
bis jetzt noch keine eigentliche Abnahme zu verspüren, weil
die 30,000 Insulaner den Geuuß starker Getränke ver-
meiden; auch ist die Prostitution nur aus deu Hafenstrand
von Astia beschränkt, und dieser bildet, zum Glück für die
Eiugeborueu, den einzigen Punkt, wo europäische Fahr-
zeuge sicher aulegen köuneu. Auf den Tonga-Inseln
dagegen geht das Laster des Trunkes Hand in Hand mit
anderen Ausschweifungen. Die Volksmenge übersteigt aus
dieseu Freundschafts-Eilanden 20,000 Köpfe nicht. Uebri-
gens bemüht sich dort König Georg Tubou dem Weiter-
greifen der beiden Laster einen Riegel vorzuschieben. Jede
Übertretung wird fcharf geahndet und der Angeber wie
der Urtheil sprechende Richter erhalten einen Antheil von
den Strafgebühren. Alle Tonga-Insulaner sind Christen
geworden.
Auf den Fidfchi-Jufelu wüthen Branntwein und
Prostitution; doch ist die Gruppe nur erst theilweise von
beiden heimgesucht worden. Bis 1859 war der Verkehr
der Weißeu mit den Eingeborneu auf deu unmittelbaren
Warenaustausch beschränkt; beide Theile trauten einander
nicht; der Weiße hatte, während man handelte, die geladene
Büchse, der Schwarze seinen Streitkolben in der Hand.
Seit jener Zeit ist aber der Verkehr ungehemmt, auch
Sicherheit für Person und Eigenthum vorhanden, und nun
greifen jene Laster an alleu Hafenplätzen rasch um sich.
Man bezahlt die Landesprodukte mit Bräunt-
wein! Auf den Fidfchi-Jnfeln wohnen jetzt noch etwa
250,000 Menfcheu, und es unterliegt keinem Zweifel, daß
fortan die Dinge bei ihnen denselben Verlauf nehmen wer-
den, wie auf den Saudwich -Jufelu und auf Tahiti. Sie
ische Beiträge.
werden hinwegsterben dnrch des weißen Mannes Civili-
fation, ohne daß ein Plan zur Ausrottuug vorläge. „Es
liegt aber im Charakter dieser Insulaner ein Zug, der Be-
achtuug verdient. Wenn sie einst auf die Hälfte ihrer
gegenwärtigen Zahl zusammengeschmolzen sind, dann wer-
den sie, toll und wild gemacht durch des weißen Mannes
Branntwein und irre geworden durch dessen Civilisation,
über die Eindringlinge herfallen, in dem allerdings eiteln
Wahne, daß sie sich derselben würden entledigen und ihrer
eigenen Vernichtung eutgeheu können."
W. I. Pritchard (denn dieser gründliche Kenner der
Südsee stellt jene Betrachtungen an) sagt weiter: „Nir-
gends wo im Großen Ocean der weiße Mann, angetrieben
durch aggressiven christlichen Eifer oder dnrch die uuab-
wendbare Nothwendigkeit der Civilisation, sich nieder-
gelassen und seinen Einfluß begründet hat, läßt sich eine
Zunahme der Bevölkerung nachweisen, die als ein Resultat
des Coutactes und des Nebeneinanderlebens beider Rassen
zu betrachten wäre. Das Christenthum hat insofern
wunderbaren Erfolg gehabt, als es die Insulaner bewog,
auf das Heidenthum und den Aberglauben ihrer Väter zu
verzichten, die blutigeu Fehdett einzustellen, sich friedlich
zu verhalteu und die Sicherheit sowohl der Person wie des
Eigenthums zu achten. Aber als Ergebniß dieser neuen
Ordnung der Dinge, des Uebergangs vom Heidenthum
zum Christenthum, von der Barbarei zur Civilisation, von
der frühern Vereinsamung zur Berührung mit dem Welt-
verkehr, — als Resultat dieser neuen Ordnung, sage ich,
liegt die Thatsache vor, daß die Insulaner nirgends an
Menge wie an Gesundheit zugenommen haben. Genau
in dem Verhältnisse, in welchem der weiße Mauu mit alle
dem, was sich in seinem Gefolge befindet, bei den Insu-
lauern wirksam ist, verschwinden diese allmälig
aber sicher."
„Eine von den Neuerungen, welche durch die Missio-
uäre des äußern Austandes halber, durch die Haudelsleute
des Gewinns wegen eingeführt worden ist, wirkt, zusam-
men mit den oben namhaft gemachten Ursachen, wesentlich
mit zur Vernichtung. Die Eingebornen sind an eine sehr
leichte Bekleidung gewöhnt, welche in dem tropischen Klima
ihrer Gesundheit zuträglich ist. Nun müssen sie, als
Christen, bei Tage Rock und Hosen tragen und bei Nacht
sich wollener Decken bedienen. Nun schafft aber
den Südsee - Insulaner nichts so sicher und
gewiß aus der Welt als Röcke, Hosen und
Decken. Er trägt sich, wenn er zur Kirche oder zu einer
Prozession geht, vorschriftsmäßig; er sitzt längere Zeit in
einem sehr heißen Ranme, nnd wenn dann das Amen
gesprochen worden ist, eilt er, von Schweiß triefend, aus
der Kirche, wirft all und jede Bekleidung, auch das Hemd,
ab, wirft sich mitten im Luftzug auf eine Matte hin, der
Schweiß tritt zurück und eine Erkältung bleibt nicht ans.
Bald nachher kommt er zum Mifsiouär, denn er hat einen
kleinen Husten und bittet um Arznei. Diese hilft ihm
nichts. Nach einigen Monaten gleicht der Hosen tragende
Südseemensch einem Geripp und bald nachher verendet er
an der Lnugeuschwiudsucht. Für ihn paßt nur ein leichter
Ueberwurf, der bis an die Knie reicht, und vermittelst des-
selben ist ohnehin der äußere Anstand hinlänglich gewahrt.
Wer ihm Kleider anshängt, die er doch, ungewarnt durch
Zuspräche oder Erfahrung au Anderen, allemal wieder ab-
wirft, sobald das irgend angeht, der jagt ihn ganz einfach
einem frühzeitigen Grabe zu."
Hier drängen sich weitere Betrachtungen auf:
Die Berührung, und zwar die massenhafte Berührung,
und ein ununterbrochener Verkehr zwischen Menschen aus
allen verschiedenen großen Stanungruppen ist eine Er-
scheinung, die erst in Folge des großen Welthandels, der
Umschiffung der Erde, der Gründung von Faktoreien und
Colonien in allen Erdtheilen und unter allen Klimaten ins
Leben trat. Sie ist eine Folge der Aetivität des weißen
Menschenschlages.
Das Alterthum kannte derartige Erscheinungen kaum
oder gar nicht, und im Mittelalter waren sie lediglich vor-
übergehend, z. B. die Mongolenstürme. Erst während der
letztverflossenen Jahrhunderte sind Kanonen und Mus-
keten, Büchse und Bomerang direkt einander gegenüber
getreten. Im Alterthum gab es, von den hochgebildeten
Kulturvölkern angefangen, außerhalb des Kreises, den
diese inne hatten, eine Art von Abschattirnng in der Bar-
barei bis hinunter zu den Ichthyophagen, Akridophageu
und Anthropophagen. Der Römer wußte wenig vom
Mongolen, er kannte den Neger nur außerhalb der Hei-
mat dieses westlichen Aethiopiers; von der westlichen Erd-
halbe, von den Inseln im Großen Oeean, von dem, was
im Süden des Aeqnators lag, hatte er keine Ahnung.
Die geographische wie die ethnische Kunde war bis aus
Pigafettas Zeit sehr beschräukt.
Nun aber lehrt uns heule die Erfahrung, daß auch
unter den Menschenrassen ein „Kampf um das Dasein"
stattfindet, in welchem die Schwächeren unterliegen und zu
Grunde gehen. Es scheint, als ob hier eine finstere Roth-
wendigkeit, ein düsteres Geschick sich erfüllen solle, als ob
ein Drang stattfinde, gegen den keine Abwehr, kein noch
so redlich gemeintes Wohlwollen etwas auszurichten der-
möge.
Weiter oben wurde gezeigt, daß mit der Ankunft des
weißen civilisirten Mannes das Todesnrtheil für die weni-
ger zähen Menschenschläge, gegen alle Wilden und viele
Halbwilden besiegelt wird. Dieses Hinschwinden, das
theils durch abscheuliche Ursachen, theils durch geheimuiß-
voll wirkende Kräfte, die wir fpeciell nicht nachweisen
können, bedingt wird, bietet allerdings im Anfang und
Fortgang einen höchst melancholisches Schauspiel dar. Es
liegt etwas furchtbar Tragisches darin, zu sehen, wie ganze
Völkerschaften, denen man „Eivilisation" bringt, durch
dieselbe zu Grunde gerichtet werden und Hinwegsterben.
Man sieht, die Annahme von einer Einerleiheit und
von der Gleichheit aller großen Menschengruppen hält den
Thatsachen gegenüber nirgends Stich. Eine Thatsache ist
und bleibt es, daß z. B. der wilde Jagdnomade sich nicht
civilisiren lasse, und daß er, wenn man ihm Eivilisation
aufzwingt, eher zu Grunde geht, als sie in sich verarbeitet
und an - und aufnimmt. Er ist dazu unfähig.
Gibt es also Urstämme, Rassen, Gruppen, Typen,
welche durch Körperbau, immanente Begabnng und ihre
ganze Anlage lediglich aus solche Zustände und Lebens-
bedingnngen angewiesen sind, die wir als „Wilde" bezeich-
nen , die an Geist, Gemüth, Temperament eigentümlich
geartet sind und nicht anders werden können, als wie sie
einmal sind, und welche durch keine Bemühung und Für-
sorge sich umwandeln lassen? Die Erfahrung spricht ein
Ja! Wie es Thiere gibt, die sich nicht zähmen, nicht in
Hausthiere umschaffen lassen, so finden wir auch Menschen-
gruppeu, welche sich nicht zur „Eivilisation" herbeilassen,
weil sie ebcu nicht können. Sie sind für ihre eigenen
Zustände und Verhältnisse geschaffen worden, und zwingt
che Beiträge. 143
man sie aus denselben hinaus, dann hören sie auf zu sein.
Sie müssen auf der Steppe oder im Wald oder am
Meeresstrande lebeu, nicht auf dem Ackerfeld oder in der
Stadt. Sie können kein anderes Medium vertragen, als
das, auf welches der Schöpfer selber sie einmal angewie-
sen hat.
Die vergleichende Anatomie hat noch wichtige Auf-
gaben zu lösen. Wir wissen sehr wohl, daß die Schädel-
bildnng der verschiedenen großen Menschengruppen sehr
verschieden ist, wie das Volumen des Gehirns auch; wir
kennen außerdem manche andere Abweichungen in Bezug
ans Eingeweide, Knochen, Muskeln, Blut und Haut. Aber
sind nicht auch die Körperverrichtungen bei Jägern, Roma-
den und Ackerbauern verschieden, besonders wenn dieselben
uicht einer und derselben große Stammgruppe angehören?
Die Rassenverschiedenheit beschränkt sich nicht allein auf
die äußeren Formen und auf die Hautfarbe oder auf das
Haar, sondern auch auf den innern Bau, die körperlichen
Verrichtungen und die Geistes - und Gemüthsanlage.
Wenn man also dem Wilden etwas aufdrängt, das er
nicht annehmen oder vertragen kann, dann bringt man ihn
in eine unnatürliche Lage, für welche seine ganze Orga-
nisation nicht paßt. Man darf sich also nicht über das
Resultat wundern, und alle sentimentalen Klagen sind übel
angebracht.
Man will, unbedingt in wohlwollender Absicht, Heiden
bekehren und Eivilisation verbreiten. „Aber die Eivilisa-
tion ist häufig nur eine Schlachtbank (PopulärMagazin
os Anthropology, Nr. II, S. 51). Man taust die Heideu
und weihet sie zugleich dem Untergange. Die Missionen
unter uncivilisirten Völkern sind ein Versuch in großem
Maßstabe, durch welchen ermittelt werden soll, ob es
möglich sei, die Ideen und Anschauungen einer großen
Menschenrasse auch ans andere Nassen zu verbreiten und
in dieseu zu bewurzeln."
„Es unterliegt keinem Zweifel, daß dergleichen be-
dingt und innerhalb gewisser Grenzen sich thnn
läßt; andrerseits gibt es aber auch so breite ethnische De-
marcationslinien, daß eine Überschreitung derselben unter
die Unmöglichkeiten gehört. Allerdings ist der Buddhis-
mns, ein Erzeugniß arischen Geistes, zu den ansässigen
und nomadischen Völkern mongolischer Abstammung gc-
langt; der Islam eroberte sich einen großen Theil auch der
schwarzen Afrikaner. Aber eigentlich wilde Völker-
schaften sind auch diesen beiden Religionen unzugänglich
geblieben; der Mohammedanismus, welchen die Malayen
willig annahmen, vermochte nichts über die oceanischen
Schwarzen, und dieFischernomadeu mongolischen Stammes
blieben dem Schamanismus getreu."
Das ganze Leben und Denken der Wilden verdient
eine recht gründliche Forschung. Mit den bisher beliebten
Allgemeinheiten erreicht man Nichts und erklärt man
Nichts. Durchaus irrationell ist die Annahme, daß der
Wilde lediglich eine nnknltivirte Art des civilisirten Men-
schcn sei, den man aber durch Erziehung und Unterricht in
einen civilisirten Menschen umschaffen könne. Alle Er-
fahrung spricht dagegen. Wie viele Versuche zur „Zäh-
mung" sind nicht schon gemacht worden? Hin und wieder
ist ein Experiment, nach großer Mühe und Anstrengung,
scheinbar gelungen, aber durch die Ausnahme ist nur die
Regel bestätigt worden. Der Büffel der Prairie läßt sich
nicht in eine zahme Kuh verwandeln, und der Prairie-
Indianer Nordamerikas hat aller Anstrengungen, ihn seß-
hast zu machen, gespottet.
144
Aus beut Haus - und Volksleben in China.
Aus dem Mus- uud Volksleben in China.
ii.
Das Leben in den Palästen. — Einrichtung derselben. — Allerlei Hansrath. — Höflichkeitsbesuche und Förmlichkeiten.
karten. — Die Weisen des Alterthnms und ihre Lehren. — Confmins und Meucius.
Visiteu-
Wir schilderten neulich (X. S. 33 ff.) manche Eigen-
thümlich'keiten des Lebens lind Treibens in China; heute
wollen wir zunächst einen Blick auf die gesellschaftlichen
Verhältnisse werfen.
Viele reiche Leute be-
sitzen Wohnräume, die wir,
versteht sich in ihrer Art,
als Prachtpaläste, Fn, be-
zeichnen können. Bei sol-
chen besteht ein großer
Theil aus Gärten, Baum-
gäugenuud Höfen; manche
haben auch Weiher oder
Teiche mit Goldsischen,
große Volieren, in denen
Pfanen, Goldfasanen und
Hühner gehalten werden.
Große Porzellan - Gefäße
fehlen nicht; man benützt
sie als Blumentöpfe für
Jasmin und andere Bln-
men, und Kletter - und
Schlingpflanzen werdeu in
Meuge gezogeu.
Der große Saal im
Erdgeschoß hat seine Thü-
ren auf der Gartenseite;
ein Gitter trennt ihn von
dem Wohnzimmer u. vom
Schlafgemache des Herrn.
Zu ebener Erde liegen
auch der Speisesaal, die
Küche uud manchmal auch
ein Badezimmer. Im
obern Stocke, Leu, falls
ein solches vorhanden ist,
sind die Kammern und
Magazine. Das Eintritt-
zimmer ist allemal den
Ahnen und den Genien
der Familie geweiht. Je-
der Raum hat einen Kang, der zugleich als Bett,
Sopha oder Stuhl dieut; der Fußboden ist mit Matten
belegt. Von Möbeln in nnserm europäischen Sinne ist
nicht viel vorhanden; indessen hat man Stühle uud
Tabourets vou hartem Holze, die mit Kissen belegt wer-
den; kleine, rothlackirte Tische; große, kostbare Vasen
zum Verbrennen wohlriechender Sachen und
bronzene Leuchter, beide vou recht ansprechender Ge-
statt und manchmal, wie unsere Abbildungen zeigen, sehr
hübsch gearbeitet. Dazu kommen dann noch allerlei Körbe
und Körbchen, auch für Blumen, Gemälde auf Neispapier,
und endlich die unvermeidliche Tafel, auf welcher ein Anruf
an die Ahnen oder irgend eine moralische Ermahnung
geschrieben steht. Eigentliche Feuster sind nicht vorhanden,
Weihrauchgefätz von vergoldeter Bronce
sondern viereckige Oefsnuugen von verschiedener Art, die
allemal mit festem Gitterwerk versehen sind.
In derartigen Gemächern liegen die reichen Leute der
Trägheit ob. Europäer haben in diese Heiligthümer nur
selten Zutritt erhalten;
denn so mittheilsam und
znthnnlich auch der Chi-
uese im geschäftlichen Ver-
kehr ist, oder bei Festlich-
keiten, oder bei Besuchen,
so zurückhaltend benimmt
er sich, sobald es sich um
das Innere seines häns-
liehen Lebens handelt. Im
Allgemeinen gibt es kein
arbeitsameres Volk als
eben die Chinesen, aber
vornehme Leute sucheu
etwas darin, die Faulheit
auf deu höchsten Grad zu
treibe«; es gilt kaum für
anständig, seine Beine
zum Gehen zu gebrauchen.
Sie begreifen gar nicht,
weshalb ein Europäer spa-
zieren geht uud sich kör-
perliche Bewegung macht;
sie finden einen Hoch-
gennß darin, wie ange-
bannt sitzen zu bleiben,
Taback zu rauchen uud
deu Fächer zu eutfalteu.
Dabei werfen sie einen
verächtlichen Blick auf die
Europäer, welche lust-
waudelu uud das für zu-
träglich halten. Wer zu
Fuß einen Besuch macht,
muß sich entschuldigen,
daß er nicht zu Roß oder
im Tragsessel gekommen
sei. Ein höflicher Chinese wird aber überhaupt einen
Mann von Rang nnd Stand niemals zu Fuße besuchen,
sondern sich allemal des Palankins bedienen, der nament-
lich in Peking eine große Rolle spielt. Er ersetzt unsere
Droschken, nnd es gibt große Leihanstalten, in welchen man
zu jeder Tagesstunde Tragsessel micthen kann. Zumeist
sind sie vorne und hinten offen, haben an den Seiten eine
viereckige Oeffuung, nnd den Sitz bildet eine Querbank.
Schwerlich gibt es eiu höflicheres, oder sagen wir lieber
ceremoniöseres Volk als die Chinesen. Wer so recht einen
Einblick in ihr Höflichkeitstreiben gewinnen will, muß
chinesische Romane lesen. Man lernt dann die Formeln
desselben mit allen ihren, wir möchten sagen Chikanen ken-
neu; es ist sehr viel Raffinement darin, obgleich die Formen
Aus beut Haus - und Volksleben in China.
145
und Redensarten im Allgemeinen unwandelbar fest stehen
und etwa so erlernt werden können, wie das Einmaleins.
Aber Jeder, der ans Stand und Erziehung Anspruch macht,
will sich nicht mit dem üblichen Dialoge begnügen, sondern
möchte seine gute Lebensart iu vorteilhaftes Licht stellen,
möchte zeigen, daß er im Stande sei, Stylproben der Höf-
lichkeitssprache anzubringen.
Im Allgemeinen hat aber die chinesische Convenienz
große Ähnlichkeit mit unserer europäischen. Allerdings
ist sie umständlicher, darin
liegt aber auch allein der
wesentliche Unterschied,
denn im Uebrigen ist sie
eben so fade, oberfläch-
lich, dein Scheine dienend
und auf Uuwahrhaftigkeit
beruhend, wie bei unse-
rer „guten" Gesellschaft.
Complimentirbücher sind
in China älter als in Eu-
ropa. Besuchern gegen-
über, die unwillkommen
oder unbequem wären,
läßt man sich Plattweg
verleugnen; der Diener
nimmt die Visitenkarte an
und fragt auch Wohl, zum
Neberfluß, uach der Woh-
nung, damit sein Herr
den Besuch iu den nächsten
Tagen erwiedern könne.
Wer einen B e s u ch
abstatten will, sendet, viel-
leicht wenige Stunden vor-
her, durch einen Diener
seine Karte und läßt an-
fragen, ob er den Herrn
zu Hanse antreffen werde,
und ob der Besuch auge-
nommen werden könne.
Diese Anfrage gilt als
Beweis von Achtung für
den, welchen man iu fei-
nein Hause zu sprechen
wünscht. Die Visitenkarte
besteht in einem Bogen
rothen Papieres und ist
je nach Rang und Würde
und dem Respecte, wel-
chen man bezeigen will,
mehr oder weniger groß.
Diesen Rücksichten gemäß
wird sie so oder so viele
Male doppelt gefaltet,
und anf die zweite Seite
schreibt man nur wenige
Zeilen, z.B.:
„Dein Schüler (oder: Dein jüngerer Bruder) N. N.
ist gekommen, um seiu Haupt vor Dir bis auf die Erde zu
neigen und Dir seine Achtung zu beweisen." Diese
Redensart wird mit großen Schriftzügen hingemalt, wenn
in die Höflichkeitsbezeigung noch etwas Besonderes hinein-
gelegt werden soll. Die Karte wird dem Thürsteher über-
reicht. Ein Herr, welcher den Besuch annehmen will, ent-
gegnet: „Ich bitte Herrn N. N., zu kommen; es wird mir
Vergnügen machen." Andernfalls, wenn er in der That
Globus X. Nr. 5.
verhindert ist, den Besnch anzunehmen, oder falls er ihn
überhaupt nicht empfangen will, spricht er: „Ich bin Herrn
N. N. sehr verbunden und danke ihm für die Mühe, welche
er sich gebe» wollte." Einem im Range höher Gestellten
gegenüber heißt es: „Der gnädige Herr erweist mir eine
Ehre, auf welche zu hoffen ich nicht gewagt hatte."
Wer empfängt, muß einen gewählten Anzug tragen
und den Besuchenden, sobald dieser aus dein Palankin
steigt, au der Hausthür empfangen. Dann spricht er:
„Ich bitte. Dich, einzn-
4$
A
*
I Jf.
Aß
%
Chinesische Visitenkarte
treten." Beide Flügel
der Mittelthür werden
weit geöffnet; Ein- und
Austreten durch eine Sei-
tenthür wären der Höf-
lichkeit nicht angemessen.
Hohe Würdenträger lassen
sich durch ihren Palankin
bis an die Haustreppe
tragen, oder reiten bis
dorthin. Der Hausherr
tritt zuerst auf die rechte
Seite des Besuchenden;
uach dem Empfange geht
er zur Linken und sagt:
„Ich bitte Dich, vorauszu-
gehen."
Der französische Si-
uolog Abel Remusut hat
viele chinesische Compli-
mentirbücher und Romane
stndirt und ausführlich
über den Gegenstand ge-
schrieben. Er bemerkt,
daß im Empfangsaale
die Sitze in zwei geraden
Reihen stehen müssen.
Wer eintritt, macht eine
Verneiguug au der Seite
des zu Besuchende«, aber
etwa einen Schritt hinter
ihm, und zwar so tief,
daß die in einander ge-
legten Hände den Boden
berühren. In den Süd-
Provinzen ist die Südseite
die Respectsseite, im Nor-
den ist das Umgekehrte
der Fall; man gibt dem
Besuchenden die Ehren-
fette je nach Sitte der
Provinz. Der letztere
stellt sich manchmal, als
wolle er die „niedrige
Seite" einnehmen, aber
der Hausherr gibt das
nicht zu und spricht ent-
schuldigend: „Ich würde es nicht wagen", stellt sich vor
seinen Gast, sieht ihn an, vermeidet sorgfältig, ihm den
Rücken zuzukehren, und tritt wieder etwas zurück an die
geeignete Stelle. Daun machen beide sofort gegenein-
ander Reverenz. Die Verbeugungen werden so viele Mal
wiederholt, als Personen zu begrüßen sind. — Das Alles
muß entsetzlich langweilig sein. Aber wissen wir, wie ein
Chinese über unsere Etikette und unsere Salonmanieren
mit obligaten Schwatzredensarten urtheilen würde?
J9
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'4k.
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146 Aus beut Haus- und
Der Hausherr ladet ein Platz zu nehmen. Natürlich
macht man „Umstände", weigert sich, den ersten Sessel ein-
zunehmen, will sich ans den zweiten oder dritten setzen, aber
das wird beileibe nicht zugegebeu. Der Hausherr thut,
als wische er den Stuhl mit seinem Rockzipfel ab, und
dasselbe muß der Besuchende an den: Stuhle praetizireu,
welchen der Hausbesitzer einnehmen soll. Es dauert eine
Weile, ehe man überhaupt Platz nimmt, und bevor es end-
lich geschieht, macht man noch eine Verbeugung vor dem
Stuhle.
Nun sind alle Vorschriften ordnungsgemäß erfüllt,
man hat erschöpft, was Höflichkeit und gute Erziehung
gebieten; man zeigt sich als gebildeter Mensch. Die Diener
bringen Thee; die Tassen stehen ans einem lackirten Brette;
eine Büchse mit Thee darf nicht sichtbar werden; die
gehörige Quantität liegt schon in den Köppchen und es
wird heißes Wasser darauf gegoffeu. Der Hausherr erhebt
sich, tritt zu dem Gast oder den Gästen heran, berührt das
Theebrett und spricht: ,,Tsiug tfcha", d. h. ich lade
Euch zum Thee ein. Jeder tritt vor und nimmt eine Tasse.
Den am Rang zu höchst stehenden unter den Gästen aber
überreicht der Hausherr mit beideu Händen eine Tasse; sie
wird gleichfalls mit zwei Händen angenommen und Alle
Anderen thun so, als wollten sie insgesammt nur gleich-
zeitig die Tassen ergreifen und in demselben Nu trinken.
Sie fordern einander durch Zeichen auf, deu Anfang zu
machen. Bevor das geschieht, verneigen sich Alle vom
Stuhl aus so ties, daß die Tasse den Boden berührt; dabei
darf aber kein Tropfen verschüttet werden, weil darin eine
beleidigende UnHöflichkeit liegen würde. Die Gäste trinken
langsam, in mehren Zügen aber allemal gleichzeitig, stellen
auch in demselben Augenblick die Tasse wieder aus das
Brett. Nachdem dieses gescheheu, ergreift der Hausherr,
auch das mit beiden Händen zugleich, seinen Fächer und
sagt zu seinen Gästen: „Tsiug scheu"; ich lade Sie
ein, die Fächer hervor zu langen. Das geschieht dann auch,
denn jeder Chinese trägt den Fächer bei sich.
Zwei Stunden lang, so gebietet es die seine, höfliche
Lebensart, redet man von ganz gleichgültigen Dingen,
und erst vor dem Aufbruche kommt der Besuchende auf deu
Gegenstand, welcher ihn hergeführt hat. Er erhebt sich und
spricht: „Ich habe Dich schou sehr beträchtlich gelaugweilt,"
verneigt sich, wie beim Eintreten, wird vom Hausherrn
begleitet, der sich etwas hinter ihm aus der liukeu Seite
hält, und es wird ihm ein „Tsiug leao", Lebewohl,
nachgerufen. Diese Worte erwiedert er von seinem Trag-
sessel aus und der Besuch hat ein Ende. —
Eine Visitenkarte muß zierlich geschrieben sein; jeder
gebildete Mann hat ja einen „eleganten Pinsel". Man
malt die Schriftzeichen in senkrechter Reihe von oben nach
unten und von der Rechten zur Linken. Es kommt sehr
viel darauf au, wie man sie stellt. So muß z. B. der
Name des Kaisers mit zwei Buchstaben, oder sagen wir
richtiger Schriftzeichen oder Schriftbildern geschrieben wer-
den, die größer sind, als andere. —
Wir wollen noch darauf hinweisen, daß in China der
Lehrer zugleich Erzieher ist. Er unterweist seine Zög-
linge in den Vorschriften der Höflichkeit, lehrt sie alle Ge-
bräuche des Ceremouiels kennen, zeigt ihnen die verschie-
denen Arten der Begrüßung, schärft ihnen die Haltung ein,
welche sie ihren Eltern gegenüber zu beobachten haben und
wie sie gegen Vorgesetzte sich benehmen müssen. Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß Höflichkeit einen Bestandtheil des
chinesischen Nationalcharakters bildet. Der Sinn für
Artigkeit und das, was sich ziemt, war schon im hohen
Alterthum vorhanden; schon damals schärften die Philo-
Volksleben in China.
sophen, die weisen Lehrer, dem Volke genaue Beobachtung
der Wohlanständigkeit in allen gesellschaftlichen Verhält-
nissen ein. Consucius bezeichnet die Ceremonien als ein
Abbild der Tugenden, welche bestimmt seien, diese letzteren
zu erhalten, sie in Erinnerung zu bringen und in manchen
Fällen als Ersatz an deren Stelle zu treten. Selbst die
Bauern in China verkehren miteinander in einer so höf-
lichen Art und Weife, wie sie unter den handarbeitenden
Klassen in Europa uicht gefunden wird.
Nun sahen wir oben, wie steif, schwülstig, voll von
Formelkram und lächerlicher Etikette der amtliche und
ceremonielle Verkehr ist. Uebertrieben und unwahr sind
auch die Betheuerungen von Hochachtung und Zuneigung
Leuten gegenüber, die man haßt, abgeschmackt die Ein-
ladungen zum Mittagesseu, die nicht angenommen werden
dürfen. Dergleichen tadelte fchon Confueius; man solle,
sagt er, sehr sparsam mit Ceremonien umgehen, namentlich
wenn man nichts dabei fühle.
Aber im gewöhnlichen Umgangsverkehr
herrscht in China ein durchaus zwangloser
Anstand. Sobald der Chinese seine Atlasstiefel, sein
Amtskleid und die Amtsmütze abgelegt hat, gehört er ohne
alle lästige Formalität der Gesellschaft, wirft die Fesseln
der Etikette von sich und führt eine lebhafte, heitere Unter-
Haltung. Die Freunde kommen zusammen, trinken Glüh-
wein und Thee, rauchen duftigeu Taback uud führen eine
mehr oder weniger witzige oder geistvolle Unterhaltung.
Wir sagten weiter oben, daß die Gebote der Höflich-
keit schon von deu „Weisen des Alterthums" eiu-
geschärft worden seien. Wenn Philosophen ein Volk
tugendhaft macheu könnten, so müßte jeder Chinese ein
Ausbund von Tugend sein. Aber mit jedem einzelnen
Menschen werden die Leidenschaften neu geboren und fast
jeder wird nur durch eigene Erfahrung klug, selteu durch
jene, welche Andere gemacht haben.
Wenn auch, wie wir in uusrer vorigen Nummer äuge-
führt haben, nach vr. Legges Ermittelungen das histo-
rische Zeitalter in China nicht höher als etwa 1700
v. Chr. hinaufreicht, so ist doch die chinesische Civilisa-
tion selber gewiß Joiel älter, und schon in den Tagen, als
die ersten Dynastien in Aegypten herrschten, war im
Wesentlichen ihr dasselbe Gepräge aufgedrückt, welches sie
noch heute trägt. Der wesentliche Inhalt des „Buches
der Bücher", des Schu king, soll bis 2600 v. Chr.
hinaufreichen; gewiß ist, daß Confueius deufelben in der
zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts, also ungefähr
nach 2000 Jahren, ordnete. Aus demselben spricht eine
hohe Vernunft und ein eminent moralischer Sinn. Kaum
in einem andern Buche sind die gegenseitigen Rechte und
Pflichten der Könige und der Völker auf eine erhabenere
und vernunftgemäßere Weise gelehrt worden.
Die Chinesen haben unbeschränkte Hochachtung vor
ihren alten Lehrern der Weisheit, namentlich vor Kung-
sn-tseu uud Meng-tseu. Für deu ersteru, Confueius
und dessen positive Moralphilosophie schwärmen auch viele
Europäer, z.B. der große Sinologe Pauthier svergl.
das Werk: Confueius und Meneius. Die vier Bücher
der Moral- und Staatsphilosophie China's. Aus dem
Chinesischen nach der französischen Übersetzung des Herrn
M. G. Pauthier, herausgegeben von Johann Cramer,
Creseld 1844. Einleitung, S. 5 u. ff.): „Niemals ist die
menschliche Vernunft würdiger repräsentirt worden. Man
ist wahrhaft erstaunt, in C.'s Schriften den Ausdruck einer
so hohen und so tugendhaften Einsicht wiederzufinden neben
Aus dem Haus- und Volksleben in China.
emer so weit geförderten Civilisation. Man darf sich nicht
darüber wundern, daß die Missionäre, durch welche Europa
mit diesen Schriften bekannt wurde, für den Urheber der-
selben eine gleiche Begeisterung hegten, wie die Chinesen
selber. Er sprach zu seinen Schülern: Meine Lehre ist
schlicht und leicht zu fassen, und einer derselben sagte: Die
Lehre nnfers Meisters besteht einzig darin, ein recht-
fchaffenes Herz zu
besitzen und seinen
Nächsten zu lieben
wie sich selbst." —
Diese Lehre gab Eon-
sncins nicht als eine neue,
sondern als ein überliefer-
tes Gut der Weisen des
Alterthums, welches er
auf die Nachwelt bringen
wollte. Das fei seine
Sendung. Pcinthier äu-
ßert, er habe die Mission
eines Lehrers des Men-
schengeschlechtes in ihrem
ganzen Umfang und weit
anders erfüllt als irgend
ein Philosoph des klafsi-
schen Alterthums. Seine
Philosophie war durchaus
praktisch und erstreckte sich
über alle Verhältnisse des
Lebens. Ihr Zweck ist
die Vervollkommnung des
eigenen Menschen und
anderer Menschen. Je
höher Jemand gestellt ist,
um so größere Verpflich-
tung hat er, sich selber zu
vervollkommnen. Wer die
Menschen regiert, hat ein
Mandat vom Himmel,
dem er streng folgen foll;
er darf feine Macht nicht
mißbrauchen. Er schärft
den Fürsten ihre Pflichten
ein und sagt, wie sie das
Volk beglücken sollen.
Nur durch Verwirklichung
der moralischen und poli-
tischen Gesetze kann die
Wohlfahrt der Menschen
im Staate gesichert werden.
Die Regierung wird er-
klärt „als das, was ge-
recht und aufrichtig ist". Eine Geheimlehre hatte l^ou-
fncins nicht. _ ^
Bei den Chinesen nimmt nach ihm den ersten Raug
unter den Weisen Meng-tsen, Mencins, ein. Das
vierte der klassischen Bücher trägt nach ihm den Namen.
Er erläuterte die Lehren des großen Meisters, dem Keiner
zu vergleichen sei, seitdem es Menschen gegeben. Meng-
tsen trat entschiedener und kühner auf als Kuug-fu-tseu
und er strebte dahin, ganz China der Herrschaft seiner
Der Weise Meng-tsöu (auf dem Titelblatte der Pekinger amtlichen Zeitung-
Principien zu unterwerfen. Er besaß eine tiefe Kenntniß
des menschlichen Herzens, eine große Schmiegsamkeit des
Talentes; gegen Willkür der Fürsten und Mißbräuche der
Beamten tritt er mit der größten Schärfe auf. „Seiue
Art zu philosophireu ist die des Sokrates und des Plato,
hat aber mehr Kraft und geistreiche Gedanken. _ Er nimmt
seinen Gegner Mann gegen Mann, geht von einer Dednc-
tion zur andern, von Fol-
gernng zu Folgerung und
führt ihn zur Absurdi-
tat. Vielleicht bietet kein
orientalischer Schriftsteller
einem europäischen Leser
mehr Reize dar als ge-
rade Meng-tssn, schon
wegen der Lebhaftigkeit
seines Geistes. Auch Hand-
habt er vortrefflich die
Ironie, und diese Waffe
ist in seinen Händen ge-
fährlicher als in denen
des weisen Sokrates."
Meng -tseu's Styl ist
nicht so erhaben und ge-
drängt wie jener des Eon-
fncins, aber eben so edel
und blühender, zierlicher,
die Form seines Dialo-
ges ist mannichfaltiger.
Confucins ist immer ernst,
oft streng und von dem
Lasterhaften redet er nur
mit kalter Verachtung.
Meng-tsim zeigt gegen
das Laster mehr Abscheu
und verschmähet nicht,
dasselbe wie dem Tadel,
so auch der Lächerlichkeit
preiszugeben. Er schont
auch die Großen seiner
Zeit nicht, die ihn übri-
geus oftmals zu Rathe
zogen. Seiue Lebhaftig-
keit ist oft mit einer
beißenden Schärfe ge-
paart.
Die beiden großen
chinesischen Weisen gehö-
ren ohne Zweifel zu den
seltenen Geistern, und sie
haben bis auf diesen Tag
eine tief und weit grei-
fende Wirksamkeit auf ihr Volk geübt; ein nicht geringer
Theil des geistigen Gepräges der Chinesen rührt von
ihnen her.
Des Meng-tseu Bild steht auf dein Titelblatte der
Pekinger amtlichen Zeitung, und darin allein schon liegt
ein Beweis, wie hoch seine praktischen Weisungen auch von
Seiten der Regierung geschätzt werden. Daß man sie so
wenig befolgte, das ist eben eine ganz andere Sache, und
der Weife ist dafür nicht verantwortlich.
19
148 G. Nohlfs: Beobachtung über die Wirkungen des Haschisch.
Beobachtung über die Wirkungen des Haschisch.
Von Gerhard Nohlfs aus Bremen.
Mursuk in Fessan, Ende Januars 1866.
Unter Haschisch verstehen die Araber im weitern
Sinne jedes Kraut, näher jedoch bezeichnen sie damit den
indianischen Hanf, caimabis indica (nach Linne in die
Klasse Dioecia pentandria gehörend), weil an Vorzüglich-
keit jedes andere Kraut gegen dieses in den Hintergrund
tritt. Von Tripolitanien an nennen die Eingebornen diese
Pflanze Tekruri, und diesen Namen führt sie auch iu der
Türkei, Aegypten, Syrien, Arabien und Persien vor-
zugsweise.
Graf d'Escayrae de Lauture sagt über die Pflanze Fol-
gendes:
,,Die Haschischa ist die cannabis indica; man findet sie
in Afrika, und wahrscheinlich ist dieser Hanf aus dem
Sudan nach Tunis und Tripoli eingeführt worden. In
letzteren nennt man ihn Tekruri, also mit demselben Namen,
den man in Mekka den von Sudan kommenden Pilgern
gibt, um damit ihre Herkunft anzudeuten. Vielleicht
bedeutet Tekruri auch, wie einige Geographen meinen,
irgend eine Provinz in Sudan, vielleicht auch ist es nichts
weiter, als die Ableitung von irgend einer arabischen
Sprachwurzel, welche die Wirkung „verbessern, vollkomme-
ner machen" bezeichnet. Die Haschisch verdankt ihre Wir-
kuug einem eigentümlichen Stoffe, den Herr Gastittel,
Pharmaeent in Aegypten, ausgezogen und bestimmt, und
dem er den Namen Haschischin gegeben hat. Dieser
Stoff, Harz, ist von einer schönen grünen Farbe, die jedoch
nicht vom Chlorophyll herrührt, kleberig-zäh und von
einem eigenartigen unangenehmen Geschmack."
Ich füge hier hinzu, daß die Caimabis indica wohl
weiter nichts ist als die verwilderte oder wilde Caimabis
sativa, und eher eine Pflanze der gemäßigten Zone als der
heißen ist, denn je weiter man nach Süden vordringt, je
seltener und krüppelhafter gedeiht dieselbe. Während man
z. B. äußerst schöne Exemplare in den gemäßigten Berg-
regionär des Kleinen Atlas der Algerie und Marokko's
findet, die eine Höhe von manchmal 1.7a Meter erreichen,
gedeiht in den heißen Oasen Tafilet, Tuat und Fessan die
Pflanze nur kümmerlich, obgleich die Bewohner alle Sorg-
falt auf ihren Anbau anwenden, und von Norden wird die-
selbe nach Süden exportirt.
Die Eingebornen bedienen sich derselben ans verfchie-
bette Weise: Entweder sie zerschneiden die getrocknete::
Blätter und Blüthen sehr klein und rauchen sie entweder
rein oder mit Taback vermischt aus kleinen Pfeifet: oder
Cigarretten, oder sie vermischen dieselben mit Tnmbak
(Taback) und rauchen so dies Kraut aus der Nargile, oder,
wie in Syrien, sie bereiten wie Thee eine Art Infusion und
trinken den Aufguß mit Zucker versüßt, oder endlich man
pnlverisirt Blätter und Blüthen, und schluckt dies Pulver-
rein oder mit Zuckerstaub vermischt herunter, oder auch
mit Honig und Gewürzen zu einer Art Backwerk verar-
beitet; so bereiten sie ans denselben kleine Kuchen, die
unter dem Namen Majoun verkauft werden.
Mag man tum Haschisch nehmen unter welcher Form
man wolle, immer übt dasselbe einen starken Rausch
aus. Europäer jedoch, welche Beobachtungen darüber an-
stellen wollen, könnet: dies nur, entweder indem sie eine
Infusion trinken, oder das Haschisch-Pulver essen, denn
um citte Wirkung von: Rausche zu haben, muß man den
Ranch so tief einziehen, was Araber, Perser und Türken
zwar auch beim Taback- und Opimnrauchen thun, daß der
Dampf, in die Lungen eingesogen, unmittelbar mit dem
Blute in Berührung kommt. Zwei Theelöffel voll Haschisch
genügen, um einet: kräftigen Rausch bei einem Neuling
hervorzubringen.
Eindruck, den auf tu ich die Cannabis machte.
In Mtirsttk, 25. Januar 1866, Abends 6 Uhr.
Ich trinke Thee in Gesellschaft Mohammed Besserkis,
Enkel des Sultans Mohammed el Hakem von Fessan.
Mein Bewußtsein ist vollkommen klar. Ich nehme zwei
Theelöffel voll Haschischkraut, welches in einer Kaffeeröste
etwas gedörrt, dann pnlverisirt und mit Zuckerstaub ge-
mischt worden war. Mein Puls war im Moment des
Nehmens 90 (wie immer).
Nach einer viertel Stunde gar kein Erfolg. Wir esset:
zu Abend: Kattteelfleisch mit rotheu Rüben, Kameelsrika-
dellen, weiße gebackene Rüben, Bohnensalat; Salat ans
Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch und Radieschen bestehend;
Brod, Butter und Käse.
Besserki sagt mir, daß die Wirkung nach dem Essen
kommen werde, ich indeß, — es ist jetzt 7 Uhr, — merke
gar nichts. Wir trinken eine Tasse schwarzen Kaffee ohne
Zucker.
7 Uhr 10 Minuten. Mein Puls hat nur 70; ich
friere, obgleich eine Pfanne mit Kohlen vor mir steht.
Besserki sagt, er spüre stark die Wirkung und befiehlt
meinem Diener, einige Datteln zu bringen, mit, wie er
sagt, die Wirkung zu beschleunigen; auch ich esse zwei
Datteln.
7 Uhr 20 Minuten. Mein Puls 120 oder mehr.
Bit: ich in einem Schiffe? Die Stube schaukelt, mein Be-
wußtsein ist indeß vollkommen frei, blos scheint mir Besserki
sehr langsam zu sprechen und ich vergesse oft den Anfang
von: Satze, da er spricht. Auch wenn ich jetzt denke, ver-
geffe ich, womit ich angefangen.
7 Uhr 45 Minuten. Mein Herz schlägt so, daß ich
jeden Schlag höre, Puls zählen unmöglich.
Besserki sagt, er will fortgehen, mein Diener geht mit;
ein anderer zündet nur eine Nargile an. Ich rauche
und fliege, obgleich ich mit den Händen fühle, daß
ich liege.
Ich denke ungeheuer schnell und glaube, daß ich beim
Schreiben dieser Zeilen Stunden zubringe.
^ 8 Uhr. Mein Blut schlägt Wellen, und einzelne
Theile fallet: von meinem Körper, obgleich ich
mich dumm*) niederschreibe, denn ich habe vollkommen
,Ich beichte wahrscheinlich, daß ich dummes Zeug nieder-
schrieb, denn zn lesen war mir unmöglich.
G, Rohlfs: Beobachtung üb>
freies Bewußtsein, daß ich alle Glieder besitze. Ich denke,
ich will ausgeheu.
8 Uhr 20 Minuten. Ich träumte, ich ginge aus, die
Straßen der Stadt verlängerten sich und waren
mir ganz unbekannt, die Häuser sehr hoch; ich glaube, ich
war iu der Polizeiveranda, wo eiu Mann war, um zu
petitiouireu und zu mir mit einem Gesuch kam; ich ging
dann zurück und setzte mich vor mein Haus.
Ich bin ohne allen Willen; die Wand gegen-
über meinem Hause war schön tapezirt, auch hörte ick) vou
fern schöne Musik und jetzt schreibe ich und sehe, daß
Alles erlogen ist.
Ich will mich legen, aber bin ich wirklich ver-
rückt?
Ich liege jetzt (8 Uhr 30 Minuten), mein Wille ist
ganz weg und in mir großer Sturm. Das Licht
brennt seit Stunden und ich kann es nicht ausblasen, aber
ich schreibe, und da ich denke, so bin ich doch wohl nicht
gelähmt.
Bin ich wirklich hier? Mein Hinterkopf ist sehr ange-
füllt. Ich bin ungemein leicht, und wenn ich nicht schriebe,
würde ich in der Lust schweben.
26. Januar Morgens.
Bis so weit hatte ich gestern Vermögen gehabt, während
des Rausches zu schreiben; ich verfiel dann in einen festen
Schlaf, aus dein ich heute Morgen um 9 Uhr erwachte.
Nachdem ich die iin Rausche niedergeschriebenen Ernpfin-
düngen gelesen, war meine erste Frage, ob ich wirklich nach
der Polizeiveranda gegangen sei, oder dies blos geträumt
habe? Es fand sich denn, daß ich wirklich dagewesen sei,
ganz vernünftig gesprochen habe, überhaupt Niemand auch
nur die leiseste Ahnung hatte, daß ich im Tekrurizustande
mich befände.
Nachträglich kann ich nun noch constatiren, daß
1) man sich ungemein leicht glaubt und oft zu schweben
meint.
2) Daß der Puls, im Anfange vermindert, im vollen
Stadium des Rausches eiue solche Geschwindigkeit erreicht,
daß es für deu im Rausche Befindlichen unmöglich ist, ihn
zu zählen.
3) Starker Blutandrang nach dein Hinterkopfe.
4) Auffallende Lähmung der Willenskraft.
5) Das Gedächtniß verliert seine Regeln, naheliegende
Dinge werden vergessen, andere aus längst vergangenen
Zeiten werden aufgefrischt.
6) Alles erscheint in den schönsten Farben und in voll-
kommener Harmonie.
7) Manchmal lichte Augenblicke, verbunden mit schreck-
licher Angst, daß dieser Zustand immer dauern möge.
8) Endlich der ganze Rausch sui generis, und eher ein
Verrücktsein, als das, was wir Europäer unter Rausch ver-
stehen, zu nennen.
Heute Morgen indeß befinde ich mich vollkommen wohl
und verspüre auch uicht im Mindesten einen sogenannten
Katzenjammer.
Wir sind erfreut, unseren Lesern diesen Bericht des
berühmten Reisenden, der im Februar feine gefährliche
Reise nach Wadcti angetreten hat, mittheilen zu können.
Es handelt sich um einen in vieler Beziehung interessanten
Gegenstand, um ein Reizmittel, dessen viele Millionen
Asiaten und Afrikaner nicht entbehren können.
i' die Wirkungen des Haschisch. 149
Herr Rohlss erwähnt der Mittheilungen, welche Graf
d'Eseayrae de Lauture überlas Haschisch gegeben
hat. Dieselben stehen in dessen: Le Desert de le Soudan,
Paris 1853. Ich fand das Werk so lehrreich und so vor-
trefflich geschrieben, daß ich eine deutsche Bearbeitung mit
wahrem Vergnügen unternahm („Die afrikanische
Wüste und das Land der Schwarzen am obern
Nil. Leipzig, Lorck, 1855). Es wird angemessen sein,
einige Auszüge beizufügen, weil Rohlfs vorzugsweise nur
seine eigenen Beobachtungen über den Haschischrausch gibt
und keine Veranlassung fand, über das Haschisch im Allge-
meinen Bemerkungen zn machen. Seinem Schlüsse, daß
die Haschischpflauze ursprünglich wohl eher der gemäßigten
Zone angehöre, als der heißen, wird man nicht beizupflichten
haben. Sie gedeiht gerade im heißen Bengalen Vorzugs-
weise, und der botanische Name Cannabis indica deutet aus
die Herkunft.
Doch zu Gras d'Eseayrae, der mir einst in Dresden
persönlich Aufschlüsse über die Wirkungen des Haschisch-
rausches gegeben hat, die er an sich selber beobachtet. Ich
erinnere mich, daß sie viel Übereinstimmendes mit den
Wahrnehmungen hatten, welche Rohlfs so vortrefflich
schildert. Graf d'Eseayrae äußerte, daß die Wirkungen
bei den schwarzen Sudanesen von ganz eigenthümlicher Art
seien, was sich wohl anch aus der Rassenverschiedenheit
erklärt.
Er schreibt: — „Ich wüßte nichts, womit ich diese
eigenthümliche Substanz vergleichen könnte. Die Orien-
talen bereiten ihr Haschisch in anderer Weise; sie benützen
Stengel und Blüthen des Hanfes, und sind der Meinung,
daß jeder Theil der Pflanze seine besonderen Eigenschaften
habe. Das Haschisch von Buchara wird am meisten ge-
schätzt, weil es angeblich die allerschönsten Gesichte hervor-
bringt; jenes vou Tunis soll viele erotische Visionen
erzeugen; das in Aegypten, Persien, der Türkei, dem
Hedschas und in Syrien bereitete steht jenen beiden nach.
Man trocknet die Pflanze und stößt sie zu Pulver, das
graugrün ist und als Znthat bei Zuckerwerk und anderen
Süßigkeiten dient. Sehr einfach ist die Bereitung des
Da wam esk; man kocht den Staub mit etwas Wasser
und setzt, je nachdem dieses verdunstet, frische Butter hinzu,
fügt etwas Honig bei, rührt Alles wohl durcheinander, bis
es einen gleichartigen Teig bildet, und nimmt diesen vom
Feuer weg. Man kann ihn gleich gebrauchen oder auf-
bewahren, da er sich einige Monate hindurch gut hält.
Das Dawamesk hat die Farbe des Hanfstaubes. Mau
nimmt davon auf einmal nur so viel, wie etwa eiue Nuß
an Umfang hat; die Liebhaber genießen täglich vier bis
fünf solcher Stückchen. Die Wirkung stellt sich, je nachdem
die Gabe größer oder kleiner war, in dreiviertel bis ändert-
halb Stunden ein. Die Hindu bereiten den Haschisch-
extrakt weit sinnreicher; sie thiut das Pulver in ein Sack-
chen, das sie über siedendes Wasser hängen; dann dringt
der Damps hinein und befeuchtet den Staub, deu man
durchseihet. So gewinnt man einen grünen Saft, der
schnell trocknet. Das ist der echte Haschischextrakt, der überall
im Orient sehr gesucht und unter dem Namen Bengali
bekannt ist.
Das Haschisch wird anch in anderer Weise zubereitet
und manchmal mit anderen Substanzen versetzt. Zu Pillen
nimmt man Zimmt 3 Drachmen, Rosenknospen 3, Ge-
würznelken 2, Opium 1, Haschisch 1 und Safran 3 Drach-
men. Dazu thut man Rosenwasser und Zucker uach Ver-
hältniß, schlägt Eigelb hinzn und theilt die Masse in
fünfzig Pillen. Die Orientalen preisen auch eine andere
an Opium reichhaltige Mischung, das Theriak, von
150 G. Nohlfs: Beobachtung über
welchem die Aerzte früher Gebrauch machten; jetzt ist es
in Vergessenheit geraden. Man feuchtet auch wohl deu
Haschischstaub an, läßt ihn langsam warm werden und
knetet ihn zu kleinen runden Stücken oder länglichen Wal-
zen; an der Form sieht man, wo er verfertigt wurde.
Wer das Haschisch rauchen will, schneidet von dieser
Masse ein Stück vou etwa Nagels Größe und zerbricht es
in zwei oder drei Theile; diese werden auf deu Kopf des
Bury gelegt, — d. h. der Nargile, an welcher der
Wasserbehälter, Schischeh, durch eiue Kokosnitß ersetzt
wird, und an der sich statt des gewöhnlichen Schwungrohrs,
Leya (Schwanz), ein Rohr von Rosen-Jasmin- oder
Kirschholz befindet, — auf deu Tumbak und unter die
glühenden Kohlen, durch welche es in Brand geräth. Diese
Kohlen für die Nargile werden aus gepulverter mit Sal-
peter versetzter Holzkohle bereitet, welche man durch etwas
Honig wieder verbindet.
Das Haschisch geräth leicht in Brand, beschleunigt auch
die Verbrennung des Tumbaks oder Tabacks, auf welchen
man es gelegt hat. Der Rauch ist scharf, reizt deu Schlund
und bringt Husten hervor; er ist voll und sehr weiß, der
Geruch ist jener der Pflanze überhaupt. Die Wirkung
stellt sich rasch ein, gewöhnlich schon nach dem ersten oder
zweiten Bury; die Anzahl der Burys, welche ein Raucher
vertragen kann, hängt ganz von seinem Temperament und
seiner Gewohnheit ab. Das Haschisch kann, wenn in sehr
starken Gaben genossen, Bewußtlosigkeit erzeugen; dann
erfolgt ein Duseln, nicht ein gesunder Schlaf, aber gerade-
zu gefährliche Anfälle stellen sich schwerlich ein. Nur ein
fortgefetzter Gebrauch ist sehr nachtheilig, aber weit mehr
für die Geisteskräfte, als für den Körper. Die H aschasch,
so nennt man die Liebhaber des Haschisch, ziehen das
Rauchen vor und essen jenes nur, wenn sie ihrer Um-
gebung einen Genuß verbergen wollen, der sie dem Gespötte
preisgibt. Man erkennt sie aber leicht; ich wenigstens habe
bei meinen Wanderungen durch die Bazare zu Kairo und
Damaskus allemal aus den ersten Blick gesehen, welche
Kaufleute zu den Haschasch gehören. Der Hanfraucher
ist im gewöhnlichen Leben mürrisch, träumt vor sich hin, ist
jeder Bewegung abhold, wiewohl nicht in dem Maße wie
der Opiumraucher; er ist auch nicht so schweigsam wie
dieser, redet aber doch uicht gern. Aber beide haben
gesenkte, halbgeöffnete Augen, wackeln mit dem Kopfe und
lassen ihn vorne überhängen; doch wenn sie rauchen,
werfen sie ihn nach hinten, schlagen die Augen gen
Himmel, als wären sie in Verzückung, blasen die Nasen-
lochet* weit aus und lassen aus ihnen die weißen Rauch-
wölken hervorquellen. Nach dem Genüsse des Haschisch
hat der Kaffee eine sehr aufregende Wirkung; er verändert
das Wesen der Trunkenheit, ohne sie doch merkbar zu
steigern, falls er nicht mit Zucker versetzt ist. Denn dieser
letztere ist ein mächtiger Hilfsgenosse des Haschisch. Nur
Limonade ohne Zucker arbeitet den Wirkungen des Haschisch
entgegen. Die echten Haschasch genießen fast nur gezuckerte
Sachen. Das sicherste Nittel, die Wirkungen zu schwächen
oder gauz zu beseitigen, besteht darin, daß man Eis oder
kaltes Wasser aus den Kopf legt. Ich glaube, daß auch
schon eiu schwaches Brechmittel dasselbe leisten würde. Ich
selber habe freilich damit keinen Versuch gemacht. Die
schleunige Beförderung des Blutumlaufs hat einen An-
drang nach dein Gehirn im Gefolge, welcher die Bewegung
und die Verstandeskräfte lähmt; dann folgt Irrereden und
Delirium, später stellt sich Betäubung und Schläfrigkeit
ein. Bei schwachen Gaben sind auch die Wirkungen schwach.
Das Haschisch hat noch eine andere Wirkung, nämlich auf
die Blafe; es entsteht Drang zun: Harnlassen und Pria-
die Wirkungen des Haschisch.
pismus. Sicherlich ist das Haschisch ein Aphrodisiacum,
aber in der Weise der narkotischen Mittel, des Opiums und
der geistigen Getränke. Shakespeare hat gesagt, daß der
Wein die Liebe entfessele und zurückhalte. Viele Orien-
talen sind gerade deshalb dem Opium und Haschisch
ergeben, und deshalb rauchen die gemeinen Chinesen das
Opium, und manchmal in erschrecklich starken Gaben, vor-
zugsweise in den schlechten Häusern.
Der sehr schärft Rauch des Haschisch übt auf die Luft-
röhre und Brust einen äußerst starken Reiz und bringt zu-
weilen Krankheiten an diesen Organen hervor. Manche
Europäer haben an sich selbst Versuche mit dem Genuß
des Haschisch gemacht und darüber ausführlichen Bericht
gegeben; alle behaupten, daß die Wirkungen weit stärker
seien, als jene des Opiums. Dabei übertreiben sie gewiß
nicht; ich glaube aber, daß die kräftigere Leibesbeschaffen-
heit und das mehr sanguiuische Temperament der Euro-
päer wohl erklärt, weshalb in den Folgen des Genusses
einer und derselben Substanz ein so großer Unterschied
zwischen ihnen und den Orientalen stattfindet. Auch haben
jene Beobachter das Haschisch nicht in der Art und Weise
genossen, wie die Morgenländer; das reine Harz, wie die
Apotheken es verkaufen, hat keineswegs dieselben Eigen-
schasten, als das Pulver, die Kuchen und das Dawamesk,
wie sie im Orient bereitet werden. Auch nehmen die
Morgenländer Opium oder Haschisch nur, wenn sie sich
zuvor in eigenthümliche psychologische Stimmungen versetzt
haben; sie weihen sich, wenn man so sagen darf, erst für
den Genuß ein. Unsere ganze Art und Weise ist eine ganz
andere. Der alte Philosoph sagte, wer recht genießen
wolle, müsse vorher entbehren. Die Haschasch sagen, daß
ohne Fasten ihr wahres Glück und der höchste Genuß nicht
zu erreichen sei. Sie essen also längere Zeit gar kein
Fleisch, genießen überhaupt nur sehr wenig und zwar nur
Gemüse, leichtes Gebäck, völlig reifes Obst und Zucker-
fachen, rauchen wenig Taback, trinken nie Wein oder
Branntwein. Vermittelst einer solchen Weihe befähigen sie
den Körper dahin, daß das Nervensystem die Wirkungen
des Haschisch in seinem ganzen Maße empfindet; dadurch
bauen sie ferner allzustarkem Blutandrang nach dem Ge-
Hirn vor, der sich nach einer reichlichen Mahlzeit oder nach
übermäßigem Genüsse von geistigen Getränken immer
einstellt.
Der Haschasch bereitet sich demnach zu.entern vollen
Hochgenüsse methodisch vor, indem er einige Tage vorher
fastet und nach und nach die Gaben von Haschisch steigert.
An dem festgesetzten Tage steht er früh auf, raucht bis
Mittag mehre starke Burys, genießt einige Zuckersachen,
trinkt viel Kaffee und raucht abermals. Dann schwimmt
er in erneut Meere von Wonne. Um recht ungestört zu
sein, hat er sein innerstes Gemach aufgesucht. Nuu find
alle Sorgen verscheucht. Manchmal läßt er zwei bis drei
Tage lang Musik machen und schaut dem Tanze der Almehs
oder seiner Sklavinnen zu. Ein entzückendes Gesicht folgt
dem andern; was er auch gewahre, Alles ruft in ihm an-
muthige Empfindungen und verlockende Täuschungen her-
vor, die Wonne wird zur Verzückung, dann folgt Müdig-
keit, endlich ein Schlaf, der einige Stunden währt. Nach
dem Erwachen ist der Hafchafch wieder im vollen Besitze
der Vernuuft, er fühlt sich nur ein wenig abgespannt uud
hat manchmal Kopfschmerz. Die Bektaschis halten Zu-
sammeukünste, iu welchen sie Haschisch rauchen. Wahr-
scheinlich haben die Anhänger des Alten vom Berge auch
Hanf geraucht. Gegenwärtig genießen die gemeiueu Leute
das Haschisch iu besonderen Kaffeehäusern, die Mehsckasch
A, Bastian: Ein
genannt werden. In manchen muselmännischen Ländern
duldet jedoch die Polizei solche Häuser nicht; in Aegypten
ist sogar der Anbau des indischen Hanfes und überhaupt
der Verkauf desselben verboten. Aber es fällt der Regie-
rung wohl außerordentlich schwer, einem Unfuge zu steuern,
der seit Jahrhunderten eingewurzelt ist, und die Aegypter
halten mit Zähigkeit an demselben fest.
Am Ende zeigt der fortgesetzte Genuß des Haschisch
Verrücktheit oder Geistesschwäche. Die Leute kosten ihn
anfänglich aus Neugier, gewinnen nach und nach Geschmack
daran und geben sich dem Genüsse häufiger hin, immer mit
dem Vorsatze, bei Zeiten wieder aufzuhören. Aber bald
sehen sie sich dermaßen verstrickt, daß sie sich nicht mehr los-
machen können. Aus zeitweiliges Irrereden folgt Narrheit
und fixe Idee. Noch vor einigen Jahren sah man im
Muristau zu Kairo zwei Wahnsinnige, die in Folge über-
mäßigen Haschischgennsses in dieses Irrenhaus gekommen
waren. Der eine hielt sich für den Propheten uud der
andere für Gott. Der eine rief den Leuten zu: Ich bin
der Prophet, Gott hat mich zn euch geseudet! Verändere
fiel ihm in die Rede und sprach mit äußerster Gelassenheit:
Dieser Mensch ist ein Betrüger, denn ich bin Gott und
habe ihn nicht gesendet. — Es ist bemerkenswert!),
daß der Haschisch Wahnsinn so ost eine religiöse
Färbung hat; der Hans regt den Glanben an
und steigert den Enthusiasmus. Die meisten
Haschasch sind bekehrungssüchtig und suchen Andere für
ihre religiösen Theorien zu gewinnen. Da ihnen das nicht
oft gelingt, fo überreden sie Jeden, mit dem sie verkehren,
zum Genüsse des Haschisch; sie nehmen nicht ohne Grund
an, daß sie ihn zu sich herüberziehen, wenn er den Lockungen
nicht widersteht.
Einer dieser Leute eutwickelte mir sein System in sol-
gender Weise: Alles Vorhandene hat zwei Pole; der eine
Pol am Menschen ist ein Nerv, der oben auf dem Gehirn
liegt; das ist der geistige Pol, durch welchen der Mensch
sich mit der göttlichen Sonne in Verbindung setzt. Der
fleischliche oder leibliche Pol wird durch die Zeugungsorgane
gebildet; dadurch setzt er sich iu Verbindung mit der Ma-
terie. Die Vereinigung beider Pole findet vermittelst der
Liebe statt, deren Sitz im Herzen ist. Die Annäherung
der Pole ist das Weltgesetz. Deswegen muß das Abend-
land, als das männliche und schaffende Prineip, als Pol
amesisches Märchen. 151
sich dem Orient annähern, denn er ist das weibliche Princip
und bildet als solches den zweiten Pol der Menschheit.
Die Annäherung uud Vereinigung geschieht vermittelst
eines Volkes, das zwischen Orient und Oecident, demnach
zwischen die beiden Pole, gestellt ist. Aus derselben muß
uothweudig ein Volk von Niesen und Göttern entstehen,
das dem Tode nnzugängig ist. Die Vereinigung und
Zeugung findet binnen kurzem statt, denn der Prophet,
vermittelst dessen sie geschehen soll, ist bereits erschienen.
Mein Philosoph war natürlich in eigener Person dieser
Prophet. Er hat außerdem eiue Entdeckung gemacht, durch
welche die ganze Welt eine völlige Umgestaltung erfährt.
Wie nämlich der Diamant die Sonne wiederspiegelt, so
bildet das Haschisch, wenn es einmal das Gehirn erreicht
hat, die Seele zn einem Spiegel um, in welchem die Sonne
der Gottheit in ihrem vollen Glänze wiederstrahlt. Durch
die Annäherung der Pole wird der ganze Mensch erfüllt
von Liebe zur Wahrheit und zum Vergnügen; er wird
dann immer jünger und der Tod verschwindet vor ihm.
Der Tod ist fort, der Mensch wird wirklich und gewiß
unsterblich, und im Laufe von Jahrtausenden erfährt sein
Körper weiter keine Umwandelung, als daß er stets jünger
uud schöner wird. Insbesondere verjüngt sich der Mensch
durch die Liebe, weil Alles, was schön und gut auf Erden
ist, in Folge der Vereinigung beider Pole entsteht. Das
Haschisch ist die Frucht, welche Eva aß, das Manna des
Moses, das Lebenswasser, von welchem Jesus zur Samari-
taneriu sprach, der Quell, aus welchem Mohammed alle seine
Eingebungen schöpfte. Der Koran, sagte mein Prophet
weiter, sei in gereimter Prosa geschrieben, und schon daraus
könne man die Einwirkungen des Haschisch erkennen. Dieses
ganze System hat der Entdecker niedergeschrieben, um es
bekannt zu niachen.
Der Haschasch macht drei Stufen durch: erst redet er
irre; dann folgt die Illusion, die schon einen häusigeru
Genuß voraussetzt; endlich tritt düsterer Wahnsinn oder
Tollwuth ein, Delirium, Manie, Erotismus und Geistes-
schwäche; diese bilden den letzten Grad. Jeder intelligente
kecke Mensch von mystischer Gemüthsanlage wird sich, wenn
er die zweite Stufe nicht überschreitet, für einen Propheten
halten.
Die Türken ziehen das Opium vor, die Araber sind
mehr dem Haschisch ergeben.
Ein s i a m e s i
Von A
Es war einmal in alter Zeit ein König, Matkharat
genannt, der in der königlichen Residenzstadt des Landes
Mattakharat regierte. Er hatte einen Sohn, einen jugend-
lichen Prinzen, der in dem Alter von 16 Jahren Abschied
nahm von seinen Aeltern und in die Fremde hinauszog, um
die magischen Wissenschaften in der Stadt Takkasinla zu
erlernen. Sein königlicher Vater versah ihn mit Gold bis
zu dein Werthe von 10,000 Krasaph, uud als eiu günstiger
Tag gekommen war, verließen der Prinz und fein Milch-
bruder, begleitet von den Segenswünschen des Königs, die
Stadt Mattakharat und schlugen ihren Weg nach Norden
h e s M a r ch e n.
Bastian.
ein. Nun begab es sich, daß zu derselben Zeit in der
Stadt Hemaratha-Nakhon (die Stadt des Schneelandes)
ein reicher Kaufmann lebte, Udon-Setthi genannt, der
große Reichthümer besaß bis zu dem Betrage von 80 Kot.
Sein Sohn, im Alter von 16 Jahren, erhielt von seinen
Aeltern Gold bis zu dem Werthe von 10,000 Krasaph
und sagte ihnen Lebewohl, inu mit seinem Milchbruder
hinauszureisen nach der Stadt Takkasinla und dort die
magischen Wissenschaften (Sinlaprasat) zu studireu.
Als des reichen Mannes Sohn mit seinem Milchbruder
des Weges entlang zog, begegneten sie dem Prinzen, der
152 A. Bastian: Ein
sie anredete und fragte: „Welcher Nation seid Ihr und
von wo?" Der Jüngling, zur Autwort auf die Ansprache
des Prinzen, entgegnete: „Ich bin der Sohn eines Kauf-
mauns, der in der Stadt Hemaratha -Nakhon lebt, und ich
bin aus der Reise nach Takkasinla, um dort die magischen
Wissenschaften zu studiren." Dann stellte er seinerseits
Fragen über Wohnort und Abkunft. Der Prinz erwie-
derte: „Wir sind der Sohn des Königs Matkharat, der in
der großen Residenzstadt Mattakharat Hos hält. Wir
haben die Absicht, uns dem Studium der magischeu Wissen-
schaften zu widmen." Der Jüngling sagte darauf: „Eure
Gnaden zieheu dieselbe Straße, die wir ziehen. Laßt uns
zusammen gehen und Gefährten sein." So thaten sich der
edle Prinz und des reichen Mannes Sohn und die zwei
Milchbrüder zusammen, und diese vier Persoueu reisten in
Gesellschaft und unterstützten einander, bis sie die weit-
berühmte Stadt Takkasinla erreichten. Dort traten sie ein
und verbeugten sich ehrerbietig vor dem gelehrten Thitta-
sapamok, der sie befragte, sprach: „Willkommen, Ihr
Prinzen, Ihr Vier! von wo des Wegs?" Da erzählten sie
ihm Alles, wie es ihnen ergangen und machten es klar
und deutlich fiiv das Verständniß des gelehrten Thittasa-
pamok und sagten: „Eure ergebenen Diener kamen hierher
mit den: Wunsche, die Siulaprasat zu studiren, unter der
anleitenden Aussicht unsers Vaters und Wohltäters."
Der Thittafapamok gab feilte Zustimmung, und die edlen
Jünglinge legten die mitgebrachten Gelder in die Hände
ihres Lehrers nieder, mit dem sie zusammenlebten, und der
sie in der Sinlaprasat unterrichtete, in den versiegelten
Geheimnissen und in den Zauberformeln der acht Arten
von Magie. Nach einem Aufenthalte von drei Jahren
hatten sie den Kursus der Wisseuschasten beendet und ver-
abschiedeten sich von dem gelehrten Professor, um iu die
Städte ihrer Heimat zurückzukehren. Der Thittafapamok
gab ihnen dann seinen letzten Rath mit auf den Weg und
sagte: „Wenn Ihr Vier im Laufe eurer Reise an eine
Stelle kommen solltet, wo drei Straßen sich kreuzen, so
solgt der Straße, die gerade ausläuft, da sie Euch in Eure
Heimat führen wird. Hütet Euch aber vor der krummen
Straße, die abbiegt." Die Jünglinge brachen auf und
nach einiger Zeit geschah es, daß sie an einen Kreuzweg
kamen. Der Prinz überlegte bei sich und dachte: „Unser
Lehrer hat uns vor dem Seitenwege gewarnt. Wie mag
es damit sein?" Dann sich zu seinem Begleiter wendend
zeigte er ihm die gerade Straße und sagte: „Dies ist die
Straße, der Ihr folgen müßt, um in Eurer Heimat auzu-
kommen. Wir werden hier diese Seitenstraße wählen.
Lebt wohl."
So wich der Prinz mit seinem Milchbruder von der
großen Heerstraße ab. Sie kamen nach einiger Zeit zu
einem Wegehause, *) das dort für die vorüberziehenden
Reisenden unter einem Baume ausgerichtet war, und da
sie sich ermüdet fühlten, setzten sie sich dort nieder, um aus-
zuruhen. Nun begab es sich, daß die Wildniß dort von
einem Dämon (Asura) bewohnt war, der den Namen Sat-
sarat führte. Als er deu Prinzen und seinen Milchbruder
erblickte, sagte er zu sich selbst: „Diese beiden Prinzen da
haben die Grenzen meines Gebietes überschritten. Sehr
wohl, ich werde sie fressen." So überlegt habend, schrie
der Oger (Rakfaka) mit fürchterlicher Stimme und sagte:
„Heda, Ihr zwei Gesellen, Ihr seid iu mein Gebiet ein-
. Banna-Sala sind kleine Hallen, die, um ein verdienst-
Uches Werk zu thun, für die Reisenden längs des Weges anf-
werden. Sie bestehen gewöhnlich nur aus einigen auf
! gelegten Planken oder Bambusstäben, die von einem
Blatterdach beschattet werden.
imesisches Märchen.
getreten. Ich beabsichtige, Euch als mein Frühstück zn
verzehren." Mit dieseu Worten packte der Oger deu
Prinzen. Der Prinz aber setzte sich zur Wehr, und da
sein Milchbruder zur Hilfe herbeikam, dauerte das Gefecht
eiue lauge Zeit, bis die Stärke des Ogers nachzugeben an-
fing. Der Prinz sprang dann auf seinen Körper, und ihu
mit den Füßen niederstampfend, schwang er sein königliches
Schwert hoch in der Luft, um deu Kopf des Großteufels
abzuhauen. Der.Großteufel begann kläglich zu wimmern
und bat und flehte um sein Leben; er sagte: „Wenn Ihr
mir mein Leben schenken wollt, so werde ich Euch eine
Zauberformel mittheilen, mittelst welcher Ihr im Stande
fein werdet, die Seele aus dem Herzen heraufzubeschwören
und von dem Körper zu trennen, so daß Ihr ohne den-
selben umherwandeln könnt, bis es Euch gefällt, sie wieder
zu vereinigen. Der Prinz sagte dann: „Sprichst Dn
wirklich die Wahrheit, Großteufel?" Der Oger erwiederte:
„Es ist wahrhaftig und aufrichtig so." Der Prinz ließ
ihn darauf frei, und nachdem er die versprochene Beschwö-
rnngssormel gelernt hatte, setzte er mit seinem Milchbruder
die Reise fort.
Nach siebeu Tagen kamen sie zu einer großen Stadt,
Phirai-Nakhon (Siegesstadt) genannt, wo der mächtige
König Phitsarumaharat herrschte. Dieser hatte eine
16jährige Tochter, die mit den fünf Merkmalen der Schön-
heit begabt war, aber seit frühester Kindheit von dem
Unglück betroffen worden war, ihre Sprache zu verlieren.
Der König sandte nach den Hora Pra Rohit (den Astro-
logen), um das zukünftige Loos der Prinzessin zu er-
forschen. Die Astrologen prophezeiten, daß sie ihre Sprache
wieder erlangen würde, sobald sie einem Gatten angetraut
sein würde. Der König ließ dann in dem Palaste einen
hohen Thurm mit sieben Stockwerken erbauen und sandte
dorthin eine große Anzahl von Musikanten mit Trommeln,
Gongs und Blasinstrumenten, sowie die königlichen Hos-
damen, um im herrlichen Pomp und Pracht die Prinzessin
zu bedienen, die das oberste Stockwerk bewohnte. Und der
König ließ alle diese Diener und Wächter einen heiligen
Eid schwören, daß sie, sobald die Prinzessin die Sprache
wiedererhalten haben würde, ihre Musikinstrumente auf-
streichen und lustig darauf spielen sollten. Der König
machte dann eine Übereinkunft mit allen Großen und Edel-
leuten; er befahl ihnen, daß sie ihre Söhne schmücken und
zur Unterhaltung mit der Prinzessin hinaufsenden sollten,
Einen nach dem Andern, Nacht für Nacht. Wenn es
Jemand gelingen sollte, die Prinzessin zum Sprechen zu
bringen, würde er ihr als Gemahl angetraut werden, aber
wer in seinem Versuche fehlschlüge, hätte deu Tod zu er-
leiden. Demgemäß bereiteten die Minister unb Edellente
ihre Söhne vor und sandten sie, Ein bei Ein, zu der Prin-
zessin, Nacht für Nacht. Aber Keinem glückte sein Unter-
nehmen. Einer nach dem Andern wurde hingerichtet, und
eine große Menge war schon so zu Grunde gegangen.
Die Aeltern pflegten dann am nächsten Morgen vor dem
Thurme zu erscheinen und erhielten die Leiche ihres Sohnes
ausgeliefert, um sie zu verbrennen in feierlicher Bestattimg.
Und so ging es fort für eiue lange Zeit.
Nun begab es sich eines Tages, daß die Reihe, die
Prinzessin zn besuchen, an den Sohn eines reichen Mannes
(Setthi) gekommen war. Und die Aeltern hatten in tiefer
Bekümmerniß große Vorbereitungen getroffen für die
Trauer - Eeremonie, und sie hielten Leichenspiele und
Grabesfeierlichkeiten, klagend und weinend um das bevor-
stehende Geschick ihres geliebten Sohnes, und das ganze
Haus war mit Stöhnen und Jammern gefüllt. Zu der
Zeit geschah es, daß der Prinz mit seinem Milchbruder
A. Bastian: Ein
dort ankam. Und er fragte die Leute in des reichen
Mannes Hause, sich an die Diener wendend, und sagte:
„Was ist die Ursache alles dieses Weinens und Klagens,
und warum ist da ein solches Gejammer?" Einer der
Männer erwiederte verwundert: „Was fragst Du nach der
Ursache, als ob Du es nicht wüßtest." Der Prinz ant-
wertete: „Wir kommen ans weiter Ferne und wissen
Nichts." Da drängten sich die Leute um ihn und erzählten
ihm, daß der König des Landes eine 16jährige Tochter
besäße, die ausnehmend schön aber stumm sei, daß er alle die
Großen seines Reiches verpflichtet habe, ihre Söhne herzu-
senden, um sich mit der Prinzessin zu unterhalten, daß
derjenige, der sie zum Sprechen bringen könne, ihre Hand
erhalten würde, aber daß auf einen fehlgeschlagenen Ver-
such der Tod folgen müsse, und daß schon Viele so ihr
Leben verloren hätten. „Und jetzt", fügten sie hinzu, hat das
Loos, die Prinzessin zu besuchen, den Sohn dieses Kauf-
manns getroffen. Und da kann kein Zweifel sein, daß es
ihm so ergehen wird, wie den Uebrigen, und daß der König
ihn morgen früh wird tödten lassen. Und darum hat fein
Vater, von tiefem Schmerz erfüllt, alle Vorbereitungen für
die Leichen-Ceremonien getroffen und begeht die Bestattung
seines geliebten Sohnes. Deshalb ist nun das Haus gefüllt
mit Jammer und Klagen und hallt wieder vom bestän-
digen Weinen." Als der Prinz diese Erklärung vernommen
hatte, begann er die Leute zu befragen und sagte: „Ich
bitte Euch, horcht auf "meine Worte. Im Falle sich
Jemand erbieten sollte, den Platz des Sohnes von diesem
reichen Mann zu übernehmen und an seine Stelle hinzu-
gehen, würde es ihm erlaubt werden?" Der Mann
erwiederte: „Deine Worte scheinen trefflich und gut.
Warte hier ein wenig, ich werde hineingehen und darüber
sprechen." Dann ging er in das Innere des Hauses, und
sich an die beiden Aeltern des Kaufmannssohnes wendend
sprach er so: „Da draußen stehen zwei Jünglinge, die ihrer
Erscheinung nach gar edler Abkunft sind. Sie sind bereit,
den Platz Eures Sohnes zu übernehmen, um an seiner
Stelle die Prinzessin zu besuchen. Würde Euch das recht
sein oder nicht? Theilt mir eure Ansicht mit und entscheidet
darüber."
Als die betagten Aeltern diese Worte hörten, fühlten
sie sich von Freude erfüllt, und sie sandten rasch den Diener
hinaus, diese zwei Fremdlinge einzuladen, in das Haus
hereinzutreten. Der Kaufmann befragte sie dann und
sagte: „Seid Ihr die beiden Edelleute, die bereit sind, an
unsers Sohnes Statt die Prinzessin zu besuchen und ihn
von der Hand des Todes zu erlösen?" Der Prinz erwie-
derte: „Laß deine Trauer fahren und fürchte Nichts." Der
reiche Mann war außer sich vor Freude und sagte jubelnd:
„Wenn Eure Gnaden meinen Sohn ersetzen wollen, so wird
Euer Sklav all sein Gold und Silber, all seine Besitzungen
mit Euch theilen und außerdem seine Tochter Euch zur Ehe
geben." Er ließ dann den Prinzen baden und in reiche
Gewänder kleiden und beging Festlichkeiten und feierliche
Ceremonien zu seiner Ehre. Dann als die Nacht gekommen
war, ging der Prinz zu dem Thurm, uud die Wächter, nach-
dem sie die Erlaubniß des Königs eingeholt hatten, ließen
ihn eintreten, und der Prinz nahm seinen Milchbruder
mit sich.
Nun war es höchst merkwürdig, wie der Milchbruder
seine Seele heraufbeschwor und sie in einen Wasser-Eimer
fahren ließ, der dort stand, um die Füße zu waschen.
Als der Prinz bei dem Eimer vorbeiging, rief der Eimer
ihn an und begrüßte ihn, sprechend: „Ich lade Eure
Hoheit demüthigst ein, o fürstlicher Herr, Eurer Hoheit
verehrungswürdige Füße in mir zu waschen. Dann mag
Globus X. Nr. 5.
siamesisches Märchen. 153
Enre Hoheit weitergehen und eingehen zu Eurer Hoheit
jüngerer Schwester,*) der Prinzessin, die schon lange in un-
geduldiger Erwartung der Ankunft Eurer Hoheit sehusuchts-
voll entgegensieht." Und der Eimer rief die weiblichen
Dienstboten uud die Zwerge au und fchrie ihnen zu:
„Warum kommt ihr uicht hierher, die Füße des fürstlichen
Herrn, eures älteru Bruders, zu waschen?" Und der Prinz
sagte: „Wie kann, mein Bruder, der Eimer die Gedanken
meines Herzens kennen?" Dann erwiederte der Eimer und
rief mit lauter Stimme: „Ich bin der Sklave meines fürst-
licheu Herrn, und ich bin hierhergestellt, um seinem Ge-
brauche zu dienen." „Sei ruhig," antwortete der Prinz,
„und belästige uicht die Dienerinnen und die Zwerge. Ich
habe meinen Milchbruder bei mir, der mir meine Füße
waschen wird." Dann ließ der Milchbruder seine Seele
aus dem Eimer zurückkehren und, nachdem er seinen Körper
wieder belebt hatte, wusch er die Füße des Prinzen. Nun
gingen sie weiter, um zn dem Erker empor zu steigen. Und
da ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges. Der
Milchbruder beschwor seine Seele herauf und ließ sie in
den Teppich fahren, der den Prinzen demüthigst anredete
und um feine Gunst bittend, sagte: „Eurer Hoheit Sklavin
hier ist die Madame Decke. Ich lade demüthigst den fürst-
lichen Herrn ein, auf mich zu treten und emporzusteigen,
da die Prinzessin schon lange ungeduldig und sehnsuchtsvoll
der Ankunft Eurer Hoheit wartet." Als der Prinz mit
seinem Milchbruder weiter gegangen und zu der Thür
gekommen war, beschwor der Milchbruder seine Seele
und ließ sie in die Thüre fahren, wo sie mit lauter Stimme
auszurufen ansing und den Prinzen anredend, sprach:
„Eurer Hoheit Sklavin ist die Frau Thür. Ich lade
demüthigst den fürstlichen Herrn ein, hineinzutreten. Die
Prinzessin hat sich gerade niedergelegt und sie sieht erwar-
tungsvoll Eurer Hoheit Ankunft entgegen."
Als die Prinzessin alle diese verschiedenen Gespräche
hörte, kam es ihr höchst sonderbar vor, und sie dachte bei
sich selbst: „Wer mag da kommen, und was ist alles dies
Sprechen uud Einladen? Wunderbare und überraschende
Dinge sind es in der That, die sich heute ereignen." Dann
war es, daß der Prinz eintrat und sich dem Ruheplatz der
Prinzessin näherte. Was aber die Prinzessin betrifft, so
lag sie im Bette, ohne den Eintretenden eines Blickes oder
irgend welcher Aufmerksamkeit zu würdigen.
Nachdem das Stillschweigen für einige Zeit angedauert
hatte, knüpfte der Prinz mit seinem Milchbruder ein Ge-
spräch an und sagte: „Wir sind hierher gekommen, um bei
der königlichen Prinzessin zu wachen. Wenn wir aber
schweigend sitzen, fürchte ich, daß wir einschlafen möchten,
und das würde sehr unpassend sein." Und dann fügte der
Prinz hinzu, mit seinem Milchbruder weiter redend:
„Weißt Du Geschichte» zu erzählen? — Laß uns hören!
Erzähle. Ich will zuhören. Oder wenn Du willst, lege
Du Dich zuerst nieder, da Du ermüdet scheinst." Der
Milchbruder erwiederte: „Eure Hoheit wird besser begiu-
nen, eine Geschichte zu erzählen. Ich würde mit Eurer
Hoheit Erlaubniß vorziehen, zuzuhören." Der Prinz
erwiederte darauf: „Sehr wohl, wir wollen Geschichten
erzählen, der Reihe nach, und Jeder muß versuchen, die
Bedeutung derselben zn enträthseln." Der Milchbruder
beschwor dann seine Seele und ließ sie in den Vorhang
fahren, der über das Bett der Prinzessin ausgebreitet war.
Und der Vorhang begann auszurufen und sagte mit lauter
*) Aelterer Bruder und jüngerer Bruder, oder ältere Schwe-
ster und jüngere Schwester sind zärtliche Anreden, die auch ohne
verwandtschaftliche Verhältnisse gebraucht werden.
20
154
A. Bastian: Ein siamesisches Märchen.
Stimme: „Hier bin ich, Madame der Vorhang. Ich bin
die beständige Begleiterin der Prinzessin und ich kann jedes
Räthsel lösen. Haben Eure Hoheit nur die Güte anzn-
fangen und zu erzählen. Laßt mich hören, wie es ist."
Der Prinz sagte dann zur Antwort: „Ei, ei, haben Sie
die Absicht, sich mit mir zu unterreden, Madame der Vor-
haug? Wollen Sie in derThat?" Und der Vorhang gab ehr-
erbietig seine Erwiederung, indem er sprach: „EuerGnaden
Sklave ist der beständige Begleiter und unzertrennliche Ge-
fährte Ihrer Hoheit der Prinzessin. Da ist Nichts, was
Ihre Hoheit thut und deukt, worüber sie sich nicht zuvor
mit Ihrer jüngeren Schwester, Madame dem Vorhange,
berathen würde. Ihre Hoheit zieht mich stets in allen
ihren Angelegenheiten zu Nathe und überlegt die Sache
mit mir. Sie unternimmt Nichts, was ich nicht billige,
und handelt stets nach meinem Vorschlage. Was den
Milchbruder Eurer Gnaden angeht, so wird es besser sein,
ihn sich niederlegen zu lassen, da er ermüdet scheint. Wolle
mein fürstlicher Herr zunächst irgend eine Liebesgeschichte
erzählen. Ich werde dann später dasselbe thnn." Der
Prinz sprach dann in der folgenden Weise:
Zwölste Erzählung.
In alten Zeiten da lebten einst vier reiche Kaufleute,
die mit einander befreundet waren und in dem Lande
Kabinla-Raxaxapchnm ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten.
Sie hatten vier Söhne, die mit einander umherreistcn, um
uach Frauen zu suchen, und aus ihrem Wege nach dem
Dorfe Ehantakham kamen. In diesem Dorfe nun wohnten
vier reiche Landbesitzer mit vier heiratsfähigen Töchtern, die
entschlossen waren, nur einen durch Klugheit und Scharf-
sinn ausgezeichneten Mann für ihren Gatten zu nehmen.
Die beiden Parteien trafen sich auf dem Wege, und sobald
die Jünglinge die Mädchen sahen, entbrannten sie in Liebe,
gingen zu ihueu hin und fragten sie, wo sie lebten. Die
Damen antworteten in einem Räthsel. Eine derselben
strich mit der Hand über das Haupthaar, die andere strich
ihre Augenbrauen, die dritte strich ihre Brust und die vierte
strich ihre Kleider. Dann sagten sie: „Kommt zu unserem
Dorf", und gingen fort. Als der Abend gekommen war,
gingen die Jünglinge zu dem Dorfe Ehantakham, um nach
ihren Geliebten zu suchen, aber sie konnten dieselben
nirgends seheu noch finden und waren in großer Verlegen-
heit, was sie thun sollten. Sie standen auf der Straße
und beriethen sich zusammen in der Nähe eines Verbrechers,
der dort an demselben Tage gepfählt, aber noch nicht
gestorben war. Der Räuber rief sie an und fragte: „Ihr
vier Herreu spaziert hier umher und geht hierhin und dort-
hin, und dann steht ihr still und steckt Eure Köpfe zu-
fammen; was bedeutet Alles dieses?" Die vier Burschen
theilteu dem Räuber ihre Lage mit und erzählten ihm
Alles, was vorgefallen war. Der Räuber erwiederte:
„Bringt mir ein wenig Wafser. Wenn ich getrunken habe,
werde ich Euch die Sache auslegen und Euch andeuten, wo
Ihr die Damen finden könnt." Die jungen Leute gingen
um Wasser zu holen nnd gaben es dem Räuber, der, nachdem
er getruukeu hatte, in folgender Weife sprach: „Vor dem
Hanse des Mädchens, das ihr Haar mit der Hand strich,
steht eine Oelpresse, vor dem Hause des Mädcheus, das
ihre Augenbrauen *) strich, steht eine Bohnenpflanzung, vor
dem Hause des Mädchens, das ihre Brüste strich, wachsen
v *WU heißen die Augenbrauen (im Siamesischen) und
Thua Peb Khiu ist die Bohuenpflanze.
Kürbisse,*) und vor dem Hause des Mädchens, das ihre
Kleider strich, steht ein Webestuhl. So verhält es sich mit
diesen pantomimischen Hieroglyphen." Die Jünglinge
folgten dann der ihnen von dem Räuber gegebeneu Au-
leitung und fanden richtig die Mädchen, wie es ihnen
gesagt worden war. Die vier Damen besragteu sie darauf
uud sagten: „War es Euer eigener Scharfsinn, der dieses
Räthsel löste, oder wurdet Ihr durch Jemaud Auders dariu
unterstützt?" Die Jüugliuge erwiederteu: „Wir suchteu
uach Euch eiue lauge Zeit, aber vergebens und ohne Er-
folg, bis wir zuletzt glücklicherweise den Räuberhauptmann
trafeu, der dort für feine Verbrechen ausgepfählt ist. Er-
gab uns den Schlüssel zu dem Räthsel, und so fanden wir
Euch." Die vier Damen erwiederteu: „Wir glaubten, es
wäre Euer eigeuer Scharfsinn gewesen, und wir wußten
nicht, daß Ihr eines andern Mannes Hilfe bedurftet, um
Euch zu erleuchten." Und dann fügten sie hinzu: „Kommt
und laßt uns erst den Räuber aufsuchen, wir mögen nach-
her hierher zurückkommen." Als die Damen von den vier
Jünglingen zu dem Räuber geleitet worden waren, wandten
sie sich an ihre Begleiter und sagten: „Eure Gnaden, Ihr
Vier, seid ziemlich traurig versehen, was den Verstand an-
betrifft. Wir laden Euch deshalb eiu, abznmarschireu und
zu verdunsten." Die vier Mädchen gingen dann eifrig
daran, den Räuber von dem Pfahle abzunehmen, an dem
er aufgesteckt war, und sich gegenseitig unterstützend, trugen
sie ihn fort und brachten ihn nach ihrem Hause. Dort
legten sie ihn nieder und beschäftigten sich eifrigst, seine
Wunden zu heilen. Eines der Mädchen unternahm es,
Wasser zu holen, das Essen zu kochen und alles Nöthige
vorzubereiten. Ein anderes holte die Medianen und berei-
tete sie. Die Dritte reichte ihm, was er bedurfte, und die
Vierte war damit beauftragt, ihn zu unterstützen, wenn er
aufsaß, oder ihn niederzulegen. Als der Räuber durch
ihre gemeinsamen Bemühungen genesen war, erhob sich ein
Streit uuter deu vier Damen, da Alle ihn als ihren Gatten
in Anspruch nahmeu und Jede ein Recht aus ihu zu besitzen
glaubte. Wessen Recht ist nun das beste und wem sollte
er als Gatte zuerkaunt werden? „Wohlauf, Madame der
Vorhang, lassen Sie uns hören, wie Sie diese Streitfragen
entscheiden würden!" Und der Vorhang ohne Zaudern rief
frisch und fröhlich aus und schrie mit lauter Stimme:
„Das ist leicht und einfach genug. Ich werde das fogleich
auf das Nichtigste entscheiden, ohne daß ein Zweifel übrig
bleibt. Die Dame, die den Reis kochte und ihm zu essen
gab, das ist sie, die muß ihn kriegen." Der Prinz erwie-
derte lächelnd: „Ei, ei, meine liebe Madame der Vorhang,
Sie thaten anfänglich etwas dick und prahlten, die unzer-
trennliche Gefährtin Ihrer königlichen Hoheit, der Prin-
zefsin, zu sein uud alle die Gedanken und Ansichten Höchst-
deroselben zu kennen. Aber würden Sie dann Räthsel
in solcher Weise lösen und so verkehrtes Zeug schwatzen?
Sie sind vollständig auf dem Holzwege, und es ist in der
That ein Schimpf uud eine Schande für Ihre Hoheit, die
Prinzessin, meine Cousine in fürstlichen Gnaden." Als
die Prinzessin diesen jämmerlichen Schnitzer hörte, den bev,
Vorhang in der Ausdeutung der Erzählung gemacht hatte,
schwoll ihr Herz in Zorn, und sich emporhebend, zerriß sie
den Vorhang in tausend Stücke. Dann sagte sie: „Da
ist weder Sinn noch Verstand in diesem Vorhang. Wie
kannst Du erbärmlicher Schlucker von Vorhang solch stupi-
den Unsinn hervorbringen? Diejenige Dame, die ihn unter-
stützte im Aufsitzen und die ihn niederlegte, und die beständig
^) Nam-Tao ist ein Kürbis und Phra-Tao ist der Busen
(im Siamesischen).
A. Bastian: Ein
um ihn war, die muß seine Frau werden. Das ist der
richtige und angemessene Weg." Als die Soldaten und
Wärter, die in den Thurm als Wächter für die Nacht gesetzt
waren, die Prinzessin sprechen hörten, singen sie an, ihre
Musik aufzuspielen, und alle Instrumente brachen los
unter dem Rühren der Trommeln und dem Blasen der
Trompeten, und als König Phitsarumaharat die Jnstru-
mental - Musik vernahm, horchte er freudig auf und dachte
bei sich: „Ob die Prinzessin gesprochen haben sollte?"
Als die zweite Nachtwache kam, wandte sich der Prinz
an seinen Milchbruder und sagte: „Die erste Wache ist vor-
bei. Unser guter Vorhang hat sich traurig genug blamirt
im Räthselerrathen und hat seine gerechte Strafe empfangen.
Wenn wir nun eine andere Geschichte erzählten, wer würde
es unternehmen, dieselbe zu deuten?" Der Milchbruder
beschwor dann seine Seele und ließ sie in die Nachtlampe
fahren, die alsogleich munter und lustig ihre Antwort her-
vorschrie: „Was versteht der Vorhang von solchen Dingen.
Ich bin es, ich allein, der die Ehre hat in beständiger Beglei-
tung Ihrer königlichen Hoheit, der Prinzessin, zu verweilen.
Wollen Eure Gnaden gefälligst beginnen und Ihre Geschichte
erzählen. Ich werde sogleich das Richtige errathen." Der
Prinz sagte dann: „Sehr wohl, wir werden unsere Geschichte
der Lampe erzählen. Aber der Sinn muß richtig und
fehlerlos errathen werden." Die Lampe erwiederte:
„Fürchtet Nichts! Alles nur richtig und echt. Möge der
Prinz nur beginnen. Meine Geduld ist aus das Höchste
gespannt, zu lauschen. Ich errathe stets sogleich das Nich-
tige, ohne jemals Fehler zu machen." Der Prinz erzählte
dann in der folgenden Weife:
Dreizehnte Erzählung.
Es waren einmal vier Jüuglinge, die einen Freund-
fchaftsbuud geschlossen hatten. Der Eine derselben war
ein geschickter Holzglätter, der Zweite wußte auf die vor-
bereitete Tafel die Figur eines hübschen Mädchens zu
zeichnen, der Dritte verstand sie einzugraben und der Vierte
zu beleben. Als nun das Mädchen sich erhob, war sie von
reizender Form und verführerisch anzuschauen. Es entstand
deshalb ein Streit unter den Jünglingen über ihren Besitz
und wem würde sie von rechtswegen als Gattin zuzu-
sprechen sein? Laßt uns hören, Madame Nachtlampe, wie
Sie diesen Fall entscheiden würden?" Die Nachtlampe
erwiederte: „Oh, das ist klar und deutlich, sie gehört dem,
der sie belebte." Der Prinz lächelte und sagte: „Die
Nachtlampe rühmte sich vorher, Alles zu wissen und die
beständige Begleiterin Ihrer königlichen Hoheit, der Prin-
zessin, zu sein. Aber wie könnte sie dann sich so versehen
und eine solche falsche Ausdeutung eines Räthsels geben?"
Als die Prinzessin diese Worte hörte, riß ihr die Geduld
und sie sagte ärgerlich: „Fi über Dich, Du Lampe, wie
kannst Du solchen Blödsinn schwatzen? Der berechtigte
Eigentümer des Mädchens ist derjenige, der sie in das
Holz eingegraben hat, denn er hat sie berührt und ihren
Körper in seinen Händen gehabt. Seine Frau muß sie
werden." Dann in ihrem Zorn stieß die Prinzessin die
Lampe mit ihrem Fuß, daß sie über und über purzelte.
Als die Leute, die in dem Thurm wachten, die Stimme der
Prinzessin und die gepflogene Unterhaltung hörten, ließen
sie die Musik erschallen. Sie stießen in die Posaunen,
rührten die Trommeln und bliesen die Trompeten. Und
als Seine Majestät der König die festlichen Töne hörte,
fühlte er sein Herz von Freude erfüllt.
Als die Nacht bis zur dritten Wacht fortgerückt war,
fing der Prinz aufs Neue an, sich mit seinem Milchbruder
imesisches Märchen. 155
zu unterhalten und sagte: „Die Lampe war unfähig mein
Räthsel zu lösen und ist gezüchtigt worden, wie es sich
gehört. Im Falle ich eiue andere Geschichte erzählte, wer
würde bereit sein, die Ausdeutung zu unternehmen?"
Der Milchbruder beschwor seine Seele und ließ sie in
den goldenen Spucknapf fahren. Alsobald begann der
Spucknapf auszurufen und sagte: „Ich, mein hoher Herr,
bin wohl bewandert in allen Ränken und Schlichen. Da
ist Nichts so verwickelt und so fein, daß ich es nicht zu ent-
wirren und zu lösen wüßte. Ich bin die Sklavin Ihrer
königlichen Hoheit und ich bitte um die Erlaubniß, Eure
Räthsel errathen zu dürfen." Der Prinz erzählte dann
dem Spucknapf die folgende Geschichte:
Vierzehnte Erzählung.
Es waren einst unter den großen Brahmanen vier
Männer, die sich zusammen auf einem Fahrzeuge ein-
schifften um eine Seereise zu unternehmen. Der eine Brah-
mane war ein Hora (Astrolog) und konnte zukünftige
Ereignisse vorhersagen. Der zweite Brahmane war ersah-
ren in der Kunst des Bogenschießens und stets sicher zu
treffen. Der Dritte war ein Taucher, der unter dem
Wasser verbleiben konnte. Der Vierte verstand lebendig
zu machen.*) Als eines Tages die vier Brahmanen in
dem Vordertheil des Schiffes beisammensaßen, fragten
im Laufe des Gesprächs seine drei Gefährten den vierten
Brahmanen, der in der Wahrsagerkunst erfahren war, ob
er etwas Merkwürdiges voraussehe, was sich in der nach-
sten Zeit ereignen würde. Der Astrolog stellte seine Be-
rechnuugeu an und sagte dann: „Am heutigen Tage wird
der Vogel Jnsi **) seine Erscheinung machen und über dem
Schiff vorbeifliegen, mit einer Jungfrau in seinem Schnabel.
Er wird uns heute mit Einbruch des Abends begegnen,
aber die Jungfrau wird fchon gestorben sein." Da sagte
der Brahmane, der im Bogenschießen geschickt war: „Wenn
der Jnsivogel mit der Jungfrau in seinem Schnabel hier
vorüberkommt, fo werde ich iiiit meinem Bogen nach ihm
schießen und ihn durch einen Pfeil herunterbringen." ^Der
im Tauchen geübte Brahmane sagte: „Sobald die Jung-
frau in das Wasser gefallen ist, werde ich nach ihr tauchen
und sie auf die Oberfläche bringen," und der Brahmane,
welcher verstand, das Leben zu iusiltriren, fügte hinzu, daß
er ihre leblose Form wieder lebendig machen werde. Wäh-
rend die Brahmanen noch da standen und sich unterhielten,
flog der Raubvogel vorüber mit einer Jungfrau in seinem
Schnabel. Und dann geschah es, wie sie ausgemacht hatten.
Der Bogenschütze schoß den Vogel an, der im Schmerze
die Jungfrau fallen ließ. Der Taucher sprang in das
Wasser, ergriff sie mit seinen Armen und brachte sie
an Bord des Schiffes. Sie war todt, aber der in den
magischen Künsten erfahrene Brahmane durchgoß ihre starre
Form mit neuem Leben und sie erhob sich in voller Jugend-
blüthe. Da die Jungfrau ausnehmend schön und reizend
war, so stritten sich die Brahmanen um ihren Besitz, weil
ein Jeder sie für sich als Gattin verlangte. Der Prinz
*) (Sine der magischen Operationen, die in der Sinlaprasat
zu Taxila gelehrt wurde, und sich vielfach in den Palibüchern
erwähnt findet, ist die im Siamesischen „£ub" genannte. Sie
besteht darin, sei es durch Besprengung mit Wasser, fei es
(nach Medea's Art) durch Feuer und Kochen in einen: Kessel,
bald Gestorbene aufs Neue zu beleben, bald die Formen von
Thieren in Menschen, oder die von Menschen in Thiere zu ver-
wandeln.
**) Der fabelhafte Vogel des Orients, der Menschen zum
Fräße raubt und oft ganze Städte und Länder verwüstet.
20*
156 A. Bastian: Em
richtete dann seine Frage an den Spncknaps und sagte:
„Nun, Frau Spucknapf, was ist Ihre Ansicht von der
Sache? Welcher der Brahmanen hat das beste Recht aus
dieses Mädchen und wem sollte sie als Gattin angehören?
Lassen Sie mich hören, wie Sie diesen Punkt entscheiden
würden." Der Spucknapf, ohne langes Bedenken, rief
aus: „Die Dame war gestorben und ohne Leben. Der-
jenige, der ihr das Leben zurückgab, ist ihr rechtmäßiger
Besitzer und ihm sollte sie, als Gattin, übergeben werden."
Lächelnd erwiederte der Prinz: „Sie, Frau Spucknapf,
haben die Ehre, die unzertrennliche Gefährtin Ihrer könig-
lichen Hoheit der Prinzessin zu sein, und sich stets nahe
am Munde meiner liebenswürdigen Cousine zu befinden,
und jetzt kommen Sie hierher und machen solchen Plunder
im Räthselrathen? Was soll ich davon denken?" Die
Prinzessin aber, als sie diese Worte hörte, sagte in großem
Zorne: „Was für ein dummer Spucknapf das ist! Mit deiner
Weisheit ist es in der That beklagenswert!) bestellt. Du
solltest lieber schweigen, als solches Zeug zu faseln und dich
so nut deinen Erklärungen lächerlich zu machen." Und
die Prinzessin ergriff den Spucknapf, und zerrte ihn hervor
und warf ihn von sich und stieß mit ihrem Fuß noch da-
hinter her, während sie sagte: „Das Richtige ist, daß die
Jungfrau dem Manne zur Frau gegeben werde, der nieder-
tauchte und sie aus dem Wasser holte, denn er hat sie in
seinen Armen gehalten und ihren Körper mit seinen Händen
berührt." Als die Wächter, welche in dem Thnrme ans-
gestellt waren, die Prinzessin reden hörten, ließen sie die
Musikanten ihre Instrumente spielen und rührten die
Trommeln und bliesen die Trompeten. Und der König,
als er es hörte, war ausnehmend froh.
Als die vierte Nachtwache gekommen war, sprach der
Prinz zu seinem Milchbruder und sagte: „Dem Spncknaps
ist es nicht gelungen, mein Räthsel zu lösen, und er ist da-
für bestraft worden, wie er es verdiente. Wenn ich nun
noch eine Geschichte erzählen sollte, wer würde sich anbieten
die Deutung zu unternehmen?" Der Milchbruder beschwor
darauf feine Seele und ließ sie in das mit Goldstickereien
verzierte Kopfkissen fahren. Und das Kopfkissen rief aus
zur Erwiederung und sagte: „Hier bin ich, ich, das Kopf-
kiffen Ihrer Hoheit der Prinzessin. Ich werde jedes
Räthsel lösen. Wollen Euer Gnaden gefälligst nur
beginnen!" Der Prinz sprach dann folgendermaßen:
Fünfzehnte Erzählung.
Da lebten einst in früherer Zeit vier Damen von
äußerst zarter Constitution. Der ersten Dame schwollen
ihre Hände, wenn sie Jemand Anderes Reis stoßen*) sah.
Die Zweite fühlte ihre Brust wie zerschlagen, wenn sie
Jemand Anderes die Trommel rühren sah. Die Dritte
hatte ein Gefühl von Müdigkeit in dem Handgelenk, wenn
sie Jemand Anderes Wasser holen sah, und die Vierte war
am ganzen Körper wie gequetscht, wenn die Mondstrahlen
auf sie fielen. Welche von den vier Damen nun war die
am meisten sensitive und am zartesten organisirt?" Das
Kissen rief sogleich: „Ich durchschaue das deutlich genug,
das weichste und empfindlichste Fleisch war das derjenigen
Dame, deren Handgelenke ermüdeten, wenn sie Jemand
Anderes Wasser tragen sah." Hieraus lächelte der Prinz
und sagte dann: „Wie, Madame Kissen, Sie, die mit
einem Platz im Innern des Bettes beehrt werden, Sie, die
beständige Begleiterin, so dicht und nahe zu den Ohren und
.. ^"thülsen des Paddy in hölzernen Mörsern, ein
tägliches Hausgeschäft in den Reis essenden Ländern Indiens.
amesisches Märchen.
Augen Ihrer königlichen Hoheit der Prinzessin, Sie können
keine bessere Erklärung geben? Sie sollten sich schämen!"
Die Prinzessin aber, als sie hörte, wie stümperhaft das
Kissen den Sinn der Erzählung ausgedeutet hatte, eut-
brannte in grimmigem Zorn. Sie erhob sich, und das
Kissen hervorreißend, sagte sie mit ärgerlicher Stimme:
„Du verschrobenes Ding von einem Kissen, kannst Du
Nichts Besseres ausdenken als solche Faseleien?" Und sie
nahm das Kissen und zerrte es umher und zerfetzte es in
lauter kleine Stücke, die sie Handvoll umherschleuderte und
so weit wie möglich von sich warf. Dann sagte sie: „Die
empfindlichste Dame ist diejenige, deren Körper sich durch
die Mondstrahlen zerschlagen fühlte. Sie übertraf an
Feinheit des Gefühls bei Weitem die drei Anderen." Als
die zur Wache aufgestellten Diener die Prinzessin sprechen
hörten, ließen sie fröhliche Melodien erschallen. Sie stießen
in die Posaunen, sie bliesen und pfiffen und trommelten,
wie sie in den früheren Nachtwachen gethan hatten.
Mit der ersten Dämmerung des nächsten Morgens
verließen der Prinz und sein Milchbruder das Schloß und
kehrten nach des reichen Mannes Hans zurück. Dieser
war äußerst erstaunt, als er sie kommen sah und sagte:
„Von all den Leuten, die in jenes Schloß eingetreten sind,
ist noch Keiner zurückgekehrt. Und es sind ihrer Viele,
die dort umkamen. Wie ist es denn mit Euch? Seid Ihr
nicht hineingegangen und habt Euch so gerettet?" Der
Prinz erwiederte: „Wir waren dort und haben unsere
Wache richtig gehalten."
Als Seine Majestät der König in der Audienz der
Großen und Edlen des Hofes saß, fragte er sie und sagte:
„An wem war in voriger Nacht die Reihe in dem Schlöffe
zu wachen?" Die Edlen gaben respektvoll und ehrerbietigst
zur Erwiederung: „Die Reihe war an dem Sohn des
reichen Mannes." „Sendet Einen hin und bringt ihn
hierher," befahl der König. Die Großen gingen nach dem
Haus des reichen Mannes und sagten: „Die königliche
Majestät geruht Euer Wohlgeboren zu befehlen, am Hofe
zu erscheinen." Der reiche Mann erschrak und fühlte große
Furcht, doch mußte er Folge leisten und ging, den Prinzen
mit sich nehmend, zum Palaste. Nachdem er seine demü-
thigste Huldigung bezeigt hatte, wurde das königliche Wort
an ihn gerichtet: „War diese Nacht die Reihe an des Kauf-
manns Sohn in dem Schlosse Wache zu halten?" Der
reiche Mann, nachdem er seine schuldige Ehrerbietung
bezeigt hatte, flehte und bat: „So hatte das Loos getroffen,
aber dieser Jüngling hier erbot sich, die Wache zu über-
nehmen." Dann war da ein königliches Gebot, also spre-
chend: „Wer bist Du und wessen Sohn und wo ist Dein
Volk und von wannen kommst Du? Gib klaren und deut-
lichen Bericht und Alles der Wahrheit gemäß." Der
Prinz flehte*) und bat und sagte: „Euer Sklave ist der
Sohn des Köuigs, der in der Stadt Makharat herrscht.
Ich verließ meine Heimat, um in der Stadt Takkasinla die
Wissenschaften zu studiren. Ich verabschiedete mich dann
von meinem Lehrer, um nach Hanse zurückzukehren, und
auf dem Wege dahin bin ich durch diese Stadt gekommen."
Als König Phitsaxnmaharat diesen Bericht hörte, bezeigte
er große Freude. Er erhob den Prinzen über alle seine
Großen und traute ihm die Prinzessin als Ehegemahl an.
Als dieser später bei dem Tode des Königs den Thron bestieg,
überschüttete er seinen Milchbruder mit Ehren und erhob
*) Nach dem orientalischen Hosceremoniell ist jedes Wort,
das an den König gerichtet ist, ein flehendes, und wird auch in
den Büchern stets'mit einem solchen Ausdruck bezeichnet, wogegen
alle durch den König gesprochenen Worte in der Form eines Be-
fehles gegeben werden.
Aus allen
ihn schließlich zu dem Range des zweiten Königs (Upa-
xath), und herrschte mit ihm in der Stadt Phixai-Nakhon.
Diese bis dahin lesbare Erzählung endet leider in einer
Weise, daß sie höchstens lateinisch wiedergegeben werden
könnte, und deshalb breche ich vorläufig ab. Sie ist einer
Märchensammlung entnommen, die aus dem Sanskrit über-
setzt scheint und gleich dem Pantschatantra und ähnlichen
Büchern aus einer Reihe in einander geflochtener Erzäh-
luugen besteht. Die Erzählungen sind in den Mund der
Erdtheilen. 157
Prinzessin Kankras gelegt, die, um ihren Vater vom Tode
zu retten, den König von Pataliput (Palibrotha), mit
Märchen unterhält. Von solchen Sammlungen euthält
die gegenwärtige zwischen 80 bis 90 verschiedene Erzäh-
lungen.
Bei den Verwandlungen, welche der König gewordene
Prinz in der Folge erfährt, findet er sich durch uuvor-
sichtige Anwendung seiner Kunst für längere Zeit in Thier-
leiber eingeschlossen und hat, seines Thrones beraubt,
ähnliche Schicksale zu leiden, wie sie in den indischen Mär-
chen über den wahren und falschen Vikramaditya in Um-
lauf sind.
Aus allen
Brenners Mitteilungen über den Ausgang der Expe-
dition von der Deckens. Herr Brenner war bei derselben als
Jäger und Privatsekretär des Reisenden betheiligt. Er ist glück-
lich heimgekommen und hat zn Leipzig im geographischen Verein
Mittheilüngen über die beklagenswerthen Vorgänge bei Berdera
gegeben. Der wesentliche Inhalt ist folgender:
Zur Zeit als der Baron seine Reise ins Innere auf dem
Flusse Jnba (Dschub) antrat, war dieser bereits stark im Fallen,
was die Fahrt bedeutend erschwerte und Anlaß zu den: spätem
Unglücke gab. Das zur Fahrt benutzte Dampfschiff „Wels",
mit 5 Geschützen armirt und mit einer Niederdrnckmaschine von
45 Pferdekraft, ging zwar nur 27a Fuß tief, war aber durch
seine unverhaltnißmäßige Länge (119 Fuß gegen 15 Fuß Breite)
fortwährend in einer bedenklichen Schwankung nach hinten und
vorn. Ueberdies war das Schiff, nach der Aussage des Herrn
Brenner, aus sehr schlechtem Eisen gebaut. Au dem Schiffe
befestigt waren zwei Boote und eine Jolle; ein kleineres Dampf-
boot, „Passepartout", ging schon Ende Juli vor der Einfahrt
in dem Juba unter, wobei der Ingenieur Hitzmann aus Han-
uover seinen Tod fand. Die Reisegesellschaft bestand jetzt aus
9 Europäern: dem Baron von der Decken, Marinelieutenant
von Schickt), Dr. med. Link, Maler Trenn (aus Breslau),
Maschinenmeister Kanter, Sekretär Brenner (aus Merseburg),
Oberfeuerwerker Deppe, Zimmermann Brinkmann und Koch
Theis; ferner aus den eingebornen Begleitern: Abdio (als Dol-
metscher fungirend, ein feiger, heuchlerischer, schlauer Mensch),
Barraka I. und II., Kero,' Tschakna, Abdiu ben Nur, Assalon
und etwa 20 Negern. Die Folge hat erwiesen, daß diese
schwarzen Begleiter nicht eben Freunde der Erpedition waren;
ihnen ist sicher auch die Vergiftung der fämmtlichen Hunde zu-
zuschreiben, die der Baron mit sich führte.
Am 19. September 1865 erreichte man die Somali-Stadt
Berdera, ca. 350 (?) englische Meilen von der Küste. Die
Stadt lag zn beiden Ufern des hier sehr breiten Flusses; doch
füllten die ärmlichen Hütten der Bewohner kaum den sechsten
Theil des vou der Stadtmauer umgebenen Platzes aus; große
Trümmerhaufen waren Zeugen der Verwüstung, welche vor
15 Jahren die feindlichen Gallas hier angerichtet hatten. Der
Sultan des Ortes, Hadscheali, war zwar freundlich, gab
aber den Fremden deutlich genug zu verstehen, daß sie ihm nicht
angenehm feien und suchte die Weiterreise durch allerlei War-
nungen zu verhindern. Trotzdem ging die Erpedition ström-
aufwärts; ein Wasserfall, den die Berderaleute angekündigt
hatten, erwies sich nur als eine Stromschnelle, die sicher leicht
zu Yassiren gewesen wäre, wenn der Fluß höheres Wasser ge-
habt hätte und der „Wels" nicht in so schlechten: Zustand
gewesen wäre. Das Anstoßen auf ein paar Steine genügte,
um ein Leck zu erzeugen, so daß der ganze Inhalt des Schiffes
schleunig ans Land gerettet und hier ein Lager bezogen werden
mußte.
Das war am 26. September, eine halbe Tagereise von
Berdera. _ Am 28. September Morgens 6 Uhr verließ der
Baron mit Dr. Link, Abdio, Baracko, Kero und 4 Negern das
Lager, um mit einem Boote nach Berdera zurückzufahren, von
da aus nach Gnmana vorzudringen und sich über die Nütz-
E r d t h e i l c it.
lichkeit der Fortsetzung der Reise ohne Dampfboot — denn dies
hatte er ganz aufgegeben — zu unterrichten. „Leben Sie wohl,
in acht Tagen sehen wir uns wieder", das waren die letzten
Worte an die Zurückgebliebenen, die sich nun mit der weitern
Einrichtung des Lagers und der Dichtung des Schisfsleckes
beschäftigten. Herr vou Schickh, der interimistische Führer
der im Lager Zurückgebliebenen, ließ seine Leute am I.Oktober,
einem Sonntag, ruhen. Vom Baron war noch keine Nachricht
aus Berdera eingetroffen. Da sah der Maler Trenn, es war
Mittags l1/a Uhr, am andern (linken) Ufer des Juba eine
größere Anzahl Neger; Schickh in der Meinung, Abgesandte
des Barons mit Proviant vor sich zu haben, sandte das letzte
Boot mit 9 Mann hinüber, die indeß von den Schwarzen keine
Auskunft über den Baron erhielten, sondern aufgefordert wur-
deu, das Lager nach dem andern Ufer zu verlegen. Als die
Berderaleute'sahen, daß ihrem Ansinnen keine Folge geleistet
wurde, ruderten ihrer Mehre nach einer Sandbank im Fluß
und verlangten übergesetzt zu werden; kaum aber hatte Schickh
hierzu die Erlaubuiß gegeben, als ein Hornsignal gegeben wurde
und plötzlich von der rechten Seite des Ufers 20 bis 30 Neger,
die sich hinter dem Lager versteckt hatten, mit geschwungenen
Lanzen in dieses eindrangen. Trenn, waffenlos überrascht,
erhielt eiueu Lanzenstich matten durch die Brust und sank todt
nieder; Kanter, vom Lager aufgesprungen, that nur zwei
Schüsse und wurde niedergemacht. Nur Brenner, Theis
und Deppe konnten länger feuern — der Mörder Trenns fiel
durch eine Kugel Brenners, der im Ganzen etwa 6 Schwarze
niederschoß. Darauf zogen sich die Angreifer zurück; der ganze
Kampf hatte kaum 8 Minuten gewährt.
Jetzt war keine Zeit zu verlieren, da die Schwarzen sich
nur hinter das Buschwerk zurückgezogen hatten. Mit einer
kleinen Jolle, die uoch am „Weif" befestigt war, wurde zunächst
das Boot vom linken User gerettet; dann ging Brenner, von
den Uebrigen vom Boote aus mit den Gewehren gedeckt, auf
den Lagerplatz, überzeugte sich, daß Trenn und Kanter vollstän-
dig leblos waren und rettete von der Munition so viel als
möglich. Vom Bord des „Welf", der nuu im Stich gelassen
werden mußte, nahm man die Papiere und Werthsachen des
Barons mit und versenkte die überflüssigen Gewehre.
Nach reiflicher Erwägung blieb den Verunglückten nichts
Anderes übrig, als den'Platz zn verlassen und stromabwärts
zu fahren. Es geschah dies Nachmittags 5 Uhr. Nachts
passirten sie Berdera, das still und ruhig da lag. Den 6. Oft.
2 Uhr Nachts kamen sie an der Mündung des'Juba an, von
wo sie zu Fuß und später mit Hilfe 'von Negerbooten am
24. Okt. in Sansibar eintrafen. Schließlich sei noch erwähnt,
daß Herr Brenner die Möglichkeit, daß der Baron von der
Decken und Dr. Link noch am Leben seien, nicht ganz verloren
gibt, wiewohl es eher wahrscheinlich ist, daß sie in Berdera
ermordet wurden, und daß die Angreifer des Lagers nur abge-
schickt waren, um auch die übrigen Mitglieder der Expedition
zu vernichten.
158
Aus allen Erdtheilen.
Weiße Leute als Gefangeue unter den Somali in Ostafrika.
Das ganze „östliche Horn" Ostafrika's, d. h. die Region,
welche bei Se'ila am Busen von Aden beginnt und dessen Küste
an demselben gen Osten bis zum Cap Guardafni läuft uud dann
in zumeist südwestlicher Richtung bis zum Aeqnator vom Indi-
schen Oeean bespült wird, ist Gebiet der Somali, welche jüngst
wieder durch den tragischen Ausgang der Expedition des Herrn
von der Decken notorisch geworden sind. Die westliche Grenze
ihres Gebietes bildet der Dschubström, über dessen obern
Lauf wir immer noch in Unkunde sind; jenseit, nach dem In-
nern hin und gen Norden, bis tief nach Abyssinien hinein,
wohnen Gallavölker? im Süden des Dschub aber an der
Küste die Suaheli, Mischlinge von Arabern nnd schwarzen
Eingebornen. Was an Städten und Gesittnng an dieser Küste
gefunden wird, ist nicht einheimisch afrikanisch sondern arabisch.
Araber sind es, welche die Küstenplätze und die größeren Ort-
schatten auf den Inseln inne haben; z. B. von'Norden nach
Süden gerechnet: Magadoscho, welches Vasco da Gama besuchte,
Brawa, Patta, Lamu und Pemba.
Von europäischen Fahrzeugen wird diese Küste nicht oft
besucht, aber der arabische Verkehr ist nicht ohne Belang.
Dnrch von der Deckens Schicksal ist, wie gesagt, die Auf-
merksamkeit auf diese Gegenden gerichtet worden, und es scheint
kaum einem Zweifel unterworfen, daß manche weiße Männer
von den Somali in der Gefangenschaft gehalten werden. In
der „Times" vom 19. April (welche Herrn von der Decken zu
einein „belgischen" Baron stempelt) finden wir darüber An-
gaben, die wir im Wesentlichen mittheilen wollen.
Im Juni 1855 scheiterte das von London nach Bombay
bestimmte Schiff „St. Abbs" an der Insel San Juan de Nnova
vor der nordafrikanischen Küste; nur der Kapitän mit zwei
Matrosen retteten sich in einem Boot ans Land; dann schwammen
anch noch ein Passagier und zwei andere Matrosen heran. Das
übrige Schiffsvolk, 26 Köpfe, blieb an Bord des entmasteten
Schiffes, das nach zwei Tagen auseinander brach; so sagten
die Ueberlebendeu. Es ergab sich aber später, daß der Rumpf
der „St. Abbs" nicht in'Stücke gegangen, sondern durch die
Meeresströmung bis in die Nähe von Magadoscho getrieben
worden sei. Die Eingebornen nahmen Alles, was sie 'auf dem
Wrack fanden, und Manches davon kam nach Sansibar zum
Verkaufe, z. B. musikalische Blasinstrumente, chirurgische In-
strumente, Bücherkisten, Billardkugeln 2c.; alle diese Gegenstände
waren mit dem Regierungsstempel bezeichnet. Der Schiffbruch
fand in der Jahreszeit statt, in welcher die Schiffe an der oft-
afrikanischen Küste nach Norden fahren und so kam es, daß
manche von den Sachen, die auf der „St. Abbs" gefunden waren,
auch nach dem Persischen und nach dem Arabischen Meerbusen
gelangten und dort theilweise und zufällig in die Hände von
Europäern geriethen.
Man hielt die Mannschaft der „St. Abbs" für verloren,
bis vier Jahre später auf Mauritius uud auch auf Ceylon sich
die Nachricht verbreitete, daß eine Anzahl Engländer irgendwo
an der afrikanischen Küste in Gefangenschaft zurückgehalten
würdeu. _ Darauf hin stellte der damalige Eonsnl in Sansibar,
Oberst Rigby, Nachforschungen an. Sie ergaben, daß der Rumpf
des Schiffes bei Magadoscho ans Land getrieben worden sei;
das Schiffsvolk sei von den Abghal-Somali ins Innere
abgeführt worden. Oberst Rigby erfuhr außerdem, daß eine
Pilgerkarawane, die von Magadoscho nach Mekka zog, irgendwo
einige weiße Gefangene gesehen habe. Als die' Pilger in
Dschiddah eintrafen, erfuhren sie, daß dort alle Europäer uud
auch der britische Eonsnl ermordet worden seien. Sie erzählten
aber die Sache mehren Pilgern ans Mauritius und Ceylon,
und so kam sie zur Kunde der englischen Behörden.
Sofort erließ der Gouverneur von Mauritius eine Be-
kanntmachnng in mehren Sprachen und bot Jedem, der einen
weißen Gefaugeuen befreie, 100 Pfd. Steil Belohnung. Eiu
Mann aus Magadoscho, der selber am Bord des Wrackes
gewesen war, wollte darauf hin ins Innere gehen, wurde aber
m Lamu festgehalten und an der Allsführung seines Vorsatzes
verhindert, wie mau meint durch Somali;'doch ist hier Un-
gewißheit.
Aus den Berichten, welche Consnl Rigby _ in Sansibar
erhielt, glaubte man folgern zu dürfen, daß die Gefangenen
zwei Abtheilungen gebildet haben; die eine derselben wurde
weit ins Innere gebracht; die andere, aus drei Persouen be-
stehende, wurde von den Abghal Somali unweit von Maga-
doscho festgehalten. Von dieser Stadt kam vor einiger Zeit eine
Ladung Riudshänte nach Sansibar; diese hatte man von
^uer Somali-Karawane gekauft, welche eben aus dem Innern
nach Magadoscho gekommen war. Alls einer dieser Rindshänte
fand man einige lateinische Buchstaben eingekratzt.
Der Käufer legte diese Haut bei Seite und brachte sie nach
seiner Ankunft' in Sansibar sogleich zum hambilrger Kauf-
mann Oswald. Dieser übergab sie dem damaligeu Consnl
Playfair. Jener Kaufmann aus Magadoscho wollte noch mehre
Häute mit solchen Buchstaben gesehen haben. Alles in Allem
wohl erwogen, scheint es allerdings ausgemacht zu sein, daß
weiße Leute von den Somali als Gefangene zurückbehalten
werden. —
In einer folgenden Nummer der „Times" (vom 23. April)
berichtet eiu mit deu Verhältnissen der ostafrikanischen Küste
bekannter Mann, Henry C. G. Angelo, daß einige Jahre
früher als die „St. Abbs" scheiterte, ein amerikanisches Wal-
sischboot, das von seinem Schiff hinweg ins Weite verschlagen
worden war, unweit Magadoscho landete. Die Matrosen wur-
den von den Sonlali gefangen genommen und ins Innere ab-
geführt, dann aber von einem Araber ans Brawa, Namens De-
rah, losgekauft; er zahlte für drei Leute 50 Thaler; die übrigen
blieben zurück oder waren inzwischen gestorben.
Angelo erzählt, er sei einst zum Besuche bei einem Hänpt-
linge der südlichen Galla gewesen. Bei.diesem habe er auf
Kürbisschalen zum Trinke» Figuren eingeschnitten gesnn-
den, namentlich von europäischen Kirchen und Häusern. Auf
feine Nachfrage fteltte sich heraus, daß Leute gleich ihm, d. h.
Weiße, auf diese und noch auf andere Kürbisse die Figuren
eingeschnitten hätten. Diese Männer lebten irgendwo' drei
Tagereisen südlich von Härrär.
Angelo meint weiter, Herr von der Decken und „der
Doetor" könnten doch wohl noch am Leben sein. Es
liege, sagt er, nicht in den Gebräuchen der Somali, weiße
Männer zu ermorden. (Er hat vergessen, daß sie auf Burton,
Speke und Stroyan allerdings Mordangriffe machten, und daß
der letztere getödtet wurde. Wir haben' die Katastrophe im
Globus IX, S. 372 ausführlich geschildert.) Er meint weiter:
„Die erschrockenen Snaheli-Diener des Barons haben nicht mit
eigenen Augen gesehen, daß dieser und der Doetor getödtet
wurden. Ohne Zweifel liefen sie von ihrem Herrn weg, als sie
merkten, daß zwischen ihm und den Eingebornen ein Streit
entstehen würde; um sich des Entlanfens wegen zu ent-
schuldigen, gaben sie dann vor, der Baron sei getödtet worden.
Ein Streit war allerdings vorhanden, und vielleicht ist der
Baron im Handgemenge verwundet worden; dadurch ist jedoch
die Möglichkeit uicht ausgeschlossen, daß er doch noch am Leben
sei. Und weshalb sollten die Somali den Doetor erschlagen
haben, der erst zwei Tage später nach der angeblichen Ermor-
dung des Barons nach Berderah kam und mit dessen letzter
Streitigkeit nichts zu schaffen gehabt hatte? Man darf wohl
annehmen, daß ihr Rachedurst nach der Ermordung des Barons
hätte gestillt sein können. Eine genaue Ausforschung der Diener
würde gewiß viele Nngenauigkeiten in ihren Angaben heraus-
gestellt haben. Auf Glaubwürdigkeit darf man bei Eingebornen
gar nicht rechnen, namentlich nicht in vorliegendem Falle, wo
sie gewiß einen Theil ihrer Angaben selbst verfertigten, um sich
vor wohlverdientem Tadel zu sichern. Ich selber bin, nach Be-
Häuptlingen und Aussagen der Eingebornen, in Ostafrika mehr-
mals getödtet worden." —
Wir müssen dahin gestellt sein lassen, wie Vieles an diesen
Ansichten richtig ist nnd können nur ans die jüngst im Globus
(S. 62 und 92 ff.) mitgetheilten Dokumente verweisen.
Angelo fügt hinzu, daß zwischen Sansibar und der Somali-
küste kein lebhafter Verkehr herrsche; ein solcher werde nur mit
den Arabern in Brawa nnd auch nur während des Nordost-
Monsuns unterhalten. Nördlich von Lamn (4" südl. Br.) hat
der Sultan von Sansibar keine eigentliche Gewalt mehr. Ein
Europäer, welcher über Deckens Schicksal Zuverlässiges erfahren
wolle, müsse nach Brawa gehen, von dort aus sich mit den
Häuptlingen der Bara-Direh-Somali in Einvernehmen setzen
und durch deren Vermittlung iu Verbindung mit den am Dschub
wohnenden Somali treten. Dieser Strom könne von Booten
mit geringem Tiefgang befahren werden.
„Wäre ich an' der Küste, so wollte ich dafür stehen, daß ich
mit Beihilfe von höchstens zwei bewaffneten Booten den Dschub
hinauffahren rnid jede erforderliche Auskunft über Herrn von
der Decken erhalten wollte."
Derselbe Angelo bemerkt weiter, er glaube, daß das Wrack
der „St. Abbs" uicht bei Magadoscho, sondern beim Ras el
Chail (er schreibt Khyle!) an die Küste getrieben worden sei.
Die drei arabischen Städte Brawa, Merika nnd Magadoscho
stehen mlt elnander fortwährend in Verbindung. „Wäre nun
dle „St. Abbs ber der letztern Stadt angekommen, so würde
man ohne Zweifel m Brawa etwas davon erfahren, dort auch
Waaren von dem Wrack erhalten haben. Alle die genannten
Aus allen
Plätze besitzen keine Häfen und selbst die Ankerplätze können
nur während des Nordost-Monsuns benützt werden." Man
solle übrigens auch von Aden ans zu Seila und Berbera und
überhaupt auf den verschiedenen Marktplätzen Erkundigungen
einziehen lassen, was keine erheblichen Schwierigkeiten habe.'
Die europäischen Gefangenen in Abyssinien vom König
Theodor freigelassen.
In der Sitzung des Oberhauses vom 23. April verlas
Graf Clarendon ein Schreiben des politischen Residenten in
Aden, Oberst Merewether vom 28. März 1866, welcher jene
erfreuliche Nachricht meldet. Er hatte von Herrn Rassam,
der bekanntlich nach Abyssinien gegangen war, um die Befreiung
der Gefangenen auszuwirken, einen Brief aus Adscban Müder
im südwestlichen Abyssinien vom 7. Februar. Rassam meldet,
daß er bei Theodor eine ganz ausgezeichnete Aufnahme gefunden
habe; wenige Stunden nach seiner ersten Besprechung mit dem
Monarchen habe dieser die Freilassung aller gefangenen Euro-
päer anbefohlen; Rassam könne dieselben mit außer Landes
nehmen, was wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des März-
monats geschehen sein wird. Theodor schickte sofort einen
Kammerherrn nach Magdala und ließ ihnen die Ketten abneh-
men; derselbe sollte sie nach Debra Tabor bringen, wohin Rassam
mit dem Hofhalte des Königs gehen wollte, der sich damals in
Godscham befand. Weiter wird gemeldet, daß Theodor einen
äußerst höflichen Brief an die Königin Victoria geschrieben und
Herrn Rassam sehr hübsche Geschenke gemacht habe. —
Die Gefangenen sind also endlich'von ihren Qualen erlöst
worden. Sie hätten dieselben wahrscheinlich nie erlitten, wenn
nicht von Seiteil Englands eine große diplomatische Unschick-
lichkeit stattgefunden hätte, welche den Zorn eines rachsüchtigen
Halbbarbaren nothwendig reizen mußte. Wir wollen die That-
fachen, welche wir früher, je nachdem sich die Gelegenheit dar-
bot, im Globus erwähnt haben, in Erinnerung bringen. Die
Engländer hatten sich, aus Rivalität gegen die Franzosen, seit
Jahren in Abyssinien viel zu schaffen gemacht. Theodor wurde
1855 Herr im Lande; die Engländer hatten einen Vertrag ge-
schlössen, demzufolge jeder der contrahirenden Theile das Recht
hat, Gesandte bei 'dem andern zu beglaubigen. Als Diplomat
von britischer Seite trat Consul Plow den aus Massawa bei
Theodor auf, gewann bei diesem große Gunst, half ihm Krieg
führen, wurde aber 1860 ermordet.' Sein Nachfolger war Consul
Cameron, der 1862 eintraf. König Theodor äußerte, es sei
sein Wuusch, den Vertrag in Vollzug treten zu lassen; dem-
gemäß schrieb er gegen Ende des Jahres 1862 eigenhändig
einen Brief an die Königin Victoria; dieser aber
blieb unbeantwortet.
Sicherlich fühlte sich der stolze Halbbarbar durch diese
Nichtbeachtung verletzt; ein europäischer Hof würde dasselbe
gethan haben', und dann rächte er sich eben wie ein Barbar.
Zunächst mußten die Missionäre Stern :c. seinen Unwillen
fühlen. Nachher nahm er dann auch den Consul Cameron
gefangen. Hatte die Königin von England seinen höflichen
Brief, in welchem er seinen Wunsch ausdrückte, mit ihr uud
ihren Nnterthanen in sreuudschastlichstem Verkehr zu stehen, nn-
beantwortet gelassen, so brauchte er auch, seiner Meinung nach,
den Bevollmächtigten einer so unhöflichen europäischen Monarchin
nicht weiter zu respectiren. Er ließ Herrn Cameron mit einem
abyssinischeu Soldaten an einer und derselben Kette befestigen.
Sehr wohl wußte er, daß die Engländer ihm in seinem Lande
durch Waffengewalt nichts würden anhaben können. Auf Unter-
Handlungen ließ er sich nicht ein. Zuletzt kam Rassam und
hatte Erfolg, nachdem Theodor wahrscheinlich es müde war,
die Missionäre und den Consul noch länger in Gewahrsam zu
halten. Jetzt tritt er als großmüthiger Mann auf und schreibt
wieder einen höflichen Brief. So beantwortet er die Unschick-
lichkeit, welche der englischen Regierung zur Last fällt.
Bewegung gegen die Polygamie in Indien. Diese
gewinnt unter den höheren Ständen zunächst in Bengalen cine
immer größere Ausdehnung. Gelehrte (Panditen), reiche Lehns-
Herren und selbst viele orthodoxe Brammen haben sich derselben
angeschlossen. Nicht weniger als 21,000 derselben nnterzeich-
neten eine Eingabe an die Regierung, in welcher sie bitten, daß
dieselbe energische Schritte thuu möge. Schon 1856, nachdem
kurz vorher das Gesetz über die Wiederverheiratung der Witt-
wen erlassen worden war, sollte auch ein Edikt in Betreff der
Polygamie erscheinen; dann aber brach die große Meuterei aus.
Vor drei Jahren legte ein angesehener Mann in Benares,
Erdtheilen. 159
Radscha Deo Naram Singh, dem damaligen Generalstatthalter
Lord Elgin einen Gesetzentwurf darüber vor; man nahm aber
damals Anstand, dieses heiße Eisen anzugreifen. Das soll nun
allerdings geschehen, weil alle intelligenten Hindus sich damit
einverstanden erklären. Man wird die Polygamie nicht unbe-
dingt verbieten; so weit darf man jetzt noch nicht vorgehen,
man will aber viele Mißbränche derselben beseitigen. Einer
derselben wird in einer Correspondenz aus Calentta vom
23. März hervorgehoben. In fünf weitverzweigten Brahminen-
familien, die unter dem Namen der Knlins bekannt sind, hei-
raten die denselben angehörigen Männer jeder an 20 bis 120
Frauen. Abergläubige Aeltern sehen ein Glück und einen gött-
lichen Segen darin, wenn ihre Töchter mit so heiligen Männern
eine Verbindung schließen. Diese Frauen bekommen ihren
Mann selten zu sehen, müssen aber nach Kräften dazu bei-
tragen, ihn zu ernähren und Mittel für seinen Lurus herbei-
schaffen. Der Correspondent kennt einen solchen Kulin, der alle
weiblichen Glieder einer reichen Familie zumal geheiratet hat;
alte und junge, Töchter, Tanten, Schwestern und Basen. Jene
21,000 Bittsteller dringen nun darauf, daß derartigen Abscheil-
lichkeiten von Gesetzes wegen ein Ende gemacht werde, und da
viele angesehene Brammen derselben Ansicht sind, so wird sich
die Sache wohl ausführen lassen.
Nordamerikanische Temperanzgesetze. Bekanntlich werden
in manchen Staaten die sogenannten Tempe ranz gesetzt uuge-
mein streng gehandhabt,' insbesondere zum Mißvergnügen der
Deutschen. Die Beschwerden dagegen helfen aber' wenig in
solchen Staaten, wo die radikalrepublikanische Partei das Ruder
führt, wie z. B. in Indiana. Ein Deutscher, der sich schwer
beeinträchtigt fühlt, schreibt au deu „Jndianopolis Telegraph"
folgenden Brief, der einen Einblick iu die Dinge gibt:
„Ich wünsche den Lesern einen Begriff davon zu geben, in
welcher Weife hier in Randolph County die Gerechtigkeit den
Bürgern gegenüber gehandhabt wird. Ich wurde vor der Grand
Jury dieses County's angeklagt, im vorigen September Bier
beim Quart verkauft zu habe». Nun hatte ich zwar eiue Gou-
vernementslicenz, die mir den Verkauf bewilligt, unter der Be-
dingung, daß die Getränke von dem Käufer nicht auf meinem
Geschäftsplatz getrunken werden; ferner schwor der Staatszeuge,
daß ich zu verschiedenen Zeiten je zwei Quart Bier verkauft
und ihn jedesmal angewiesen hatte, cs außerhalb meines Hauses
zu trinken, und daß er über 40 Schritte von meinem Hause sich
entfernte, um es zu trinken. Dennoch wurde ich der Gefetzver-
letzung schuldig befunden uud demgemäß bestraft. —
Ein anderer Mann wurde ebenfalls sehr schwer gestraft
wegen desselben Vergehens, trotzdem das Zeugenverhör nachwies,
daß der Liquor nicht einmal verkauft, sondern geradezu weg-
geschenkt worden war. Der Manu hatte für einen einzigen Fall
50 Dollars und Kosten zu bezahlen. Auf solche Weise wird in
einem freien Lande mit dem, was man Recht und Gesetz heißt,
Unfug getrieben."
Wir finden außerdem folgende Notiz: — In Westchester,
Staat Pennfylvanien, verwarf Richter Butler das Gutachten
von Experten aus keinem andern Grund, als, weil dieselben
bei ihrem Geschäfte Wein getrunken hatteu. Der Richter fügte
bei, er glaube uicht, daß die Erfrischung ihr Gutachten beein-
flußt habe; aber er habe einmal die Regel aufgestellt, kein Gut-
achten anzunehmen, bei dessen Zustandekommen etwas Stär-
keres als Wasser getrnukeu worden sei. Nuu, da könnte
man sich ja mit „Mannheimer Wasser" oder „Kirschwasser"
helfen. Uebrigens dürfte ein Richter zu eiuem so willkürlichen
Verfahren kaum befugt sein. —
Um sogleich ein 'Nebenstück zu geben, fügen wir das Nach-
stehende bei. Für Anglo-Amerikaner scheinen Tempcranzgesetze
nicht gerade überflüssig zu sein. Den Stadtvätern Nenyorks
wird Manches nachgesagt; in der „loyalen" Stadt Chicago
scheint cs aber mit den edlen Aldermen auch nicht übel zu stehen,
wenn man nämlich folgender Mittheilnng des in Cincinnati
erscheinenden „Volksfreund" Glauben beimessen will:
„Der Stadtrath vou Chicago ist eine saubere Sippschaft.
Bei seiner letzten Sitzung waren die Mitglieder so total be-
soffen, daß der Präsident sie sammt und sonders nach Hanse
schicken mußte, auf daß sie ihre Schuappsräusche ausschlafen
sollten."
Im Capitolinm zu Washington. Wir gaben neulich
einen Aufsatz aus der „Times" über das Leben und Treiben
im Kongresse zu Washington (x, 86 ff.), der unseren Lesern noch
in Erinnerung sein wird. Jetzt lesen wir in demselben Blatte,
160 Aus allen
daß jener Aufsatz eine gute Wirkung gehabt habe. Die Buden
der Victualienhändler und Marktschreier sind aus den Corridors
entfernt worden, der kalifornische Jäger mit seinen Pelzkleidern
nnd allerlei indianischem Aufputz ist mit allen seinen Sieben-
fachen hinansgewiesen worden, nur die abscheulich schlecht ge-
arbeitete Statue der Freiheit, und die Büsten der Präsidenten
Lincoln und Johnson, sammt den unvermeidlichen Speibecken,
sind an Ort und Stelle geblieben. Im Senat sind an vielen
Stellen Plakate aufgehängt worden, welche jedem Fremden, der
gegen die Hausordnung verstoße und sich Beifallsbezeigungen
erlaube, sofortige Ausweisung androht. Auch wird jetzt im
Hause selbst etwas mehr Ordnung gehalten.
Ein wohlerhaltenes Mammnth, vollständig mit Haut und
Haar, ist 1864 vou einem Samojeden im arktischen Sibirien
anfgefnnden worden, und zwar in der Nähe der Taz-Bay, im
ostlichen Theile des Obi-Golfes. Karl Ernst von Baer in
St. Petersburg hat darüber einige vorläufige Mittheilungen
bekannt gemacht. Au der Newa erhielt man erst gegen Ende
des Jahres 1865 Nachricht von diesem wichtigen Funde. Man
hofft, daß inzwischen das Mammnth uicht etwa durch Bären
oder Füchse beschädigt sein werde, sondern daß es wohlerhalten
sei; es ist nämlich nicht völlig bloßgelegt worden, sondern steckt
zum großen Theil noch im Eise oder im gefrornen Boden. Die
Petersburger Akademie hat den bekannten sibirischen Reisenden
nnd Paläontologen Dr.Schmidt nach dem Obi-Golfe geschickt,
nm das Mammnth an Ort und Stelle zu studireu, eine genaue
Zeichnung zu entwerfen nnd namentlich auch den Jnhcilt des
Magens zu prüfen. — Wir wollen hier daran erinnern, daß
auch auf dem sogenannten neusibirischen Archipelagus vor den
Mündungen der Lena Mammnthe in Menge liegen, und daß
dort einst ein Jakute ein noch wohlerhaltenes Exemplar auf-
gesunden hat.
Schmidts Zeichnung des Thieres wird auch in archäologi-
scher Beziehung von Erheblichkeit sein. In einer der Höhlen
des Perigord' hat Lartet ein Stück Elfenbein gefunden, auf
welches eiu alter Höhlenbewohner die Gestalt eines Mammnth
eingegraben hat. Man wird also das sibirische und das fran-
zösische Mammnth vergleichen können.
Ueberreste ans vorgeschichtlicher Zeit in Schottland.
Manche Leute sehen es recht ungern, daß so vieleUralterthümer des
Menschengeschlechts zu Tage kommen; sie wähnen, daß dadurch
der Glaube" gefährdet werde. Als ob nicht jeder Klumpen
Steinkohle mindestens 9 Millionen Jahre alt wäre? Jetzt ist
großer Jubel nicht in Israel sondern in England. Bei Caithneß
in Schottland fand Laing in Erdhügeln (Monnds) Menschen-
knochen, Steingeräthe n. dgl. Berühmte Autoritäten der Wissen-
schast, wie Hnrley und Owen, wurden zu Rathe gezogen;
die Monnds wurden mit der größten Genauigkeit beschrieben;
das Geripp eines erwachsenen Mannes zeige ässenähnliche Be-
sonderheiten, und in Bezug auf die Kinnlade eines Kindes
erklärte Oweu, sie deute auf den Kannibalismus hin. In der
anthropologischen und in der ethnologischen Gesellschaft wurde
viel hin und her erörtert; beide sind bekanntlich einander spinne-
feind. Ju der jüngsten Versammlung der ethnologischen Gesellschaft
wurde vou mehren Mitgliedern behauptet, daß Alles, was über
den vorgeschichtlichen Charakter dieser Caithneß -Alterthümer
gesagt worden sei, lediglich ans Schwindel hinauslaufe. Der
Mouud im Hafen bestehe lediglich aus Tellermuschelu (Patelia)
und jener auf dem Friedhof aus Strandmondschnecken (Turbo
littoreus). Der Hafenhügel enthalte eine Weberscheere und sei
nichts weiter als eiue landesübliche Getreidedarre. Die Stein-
geräthe wiesen sich als ganz gewöhnliche Steinabsprünge und
Abfälle aus, dergleichen man ohne Mühe in jeder beliebigen
Menge, ganze Wagen voll, herbeischaffen könne. Die Birkle-
Hügel seien nicht etwa eine Stätte zum Opfern und zur Götter-
Verehrung gewesen, sondern Dünen, natürliche Erhöhungen, wo-
hin das Volk der Umgegend ging, wenn ein Wrack in Sicht war.
Das affenähnliche Geripp sei das Skelett eines dänischen Ma-
trosen und der Kannibalenkinnbacken des Kindes stamme ans
dem nahen Friedhofe. Unter den angeblich naturhistorischen
Ueberresten seien Münzen aus der Zeit König Wilhelms III.
gefunden worden. So verhalte es sich mit den „Monnds bei
Keiss." „Die Wissenschaft wird, trauern, die Orthodoxie wird
jubeln über so himmelweit verschiedene Erklärungen desselben
Erdtheilen.
Gegenstandes." So sagt ein englischer Berichterstatter; wir sehen
aber nicht ab, was dabei zu trauern ist, wenn hervorragende
Männer der Wissenschaft irren; das ist schon oft vorgekommen.
Die Orthodoxen haben auch keinen Grund Triumph zu schreien,
denn daß das Menschengeschlecht älter ist als die Erschaffung
der Welt nach der Jüden Rechnung, das müssen doch auch sie
gelten lassen.
Die Steinkohlen-Noth.
Es scheint, als ob ein panischer Schreck in die europäische
Menschheit gefahren sei, nachdem ihr unwiderlegbar nachgewiesen
worden ist, 'daß und wann unsere Steinkohlenvorräthe erschöpft
sein werden. Unsere Generation freilich wird noch Brennstoff
genug haben, aber man denkt doch mit Schaudern daran, was
aus der Gewerbfamkeit, dem Handel, dem Ackerbau, kurz aus
dem ganzen Erwerbs- und Gesellschaftsleben, aus unserer so
hoch gesteigerten CivilisatioN werden soll, wenn einmal die
Kohle ausgegangen sein wird. Dann kann allerdings eine ganz
radikale Umwandlung aller Verhältnisse gar nicht ausbleiben.
Was soll z. B. mit den Lokomotiven und mit den Eisenbahnen
geschehen? Ueber Holznoth klagt man ohnehin schon längst. Mit
dem „Füllen der Sonnenwärme auf Bouteillen" wird schwerlich
viel auszurichten sein.
In Folge des Aufsatzes über Steinkohlen und
Sonnen wärme (Globus IX, S. 242 ff.), haben wir einige
Anschriften erhalten, in denen verschiedene Surrogate vorge-
schlagen werden, z. B. „Luft", oder „Wasser", oder — „Steine"!
In den folgenden Sätzen, die uns aus einer südlichen Provinz
Deutsch-Oesterreichs zukamen, wird auf Ebbe und Flut hin-
gewiesen; leider sind aber Orkane, Sturmfluten und viele andere
Umstände, welche der Anwohner der See und der Strommün-
düngen sehr wohl kennt, nicht in Betracht gezogen worden. Und
wenn auch Ebbe und Flut Ersatz bieten könnten, so würden
doch z. B. Mittelmeer, Ostsee und viele andere Wasserbecken,
welchen die Gezeiten fehlen, leer ausgehen.
Es heißt in jener Zuschrift: — „Wenn es auch eine Un-
Möglichkeit ist, „die ganze Fabrikation für den Weltbedarf," wie es
in 'jenem Aufsatze heißt, an den Ufern des Niagara zusammen-
zudrängen, um desseu Kraft unmittelbar oder mittelbar zu be-
nützen,'so wäre eine Verlegung eines guten Theils unserer Kraft
und Brennstoff abforbirend'en Fabriken an die Küsten des Meeres
nicht undenkbar. Auf welche Art und Weise nun die Ebbe und
Flut des Meeres als bewegende Kraft nutzbar gemacht wer-
den könnte, soll hier nicht untersucht werden (— das wäre
aber doch die Hauptsache —); derlei Arten und Wege gibt es
wohl manche. Daß es hierbei weniger als bei unseren jetzigen
Maschinen auf einen möglichst geringen Kraftverlust ankäme,
ist klar, wenn man die unendliche Kraftfülle, welche hier um-
sonst zu Gebote steht, berücksichtigt. Bei den meisten unserer
jetzigen Maschinen kostet jeder Grad Wärme oder jedes Fuß-
psuud, was auf dasselbe hinausläuft, Geld, und wird um so
kostspieliger, je näher die Möglichkeit einer Erschöpfung des
Kohlenvorraths rückt. An unseren Küsten werden täglich mit
einer Sicherheit und Regelmäßigkeit, die weit über die Kraft
des Windes oder die der fließenden Gewässer geht, Millionen
von Centnern gehoben und uns gratis zur Disposition gestellt."
In England findet man die Aussichten auch bedenklich und
eifert mit Recht gegen die ganz unvernünftige Vergeudimg vyn
Breunstoffen. So in diesen Tagen die „Railway News". Es
ist berechnet worden, daß die Dampfkraft, welche im Ver-
einigten Königreiche jetzt verwandt wird, die Kraft von nicht
weniger als 400,000,000 Menschen ersetze. Das ist
doppelt so viel, als erwachsene Männer auf dem Erdball leben.
Die Verbrennung von 2 Pfund Kohle gibt Kraft genug, um
einen Menschen vom Meeresspiegel bis zur Gipfelhöhe des
Moutblanc zu erbeben. Bei zweckmäßig gebauten Maschinen
müßte 1 Psuud Kohle 1,000,000 Pfund einen Fuß hoch heben
können. Die Dinge liegen aber so, daß nicht ein Drittel von
der in der Kohle befindlichen Kraft zur wirklichen Benützung
kommt, und daß 30 Mal mehr Kohle unnütz vergeudet wird.
Auch iu den Hüttenwerken ist die widersinnige Verschwendung
himmelschreiend; sie beträgt iu vielen Fällen zwei Drittel. In
den Wohnhäusern sieht es noch viel schlimmer aus. In Groß-
britannien und Irland werden im häuslichen Gebranch etwa
30,000,000 Tons Kohle verwandt, also mehr als 20 Centner
auf jeden Kopf. Bei zweckmäßigen Fenernngsapparaten würde
ein Viertel dleses Quantums dieselben Dienste leisten —
Herausgegeben von Karl Andres in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meher in Hildburghansen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Aus Kvingstone's Reisen am Sambesis aus dem Uyassa-Sce
und dem Rasuma-Strome.")
i.
Hydrographischer Charakter des Sambesi-Stroms. — Allgemeine Zerklüftung und Barbarei. — Die Mündungsgegend, das Delta
und dessen Verzweigung. — Der Kongone. — Die Region des Mangrovegebüsches. — Sandbänke und Fieber. — Der Sklaven-
räuber Marians und dessen Fehde mit den Portugiesen. — Keiu Handel ans dem Strome. — Mutu. — Die Sulu- Kaffern. —
Bei Schupanga und Schamoara. — In Sena. — Freundliche Portngieseu. — Ein Stamm von Hippopotamusjägern. — Die
Lupata- Schlucht. — In Tete. — Verschiedene Arten von Doetoren. — Feierlichkeit bei Hochzeiten. — Hüttenball. — Schmiede
am obern Sambesi.
Man hatte lange Zeit die Ansicht festgehalten, daß der dafür liefern, daß dieser Strom nicht als eine solche
Sambesi eine bequeme Fahrstraße bis tief ins Innere betrachtet werden könne. Es verhält sich damit ähnlich wie
von Südostafrika bilde. Livingstone behauptet das auch
heilte noch, obwohl seine eigenen Untersuchungen den Beleg
J Narrative of an expedition to the Zambesi and its
tributaries; and of the discovery of the lakes Shirwa and
Globus X. Nr- 6.
mit den meisten anderen afrikanischen Flüssen. _ Der Nil,
welcher am äußersten Oftrande strömt, macht in gewisser
Nyassa. By David and Charles Livingstone, with Map
and lüustrations. London 1865. xvi und 608 Seiten. Etwa eill
21
162 Ans Livingstone's Reisen am Z
Beziehung eine Ausnahme; auch er hat Katarakten und
Stromschnellen, ist aber jenseits derselben auf sehr weite
Strecken hin schiffbar. Den Senegal kann man bis zu den
Wasserfällen von Gnina befahren; der Zaire - Congo eignet
sich noch nicht zu einer Handelsstraße; die Ströme der ge-
sammten Capregion sind nicht schiffbar, der Rofnma ist
seicht, und die übrigen ostafrikanischen Ströme, z.B. Dana,
Dschnb:c. haben nicht genügende Wasserfülle oder nicht
die erforderliche Tiefe. Bleibt der Niger, welchen wir seit
zehn Jahren näher kennen, und er ist für die Schifffahrt
besser geeignet als der Sambesi. Doch sind auch auf ihm
europäische Fahrzeuge nur bis Bussa gekommen; 409 Mei-
len seines Laufes liegen beinahe tobt und doch ist an ihm
ein ganz anderes Leben als am Sambesi; dort sinden wir
wenigstens Staaten und Herrscher und eine gewisse
Kultur, wenn auch eine sehr tiefstehende, Wiedas bei Neger-
Völkern uicht anders sein kann. Aber der Mohammedanis-
mns hat eine gewisse Ordnung geschaffen, auch sind in der
Nigerregion Städte vorhanden und die Haudelsverbiudun-
gen sehr ausgedehnt.
Das Alles fehlt der Region des Sambesi. Hier
finden wir überall die nackte afrikanische Barbarei. Am
rechten Ufer des Stromes ziehen Snln- Kaffern umher; sie
treiben Raub und Viehzucht. Am Strome selbst, der ein
verwickeltes Delta hat, liegen einige portugiesische Ansied-
lnngen, sämmtlich im Verfall; weiter hinauf leben Neger-
stamme, in viele kleine Theile zersplittert, selbst ohne den
Instinkt des Zusammenhaltens; weiter aufwärts, nach
Osten und Nordosten hin, sind vom Süden her die Mako-
lolo, ein Stamm der Betschuanas, bis über den Tschobe
und an den Lyamba'i (obern Sambesi) vorgedrungen und
haben einer Anzahl von Negerstämmen, welche mit dem
Gesammtnamen der Makalaka bezeichnet werden, ihr Joch
auferlegt. Von Staat und Städten ist auch bei ihnen keine
Rede; sie haben einen Häuptling und ihre „Capitalen"
Sescheke oderLinyanti, große Dörfer, in welchen zeitweilig
4090 bis 6000 Menschen versammelt sind. Am Nyassa-
und am Schirwa - See, dann auch am Schirefluffe ist nicht
minder Alles in kleine Horden und Stämme zerklüftet;
dort hausen zumeist splitternackte Neger, deren einzige Be-
kleidnng ein Holzklotz in den Lippen ist. Im Vergleiche
zu diesen Urbarbaren im vermeintlichen Missions- und
Baumwollenparadiese siud die äquatorialen Länder Uganda,
Ugogo und Karagneh, welche Speke näher geschildert,
wahre Kultnrgegenden, so wild und grauenhaft es auch iu
ihnen hergeht; sie haben wenigstens Herrscher und eine
Drittel des Buches ist werthvoll, der Rest dagegen breit, lang-
weilig, voll von müssigem Geschwätz und die Beschränktheit und
Urteilslosigkeit des Reisenden in einer nicht selten bedauerns-
würdigen Weise dokumentirend. Die von Seiten anderer Mis-
sionäre erhobenen Anklagen über den Leichtsinn, mit welchem er
in England viele Leute bewog, nach Südafrika, in das an-
gebliche Missious- Ultd Baumwollenparadies, zu gehen, siud
uuwiderlegt geblieben. Sie zogeu in die angeblich gesunden Ge-
genden und fanden „klimatische Pestlöcher"; wo sie hinweg-
starben „wie die Fliegen". Atls der Baumwolle ist so wenig
etwas geworden, wie aus deu Missionen; trotzdem darf Living-
stone es wagen, auch iu diesem Buche seilte alten, windigen
Spiegelfechtereien zum Besten zu geben, und daß er sich bemüht
habe/ Junerafrika den „civilizing influenees der Religion und
des Handels" zu offnen. Er hat schon früher in England selbst
die schärfste Kritik erfahren, und wir verweisen in dieser Be-
Ziehung auf die ausführlichen Mittheilungen, welche wir Globus
Hl, S. 185 ff.) gegeben haben. In den obigen, Mittheilungen
halten wir uns natürlich nur an das, was sich ans Länder-
und Völkerkunde bezieht, als geographischer Entdecker ver-
dlent der Manu alle Achtung. Damit sollte er zufrieden se'N
und die Baumwollen- jc. Donauixoterien bei Seite lassen.
mbesi, auf dem Nyassa-See :c.
gewisse Ordnung. In den von Livingstone durchwanderten
Gegenden ist aber Alles, wir können sagen ein Urbrei, ein
Chaos von unentwirrbarer Anarchie bei den Negerstämmen
und von Wildheit bei Snlns und Makololo.
So sind die Zustände, wenn man sie mit der Prosa
des gesunden Menschenverstandes ansieht. Aber sie bieten
in anthropologischer Hinsicht manches Bemerkenswerte
dar, und wir srenen uns, südostafrikanische Gegenden, auf
welchen so lange ein Schleier lag, näher kennen zu lernen.
Livingstone's Erpedition, an welcher Di-. Kirf, R.
Thornton und des Reisenden Bruder, Charles Living-
stone („welcher den Anbau der Baumwolle aufmun-
tern sollte") Theil nahmen, segelte am 10.März 1858 im
Dampfer „Pearl" von England ab, nahm in Kapstadt den
Hydrographen Skead an Bord und erreichte im Mai die
Ostküste von Afrika. Sie wollten den Sambesi, dessen
Mündungen und Zuflüsse erforschen und sehen, ob dieselben
nicht als „Hochstraßen für Handel und Christenthum"
für den Bezug von Rohbaumwolle und den Absatz eng-
lischer Fabrikate benützt werden könnten. Der Sambesi
hat ein weites Delta; als die „Pearl" noch etwa eine
deutsche Meile von der Küste entfernt war, trat an die
Stelle des gelblich - grünen Seewassers eine schlammige
Flut; die Küste ist niedrig und mit Mangrovegebüsch
bestanden; hin und wieder sieht man sandige Stellen und
dort wuchern Schlingpflanzen, auch wachsen dort niedrige
Palmen. Der Eingang in das Delta ist schwer zu sinden.
Die „Pearl" steuerte zuerst iu den Lnaneh (Luawe);
sie hatte 9 Fuß 7 Zoll Tiefgang. Man setzte einen kleinen
Dampfer, dessen einzelne Theile man aus England mit-
gebracht hatte, zusammen, und mit diesem kleinen Schiffe,
„Ma Robert" genannt, wurde die specielle Untersuchung
begonnen. Der Hafen ist tief, aber von Mangrovegebüsch
eingefaßt; einige Miles aufwärts ist das Wasser süß, der
Luaueh aber doch nur ein Gezeitenstrom, der etwa 70 Miles
von seiner Mündung in Sümpfen uud Morästen ein Ende
hat. Er ist bisher als West-Luaueh bezeichnet worden
und man hielt ihn für einen Arm des Sambesi, dessen
Hauptstroni L u a b o oder O st - L u a b o geuannt wird. Nach
diesem wandten sich nun die beiden Dampfer.
Der Sambesi ergießt sich mit vier Mündungen
ins Meer; diese sind: der Milam b o, welcher am weitesten
nach Westen liegt, der Kongone, der Lnabo und der
Timbueh, welcher auch Muselo heißt. Iu der Zeit, da
der Strom über seine Ufer tritt, läuft ein natürlicher
Kanal parallel mit der Küste, windet sich durch Sumpf-
land und bildet eine Fahrstraße, auf welcher Sklaven von
Kilimane nach den Bayen von Meffangano und Nameara
oder an den Sambesi selbst geschafft werden. Der Knakua
oder Fluß von Kilimane liegt etwa 60 Miles von den
Mündungen des Sambesi entfernt; er ist lange Zeit für die
eigentliche Einfahrt zu diesem letztern ausgegeben worden;
Livingstone meint, damit die englischen Kreuzer, welche
den Sklavenschiffen auflauerten, irre geleitet würden. Wir
ersehen aber, daß er schon in älteren Geographien und auf
älteren Karten als Hauptmündung dargestellt worden ist,
und zwar iu einer Zeit, da die Engländer selber einen
sehr ausgedehnten Sklavenhandel trieben und ihre
Stadt Liverpool „aus Negerschädeln aufbauten", wie sich
einst, ich glaube Wilbersorce selber, ausgedrückt hat. Es
gab damals noch keine englischen Kreuzer. Das zu sagen
hat der fromme Mann Livingstone_vergessen!
Skead untersuchte drei Mündungen und überzeugte sich,
daß der K o u g o n e d i e b e st e E i n s a h r t gewähre. Der
Aus Livingstone's Reisen am (
Sambesi schwemmt eine ungeheuere Menge Sand aus dem
Innern herab. Dieser hat im Laufe der Zeit eine Art von
Vorgebirge gebildet, gegen welches der Wogendrang des
Indischen Oceans anprallt. So haben sich Stromriegel
(Barren) gebildet, welche dem Abfluß der Deltawasser im
Wege liegen und wohl die Ursache sind, daß sich Seiten-
ansgänge gebildet haben. Von diesen ist der Kongone
einer und zwar der am wenigsten unsichere; aus der Barre
befinden sich bei tiefer Ebbe nahezu 2 Faden (also nicht
über 12 Fuß) Wasser; dieses ist bei Springfluten 12 bis
14 Fuß höher. Die Barre ist schmal, die Fahrbahn schneidet
fast gerade hindurch und wenn auf Pearl Island einLeucht-
feuer wäre, könnten Dampfer sicher einfahren (doch nur
kleine und auch diese bei Ost-und Südostwind nur mit
Gefahr; — man sieht, der Kongone ist, was unsere dent-
scheu Seeleute als ein „faules Wasser" bezeichnen). Der
Ost-Luabo hat eine gute aber lange Barre, der man sich
aber nur bei Nordost - oder Ostwind nähern darf ; man
bezeichnet sie gewöhnlich als Barra Catrina. Portn-
giesen findet man erst 80 Miles von den Mündungen des
Sambesi entfernt. Die Namen, mit welchen die einzelnen
Ströme von den Eingebornen bezeichnet werden, beziehen
sich mehr auf das Laud als auf die Ströme. So heißt z.B.
die eine Seite des Kougoue Nyamiseuga und die andere
Nyangalule; das Wort Kongone ist der Name eines
Fisches und bezieht sich auf die Seite des natürlichenKanales,
welche in den eigentlichen Sambesi führt. Der Kongone liegt
5 Miles östlich vom Milambe oder deiuWestarme des Del-
ta's, 7 Miles westlich vomOst-Luabo, der seinerseits 5 Miles
vom Timbue entfernt ist. In jener Gegend waren nur sehr
wenig Menschen zu erblicken, und diese verließen beim Au-
blicke der Weißen ihre Nachen, um ins M a n g r o v e d i ck i ch t
zn flüchten. Dieses letztere reicht wohl 20 Miles stromauf.
Dann erscheinen große Farne, Palmengebüsche, wilde
Dattelbäume und die Milola, ein Hibisens mit großen
gelblichenBlnmen, aus dessen Rinde Seile bereitet werden,
die man namentlich bei den Harpunen zur Hippopotamus-
jagd verwendet. Auch der Pandanus tritt auf, und dann
und wann eine Guyava und ein wilder Citronenbanm.
Vom hohen Gezweig herab läßt der gestreifte Halcyon
seinen hellen Ruf ertönen; der prächtige Fischadler, llalie-
tus vocifer, sitzt hoch oben auf einein Baumast und ver-
danet seine Mahlzeit. Auch der Ibis fehlt nicht.
Auf jene Flora des Mangrovegebnsches folgen ans-
gedehnte Ebenen mit schwarzem, fruchtbaren! Boden. Hier
wächst das Gras über mannshoch, und von Jagd kann in
demselben keine Rede sein. Im Juli ist es trocken und
wird dann von den Eingebornen in Brand gesteckt. Da-
durch wird natürlich ein gesunder Baumwuchs unmöglich,
und nur einige wenige Baumarten, z. B. die Fächerpalme
und der Guayak widerstehen da und dort dem Feuermeer,
das alljährlich über diese Ebene hinwogt.
Nun gewahrt man auch einige Hütten am rechten Ufer;
sie liegen zwischen Bananen und unter Kokospalmen und
stehen auf Pfählen, weil der Boden sehr feucht ist; au jeder
befindet sich eiue Leiter. Hier gedeihen Reis, Bataten,
Kürbisse, Tomaten, Kohl, Schalottenzwiebeln, Erbsen, „ein
wenig Baumwolle" und etwas Zuckerrohr. Liviugstone
meint, daß sich die ganze Gegend vom Kongonekanal bis
jenseit Mazaro, 80 Miles lang und 50 breit, für den An-
bau des Zuckers vortrefflich eigue, „und wäre sie im Besitz
unserer Freunde vom Kap, so würde sie ganz Europa mit
Zucker versorgen." Dergleichen leichtsinnige Behauptungen
kommen in dem Buche uicht selten vor. Jene Gegend ist
nämlich so ungesund, daß dort kein weißer Mensch
dauernd leben kann, und da sie selbst mit Eingebornen so
linbesi, auf dem Nyassa-See jc. 163
schwach bevölkert ist, so würde es schwer sein, von dort
„ganz Europa" mit Zucker zu versorgen. Woher sollten
die Arbeiter genommen werden? „Das Land," so sagt der
Phantast selber, „ist nur äußerst spärlich bewohnt. Die
Leute schienen gut genährt zu seiu, doch machte sich bei
ihnen ein schreckbarer Mangel an Bekleidung bemerkbar
(tliere was a shivering deartli of clothing among them,
d. h. sie hatten rein gar Nichts aus dem Leibe); sie sind
meist sogenannte Colonos, Leibeigne der Portugiesen, fürch-
teten sich vor den Weißen nicht und staunten die Dampfer
an. Sie sind auf Handel erpicht; einige brachten Honig
und Wachs, die iu den Mangrovewäldern gesammelt
werden."
Die fahrbare Stromrinne des Sambesi ist vielfach
gekrümmt und im Vergleich zu der Breite des Stroms sehr
schmal; das gauze Flußbett scheint eine Reihen-
solge ungeheuererSandbänke zu sein, diebeiniedri-
gem Wasserstande mit nur 1 bis 4 Fuß Wasser bedeckt
sind. Der Hauptkanal läuft eine Strecke weit zwischen
der Sandbank und dem Ufer und hat in der trockenen
Jahreszeit eiue Tiefe von 5 bis 15 Fuß bei einer Strö-
mung von 2 Knoten in der Stunde.
Dieser Hauptkanal wird als Kuete bezeichnet. Von
ihm geht bei der Insel Simbo an der rechten Seite ein
Ann ab, welcher Doto heißt und iu den Kongone fließt;
ein anderer, Tschinde genannt, geht zur Linken. Bei
der Jusel Simbo mußte der Dampfer „Pearl" liegen
bleiben, weil das Wasser zn seicht wurde. Man lud
alle der Expedition gehörenden Güter ans und barg die-
selben, 40 Miles von der Mündung, auf einem gras-
bewachsenen Eilande. Der Dampfer fuhr nach dem Kap
zurück. Mau brachte dann die Güter stromauf (v. 18. Juni
bis 13. August) bis Schupauga und Sena. „Das Land
war durch Fehden zerrüttet , unser Gepäck in Gefahr, und
mehre unserer Leute waren, weil sie keine Beschäftigung
hatten (!), von der bösen Lnft desDelta's krank geworden.
Einige lernten hier zuerst afrikanisches Leben und asri-
kanisches Fieber kennen. Verschont blieben nur jene,
die unablässig auf dem Schiffe arbeiteten; sie wußten, in
welcher gefährlichen Lage ihre Gefährten sich befanden und
waren eifrig beschäftigt, bald fertig zn werden, um die-
selben zu erlösen."
Masaro ist ein Punkt in demSambesi, wo ein schma-
ler Fluß mündet, der zur Ueberschwemmungszeit mit dem
Kilimane in Verbindung steht. Dort waren die Portugiesen
im Kriege mit einem Mulatten, Namens Mariano, oder
wie die Eingebornen ihn nannten, Matakenyia, d.h.
welcher zittert, wie die Bäume beim Wehen des Windes.
Dieser Mulatte war eiu Sklavenjäger und hatte eine An-
zahl von Leuten im Solde, die mit Flinten bewaffnet waren.
Sie unternahmen Raubzüge gegen die Stämme im Nord-
osten und führten ihre Bente nach Kilimane. Dort ließ
Mariano die Sklaven durch seinen Schwager Cruz Eoimbra
verkaufen, und zwar an die Franzosen; von diesen wurden
sie als „freie Arbeiter" uach der Jusel Rounion gebracht.
Mariano's Scute vergriffen sich auch an portugiesischen Un-
terthanen und selbst an jenen im Dorfe Genna. Er selber
wurde vom Gouverneur als Bandit und Mörder bezeichnet
und galt allgemein für ein wahres Ungeheuer.
Liviugstone bemerkt hier: „Wie kommt es doch,
daß die Mulatten viel grausamer sind als die
Portugiesen? Die Thatsache steht fest, aber sie
ist unerklärlich." Unerklärlich allerdings für Jemand,
der von Anthropologie nichts versteht und nicht unbefangen
beobachtet, sondern von der Wahnvorstellung ausgeht, daß
alle Menschen „gleich" seien.
21*
Kriegsian; der Sulu-Kaffern zu Sena am Sambesi. (Nach Livingstone.)
Aus Llvmgstone's Reisen am Sambesi, auf dem Nyassa-See :c. 165
Tanz der Snlu-Kaffern (Landins) bci Schupanga. (Nach Livingstone.)
Auf dem Sambesi.
statt und traf dort einige ihm von früher her bekannte
Portugiesen; die Leichen der Gefallenen lagen umher und
verbreiteten Übeln Geruch. Man bat ihn, den arg vom
Fieber heimgesuchten Gouverneur im Dampfer mit nach
Schupanga zu nehmen und das sollte eben geschehen, als
die Nebellen von Neuem angriffen; die Kugeln flogen nach
allen Nichtuugeu umher. Mit genauer Roth schleppte man
den Gouverneur, der zum Gehen zu schwach war, au Bord;
die weißen portugiesischen Soldaten fochten sehr tapfer; als
manche der mit ihnen kämpfenden Schwarzen (natürlich alles
Sklaven, wie überhaupt in jenen Gegenden Afrikas, wo
der Begriff eiues freiwilligen Dienens und Helfens ein
absolut unbekannter Begriff ist) ins Wasser flüchte-
ten, jagten sie auch ihnen Kugeln in den Leib. Die Rebellen
zogen sich zurück und die Portugiesen faßten Posto auf einer
Insel im Sambesi. Beide Parteien lagen dann einander
wochenlang uuthätig gegenüber, weil die letzteren ihre ganze
(Nach Cioüigftonc.)
bracht und dauu 6 Miles über Land auf den Köpfen der
Schwarzen getragen bis zu einer Stelle an einem Flusse,
der in den Kuakua, d. h. deu Kilimane, mündet, welchen
man demnach nicht im strengen Sinne des Wortes zum
Delta des Sambesi rechnen kann. Aber dann und wann
bei höchstem Wasserstande können allerdings Kähne aus
dem Sambesi in den Kilimane vermittelst des schmalen
natürlichen Kanales Mntn gelangen. (Bei Hochflut ist
also doch der Kilimane zum Delta des Sambesi zu rechnen,
und wenn die alten Karten jenen Strom zu dem letztem
rechneten, so haben sie wenigstens nicht vorsätzlich „gelogen".
Haben wir doch erst in der neuesten Zeit jene südostafrika-
nischen Gegenden einigermaßen näher kennen gelernt.)
Das Wort Masaro bedeutet Mündung des Baches;
die Umgegend heißt Maruru und die Bewohner derselben
stehen weit nut> breit in übelm Ruf als kecke und höchst
unverschämte Diebe, sie sind aber brauchbare Schiffer und
166 Aus Livingstone's Reifen am <5
Mariano ging nach Kilimane, um sich mit dem Gouver-
neur auseinander zu setzen, wurde aber verhaftet und zum
Aburtheilen nach Mosambik gebracht. Inzwischen befehligte
sein Brnder Bonga die Bande, und die Fehde hatte Nim
schon eiu halbes Jahr lang gedauert. Als die Expedition
in Masaro ankam, hatten die Sklavenräuber sich dort
gelagert. Livingstone erzählt, daß sie ihn sehr freundlich
begrüßten; nachdem er ihnen den Zweck der Reise erzählt
und ihnen auseinander gesetzt habe, daß er dem Sklaven-
Handel ein Ende machen wolle, hätten sie ihren Beifall
geäußert (they warmly approved our objects), indem sie
sehr wohl gewußt, wie die englische Nation über die Sklaven-
frage denke. Also höchst humane Sklavenräuber im Dienst
eines Ungeheuers, — wenn die Sache sich in der That so
verhält.
Bald nachher fand ein Gefecht bei Masaro statt. Living-
stone begab sich nach Beendigung desselben auf die Wahl-
nbesi, auf dem Nyassa-See:c.
Munition verschossen hatten und auf neue Zufuhr warteten.
Als diese angelangt war, griffen sie wieder an, verbrannten
Marianus Verschanzung und Bonga machte Frieden.
Von der Greuze der oben erwähnten Mangroveregion
bis nach Masaro, etwa 69 bis 79 Miles, liegt zu beiden
Seiten des Flusses eine weite mit hohem Grase bewachsene
Einöde; sie ist unbewohnt und Bäume treten höchst selten
und spärlich auf. In der Nähe von Masaro wird die
Gegend etwas besser; zur Linken erhebt sich der bewaldete
Kamm des Schupauga und weiterhin steigen blaue Berge
empor.
Von Masaro bis zur Mündung findet auf
dem Sambesi gar kein Handelsverkehr statt.
Alle Maaren, welche von den weiter stromaufwärts liegen-
den portugiesischen Niederlassungen Sena und Tete herab-
kommen, werden in großen Kähnen bis nach Masaro ge-
Aus Livingstone's Keifen am Sambesi, auf dem Nyassa-See 4C.
167
werden als Matrosen auf den Kähnen benützt, welche
zwischen Masaro, Sena und Tete fahren.
Die Land ins, d.h. die Snlu-Kaffern sind Herren
und Gebieter in dein Gebiet am rechten User des Sambesi,
und die Portugiesen zahlen diesem kriegerischen Volk einen
Tribut. Regelmäßig in jedem Jahre erscheint eine bewaff-
nete Menge in Schnpauga und in Sena, um Kriegstäuze
aufzuführen und um die Gabe abzuholen, und die wohl-
habenden Kaufleute klagten über die schwere Last. Sie
müssen nämlich den Suhls 209 Stücke Baumwollenzeuges,
jedes von 60 Dards Länge, geben; dazu noch Draht und
Glasperlen. Sie stehen sich aber dabei immer noch besser,
als wenn sie mit diesen Barbaren Krieg zu führen hätten.
Je weiter man den Ackerbau ausdehnen wollte, um so höher
würde der Tribut fein müssen.
In Schnpanga befindet sich ein steinernes Wohn-
haus und dieses besteht lediglich aus dem Erdgeschoß; es hat
aber eine sehr hübsche Lage am Flusse, der hier mehre grüne
Inseln bildet. Nach Norden hin sieht man bestellte Aecker,
weiterhin stehen Palmen und andere tropische Bäume, ans
weißem Gewölk steigt das Mosambalagebirg empor
und in weiter Ferne gewahrt man noch andere Höhenzüge.
In jenem steinernen Hause starb 1826 Kirkpatrik, der Be-
gleiter Capitän Owens, am Fieber und auch Livingstone's
Gemahlin ist in demselben gestorben.
Die Expedition wurde iu Schupauga von den Portu-
gieseu ungemein freundlich aufgenommen, und sie können
Dampf gab, und obendrein verzehrte er ungemein viel Holz.
Die großen Kähne der Eiugebornen konnten, obwohl schwer-
beladen, so rasch aus der Stelle kommen wie die „Ma
Robert", und die kleineren gewannen bald einen beträcht-
lichen Vorsprung.
Dicht unterhalb der Mündung des Schire in den Sam-
best liegt Schamoara und dort wurde gerastet, weil man
Holz fällen mußte. Die Quarzberge sind mit hohem
Gras und Bäumen bewachsen. Mariano's Bruder, der
schon oben erwähnte Bonga, machte hier den Reisenden
einen Besuch , benahm sich sehr gut und versprach, daß
er der Expedition keinerlei Hindernisse in den Weg legen
werde. ^ Er gab ihr Reis, Hümmel und Holz zum Geschenk.
Die „Ma Robert" konnte nicht nach Sena fahren,
weil dieser Ort au einem nicht tiefen Arme des Stromes
liegt, und mußte vor dem Weiler Nyaruka Anker werfen.
Von dort gingen die Reisenden 6 Miles weit zu Fuße nach
Sena und zwar im Gänsemarsch, aber bei frischer kühler
Luft. Ihnen begegneten viele Männer, die mit Lanzen
oder alten englischen Musketen bewaffnet waren, und
Frauen, die kurzstielige Hackeu trugen, um aus dem Felde
zu arbeite,i. Alle grüßten höflich, die Männer, indem sie
sich die Lenden rieben, die Frauen, indem sie Kuixe machten.
„A curtsey from bare legs is startling!" ruft Liviug-
stone aus.
Seua oder Senua liegt in einer niedrigen Fläche am
rechten User und ist mit einem Zaun von lebendigen Bäumen
Harpunen" zum Fangen des HippopotamnS.
doch wohl nicht so verworfen sein, wie sie von Livingstoue
an mehren Stellen seines Buches geschildert werden. Ge-
steht er doch selbst, daß sie allesammt ihre Bereitwilligkeit
ausdrückten, den Reisenden iu jeder Beziehung förderlich
zu feiu. Ja sie ließeu durch ihre Leute, Sklaven natürlich,
Holz fällen, damit es dem Dampfer nicht an Brennstoff
fehle und halfen beim Umladen der Güter. Keiner von
ihnen kannte die Kongonemündnng des Sambesi.
vr.Kirk hat einen kleinenSee erforscht, der20Miles
südsüdwestlich von Schupauga liegt.
Der Kessel des Dampfers wurde mit Ebenholz und
Guayakholz geheizt; das letztere wird im Stamme so dick,
daß der Durchmesser nicht selten 4 Fuß beträgt. Gewächse,
welche Kantschnck geben, sind in der Umgegend in Menge
vorhanden, und der Indigo wächst wild oder vielmehr ver-
wildert, denn früher ist er aus dieser Gegend erportirt
worden.
Am 17. August 1858 trat Livingstoue die Fahrt von
Schnpanga stromauf nach Tete oder Tette an; sie war aber
sehr beschwerlich, weil der Sambesi bis Seua hinauf sehr
breit und voll von Inseln ist. Der schwarze Pilot gerieth
oftmals in unrichtiges Fahrwasser, und wenn er darüber
hart angelassen wurde, drohte er mit Fortlaufen. Wenn
Sklaven zu deu Landius entrinnen, werden sie nicht aus-
geliefert; diese Sulu-Kafferu behalten solche Waare selbst.
Der Dampfer war iu jeder Beziehung schlecht und
mangelhaft; man mußte vier Stunden lang heizen, ehe er
umgeben, welcher als Schutz gegeu die unruhigen Nachbarn
dieucn soll. Neben einigen größeren Häuseru liegen andere
in Trümmern; man sieht auch ein Kreuz, das durch dieZeit
gelitten hat; neben demselben hat vor Zeiten einmal eine
Kirche gestanden; auf einem Hügel erhob sich ein Kloster,
das nun auch verschwunden ist, und das Fort am Fluß
befindet sich in einem so verwahrlosten Zustande, daß das
Vieh auf den Mauertrümmern grast. Wenn ein Feind
erscheint, bleibt die schwarze Garnison ruhig im Ort und
die Kaufleute mögen sehen, wie sie sich mit demselben
abfinden.
Eigentlichen Handel hat Sena gar nicht; die Kanflente
schicken von ihren Sklaven diejenigen, aufweiche sie sich
verlassen können, ins innere Land auf die Jagd und zuy:
Einkaufen von Elfenbein. Der Ort ist in hohem Grad
ungesund; wer sich am ersten Tage seines Verweilens dort
das Fieber noch nicht zugezogen hat, bekommt es am zweiten
ganz gewiß. Livingstoue fand dort einen vortrefflichen
Mann, Senhor H. A. Ferrao, dessen Gastfreundlichkeit,
Güte und Wohlwollen gegen Jedermann des höchsten
Lobes würdig sind. Bei ihm unterhielt sich der Reisende
mit den angesehensten Bewohnern Sena's; diese seien der
Ansicht, daß die freien Arbeiter Baumwolle in Menge
bauen würden, wenn sie nur Käufer finden könnten (Käufer
für Rohbaumwolle sind bekanntlich in Menge vorhanden,
und die Ostafrikaner würden an den Engländern Abnehmer
finden; sie liefern aber keine Baumwolle). Die Männer
Aus Livingstone's Reisen an: c
vonSena hatten ferner gesagt: „Auf ihrem eigenen Grund
und Boden arbeiten die Eingebornen gern und treiben auch
Handel, vorausgefetzt, daß dies Vortheil abwirft; wenn die
Schwarzen ihr Interesse dabei finden, arbeiten sie hart."
Livingstone vergißt zu sagen, daß neun Zehntel aller wirk-
lichen Arbeit von den Frauen der Schwarzen geleistet
Werden muß. Die freien Ostafrikaner würden gewiß Vor-
theil dabei finden, wenn sie Produkte auf die Märkte
brächten, das thun sie aber mit nichten, und fo bleibeu die
Erpectorationen des Reifenden ganz müssig.
Ein anderer Portugiese, Major Sicard, erbot sich groß-
müthig, die Expedition nach Kräften zu unterstützen und
ihr ganzes Gepäck nach Tete hinauszuschaffen, sobald wieder
Frieden im Lande sei. Der Mann hat Wort gehalten.
Sena gegenüber, am linken Ufer, steigt eine malerische
Hügelreihe empor, welche sich fast parallel mit dem Flnffe
weit gen Norden hinzieht. Dort traf Livingstone die erste
mbesi, auf dem Nyassa-See :c. 169
beschäftigt; einige flochten großeKörbe, in welchen Getreide
aufbewahrt wird. Der Häuptling ließ zuvorkommend eine
Matte ausspannen, unter welcher die Reisenden Schutz
gegen die Sonne fanden, und dann zeigte er ihnen die
Waffe, mit welcher das Flußpferd erlegt wird. Sie besteht
iu einer kurzen, eisernen Harpune, an welcher eine lange
Stange befestigt ist; um diese ist ein sehr festgedrehtes Seil
aus Paudannsfafern gewickelt. Zwei Jäger besteigen
einen leichteu Kahn und rudern leise an das schlafende
Thier hinan. Während der eine die Harpune schleudert,
bewegt der andere mit seinem Ruder und fo rasch als
möglich den Kahn nach rückwärts. Sobald die Harpune
ins Fleisch eindringt, löst sie sich vom Schaft ab und das
Seil rollt sich ab. Manchmal ist an derselben eine Blase
befestigt, welche anzeigt, wo das Flußpferd sich befindet.
Diese Hippopotamnsjäger bilden einen ganz separaten
Stamm. Sie heißen Akombni oder Mapodso und
Frauen am Sambesi bei der
Kudu - Antilope (A. strepsiceros). Die Flußinsel Pitci
hat eine zahlreiche, wohlgenährte Bevölkerung. Ein Mu-
latte, welcher sich für das Oberhaupt ausgab, erschien am
Bord und überreichte eiuige grüne Maiskolben als Se-
gnati. Ein solches ist kein Geschenk in gewöhnlichem
Sinne, fondern eine geringe Gabe, für welche derEmpfän-
ger mindestens den doppelten Werth als Gegengeschenk
überreichen muß. Wenn ein Eingeborner ein zähes, mageres
Huhn hat, das unverkäuflich ist, weil man für zwei Yards
Kattun ein Dutzend der besten Hühner bekommen kann, so
bestimmt er jenes zähe Huhn zu einem Segnati und ver-
werthet dasselbe. Er wird jede Bezahlung ablehnen, denn
er spekulirt aus das Doppelte.
Oberhalb Pita liegt die Insel Nyamotobsi. Dort
lebt ein kleiner Stamm, der von einer größern Insel ver-
trieben worden ist und beschäftigt sich vorzugsweise mit der
Jagd auf den Hippopotamus. Die Leute waren gerade sehr
Globus X. Nr. 6.
!ldarbeit. (Nach Livingstone.)
verheiraten sich selten, die Weiber niemals, mit Leuten
eines andern Stammes. Die Entfremdung zwischen ver-
schiedenen Stämmen hat ihren Grund darin, daß manche
gegen den Genuß des Fleisches vom Hippopotamns einen
eben so großen Widerwillen haben, wie die Mohamme-
daner gegen das Schweinefleisch. Der schwarze Pilot der
Erpedition gehörte zn den Äntihippopotamuseffern; er
hätte um Alles in der Welt keine Speise genossen, die in
einem Topfe gekocht war, in welchem einmal Fleisch vom
Flußpferd gewesen ist; aber er hatte keinerlei Abneigung,
mit Hippopotamnszähnen zu handeln und das Fleisch vom
Marabntvogel zu genießen, der sich von den widerwärtigsten
Unreinigkeiten nährt.
Die Hippopotamnsjäger machen oft weite Reisen; sie
laden dann Frauen, Kinder, Kochtöpfe und Matten in den
Nachen, fahren ab und bauen an Stellen, wo sie gute Aus-
ficht auf Beute haben, leichte Hütten am Ufer. Das
22
170 Aus Livmgflone's Reifen am <i
Fleisch trocknen sie in der Sonne. Sie sind wohlgestaltet,
haben eine feine, sehr schwarze Haut und entstellen sich nicht
durch die abscheulichen „Zierrathen", welche bei anderen
Völkern vorkommen.
Im August stieg die Hitze auf einen hohen Grad.
Wilde Thiere ließen sich nun in größerer Menge blicken,
namentlich Zebras, Pallahantilopen und Schweine. Am
rechten Ufer lag ein Ort, Schiramba Dembo, gauz ver-
ödet; ein paar alte eiserne Kanonen zeigten die Stelle an,
wo einst die Rebellen eine Verschanzung oder ein Pfahl-
werk gehabt haben. Etwas weiter aufwärts steht ein ganz
gewaltiger Baobab; der Stamm ist hohl und gleicht im
Innern einer uicht unbeträchtlichen Hütte. Es gehört zu
den Eigenthümlichkeiten dieses Baumes, daß er sowohl aus
der Außenseite, wie im Innern neue Rinde ansetzt und
ausbildet, nachdem man ihm die alte abgezogen hat.
Nun folgen die flachen und sumpfigen Ufergegenden
Schigogo und Schipanga; dann und wann sieht man
Gruppen von Palmen und einige stachelige Akazien und
der Strom gewinnt eine Breite von 3 bis 4 Miles. Die
Schifffahrt wird wegen der vielen Inseln sehr schwierig,
wenn nicht gerade der Wasserstand sehr hoch ist. Weiterhin
wird der Sambesi durch eine von Nordost herstreichende
Kette hoher Hügel in einen engen und tiefen Kanal
zusammengedrängt. Das ist die Lnpata-Schlncht; der
Dampfer kam hierdurch, weil er günstigen Wind zum Auf-
spannen der Segel hatte und die Strömung nur 3 Knoten
iu der Stunde betrug; schwer beladeue Kähne haben ein
paar Tage nöthig, um diese Schlucht zu Passiren. An den
kleinen Felsenvorsprüngen Tschifnra und Kangomba
bildet der Fluß gefährliche Wirbel; man muß dort die
plumpen Nachen der Eingebornen vermittelst starker Taue
fortbewegen, damit sie nicht scheitern. An diesen Felsen
opfern die Schiffer den Geistern, welche dort walten, etwas
Mehl, eingeborne Portugiesen nehmen den Hut ab und
beobachten ein feierliches Schweigen; sobald die gefähr-
lichen Stellen überwunden sind, feuern sie Schüsse ab und
geben der Mannschaft stärkendes Getränk. Iu dieser
Gegend sind Elephanten und Büffel in Menge vorhanden,
nicht minder die Tfetfe-Fliege. Oberhalb der Lupata-
Schlucht ist die Strömung heftiger als unterhalb, die
Gegend wird hübscher und ist auch besser bevölkert. In
der Nähe von Tete sah Livingstone manche steinerne
Häuser in Trümmer liegen; sie waren vor einigen Jahren
von feindlichen Eingebornen zerstört worden. Als der
Dampfer sich dem Dorfe (Tete nämlich) näherte, strömten
die Schwarzen herbei und staunten das qualmende Wnn-
der an.
Der Dampfer erreichte Tete am 8. September 1858.
Dort traf Livingstone die Makololo, welche ihn aus
seiner ersten Reise begleitet hatten und die hier zurück-
geblieben waren, um feine Wiederkunft abzuwarten. Es
war eine seiner Aufgaben, diese Leute wieder in ihre
Heimat zu bringen. Sie empfingen ihn mit Jubel.
Tete liegt am rechten Ufer auf niedrigem Sandstein-
Hügel; der Fluß hat 960 Yards Breite. Parallel mit
demselben laufen niedrige Schluchten durch die Hügel,
auf welchen die Häuser stehen; diese Schluchten bilden zu-
gleich die Straßen und diese waren, einen schmalen Pfad
abgerechnet, mit verwildertem Indigo bewachsen. Dieser
wuchert hier ebenso wohl als Unkraut, wie die Senna, der
Stechapfel und eine Art Cafsia. Das Regierungsgebäude,
in welchem die Erpedition Unterkommen fand, ist einstöckig,
steinern und mit Rohr bedacht; die Fensteröffnungen haben
rnbesi, auf dem Nyassa-See x.
statt des Glases Kattun und der Fußboden besteht aus
gestampfter Erde. Der innere Theil des Dorfes, in
welchem die Portugiesen und die, welche für solche gelten
wollen, ihre Wohnungen haben, ist mit einer Stein- und
Erdmauer umzogen; die Schwarzen wohnen außerhalb
derselben. Fort und Kirche stehen unweit vom Strome.
Die weiße Bevölkerung ist nur gering an Zahl und besteht
zumeist aus hierher verbannten „unverbesserlichen" Sol-
daten. Sie bekommen nur geringen Sold, nehmen schwarze
Frauen und lassen diese, nach Landesart, für sich arbeiten.
In Tete wird die Schlange verehrt, was auch echt-
afrikanisch ist; auch an der fernen Westküste spielt dieses
Thier eine göttliche Rolle. In Tete werden an jeder
Hütte, in welcher ein Kranker liegt, Schlangenbilder an-
gebracht, die gewöhnlich recht grausig aussehen. Wider-
sinniger Aberglaube, namentlich der Wahn über Hererei,
ist allgemein; wer sich das Haar schneidet, verbrennt das-
selbe oder vergräbt es an einer abgelegenen Stelle, damit
es nicht in die Hände eines Zanberes falle oder in jene
eines Menschen mit bösem Blicke, der dann Kopfschmerz
Herbeiheren könne. Kein Schwarzer wird einen Mango-
bäum pflanzen, weil das, wie er glaubt, unfehlbar seineu
Tod zur Folge haben würde. Wer einen Kaffeebaum
pflanzt, kann auf dieser Erde nie wieder Glück haben;
Kaffeetriukeu schadet aber nicht.
Sklaverei ist begreiflicherweise auch in dieser Gegend
allgemein und eine Hauptinstitution der Gesellschaft. Es
kommt nicht selten vor, daß Menschen in diesem über-
schwänglich fruchtbaren Lande aus Trägheit iu die äußerste
Dürftigkeit geratheu. Dann gehen sie zu einem beliebigen
Manne, zerbrechen vor diesem ihre Lanze und geben damit
symbolisch zu verstehen, daß sie fortan seine Sklaven sein
wollen. Es wäre widersinnig, anzunehmen, daß der
Urafrikaner mit dem, was ein Europäer als Sklaverei
bezeichnet, denselben Begriff verbände, wie wir. Er hat
ganz andere Vorstellungen, Begriffe und Bedürfnisse als
der weiße Mensch, und Livingstone stellt oftmals luftige
Behauptungen auf und phantastische Betrachtungen an,
Weil er diese Thatsache unbeachtet läßt; . ihm sind alle
„Kinder Adams" gleich.
Auch in Tete zeigen die Schwarzen einen lebhaften
Schachergeist, „mehr aus Liebe zur Sache, als des Gewinns
halber". Das Schachern erfordert bekanntlich keine An-
strengung und ist keine Arbeit. Der Neger hat vom
Werthe der Zeit keine Ahnung; was Zeitersparniß ist und
bedeutet, weiß er nicht; deshalb vertrödelt er mit dem
Verkauf eines Elephanteuzahus manchen Tag, bietet dein
portugiesischen Kaufmanne die Waare an, trägt sie wieder
fort und zieht das Geschäft recht in die Länge, „weil die
Schmeicheleien, welche der Käufer ihm sagt, ihm in seinen
eigenen Augen eine größere Wichtigkeit verleihen."
In Tete leben mancherlei wunderliche Doetoren. Da
ist der Elephantendoetor, der eine besondere Mediän
verfertigt; wer diese nicht kauft, ist außer Stande, ein
Thier zu erlegen. Der Krokodildoctor verkauft ein
Specifieum, welches den Inhaber gegen jegliche Gefahr
von Seiten des Flußungeheuers sicher stellt. Der Würfel-
doctor ist eine sehr wichtige Person, denn er gehört zur
löblichen Polizei und kundschaftet die Diebe aus. Er
begiebt sich an den Ort, wo etwas gestohlen worden ist,
wirft die Würfel und gibt nach Verlauf einiger Tage den
Dieb an. Nur selten greift er fehl, weil er viele geheime
Helfershelfer hat, die ihm jede Kleinigkeit hinterbringen.
Auch Musketeudoctoren fehlen nicht; ihr Talisman
macht den Inhaber zu einem guten Schützen. Daß
Regendoetoren vorhanden sind, versteht sich von selbst.
Aus Llvingstone's Reift,i am <
„Vortreffliche Baumwolle wird von den Eingebornen'ge-
pflanzt, aber nur in ungemein geringer Quantität; sie
verfertigen sich ein sehr grobes Zeug aus derselben; ein
Stamm in der Nähe pflanzt ein klein wenig Zuckerrohr."
Magneteisen und Steinkohlen sind iu der Umgegend
von Tete sehr häufig; die letztere hatte an einem Ausbiß
am Stromuser eine Mächtigkeit von 25 Fuß und brannte
vortrefflich. Zwei Tagereisen entfernt sammelt man Gold;
die Goldgegenden sind stets im Besitz unabhängiger Stämme
gewesen.
Die Portugiesen in Tete lieben den Trunk dermaßen
und siud auch anderen Lastern so sehr ergeben, daß man
sich wundert, wie sie überhaupt am Leben bleiben und nicht
alle vom Fieber hinweggerafft werden. (Dasselbe bemerkt
imbesi, auf dem Nyasfci-See je. 171
Bei Hochzeiten geht es lustig her. Die Neuver-
mahlten werden mit feierlichem Aufzug iu Machillas
getragen, d.h. in Hangmatten, die an Stangen ausgespannt
sind. Die Sklavinnen sind festlich aufgeputzt und rufen
dem jungen Paare Glück zu; die Sklaven feuern Musketen
ab. Hinter den Machillas gehen die näheren Freunde,
und sie nehmen sich im schwarzen Frack und Cylinderhnt
seltsam genug aus. So zieht man ins Haus und erquickt
sich mit Speise und Trank.
Es ist am Sambesi, wie auch in anderen Gegenden
Afrika's Brauch, daß der Hüttenbau eine Aufgabe der
Frauen ist, die Männer bemühen sich dabei nicht. Man
stellt eine Anzahl Pfähle so, daß sie einenKreis bilden, flicht
Rohr hindurch, bildet auf diese Art eine Wand und hat einen
Schmiede bei Simariligo am
Richard Burton mehr als einmal in seinem vortrefflichen
Werke über Westafrika und Livingstone sagt, seine Mako-
lolos hätten sich vor den Trinkgelagen der Portugiesen
entsetzt.) Gewiß bleibt, daß Tete keine Kulturstadt ist,
denn es hat „keine Journale und keine Buchhandlung",
was wir unsrerseits sehr wohl begreifen, da es ein Dorf
ist, in welchem kein Dutzend ungemischte Weiße wohnen.
Livingstone's Klage ist also sehr übel angebracht. Mit
Salbung ruft er aus: „Wenn wir in einer solchen Um-
gebung geboren wären! Man zittert schon, wenn man nur
daran denkt." Er fand aber bei diesen Portugiesen eine
sehr freundliche und gastliche Aufnahme, die er auch nach
Gebühr rühmt. Zu bedauern bleibt allerdings, daß in
Tete „kaum ein Schulmeister vorhanden ist".
Sambesi. (Nach Livingstone.)
Thurm von 9 bis 10 Fuß Höhe. Zur Herstellung des Fuß-
bodeus wird die feste Erdmasse benutzt, aus welcher die Ter-
nuteuameisen ihre Hügel bilden, und diese knetet man mit
Kuhmist. So erhält man eine gleichmäßige Fläche, die keine
Sprünge hat. Darauf muß wohl geachtet werden, weil sich
in den Ritzen giftige Thiere einnisten könnten, namentlich
Tampans, deren Stich schmerzhaft ist und Fieber bringt.
Sobald dieser Thurm, welcher das Wohngemach bildet,
vollendet dasteht, beginnt man mit dem Oberbau, der einen
viel größern Durchmesser hat und eine auf Pfählen ruhende,
aus Rohr geflochtene Dachbedeckung bildet; unten läuft
dann noch eine gleichfalls ans Rohr hergestellte Verklei-
dung umher; sie hat etwas über halbe Mannshöhe. Die
Eingangsöffnung zur innern Hütte ist sehr'unbequem.
22*
172 Fr. Dentler: Die Kämpen
Livingstone maß eine solche und fand, daß sie am Boden
20, oben aber nur 12 Zoll hatte. Eine andere Oeffnung
ist nicht vorhanden und weder Luft noch Licht dringt ein.
Welche Atmosphäre!
Gleichfalls am obern Sambesi bei Simaringo fand
Livingstone ein paar Schmiede bei der Arbeit. Gewöhn-
lich verfertigen die Neger ihren Blasbalg aus zwei Ziegen-
häuten; hier bestand aber derselbe aus zwei kleinen runden
vischeu Nogat und Weichsel
Holzkisten, deren oberer Theil mit schlaffem Leder über-
spannt ist. In jeder Trommel oder Kiste steckt eine Röhre,
welche inmitten der Lederbekleidung steht. Diese letztere
wird vermittelst eiues Stabes auf- und abbewegt, fo ent-
steht ein Luftzug. Die Schmiede iu jener Gegend ver-
arbeiten nicht blos Eifen in ihrer rohen Weise, sondern auch
Zinn, welches sie vom Norden her aus dem Lande der
Mareudis erhalten.
Die Kampen zwischen Nogat und Weichsel.
Von Friedrich Deutler.
Wenn unser Auge über die Winterlandschaft der Kam-
Pen zwischen Nogat und Weichsel schweift und die ganze
Natur in ein Schneegewand gekleidet vor uns liegt, dann
ist weiter nichts sichtbar als eine große Ebene, die nördlich
von den bewaldeten Dünen der Frischen Nehrung,
südlich von der Elbinger Höhe und westlich durch eiu
blaues, im Horizont verschwimmendes Band, die Danziger
Höhe, eingefaßt wird. Hier ragen gigantische Stamm-
weiden empor, dort schlängelt sich eine entlaubte Weidetrift
von Gehöft zu Gehöft, dessen elegante, Wohlstand ver-
rathende Wohnhäuser nub strohgedeckte Scheunen ein ge-
fälliges, einladendes Aussehen gewähren.
Die Weichsel hat bei ihren Einmündungen ins Frische
Haff fast ähnlich wie der Nil bei seinem Ausfluß ins
Meer wohl 21) Wasserarme und 2 Hauptausströmungen:
die Elbinger Weichsel und die Nogat.
Viele dieser Arme sind nicht mehr schiffbar, andere ver-
fandeten zu einem breiten Graben und noch andere ver-
schwanden bis auf eine geringe Andeutung. Zwischen die-
sen Stromarmen, Ruinen genannt, liegen niedrige, mit
einem kleinen Erdwall umgebene Inseln oder Kämpen,
welche erst neuerdings bebant und kultur- und ertrags-
fähig geworden sind. Alle diese Arme und Kämpen
namentlich aufzuführen wäre zeitraubend und uninteres-
sant, deshalb überspringen wir diesen Punkt und verweisen
aus ein spezielles geographisches Handbuch.
Im Monat März, mitunter auch im April, schmilzt
der Schnee und nun erst gewinnt man eine Uebersicht über
diese Kämpen, welche jetzt deutlich hervortreten. Damit
beginnt auch ein Naturereiguiß, dem der Bewohner dieser
Landstriche mit bangem Herzen entgegenschaut. Dieses
ist der Eisgang.
Allmälig wächst das Wasser und steigt bis zum kleinen
Erdwall empor. Droht es über denselben und aus deu
Acker zu laufen, dann werden sogenannte Düngerkasten *)
gelegt. Oft hilft Alles nichts — mit donnerähnlichem
Gekrach berstet die längst emporgehobene Eisdecke ausein-
ander, neue Fluten brausen, große Eisschollen mit sich
führend, heran und überschwemmen gar häufig 3 bis 8 Fuß
hoch diese Eilande. Da bleibt den: Kämpenbewohner nur
die Flucht iu sein höher gelegenes Gehöft übrig, woselbst
er schleunigst sein Vieh in Sicherheit, d. h. auf die Boden-
) Aus zwei, ein Fuß auseinander stehenden Brettern ge-
macht, welche vernüttelst ehücier Pfosten zusammengehalten und
mit Düuger gefüllt werden. '
räume der Wirtschaftsgebäude bringt. Ist das Haff
eisfrei, dann läuft das Wasser schnell ab; wenn aber eine
dicke Eiskruste auf demselben liegt, dann steigt die Flut
mehr und mehr und alle Kämpen gleichen einem riesigen
Landsee, aus welchem die einzelnen Gehöfte wie Inseln
hervorragen. Entsteht irgendwohin eine Strömung und
führt diese Eisschollen mit sich, so wird manches Gebäude
fortgerissen, manche schöne Besitzung versandet und zer-
trümmert. — Verschwindet das Wasser, wozu eine Menge
Schnecken*) aus den Kämpen errichtet werden, welche
das Wasser ausmahlen, und tritt die Alles belebende
Frühlingssonne hervor, dann kleidet sich die Landschaft
schnell in ein grünes Sommergewand. Hier belebt sich
das Rohr und der Ealmus, welcher an den Ufern der
Flüsse emporkeimt, dort schießt die Saat aus, der Roggen
wirft seine riesige fruchtreiche Aehre und die üppigen Oel-
fruchte bilden ihre Knospen; wenn die volle Vegetation
hervorgetreten ist, gleicht die ganze Landschaft einem
blühenden Garten, der von silberstreifigen Flüssen und
Gräben durchzogen ist.
Im Röhrigt kreischt die Rohrdommel, der ängstliche
Kibitz flattert umher lind aus anderen Stellen rauben sich
die Strandmöven und Fischreiher riesige Fische, die sie
gierig verschlingen, oder mit sich nehmen, um sie il>rer
jungen Brut zuzuführen. Noch andere Vögel werden
schaarenweife sichtbar, namentlich auf deu, unmittelbar am
Haff gelegenen Kämpen, wo sie umherflattern und in die
Fluten ihr buntes Gesieder tauchen, z.B. wilde Enten lind
Gänse, wilde Schwäne ?c.
Ganz nach den örtlichen Verhältnissen haben sich die
Stände aus diesen Kämpen herangebildet und mit diesen
ausschließlich: Bauern, Jäger, Fischer, Schiffer.
Dem Kämpenbauer fehlt nicht der ihm fast ange-
borne Stolz, welcher sich mit dem zunehmenden Reichthum
steigert, allein immer noch eine große Portion Gutmüthig-
keit zurückläßt. Entweder beschäftigt er sich ausschließlich
mit Viehzucht, Käfe - und Butterbereitung, oder mit Land-
Wirtschaft, namentlich mit Rips - und Rapsbau.
Das wachsende und fallende Wasser bildet auch wäh-
rend des Sommers den Kernpunkt der Unterhaltung, denn
nicht selten kommt kurz vor der Ernte durch Anwachsen des
Weichselstromes eine zweite Ueberschwemmnng, welche die
ganze Ernte zerstört. Man bezeichnet diese Ueberschwem-
*) Wasserschnecken in Windmühlenform.
Johann Jakob von Tschudi'
mung als Dominikwasser, nach dem Dominikusmarkte,
welcher um diese Zeit in Danzig abgehalten wird.
Viele Kämpenbewohner leben von der Jagd und sind
nur Sonntags und dann zu Hause anzutreffen, wenn sie
schlafen, oder der Ruhe pflegen; ihre ganze Ausdrucks-
weise ist mit Jagdausdrücken gemischt.
Schiffer und Fischer bilden fast einen Stand. Im
Sommer treiben die Leute zu Wasser Handel, im Winter
fischen sie.
s Reisen durch Südamerika. 173
Die Kämpenbewohner sind kräftig und muskelstark,
mittelgroß, fast immer blond. Mädchen und Frauen
haben regelmäßige schöne Gesichtszüge; bei Allen zeigt sich
Neigung zur Fettleibigkeit, die fast immer im 40. Lebens-
jahre beginnt und sich mit vorschreitendem Alter mehr uud
mehr entwickelt. Trotz der hier vielfach herrschenden
Wechselsieber erreichen viele dieser Menschen die hohen
Siebenziger.
Consessionell scheiden sich die Bewohner dieses Insel-
landes in Mennoniten und Protestanten.
Johann Jakob von Tschudi'
Von diesem ausgezeichneten Werke ist so eben, bei
F. A. Brockhaus in Leipzig, der erste Band erschienen,
reichlich mit Holzschnitten ausgestattet, sehr sauber, aber
leider mit manchen Druckfehlern, auch mit lateinischen
Buchstaben und ohne Colnmnentitel, die in hohem Grade
willkommen gewesen wären. Hoffentlich wird am Schlüsse
des vierten Bandes ein sorgfältiges Register beigefügt,
denn es handelt sich hier um ein Buch, das lange gelten
und auch nach vielen Jahren mit ungeschwächtem Interesse
gelesen werden wird.
Herr von Tschudi ist einer unserer ausgezeichnetsten
Reisenden. Vor einem Vierteljahrhundert erwarb er sich
durch sein Buch über Peru einen hochgeachteten Namen auf
beiden Erdhalben; er hat dann später, gemeinschaftlich .mit
Ribeiro, das von allen Gelehrten sehr geschätzte Werk über
die peruanischen Alterthümer herausgegeben und eine An-
zahl werthvoller Monographien veröffentlicht. Ueberall
dieselbe Gediegenheit und ansprechende Darstellung.
Die beiden ersten Bände sind einer Beschreibung der
Reise durch die brasilianische Provinz Minas geraes ge-
widmet; der dritte soll sich vorzugsweise mit den deutschen
Colonien iu den Provinzen Espirito santo, San Paulo,
Santa Cathariua uud San Pedro do Sul beschäftigen;
der vierte wird die Wanderung von Buenos Ayres, quer
durch Südamerika, nach Eobija, dem bolivianischen Hasen
am Stillen Oeean, einen Besuch in Chile und die Reise im
peru-bolivianischen Hochland enthalten.
Der erste Band hat uns dermaßen gefesselt, daß wir
uns gedrungen sahen, ihn ohne Unterbrechung bis ans
Ende durchzustudireu. Hier liegt über das vielgeschmähte
und vielgerühmte Brasilien eine Arbeit vor, die in jeder
Beziehung als mnstergiltig angesehen werden kann. Wir
sagen damit nicht zu viel. Herr von Tschudi ist als Rei-
sender so erfahren, wie nur irgend einer; er hat einen offe-
nen, scharfen Blick, er ist ein durchaus praktischer Mann,
der alle Lebensverhältnisse kennt und sie zu nehmen weiß,
wie sie für seine Absichten und Zwecke genommen werden
müssen. Dazu kommt seine gründliche und tüchtige Ge-
lehrsamkeit, welche er fruchtbringend zu machen versteht.
Alle seine Schilderungen sind klar, sein Sttyl ist gut; er
ermüdet nie, sagt Alles so kurz wie möglich uud versteht es,
auf geringem Räume eiue große Menge interessanten Stoffes
zu verarbeiten. Wir sind in diesem Band auch nicht aus
eine einzige Stelle gestoßen, die von irgend einem Vorur-
theile zeugte; wir fühlen überall heraus, daß es dem Mann
ein heiliger Ernst ist, die volle Wahrheit zu sagen; er be-
s Reisen durch Südamerika.
fleißigt sich in ehrenhafter Weise einer gleichvertheilenden
Gerechtigkeit; er spendet Licht oder Schatten nach Gebühr
und wir dürfen ihm glauben. So flößen die Urtheile,
welche von einem fo erfahrenen Beobachter ausgehen, volles
Vertrauen ein, auch da, wo es sich um politische Angelegen-
heiten handelt, oder um Interessen des Verkehrs, um
Zustände der Volkswirthschast, oder um anthropologische
Dinge.
Herr von Tschudi verließ Hamburg im Oktober 1857,
besuchte Pernambneo und Bahia und fuhr nach Rio de
Janeiro. Von dort begab er sich nach längerm Auseut-
halte über die Kolonie Petropolis nach Onro Preto, der
Hauptstadt der Provinz Minas geraes. So weit reicht der
erste Band.
Die Hauptstadt Brasiliens ist oftmals und sehr
ausführlich geschildert worden; wir kennen ihre Reize,
ihren Schmutz, ihr Klima, ihre gemischte Bevölkerung und
ihren Handelsverkehr. Aber man liest die Darstellungen
Tschndi's trotzdem mit Genuß uud mit Gewinn, weil er
überall den Erscheinungen eiue interessante und namentlich
auch eine praktische Seite abzugewinnen versteht. Er schätzt
die Zahl der Einwohner von Rio de Janeiro aus etwas
mehr als 300,000; bekauutlich ist sie die größte Stadt
von Südamerika,' der Hafen ist sicher, die Bay unver-
gleichlich schön, der Handelsverkehr auf etwa 325 Millionen
Francs gestiegen. Das ganze Leben und Treiben regsam,
das Hinterland Produktenreich, ein Streben nach geistiger
Entwicklung nicht zu verkennen, materielle Verbesserung
sichtbar. Aber dem Ganzen haftet doch immerhin noch viel
Unfertiges an, und einem germanischen Menschen ist der
romanisch-afrikanisch-indianische Schmutz von ganzer Seele
zuwider. Selbst der St. Annaplatz, auf welchen vier
Hauptstraßen einmünden und der im Mittelpunkte der
Residenz liegt, hat durchaus das Ansehen eines Schind-
angers.
Und wie in der Hauptstadt, so in der Provinz. Wir
lesen darüber ergötzliche Schilderungen. In der Stadt
Parahybnna kehrte Tschudi im Gasthos einer Mulattin
ein, die ihm eine unverschämt hohe Rechnung machte. In
derselben Herberge mußte ein Brasilianer für ein Huhn,
einen Teller Bohnen und Reis die Summe von — 50 Frs.
zahlen!
Im Dorfe Chapeo d'Uvas, wo, von Osten her, die
Attaleapalme zuerst austritt, lag eine Herberge mit der
Aufschrist 5 Casa de pastoj Hotel provincial. ,,Ju meinem
Zimmer, wenn überhaupt die offenen Gelasse, in denen
174 Johann Jakob von Tschndi'«
Betten für die Reisenden stehen, auf diesen Namen An-
sprnch machen dürfen, traf ich zum ersten Male seit
meiner Abreise von Petropolis einen Tisch. Zwar ragte
seine Höhe über das gewöhnliche Maß hinaus, ich konnte
aber immerhin stehend daran schreiben. Gewöhnlich findet
man in den Herbergen nur in dem Eßzimmer einen Tisch,
in den Gemächern für die Reisenden nur Betten, aber
immer so viele, als nur Raum darin haben."
Bei einem Fazendeiro (Gutsbesitzer), in dessen Hause
der Reisende ein Unterkommen suchen mußte, wies man
ihn barsch in den Cuarto. „Rechts vom Eingangsthor
war nämlich ein langes, niedriges Lehmgebäude in eine
Anzahl Cuartos, d. h. Löcher ohne Fenster, ohne Dielen
und ohne Decke abgetheilt. Ich stieg ab, und eine Negerin
brachte den Schlüssel zu Cuarto Nr. 1, wohl dem besten
von allen. Ich trat ein und fand zwischen den vier Lehm-
Wänden absolut nichts als ein namenlos ekelhaftes Geschirr
und einen unerträglichen Übeln Geruch. Unter freiem
Himmel konnte ich leider nicht schlafen, da es heftig regnete.
— In dem uebeu anstoßenden Cuarto brannte ein Feuer.
Sobald ich meine Thür fchloß, war mein Gemach mit
einem erstickenden Rauch angefüllt; wenn ich sie offen ließ,
wurde ich von einer Heerde hungriger Schweine überfallen,
die ich nur mit Mühe von meinem Lager fern halten konnte.
Ich zog aber doch diesmal den Rauch deu Schweinen vor
und fchloß die Thür; doch war vorerst an Schlafen nicht
zu denken. Aus de:u neben anstoßenden Cuarto drang ein
gräßliches Stöhnen, Winseln und Jammern zu mir her-
über. Ich war über dessen Ursprung nicht im Unklaren;
denn mein Camerada hatte mir gesagt, daß dort eine
krummgeschlosseue Negerin liege; der Aufseher habe eben
noch Holz hineingetragen und die Stricke fester angezogen.
Was nützten alle die traurigen Reflexionen, welche die ent-
schlichen Klagetöne des unglücklichen Weibes in mir her-
vorriefen? Helfen konnte ich nicht. Der Fazendeiro hatte
sich schon längst schlafen gelegt, ich konnte kein gutes Wort
für die Gefangene einlegen und war gezwungen, den un-
unterbrochenen Ausdruck eines qualvollen Schmerzes an-
zuhören. Wäre der Regen nicht in Strömen herunter-
gestürzt, — ich wäre keine Minute länger in dem Gemache
geblieben.
Endlich siegte die Müdigkeit. Aber nach kurzem
Schlummer wurde ich durch ein unangenehmes Kratzen im
Gesichte aufgeweckt; auch hörte ich ein lebhaftes Rasseln.
Bald war eine Wachskerze aus der bereit liegenden Sattel-
tasche hervorgezogen und angezündet. Das plötzliche Licht
erschreckte für den Augenblick ein paar Dutzend
riesenhafter Ratten, welche sich das Gemach zu ihrem
nächtlichen Tummelplatz ausgewählt hatten. Einige
glotzten mich verdutzt an, andere rannten gegen das Licht,
wieder andere suchten sich in verschiedenen Züchtungen zu
verstecken, und es gab einen Augenblick lang ein heilloses
Durcheinander. Nur zu bald kamen diese Eindringlinge
wieder zur Besinnung; sie fanden es wahrscheinlich zweck-
mäßiger, sich durch das schwache Licht nicht beirren zu lassen
und in ihrem Zerstjwmgswerke fortzufahren. Au zweien
meiner Lederkoffer hatten sie schon die Ecken angefressen,
auch das Riemenzeug meines Sattels und Zaumes an ver-
schiedenen Stellen angegriffen. Das war mir doch zu buut
und ich fühlte mich veranlaßt, die Offensive zu ergreifen.
Ich rollte mein Bett zusammen, setzte je zwei Koffer auf-
einander, postirte mich, mit einer langen Hetzpeitsche ver-
sehen, auf das eine Paar derselben und wehrte nun die
unverschämten Angriffe ab. Es war halb zwei Uhr; natür-
lich mußte auf den Schlaf Verzicht geleistet werden. Meine
Vorkehrungen hatten zum Theil die gewünschte Wirkuug,
's Reisen durch Südamerika.
die Koffer wenigstens wurden verschont. Zwar fehlte es
nicht an kecken Versuchen, sich ihnen zu nähern, aber die
Peitsche flößte doch meinen impertinenten Gegnern einigen
Respekt ein. Wenn ich die eine oder andere Ratte durch
einen wohlgezielten Hieb traf, so schnaubte und pfiff sie
ganz empört; ja einige sprangen mit gesträubten Haaren
nach der Peitsche. Einige verloren sich, während wieder
andere mit wunderbarer Behendigkeit längs der Dachbalken
hinunter rannten. Diese bewegte Seene wurde fortwährend
von dem herzzerreißenden Winseln der gefesselten Sklavin
begleitet. Nach zwei langen Stunden gab ich meinen:
Camarada das Zeichen, die Thiere von der Weide zu
holen, und bei Tagesanbruch verließen wir das traurige
Nachtquartier."
Mit Verstand, Einsicht und Billigkeit schildert Herr
von Tschndi die Charakterzüge der Bevölkerung
Brasiliens, und ganz richtig betont er, daß von einem
Nationaltypus bei den Brasilianern nicht die Rede sein
könne. „Denn eine seit Jahrhunderten an-
dauernde Rassenmischung einer schon gemisch-
ten Rasse, wie die Portugiesen es sind, mit Jndia-
nern und Negern in allen nur denkbaren
Kreuzungen, hat begreiflicherweise einen ein-
heitlichen physischen Typus nicht entstehen
lassen, und wo ein solcher fehlt, ist natürlich ein natio-
naler Charakter eines Volkes auch nicht denkbar. . Die
brasilianische Nation ist eine Vereinigung von Menschen,
die blos durch eiue bestimmte Regierungsform mit einander
verbuuden sind, nicht aber, wie die europäischen Nationen,
außer dieser auch noch dnrch gemeinsame Abstammung und,
durch diese bedingt, einen in gewissen Grundzügen überein-
stimmenden Charakter. — In Brasilien sehen wir nur
eine gemischte Abstammung über das ganze Land ver-
breitet. Allerdings haben die Bewohner von Rio grande
do Sul, die Paulistas, die Flumiuenses (d. h. Bewohner
von Rio de Janeiro), die Mineiros, die Perncunbucanos :e.
einen gewissen Anstrich von Nationalität, der auf gewissen
Lokalverhältnissen fußt und hauptsächlich Sonderinteressen
seinen Ursprung verdankt; aber er tritt zuweilen schars
hervor, und es drängt sich die Ueberzeugung auf, daß nur
diese unheilvolle, so tief durchgreifende Raffen-
Mischung einer gesunden, kräftigen Entwicklung der
Nationalität entgegentritt. Bei den Völkern Europa's
herrscht die Nationalität vor, in Brasilien die Jndi-
vidnalität, ähnlich wie im europäischen Walde die
Gattung vorherrscht und Bestände bildet, im brasilia-
uischen Urwald aber die Arten, zur bunten botanischen
Musterkarte vereint."
Unter dem Ausdrucke Brasilianer versteht Herr von
Tschndi nicht die Gesammtheit der Nation, sondern den
intelligentem Theil mit vorherrschend weißer Abstam-
mung. „Ich kann nicht, wenn ich vom geistigen, gesell-
schastlichen und staatlichen Leben der Brasilianer spreche,
den apathischen Indianer, den fauleu Caboelo,
den rohen freigelassenen Neger und den leicht-
fertigen Mulatten mit dem höher civilisirten Ein-
gebornen vorzüglich von romanischer Abstammung zu-
sammeuwerseu. Von einem Nationalcharakter kann man
nicht sprechen, weil er nicht existirt."
Grade in unseren Tagen, nachdem die Frage über die
Stellung der farbigen Menschen zu den Weißen
eine fo inhaltschwere Tragweite gewonnen hat, ist es von
hohem Interesse, zu hören, wie ein so erfahrener Anthro-
polog wie Herr von Tfchudi sich ausspricht.
Die farbige Bevölkerung ist aus der Mischung von
Johann Jakob von Tschudi'
Weißen, Indianern und Negern hervorgegangen. Nach
brasilianischer Nomenclatnr heißen die Abkömmlinge von
Weißen und Indianern: Mamelucos; von Weißen mit
Negern: Mulatos; vou Indianern mit Negern: Ca-
fusos; von Indianern mit Cafusos: ^ibaros. Diese
Mischungen kreuzen sich unter den verschiedensten Verhält-
nissen mit einander und mit den reinen Rassen. Das
geübte Auge des Brasilianers findet auch da noch Mischungs-
Verhältnisse heraus, wo der europäische Anthropolog
durchaus nicht mehr im Stand ist, dieselben zu bestimmen.
Ein Mulatte, dessen Vater ein Weißer, dessen Mutter eine
Negerin ist, unterscheidet sich für deu Rassenkenner deutlich
von einem Mulatten, dessen Vater ein Neger, die Mutter
aber eine Weiße ist, und das Nämliche gilt für die Mame-
lucos und Cafusos.
Manche „Farbigen" sind übrigens von den brasilia-
nischen Vollblut - Portugiesen kaum zu unterscheiden,
namentlich jene mit indianischer Mischung. Es ist
wiederholt behauptet worden, daß neun Zehntel der
Brasilianer von gemischter Abstammung seieu,
und gewiß sind nahezu vier Fünftel in diese Kategorie
einzureihen.
Die ersten Portugiesen brachten wenige Frauen ans
Europa mit und nahmen zumeist Indianerinnen. So
entstand eine beträchliche Menge von Mamelucos; und
dann kam durch die Neger „ein böses Element zur
Rassenmischung" nach Brasilien. „Die Erfahrung hat
in allen Ländern, in denen Sklaverei bestand oder noch
besteht, unwiderlegbar uachgewiesen, daß jede Rassen-
Vermischung mit Negern einen bedeutenden
Rückschritt einschließt. Man hat sogar behauptet, daß die
gemischten Abkömmlinge von Negern noch weit unter diesen
selbst ständen. Diese Angabe scheint mir nur zum Theil
begründet zu sein. Es steht wohl fest, daß die Kinder, welche
durch die Vermischung zwischen Negern und Individuen
einer begabten Rasse entstanden sind, an intellectnellen
Fähigkeiten ihren schwarzen Aeltern im Allgemeinen
bedeutend überlegen sind; weniger in rein mechanischen
Fertigkeiten; der Charakter der Mischlinge aber
ist durchschnittlich weit schlechter, als jener der
Neger. Es gibt vielleicht aus der Welt keine
verworfenere Menschenklasse, als die Misch-
linge von Negern und Indianern, diese Cafusos,
oder Zambos, wie sie im spanischen Südamerika genannt
werden. Sie sind um so schlechter, je tiefer der Jndianer-
stcimm steht, welchem der Vater oder die Mutter an-
gehörte."
Etwas besser sind die Mulatten. Es gibt unter
ihnen sogar ausgezeichnete Männer von hoher geistiger Be-
gabung, einem ausgezeichneten Wissen und einer vielseitigen
gründlichen Bildung, Männer, die als Politiker, Schrift-
steller, Künstler oder Feldherrn sich großen Ruhm erworben
haben. Das sind aber doch immer nur seltene Aus-
nahmen. Im Allgemeinen ist der Mulatte äußerst sinn-
lich, leichtfertig, leichtsinnig, meist arbeitsscheu, dem Spiel
und Trunk ergeben, rachsüchtig, hinterlistig und verschlagen.
Er ist zu Allem zu gebrauchen und liefert auf die Auklage-
bank der Schwurgerichte, in die Gefängnisse und das
Zuchthaus das größte Contingent. — Auch int Gesichte der
schönsten Mulattin ist keine Spur von edler Form zn ent-
's Reisen durch Südamerika. 175
decken. Die Nase ist immer breit, die Lippen sind mehr
oder weniger wulstig ausgeworfen, der Blick ist ohne Geist,
wohl aber feurig, sinnlich-herausfordernd, der Teint gelb-
braun und die Hautausdünstung von specififch ekelhaftem
Gerüche. Sie allein ist schon hinreichend, jede Illusion
recht gründlich zu zerstören. Unbegrenzte Eitelkeit und
wollüstige Sinnlichkeit sind die Grundzüge des Charakters
der Mulattenweiber. Viele sind, wie dies bei Bastarden
so gewöhnlich ist, unfruchtbar.
Einen Grad höher, als die Mulatten, stehen die Ma-
melueos (im spanischen Amerika Mestizos geheißen).
Sie sind numerisch stark vertreten, besonders aber Misch-
linge von ihnen und Weißen, und diese sind für ein unge-
übtes Auge, wie schou bemerkt, manchmal nicht vom Por-
tugiesen zu unterscheiden. In Bezug auf den Charakter
sind die Mamelucos den Mulatten vorzuziehen, trotzdem
bei ihnen die Rassenfehler der Indianer scharf genug her-
vortreten. Indolenz und Trägheit herrschen bei ihnen vor,
besonders unter Verhältnissen, in denen es ihnen an jeder
geistigen Anregung fehlt. —
Wir gehen heute auf Tfchudi's Schilderung der Neger
und der Sklavereiverhältnisse, über welche er sehr verstän-
dige Betrachtungen anstellt, nicht ein, wollen aber zum
Schluß die Beobachtung einer Naturerscheinung erwähnen,
welche der Reisende in der Provinz Minas geraes anstellen
konnte.
Es handelte sich um Irrlichter. Herr von Tschudi
stand bei einbrechender Nacht, Abends 8 Uhr, mit dem ihn
bewirthenden Fazendeiro vor der Hausthür. Ein paar
hundert Schritt entfernt floß der Parahyba, dessen jensei-
tiges Ufer stark bewaldet war. Die Luft, 4- 22° R., war
schwül; der Regen hatte den ganzen Tag angehalten und
dauerte noch fort. Plötzlich zog ein Licht, uns gerade
gegenüber im Walde, unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der
Fazendeiro rief sämmtliche Hausbewohner zusammen. Die
Lichterscheinung bildete einen intensiv rothen, runden
Feuerkern oder eine Feuerkugel (nicht ein längliches,
bläuliches Flämmchen, wie die Irrlichter gewöhnlich ge-
schildert werden), in der Farbe einer entfernt brennenden
Pechfackel ähnlich. Dieser Feuerkern schwankte auf be-
schränkten: Räume bald uach rechts, bald nach links, bald
stieg er etwas in die Höhe, bald senkte er sich wieder.
Plötzlich erschienen rechts von ihm 3 andere, aber schwächere
und etwas weiter zurückstehende sternartige Lichter; sie
näherten sich dem erstem, verschwanden für Momente, kamen
dann links zum Vorschein und erloschen bald darauf gäuz-
lich. Kaum eine Minute später erschienen rechts 2, links 5
und bald darauf vereinigten sich alle auf der linken Seite
des Centralkerns. Dann kamen sie hinter demselben nach
rechts zum Vorschein; einige erloschen, andere tauchten
wieder auf, fo daß ich zugleich 15, außer dem Hauptkerne,
zählte; dieser blieb am ruhigsten, aber auch am glän-
zeudsten. Das gauze Spiel dauerte 18 bis 20 Minuten;
ich konnte es also mit der größten Ruhe betrachten. Der
Fazendeiro erzählte schauerliche Geschichten, wie ihn diese
Lichter schon oft erschreckt und verfolgt hätten. Seit einem
Monate hatte man sie nun schon viermal gesehen, immer
zur nämlichen Stuude. An dem Orte, wo sie erschienen,
befindet sich im Wald ein schwer zugänglicher Sumpf. Ich
halte diese Erscheinung für sogenannte Irrlichter. —
176
E, Schlagintweit: Theatralisches aus Tibet.
Theatralisch
Von Emil >
Theater und Kirche, scheinbar zu einander im größten
Gegensatze, berühren sich doch unerwartet nahe. Um ein
Beispiel aus der Gegenwart zu nennen, sei der Passions-
spiele in Oberammergau gedacht, wo die ganze Leidens-
geschichte Christi dargestellt wird von Landleuten, die als
handelnde Personen auftreten und zum Theile wirklich
Vollendetes leisten; in ähnlicher Weise werden in Tyrol
Gegenstände der heiligen Geschichte theatralisch behandelt.
Wenden wir uns nun dein Mittelalter zu, so begegueu wir
in den „Mystöres" und „Moralins" demselben Bestreben
der Kirche, ihren Anhängern die Lehren ihrer Religion in
einer ihrer Fassungsgabe entsprechenden Form zu bieten;
für Kurzweil war gesorgt und die Bevölkerung strömte zu
diesen Darstellungen zahlreich hinzu.
In ähnlicher Weise ist in Tibet die unter fröhlichen
Tänzen vorgeführte Belehrung eine sehr wirksame; die
Laienwelt steht ohnehin noch auf einer Stufe der Civilis«-
tion, wie sie in Deutschland, schon im neunten Jahrhundert,
nur noch in einzelnen Gegenden vorhanden war.
Zur folgenden Schilderung dieser Schauspiele benütze ich
die Mittheilungen meines Bruders, Hermann v.Schla-
gintweit, der einem solchen beiwohnte, ferner den von
Kapitän God Win Austen jüngst im Journal der calcutta-
a statischen Gesellschaft veröffentlichten Bericht, und außer-
dem noch Angaben, die sich in tibetischen Werken finden.
Auch liegen mir die Originalmasken und Gewänder vor
(Üt der ethnographischen Sammlung 'meiner Brüder).
Als Bühne dient der Hofraum eines buddhistischen
Klosters. Aus dem Innern strömen Musiker heraus, in
langen wallenden Gewändern von Seide iu verschiedenen
grellen Farben; ans dem Kopfe sitzt ein Filzhut mit breiter
Krempe, oben mit einer leierartigeu Metallverzierung. Ihre
Instrumente sind Trommeln uud Blasinstrumente. Die
Trommeln sind in Form und Handhabe verschieden von
den unserigen; die „Handtrommeln" haben 6 bis 10 Zoll
Durchmesser, das Fell ist über einen Holzkasten gespannt
und bildet zwei Halbkugelu, welche da, wo sie sich berühren,
von einem Stricke umschlungen sind, der als Handhabe
dient und zugleich zur Befestigung der Trommelschlägel;
dies sind zwei Lederballen, die an Schnüren hängen; bei
heftiger Schüttlnng des Instrumentes schlagen sie beide an
je ein Fell, so daß der Ton ein sehr lauter wird. Verschieden
davon sind die großen Trommeln, unsere „Pauken"; das
Fell hat einen Durchmesser vou 3 Fuß, der Trommelkasten
ist au einen Stock befestigt, uud das Fell wird mit einem
elastischen gebogenen Bambusrohre geschlagen, was einen
sanften, an Stärke sich allmälig vermindernden Ton her-
vorbringt.
Noch origineller erscheinen die Blasinstrumente; es
sind dies meist Markröhren menschlicher Knochen, außen
mit Metall verziert, durch welche getutet wird. Unseren
Hautbois au Ton nicht unähnlich sind lange Metallrohre
von 6 bis 8 Fuß Länge, die beim Gehen aus den Schultern
von Knaben ruhen, ähnlich wie dies bei uns im Mittelalter
der Brauch war. Diese Gruppe von Musikern zieht ini
Gänsemarsche in Proeession herum und läßt sich dann an
der Mauer nieder. Nach einigen Stückchen öffnet sich die
s aus Tibet.
Klosterpforte wieder und ein Haufen Tänzer kommt her-
ans; er spaltet sich in zwei Gruppen, die ebenfalls, eine
der andern folgend, unter der Leitung eines Vortänzers in
Schlangeuwindungeu sich bewegen, anfangs langsam, dann
schließlich unter immer heftiger werdenden Gestikulationen
fast laufend; etwas erhitzt stellen sie sich endlich rechts und
links von den Musikern ans. Eine Pause entsteht, wenn
sie plötzlich iu der Bewegung innehalten und gravitätisch
Verneignngen uud gewisse Zeichen machen.
Das Costüm ist sehr eigentümlich; besonders fallen
die Masken auf; über lebensgroße Gesichter mit lachenden,
grinsenden Zügen; sie haben rothe Hautfarbe. Auf dem
Gewände, einem langen Talar, der bis an die Knöchel
reicht, ist in der Höhe der Brust ein Todtenkopf gemalt, in
der Höhe der Schenkel ein dunkler Kops mit einer Krone
von Todtenfchädeln. Die Todtenschädel bedeuten stets
solche erschlagene böse Geister, uud die muntere Weise
des Tanzes drückt Freude und Dank aus au die Gottheit
für erfolgreichen Schutz gegen diese Quälgeister der Men-
schen. Diese Gruppe von Tänzern stellt gütige Gottheiten
dar; sie heißen mächtige Götter', „Lhatschen".
Nun folgt allgemeines Gerassel aller Instrumente, das
einen sehr unharmonischen Lärm hervorbringt; dann Plötz-
liche Stille, nachher heftiges Einfallen aller Paukinstru-
mente. Langsamen gemessenen Schrittes treten in würde-
voller Haltung mehre Personen hervor. Alle tragen
ungeheuere Masken, vou 2- bis 3 maliger Lebensgröße;
der größten Maske wird deutlich von den Uebrigen Ehr-
erbietung bewiesen; sie trägt stets den Namen einer Gott-
heit, doch man wechselt in der Wahl, so daß der allgemeine
Name dafür „gelbe Maske" ist, nach der Farbe derselben.
Das Gefolge, Lhatng, „Göttersöhne" genannt, ist sehr
zahlreich; es stellt sich mit den bereits früher Herausgetre-
tenen rechts und links auf. Noch während diefes geschieht,
treten Spaßmacher auf uud die Witze dicfer Leute sind
erheiternd, wenn auch ihre Späße sehr roh. Ihnen folgen
die der Spirituosen-TrankopferDarbringenden. Tanz und
Bewegung im Gänsemarsch wie früher; sie stellen gewöhn-
liche Menschen dar, die durch Trankopfer die bösen Geister
besänftigen wollen. Ihnen auf dem Fuße folgt eine Gruppe
ganz monströser Figuren; bald sind die Kleider bemalt wie
Skelette, bald sieht man Gottheiten mit langen verfilzten
Haaren und wirklich erschreckenden Zügen; es sind dies die
Repräsentanten der Dämonenwelt.
Nun ist das Personal vollständig und das eigentliche
Schauspiel beginnt. Ein gewöhnlicher Mann tritt hervor
aus der Reihe der Trankopfer-Spendenden, ein Dämon
folgt ihm, der den Anderen zu einer schlechten That über-
reden will, wie z. B. zu Todtschlag. Der zu Verführende
schaudert anfänglich davor zurück, doch der Böse winkt sich
einen Collegen zum Beistaude her, der Mensch gibt endlich
nach und eben wollen sie abgehen, um die That zu voll-
bringen.
Da ertönt plötzlich gellendes Pfeifen, — das wie bei
unserm Landvolke durch Einlegen der Finger in den Mnnd
bewirkt wird, — es geht dies von der Seite der gelben
E. Boll: Ein Beitrag zi
Maske aus. Diese Gruppe hat nämlich aufmerksam den
ganzen Vorgang beobachtet nttb mischt sich jetzt ein zur
Verhinderung der That. Auf das Pfeifen stürzt der ganze
Haufen vor, langt aus dem faltenreichen Gewände einen
dicken Kuüppel hervor und wirft sich mit Ungestüm auf
die Repräsentanten der Dämonenwelt, ganz derb drein-
hauend; doch sind die Angegriffenen durch dicke Wattirnng
geschützt. Aber dennoch nimmt die Prügelei bald den
Charakter einer ganz ernstlichen Rauferei an; denn bei den
großen Masken verschiebt sich der Ausschnitt für die Augen
sehr leicht durch die heftige Bewegung, und es kommt sehr
häufig vor, daß ein guter Gott einen seiner Klasse trifft,
statt eines Feindes, ein Zwischenfall, der beim Publikum
stets große Heiterkeit erregt. Ueberhanpt dauert das in die
Flucht Treiben der bösen Geister sehr lange; es endet an
Kunde der Jnsell'ildnugen. ^
einem vorher bestimmten Orte. Da tritt Stille ein, choral-
ähnlicheLieder werden angestimmt und die ganze Menge der
Schauspieler — Alles Priester — nähert sich in andäch-
tigem Gange den Zuschauern, Lobgesänge an die gütigen
Götter absingend und ihre Allmacht und große Stärke
preisend.
Eine solche Verherrlichung der hohen Fürsorge der
guten Götter über die bösen Götter bildet stets den Gegen-
stand der Darstellungen. Sie finden zweimal des Jahres
statt: am zehnten Tage eines Frühjahrs - und eines Herbst-
monats.
Bezeichnend ist der Name, welchen die Tibeter für
diese Schauspiele habeu; sie ueuuen sie: Tambin schi,
,,Segen der Unterweisung," weil sie deu Sieg der
Gottheit über die bösen Geister versinnbildlichen.
Ein Beitrag zur Kunde der Inseltnldungen.
Von Dr. Ernst Boll
In den Zeitschriften macht jetzt ein Bericht über ein
merkwürdiges natnrgeschichtliches Ereigniß die Runde, wel-
ches sich vor wenigen Wochen im griechischen Archipelagns
zugetragen hat, nämlich die durch vulkanische Kräfte herbei-
geführte Entstehung einer neuen Jnfel in der Nähe von
Santorin, worüber auch der Globus (Bd. X, S. 29)
schon eine Mittheilung gebracht hat. Aus deu Schriften
des ältern Plinius, des Seneca, Strabo und anderer fpä-
terer Autoren wissen wir, daß ähnliche Vorgänge an jener
Stelle feit dem Jahre 236 v. Chr. schon mehrfach beob-
achtet worden sind, und dürften wir die alte griechische
Mythe von der Entstehung der Insel Delos, — welche
Poseidon als Zufluchtsort für die auf Erden herumirrende
Latona mit feinem Dreizack aus dem Meeresgründe her-
vorgezogen haben soll, — natnrgefchichtlich deuten, so
könnten wir die Aeußerungen vulkanischer Thätigkeit in
jenem Archipel vielleicht noch um mehr als taufend Jahre
weiter in die Vergangenheit zurück verfolgen.
Es ist dies aber bekanntlich nicht die einzige.Stelle im
Becken des Mittelmeeres, wo innerhalb geschichtlicher
Zeit durch ähnliche Kräfte Inseln entstanden oder ver-
schwnnden sind, denn im Jahre 1831 ereignete sich auch
zwischen Sieilieu und der afrikanischen Küste ein solcher
Fall, indem dort an einer Stelle, wo man wenige Jahre
zuvor bei Soudiruugeu eiue Meerestiefe von 600 Fuß
gefunden hatte, plötzlich eine Insel emportauchte, über
deren Namen man sich eben so wenig einigen konnte (man
taufte sie Ferdinande«, Grahams-Jnsel, Ne.-
rita u. s. w.), als über deu Besitz derselbe«, über welchen
letztern zwischen den Engländern und Franzosen wahr-
scheinlich ernstliche MißHelligkeiten entstanden wären, wenn
nicht das Streitobjekt selbst nach kurzem Dasein sich den
Blicken jener beiden habgierigen Mächte wieder entzogen
hätte.
Im Ostseebecken dagegen sind noch niemals, so weit
geschichtliche Kunde zurückreicht, ähnliche Vorgänge beob-
achtet worden, —Wohl aber hat man in den Binnen-
gewässern der baltischen Länder mehrfach kleine
Inseln entstehen und verschwinden sehen, die aber
Glodus X 91r. C.
in Neu - Brandenburg.
uicht, wie im Mittelmeere ans vulkanischen Gesteinen, son-
dern ans Torfmasse gebildet waren und schon dadurch
darauf hinweisen, daß wir es hier mit einem Vorgange zu
thuu haben, bei welchem ganz andere, als vulkanische
Kräfte im Spiele gewesen sind. Eine genauere Schilde-
ruug aller zu meiner Kenntniß gelangten Beispiele solcher
Jnselbildungen wird das überzeugend darthun, und ich
erlaube mir daher ein über dieselben handelndes Kapitel,
welches späterhin in der Fortsetzung meiner „Beiträge zUr
Geognosie Mecklenburgs" feiue Stelle finden wird , hier
vorläufig mitzntheilen, — natürlich ohne den Ballast der
gelehrten Citate, welcher für die Leser des Globus kein
Interesse haben kann.
Unter den in Norddentfchlaud beobachteten Beispielen
von Torf-Jnfelbildnng ist zwar ein mecklenburgi-
sches der Zeit nach das älteste, aber die darüber vorhan-
denen Nachrichten sind so mangelhaft, daß uns die Genesis
dieser Insel völlig unklar bleiben würde, wenn sich nicht
später iu Holstein ein ganz ähnlicher Fall ereignet hätte,
über welchen genauere Angaben vorliegen, die es uns
möglich inachen nicht allein jenen mecklenburgischen, son-
deru auch noch zwei andere in der Mark Brandenburg vor
gekommene richtig zu deuten. Wir stellen daher die hol-
steiuischeu Beobachtungen (nach Brnhns, Meyer und
Schmidt) voran.
Am 16. August 1803 bemerkte uian zu Beel, unweit
Plön, etwa 1000 Fuß vom Ufer der dem Dorfe gegen-
über liegenden Wiesen entfernt, anf dem Beeler (nicht
Cleveezer!) See einen großen schwarzen Flecken, den mau
alsbald als eiue neu entstandene Insel erkannte. Sie
ragte drei Fuß über den Wasserspiegel hervor und bestand
ans einzelnen Torfstücken, die aber unter dem Wasser Zu-
fammenhang hatten und nur durch die Gewalt, mit welcher
die ganze Masse gehoben war, so zerspaltet worden waren.
Zwischen den Stücken bemerkte man kleine, nur einige Fuß
tiefe Wasserrinnen, in der Mitte der Insel aber ein Loch
von einer Elle Durchmesser und darin war das Wasser
fünf Klafter tief, während der See dort früher nur eine
Tiefe von zwei Klaftern gehabt hatte. Was über dem
23
178 E. Boll: Ein Beitrag zur
Wasser lag, hatte etwa 80 Fuß im Umfange, aber das
war nur der kleinste Theil des Gehobenen, denn dies
erstreckte sich ringsum mit allmäliger Senkung nach allen
Seiten hin noch etwa 100 Fuß unter dem Wasserspiegel
fort, so daß der Umfang des gehobenen Bodens gegen
1900 Fuß betragen mochte.
Nach einiger Zeit verschwand diese Insel, ließ sich
jedoch im Jahre 1819 an derselben Stelle eine
kurze Zeit lang blicken; daraus erschien sie
zum dritten Male am 2. Oktober 1852, und end-
lich nochmals am 15. August 1858.
In allen diesen Fällen war das den Seebodcn bedeckende
16 bis 20 Fuß mächtige Torflager in backofensörmiger
Gestalt aus der Tiefe des Sees b l a s e n s ö r m i g g e h o b e n
worden, platzte oben in der Mitte, so daß die ringsum auf-
strebenden Stücke eiuen von radialen Spalten zerrissenen
Kegelmantel bildeten, — einem kleinen Erhebungskrater
ähnlich, — und senkte sich nach und nach wieder, indem
die über den: Wasser liegenden Stücke vom Wellenschlage
fortgerissen wurden, der Rest aber in das ehemalige Niveau
des Seebodens zurücktrat.
Die Stelle, wo diese Insel sich zeigte, ihre Größe, Ge-
stalt und Erhebung über dem Wasserspiegel scheint in allen
Fällen fast gleich gewesen zu sein. Der Tors, aus welchem
sie bestand, war von zahlreichen, meist parallel geschichteten
Baum- und Gesträuchwurzeln von geringer Dicke durch-
zogen, welche meist im Innern ausgehöhlt erschienen.
Große Spalten in dem Lager sollen schon längere Zeit
vor der dritten Erhebung der Insel zur Winterszeit bei
glattem Eise auf dem Seeboden gesehen worden sein, sich
aber vor diesem Ereigniß allmälig geschlossen haben. Ein
Ausströmen von Gasblasen, die sich etwa in der Torfmasse
selbst entwickelt hätten, ist von keinem Beobachter wahr-
genommen worden.
Mit Hilfe der vorstehenden Angaben werden wir nun
auch im Staude sein, die Lücken in den mecklenburgischen
und märkische« Beobachtungen einigermaßen auszufüllen.
Aus Mecklenburg wird uns nämlich berichtet, daß in
der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in dem Krüm-
melschen Arme der Müntz plötzlich eine kleine Insel „von
der Größe einer Stube" emporgetaucht sei; in der Mitte
derselben zeigte sich eine Spalte, die so tief in den Boden
einschnitt, daß man mit einer langen Stange nicht darin
gründen konnte; diese Stange brachte bei dem Sondiren
einige „Mergelerde" aus der Tiefe mit herauf; nach einiger
Zeit versank die Insel wieder.
Auch die Hauptmasse dieser Insel wird wahrscheinlich
aus Torf bestanden haben, da dieser wohl die einzige um
serer Bodenschichten ist, welche stehenbleibende Spalten
(zumal im Wasser) zu bilden vermag; in diesem Falle ist
auch die Mergelerde nicht schwer zu deuten; es war Wiesen-
kalk, der nicht selten unter Torflagern auftritt. Diese Ver-
muthung, welche Dr. Mayer zuerst über die Müritz-Insel
ausgesprochen hat, wird dadurch fast zur Gewißheit, daß
in neuester Zeit wenigstens an einer Stelle dieses großen
Landsees ein auf Wicseukalk ruhendes mächtiges Torslager
aufgefunden worden ist.
Ein dritter Fall von der Entstehung einer neuen Insel
ereignete sich im Dreetzer See, unweit Neustadt au der
Dosse in der Mark Brandenburg. Die Tiefe desselbeu
beträgt etwa 11 Fuß, am obern Theile aber, wo der Rhin
hineinfällt, hatte sich ein sogenannter Kolk von 14 Fuß
Tiefe gebildet. Am Abende des 25. April 1882 konnten die
Fischer mit ihren Rudern den Grund dieses Kolkes nicht
erreichen, in der folgenden Nacht aber war dort
eine Insel entstanden, von 5 Ruthen Länge und
Kunde der Jnselbildungen.
2Y3 Ruthen Breite, und mehr als 2 Fuß über den damals
sehr niedrigen Wasserspiegel emporragend. Das Erdreich
bestand aus Moor (Tors?) mit Sand gemengt (bedeckt?)
und war anfänglich so weich, daß man ohne einzusinken
nicht darauf treten konnte; später aber erhärtete es so,
daß letzteres möglich wurde. Als hernach das Wasser des
Sees stieg, ward die Insel kleiner, noch mehr aber wurde
sie durch den Welleuschlag benagt, dem die heftigen Stürme
jenes Sommers eine ungewöhnliche Stärke verliehen hatten.
Im Juni war nur noch ein kleiner Theil über dem Wasser
sichtbar, und im August existirte sie nur noch als Untiefe.
(Klöden.)
Der vierte hierher gehörige Fall ereignete sich auch in
der Mark, und zwar nicht in einem Landfee, sondern in der
Havel unweit Spandau. Dort erhob sich am 17. Mai
1807 zwischen Pichelsdorf uud dem Pichelsdorfer Werder
in dem Flusse plötzlich eine 50 Schritte lange und 12 bis
15 Schritte breite Insel, deren Oberfläche anfangs elastisch
war und durch Stampfen erschüttert wurde. Sie zeigte
keine Spnr von Vegetation, sondern war mit Sand, Mu-
scheln, Gewürme u. dgl. bedeckt, uud es lagen starke Floß-
Hölzer darauf, die mit gehoben worden waren. Diese
Insel verschwand nicht wieder, sondern war, als Klöden
im Jahre 1887 über sie berichtete, noch vorhanden und
damals mit Graswuchs bedeckt.
Wenn auch von einem Torfboden dieser Insel Nichts
gesagt wird, so deutet doch die erwähnte Elastieität des
Bodens (wie Dr. Mayer hervorhebt) auf das Vorhaudeu-
sein eines solchen unter der Sanddecke hin. Daß die Insel
nicht wieder versank, erklärt derselbe Forscher wohl ganz
richtig daher, daß die Spalten und Höhlungen dieser blasen-
artig emporgetriebenen Insel durch den Treibsand des
Flusses sogleich ausgefüllt worden wären.
Ueber die eigentliche Ursache dieser merkwürdigen
Blasenbildung des Torfes fehlt es aber in allen
diesen norddeutschen Beispielen an direkten Beobachtungen,
und wir würden uns mit bloßen Vermuthungen darüber zu
begnügeu haben, wenn nicht zwei andere ähnliche Ereig-
nisse, die weit abwärts von diesem Gebiete stattgefunden
haben, auch über diesen Gegenstand einiges Licht ver-
breiteten.
Jn Livland befindet sich im Jlsing-See bei dem
Dorfe Festen (so berichtet Wangenheim v. Oualen im
Jahre 1850) eine merkwürdige Insel, welche seit
undenklichen Zeiten in den Sommermonaten
Juli oder August auf der Oberfläche des Sees
erscheint uud bei d e in e r st e n Froste wieder
untersinkt. Sie kommt regelmäßig au derselben Stelle
zum Vorschein, ungefähr tili Faden vom Ufer, und besteht
aus einem torfartigen moorigen Unterboden, ans diesem
befindet sich eine Lage thonartigen Schlammes, welchen sie
alle Jahre vom Boden des Sees mit heraufbringt. Dieser
Schlamm trocknet in den warmen Sommermonaten zu
einer festen Rinde, bedeckt sich spärlich mit einigen Gräsern,
und man kann dann trockenen Fußes auf der Insel umher»
zehen, welche in verschiedenen Jahren, je nachdem sich mehr
oder weniger Schlamm auf derselben befindet, auch größer
oder kleiner erscheint, und als Maximum eine Länge von
10 bis 12 und eine Breite von 8 bis 4 Faden haben kann.
Im August 1850 erhieltenWangenheim v.Qualen
uud der Chemiker Reese vou dem naturforschenden Vereine
in Riga den Auftrag, diese Insel näher zu untersuchen.
Beide reiseteu dorthin, und erster« berichtet nun über das
Resultat der Besichtigung Folgendes: „Die Insel war
dies Jahr schon am 9. Juli aus der Oberfläche des Wassers
erschienen; als wir uns derselben näherten, wurden wir
E. Boll: Ein Beitrag zur Kunde der Jnselbildungen.
179
überrascht durch eine schwarzgraue wollige Substanz, welche
unter der Insel hervorschimmerte itnb den Untergrund der-
selben bildete. Wir untersuchten dieselbe und fanden, daß
sie aus einer Art von Torf, oder aus halb verfaulten
Pflanzenfasern bestand, die wie ein ziemlich festhaltender
Filz durcheinander geflochten waren. Dieser Pflanzensilz
von etwa 6 Fuß Dicke senkte sich auf der einen Seite der
Insel mit einer halben Wölbung allmälig bis zu dem
2 Faden tiefen Boden des Sees hinab, mit welchem der
Filz, wie wir sehr deutlich erkannten, in fester zusammen-
hängender Verbindung stand, wodurch das vielleicht schon
seit einem Jahrhunderte bestehende stative Verhältnis der
Insel an einex und derselben Stelle erklärt wird. Beim
Sondiren dieses Pflanzensilzes mit einer langen Stange
wurden wir überrascht durch eine außerordentliche Menge
von Kohlenwasserstoffgas, welches sich aus demselben
entwickelte; wir sammelten in kurzer Zeit eine Menge des-
selben, welches mit einer bläulichen Flamme brannte. Auf
der andern Seite der Insel war die dicke Schicht des Filzes
nicht mit dem Boden verbunden, sondern hatte sich von
demselben abgelöst und trug als Untergrund die Insel, so daß
mau unter dieser letztern in der Höhlung mit einer Stange
frei sondiren konnte, aber anch hier waren Millionen
kleiner Gasbläschen überall im Filze vertheilt.
Dieser Untergrund der Insel hat ganz das Ansehen einer
halbgeöffneten großen Blase, die mit der einen Seite am
Boden befestigt ist; sie schwimmt unter der Oberfläche des
Wassers, tritt aber nicht über dieselbe hervor, nur die auf
ihr lagernde 8 bis 12 Zoll dicke Rinde schlammartiger Erde
ragt hervor und bildet die eigentliche Insel. Dies Jahr
war die Schicht Erde wegen der herrschenden starken Winde
schon größtentheils von den Wellen hinweggewaschen, und
daher war die eigentliche Insel, als wir sie untersuchten,
nur noch 5 Faden lang, aber doch schon mit einigen Grä-
sern und Wasserpflanzen bedeckt.
Ungefähr 20 Faden von dieser größern Insel entfernt
war in diesem warmen Jahre noch eine andere ähnliche,
aber sehr kleine Insel erschienen, die von den Landleutcn
bereits einmal vor 20 Jahren in einem gleichfalls sehr
warmen Sommer beobachtet worden war."
„Das ganze Cansalverhältniß dieser eigenthüm-
lichen Bildung liegt demnach klar vor Augen. Der See
war früher eine Sumpf- oder Moorgegend, auf deren
Boden sich eine mächtige Torflage bildete; der Abfluß aus
diesem Torflager aber, welcher noch jetzt zu erkennen ist,
verstopfte sich mit der Zeit und bildete einen See mit jenem
torfartigen Filz als Unterboden. Nun entwickelte sich vor
langen Jahren, wahrscheinlich in einem sehr warmen
Sommer, in diesen faulenden vegetabilischen Stoffen das
leichte Kohlenwasserstoffgas in Millionen kleiner Bläschen,
zerriß die Filzdecke an der einen Seite, hob sie mit der
darauf liegenden Erde und dem Schlamm zur Oberfläche
des Sees empor und bildete die Insel, welche nun alle
Jahre, sobald sich das Seewasser erwärmt, wieder erscheint.
Bei eintretender Kälte aber verschwinden Fänlniß und
Gasentwicklung, das vorhandene, die Decke tragende Gas
entweicht allmälig, die halb offene Blase wird schwer, klappt
zu und senkt sich wieder aus den Boden des Sees hinab."
In dem Jlsing-See war also nur die Hälfte der
durchrissenen Torfblase zum Vorschein gekommen, oder
wenn sie auch ursprünglich ganz gehoben sein mochte, war
doch die eine Hälfte sogleich wieder versunken, so daß
Wangenheim v. Onalen nichts mehr von derselben erblicken
konnte. Ein Gleiches war im Dezember 1852 niit der
Torfblase im Beeler See der Fall gewesen. — Daß der
erstem die radialen Spalten fehlten, welche die letztere
zeigte, erklärt sich in diesem, wie auch in den anderen
Fällen, wo keine Spalten erwähnt werden, ganz einfach ans
der elastischen Beschaffenheit der filzigen Torfmasse, welche,
ohne zu zerbersten, einer beträchtlichen Ausdehnung fähig
war, — eine Eigenschaft, welche der fester zusammengefügte
Torf im Beeler See nicht besaß. Bon der Insel in diesem
letztern See, wie er sich im Jahre 1852 zeigte, hat
Bruhns nachstehende, an Ort und Stelle entworfene
Darstellung gegeben, in welcher durch die Linie A B C D
der Umfang der ganzen Blase bezeichnet wird, von der aber
nur der schraffirte Theil A B C in gehobener Stellung ver-
blieben ist, und von welchem nur die durch die Linie abc
abgegrenzten Stücke aus dem Wasser hervorragten und die
eigentliche Insel bildeten.
Die Insel im Jlsing See dagegen wird etwa folgende
Gestalt (Fig. 2) gezeigt haben, der wir auch zugleich in
Fig. 3 eine Ansicht des ideellen Durchschnitts hinzufügen:
Fig. 3.
a. Seespiegel. b. Seeboden, c. Pflanzenfilz.
M.
d. Schlammartigc Erde.
Auf die Idee, daß die Hebung durch Gasentwicklung
bewirkt werde, die in dem Innern des Torflagers selbst
vor sich gehe, war schon im Jahre 1810 Heinrich
Stessens verfallen, er irrte aber darin, daß er das Gas
23*
180 E. Boll: Ein Beitrag zu,
als Schwefelwasserstoffgas bezeichnete. Wenige Jahre
später aber gaben in Bezug auf eiue in England gelegent-
lich anftaucheude Jusel Otley und Dal ton schon eine
Erkläruug, welche in allen wesentlichen Stücken mit W. v.
Qualens Auffassung dieses Phänomens übereinstimmt.
Mit dieser englischen Insel verhält es sich nämlich folgender-
maßen:
Im Derwent-See, unweit Keswick, steigt ab und
an eine etwa 6 Fnß dicke Erdschicht vom Boden des Sees
bis zu dessen Oberfläche empor, bleibt aber mit jenem durch
allmälig abfallende Seitengehänge in Verbindung , so daß
ein viel größeres Stück Erdreich gehoben ist, als an der
Oberfläche sichtbar wird. Die Stelle, wo diese Hebung
erfolgt, liegt in dem südöstlichen Winkel des Sees etwa
450 Fuß vom Ufer entfernt, wo das Wasser gewöhnlich
nur 3 bis 6 Fuß tief ist. Die Zeit, wann die Insel er-
scheint, ist sehr unregelmäßig; bald hat sie sich in zwei auf-
einander folgenden Jahren blicken lassen, bald aber auch
nur in längereu Zwischenräumen von 7 und mehr Jahren,
und zwar, wie es scheiut, meisteus gegeu den Schluß einer
lange dauerudeu warmen und trockenen Witterung. Ihre
Gestalt und Größe sind veränderlich: mitunter ist sie schon
etwa einen Morgen Landes groß gewesen, zu anderen Zeiten
aber auch nur wenige Ouadratruthen. Ruhet die Insel
ans dem Boden des Sees, so macht sie sich dort in keiner
Weise bemerklich. — Abweichend von den anderen oben
beschriebenen Inseln ist diese gänzlich mit Vegetation be-
deckt, besonders mit Isoetes lacustris, zwischen welche sich
die zierliche Lobelia, Dortmanna und andere in diesem, wie
in den benachbarten Seen gemeine Wasserpflanzen mischen.
Die Oberfläche der Insel besteht bis zur Tiefe von einigen
Zoll aus einer im Wasser abgelagerten Thonschicht, die
übrige Masse der Insel aber aus einer Art von Torf, der
nur unvollkommen ausgebildet ist, und in dein man noch
manche der ihn zusammensetzenden Pslanzenarten erkennen
kann. Letztere sind Arteu, die jetzt nicht mehr in dem See
wachsen, vormals aber, als der Wasserstand noch niedriger
war, dort vegetirten, — wie denn auch die Wurzeln an-
sehnlicher Eichen und anderer Bäume, die man an ver-
schiedenen Stelleu im See 4 Fuß unter Wasser antrifft,
darauf hindeuten, daß hier in den Bodenverhältnissen be-
trächtliche Veränderungen vorgegangen sein müssen. Die
Dicke des Jnselbodens ist etwa 6 Fuß, und er zerreißt durch
die Spannung, die er bei der Hebung erleidet, so daß man
durch die dabei entstandenen Spalten auch das noch unter
der Insel befindliche Wasser sondiren kann. Die Tiefe
desselben entspricht der Höhe, bis zu welcher die Insel
emporgestiegen ist, und auf dem Boden dieses Wassers
bemerkt man eine feine weiße Substanz (Wiesenkalk?),
welche in ihrem Aussehen der Torsasche sehr ähnlich ist.
Nachdem die Insel sich acht Jahre lang nicht hatte
blicken lassen, erhob sie sich am 20. Juli 1808 und nahm
dann einige Tage an Größe zu, bis sie etwa 160 Fuß laug
war, und verblieb in diesem Zustande einige Wochen.
Obgleich der Wasserstand des Sees sich während dieser
Zeit änderte, behielt die Insel doch immer dieselbe Höhe
über dem Seespiegel, nämlich etwa 1 Fnß; dann senkte sie
sich allmälig, bis zu Anfang Oktober eine Flut sie bedeckte.
— Sie kam erst am 7. September 1813 wieder zum Vor-
schein, blieb aber nur klein und erhob sich nur 7 bis 8 Zoll
über dem Wasserspiegel, — aber obgleich das Wasser im
See 3 Fnß stieg, blieb ein Theil der Insel doch sichtbar,
bis sie sodann gegen Ende des Oktober wieder gänzlich
versank. — Im September des Jahres 1825 begann sie
abermals zu steigen; am 7. war sie noch einen Fnß unter
Wasser, am 10. aber tauchte sie in ansehnlichem Umfange
Kunde der Jnselbildungen.
aus demselben hervor, und schon am 23. September sank
sie wieder unter. In manchen Jahren, wie z. B. 1815,
kommt sie zwar dem Wasserspiegel nahe, aber sie taucht
nicht aus demselben auf, so daß also die Hebungen noch
viel häufiger zu seiu scheiueu, als die Jnselbildnngen. —
Schon bei seinem ersten Besuche dieser Insel siel es Otley
auf, daß durch die gauze Masse derselben eine
Menge von brennbarem Gase vertheilt sei. Im
Jahre 1815 gelang es ihm und Dalton, eine Quantität
desselben zu sammeln, indem sie vom Boote aus die unter
Wasser stehende Insel mit einer Pike anbohrten, worauf
das Gas jedesmal in großen Luftblasen aus dm Wasser
emporblnbberte. Sie fiugeu dasselbe iu einer Flasche aus
und unterwarfen es einer chemischen Analyse, welche ergab,
daß dies Gas zu gleichen Theileu aus Kohlenwasserstoff
und Stickstoff, nebst etwa 6 Procent Kohlensäure bestaud.
Dasselbe Resultat erhielt man, als man im Jahre 1825
abermals das der Insel entquellende Gas aussiug. —
Dalton ist der Meinung, daß sich dies Gas bei der Zer-
setznng von Pflanzenstoffen im Wasser gebildet habe; zwei
Atome Kohle zersetzten zwei Atome Wasser und erzeugten
eiu Atom Kohlenwasserstoffgas nnd ein Atom Kohlensäure;
letztere sei sodauu größtenteils durch das Wasser absor-
birt und dadurch zerstreut worden, das andere Gas aber
habe sich in kleinen Bläschen in der schwammigen Masse
des Torfbodens angehäuft; der Stickstoff eudlich sei wahr-
scheinlich aus der Atmosphäre in das Wasser gekommen.
Dalton stimmt daher Otley's Ansicht vollständig bei, daß
diese Gasentwicklung die einzige plausible Ur-
fache sei, die man für das Steigen und Sinken der Insel
annehmen könne. Die Erzeugung und zeitweise Adhäsion
einer so großen Gasmenge müsse einen bedeutenden Einfluß
auf das speeisische Gewicht eiues jeden Körpers haben,
wenn aber derselbe, wie dies hier der Fall ist, an und für
sich schou fast dasselbe speeisische Gewicht besitzt, wie das
Wasser, in welchem er eingetaucht ist, so muß er schwimmen
oder sinken, je nachdem die Gasmenge größer oder ge-
ring er wird.
Um hier gleich alle Beispiele solcher Inseln, welche
mir bekannt geworden sind, zusammenzufassen, will ich
schließlich noch erwähnen, daß man schon seit langen Zeiten
auch in Schweden, und zwar im Ralängen-See (im
Jonköpings-Lähn belegen), eine periodisch anftaucheude
Insel kennt. Sie war sichtbar in den Jahren 1696, 1727,
1733, 1743, 1750, 1757, 1758, 1766 :e. Nur zweimal
tauchte sie im August auf (aber nie vor dem 13.), sechsmal
im September und zweimal erst zn Ansang des Oktobers;
sie versank wieder im September, Oktober nnd zuweilen
anch erst im Anfang des Novembers, nachdem sie in einzelnen
Fällen (wie z. B. 1758) nicht länger als 6 Tage sichtbar
gewesen war. Im Jahre 1747 blieb sie dagegen vom
17. Augnst bis zum 21. Oktober über dem Wasser, — also
64 Tage, und dies ist auch die längste Dauer derselben,
die man zwischen den Jahren 1696 nnd 1766 beobachtet
hat; sie trug 60 alte Baumstubben, von denen man damals
26 wegnahm. Im Jahre 1766, den Tag nachher, nach-
dem sie gesunken war, also am 4. November, stand sie
3 bis 3/2 Elleu unter Wasser. — Diese Insel war
50 Ellen lang nnd 20 bis 30 Ellen breit, uud kam immer
an derselben Stelle znm Vorschein, um welche herum es
sehr tief war. Der Wiud schien keinen beträchtlichen Ein-
flnß auf sie auszuüben, denn im Jahre 1757 kam sie am
3. Oktober bei einem starken Winde empor und sank ain
19. mit demselben Winde wieder. — Mehr Nachrichten
über diese Insel, welche RödHolm genannt wird, stehen mir
leider nicht zn Gebote, dieselben genügen indeß, um ju
E. Boll: Ein Beitrag zur
beweisen, daß auch sie in die Klasse der vorhin geschilderten
Inseln gehöre. Für Schweden ist sie aber wahrscheinlich
kein Unicum, denn wenn ich nicht sehr irre, so äußerte der
in der schwedischen Bodenkunde so gründlich bewanderte
Professor Angelin in Stockholm, als ich im vorigen
Sommer Gelegenheit hatte, ihn zu sprechen, daß derartige
Inseln mehrfach auf der skandinavischen Halbinsel vor-
kämen.
Selbst bei Torf- und Moorlagern, die nicht von
Wasser bedeckt sind, hat man schon ähnliche Gasentwick-
lnngen, wie die vorstehend erwähnten, wahrgenommen.
Denn nicht allein hat man in den Torfmooren in der Nähe
jenes oben genannten holsteinischen Dorfes Beel selbst die
Bemerkung gemacht, daß zuweilen Gruben, die man des
Abends ausgestochen hatte, am folgenden Tage wieder
durch von unten her aufgequollenen Torf sich gefüllt
zeigten, sondern Dr. Mayer berichtet auch, daß in dem
weichen flüssigen Moorbrei, der in den holsteinschen
Marschen unter einer impermeablen Thondecke liege,
Kohlenwasserstosfgas sich in solcher Menge bilde und
ansammele, daß es beim Graben und Bohren von Brunnen
zuweilen mit Gewalt hervorbreche, und angezündet längere
Zeit in einem Flammenstrome fortbrenne.
Den schlagendsten Fall aber, welcher meiner Ansicht
nach die ganze Streitfrage über die Entstehung der Torf-
inseln endgültig erledigt, berichtet hu Jahr 1857 Herr
v. d. Borne aus Hinterpommern. Dort wird näm-
lich auf der Domäne Carolinenhorst unweit Stargard
ein bis 14 Fuß mächtiges und über etwa 4000 Morgen
ausgebreitetes Torflager in aufeinander folgenden Ab-
stichen von je 4 Fuß ausgebeutet. Wenn an den mächti-
geren Stellen der zweite Abstich herabgenommen ist, so
wird häufig eiu Aufblähen der untern Torsmasse
beobachtet; dieselbe platzt unter Erplosion, Torfstücke
werden bis 15 Schritte weit umhergeschleudert und es er-
folgt ein heftiges Ausströmen von Gasen, welche
zwischen dein Torf und dem darunter liegenden Saude
ihren Sitz haben. Das Gas brennt, wie das Sumpf-
gas, mit schwachleuchtender Flamme, und ist von den Ar-
beitern, nachdem sie durch Einstechen von Löchern ein
allmäliges Ausströmen bewirkt, sogar schon zum. Kochen
benutzt worden. Innerhalb der Torfmasse selbst hat man
aber dort noch keine bedeutende Gasansammlung gefunden.
Ich glaube, daß die voraufgehend zusammengestellten
Beobachtungen, — namentlich die im Derwent- und Jlsing-
See, und diese letzten in den holsteinischen Marschen und
in Pommern gemachten, — nun endlich jeden Zweifel an
der Erklärung des merkwürdigen Phänomens der Torfinsel-
bildnng beseitigen werden. Es ist das Emporsteigen der
Inseln nicht etwa (wie Dr. Mayer annimmt) die Wirkung
eines zufällig auf ihren Boden hingerichteten, den Tiefen
des Erdballs entquellenden Stromes von Kohlensäure,
sondern die Torfmasse der Insel selbst ist das Labora-
torium, in welchem das Gas, — und zwar nicht die
schwere Kohlensäure, sondern das so sehr leichte Kohlen-
wasserstoffgas, — erzeugt wird. Wenn nun bei unseren
norddeutschen Inseln von dem Dasein dieses Gases auch
noch nichts bemerkt worden ist, so mag entweder Unauf-
merksamkeit der Beobachter daran Schuld sein, indem sie
diesen wichtigen Uinstand ganz außer Acht ließen, oder auch
(was mir in manchen dieser Fälle noch wahrscheinlicher ist)
eine verschiedenartige Beschaffenheit der Jnselmasse, welche
ihrer größern Mächtigkeit wegen schwieriger zu heben war,
so daß sie erst, nachdem eine sehr bedeutende Menge Gas
in ihren unteren Schichten sich angesammelt hatte, plötzlich
her sie empordrängenden Kraft nachgab und bei diesem ge-
Kunde der Jnselbildungen. 181
Waltsamen Emporsteigen wie durch eine Erplosion zerrissen
wurde, wobei dann alles Gas, welches sich in der Nähe der
Spalten befand, sogleich in die Atmosphäre entwich. Was
dann noch an Gas zurückblieb, mochte so versteckt liegen,
daß es selbst einem aufmerksamen Beobachter verborgen
bleiben konnte. Die größere Masse und das größere Ge-
wicht der aus einer 16 bis 20 Fuß mächtigen Torfschicht
bestehenden Insel im Beeler See erklären es auch, warum
dieselbe sich so selten blicken läßt, während die nur 6 Fuß
dicken und ans leichterem Stoffe bestehenden Inseln im
Jlsing-und Derwent-See so viel häufiger in Bewegung
sind, wobei sie auch nicht so ruckweise, wie jene, gleichsam
plötzlich emporschnellen, sondern in langsamer und stetiger
Bewegung auftauchen und untersinken.
Zwar zeigt der Derwent-See auch noch eine andere
merkwürdige Eigeuthümlichkeit, die aus den ersten Blick
für vr.'Mayers Ansicht, daß die obigen Inseln gewaltigen
Ausströmungen von Kohlensäure ihren Ursprung verdank-
ten, zu sprechen scheinen könnte. Das Wasser dieses Sees
geräth nämlich von Zeit zu Zeit aus „unbekannten Grün-
den" in eine lebhaft wallende Bewegung, — ein
Phänomen, welches man dort mit dem Namen „Grund-
Wind" (bottom-wind) bezeichnet. — Dieser See steht aber
mit dieser Erscheinung nicht allein da, sondern auch noch
einige andere theilen diese Eigeuthümlichkeit. So berichtet
z. B. Klödeu von dem Kressinschen See in der Mark,
daß er bisweilen seltsame Aufwallungen zeige, die selbst bei
heiterem Himmel und stillem Wetter so heftig werden
könnten, daß die Fischer dann in eiliger Flucht das Ufer zu
erreichen strebten. Auch der Arnfee in der Altmark soll
Luftausströmungen und Wallungen zeigen, desgleichen der
kleine See am Fuße des Segeberger Gypsstockes.
Daß die Ursache dieser Bewegungen Ausströmungen von
Kohlensäure seien, wie Dr. Mayer annimmt, ist eine bloße
Hypothese, denn eine chemische Analyse der aussteigenden
Luftblasen ist in keinem dieser Fälle vorgenommen worden.
In den ersten beiden ist es mir viel wahrscheinlicher, daß
es sich auch hier wieder um Entwicklung von Kohlen-
wasserstosfgas handelt, da wir in dem Derwent-See
wenigstens an einer Stelle schon eine massenhafte Erzen-
gnug desselben kennen gekernt haben, und nach dem, was
oben über die Beschaffenheit seines Bodens im Allgemeinen
gesagt ist, auch an anderen Stellen die Bedingungen dazu
nicht fehlen werden. Aehnlich verhält es sich mit dem
Kressinschen See, dessen Boden so sehr mit Moder bedeckt
ist, daß derselbe beim Fischen beschwerlich fällt und bei
niedrigem Wasserstand sogar in der Mitte des Sees an der
Oberfläche des Wassers zum Vorschein kommt, — wenn
anders diese letztere Thatsache richtig beobachtet ist und hier
nicht etwa auch eine periodisch auftauchende Insel vorliegt.
— Sollten sich also die Wallungen in diesen beiden Seen
nicht ganz genügend aus dem Zerplatzen mit Gas impräg-
nirter Torfmassen auf dem Seeboden erklären, — also
gleichsam Symptome verunglückter Jnselbildungen sein?
Während die Loealverhältnisse jener beiden Seen mir
die eben gegebene Erklärung sehr wahrscheinlich machen,
scheinen mir die Loealverhältnisse des Arnsees und des
Segeberger Sees, — die ich bei einer andern Gelegenheit
ausführlicher zu besprechen denke, — wirklich mehr auf
Erhalationen von Kohlensäure hinzudeuten, denn daß
solche auch im norddeutschen Flachlande, z. B. in Brunnen,
gelegentlich vorkommen, ist hinreichend bekannt.
Es möchte daher rathsam sein, diese merkwürdigen
wallenden und sprudelnden Bewegungen der Seegewässer
uoch nicht so gleichsam in einen Tops zusammen zu werfen,
indem man sie alle aus einer einzigen Ursache ableitet,
182 E, Kattncr: Das Posi
sondern vorläufig die Thatbestände selbst noch recht sorg-
faltig zu beobachten, wobei es sich denn wahrscheinlich
immer überzeugender herausstellen wird, daß trotz der ahn-
lichen Symptome die wirkenden Ursachen doch sehr verschie-
dener Natur sind.
Schließlich muß ich noch die Ueberzeugung aussprechen,
daß beide Phänomene, — die Jnselbildung und das Aus-
wallen der Seegewässer, — viel häufiger sind, als es nach
meiner obigen Darstellung scheinen möchte. Aber da dies
'v Land jetzt Mb früher.
keine großartigen, den Blicken sich gleichsam aufdrängenden
Vorgänge sind, so gehen leider die meisten Menschen achtlos
daran vorüber. Eine Sammlung zahlreicherer Beispiele
und eiu noch sorgfältigeres Studium derselben wären jedeu-
falls von Interesse, und daher erlaube ich mir die Blicke
der zahlreichen Leser des Globus aus diesen Gegenstand
zu lenken, — vielleicht ist einer derselben im Stande und
auch gewillt, noch einige Mittheilungen über die bezeichneten
Phänomene zu geben.
Das posener ? » n
Von Edwa
1. Die Schlachzitzen und Bedienten.
Es sind nun schon einige Wochen her, daß mich eine
Geschäftsreise wieder einmal mitten durch die Provinz Posen
führte. Der Anblick und die Bilder, welche sich da meinem
Auge darboten, waren nicht neu; aber sie gaben mir doch
Beweise für die weitere Entwicklung des Landes, wie ich
sie erwarte, eine Entwicklung zum Besseren. Und dieses
Bessere betrifft auch das Volksthum; das Land wird immer
mehr germanisirt. Man mißverstehe mich nicht: ich gehöre
nicht zu denjenigen, welche fortwährend mit vollen Backen
die Ausbreitung des Deutschthums daselbst verkünden, aber
mit Thatsachen und Zahlen ihre Aufstellungen selten zu
belegen vermögen. Ich gebe im Gegentheil zu, daß die
Vermehrung der Zahl der Deutschen im Vergleich zu der
Zahl der Polen in der Provinz seit 10 Jahren keineswegs
sehr erheblich ist. Ich komme darauf zurück. Eben so
wenig ist bei den Polen eine bewußte Hinneigung zum
Deutschthum auch nur im Keimen begriffen. Seit den
dreißiger Jahren diefes Jahrhunderts, bis wohin zwischen
beiden Völkern ein leidliches Einvernehmen herrschte und
in dem polnischen Statthalter, Fürsten Radziwil, seinen
Ausdruck fand, wuchs die gegenseitige Abneigung in beiden
von Jahr zu Jahr, bis sie 1848 zum vollständigen Haß
wurde und in einem wahren Volkskriege ausbrach.
Seitdem besteht eine feste Scheidewand zwischen beiden
Stämmen. Dennoch aber fage ich, daß das Deutschthum
Fortschritte und zwar bei den Polen selbst macht. Die Leute
merken es größtentheils gar nicht, daß ihnen von ihrer
heißgeliebten „Nationalität" immer ein Stück nach dem
andern abhanden kommt; sehr wenige sind im Stande, alle
diese Verluste seit der Zeit der Theilnngen nachzurechnen;
die allerwenigsten besitzen so viel ruhiges Urtheil, um auch
nur sich selbst ganz im Geheimen zuzugestehen, wie viel
wohlhabender, freiersnatürlich, was das ganze Volk,
nicht etwa blos den Edelmann angeht), knltivirter, glück-
licher die preußischen Polen seitdem geworden sind. Daß
aber irgend einer von ihnen öffentlich aufträte, sich zu dieser
Ansicht bekennte und sie gegen die eigenen Landsleute ver-
theidigte, eine solche Mannesthat ist bei einem Volke eine
Unmöglichkeit, bei dem die Nationalität zum Gegenstande
des Fanatismus geworden ist.
Dennoch werden die Polen in Preußen unaufhaltsam
jrtzt und früher.
Kattner.
mehr und mehr germanisirt, während sie unverändert fest
an ihre Sprache und die katholische Kirche geklammert
bleiben. Meine Meinung ist, daß, wenn bei dem jetzigen
System fest beharrt wird, wonach sie von der Regierung
immer eiue Nachgiebigkeit für ihre nationalen Prätentionen
zu erwarten haben, während kleine persönliche Scherereien
und Verfolgungen gegen sie ganz aufhören, so wird selbst
das leicht aufflammende Slawenblut zuletzt seinen Hoff-
nungen entsagen und sich mit der Zeit immer williger
neuen, besseren Zuständen und dem Deutschthum sammt
Sprache fügen.
Das allmälige Absterben einer altpolnischen Einrich-
tung und eines altnationalen Standes machte sich mir auf
der Reise dadurch bemerklich, daß ich ans Post und Eisen-
bahn gewissen Männern in verschiedenem Alter, von
20 bis 60 Jahren, noch seltner begegnete, als sonst. Das
Reisegepäck solcher Leute ist leicht und befindet sich am
liebsten in einer Jagdtasche. Ihre Kleidung besieht aus
langen Stieseln, kurzen Hosen, dem bekannten polnischen
Schnurrock und in Zeiten nationaler Hoffnungen unfehlbar
aus der viereckigen Mütze. Sind diese Hoffnungen aber
wieder einmal niedergeschlagen worden, wie jetzt eben, so
wird dieselbe etwas seltner und wechselt mit modischen
Mützen, auch wohl mit kleinen Hüten ab. Nur den echten
Eylinder sieht man niemals auf diesen Häuptern. Die
Kopfbedeckung wird immer zierlich auf einem Ohr getragen.
Ein amarantrothes Halstuch ist iu mannigfachen Ver-
schlingungen um den Hals, zum Theil auch um die Brust
gelegt. Die Leibwäsche entzieht sich entweder ganz den
neugierigen Blicken des Beschauers, oder sie besteht aus
einem Oberhemd, welches mit reichlichen Knöpfen nebst
Brustnadeln aus böhmischen Fabriken verziert ist, und
welches dadurch und durch feine Feinheit uns dermaßen
imponirt, daß wir mit dem Besitzer über den Punkt der
Reinlichkeit mit Recht hinwegsehen. Auch an den Fingern
erblicken wir geschmackvolle Ringe,^ welche mit dem Gold-
schmied Nichts zu thun haben. Von ähnlichem glänzend
gelbem Metall besteht die Uhrkette, wenn sie eine Veran-
lassung hat, vorhanden zu sein. Der Bart des Mannes
ist mannigfaltig zugeschnitten, zeichnet sich aber jedenfalls
durch einen möglichst langen Schnurrbart aus. Der
Körper ist fchlauk, aber sehnig, seine Haltung nur etwas
gebeugt. Aus seinen Gesichtszügen spricht Geistlosigkeit
E. Kattner: Das pos<
und Gutmüthigkeit; und man möchte es für unmöglich
halten, daß diese geschwätzigen und Zärtlichkeiten an ein-
ander verschwendenden Leute gerade die Hauptträger aller
polnischen Ausstände sind und sich dabei durch Wnth und
Grausamkeit Hervorthun. Im letzten gingen aus ihrer
Mitte namentlich die scheußlichen Hängegensdarmen hervor.
Aber welchem Barbaren sieht man seine Wildheit an, wenn
man ihn mitten im Frieden in seiner Hütte besucht? Gut-
müthigkeit und thierische Wnth liegen in seinem Gemüth
immer unvermittelt neben einander.
Der Leser merkt es schon, wir haben es hier mit den
besitzlosen Edellenten zu thun, welche keinen Er-
werbszweig und keinen Berns haben, wenn nicht das Glücks-
ritterthnm und der Patriotismus dafür gilt. Sie sind oft
zu Haus bei Vettern eingelagert, welche noch etwas besitzen,
und Helsen denen den Rest ihrer Habe verzehren; oder
sie versehen die Stellen von Landwirthschasts-Inspektoren
oder Jägern oder Dienern verschiedener Art. Es dauert
aber überall nicht lange; eine innere Unruhe treibt sie
weiter; sie müssen immer wieder anderweitig ihr Glück
versuchen. Zur Zeit der freien polnischen Republik war
das Leben dieser „Schlachzitzen" freilich eiu viel fröhlicheres.
Da führte noch jeder allzeit feinen Säbel an der Seite.
In größeren oder kleineren Trupps durchzogen sie das Land,
lagerten sich ein, wo es ihnen gefiel, am liebsten bei Juden
oder Ketzern, schlimmstenfalls anch bei Bauern, ließen sich
geben, was ihnen gefiel und was ihre Wirthe besaßen; zur
Bezahlung wendeten sie kein Geld an, dagegen wurde das
nationale Werkzeug des Kautschu oft iu Thätigkeit gefetzt;
aber das Gefühl, welches sie beim Weiterziehen hinter-
ließen, war Freude. Daß das Lebeu diefer fahrenden
Ritter einen leisen Uebergang zum Räuberthum bildete,
liegt auf der Hand. Aber wenn sie auch wirkliche Räuber
wurden, fo blieben sie doch immer stolze Bürger der freiesten
Republik. Ein zeitweilig gesichertes Dasein fanden sie
im Dienste der Magnaten, deren Gewalttätigkeiten sie
nach deren Befehle zur Ausführung brachten.
Das waren die Schlachzitzen von 1772. Man sieht,
daß mit ihnen seitdem eine große Veränderung vorgegangen
ist, und diese Veränderung setzt sich immer weiter fort, bis
sie zuletzt ganz verschwunden sein werden. Statistisch laßt
sich darüber wohl Nichts feststellen, aber aufmerksame
Beobachtung gibt darüber Aufschluß.
Ein anderer verwandter Stand ist zwar nicht an sich,
aber durch die große Zahl seiner Mitglieder eine polnische
Eigenthümlichkeit, es ist der Stand der niederen
Bedienten. Jeder etwas wohlhabende Gutsbesitzer hat
einen Koch, einen Gärtner (manchmal ohne Garten) und
eine größere oder geringere Anzahl anderer persönlicher
Bedienten, seine Frau einen ganzen Hos von Zosen. Die
männlichen Bedienten verstehen von einer Menge von Haus-
liehe» und landwirtschaftlichen Verrichtungen ein wenig,
aber sie haben doch Nichts gründlich erlernt und verdienen
ihr Brod nicht. Bei der Steigerung der Steuern, auch
wohl der Anforderungen der Leute an ihre Herren, wird
diese Dienerschaft immer kostspieliger, und es macht sich
allmälig vou selbst, daß dieselbe verringert wird. Mit-
ist es denn anch fo vorgekommen, als wenn in der Stadt
Posen jetzt nicht mehr eine so große Menge brodloser
Dienstsuchenden dieser Art das Pflaster gewisser Straßen
beengte, wie in frühereu Iahren. Auch diefer ganze Stand
eines geschäftigen, dienstfertigen Müfsigganges scheint sich
zu verringern und in andere überzugehen, welche dnrch ihre
Thätigkeit wirkliche Werthe schaffen. Das wäre also auch
ein Fortschritt zum Bessern, ein Fortschritt der Germani-
siruug unter den Polen selbst.
er Land jetzt und früher. 183
Ich könnte dieselbe noch in mancher andern Beziehung
nachweisen und behalte es mir anch noch vor. Heute aber
will ich ausschließlich die Ergebnisse meiner neuesten Reise-
beobachtungen mittheilen.
Die Saaten boten bei dem milden Winterwetter einen
lachenden Anblick dar, die Felder waren gut bestellt, die
Gebäude in gutem baulichem Zustande, das ganze Land
erfreute Auge und Herz, namentlich wenn man es im Geiste
mit vergangenen Zeiten, erlebten und unerlebten, ver-
glich; überall sah man die ordnende, pflegende, betriebsame,
schaffende Hand des Menschen.
Erstannen ergreift uns, wenn wir diesen Anblick vor
uns haben, diesen Segen, der aus der preußischen Besitz-
nähme dieser Provinz allen ihren Bewohnern erwachsen ist,
daß der Besitz noch immer angefochten wird, daß es noch
Menschen gibt, welche verlangen, daß sie aus dem preu-
ßifchen Staatsverbaude wieder ausgeschiedeil und deu Polen
zum Aufbau eines sogenannten nationalen Staates über-
liefert werde, d. h. zu einem anarchischen Uebergange zur
Rnssenherrschast, die nicht lange auf sich warten ließe.
Daß die Polen selbst solche Gelüste tragen, kann nicht in
Betracht kommen; ihre geschichtliche Entwicklung hält sie
in Verblendung gefesselt. Aber Deutsche! Aber Jakob
Veuedey!
Möge er mir das nicht übel nehmen, wenn ihm diese
Blätter zu Gesicht kommen — ich bin im Uebrigen ein
großer Verehrer von ihm — aber das ist baarer Unver-
stand. Lassen wir uns diese seine Forderung, wie er sie
vor einiger Zeit in der Flugschrift „Die Polensrage im
preußischen Abgeordnetenhauses aussprach, zum Anhalt
weiterer e th n o g r a p h i s ch e r E r ö r t e r u n g e n und Schil-
derungen der Provinz dienen.
2. Die Städte.
Jakob Venedey vergleicht in der angezogenen Flug-
schrist Posen mit Westpreußen, spricht jenes den Polen,
dieses den Deutschen zu, weil dieses „von unseren Vor-
fahren der Barbarei entrissen" sei, seine „Städte von
unseren Vätern erbaut", seine „Felder von ihnen urbar
gemacht" seien, sein „Volk in der großen Mehrzahl deutsch
war uud geblieben ist"; was alles mit Posen nicht der
Fall sei. In dem Folgenden werde ich zeigen, daß wir
genau denselben „Urrechtstitel" auch auf Posen besitzen.
Was zunächst die Städte betrifft, so will ich hier
weniger Gewicht darauf legen, daß dieselben in ganz Polen
schon einmal im Mittelalter von Deutschen gegründet
worden sind, daß damals eine Stadt gleichbedeutend war
mitAnsiedlnng deutscher Bürger bis zum Bug und Dniester.
Für unsere Provinz hat das unwiderleglich durch Samm-
lung und Abdruck der Gründungsurkunden Heinr. Wnttke
in seinem „Städtebuch des Landes Posen" (Leipzig in
Commission bei H. Fries) nachgewiesen.
Viel wichtiger erscheint mir, daß diese Städte von uns
zum zweiten Mal erbaut worden sind, nämlich feit der
preußischen Besitznahme im vorigen Jahrhundert. In der
That wurden sie durch das überhand nehmende Junkerthum
uud Pfaffenthum in ganz Polen wieder zu Grunde ge-
richtet; die trotzigen Mauern verfielen, die stattlichen Wohn-
Häuser wurden Ruinen, die Gewerbthätigkeit hörte aus, als
Nahrungsquelle trat an ihre Stelle ein kümmerlicher Acker-
bau, der deutsche Laut verhallte, den Platz des arbeitsamen,
freiheitsstolzen Bürgers nahm der träge, unterwürfige
Bauer, der stumpfsinnige Mönch und verschlagene Schacher-
jude ein. Nur in dem südlichen und Westlichen Grenzstrich
184 E. Kattner: Das Pose
erhielt sich in einer geschlossenen deutschen Bevölkerung
unter schweren Leiden und Drangsalen eine Reihe von
kleinen und Mittelstädten.
Noch jetzt findet man zuweilen unter altem Schutt
Münzen mit der Inschrift: Solidus (Schilling), civitatis
Szremensis (Schrnnm), Inowladislawiensis (Jnowratzlaw),
Gnesnensis (Gnesen), Bydgotii (Bremberg) k. ?lber als
die Preußen diese „eivitates" in Besitz nahmen, da War von
Münzstätten dort keine Spur. Im Jahre 1809, als sich
das Land schon mehre Jahre erholt hatte, zählte man in
Pleschen 1692 (jetzt im Jahre 1861 — 6182), in Kosch-
min 691 (jetzt im Jahre 1861 — 3348), in Wongrowitz
809 (jetzt 3366), in Schlimm 381 (jetzt 5301) Ein-
wohner. Bromberg war 1772 nur eiu Fischer- und
Räuberuest mit 400 Einwohnern; jetzt zählt es deren
24,000, und das Fischer- und Räubergewerbe ist hier ganz
in Vergessenheit gerathen.
Friedrich der Große gibt selbst über deu Zustand, in
welchem er die Städte der 1772 erworbenen Provinzen
vorgefunden, eine charakteristische Schilderung: „Die
Städte waren dort in dem traurigsten Zustande. Kulm
hatte gute Mauern, große Kirchen; aber anstatt der
Straßen sah man nur die Keller der Häuser, welche früher
vorhanden gewesen Ware». 40 Häuser bildeten den Markt-
platz, davon 28 ohne Thüren, ohne Fenster, ohne Dach,
ohne Besitzer. Bromberg befand sich in demselben Zu-
stände. Man wird es kaum glaubeu, daß ein Schneider in
diesen unglücklichen Gegenden ein seltner Mensch war;
man mußte welche in allen'Städten ansetzen, ebenso Apo-
theker, Wagner, Tischler und Maurer. Die Städte wur-
den wieder aufgebaut und bevölkert."
Nicht anders sah es 1793 in Südpreußen aus.
Noch einmal zog nach dem schweren Falle der preu-
ßischen Monarchie im Jahre 1806 die Gegenslnt der
slawischen wüsten Wirthschast über das Land; alle die
thätigen preußischen Beamten kamen um Amt und Brod;
sehr viele eingewanderte deutsche Bürger verloren Hab und
Gut; so mancher preußische Vaterlaudssreuud mußte seine
Treue mit dem Tode büßen; ans das Bitterste wurde die
deutsche Sprache verfolgt. Aber nicht lange dauerte das
verderbliche Treiben; schon nach sechs Jahren nahte die
Befreiung.
Was wir seitdem, seit 1815, aus den verkommenen
Städten gemacht haben, ist für denjenigen, welcher mit den
Vorstellungen der alten deutschen Provinzen über das
wilde Polen nach dem Posenschen kommt, wahrhaft über-
raschend. Die Menge freundlicher, sauberer Städtchen ist
hier größer, als in mancher anderen deutschen Landschaft.
Alterthümliche Bauwerke kommen allerdings selten vor
uud bestehe« dann fast immer nur aus kirchlichen Gebäuden.
Hier ist Alles frisch uud neu; die Wohnhäuser sind nach
den Ansprüchen der Neuzeit bequem und geräumig eiuge-
richtet, überwiegend massiv mit Ziegeldach, oft in einem
geschmackvollen Style erbaut. Dazwischen stehen schattige
Linden oder doch Birken, Ahornbäume oder Pappeln, oft
schon von stattlicher Höhe. Freundliche Ziergärten sind vor
r Land jetzt und früher.
der Thüre augelegt. Auffallend durch Umfang, Größe und
edle Formen ragen aus der Mitte außer der Kirche auch
das Gerichtsgebäude, das Rathhaus oder die Schule her-
vor. Obst- und Gemüsegärten umkränzen das Ganze.
Im Südwesten des Landes prangen noch oft als herrlichste
Zierden Weinberge oder Hopfenpflanzungen. Dort, vor-
zugsweise in Neutomischl, ist bekanntlich einer der bedeu-
tendsten Hopfenmärkte Europa's.
Eine hervorragende Stellung in der äußern Erschei-
nnng nimmt natürlich die Hauptstadt P'oseu ein; sie
ist mit ihren geräumigen Straßen, weiten Plätzen, schattigen
Baumgängen, stolzen öffentlichen Gebäuden und Palästen,
mit deu riesigen uud dennoch das Auge erfreuenden
Festungswerken, mit dem breiten, schiffbelebten Strome
eine der schönsten Städte Preußens. Das Rathhans, aus
dem 15. Jahrhundert stammend, ist eins der wenigen alter-
thümlichen, uicht kirchlichen Gebäude der Provinz.
Bromberg, obgleich noch nicht die Hälfte der Be-
Wohnerzahl von Posen (54,000) erreichend, macht ihm
dennoch in einigen Beziehungen des bürgerlichen und
geistigen Lebens den Vorrang streitig. Es zeichnet sich
durch die große Ausdehmmg seiner Gärten und alten
Baumpflanzungen, besonders dnrch die schönen, schattigen
Spaziergänge am Bromberger Kanal, durch die großartige«
Mühlenanlagen der Seehandluug und das prächtige Bahn-
hofsgebände, endlich durch die Bildsäule Friedrichs des
Großeu aus. Es gibt aber uoch alte Leute dort, welche
sich der Zeit am Anfange dieses Jahrhunderts eriuucru,
wo der beliebteste oder gar einzige Vergnügungsort der
Umgebung in einem Garten mitten in einer kahlen Sand-
fläche bestand. Der Reiz des Gartens bestand in einfachen
Sauerkirschbäumen, unter deren unzulänglichem Schatten
man Kaffee trank. Es gab aber eben damals noch keine
schattigeren Bäume. Die jetzigen Riesen am Kanal, welche
ursprünglich gepflanzt worden sind, um den Sand, welcher
immer vom Winde in denselben hineingetrieben wurde,
zum Stehen zu bringen, waren damals noch zu klein.
Sechszig Jahre verändern eiue Landschaft.
Es würde zu weit führen, wollte ich auch audere
Städte, wenn auch nur kurz, eiuzelu beschreiben. Das
Gesagte genügt aber wohl zuverlässig, um meine Behaup-
tung zu rechtfertigen, daß Alles, was wir Preußen bei der
Besitznahme des Landes in und au den Städten vorgefunden
haben, für Nichts zu schätzen ist gegen das, was wir daraus
gemacht habeu, und daß wir uns also mit Fug als ueue
Gründer derselben betrachten dürfen.
Indem ich mir vorbehalte, in einem andern Artikel den
Aufschwung des inneren, besonders des Gewerbslebeus zu
schildern, füge ich noch hinzu, daß alle vorhandenen Real-
schulen der Provinz — es gibt deren fünf — von den
betreffenden Städten gestiftet sind uud unterhalten werden,
also als freie Werke des deutschen Bürgerslandes anzusehen
sind. Dasselbe gilt von den Gymnasien zu Gnesen,
Jnowratzlaw uud Lissa, deu Progymnasien zu Rogasen,
Schneidemühl uud Schrimm, auch von dem Pädagogium
zu Filcheu bei Ostrowo, einem Privatunternehmen.
Anthropologische Beiträge,
185
Anthropologi
Das deutsche Archiv für Anthropologie.
Vor nun beinahe fünf Jahren, im September 1861,
hielten mehre deutsche Anthropologen eine Zusammenkunft
zum Zweck „gemeinsamer Besprechungen". Bald nachher
erschien (bei Leopold Voß in Leipzig) ein vortrefflicher
Bericht über dieselben; derselbe ist von K. E. von Baer
und dem nun verstorbenen Rudolph Waguer erstattet
worden. Der Inhalt ist reich, die wichtigsten anthropo-
logischen Probleme wurden angedeutet und viele „Frage-
punkte" zur künftigen Beantwortung aufgestellt.
Der Altmeister von Baer schließt den Bericht mit
folgenden Worten:
„Die höchsten Kleinodien des Wissens suche ich gar
nicht in dem physischen Theile der vergleichenden Anthro-
pologie, sondern im psychischen. Wenn erst die allge-
meine (sogenannte) Civilisation die (sogenannten) Natur-
Völker vertilgt oder in sich ausgenommen haben wird, dann
wird man ohne Zweisel das Wenige, was sich über die
socialen Verhältnisse und das innere geistige Leben solcher
Völker noch auffinden läßt, für die köstlichsten Schätze des
Wissens halten. Dann wird man nicht begreifen können,
wie in unserer Zeit so viele Männer der Wissenschaft ihr
Leben und ihr Mühen, die Regierungen bedeutende Sum-
men Geldes verwandt haben, um Thiere und Pflanzen in
fernen Gegenden zu suchen, Bergspitzen zu messen und die
Magnetnadel schwingen zu lassen, — so wenige aber, um
das innere Leben entlegener Volksstämme vollständig zu
erkennen und für die Nachwelt darzustelleu. Indessen auch
in dieser Beziehung ist ein neuer Tag angebrochen. Die
Missionäre fangen an, die Christen über die Unchristen zu
belehren, und ich zweifle nicht, daß auch Andere, von mehr
unparteiischem Standpunkt aus, sich ihnen bald in
großer Zahl anschließen werden. Aber die physische An-
thropologie wird mit mehr ausgebildeter Methode der
psychischen voranschreiten müssen. Zeigt sich erst die
wissenschaftliche Bestrebung in diesen Richtungen
allgemeiner, so werden auch die Regierungen, die jetzt zu-
frieden sind, wenn eine von ihnen ausgerüstete Erpedition
ein paar Dutzend neue Pflanzen und eben so viele Käfer
mitbringt, nicht mehr verwundert sein, wenn man reisen
will, nur um Völker zu studireu, ohne sie erobern
oder sonst benützen zu wollen."
Herr von Baer geht in einer seiner Behauptungen zu
weit. An Stöfs zur Beurtheilung auch der wilden Völker
ist kein Mangel; auch ist derselbe schou früher mehr oder
weniger planmäßig bearbeitet worden; ich will hier nur
an: „Die Sitten der Wilden, zur Aufklärung des
Ursprungs und Aufnahme der Menschheit, von Jens
Kraft, Kopenhagen 1766," erinnern. Dieser verlangte,
daß man jenen „ansehnlichen Theil des menschlichen Ge-
schlechts gründlich studireu solle, um die Geschichte des
Menschen überhaupt aufzuklären; er kennt auch schon eine
vergleichende Art und Weise der Erörterung und legt
Gewicht darauf, daß er gesucht habe „den Menschen aus
dem Menschen selbst zu erklären," — er will „die
Dinge erklären ans dem, was in ihnen selbst vorkommt".
Dieser Weg erscheine ihm als der nächste und beste, aber
Globus X. Nr. 6.
sche Beiträge.
meistenteils noch sehr uugebahutkeiue andere Sache sei
unserer Bemühung würdiger.
Darin stammt der alte Kraft mit Herrn von Baer
überein, und er hat recht. Dem Letztern muß man auch
darin beipflichten, daß bei anthropologischen Forschungen
mit wissenschaftlicher Methode zu Werke gegaugeu werden
solle.
Auch in dem kolossalen Gebiete, welches diese noch so
junge und neue Wissenschaft umfaßt, wird, allerdings erst
seit kurzer Zeit, methodisch umfassend und in
wissenschaftlichem Zusammenhang gearbeitet. Und
das geschieht mit einem preiswürdigen Enthusiasmus, mit
einer erquickenden Wärme, mit einer Hingebung, Aus-
dauer und Vielseitigkeit, welche Achtung einflößen. Sodann
gewährt es einen nicht geringen Reiz, die Polemik zu ver-
folgen, welche gerade bei anthropologischen Untersuchungen
nicht ausbleiben kann. Das Alte wehrt sich gegen das
Eindringen des Neuen, es sühlt sich aufgerüttelt; aber
gerade die neuen Ideen sind ihres Sieges gewiß, weil sie
aus Thatsacheu fußen und die besten Köpfe anziehen.
Man kann von der Anthropologie dasselbe sagen wie
von Colnmbns; — auch sie hat eine neue Welt entdeckt,
die uralt ist. Schon jetzt stellt sich heraus, daß sie nicht
nur die Hauptgrundlage einer künftigen allgemeinen
Kulturwissenschaft fein, sondern sich zu dieser selbst
herausentwickeln werde. Sie hat mit dem Menschen in
dessen allseitiger Thätigkeit zu schaffen; sie zieht den Schleier-
Hinweg von so Vielem, was zeither dunkel und unerklärt
geblieben ist. Sie ist recht eigentlich eine Wissenschaft
des Fortschrittes, und sie arbeitet durchaus im In-
tereffe der wahren Humanität und der gleich-
Verth eilenden Gerechtigkeit.
Wir in Deutschland streiten nicht (wie das in England
geschieht) über den Rainen Anthropologie; dieser ist uns
schon seit Immanuel Kant geläufig und fchon vor länger
als 50 Jahren hat I. Fr. Fries seiner Logik eine „an-
thropologische Einleitung" vorausgeschickt. Gegenstand
der Anthropologie ist die Natur des Menschen. „Sie
bildet, wie von Baer hervorhebt (je nachdem man seine
Richtung nimmt) deu Gipfelpunkt oder den Ausgangspunkt
sehr verschiedener Wissenschaften: der Zoologie, der ver-
gleichenden Anatomie und Physiologie, der Weltgeschichte,
der Philologie, der Staatswissenschaften und Rechtsphilo-
sophie; sie enthält die Psychologie ganz. Die Philosophie
überhaupt ist ja nur ein Ausdruck der verschiedenen Weisen,
wie der Mensch die Welt zu begreifen gestrebt hat." —
Was sich auf die Völker als solche bezieht, auf ihre
ethnische Art und Weise, das verweisen wir in die Eth no-
logie. Wir bringen aber diese nicht, was komischer Weise
in England geschieht, in einen feindlichen Gegensatz zur
Anthropologie, sondern fassen sie als einen Bestandtheil
und Zubehör der letztern. Ein Volk besteht eben aus
Menschen.
Man ist übereingekommen, den weitschichtigen Stoff,
welcher den Gegenstand anthropologischer Forschungen und
Untersuchungen bildet, in Gruppen zu zerlegen. Die erste
umfaßt die historische Anthropologie und zu ihr gehören
zu nicht geringem Theile die sogenannten Alterthümer
24
186 Anthropolo,
des Menschengeschlechts, über welche wir in unseren
Tagen so viele merkwürdige Aufschlüsse erhalten. Die
zweite bezeichnet man als beschreibende Anthropologie,
die dritte als die vergleichende.
Zu methodischen Forschungen auf dem Gebiete der An-
thropologie ist der Anstoß von Deutschland aus gegeben
worden, aber in der Bildung anthropologischer Vereine
sind uns Paris und London vorangegangen. Das erklärt
sich leicht; Frankreich und England haben an und in ihren
Hauptstädten große Brennpunkte, nicht blos in staatlicher,
sondern auch in wissenschaftlicher Beziehung, und die meisten
hervorragenden Männer jener Länder wohnen in diesen
Centren. Sie haben dadurch den großen Vortheil nicht nur,
daß ihnen reiche wissenschaftliche Sammlungen jeden Augen-
blick zu Gebote stehen, sondern sie können sich, so oft es
ihnen gefällt, zu einem gemeinsamen Zwecke versammeln.
Dadurch wird ein rascher und lebendiger Gedankenaus-
tausch möglich, und die sechs Bände, welche bis jetzt von dem
Bulletin der pariser Gesellschaft erschienen sind und sämmt-
liche Nummern der londoner „Anthropologieal Review"
liesern den Beweis, wie anregend und fruchtbringend solche
Erörterungen wirken. Nach dem Muster jener beiden Ge-
sellschasten haben sich anthropologische Vereine dann auch
in Madrid, Neuyork und Moskau gebildet.
Wir in Deutschland haben keine tonangebende Haupt-
stadt, und das ist, Alles in Allem erwogen, ein nicht geringer
Segen, namentlich so weit die Wissenschaft in Frage kommt.
Diese hat bei uns eine große Menge von Centren, deren jedes
einen Heerd der Intelligenz bildet. Auch in der Wissenschaft,
wie im Staatswesen, entspricht das föderative Element
dem germanischen, insbesondere auch dem deutschen Wesen
weit mehr als die Centralisation. Jenes hat allerdings seine
Unbequemlichkeiten, und die Gelehrten in Paris und Lon-
don können, wie gesagt, ihre Gedanken rascher und leichter
austauschen, als die unserigen. Aber theilweise werden die
Mängel durch Wanderversammlungen ausgeglichen und jene
der Naturforscher liefern den Beweis, wie anregend auch
solche Zusammenkünfte wirken.
Jetzt eben haben auch die deutschen Anthropologen sich
ein Organ geschaffen, in welchem sie ihre Forschungen
niederlegen wollen.*) Diese zehn Männer, welche dasselbe
herausgeben, sind Gelehrte ersten Ranges und mehr als
einer von ihnen hat einen wohlerworbenen Weltruf. Hier
ist vou vorne herein die Bürgschaft für Gediegenes gegeben
und allermindestens Ebenbürtigkeit in Bestrebungen und
Leistungen mit jenen des Auslandes.
Der vorliegende Band zeigt indeß eine nicht geringe
*) Archiv für Anthropologie. Zeitschrift für
Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen.
Herausgegeben von C. E. von B a e r in St. Petersburg,
E. Defor in Neuenburg, A. Ecker in Freiburg, W. His in
Basel, L. Lindenschmit in Mainz, G. Lucae in Frankfurt
a. M., L. Rütimeyer in Basel, H. Schaffhausen in Bonn,
E. Vogt in Genf und H. Welcker iu Halle, Nuter der Re-
daktio'u vou A. Ecker und L. Lindenschmit. Braun-
schweig, Vieweg und Sohn, 1866. Erster Band, 160 S. Mit
zahlreichen Holzschnitten und lithographirten Tafeln. — Das
Werk ist vortrefflich gedruckt und die Holzschnitte sind sehr klar;
leider ist das Format unbequem und die Typen sind lateinisch. Das
Archiv soll auch den Zweck erfüllen „die Resultate der Forschung
in weiteren Kreisen zu verbreiten"; nun lehrt aber die Ersah-
ruug, daß iu „weiteren Kreisen" eine große Abneigung herrscht,
Quartbände, die obendrein nicht mit deutschen Buchstaben ge-
druckt sind, zu leseu. Die londoner und die pariser Gesellschaft
geben ihre Verhandlungen und Denkschriften _ in handlichem
Format Everns, und bei uns hätte man ein Gleiches thunsollen
und können. Wir sagen das nicht aus Kleinigkeitskrämerei,
sondern aus aufrichtiger Theilnahme für das Archiv, dessen Er-
scheinen wir mit wahrer Freude begrüßen.
che Beiträge.
Einförmigkeit in Betreff der behandelten Stoffe. Nicht
weniger als vier Abhandlungen sind der Kephalographie
gewidmet.*) Gewiß erscheinen kraniologische Untersuchun-
gen von um so größerer Wichtigkeit, da die Männer, wel-
chen man Specialität in Betreff derselben zuerkennen muß,
und welche auf dieselben für und für große Mühe, Sorg-
falt, Ausdauer und Scharfsinn verwenden, im Grunde
genommen, bis jetzt zu sehr wenigResultaten gekom-
men sind. Sie widerlegen einander mit großer Wärme,
werfen die gegenseitigen Erfahrungen, Beobachtuugeu
oder Bestimmungen über den Haufen, und da es ihnen,
wie sich das bei Männern der Wissenschaft von selbst ver-
steht, um Wahrheit und nicht um Eigensinn zu thun ist, so
widerlegen sie auch manchmal sich selber, wenn sie durch
weitere Forschung dahin gekommen sind, das für unrichtig
und unhaltbar anzusehen, was ihnen früher für positiv
galt. H. Welcker sagt (S. 89): „Es liegt im Interesse
der sich entwickelnden Wissenschaft, das Nichtige, von wel-
cher Seite es auch angefochten fei, zuhalten, zur Ver-
werfung des Unhaltbaren aber durch offene Erklä-
ruug selber das Signal zu geben." Auch W. His gesteht
(S. 67), daß er jetzt eine andere Art von Typenscheiduug
im Gegensätze zu früheren Aufstellungen an-
nehme, nicht einen einzelnen Charakter, sondern einen
ganzen Charaktereompler als bezeichnend anerkenne.
Netzius in Stockholm hatte behauptet und mit großem
Scharfsinn erörtert, daß die ältesten Bewohner Europas
kurzköpfig gewesen seien; His sagt (S. 79), daß zwar
diese Ansicht allgemein geglaubt werde, aber durch keine
einzige Thatsache bewiesen sei. Auch über die Methode
der Schädeltypenbestimmung sind unsere Gelehrten
gar nicht einig, und drei von den vier unten namhaft ge-
machten Abhandlungen sind auch in der Beziehung sehr
belehrend, daß wir einen Einblick in den Stand der
großen Ungewißheit erhalten, in welchem sich dieKra-
niographie befindet. Nicht blos in Deutschland.
Netzius hatte weiter behauptet, die Kelteu seien lang-
köpsig gewesen; Thurnam weist nach, daß er viele kurz-
köpsige Keltenschädel gemessen habe und daß Netzius völlig
im Jrrthnm sei (Anthropologieal Review, Nr. 13. April
1866, S. 201). Bonte in Paris polemisirt scharf gegen
W. His und sagt diesem entgegen: der vielbesprochene
Hohbergschädel sei nicht romanisch, der Disentisschädel sei
kein Disentisschädeltypus, und beide Klassifikationen seien
irrig. His selber halte ihn jetzt nicht mehr für romanisch,
sondern für allemannisch; er stehe damit im Gegensatze zu
von Baer und Retzins :e. (Lulletins de la societe d'Anthro-
pologie, VI. S. 696.)
Wir deuten diese Dinge nur an, um zu zeigen, wie
hier so zu sageu noch so Vieles schwimmt, und wie wenig
fester Boden gewonnen worden ist. Die Kraniologen, so
verdienstlich ihre Arbeiten sind, werden noch viele Jahre
lang untersuchen, messen und beobachten, bevor sie über
viele wichtige Punkte zu einer Übereinstimmung gelangen
und sageu können: Das und das steht bodenfest und ist
nicht mehr anzuzweifeln.
Uns interefsiren viel mehr die beiden Abhandlungen,
welche in das Gebiet der geschichtlichen Anthropologie ein-
*) W. His: Beschreibung einiger Schädel allschweizerischer
Bevölkerung, uebst Bernerkuugeu über die Aufstellung von
Schädeltypen. — A, Ecker: Ekelet eines Makrokephalüs vou
einem fränkischen Todtenselde. — Derselbe: Ueber eine charak-
teristische Eigentümlichkeit iu der Form des weiblichen Schä-
dels und der Bedeutung für die vergleichende Anthropologie. —
H. Welcker: Kraniologische Mittheilungen. Diese vier' Auf-
sähe nehmen zwei Drittel des gauzeu Bandes in Anspruch.
schlagen; hier haben wir es mit Gegenständen zu thun, die
ein nicht speciell-anatomisches, sondern ein kulturwissen-
schaftliches Interesse in Anspruch nehmen. L. L i n d e n s ch m i t
beginnt eine Abhandlung über den gegenwärtigen Zustand
der dentschenAlterthumsforschung, erwirft zunächst
einen Blick auf die bisherige Entwicklung derselben und
erörtert den interessanten Gegenstand mit jener Sicherheit,
Klarheit und umfassenden Gelehrsamkeit, die wir von einem
solchen Forscher erwarten durften; außerdem hat er schon
oft gezeigt, daß er auch die Gabe ansprechender Darstellung
besitze.
Eine wahre Perle ist auch die Abhandlung von Karl
Vogt in Genf: „Ein Blick auf die Urzeiten des
Menschengeschlechts". Jeder Satz kennzeichnet den
Meister. Vogt behandelt seinen Gegenstand nüchtern,
ruhig, sicher, ohne alle Systemmacherei, ohne irgendwelche
Voreingenommenheit, mit scharfer und besonnener Kritik;
er weiß vortrefflich das Wichtige hervorzuheben, gibt die
Resultate, zu welchen bis jetzt die Forschung gelangt ist, in
übersichtlicher Weise, und wie sich bei ihm von selber ver-
steht, sehr gut stylisirt. Durch die ganze Abhandlung zieht
ein durchaus frischer Hauch.
Karl Vogt schließt seine Betrachtungen mit der Periode
ab, welche schou im Zusammenhange mit der überlieferten
Geschichte steht, mit dein sogenannten Broncezeitalter. Er
behandelt zunächst die Periode, in welcher man Werkzeuge
nur aus Stein, Knochen und Holz verfertigte.
Manche Forscher haben zwischen den verschiedenen Pe-
rioden: Stein, Bronce oder Kupser, Eisen, einen
scharfen Unterschied machen wollen. Es ist aber gar nicht
anzunehmen, daß mit Einführung eines neuen Elementes
der Kultur die bislang vorhandenen Zustände sofort über
den Haufen geworfen wurden. Gewiß hat die Bronce sich
nur langsam Bahn gebrochen, und Instrumente von Steinen
und Knochen sind noch lange im Gebrauch gewesen, auch
nachdem die Bronce schon eine allgemeinere Verbreitung
gewonnen hatte. Eiue Epoche ragt in die andere
hinüber.*)
Es ist eine UrPeriode vorhanden gewesen mit einem
Kulturzustande, welcher keine Spur davou verräth, daß die
während derselben vorhandenen Menschen die Bearbeitung
und den Gebrauch der Metalle gekannt hätten, und man
kann selbst in dieser Periode verschiedene Entwicklungs-
Momente unterscheiden. Sehr richtig wird Folgendes her-
vorgehoben: „So gewiß als Stein-, Bronce- und Eisen-
zeit" nur relative Abschnitte bilden, die sich in
einander fortsetzen, so gewiß kann auch nicht ange-
nommen werden, daß ähnliche Kulturepochen, wenn sie
auch in derselben Reihenfolge sich entwickelten, auf ver-
schiedeuen Punkten der Erdoberfläche zu gleicher
Zeit sich abwickeln mußten. Es konnten selbst auf
dem beschränkten Rann: Enropa's längs den Küsten und
den Flüssen Völker existiren, welche in der Eivilisation
einen Schritt weiter gekommen waren, welche das Metall
kannten und zu benützen verstanden, während im Innern
des Landes Stämme, vielleicht noch Jahrhunderte lang,
*) Das „Archiv" selbst gibt (S. 75) dafür einen Beleg.
Bei Niederollm in der hessischen Rheinprovinz fand man ein
Geripp in einem Grabe; aus den Gegenständen, welche man
bei dem Skelette fand, ergibt sich, daß diese Leichenbeigaben ins
sechste bis achte Jahrhundert n. Chr. gehören. Neben der linken
Hand lag ein kleines Messer von Elsen, ans der Brust ein
kleines Messer von Feuerstein; in der Gegend des Gürtels
einRing vonEisen und ein anderer von Erz; an einem
Fingerknochen befand sich ein Ring von Erz mit eingravirtem
Kreuz. —Hier haben wir Stein, Äronce und Eisen beisammen.
che Beiträge. 18?
fortexistirteu, welche von dieser Kenntniß durchaus keine
Ahnung hatten. Wissen wir doch, daß bis in die jüngste
Zeit zahlreiche, inselbewohnende Wilde vorhanden waren,
welche sich noch mit Steinwaffen kümmerlich behalfen, ehe
Europa ihnen Eisen, Blei und Pulver zuführte. Es
erscheint deshalb nnthuulich, die Funde aus verschiedenen
Ländern, welche bei dem Mangel von Commnnicationen in
der Vorzeit himmelweit auseinander liegen mußten, un-
mittelbar zusammenzustellen, statt dieselben verglei-
ch un gs weise zu behandeln und erst aus all den umge-
benden Erscheinungen wenigstens annähernd die Zeit zu
bestimmen, in welcher eine gegebene Kulturepoche sich ent-
wickelte."
Bei der Untersuchung der Höhlen und ihrer Ein-
schlüsse verfährt man jetzt mit methodischer Sorgfalt, so
daß die einzelnen Ereignisse in ihrer Reihenfolge auf-
gefaßt uud zusammengestellt werden können. Beim Be-
urtheilen der Ausfüllung einer Höhle unterscheidet man
zwischen den aus natürlichen Ursachen entstandenen und
auf einander folgenden Absätzen und zwischen den iu ver-
schiedenen Zeitepochen durch den Menschen eingeführten
Veränderungen. In manchen Höhleil lassen sich ans ein-
ander folgende Abfatzperioden nachweisen, welche durch
besondere Einschlüsse charakterisirt sind; viele dienten als
Begräbnißstätten, als Znfluchtsörter während unruhiger
Zeiten für Jäger und Hirten und nicht selten sind sie auch
längere Zeit hindurch als Wohnstätten benützt worden.
Der Boden wurde umgewühlt, um die Leichname zu ver-
senken, die Lebenden hinterließen in den Zufluchtsstätten
die Spuren ihrer Feuerstellen, ihrer Mahlzeiten, Geräth-
schasten und Werkzeuge, welche sich mit den Zeugnissen
älterer Epochen in verwirrender Weise mengten. Kleinere
und größere Raubthiere wühlten selbst zuweilen den Boden
aus oder wählten die Höhle als Schlupfwinkel, in welche
sie zur Fütterung ihrer Jungen Stücke von den bewältig-
ten Thieren brachten. So gibt es denn Höhlen, welche
eine wahre Musterkarte von Erzeugnissen vorgeschichtlicher
und geschichtlicher Epochen bilden und die leicht dazu ver-
führen können, Ergebnisse anderweitiger Forschungen zu
verdächtigen und iu ihrer Beweiskraft zu schwächen. Wo
aber die natürlichen Ablagerungen sich in ihrer ganzen
Reinheit uud Vollständigkeit darstellen, wo die Decken von
Kalksinter, welche1 gewöhnlich die einzelnen Ablagerungen
von einander trennen, vollständig erhalten sind uud keine
Spur von später bewerkstelligten Durchbrüchen erkennen
lassen, .— da darf man auch annehmen, daß die Fund-
ergebnisse unverfälscht und die darauf gebauten Schlüsse
durchschlagend sind, zumal wenn die Ergebnisse sich derart
herausstellen, daß sie einen deutlichen Unterschied in den
verschiedenen Epochen der Ablagerung nachweisen.
Wir können hier nicht in eine genauere Analyse der
musterhasten Abhandlung eingehen. Mit Umsicht und
gründlicher Sachkenntniß erörtert Karl Vogt die geologische
und paläontologische Bedeutung der verschiedenen Schichten
des Schwemmlandes (des Diluvium); er bespricht jene der
Torfmoore, die alten Grabstätten, welche eine wichtige
Quelle unserer Kenntniß über die vorgeschichtlichen Epochen
bilden, betont in dieser Beziehung mit Recht „die Frage
der Zeit" und geht auf die geologischen, paläontologischen
und anthropologischen Merkmale und Kennzeichen ein, ohne
deren sorgfältige Erwägung man zn Jrrthümern verleitet
wird. Auch dem „industriellen Charakter" der alten Funde
wendet er seine Aufmerksamkeit zu und schildert dann die
Ergebnisse, welche in allen den angegebenen Beziehnn-
gen bis auf den heutigen Tag gewonnen worden sind.
24*
188
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen
Der Freistaat der holländischen Bauern am Oranjefluß
in Südafrika führt im Staatswappen einen Baum, an dessen
Fuß eine Rinderheerde und ein Löwe ruhen. Die Umschrift ist
holländisch und besagt erstens: Geduld und Muth, — ein
Motto, das allerdings für die obwaltenden Verhältnisse sehr gut
paßt, sodann: Freiheit und Einwanderung. Auch eine
Zeitung fehlt nicht; sie erscheint in der Hauptstadt Bloem-
fontein und heißt: The friend os the Free State.
Aus dem Titel sollte man schließen, daß sie in englischer Sprache
geschrieben werde; das ist jedoch nicht der Fall,'denn die über-
wiegende Menge des Textes ist Holländisch. An der Spitze
steht als Wahlspruch: „Die Freiheit der Presse ist uothwendig
für das Weseu eines Freistaates." Einen beträchtlichen Raum
der Nummern nehmen die Fehden mit den Basutos in An-
sprach, jenen Halbwilden, unter welchen die französisch-prote-
stantische Kirche eiue Anzahl vou Missionen gegründet hat. Die
Missionäre berichten uicht viel Gutes über die holländischen
Bauern, gesteheu aber doch ein (wie wir schon einige Male ini
„Globus" aus dem „Journal des Missious evangeüqnes" nach-
gewieseu haben), daß die Basutos unverbesserliche Viehdiebe
seien. Um Viehdiebstahl dreht sich bei den Kasfervölkern fast
Alles, uud die Zeitung der Bauern ermangelt nicht, die lange
Reihe von Missethaten' der „Wilden" aufzuzählen; auch schildert
sie die Wiedervergeltung, welche unter solchen Umständen nicht
ausbleiben kann.
Aus dem Nomansland in Südafrika. Wir meldeten
schon neulich, daß diese Region der Colonie Natal einverleibt
worden sei. Die Zeitung „Cape and Natal News" stellt dar-
über Betrachtungen an und fragt sich, wann wohl die Zeit
kommen werde, in welcher die angelsächsische Rasse in Süd-
asrika ihr Ziel erreicht habe. Sie verlangt die Ostküste weit
über Natal nach Norden hinauf. In früheren Zeiten bildete
der Keifluß die Nordgrenze der Capcolonie; 1836 wurde die-
selbe in Folge eines Vertrages mit den Kaffern bis zum
Großen Fischfluß hin aufgerückt; 1344 wurde dann der Ke'i
abermals Grenzfluß und das zwischen ihm uud dem Keiskamma
(Großen Fischflusse) liegende Gebiet zur selbststäudigen Colonie
Britisch-Kaffraria'erhoben. Andererseits ist die Colonie
Natal, welche den Unsicnlu zur Grenze hatte, nun ausge-
dehnt worden, weil seit 13. September 1865 das Nomansland
ihr einverleibt ist bis zum Umtamtuma. Das Land zwischen
diesem Flusse und dem Großen Ker ist etwa 50 Wegstunden
lang und 140 breit und bildet das uuabhängige Kaffern-
land. Dasselbe hatte 1850 etwa 120,OCX) Eingeborne, von
welchen ungefähr 47,000 auf das Volk der Ämapoudas
gerechnet wurden. Seitdem sollen diese letzteren, weil die Be-
völkeruug angeblich stark zugenommen hat, 25,000 Krieger ins
Feld stellen können. Auch die Zahl der Amagalekas,' welche
am Nordufer des Ke'i wohnen und jetzt unter dem Häuptling
Kreli stehen, soll 40,000 bis 50,000 Seelen stark sein. Einige
Fremde sind dort eingewandert, namentlich wohnen jetzt mehre
Familien Basutos östlich vom Flusse Euchanecha oder
Jurinera unter einem Häuptlinge, welcher Sohn des viel-
genannten Basutochess Moschesch ist, desselben, welcher jetzt
mit den holländischen Bauern des Freistaates in Fehde liegt.
Dieser Sohn heißt Nehemia und wird als „ein braver eivili-
sirter Wilder" geschildert, welcher in der Kapstadt erzogen worden
sei, sich eine'hübsche Wohnung gebaut uud eine' werthvolle
Büchersammlung angeschafft habe. In demjenigen Theile von
Nomansland, welcher unmittelbar südlich an Natal grenzt,
haben sich Griquas unter ihrem Häuptling Adam Kock nieder-
gelassen. Da sie von holländischen Vätern und Hottentoten-
stauen abstammen, bezeichnet man sie im Land oft auch als
Basters; sie zählen hier nur etwa 250 Familien, besitzen im-
gefähr 600 Ochsenwagen und beträchtliche Heerde». Jüngst ist
-wischen Adam Kocks' Griquas und den Basutos des Nehemia
ein Krieg ausgebrochen. Die letzteren (gleich den übrigen, von
den französischen reformirten Missionären vielfach aber nutzlos
zur Ehrlichkeit ermahnten Basutos im eigentlichen Lessutolande
unter Moschesch) sind unverbesserliche Viehräuber. Sie raubten
den Griquas Ochsen und Kühe, und die Griquas haben dann
Erdtheilen.
des „braven, civilisirten Wilden" Nehemia Haus und Bibliothek
zerstört.
Aus der Cap - Colonie wird gemeldet, daß einige hundert
schwarzer Familien sich an die Regierung gewandt haben, um
von ihr Ländereien zu erbitteu, die zwischen den Quellen des
Tsoms und des Jndue lieger. Diese Leute hielten sich bisher
iu den Bezirken Queenstow'n, Cradock und Colesberg auf, wo
sie bei holländischen Landwirthen rechtschaffen gearbeitet uud
sich zu einigem Wohlstand emporgebracht haben. Ihre Väter
waren Sklaven. Die Regierung ist geneigt, ihren Wunsch zu
erfüllen und sie als eine Art von Grenzwächtern gegen die
räuberischen Kasferstämme, namentlich die Fingos und die
Tambukis, aufzustellen.
Der große Brand zu Port au Prince auf Haiti. Dar-
über äußert sich ein Brief aus jener Stadt vom 25. März, der
allem Anschein nach von einem deutschen Kaufmann geschrieben
ist und den wir im „Neuyorker Journal" vom 14. April finden,
in folgender Weise:
Am 10. und 20. März fand hier ein Feuer statt, welches
mit Ausnahme weniger Häuser die ganze Stadt in Asche legte
und tausend Familien obdachlos und elend machte. Es ist un-
möglich, mit der Feder ein treues Bild der Schreckenssceueu zu
liefern, die sich allenthalben dem Auge darboten. Vou Lösch-
anstalten und Rettungsversuchen war nirgends die Rede.
Das Feuer entstand in dem Quartiere, wo die weißen
Engros- Handlungshäuser ihre Niederlage haben. Da erst vor
einem Jahre das Stadtviertel niederbrannte, in dem die Klein-
Händler wohnen, und man den Haß, die Feindschaft und Räch-
sucht der Schwarzen gegen die Weißen kennt, so liegt der Ver-
dacht sehr nahe, daß das Feiler das Werk von Brandstiftern
war. Dies wird durch die Thatsache noch bestätigt, daß in den
Schreckenstagen der wiederholte Versuch gemacht wurde, die von
dem Feuer im vorigen Jahre verschonten Häuser der Klein-
Händler ebenfalls anzuzünden. Die Neger machten nicht die
geringsten Anstalten, dem Feuer Einhalt zu thun, und selbst die
Regierung war völlig rath- und thatlos.
Unter den traurigen Scenen, die sich bei diesem Unglücke
zutrugen, zeigte sich so recht der Charakter der schwarzen Rasse.
Arbeitsscheu und Vergnügungssucht sind die hervorragendsten
Kennzeichen dieser Menschen. Dabei sind sie herzlos und leicht-
sinnig. Als die Flammen am fürchterlichsten rasten, ganze
Häuserreihen ein Feuermeer bildete», die Bewohner, Frauen,
Männer und Kinder um Hülfe und Rettung rufend, umher-
rannten, sah man die eingebornen Herren dutzendweise um ein
Clavier in Spiel, Sang und Tanz versammelt, das man ans
dem Feuer gerettet hatte. An einem andern Platze hatten sie
sich um gestohlene Champagnerflaschen gelagert, schmauchten ihre
Cigarren und sangen und johlten dazu. 'Während dem plüu-
derten die Anderen die Häuser aus und unter dem Vorgeben,
bewegliche Habe aller Art zu retten, eigneten sie sich dieselbe
als herrenloses Gut an.
Eine Feuerwehr eristirt nicht, und da das Volk nicht arbei-
tet, wer sollte helfende Hand anlegen? Der Präsident verließ
seinen Palast und sah dem Schauspiel eine Zeitlang zn, zog
sich aber bald wieder zurück, weil er wahrnahm, daß er miß-
liebig ist, und er ohnehin eine neue Revolution fürchtet.
In Folge des Brandes liegen alle Geschäfte nieder. In
dem Platze besteht kein Markt,' keine Bäckerei und Fleischerei
mehr. Die Schwarzen essen ihre Bananen, Orangen :c. und
lagern unter dem freien Himmel oder dem Schatten der
Magnolien.
Die Weißen Helsen sich, so gut es geht. Es sind der Hilfs-
bedürftigen aber zn viele, um Allen gerecht werden zu können.
Die Noth und das Eleud ist daher grenzenlos. Jetzt erst sieht
man, daß nur die Weißen allein dem Interesse des Landes
Opfer brachten und ihnen Alles zu verdanken ist, was es hat.
Der Neger arbeitet nicht, schafft nicht, treibt keinen Kandel;
er ist fre: und kann faullenzen; seine Bedürfnisse liefert ihm die
Natur, und das ist ihm genug. Wozu sollte er andere In-
teressen haben? Das ist seine Civilisation
Aus allen
Neue Erwerbungen Frankreichs in Senegambien. Der
gegenwärtige Gouverneur Pinet-Laprade (Nachfolger des aus-
gezeichneten Generals Faidherbe) hat zu Anfang' des Jahres
1866 mit den schwarzen Häuptlingen am Rio Nunez und am
Rio Pongo Verträge abgeschlossen, denen zufolge alles von
beiden Strömen bewässerte Land der Oberherrschaft Frankreichs
unterworfen wird. Bei Debokeh ist ein befestigter Posten
angelegt worden; dort ist auch ein Dampfer stationirt, um die
Handelsinteressen zu beschützen und den Räubern an der Küste,
gegeu welche die einheimischen Häuptlinge ohmächtig waren,
gelegentlich einen blutigen Denkzettel zu geben.
Weitere Nachrichten über Leichhardts Expedition. Wir
finden in der melbourner „Germania" vom 22. März folgenden
Bericht aus der Kolonie Queensland:
Lieutenant Uhr, Eommandant des Detaschements berittener
eingeborner Polizisten zu Rockingham, berichtet, daß zwei ein-
geborne Frauenzimmer, welche nahe bei Logan-Creek früher
gefangen genommen wurden, und von denen eine gegenwärtig
an einen Polizisten des genannten Detaschements verheiratet ist,
erklärt haben, sie könnten den Ort zeigen, wo die Ueberreste
von einigen Mitgliedern v v N L e i ch h a r d t' s A b t h e i -
luug befindlich wären. Sie erzählen, daß vor ungefähr acht-
zehn Jahren eine Abtheilung weißer Leute (die ersten, welche
ihr Stamm jemals gesehen habe) nach der Gegend gekommen
sei, wo sie sich in Gefangenschaft befunden. Die Weißen hatten
eingeborne Knaben, so wie Pferde und Hornvieh mit sich,
schlugen, weil die Umgegend damals überschwemmt gewesen, in
jener Gegend ein Lager auf und errichteten Vieheinzäunungen,
um dort zu verweilen. Sie wurden aber zur Nachtzeit von den
Emgebornen überfallen und ermordet. Die Frau erklärt, daß,
w?nn sie nach dem Distrikt gebracht würde, sie die Ueberreste
aufzufinden hoffe, wisse aber 'nicht, wie viele Köpfe die Gesell-
schaft stark gewesen sei. Lieutenant Uhr erinnert sich der Ge-
gend, wo jene gefangen genommen wurde, und daß er dort
einen mit einem L gemarkten Baum geseheu. Er hält es für
sehr wahrscheinlich, daß diese Ueberreste, wenn sie aufgefunden
werden sollten, was allerdings nach so langer Zeit zu bezweifeln
sei, von dem so lange verschollenen Erforscher herrühren.
Abermals, bisher unbekannte, Dolmen in Indien ent-
deckt. Vor einigen Jahren gründete die englische Episkopal-
kirche eine Mission znDemaqedin (Duma gndien) ani obern
Godavery, im Lande der Ko'is, einer bisher wenig beachteten
Völkerschaft. Im vorigen Spätjahr hat nun der Missionär
F. W. N. Alexander von Ellora aus Demagedin besucht
und ist von dort nach Werrangel gegangen. Diese alte
Hauptstadt des ehemaligen Telingana-Reiches liegt jetzt im
Gebiete des Nisams von Haiderabad. Die Mai - Nummer des
„Church Missionary Jntelligeneer" bringt einen Bericht über
diese Reise und wir entnehmen demselben Folgendes :
„Alexander kam durch die nicht unbeträchtliche Stadt
Megampetta und fand dort „sehr bemerkenswerthe Grab-
malet". Das Volk, sagt er, bezeichnet dieselben als die Gräber
der Rakasulu, d. 'h. Riesen. Ihr Ursprung und die Zeit
des Aufbaues sind durchaus unbekannt, aber sie sind von unge-
heuerer Größe und Mächtigkeit, haben allen Einwirkungen der
Zeit Trotz geboten und deshalb bezeichnet man übernatürliche
Wesen als'ihre Erbauer. Sie sind den Eromlechs oder
sogenannten drnidischen Denkmälern ähnlich, haben 4 Seiten,
ragen 2% Fuß über den Boden empor und sind 4 bis 5 Fuß
breit. Die Seitenwand besteht in den meisten Fällen^ ans einem
einzigen großen Steine, der tief in den Boden hineingeht, und
das Ganze ist mit einer einzigen Ungeheuern Stein-
platte überdeckt. Man fragt sich verwundert, wie die Er-,
bauer es angefangen haben, so kolossale Steinplatten überhaupt
zu bewegen;' das' Volk, welches jetzt im Lande wohnt, wüßte
dergleichen gar nicht anzustellen. Einige Gräber haben keine
Steinplatte, wohl aber einen dicken Neberzug vou Tschuman,
der aber auch beute uoch von der Zeit nicht gelitten hat und
Sprünge zeigt. ' Jedes Grab hat au einer Seite eine kleine,
etwa 1 Quadratfuß große Oefsnnng.
Kapitän Glassford hat diese Gräber geöffnet. In jedem
fand er ein trogartiges Gefäß und in demselben menschliche
Ueberreste; in mehren Fällen waren auch zwei solcher Gefäße
vorhanden. Münzen oder andere Ueberbleibfel sind bis jetzt nicht
zum Vorschein gekommen. Aus allen diesen Gräbern kommen
niedrige Steinkreuze vor; jedes ist etwa 1 Elle hoch und aus
einem einzigen Felsstücke gearbeitet. Daß das Zeichen des Kreit-
zes nicht etwas speeifisch Christliches sei, haben wir vor einiger
Erdtheilen. 189
Zeit im Globus nachgewiesen; dieses sehr einfache und natür-
liche Zeichen kommt in allen Jahrtausenden und in allen Erd-
theilen vor." — „Die Zahl der Gräber bei Mangampetta ist
sehr groß; sie laufen in einer Reihe bis tief in den Wald;
man kann ihrer taufeude zählen. Ganz dieselbe Art
von Gräbern (Dolmen) findet man auch in der Um-
gegend vou Werrangel und noch an anderen Oert-
lichkeiten und überall gleichen sie sich."
Der „Gänsemarsch" im alten Indien.
E. S. Der „Gäusemarsch" ist, wie wir jetzt durch Er-
forschuug der altindischen Liedersammlungen, der Bedas, wissen,
als ein uralter Brauch der Judo-Germanen nachgewiesen wor-
den. Derselbe reicht weit über die christliche Zeitrechnung hin-
aus, in jene Jahrhunderte, da die alten Arier, welche sich später
in Jndier, Griechen, Germanen ze. spalteten, noch ein einziges
zusammenhängendes Volk bildeten. In den Bedas wird häufig
der Gebrauch des „Hiuterdrein-Anfassens" erwähnt.
Aus deu Ritualbüchern geht hervor, daß dabei die Ansicht
herrscht, der Anfassende bilde dadurch gleichsam eine Person mit
dem Vorhergehenden; der Gott tritt dadurch in innigste Be-
ziehung zu den Menschen, und das Opfer, welches dieser ihm
darbringt, gelangt so am sichersten an die rechte Person. Als
die alte Sitte, das Opfer selbst zu verrichten, in Abgang kam
und man dasselbe einem eigenen Stande überließ, wurde es
dann Brauch, daß der das Opfer Veranstaltende den Priester
anfaßt; aber auch die Priester unter einander thun dies, wenn
mehre das Opfer administriren, und es bildet sich dadurch eine
förmliche Kette.
Die Jndier sagen von einer solchen, gelegentlich sich auch
bewegenden Kette, sie gehe nach „Ameisenart", unserem Gänse-
Marsche entsprechend, also in ältester Zeit ein Ameisenmarsch.
Man ersieht daraus, daß diese Sitte, gleich noch so manchen
anderen Gebräuchen, auf religiösen Anschauungen beruht.
Von Interesse ist dabei noch, daß man beim Todt'enopser dem
Gestorbenen den Schwanz der ihm zu Ehren geopferten Kuh in
die Hand gibt, damit er, an diesem sich festhaltend, über den
indischen Styx (Vaitarani) hinwegkomme. Nun ist in indischen
Texten auch eine Erzählung überliefert, der zufolge ein buddhi-
stischer Bettelmönch einst den Schwanz der himmlischen Kuh
erfaßt habe und an diesem in den Himmel hinauf gelangt sei;
auf gleiche Weife gelangte er wieder zur Erde herunter. Er
habe seinen Mitbrüdern Himmelsbrod gereicht, wodurch bei
Allen ein heftiger Wunsch entstanden sei, die Reise ebenfalls zu
machen. Man berieth sich und es wurde beschlossen, daß der
bereits oben Gewesene in der nächsten Nacht, wenn die Himmels-
kuh auf die Erde zur Aesung sich herablasse, ihren Schwanz
erfassen solle, ein Zweiter würde sich an ihn hängen, ein Dritter
an den Zweiten u. s. w. So geschah es denn' auch; als sie
aber schon hoch über der Erde schwebten, da stellte ein „Dum-
mian", wie es heißt, die Frage: wie groß denn die Himmels-
kuchen da oben seien? Da sie etwa eine Armsspanne groß
waren, ließ der Vorderste los und rief, die Arme ausspreizend,
ans: „So groß!" Nim fielen aber Alle wieder zu Boden.
Bekanntlich haben wir einen fast gleichlautenden Lalen-
burger Schwank. Die Tiefe eines Brunnens soll in der Art
erkundet werden, daß der Bürgermeister sich als der oberste an
den Brunnenrand hängt, ein Zweiter faßt seine Füße, ein Dritter
hängt sich an den Zweiten u. s. w.; aber der Bürgermeister,
der Last nicht gewachsen, läßt los und Alle fallen in'die Tiefe.
Wie die indische Form dieser uralten Erzählung zeigt, liegt
deren mythologischer Fassung ebenfalls ein ritueller Gebranch
zu Grunde, wie sich dies bei' unserm Gänsemarsch zeigt.
Aus Nordamerika. Zu Jamestown in Illinois bohrte
man einen artesischen Brunnen und stieß etwa 200 Fuß unter
der Erdoberfläche auf ein sehr mächtiges Steinkohlenlager.
In den Anzeigespalten der Pittsburger Blätter macht eine
„Lady", die von sich sagt, daß sie 18 Jahre alt „und von
reizender Anziehungskraft" sei, bekannt, daß sie „gegen eine an-
gemessene Vergütung" öffentlich ihre große Fertigkeit im
Schwimmen zeigen werde. ,, Ohne Zweifel", so fügt sie hinzu,
„wird mau das im Publikum für eine ausschweifende Idee
erklären, aber ich verstehe mich auf mein Geschäft."
In der ersten Hälfte des Aprilmonats war das Eis auf
der Nordseite des Huron-Sees noch dritthalb Fuß dick und
mit Schnee von fast einer Elle hoch bedeckt.
190 Aus allen
Wir haben dann und wann Stylproben aus politischen
Reden gegeben, welche von Bombast strotzen. Auf manchen
Kanzeln herrscht nicht minder eine im höchsten Grade wider-
sinnige Übertreibung und manche Geistliche überbieten sich in
Schwulst. Die Ausartung des guten Geschmacks hat immer
weiter um sich gegriffen. Am 18. April sprach der puritanische
Pastor Garnet, 'der ein Doctor der Theologie ist, zu einer Ver-
sammlnng von Negern und lobte die radikalsten der Mitglieder
des Rnmpfcongresses, während Präsident Johnson arg getadelt
wurde. „Die Senatoren Snmner, Wade, Wilson, Fessenden
und 27 andere bilden eine wahre Milchstraße intelleetueller Er-
leuchtung, von Patriotismus und legislativer Geschicklichkeit.
Diese herrliche Milchstraße zieht die Bewunderung eines Jeden,
welcher in der aufgeklärten Welt die Freiheit liebt, aus sich.
Und nun blickt auf das Haus der Repräsentanten! Dort steht
ein staatsmännischer Veteran und führt eine Schaar an, welche
niemals eine Schlappe erlitt. Dort steht er, gekrönt mit Ehren
und Jahren; dort steht er scharfsinnig, ruhig, erfüllt mit Weis-
heit und Muth. Er ist bewaffnet mit Pfeilen, welche
eingetaucht fiud iu die Flammen der lebendigen
Wahrheit, und er schwingt diese Pfeile mit der
Schnelligkeit uud der Gewalt des Blitzes, der vom
Himmel kommt. Ja, dort steht Thaddens Stevens! Gedankt
sei Gott! Er lebt, er bewegt sich, er hat Wesen und
Seele. Gedankt sei anch Gott dasür, daß die ehrenwerthen
William D. Kolly und Wilson von Iowa, und Julian, und
Bingham und Grinnell und die ruhmreichen und erleuchteten
141'noch leben und deu Kampf kämpfen an den Thermopylen
republikanischer Freiheit für ihres Landes Leben und Ehre."
(Neuyork Tribüne vom 29. April.) Wir wollen bemerken, daß
diese Verherrlichung den fanatischsten unter jenen Ultraradikalen
gilt, welche tagtäglich die Art an die alte nordamerikanische
Verfassung legen und denen Georg Washington als „ein un-
reines Wesen" erscheint, und die Bundeseonstitntion als ein
„Vertrag mit der Hölle".— Jener Stevens aus Pennsylvanien
sagte im Repräsentantenhause wörtlich: „Das Geschwätz, daß
wir die Union, wie sie war, mit der Bundesverfassung
wieder herstellen müssen, ist eine von jenen Absurditäten, die oft
wiederholt werden und die mich anekeln." (Neuyork Daybook,
21. April.)
Im Staate Massachusetts ist am 15. April sämmtlichen Apothe-
kern von Seiten der Staatspolizei das Gebot eingeschärft worden,
am Sonntag gar Nichts zu verkaufen, gleichviel was es auch
sei, falls uicht eiu ausdrückliches schriftliches Reeept eines Arztes
vorgewiesen wird. Wenn also Jemand, und wäre es auch nur
Glaubersalz oder Brustsyrup x. aus der Apotheke holen will,
so muß er zuvor einen Arzt aufsuchen atub diesem 1 bis 5
Dollars für das Niederschreiben von: „1 Uuze Glaubersalz"
zahleu. So weit haben es die puritanischen Temperanzleute in
Massachusetts gebracht, wie sie sagen der christlichen Frömmig-
keit und der Heilighaltung des Sabbaths wegen.
Eine Bande von Ungeheuern.
Unter dieser Überschrift briugt der zu Toronto in West-
canada erscheinende „Globe" folgende Mittheiluug aus einem
nordamerikanischen Blatte:
„Die Einwohner der Gemeinde Owyhu, im Territorium
Idaho, haben in einer Versammlung folgende Beschlüsse
gefaßt:
Drei Männer sollen beauftragt werden, 25 Leute auszu-
wählen, welche auf die J nd i an erjag d ziehen.
Jeder, der sich auf eigene Kosten für diese Jagd ausrüstet,
soll eine bestimmte Summe für jedeu Skalp erhalten,
welchen er einbringt.
Solche, denen die eigenen Mittel fehlen, sollen vom Comite
ausgerüstet werden; die Ausrüstuugskosteu werden dann aber
von der Prämie, welche für die abgelieferten Skalpe zu zahlen
ist, abgezogen.
Für jeden Bockskalp (bück scalp, d, h, männlichen
Indianer) werden 100 Dollars bezahlt, für jeden
Sqnawfkalp 50, für Skalpe von Kindern unter
zehn Jahren (der englische Text lautet bezeichnend: kor
everything in the sliape of an Indian under ten
years) 25 Dollar-s.
An jedem einzelneu Skalp muß noch die Haarlocke be-
sindlich sein und jeder Träger muß eidlich bekräftigen,
daß der Skalp von Seiten eines Mitgliedes der Compcignie
einem Jnd:aner abgezogen worden ist/'
Erdtheilen.
Hier haben wir also wieder einen Commentar zu unseren
Betrachtungen über die Ausrottung uncivilisirter Völker; es han-
delt sich in diesem Falle um planmäßige Vernichtung. Wir
finden obige Beschlüsse der weißen Kannibalen, deren Ortschaft
mit Recht deu Namen O wai hu führt, auch iu nenyorker
Blättern vom 7. April; diese melden ferner, daß der Senatsaus-
schuß für Judiaueraugelegenheiten demnächst Dokumente ver-
öffentlichen werde, welche haarsträubende Diuge über Betrü-
gereieu und Barbareien enthielten, die an den Rothhäuten ver-
übt worden sind.
Die Sache selbst ist weder neu noch überraschend. Seit
dritthalbhundert Jahren sind in Nordamerika mehr als 70 ein-
geborne Völker und Stämme verschwunden, lediglich in Folge
der Berührung mit weißen Leuten. Auf dem ganzen westlichen
Continente sind, nördlich vom Rio Gila und dem Mericanischen
Meerbuseu, überhaupt vou der Südgrenze der Vereinigten
Staaten nach Norden hin bis zum Eismeer, kaum noch 350,000
Eingeborne übrig.
Gregg schildert in seinem vortrefflichen Werk über den
Handel der Prairien an vielen Stellen die wanton crueltis
der Weißen, welche mit Vorbedacht und mit kaltem Blute jeden
Indianer niederschießen, der ihnen in den Weg komme.
Julius Fröbel sagt: „Es ist eine Thatsache, daß
der Versuch, ganze Jndianerstämme zu vergiften,
von weißen Leuten gemacht worden ist, und ich selbst
habe mehrmals die Frage, wie das am besten zn
machen sei, disentiren hören." (Ans Amerika; Erfah-
rungen, Reisen und Studien; Leipzig 1858, Theil 2. S. 109).
— Wir könnten noch eine Menge' anderer Belegstellen bei-
bringen; die obigen werden indeß genügen.
Eine interessante Naturerscheinung. N e n o r l e a n s
wurde in der Nacht vom 5. zum 6. April vou einem Ge-
witter heimgesucht, wie es in solcher Heftigkeit daselbst noch
nie erlebt worden ist. Den ersten Donnerschlägen folgte kein
Regen, sondern ein wahrer Wolkenbruch, der Neuorleaus binnen
10 Minuten in einen See verwandelte.
Die Neuorleans „Deutsche Zeitung" berichtet bei dieser
Gelegenheit über ein von ihrer Office aus beobachtetes, höchst
merkwürdiges Phäuomen, wie folgt:
„Eine besonders interessante Erscheinung wurde während
der gestrigen mehre Stunden lang anhaltenden Gewitterstürme
von unserer Office aus iu Campstr. au den Telegraphendrähten
iu St. Charlesstr., uabe der City Hall, beobachtet. Es war
gegen 5 Uhr Morgens, als ein Blitzstrahl, dem ein erschüttern-
der Donner folgte, an dem einen Telegraphendraht entlang fuhr
und sich dann nach allen übrigen in Gestalt von blauen Flamm-
chen ausbreitete, welche an den Drähten fortliefen und nach der
Stadt zu verschwanden. Das elektrische Feuer war so stark,
daß man es genau durch den heftigsten Regen bemerkte. Die
ganze Erscheinung dauerte nur einige Sekunden. Von der
großen elektrischen Strömung, die über die Stadt sich ergoß,
kann man sich einen Begriff machen, wenn man vernimmt, daß
die Feueralarmglockeu während der Nacht einige Male von selbst
ertönten, ohne angeschlagen zu werden."
Zustände in Mexico. Der größte Theil des Landes ist
fortwährend in Verwirrung; kaiserliche und republikanische
Gnerillas liegen in unaufhörlicher Fehde. Iu der Hauptstadt
erscheint das Blatt „La Sombia", welches nach amtlichen
Nachrichten meldet, daß in den Monaten vom Juni bis Dezem-
ber 1864, also vou der Zeit au, da KaiserMarimiliau ius Land
kam, nicht weniger als 172 Treffen zwischen Franzosen
und Mericanern stattfanden; in denselben wurden etwa 1300
Manu getödtet und 3277 verwuudet. Für das Jahr 1865
siud 322 Treffeu verzeichnet worden mit 1279 Todten
und 5674 Verwundeten; total 8951 Verwundete und 2579
Todte. Auf den ersten Zeitabschnitt von 7 Monaten kommen
also in jedem Monat durchschnittlich 17 Treffen oder Gefechte,
auf das Jahr 1865 entfällt aber fast auf jeden Tag ein solches,
der Dezember ist mit nicht weniger als 34 verzeichnet.
Die Provinz St. Catharma in Brasilien ist dem Flächen-
räume nach größer, als das Königreich Bayern, während sie
noch nicht einmal so viel Einwohner wie München zählt. Bayern
hat 1383 Geviertmeilen oder ca. 1550 Qnadratlegoas, wogegen
der Flächenraum der Provinz St. Eatharina auf 2200 Quadrat-
legoas geschätzt wird. Nach der statistischen Zusammenstellung
Aus allen
vom Jahre 1863 hat diese Provinz 133,733 Einwohner, unter
denen sich 16,320 Sklaven befinden. Die Sklavenbevölkerung
erreicht hier souach durchschnittlich nur 12%0 Procent der Ge-
sammteinwohnerschast. Sie ist aber in den südlichen Theilen
stärker, als in den nördlichen vertreten. Die beiden nördlichen
Munizipien, S. Francisco und Jtajahy, mit den beiden
deutschen Colonien Donna Francisca und Blumenau,
welche gleich bei ihrer Gründung das gesetzliche Vorrecht erlang-
ten, daß in ihnen keine Sklaven gehalten werden dürfen, zählen
zusammen 24,301 Einwohner, worunter 2788, also nur ca.
11 Procent, Sklaven inbegriffen sind. Die in der Provinz
wohnenden Deutschen belaufen sich auf ungefähr 12,000
Seelen. Der bei weitem größte Theil der Bevölkerung wohnt
an der Meeresküste und hat sich nur längs der Flüsse und der
wenigen Landstraßen weiter in das Innere hineingezogen. Das
Hintere, am Fuße der Serra sich hinstreckende Küstenland, sowie
das Hochland der Provinz besteht zum größten Theile aus
urwäldlichen Staatsländereien, die der Colouisatiou noch ein
weites Feld bieten. (Colonie-Zeitung von Joinville.)
Die wissenschaftliche Erforschung des Amazonenstromgebietes
von Silva Continho.
Sehr interessant ist folgende Mittheilung, die ich einem
Briefe des brasilianischen Geologen Di-. Silva Coutiuho
entnehme, welcher bekanntlich den Naturforscher Agasfiz auf
seiner Erforschung des Amazonenstromes begleitet:
„Vom obern Theile des Purus sind uns einige Fossilien
zugegangen, die alle den Charakter der Kreideformation haben.
Im Jahre 1861 hatte ich Gelegenheit einige Zähne zu unter-
suchen, und kam zu der Ueberzeugung, daß eine der Fossilien
ein Mesosaurus Camperi, ein großes See-Reptil, sei. Professor
Agasfiz hat diese meine Meinung jetzt, bezüglich der Klassifika-
tion, bestätigt. Hierdurch wird also auch die Annahme von
dem frühern Vorhandensein eines vollen amazoni-
fchen Meeres bis zum Fuße der Anden bestätigt, wel-
ches derselben Epoche angehört haben wird, in welcher das
„Kreidemeer" vorhanden war, welches einen so bedeutenden
Theil, auch Europa's, bedeckt hat.
Daß der Ocean früher das Land bespült hatte, welches am
ersten Wasserfall des Tapajoz liegt, wußte ich bereits
seit 1863, denn in diesem Jahre fand ich Meermnfcheln in den
Kalkschichten von Jtactuba. Jetzt habe ich an den Quellen
des Mane'-afsü dieselbe Kalkformation entdeckt, auch glaube
ich, daß sie sich nach Westen bis zum Flusse Eauuman aus-
dehne, so daß sie sämmtliche Flüsse umfaßt, die iu den Paranä-
Mirim und Jupinombä-Ranas münden. Am Madeira
hört diese Formation auf. Nach Osten hin verlängert
sich wahrscheinlich die Kalksormatiou ebenfalls. Können Sie
mir vielleicht mittheilen, ob diese Formation auch am Tocantins
eristirt? Ziehen Sie darüber Erkundigungen ein, womit Sie
mir einen Dienst leisten werden; ich bin mit der Aufnahme einer
geologischen Karte beschäftigt."
Soweit Coutiuho in einem Briefe, den das „Jornal de
Amazonas" veröffentlicht hat. Die Tragweite dieser Entdeckung
für die Geologie liegt auf der Haud und sie ist der größten
Beachtung würdig.
Noch füge ich hinzu, daß Agasfiz leider in Manes an
dem dort herrschenden klimatischen Fieber erkrankt und
deshalb nach Para (refp. Belem) zurückgekehrt ist, wo er behau-
delt wird. Hoffentlich wird er kein Opfer dieses Fiebers. Seme
Erforschung des Amazonenstromes ist von größter Wichtigkeit
für die Wissenschaft. Auch iu anthropologischer und ethnogra-
phischer Beziehung soll er wichtige Beobachtungen über die
Jndianerstämme im Gebiete des Amazoueustromes gemacht
haben.
Porto Alegre, 10. März 1866.
Karl v. Koseritz.
Wir schließen dieser Mittheiluug folgende Notiz aus einer
Märznummer der „Deutschen Zeitung" von Porto Alegre an:
Der nordamerikanische Reisende St. John in
Brasilien. In der Hauptstadt der Proviuz Maranham, San
Lonis, ist der Naturforscher Orestes St. John, Begleiter des
Professors Agassiz, augekommen; derselbe hat, ans Weisung des
letztern, die Reise von Rio nach Minas (über Ouro Preto) bis
Ouaycuy gemacht; von dort ist er den San Francisco hinauf-
geschifft bis zur Villa da Barra, hat den Serton von Bahia
durchreist, und durch das Thal des Rio Burgueia iu der Pro-
viuz Piauhy ist er nach dem Poty, Theresina und Carlas
gegangen. Er kam in Maranham krank an, ist jedoch schon
Erdtheilen. 191
wieder hergestellt. St. John machte eine Reise von 750 Meilen
und hat eine reiche Ausbeute an naturwissenschaftlichen
Gegenstäudeu geborgen; unter Andern: brachte er mehr als
200 neue Vogel-, und mehr als 80 nene Binnen-
fisch arten mit. Besonders reich soll seine Ausbeute an
Mineralien gewesen sein. Orestes St. John brauchte 7 Mouate
zu dieser Reise und soll vou der Gastfreundschaft bezaubert fem,
mit der er überall aufgenommen wurde, trotz seiner geringen
Kenntniß der Landessprache.
Uever Ausartung der englischen Sprache.
Das Englische ist die am weitesten verbreitete Welt-
spräche. Neberall bleibt ihr Gruudbau derselbe, sie behält ihr
wesentliches und eigeuthümliches Gepräge bei, aber iu Einzeln-
heiteit stellen sich auch uach und nach manche Abändenmgm ein.
In einem neuen Lande, in Colonien, wird jede Sprache allerlei
neue Zusätze und Abänderungen erleiden; manche Wörter erhalten
neben ihrer alteu Bedeutung auch noch eine neue, durch welche
wohl auch jene, im Fortgange der Zeit, völlig verdrängt wird.
Namentlich das Englische erhält in fremden Erdtheilen nach
und nach gewisse dialektische Eigenthümlichkeiten, welche gewöhn-
lich bezeichnend für das Land sind, in welchem sie entstanden,
so z. B. für Nordamerika und Australien.
Mau kann solche Eigenthümlichkeiten als natürliche be-
trachten, weil sie sich gleichsam von selbst machen. Unnatürlich
dagegen sind jene, welche durch die Mode, durch Narrethei und
Geckerei anss Tapet gebracht werden. Viele Engländer leisten
in dieser Beziehung das Menschenmögliche. Manches Wort wird
in verschiedenen Jahren ganz verschieden ausgesprochen, und eine
Aussprache, die bislaug als sashionabel und richtig galt, wird
dann von sashionabeln Gecken in Abgang deeretirt und durch
eine andere ersetzt. Diese Tyrannei der Albernheit läßt man
sich gefallen." Nichts ist zugleich ergötzlicher und kläglicher, als
wenn zwei biedere Insulaner in heftigen Wortwechsel über die
Aussprache gerathen und wenn dann gar als Dritter ein Nord-
amerikaner sich einmischt, um eine dritte Aussprache als die
allein richtige hinzustellen. Bei uns in Deutschland werden in
den Schulen Knaben und Mädchen gemartert, damit sie das
Englische ja „richtig" aussprechen lernen, und nicht selten kommt
es vor, daß in einer Schnlanstalt der aus England verschriebene
Sprachmeister ein Wort ganz anders ausspricht, als der Lehrer
einer zweiten Anstalt in derselben Stadt, welcher anch ein, wo
möglich aus London herbeigerufener „Gelehrter" ist, — seiner
Angabe nach natürlich in Oxford oder Cambridge gebildet und
im Besitz der „allerbesten, neuesten, fafhionabelsten" Aussprache!
Die verständigen Leute in England sind mit Recht bös
über die Mißhandlung der Sprache und den Unfug, welcher
mit ihr getrieben wird. Ein Geistlicher, Di-. H. Alforb, hat
in einem Buch: ,,A plea for the Queens English" feiueu Lands-
leuten derbe Wahrheiten gesagt, uud er weist eiue ganze Reihen-
folge von Sprachverderberei nach; er verwirft die „Vulgarismen",
die' sich für modisch und vornehm ausgeben möchten. Zunächst
eifert er gegeu den falschen Gebrauch der Aspiraten, namentlich
des h. In London herrschte die Cholera, und man sprach über
die Ursachen der Krankheit: The choiera is in the hair (Haar),
äußerte Jemand; er wollte sagen air, Luft; er meine, fügte er
hinzu the hair in the hatmosphere! — Das h wird aber auch
fortgelassen und zwar da, wo es ausgesprochen werden sollte.
Alford horte einen Kaufmann sagen: my ed (head, Kopf) thut
mir weh! Sehr häufig hört man 'ospitai statt hospitai, und
'umbie für humble, uud zwar im Parlament, in Gerichten uud
auf der Kanzel.
Ein Schüler hatte einen venetianischen Palast gezeichnet
und darunter den Namen der Stadt Vennice geschrieben. Der
Zeichenlehrer strich das eine überflüssige n und sagte: there is
but one hen sHuhu, statt Ii) in Venice. Der Schüler ant-
wortete: Dann sind gewiß in Venedig die Eier sehr rar!
Bei manchen Wörtern, die mit a oder an endigen, spricht
man statt dessen arr; selbst im Parlamente hört man'lawrr statt
law, Obel' idear statt ideas. Im Volke spricht man statt Amelia
Ann nicht selten Amelia ran. Andererseits läßt man den Buch-
stabeu r weg, wo er nöthig ist. Man fragte in London, wodurch
der bekannte deutsche Kaufmann Astor in Nenyork fo reich geworden
sei. Antwort: Durch ben Pelzhandel: by the für trade; aber
das r in für wurde nicht ausgesprochen und so blieb der Satz
unverständlich, denn was fä bedeuten sollte, wußte Niemand.
Endlich kam Einer hinter die Sache und erläuterte das fä da-
durch, daß er das für als furrr mit heftigem Schnarren aus-
sprach.
Dr. Alford rügt auch den falschen Gebrauch von Wörtern
192 Aus allen
der in England nun in der Presse und selbst in Büchern mehr
und mehr eingerissen ist. Er tadelt das Wort taiented, für
begabt; ein Oesterreicher würde nichts dagegen einzuwenden
haben; ich hörte z.B. in Wien von sonst wohl erzogenen Leuten
sagen: „N. N. ist sehr ein talentirter Mann." Das heißt
Deutsch verderben. Es gibt kein Zeitwort to talent, man kann
also kein Participium davon bilden. Ob gifted, also unser
deutsches „begabt" zu tadeln sei, möge dahingestellt bleiben.
Abscheulich aber ist, wenn ein Vater sagt: My boy is an un-
commonly facultied child.
Die Hilfszeitwörter shaii und will werden sehr häufig ganz
salsch gebraucht.
Sehr schlimm ist, daß Schwulst im Styl immer hän-
siger wird; in der kleinen londoner Presse und in Provinzial-
blättern wird er nicht selten geradezu unausstehlich. Es ist, als
ob die Leute verlernt hätten, sich klar und einfach auszudrücken.
Man sagt nicht mehr a man, a woman, a child, sondern: an
individual, a person, oder a party; statt woman wird geseht
a female, und wenn das weibliche Weisen unverheiratet ist,
a young person; eilt Kind, child, ist ein juvenile und
eine Anzahl von Kindern ist the rising generation. Solch
ein Zeitungsschreiber geht (goes) nicht etwa da oder dorthin,
sondern he proceed's. Ein Mann, der nach Hause geht (is
going home), is proceeding to his residence.
Eat, essen, wird für ganz gemein geachtet; der Englisch-
verderber sagt und schreibt statt dessen partake. Er ver-
schmähet das Wort place und sagt locality. Nichts ist
piaced, sondern Alles located. Für „die meisten Lente im
Orte" sagt er nicht: most of the people of the place, sondern
„viel fafhionabler": the ma^ority of the residents in
the locality. Er wohnt nicht mehr in rooms, sondern, wieder
sehr vornehm, in apartments, und statt good lodgings hat
er eligible apartments zu vermiethen. Auch shows, zeigt,
er nicht mehr good feeiings, sondern er evinces sie, weist sie
aus, legt den Beweis dafür dar! Er fordert, asks, nicht, son-
dern er evinces a desire; er evinces auch a sense of
suffering, wenn ihn etwa der Finger schmerzt; er dankt,
thanks, auch nicht, sondern evinces gratitude.
Das Wort beginnen, to begin, anfangen, gilt ihm für
gemein, er commences. Ein Blatt in Taünton erzählte, daß
ein Pferd hinten ausgeschlagen habe und drückt das so aus:
tho horse commenced kicking. Doch ist auch commence
Manchem noch nicht fashionabel genug, und wer die Sache
recht hübsch geschmacklos und vornehm machen will, sagt statt
anfangen: die Initiative ergreifen, take the initiative. Schreck-
lich ist auch das Wort eventuate (das ich übrigens in dem
vortrefflichen englisch-deutschen Lerieon von N. I. Lueas,
Bremen, 1854, al§ einen Americanismus verzeichnet finde).
Der fashionable Englischverderber will andeuten, ein Mann
habe sich durch Verschwendung zu Grunde gerichtet und sagt:
his unprecedented extravange eventuated in the
total dispersion of his property. Das ist so erhaben
wie jene Stelle, in welcher berichtet wird, daß ein Schuster vom
Blitz erschlagen worden sei: while pursuing his avocation, the
electric fluid penetrated the unhappy man's person, also: Wäh-
rend er seinem Berufe folgte, drang das elektrische Fluidum
durch des unglücklichen Mannes Person. In der That schön
und erhaben! Avocation für Beruf, Geschäft, ist eine miß-
bräuchliche Anwendung; das Wort bedeutet: Abhaltung, Ab-
berufung.
Ein spade, Spaten, ist a well known oblong Instrument
of manual industry; und solche Geschmacklosigkeiten kommen
alltäglich vor. Mit Recht eifert Dr. Alford gegen dieselben.
Sitten und Gebräuche der Szekler.
w.u. 93 ei Sein feit. Zu den Tausfesten bringen Anverwandte
und Eingeladene meist Geschenke an Eßwaaren und Getränke
mit. Baares Geld, goldene oder silberne Zierrathen bekommt
hier so leicht kein Täufling zum Geschenk, da in den einsamen
Gebirgsdörsern des Szeklerlandes, von welchen wir hier zu-
nächst sprechen — derartige Dinge sehr selten sind. Die zur
Taufe dargebrachten Geschenke nennen sie — 9t ob tuet. So
arm diese Dörfler oft sind, und so wenig Verkehr sie mit der
gebildeten Welt unterhalten, so besitzen sie doch einen gewissen
Takt, eine Art stolzen Selbstgefühls. Die Gesandten, welche
die Einladungen zu solch wichtigen Familienfesten besorgen,
treten mit aller Feierlichkeit ans und entledigen sich ihres Auf-
träges mit diplomatischer Gewandtheit. Namentlich die Pathinnen
Erdtheilen.
bewegen sich mit aller Würde. Am Tauftage vertreten sie ohne-
hin die Stelle der Hausmutter. Mit Eifer wacheu sie darüber,
daß unter ihrer Leitung Alles nett und sauber sei und es den
erwarteten Gästen an Nichts fehle. Für den Herrn Pfarrer
wird wohl ein besonderer Stnhl herbeigeschafft und sorglich ab-
geputzt. Die weniger distmguirten Gaste müssen mit der Holz-
bank vorliebnehmen. Die Gerichte sind freilich auch so ein-
fach, daß schon ein sehr unverwöhnter Gaumen dazu gehört,
um an ihnen Behagen zu finden. Die Getränke sind' meist
nichts Anderes als destillirter Kornschnaps. Bei solchen Ge-
legenheiten wird derselbe oft mit Honig versüßt. _ In neuerer
Zeit haben aber auch diese einfachen Dörfler den fein raffinirten
Hutzucker mehr und mehr kennen und schätzen gelernt. Es ist
ein Akt schmeichelhafter Galanterie, wenn man seiner hübschen
Tischnacharin noch ein gutes Stück Zucker in ihr Glas wirft.
Der Nachbar links will auch nicht sich an Galanterie über-
treffen lassen, und schüttet der Schönen das Glas überlaufend
voll. Die älteren Gäste besprechen mit ernster Kennermiene
Aussehen, Größe und Gewicht des Täuflings, welcher dabei oft
die Nnnde um den ganzen Tisch von Hand zu Hand machen
muß. Endlich wird er wieder der Hebamme übergeben, wobei,
nebst einer gutgemeinten Ermahnung, ans das Kind gut zu
achten, auch ein kleines Geschenk in die Hand der Hebamme
gleitet. Freilich muß die gütige Mutter Natur das Meiste für
die kleinen Sprößlinge thnn, deim die Hebammen bei diesen
Leuten sind zumeist nichts weniger als kuustmäßig für ihr Fach
gebildet, sondern einfach alte Weiber, welche eine gewisse Praxis
erlangt haben und nun als Orakel verehrt werden. An einigen
Orten erhält auch die Wöchnerin Geschenke an grober, selbst-
gemachter Hausleinwaud, Wachslichter it. s. w. Die Pathen
haben übrigens noch die specielle Verpflichtung, eine sogenannte
Kolatschen — ein zopfartig geflochtenes Weißgebäck — zu
liefern, welche jedenfalls die Länge des Täuflings um das
Doppelte überragen muß.
Au poetischem Gefühl mangelt es auch den Szekleru nicht;
so herrscht unter der Jugend der Gebrauch des sogen. Koszoru-
kapäs (heißt eigentlich Kranz-bekommen). Es erscheint näm-
lich jedes Mädchen beim Tanze mit einem Blumenstrauße im
Haare. Nähert sich ein Verehrer, welcher dem Mädchen nicht
angenehm ist, und sucht er schmeichelnd den Blumenstrauß aus
den Haaren zu lösen, so weiß sie mit gewandter Koketterie ihm
stets so auszuweichen, daß ihm dies, ohne ungalant zu werden,
nicht gelingt. Erscheint aber der stille Erwählte ihres Herzens,
so muh _ sie sich natürlich der Form wegen auch hier etwas
zieren, indeß hat er doch bald das duftende Stränßcheu ein-
fachet' Wiesenblumen erobert, und triumphirend beginnt er mit
seinem Mädchen den Tanz. Daß natürlich bei diesem Gebrauch
eifersüchtige Regungen oft zum Ausbruch kommen, ist bei dem
leicht erregbaren Gemüthe der Szekler sehr begreiflich und
mancher Begünstigte geht mit blauem Rücken nach Hause.
Ein recht lobenswerter Gebrauch unter dem Szeklervolke
ist die sogenannte Kalaka, das Zusammentreten Mehrer zur
Bestellung einer Arbeit für den Einzelnen. Namentlich bei der
Landwirtschaft kommen Fälle genug vor, wo die Hilfe der
Nachbarn nicht zu entbehren ist. Besonders beim Fruchtschneiden,
Heueinführen u. s. w. kann hier der Landwirth oft nicht schnell
genug sein. Rasch hereinbrechende Naturereignisse setzen die
hiesigen Gebirgsbewohner oft in arge Verlegenheit. Heute strahlt
noch heller Sonnenschein aus die wögendenHalme, morgen braust
eins der hier so surchtdaren Hagelwetter nieder, und Alles liegt
zerschmettert am Boden und ist kaum zum Viehfutter tauglich.
Auf den fetten Flußniederungen des Altflusses stehen oft zahl-
lose Heuschober, welche später zum Theil in die entfernte Stadt
gefahren werden sollen. Da geht in den oberen unermeßlichen
Waldgebirgen ein Wolkenbruch nieder, und in einigen Stunden
steht, so weit das Auge reicht, die Ebene unter Wasser, und das
schöne Heu schwimmt fort, oder mit Schlamm verunreinigt wird
es vom Vieh verschmäht. Da eilen denn alleNachbarn herbei, und
schleppen auf ihren mit langgehörnten Ochsen bespannten Wagen
Alles in die sicheren Scheuern, ehe noch der Schaden sich ereignet.
Mit erleichtertem Herzen tischt aber dann der Hausherr' deu
Nachbarn auf, was er vermag. Es ist freilich nichts Anderes,
als was sie auch bei sich zu Hause hätten haben können; aber
wo anders schmeckt es nun einmal immer besser. Die Alten
gestatten sich dann wohl auch einige Maß leichten inländischen
Weines, der auf den weitentfernten Hügeln an der Märosch oder
Kossel gewachsen ist, während sich draußen vor der Hansthüre,
oder bei Regenwetter in der offenen Scheune das junge Volk
im Keringö oder Csardas dreht
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Aus Mmngstone's Reifen am Sambesis aus dem Uyassa-See
und dem Rofuma-Strome.
Die Kebrabasa-Katarakten im Sambesi. — Die Schiffbarkeit des letztern. — Sage von einem Zwergvolke. — Jahreszeiten und
Hochwasser, — Das Fieber. — Freiwillige Sklaverei, — Steinkohlen und Gold. — Aufbruch nach dem Lande der Makololo. —
Zur Charakteristik dieses Volkes. — Die Regionen und Völker am obern Sambesi. — Vertheilnng von Elephantcnsleisch. —
Die Pondoros als Löwenmenschen. — Die Tschikova-Ebene. — Angebliche politische Raisonnements der Schwarzen. — Zumbo. —
Der Affe ein geheiligtes Thier. — Die Mündungen des Loangna' und Kafue. — Die Batongas. — Unbekleidete Schwarze. —
In Sefcheke. — Die Reisen am Schire und der Schirwa-See. — Die Mangandschas. — Ihre Häuptlinge und Baolos. —
Der Pelele oder Lippenring. — Entdeckung des Nyasfa-Sees. — Zwei Erpeditionen nach dem Rofuma. — Sklavenraub.
Wir ersehen aus Livingstone's Schilderungen, daß der
Sambesi von seinen Mündungen bis nach Tete hinauf eine
durchaus nicht bequeme Wasserstraße bildet. Etwas ober-
halb dieses großen Dorfes hört die Schifffahrt so gut wie
ganz auf, namentlich in der Zeit des niedrigen Wasser-
zwischen bewaldeten Bergen. Dort standen Baobabs von
wahrhaft kolossaler Größe; manchmal haben sie bis zu
74 Fuß Umfang, ja in der Nähe der Katarakten maß
Livingstone einen solchen Affenbrotbaum von 84 Fuß
Umfang.
Falle für den Hippopotamns. (Nach Livingstone.)
standes. Wo ist nun die vielgerühmte „Bahn, welche
als ein Civilisationspfad bis in das innerste Herz von
Afrika betrachtet werden kann"?
Am 9. November 1858 fuhr der Reisende von Tete
stroman, um die Kebrabasa-Katarakten zu unter-
suchen, von welchen man ihm viel erzählt hatte. Bei
Panda Mokua war die Schifffahrt zu Eude;
dieser Punkt liegt etwa 2 Miles oberhalb der Wasserfälle
Globus X. Nr. 7.
Die hohe Kette des Kebrabasage birg es besteht zum
großen Theil aus Kegelbergeu; der Sambesi bahnt sich
einen Weg durch dasselbe und bildet eine Schlucht von etwa
400 Yards Breite. Zur Zeit des Hochwassers ist dieselbe
ausgefüllt; dann verschwinden die wirr durch einander lie-
genden gewaltigen Felsmassen unter den Wogen. Ober-
halb der Fälle hat der Fluß wieder eine Breite von^einer
halben Mile. Die 30 Fuß hohen Mäste der Schiffe reichten
25
194
Aus Llvingstone's Reisen am Sambesi, auf dem Nyassa-See :c.
bei Panda Mokua nicht bis an die Marke des höchsten
Wasserstandes und das Loth bekam bei 60 Fnß noch keinen
Grund.
Livingstone ließ sich von afrikanischen „Portugiesen"
erzählen, also von Leuten, die nie zuvor eiu Dampfschiff
gesehen hatten, mit einem Dampfer könne man wohl recht
gut durch die Schlucht fahren, obwohl sie für die Nachen
der Eingebornen sehr gefährlich sei; wenn man einige der
drei oder vier über das Wasser hervorragenden Felsen hin-
wegsprengen wolle, dann könne man „ohne Schwierig-
keit" hindurch. Der Reisende hütete sich aber wohl, mit
seinem eigenen Dampfer den angeblich ungefährlichen Ver-
such zu machen; er untersuchte 10 bis 12 Miles dieser
Stroms chuelleu
und ging dann an
Bord zurück, wie er
sagt von der Ueber-
zengnng durchdrun-
gen, daß schon eine
einfache llntersu-
chung dieser Kata-
rakten mehr Mühe
u. Arbeit erfordere,
als „unsere Freunde,
nämlich jene Por-
tngiesen, für ersor-
derlich hielten, um
alle Hindernisse aus
dem Wege zu räu-
men". Deshalb
kehrte er am 22.
Nov. um und fuhr
nach Tete zurück.
Unterwegs erzählte eiu Sklave aus Tete, daß er auf
feinen weiten Reisen irgendwo im Innern ganz seltsame
Menschen angetroffen habe. Sie sind, so berichtete er, nur
3 Fuß hoch, wohnen in großen Städten, besitzen Nah-
rungsmittel aller Art in großer Fülle und haben Hörner
auf dem Kopse. Wir sehen, daß die Sage von einem
Zwergvolke (Donko's, wie man dasselbe in anderen
Theilen Afrikas nennt) über den ganzen Continent ver-
breitet ist.
Die Kebrabasa-Katarakten nehmen offenbar eine be-
trächtliche Länge ein; gleich oberhalb derselben sand Living-
stone noch mehre gewaltige Wasserfälle. An einer Stelle
war deutlich zu bemerken, daß das Wasser zur Zeit der
Hochflut volle
80 Fuß über
deu niedrigsten
Stand sich er-
hebt. Am Fuße
des steilen Ber-
ges Tschipe-
reschua sagten
der Strom frei
Bogen und tiergiftete Pfeile der Schwarzen am obern Schire.
Lanzen der Mangandschas.
weiter oberhalb sei
aber gleich nachher
einige Eiugeborue,
für die Schifffahrt,
äußerten zwei andere, dort läge der Morombna-Kata
rakt. Und so war es. Bei diesem verengt sich das
Strombett aus 300 Schritt; von dieser Schlucht aus stei-
gen die Berge senkrecht mehr als 3000 Fuß hoch empor, det ist, hat vom Fieber nicht viel mehr zu besorgen wie bei
sie sind mit dornigem Gestrüpp überdeckt. — uns jemand in Aolae einer Erkältuna: Wv «W miffvithi
Wir geben hier diese Notizen alle,
raktenstrom ist. — Auf der Rückreise nach Tete wurde
Livingstone eines Abends von einer Bande schwarzer Mn-
sikanten begrüßt; sie spielten auf dem bekannten Instru-
mente , das über einen großen Theil von Afrika verbreitet
ist, auf der Marimba. Inzwischen war das Wasser des
Stroms gestiegen, wie das abergläubige Volk meinte, weil
die Engländer da seien. Dr. Kirk theilt das Jahr dort in
drei Perioden: eine kalte, eine heiße und eine Regenzeit.
Die erster? umfaßt die Monate Mai, Juni und Juli; die
heiße deu August, September und Oktober; dann folgt der
Regen, welcher aber nicht in beträchtlicher Menge fällt; in
manchen Jahren beträgt die Regenmenge nur 19 Zoll, in
anderen aber bis zu 35 Zoll. Der Thermometer steigt bis
zu 103» F.
Zweimal im Iah-
re hat der Sambesi
Hochwasser; die
erste Flut ist nur
eine partielle u. hat
ihren höchsten Stand
Ende Dezembers
oder zu Anfang des
Januars; diezweite
tritt eiu, wenn der
Strom die Ufer
überschwemmt hat,
ähnlich wie der Nil,
und erreicht Tete im
März. Hier steigt
sie, gewöhnlich alle-
mal im vierten Iah?
re, bis zu 30 Fuß
Höhe.
In geographischen Handbüchern lesen wir, daß Tete
ein „sehr gesunder Ort" sei. Das Gegentheil ist
der Fall. Livingstone, der in Bezug aus afrikanische
Krankheiten sich großer Erfahrungen rühmen kann, weist
nach, daß im März und April das Fieber erscheint
„Der Anfall dauert nicht lange, reißt aber den Menschen
rasch nieder. Wer längere Zeit an einer und derselben
Stelle sich aufhält und eine sitzende Lebensweise führt,
leidet mehr vom Fieber, als die, welche körperlich und
geistig beschäftigt sind und oftmals den Aufenthalt wechseln.
Gleichviel aber, welches auch die Ursache des Fiebers sein
möge, wir fanden, daß manchmal Alle gleichzeitig von dein-
felben ergriffen wurden, namentlich bei Nordwind. Zu-
weilen packte
es die, welche
Q u i n i n ge-
nommen hatten
und verschonte
solche, welche
dasselbe ver-
schmäheten. Es war ganz einerlei, ob wir dasselbe monate-
laug nahmen oder nicht; das Fieber zeigte sich unparteiisch
und wir ließen das „Vorbeugungsmittel" zuletzt ganz weg.
Als das beste Prophylaetieum erschien mir viel Arbeit und
reichliche gute Kost. Wer iu Tete gut wohnt und gut geklei-
weil die irrigen
Behauptungen Livingstone's, daß der Sambesi einen
ganz prächtigen Handels- und Civilisationsweg nach den:
innern Afrika bilde, Glauben gefunden haben und auch
schou in Hand - und Lehrbücher übergegangen sind. Als
richtig steht fest, daß dieses Wasser ein wahrer Kata-
uns Jemand in Folge einer Erkältung; wer aber unthätig
bleibt, Ausschweifungen begeht oder mit dürftiger Nahrung
sich behelfeu muß, läuft große Gefahr. In Tete hat frei-
lich das Fieber allerdings einen mildern Charakter als in
Kilimane und an der Küste. In Afrika ist man dem Fieber
etwa so unterworfen, wie in England einem Rheumatis-
ums. Jeder Fremde thnt wohl, 'so rafch als möglich stck)
Alls Livingstone's Reisen ani Sambesi, auf dem Nyafsa-See :c.
195
in höher liegende Gegenden zu verfügen, denn hier ist das
Fieber nicht ganz so gefährlich. Als Vorbeugungsmittel
haben wir das Quinin nicht bewährt gesunden, außer daß
es vielleicht die Wirkungen der Malaria abschwächt, aber
beim Kuriren der Krankheit selbst ist es unschätzbar." Die
von Burton empfohlenen warburgischen Tropfen helfen,
Livingstone's Behauptung zufolge, nicht.
Der nachstehende Vorfall ist kennzeichnend für die afri-
kanifchen Sitten und Anschauungen:
Unser-Pilot, Namens Tschibanti, ein „intelligenter und
activer" junger Schwarzer, sagte mir, daß er sich frei-
willig in die Sklaverei verkauft habe. Als ich
ihn fragte, weshalb er das gethan, erhielt ich zur Antwort,
er stehe allein und habe Niemand, der ihm, wenn er krank
sei, Wasser, und wenn er hungrig sei, Brot gebe. (An
Verdienen und an Fleiß dachte der „intelligente und aetive"
Pilot nicht.) So verkaufte er sich au einen gütigen Herrn,
den Major Sieard, „dessen Sklaven fast nichts zn
arbeiten und vollauf zu esseu hatten."
Wie viel hast Du für Dich bekommen? fragte ich ihn.
„Drei Stück Baumwollenzeug, jedes von
30 Uards. Dafür kaufte ich mir sogleich einen
Sklaven, eine Sklavin und ein Kind; die haben
aber nur zwei Stück gekostet, das dritte Stück Zeug konnte
ich noch für mich selber behalten."
Livingstone, der
das ganz naiv erzählt,
bemerkt dazu: „Das
zeugte ans jeden Fall
für feinen kühlen,
calculirendeu
Geist; er (der „aetive,
intelligente" Schwär-
ze) kailfte später-
h in n o ch m e h r
Sklaven und hatte
nach zwei Jahren de-
ren so viele, daß er
mit ihnen einen gro-
ßen Nachen bemannen
konnte. Sein Herr-
verwandte ihn dann zum Transportiren von Elfenbein nach
Kilimane und gab ihm Zeug, um dafür Leute zu niiethen;
er (der „aetive, intelligente" Schwarze) verwandte aber zum
Transport seine eigenen Sklaven und machte auf
diese Weise ein gutes Geschäft. Auch war er völlig
überzeugt, daß er eiue vortreffliche Spekulation
gemacht habe, als er sich verkaufte; nun war er
Sklave, und wenn er krank wurde, mußte sein Herr
ihn erhalten."
Es kommt gar nicht selten vor, daß ein freier Schwarzer
sich freiwillig zum Sklaven macht; er tritt dann vor den
Mann hin, welchen er zu seinem Herrn machen will und
zerbricht eiueu Speer. Wir haben dieses Brauchs schou
S. 170 erwähnt.
Einige Miles nördlich von Tete liegen Steinkohlen,
namentlich an den Bächen, welche in den Revo ab ue mün-
den; die Lager haben von 5 bis zu 25 Fuß Mächtigkeit.
Südlich von Tete findet man in den Flüssen Gold.
Aus seiner frühern Expedition hatte Livingstone in
Tete eine Anzahl seiner afrikanischen Begleiter zurück-
gelasseu, sogenannte Makololo; diese wollte er jetzt in
ihre Heimat zurückbringen. Die Makololo, ein Betschuana-
stamm, sind vom Süden herauf bis etwa zum 17» S. Br.
vorgedrungen und haben in jener Region am obern Sam-
besi (dem Lyambai) und am Tschobe eine Anzahl schwarzer
Steine zum Zerquetschen des Getreides.
Völker uuterjocht, die mit demGesammtnamenMakalaka
bezeichnet werden. Unter Livingstone's sogenannten Mako-
lolo gehörte aber nur ein einziger demHerrschervolk an, die
übrigen waren Neger von den Stämmen derBatoka, Bo-
schubia und anderen.")
Er belohnte sie reichlich und trat am 15. Mai 1860
seinen Zug nach dein obern Sambesi an. Die Nächte
waren frisch, bald stellten sich Fieber ein uud fast au jedem
Tage nahm eine Anzahl seiner Begleiter Reißaus; als er
bei den nahenKebrabasa-Katarakten anlangte, waren schon
etwa dreißig, ein Drittel der ganzen Schaar, fortgelaufen.
Im Dorfe Desueh zeichnen sich die schwarzen Einwohner
das Gesicht in eigenthümlicherWeise; sie schneiden sich tiefe
Narben quer über das Antlitz, von einem Ohr zum andern,
sowohl über die Nase hinweg wie über die ganze Breite der
Stirne hin. Die Begrüßung besteht darin, daß man in
die Hände klatscht. Im aumuthigeu Thale Sibah, int
Dorfe des Häuptlings Sandia, wurde der Fieberkranken
wegen einige Tage lang Rast gehalten. Die Bewohner
sind Bademas und bauen Sorgo, Taback, Baumwolle
und Hanf; die Männer besorgen das Weben und Spinnen,
die anstrengendere Feldarbeit bleibt den Frauen über-
lassen.
Die Makololo schössen ein Elephantenweibchen. Von
einer solchen Jagdbeute gehört die Hälfte allemal dem
Häuptlinge des Ge-
bietes, auf welchem
das erlegte Thier
fällt.
Die Zerlegung
eiues Elephauteu
bietet ein eigenthüm-
liches Schauspiel dar.
Die Männer stellen
sich um denselben her-
um, beobachten län-
gere Zeit ein tiefes
Schweigen imd dann
tritt Einer vor, um
zu erklären, daß nach
altem Herkommen der
Kopf uud das rechte Vorderbein dem gehöre, welcher dem
Thiere die erste Wunde beigebracht habe. Das linke Vorder-
*) Livingstone hat in seinem frühern Reisewerke diese Ma-
kololo sehr idealisirt, und auf seine Angaben hin fignriren sie
nun in unseren Handbüchern als ausgezeichnete Leute. Selbst
der vortreffliche G. A. v>. Klöden spricht in seinem Handbuch
der Erdkunde, Bd. III, S, 517, von dem Dorfe Linyanti als
der „Hauptstadt der stolzen, edelen und muthigen Ma-
kololo, deren Häuptling Sebituane diese ganze Gegend mit
seinem Kriegsruhm erfüllt hat". Livingstone hatte die Welt
glauben machen wollen, daß diese, seine geliebten Barbaren,
ungemein civilisationsfähig seien; sie würden, meinte er, ihr
Viehraub - nnd Mordgewerbe einstellen, sie versprachen ihm
auch Alles, was er von ihnen verlangte und als er dann fort
war, trieben sie ihr Unwesen nach wie vor. Andersson, The
Okavango River, London 1861. S. 194, bezeichnet die Ma-
kololo als eine Pest nnd Plage (a scoürge) für das
centrale Südafrika. Der schwedische Reisende fand, daß sie
im Lande der Ovaquangari arg gewüthet und alles Vieh geraubt
hatten. Livingstone's ' ethnographische Jrrthümer nnd Phau-
tasmen sind, wie bemerkt, auch in Hand- nnd Lehrbücher über-
gegangen. Damit man ihm gegenüber vorsichtiger sei, setzen
wir die Bemerkungen Anderssons wörtlich hierher. Nachdem er
geschildert, wie die Makololoräuber es getrieben, fährt er fort:
This was then the result of all Dr. Livingstones earnest endea-
vours to dissuade these people from committing depredations
on their neighbours. All their fine promises to that
noble explorer, with their professions of peaceful dispositions,
were, as we here see, mere delusions, to nse the lightest
25*
196 Aus Livingstone's Reism am <!
bein erhält der, welcher den Elephauteu, sobald dieser am
Boden liegt, zuerst berührt hat; das Stück, welches um
die Augen herum ausgeschnitten wird, bekam diesmal der
Anführer der Makololo, und gewisse Stücke werden an die
Obmänner des Feuers vertheilt, d. h. an die verschiedenen
Gruppen, aus welchen das Lager besteht. Fett und Ein-
geWeide werden vorerst bei Seite gelegt, um später vertheilt
zu werden.
Sobald jener Mann seine Rede gehalten hatte, stürzten
die Schwarzen mit wildem Geschrei über den Elephanten
her, zerfetzten ihn mit ihren Lanzen und schwangen dieselben
in der Luft umher. Dabei regten sie sich immer mehr aus
und geberdeten sich wie besessen, sobald das Gas mit Ge-
räusch aus dem durchlöcherten Rieseneadaver hervorströmte.
Einige stürzten sich förmlich in den blutigen
Elephantenleib hinein, wälzten fich in dem-
selben umher und waren gierig darüber aus, sich die
mbesi, auf dein Nyassa-See?c.
wundet hatte, und um Schlimmeres zn vermeiden, wurde
er mit einem Stücke Baumwollenzeug besänftigt. In-
zwischen ging die Zerstückelung rasch vorwärts. Der Hänpt-
ling Sandia war herbeigekommen, ein bejahrter Mann,
der eine aus Jfe- (Sanseveria) Fasern verfertigte Per-
rücke trug; die Pflanze gehört zur Familie der Aloes und
die Fafer nimmt leicht Farbe an. Die Jfeperrückeu werden
in jenen Gegenden Asrika's nicht selten getragen. Living-
stone vergißt nicht, zu bemerken, daß sie dort vielleicht nicht
so häufig vorkämen, als Haarperrücken in England. Bei
jenen Leuten, welche in der eben geschilderten Weise den
Elephanten zerfleischen, findet er in Worten und Gebräu-
cheu Vieles, das ihn an die biblischen Patriarchen
erinnert!!!
Er besah sich noch einmal die Kebrabasa-Katarakten
und meint, es sei wohl wahrscheinlich, daß ein Dampfer
über sie hinwegkommen könne, wenn das Wasser 80 Fuß
Ein Taback rauchender Weber am Sambesi- (Nach Livingstone,)
leckersten Fettstücke anzueignen. Andere schnitten große
Stücken Fleisches ab, gingen blutbedeckt damit eine Stelle
weit weg, warfen es auf das Gras, kamen wieder, um eine
zweite Ladung zu holen, und schrieen und heulten dabei ent-
schlich durcheinander. üfticht selten geriethen Mehre in
Streit um ein Stück, das jeder von ihnen allein haben
wollte; ein Mann, dem ein anderer einen Lanzenstich ver-
setzt hatte, sprang aus der Eingeweide- und Fettmasse des
Elephanteneadavers hervor, packte den, welcher ihn ver-
word, on both sides. I very much fear that this tribe
have two faces for Livingstone. — —- After all, a missio-
nary, be he ever so practical a man, or ever so much estee-
med, is never likely to know the secrets of a savage
Community. That such is the case, has been abundantly
proved in almost all countries, where missions have been
established. My own experience teils the same tale.
Der Schwede sagt hier nur, was wahr i>t und was andere un-
befangene Beobachter bestätigen- A.
höher gestiegen sei als bei niedrigem Wasserstande; dann
werde er vielleicht den obern Sambesi gewinnen!
Weit verbreitet ist in jenen Gegenden der Glaube, daß
esMeuschen gebe, welche sich inThiere verwandeln.
Livingstone traf einen solchen bei einem Dorf an den
Kebrabasa-Katarakten, der vorgeblich die Gestalt eines
Löwen annehmen konnte. Als ein Gewehr abgefeuert
wurde, ging er anf die Seite, um das Pulver uicht zu
riechen und zitterte dabei fehr stark, offenbar jedoch künst-
lich. Die Makololo meinten, er sei ein Po nd o ro, der sich
nach Belieben verwandeln könne und allemal zittere, so-
bald er Pulver wittere. Wir sagteu den Makololo, sie
möchten ihn auffordern, daß er sich sofort in einen Löwen
verwandeln solle; er werde zur Belohnung ein Stück Zeug
bekommen. Das wollten sie aber nicht, weil er dann uns
im Schlaf überfallen und erwürgen könne! In ihrem Lande
herrscht der Verwandlnngsglanbe auch. Von dem Pon-
Aus Livingstone's Reisen am (
doro, welcher bei uns erschien, wurde erzählt, daß er nicht
selten als Löwe tagelang in den Wäldern umherstreife und
manchmal sogar von einem Vollmonde bis zum andern
fort bleibe. Seine Frau hat ihm im Dickicht eine Hütte
gebaut, in welche sie Speise und Bier für ihren verwan-
delten Herrn und Gemahl trägt; denn den menschlichen
Appetit behält der Mensch-Löwe. Niemand würde wagen,
diese Hütte zu betreten, und ein Fremder darf nicht einmal
ein Gewehr an den neben ihn stehenden Baobab lehnen.
Manchmal kommt das Wild, welches der Pondoro erjagt,
der ganzen Dorfschaft zu gute. Die Frau wittert ihren
Löwengemahl, legt eine gewisseMedicin (ein Zaubermittel)
hiu und eilt rasch von dannen, weil sonst sie sogar Gefahr
liefe, von ihm zerrissen zu werden. Der Löwe nimmt die
ambcsi, auf dem Nyassa-See :c. 197
stehlen? Schämst Du Dich deun gar nicht? Du bist mir
ein schöner Häuptling! Du bist ja wie ein Mistkäfer und
denkst nur au Dich! Wenn Dn beherzt wie ein Häuptling
wärest, dann würdest Du Dir selber einen Büffel holen."
Der Löwe war unempfindlich gegen dieses Schelten und
brüllte fort. Dann trat ein anderer Mann vor und suchte
dem wilden Thiere mit Güte beizukommen. Er sprach:
„Siehe, wir sind friedliche Reisende, tobten keine Menschen
und haben auch nicht gestohlen. Das Büffelfleisch gehört
uns und nicht Dir. Paßt es sich nun wohl für einen
Häuptling, wie eine Hyäne hernmzuschleichen und Fremden
Fleisch wegnehmen zu wollen? Das solltest Du bleiben
lassen. Gehe lieber selbst in den Wald auf die Jagd, an
Wild fehlt es dort nicht. — Als auch diese friedliche Apo-
Schmiede bei den Manga
Medicin und wird durch dieselbe wieder in einen Menschen
umgestaltet; dann kehrt er ins Dorf zurück und sagt, wo
die von ihm erlegten Thiere zu finden seien. Gewöhnlich
handelt es sich dabei um Büffel oder Autilopen. Manch-
mal putzt der Pondoro sich mit allerlei Zauberschmuck her-
aus. Uebrigens glaubt man auch, daß verstorbene Häupt-
liuge sich in Löwen verwandeln können. Einst hatten wir
am Kasnefluß einen Büffel erlegt; da kam ein Löwe, wel-
cher Blut gewittert hatte, bis dicht in die Nähe nnsers
Lagerplatzes und brüllte fürchterlich. Der Makololo Tuba
Mukoro hielt ihn für einen Geist und redete ihn an, wenn
der Löwe im Brüllen eine Pause machte. „Du willst ein
Häuptling sein? Du ein Häuptling, und kommst in der
Dunkelheit herangeschlichen, um uns unsere Büffel zu
chas. (Nach Livingstone.)
strophe dem Gebrüll kein Ende machte, wurden die Leute
ärgerlich und schössen nach dem Löwen, der dann ab-
trollte."
Am 7. Juli 1860 erreichte Livingstone die Tschikova-
Ebene, in welcher der Sambesi wieder so breit ist wie bei
Tete; auch dort liegen Steinkohlen. Die Nächte waren
hell; die Hauptgestirne führen bei vielen Völkern jener
afrikanischen Region dieselben Namen. Venus z. B. heißt
als Abendstern Ntanda, d.h. der ältere, und als Morgen-
sternNandschika oder Erstgeborner des Morgens; Sirius
heißt Kuehua Usiko, d. h. der die Nacht hinter sich her-
zieht. Der Mond hat in dieser Gegend keinen bösartigen
Einfluß, während in Tete fünf von des Reisenden Beglei-
tern mondblind wurden.
198 Aus Livingstone's Reisen am (
Livingstone läßt seine Schwarzen ungefähr so über
„Politik" raisonniren wie Engländer und überträgt in
völlig ungeeigneter Weise Begriffe und Vorstellungen auf
die wilden Urafrikaner, welche bei diesen Leuten durchaus
nicht gang und gebe sein können. Ein unerschöpfliches
Thema ihrer Unterhaltung sei die schlechte Verwaltung
der Häuptlinge gewesen. „Wenn wir uns selbst regie-
ren könnten, dann wären wir besser daran. Wozu haben
wir Häuptlinge, wozu brauchen wir dergleichen? Gewöhn-
lich faullenzt der Häuptling und wird doch fett dabei. Er
hat viele Frauen, und wir, die alle schwere Arbeit für
ihn thun müssen, haben nur eine Frau, manchmal auch
gar keine. Das ist schlecht, das ist eine Ungerechtigkeit,
das taugt nichts." — Bei solchen Worten riefen dann Alle
ein Ehe! was etwa mit unserm: Hört! hört! gleich-
bedeutend ist."
Der Kundige sieht auf den ersten Blick, wie ungenau
und voll von idealisirender Schönfärberei diese Worte sind,
welche hier den Schwarzen in den Mnnd gelegt werden.
Sie habeu ja in ihrer Sprache gar keine Ausdrücke für
Selbstregierung, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, und was
deu Wunsch ucich mehren Frauen anlangt, so erklärt der-
selbe sich sehr einfach: ein Mann, der Frauen hat, besitzt
an deuselbeu eben so viele Sklavinnen und diese
müssen für ihn arbeiten; er kann es dann selber so
gut haben, wie der von ihm beneidete Häuptling. Es
lenchtet ein, was er sich unter der angeblichen „Selbstver-
waltung" denkt.
Die Tschikova-Ebenen sind sehr fruchtbar: „Baum-
wolle wächst in allen verlassenen Gärten; es haben nämlich
die Kriege der Barbaren untereinander viele Menschen
gekostet. Für den Schwarzen, welcher noch nie einen
Weißen gesehen hat, müsse, so meint Livingstone, der
Anblick eines solchen etwas Furchtbares haben. Er erzählt
ganz naiv und ernsthaft, wenn er in ein Dorf eingezogen
sei, hätten sogar die Hennen ihre Küchlein verlassen
und seien kreischend ans des Dach geflogen. Man habe
sich stets erst dann beruhigt, nachdem die Makololo erklärt
hätten, diese Weißen seien keine Menschenfresser!
Dabei wird folgende alberne Bemerkung hinzugefügt:
„Manche unserer modischen Herren würden vielleicht die
hohe Meinung, welche sie von sich selber haben, herab-
stimmen, wenn sie sähen, daß alle hübschen Mädchen
vor ihnen, wie vor scheußlichen Kannibalen fortliefen; oder
wenn sie hörten, daß Mama zu ihrem Kleinen sagt: Sei
artig, oder ich rufe den weißen Mann, daß er dich
beiße." Das Alles, fo schreibt er weiter, müsse entsetzlich
sein für den unverfälschten (unsophisticated) Einge-
gebornen Afrika's; sogar die Hunde liefen weg; das sonst
so friedliche Dorf verwandle sich in einen Schauplatz der
Verwirrung. Uebrigeus hätten die zwei Esel, welche die
drei weißen Männer bei sich hatten, die Bewunderung der
harmlosen Naturkinder nicht weniger auf sich gezogen wie
die letzteren selber, und als ein Langohr seine liebliche
Stimme erhob, seien die schwarzen Leute in ärgere Angst
gerathen, als wenn ein brüllender Löwe neben ihnen sich
erhoben hätte; nachher aber lachten sie „und benahmen sich
etwa wie die Londoner, als diese zuerst das berühmte Hip-
popotamns sahen". Auslassungen solcher Art e'nthält das
Werk in geradezu gesuchter Weise eiue große Meuge; es ist
Absichtlichkeit dabei und durchgängig eine sehr geistlose.
Von den Tschikova - Ebenen zog Livingstone immer am
linken Ufer des Stromes zunächst bis dorthin, wo die
Ruinen von Zumbo liegen. Hier war der äußerste
Punkt, wohin die Portugiesen einst vorgedrungen sind.
Wir heben einige Reisebemerkungen aus. An der Mün-
mbesi, ans dem Nyassa-See :c.
düng des Flusses Siudschere oder Nyamatarara, bis
wohin die Tschikova-Ebenen reichen, zieht sich ein Basalt-
riegel durch den Sambesi, der aber zwei tiefe Durchfahrten,
jede vou 69 bis 80 Fuß Breite hat. In der Nähe kam
ein sehr großer, äußerst wohlgenährter Affe aus einem
Garten. Der Affe ist in jener Gegend ein geheiligtes
Thier, das weder beunruhigt noch getödtet wird; die Ein-
gebornen glaubeu nämlich, daß die Seelen ihrer Vorfahren
in Affenleibern wohnen.
Oberhalb Senga liegt am Strom eine dorflofe Einöde,
in der kein Vogel, nicht einmal ein Insekt sich hören ließ;
die Karawane zog mühsam über die brennend heiße Ebene
bis zum Dorfe des Häuptlings Pangola. Dort war ein
gewaltiger Fieusbamu ganz mit Amuletten behängt, damit
kein Dieb die in den Aesten angebrachten Bienenkörbe hole.
Der Häuptling selber scheint nicht zu den „nnverdorbenen
Naturkindern" gehört zu haben, denn er war schwer be-
trunken und verlangte sehr zudringlich eine Doppelflinte.
„Die weißen und die schwarzen Schurken sind Brüder,"
äußert Livingstone nebenher. Die Schwarzen tragen in
jener Gegend einige Bekleidung aus Zeugen, welche sie
selber spinnen und weben.
Bei Znmbo gingen die Reisenden auf das rechte User
des Sambesi hinüber. Neben den Trümmern einer Kirche
liegt noch eine alte Glocke, am linken User des Loangna,
der von Norden her kommt und hier iit deu großen Strom
mündet. Die Stelle, ans welcher die Portugiesen ihre
Niederlassung angelegt hatten, war prächtig gewählt für
den Handel anf beiden Flüssen und für jenen mit dem
Lande Maniea, das reich an Gold und Elfenbein ist. Jetzt
liegt Alles in Ruinen.
Von dort zog Livingstone weiter bis an die Mün-
düng desKafne; dort liegt anf einer Insel das Dorf
des Häuptlings Kambodso, es heißt Nyampuugo oder
Nyangalule. Dort machten die Schwarzen Musik,
lageil dein Trinken ob und freuten sich, daß sie zum ersten
Mal ächte Weiße Seilte sähen. In beiden Strömen
wimmelt es von Hippopotamen. Am rechten Ufer des
Sambesi wohnen Batengis oder Batongas, d. h. un-
abhängig; sie bauen viel Sorgho. Vom Kasue au auf-
wärts lebt am linken Ufer des Sambesi und auf den Inseln
eine zahlreiche Bevölkerung, während das rechte Ufer ver-
ödet erscheint. Die Stromschnellen von Nankasalo
sind unbedeutend. In dieser Gegend lebt der Volksstamm
der Baeuda Pezi; die Leute geheu ganz und gar unbe-
kleidet. Um dieseBarbaren in einem idealen Licht erscheinen
zu lassen, macht Livingstone wieder eine abgeschmackte Be-
merkung: „Im Allgemeinen ist ein ganz nackter Mensch
ein sehr häßliches Thier. Wenn wir die degradirten Leute
unserer niederen Klassen (/in England) in demselben nackten
Zustande sehen könnten, und ohne die schwarze Haut, welche
doch wie irgend eine Art von Bekleidung aussieht, dann
würde die Sache wahrscheinlich noch schlimmer sich aus-
nehmen."
Am 9. August war der Reisende an den großen
Wasserfällen des Sambesi. Wir haben schon früher
(ß. 102) eine Beschreibung und Abbildung derselben mit-
getheilt. Diese Wasserfälle werden von den Makololo als
„Ranch, der Geräusch macht" bezeichnet, Mosi oa tunyia;
sie heißen auch Scougo oder Sougueh, d. h. die Stelle
des Regenbogens.
Einige Tage später wurde die Mündung des Tschobe
erreicht und am 18. August befand sich Livingstone in
Sescheke, dem Hauptdorfe der Makololo, welches er in
der Beschreibung seiner ersten Reise sehr ausführlich ge-
schildert hat. Jetzt war das Dorf, oder wie Livingstone
Aus Livingstone's Reisen am (
sagt, die Stadt fast ganz verfallen; nachdem der Gouverneur
Moriantfane hingerichtet worden war, weil er im Verdacht
stand, den Häuptling bezaubert zu haben, zogen die Be-
wohner fort und bauten sich, auch auf dem linken Ufer, in
einiger Entfernung an. Livingstone's Lieblingsbarbar, der
Häuptling Sekeletu, hielt sich in provisorischen Hütten
am rechten Ufer auf; er hatte den Aussatz und zeigte sich
seinem Volke nicht mehr. Da wir früher schon oftmals
über die Makololo gesprochen haben, so gehen wir aus
Livingstone's Schilderungen jetzt nicht weiter ein; sie ent-
halten ohnehin nichts Neues. Uebrigens konnte selbst ein
so befangener Mann sich der Wahrnehmung nicht ver-
schließen, daß er mit seinem frühern Predigen und seinen
Eivilisationsversuchen durchaus gar nichts ausgerichtet
habe. Nachdem er seine Reisebegleiter abgeliefert, verließ
er Sefcheke am 17. September und war am 23. November
wieder in Tete.
Von Wichtigkeit sind Livingstone's Erpeditionen aus
dein Schire, dem Schirwa- und dem Nyassa-See.
Nach dem Schire hatte er schon im Januar 1859 eiue
Reise unternommen. Der Strom mündet in den untern
Sambesi zwischen Senna und Schnpanga und ist ein Ab-
zug des Nyassa-Sees. Als L. den Fluß befuhr, war der-
selbe mit einer ganz nngehenern MeugeWasserlinsen bedeckt,
die ans einem nach Westen hin liegenden Morast herbei-
schwammen. Die Eingebornen waren mit Bogen nud
vergifteten Pfeilen bewaffnet und liefen in großer Menge
herbei; einige verbargen sich hinter den Bäumen, lauerten
und hielten ihre Waffen bereit. Beim Dorfe Tingane
hatten sich wenigstens 500 Krieger versammelt und den
Reisenden wurde Halt geboten; Livingstone ging ans Ufer
und erklärte, daß er in friedlicher Absicht gekommen sei,
daß seine Landsleute erscheinen würden, um Baumwolle
und Elfenbein zu kaufen, aber keine Sklaven. Dann
nahm Alles einen glatten Verlaus. Der Reisende will
wissen, daß diese Schwarzen an ein höchstes Wesen glau-
ben, welches alle Dinge geschaffen habe und lenke; sie
glauben auch, so behauptet er weiter, an ein Leben jenseit
des Grabes.
Man dars aber solchen Behauptungen gar keinen Werth
beilegen, denn sobald es sich um „überirdische Dinge" han-
delt, wird Livingstone gewöhnlich Phantast und legt deu
Barbaren christliche Spekulationsbegrisse unter, welche
ihnen völlig sremd sind. Hier bemerkt er selber: „Es ist
allerdings sehr schwer, ihnen begreiflich zu machen, daß sie
in verwandtschaftlicher Beziehung zum Schöpfer stehen,
und daß das höchste Wesen sich für sie interessire. Aber,
wie bei unseren Landslenten der niedrigen Klassen, werden
Unterricht und gute Beispiele sie schon auf das gehörige
moralische Niveau bringen!" Es gibt freilich kein Bei-
spiel, daß dergleichen geschehen wäre; Livingstone selbst
wenigstens ist mit alleu seinen Bestrebungen gründlich ge-
scheitert.
Die Anwohner des Schire reden Mundarten,
welche mit jenen der Leute von Senna und Tete viel
Aehnliches haben. Der Fluß hat in seinem untern Laufe
mindestens 2 Faden, also 12 Fuß Tiefe; weiter aufwärts
zweigen sich viele Arme von ihm ab und vermindern seine
Wassermenge; aber er hat keine Sandbänke und deshalb
kann er theilweise ohne Schwierigkeit befahren werden.
Unter 10" 55' südl. Br. liegeu prächtige Wasserfälle;
Livingstone hat sie, seinem geographischen Protektor zu
Ehren, Mnrchison-Katarakten benannt; bei den Ein-
mbesi, auf dem Nyassa-See ic. 199
gebornen heißen sie Mamvira und so sollten wir sie
billig auch nennen. Ueber diese Stromhindernisse konnte
der kleine Dampfer nicht hinweg und eine Weiterreise zu
Lande war jetzt nicht thnnlich, weil die Eingebornen sich
sehr mißtrauisch zeigten und Tag und Nacht auf der Hut
waren. Livingstone kehrte deshalb nach Tete zurück.
Dann giug er im März des folgenden Jahres wieder
an den Schire und wurde nun von den Anwohnern freund-
licher empfangen; sie verkauften ihm Getreide und Hühner,
und die Reisenden konnten mit dem Hänptling'Tschibisa
in Verkehr treten. Sein Dorf liegt etwa 10 Miles unter-
halb der Katarakten; dieser Mann war weit und breit der
intelligenteste Häuptling. Bei ihm ließ Livingstone seinen
Dampfer und ging mit vi-. Kirk landein nach Norden hin,
um au deu Schirwa-See zu gelangen. Der Weg führte
durch ein gebirgiges Land; die Eingebornen zeigten sich
nicht freundlich, die Führer waren treulos, doch am
18. April 1859 stand er am Ufer dieses beträchtlichen
Binnenbeckens, das von den anwohnenden Mangandschas
als Nyandscha Mukntu, d.h. der große See, bezeichnet
wird. Er hat „bitteres Wasser, in welchem Blutegel,
Fische, Krokodile und Hippopotamen leben. Wahrschein-
lich ist er ohne Abfluß und deshalb das Wasser etwas
brakig; er scheint tief zu sein; an manchen Stellen hat er
Inseln."
Livingstone hatte eine Aussicht auf den Wasserspiegel
an der Südsüdwestseite vom Berge Pirimiti oderMopö
pö aus. Im Osten erhoben sich Hügelreihen; im Westen
ragt der Berg Tschikala empor, welcher mit der großen
Gebirgsm asse Zomba in Verbindung zu stehen scheint.
Am Ufer wachsen Binsen und Papyrus. Die Eingebornen
erzählten, dieser See könne in Bezug aus seine Größe gar
keinen Vergleich aushalten mit einem andern, der nach
Norden hin liege und von diesem Schirwa nur durch eine
Sandbank getrennt sei. Dieser letztere ist wahrscheinlich
60 bis 80 Miles lang und 20 Miles breit; sein Spiegel
liegt 1800 Fuß über dem Meere (so sagt Livingstone
S.82, auf der englischen Karte ist dieselbeHöhe angegeben).
Das Wasser schmeckt wie eine schwache Auflösung von
Glaubersalz. Die Landschaft ist hübsch, der Pflanzenwuchs
üppig, und die Berge an der Ostküste scheinen bis zu
8000 Fnß hoch zu sein; sie bilden die Milandsche-
Kette; im Westen ragt, wie schon angedeutet, die 7000
Fuß hohe Gebirgsmasse Zomba empor.
Die dritte Erpedition auf dem Schire wurde im
August 1859 unternommen; Livingstone wollte mit den
Anwohnern in Verbindung treten und Näheres über den
großen See erfahren. Die Gegend am Fluß ist niedrig,
aber fruchtbar; ein wenig landeinwärts ziehen sich Berg-
und Hügelketten hin; der 4 Miles lange Morambala
hat eine Höhe von 4000 Fuß. Etwas aufwärts von dem-
selben windet sich der Schire durch einen ausgedehnten
Morast; weiterhin steigt der kuppelsörmige M a g a u d s ch a -
oder Tschikaudaberg empor. Die Schwarzen pflanzen
Taback, Mais k. in dem zur Regenzeit überschwemmten
Tieflande und ernten auch Lotos, welcheu sie als Nayika
bezeichnen. Die Wurzel wird geröstet oder gesotten und
schmeckt dann wie süße Kastanie; sie wird in vielen Gegen-
den Afrika's gern genossen. Beim Dorfe Mboma 16"
56' 30" südl. Br. wird in großer Ausdehnung Reis ge-
baut; in dieser Gegend liegen auch Steiukohlen. Sehr
häufig sieht man Fallen ausgestellt, in welchen der
Hippopotamns sich fängt; das Wasserthier hat seine
gewissen Pfade, auf denen es bei Nacht geht, um am
Lande zu äsen. Die Schwarzen richten die Falle so ein,
daß ein in der Höhe angebrachtes scharfes Werkzeug dem
Aus Livingstone's Reisen am Sambesi, auf dem Nyassa-
See ?e.
201
Thier von oben herab in den Rücken fährt und dasselbe
tödtet. Unsere Abbildung (S. 193) zeigt eine solche Hip;
popotamusfalle.
Einige Miles oberhalb Mboma liegt das Dorf des
Häuptlings Tingane. Dieser ließ bei Ankunft des
Fremden sofort die Kriegstronunel rühren, und bald nach-
her waren einige hundert Bogenschützen versammelt. Von
diesem Dorf aus war der majestätische Berg Pirone in
Sicht, den Livingstone Mount Clarendon genannt wissen
will; wir unsrerseits ziehen den einheimischen Namen vor.
Noch weiter gen Nordwesten hin bildet die große Milandsche-
Kette die Gestalt einer Sphinx; in ihr soll die Quelle des
Nuho liegeu, der gen Südwest läuft und oberhalb Tin-
gane in deu Schire mündet. Etwas jenseits vom Ruho
beginnt der Nyaudscha Mukutu, d. h. der große
Elephanteumorast, an welchem Livingstone einmal
mehr als 890 Elephanten beisammen sah. Sie sind
in diesem Moraste gegen jede
Verfolgung sicher; dorthin
kann ihnen kein Jäger fol-
gert. Jenseits des Morastes
gewinnen die Schwarzen
Salz durch ein sehr einsaches
Verfahren aus der salzhal-
tigeu Erde; wo der Boden
mit Salz geschwängert ist,
hat die Baumwolle allemal
einen feinen und langen
Stapel. Mais wächst das
ganze Jahr hindurch.
Am 25. August erreichte
der Reiseude Dakana-
m o y o, eine Insel, welche
Tschibisa's Dorse gegenüber
liegt. Der Häuptling hatte
indeß, nach dem iu jenen Ge-
genden herrschenden Brauch,
seine Residenz geräumt und
war mit der Mehrzahl sei-
ner Leute irgend wohin an
deu Sambesi gezogen. Von
denen, welche zurückgeblie-
ben, waren einige mit dem
Verweben der Baumwolle
beschäftigt. Unser Bild zeigt,
wie der einfache Webstuhl
aussieht.
Am 28. August 1859
verließ Livingstone seinen
Dampfer, über dessen höchst schlechte Bauart und Einrichtung
er oftmals sehr wohlbegründete Klage führt, um den großen
S e e zu entdecken. Der Reisezug bestaud aus 42 Männern;
davon waren 4 Weiße, 36 Makololo und 2 Führer; der
Weg giug nach Nordwesten über das Mangandschagebirge
nach Tschitimpa^s Dorfe, das, wie alle Dörfer der Man-
gandschas, mit einer dichten Einzäunung von giftigen
Euphorbien umgeben war. Man breitete für die Weißen
einige Matten aus; der Häuptling brachte ein Seguati,
das iu einer kleinen Ziege und einem Korbe mit Mehl
bestand, und erhielt dagegen etwas Kattun. Frauen und
Mädchen stampften Getreide, oder vielmehr sie zerrieben
die Körner in einer großen Steinschüssel mit einem andern,
länglich runden Steine.*) Die Luft war hier nicht mehr
*) Folgende Aeußerung Livingstone's ist kennzeichnend für
das Urteilsvermögen dieses Mannes. In den beiden rohen
Globus X. Nr. 7.
Der Lippenschmuck (Pelele) der Frauen am Schire.
(Nach Livingstone.)
schwül und am andern Tage fand man auf dem Wege zur
höchsten, etwa '6000 Fuß über dem Meere liegenden Ter-
rasse eine Menge von Dörfern, alle in reizender Lage.
Dieses Plateau zieht von den Milandschebergen nach Westen
hin und fällt gegen Nordwesten nach dem Schirwa-See
hin ab. Livingstone zog eine Woche lang gegen Norden
und stieg ins Stromthal des Schire hinab, das 1200 Fuß
über dem Meere liegt und gut bevölkert ist.
Hier wohnen Mangandscha's in einem sehr reich
bewässerten Lande; die Reisenden überschritten einmal nicht
weniger als 7 Bäche in einer Stunde. Jedes Dors hat
seinen eigenen Häuptling, der, wie Livingstone idealisirend
sich ausdrückt, sämmtliche Bewohner als seine „Kinder"
betrachte. Die kleineren Häuptlinge anerkennen die Ober-
Herrlichkeit eines großen Häuptlings, den sie als Rondo
oder Ruudo bezeichnen; als Tribut erhält er eiuen Zahn
von jedem Elephauteu; seinerseits liegt ihm die Verpflich-
tuug ob, die übrigen Hänpt-
linge gegen jeden Feind zu
beschützen.
Die Dörfer liegen an
passend ausgewählten SM-
len und jedes Dorf hat einen
B o a l o, eine Art von
Dorfwirthshaus. (Derglei-
cheu kommen in ganz Ost-
asrika weit nach Norden hin
vor; Richard Burton sand
sie iu den von ihm durch-
wanderten Gegenden über-
all, u. er hat diese „Iwan-
sas" und das Leben und
Treiben der Schwarzen in
denselben vortrefflich uud
wahrheitsgetreu dar-
gestellt). Ein solches ist
eine 80 bis 100 Fuß lauge
Scheune, welche von Bau-
men beschattet wird. Dort
halten sich die Männer den
lieben langen Tag ans, rau-
cheu Taback u. Haus, trinken
Bier bis tief in die Nacht
u. sobald die Sonue unter-
gegangen ist, wird gespielt
und getanzt.
Livingstone sagt, die
Männer brächten ihre „Ar-
bdt" mit ins Wirthshaus.
Er stellt die Maugaudschas als eiue „aetive und arbeit-
same Rasse" hin, weil sie etwas Eisen uud Baumwolle
verarbeiten, Körbe und Matten zu flechten verstehen und
„mit Hitze" auf dem Felde arbeiten, Weiber und Kinder
mit eingeschlossen In ihrem fruchtbaren Lande bauen
sie Reis, Mais, Durra, Bohnen, Hirse, Erdmandeln,
Maniok, Gurken, süße Kartoffeln, Hans uud Taback.
Im südlichen Theile dieser „Hochlande" werden viele
und gute Hackeu, Lanzen, eiserne Pfeile und Arm-oder
Beinringe verfertigt, die sehr wohlfeil geliefert werden.
Livingstone mnthet uns zu, wir solleu ihm glauben, jedes
Dorf habe seinen — „ Hohofeu ". Daß Kohlen-
Steinen findet er „die Urinühle", welche der Handmühle der
Orientalen vorausgeqangen sei; dann sagt er voll Salbunq:
„Vielleicht hat Sarah sich solcher Steine bedient,
als sie die Engel bewirthete!"
26
202
Aus Livingstone's Reisen am Sambesi, auf dem Nyassa- See :c.
brennereien und Schmieden, letztere in der einfachen, rohen
Weise wie unser Bild sie zeigte, vorhanden seien, wollen
wir nicht in Abrede stellen. Als Beweis von „Industrie"
wird auch angeführt, daß die Leute am Schirwa Thon-
gesäße verfertigen; sie kennen aber die Töpferscheibe nicht;
auch können sie Näpfe verfertigen und Netze werden ans
Pflanzenfasern bereitet. Der Handel besteht im Aus-
tausch von Taback, Salz, getrockneten Fischen, Hänten und
Eisen.
„Viele Männer sehen höchst intelligent aus, haben sehr
wohlgestaltete Schädel, angenehme Gesichtszüge und hohe
Stirnen. Wir vergaßen bald, daß sie dunkelfarbig seien,
und häufig sahen wir Gesichter, welche denen weißer Men-
schen glichen, die wir in England gekannt hatten, und an
die wir nun hier sehr lebhaft erinnert wurden." Diese
Stelle Livingstone's ist in England selbst für eine Un-
Wahrheit erklärt worden; gewiß ist, daß unter allen Jndi-
viduen, welche Livingstone gezeichnet hat, sich kein einziges
befindet, das auch nur annähernd kaukasisch aussähe.
Die Männer sind in hohem Grade putzsüchtig und
gebrauchen viel Zeit, um sich ihren Haarschmuck zurecht zu
machen; dabei behängen sie den ganzen Körper mit allerlei
Dingen, welche ihnen für Zierrath gelten, und an Fingern
und Daumen, Hand - und Fußknöcheln, Armen und Lenden
dürfen Ringe von Messing, Kupfer'oder Eisen nicht fehlen.
Schwarze Damen, welche ihn an Engländerinnen erin-
nert hätten, scheint der Reisende nicht gesehen zu haben.
Jene schmücken sich in ganz eigener Art
mit dem Pelele, einem Ringe, der, wie
unsre Abbildung zeigt, in der Oberlippe
befestigt wird. Mau durchbohrt die letz-
tere schon den kleinen Mädchen und steckt
eine hölzerne Nadel in das Loch unweit
vom Nasenknorpel. Diese Nadel wird dann
in geeigneten Zwischenräumen durch immer
größere Stifte ersetzt und solchergestalt die
Oeffnung erweitert, bis sie so umfangreich
geworden ist, daß man einen Reifen hinein-
bringen kann, der 2 Zoll im Durchmesser hält. Alle „Hoch-
landsfrauen" tragen den Pelele, der aber auch am obern
und untern Schire vorkommt. Keine Frau läßt sich ohne
Pelele blicken, außer wenn sie um einen Todten trauert.
Durch diesen Nasenring wird das Antlitz in der allerab-
scheulichsten Weise entstellt. Bei einer alten „Lady" hing
derselbe bis aus das Kinn herab. Auf die Einwendungen
des Europäers, daß dieser Nasenring sehr häßlich mache,
entgegnete man ihm, er sei Kodi, d. h. Mode; die Frauen
trügen ihn, weil sie keine Bärte hätten.
In der Nähe des Nyassa wird der Schire breit und
tief, strömt aber sehr langsam; an einer Stelle bildet er
eine seeartige Erweiterung, den Pamalombe, von 10 bis
12 Miles Länge und 6 Miles Breite. Eine Tagreise vom
großen See entfernt wohnt der Häuptling Muana Moesi,
der aber vom Vorhandensein eines Sees gar nichts gehört
haben wollte und die Behauptung aufstellte, der Schire
komme weit, weit her, aus steilen Bergen, die bis in den
Himmel reichen. Livingstone ließ sich natürlich durch ihn
nicht irre führen, zog weiter und entdeckte am 16. Sep-
tember 1859 den Nyaffa-See, dessen Südspitze er in
14° 25' südl. Br. 33° 10' östl. L. legt. Er verweilte aus
guten Gründen nur knrze Zeit an dem See, den er später
wieder besuchte. Wir kommen gelegentlich daraus zurück
Und wollen heute nur noch seiner beiden Erpeditionen nach
dem Rofuma erwähnen.
Für Ostafrika ist der Raub von Sklaven, welcher
hei den verschiedenen Völkern seit uralterZeit im Schwange
Gürtel der Frauen am Schire.
geht, eine wahre Ealamität. Durch die Portugiesen hat
dieser Unfug eine große Ausdehnung gewonnen, aber nicht
minder durch die Araber, welche seit alten Zeiten weit
und breit Menschen aufkaufen. Die Dinge liegen im
afrikanischen Wesen und sind schlimm und arg genug, aber
Livingstone behandelt sie mit der größten Einseitigkeit und
mit einer Absichtlichkeit, die nicht selten höchst verstimmend
wirkt.
Am Schire, beim Dorfe des Häuptlings Mbame, be-
gegnete ihm ein Zug Sklaven, welche nach Tete gebracht
werden sollten. Männer, Weiber und Kinder waren in
einer langen Reihe hinter einander befestigt worden, und
bei manchen steckte der Hals in einer hölzernen Gabel.
Die Agenten der Portugiesen sind schwarze Männer; sie
bliesen lustig auf Hörnern, während die Gefangenen fürbaß
zogen. Diese waren zumeist Kriegsgefangene. Livingstone
erzählt, am Tage vorher seien zwei Frauen getödtet worden,
weil sie sich ihrer Bandriemen hätten entledigen wollen;
dem Kind einer Mutter habe man eine Kugel vor den Kopf
geschossen, weil sie sich geweigert, eine schwere Last zu
tragen. Livingstone befreite 80 Sklaven an einem Tage,
hinterher nahm er den Treibern noch mehre weg. Da die
Afrikaner nicht begriffen, was für eine Befugniß ein frem-
der Mann habe, ihnen ihr Eigenthnm zu rauben, wurden
sie feindlich gegen ihn und verursachten ihm später viele
Ungelegenheiten.
Wir wollen hier bemerken, daß Richard Burton in
seinem berühmten Reisewerke: The lake
regions of Central Africa, einige Kapitel
über das Leben und Treiben der Ostasri-
kaner gibt; seine Schilderungen sind nicht
sentimentale Stimmungsbilder, sondern
photographisch - getreue Aufnahmen. Er
schreibt: „Verhältnißmäßig ist die Barbarei
beim Transportiren der Sklaven nur gering.
Allerdings werden in solchen Gegenden,
wo Gefahr ist, daß der Sklave geraubt
werde oder entlaufen könne, die Unglück-
lichen an einander gebunden, aber durchgängig ist die
Behandlung mild und gute Worte müssen das
Beste thun. Oft liegt der träge Sklave gemächlich im
Schatten, während sein Herr sich in Sonne und Wind ab-
müht; er wird gut genährt und hat wenig zu thuu. Das
Verhältuiß zwischen Herrn und Sklaven erscheint wie die
Stellung eines Beschützers zum Schutzbefohlenen. Aller-
dings kommen als Ausnahme scheußliche Diuge vor; das
läßt sich aber nicht anders erwarten bei Leuten, die gar
keine Achtung vor dem menschlichen Leben haben." Burton
mußte mit ansehe,t, daß einer seiner Führer einer Sklavin,
die wegen beschädigter Füße nicht rasch genug gehen konnte,
den Kopf abschlug, damit sie nicht eines Andern Eigen-
thum werde! —
Der Rofuma oder Rovuma ist von Livingstone
zweimal besucht worden. Dieser Strom mündet an der
ostafrikanischen Küste zwischen dem 10. und 11. Grade
siidl. Br., etwas nördlich vom Vorgebirge Delgado. Die
früher mehrfach ausgesprochene Vermuthung, daß er einen
Abfluß des Nyanza bilde, ist ohne alle Wahrscheinlichkeit,
seitdem man weiß, daß derselbe seinen Abzug vermittelst
des Schire nach Süden hin hat.
Im Januar 1861 war am Sambesi ein neuer Dampfer
aus England eingetroffen, der „Pioneer", welcher am
25. Febr. vor der Mündung des Rofuma ankerte. Dieser
hat keine Barre, sondern eine ungehinderte Einfahrt. Am
11. März fuhr das Schiff stromau und fand, daß die
Mangrovegebüfche nur etwa 8 Miles aufwärts reichen;
C, v> Gerstenberg: Aberglauben bei
dann beginnt zu beiden Seiten ein reizendes Hügelland.
Das Wasser war niedrig und oft kaum so ties, daß das
Fahrzeug weiter dampfen konnte. Nachdem dasselbe etwa
39 Miles zurückgelegt hatte, mußte es umkehren.
Bei einem zweiten Versuche, der im September gemacht
wurde, fand Livingstone zwar auch noch sehr tiefen Wasser-
stand, kam aber doch etwas weiter. Das Strombett ist
sehr unregelmäßig und wird an vielen Stellen durch herab-
geschwemmte Baumstämme nahezu versperrt. Rindvieh
kann wegen der giftigen Tsetsefliege in diesen Gegendeu
nicht leben. Livingstone meint, acht Monate im Jahre
könne der Rofnma wohl beschifft werden, doch werden für
diese Ansicht keine Beweise beigebracht. Etwa unter dem
11. Grade kam der Strom von Westsüdwesten her; im
Uferlande liegen Kohlen. Im Ganzen konnte das Schiff
156 Miles aufwärts fahren bis zur Insel Nyamatolo,
rschiedmen Völkern im russischen Reiche. 203
11° 53' südl. Br. 38° 36' östl. L.; dort liegen Felsen mit
Stromschnellen; weiter oben im Gebirge sollen Katarakten
zu finden sein.
Auf dem nördlichen Ufer wohnen die Makonda; sie
leben mit den am rechten Ufer hausenden Mabcha und
Makoa in Frieden. Die letzteren haben als Abzeichen
ihres Stammes eine große Schnittnarbe in Gestalt des
Neumondes, aber mit den Hörnern nach unten vor der
Stirn; dieser Stamm beherrscht westlich von Mosambik das
Land weit und breit; die Autorität der Portugiesen reicht
kaum ein paar Meilen landeinwärts.
Der Nofuma kommt aus einer nordnordwestlichen Ge-
gend. Etwa 39 Miles oberhalb der Stelle, wo Living-
stone umkehrte, mündet in ihn der Liende, welcher von
Südwesten herströmt und in den Bergen an der Ostseite
des Nyassa entspringt.
Allerlei Aberglauben bei verschieb
Von C. v.
Wir haben im „Globus" (IX, S. 331) einen Artikel
über den Volksaberglaubeu in Bessarabien gebracht und
gezeigt, wie derselbe unter dem dort lebenden Mischvolke
von Kleinrussen, Rußniaken, Moldauern und Armeniern
sich eingebürgert hat und fortlebt.
Wie unter den Bewohnern des Südens, so hat sich auch
unter jenen des Nordens der Glaube an eine Menge von
Wundern, Märchen k. bis auf die heutige Zeit erhalten.
Wenn ein Lappe fischt, darf weder ein Weib noch ein
Hund in seiner Nähe sein, da diese beiden Unglück bringen.
Gleich den Bessarabiern haben auch die Lappeu söge-
uaunte weise Frauen und weise Männer, welche
wahrsagen und dieses Geschäft auf folgende Art treiben.
Der Wahrsager zieht mit einer Trommel (Gobodes), auf
welche allerlei mystische Fignren gemalt sind, umher und
bietet seine Dienste an. Dem, welcher seine Zukunft ent-
hüllt haben will, wirft der Gankler einen Ring auf das
Trommelfell, läßt den Betreffeudeu mit einem Renn-
thierhorn auf dasselbe schlagen, daß der Ring hüpft und
prophezeiht aus der Lage desselben und der Figur, welche
er berührt, die Zukunft, natürlich gegenLohn. Diese weisen
Leute stehen auch in dem Rufe mit Geistern reden, In-
fekten vertreiben und allerlei Krankheiten heilen zu können;
dazu bedienen sie sich gewisser geh ei in er Sprüche und
Formeln, werden aber auch zur Strafe für diesen „Ein-
griff in die Rechte Gottes" beständig vom Donner ver-
folgt. Auch der Glaube au einen leibhaftigen Peiko
(Teufel) und eine Menge Mo ah in (Unterteufel) hat sich
erhalten. (Hier ist alt überkommener Schamanismus un-
verkennbar.)
Auch bei den Finnen pflanzen viele altväterische Ge-
bränche und Meinungen sich wie heilige Erbstücke von
Familie zu^ Familie fort. Der merkwürdigste Tag ist
Allerheiligen, Kikri genannt; Jeder, der es irgend
möglich machen kann , schlachtet den Heiligen zu Ehren ein
Schaf und erfleht bei Verspeifung desselben den Schutz der
Geehrten für seinen Viehstand. Auch der diesem wichtigen
Tage vorhergehende Abend hat sein bedeutungsvolles Wenn
enen Völkern im russischen Reiche.
Gersteutierg.
und Aber. In vielen Familien setzt man in der gereinigten
Stube zwei Gefäße, eines mit warmem und eines mit
kaltem Wasser gefüllt, zurecht, stellt aus deu Tisch allerlei
Speiseu und betet viel und laut. Hierauf begibt sich der
sauber gekleidete Hausherr mit entblößtem Haupte au die
Hofthür und öffnet, sobald es dunkel geworden, dieselbe
mit all der Höflichkeit, als ob er einen hohen Fremden
einließe; er öffnet auch die Stube, in welcher die Gefäße
mit Wasser und die Speisen stehen, und verschließt sie
wieder. Nach Verlaus einer Viertelstunde wird die Thür
wieder geöffnet und der vermuthete Heilige mit eben so viel
Höflichkeit als vorher hinausbegleitet und das Hofthor
geschlossen; dann setzt sich die Familie zu Tisch, genießt von
den geweihten Speisen und berauscht sich in Branntwein.
Die Ueberbleibsel der Speisen dürfen weder Hunden noch
anderen Thieren gegeben werden, sonst würde der Heilige
zürnen; deshalb vergräbt man die Reste sehr sorgfältig
und läßt es dabei auch an Gebeten nicht fehlen.
Hie und da findet man unter den Finnen auch noch
den Glauben an das Fortleben der Bärenseelen.
Früher und selbst im ersten Viertel unsres Jahrhunderts
war dieser Glaube noch allgemein und jede Bärenjagd
wurde mit einer Menge von Eeremonien begonnen und
beendet; man hatte sogenannte Bärenlieder, welche der
unsterblichen Seele eines erlegten Thieres zu Ehren gesungen
werden mußten. Diese Bärenlieder sind abgekommen, aber
der Glaube an die Fortdauer der Bärenseele ist geblieben.
Montag und Freitag sind bei den Finnen zwei
Tage, die ohne Gedeihen und Segen sein sollen; am
Weihnachtstage darf das Vieh deu Stall uicht ver-
lassen, weil es sonst während des nächsten Jahres beständig
kränkeln würde; am Step hanstage muß aus gleicher
Vorsicht den Pferden ein Silberstück in ihren Trinkeimer
gelegt werden; am Georgentage darf nicht gelärmt wer-
den, weil sonst der Blitz in das Hans einschlagen würde.
Am Tage der Haupt fasten darf weder Licht noch Feuer
in einem Hause angezündet werden, sonst würde dieses ein
Ranb der Flammen werden.
26*
204
C. v. Gerstenberg: Aberglauben bei verschiedenen Völkern im russischen Reiche.
Die Jngrier (Jschorzi) graben jährlich zweimal j
Speisen aus den Gräbern ihrer Angehörigen ein, da sie
sich das Leben nach dem Tode ebenso vorstellen als es vor-
her war und ist; ähnlich verfahren sie mit dem Gel de.
Ein weißer Hahn spielt bei ihnen, wie in Südrußland
ein schwarzer, bei dem Wahrsagen eine große Rolle und
wird nicht gegessen, da dieses leicht eine Verzauberung mit
sich bringen könnte.
Die Tscheremissen, welche ebenfalls zum finnischen
Volksstamm gehören, geben ihren Todten einige Kopeken,
einen Stock und einige Rosenzweige mit ins Grab. Auf
eine Frage über den Zweck dieser Dinge erklärte man mir
ganz aufrichtig: „Das Geld zum Leben, den Stock,
um die Hunde fortzutreiben und die Rosen-
stocke, um den bösen Geist zu versöhnen."
Außer seinem Priester hat jedes Dorf noch Traum-
deuter und Wahrsager auszuweisen, die alle in großen
Ehren stehen; auch hat fast jede Gemeinde einen Kart,
d. h. einen alten klugen Mann, der in die Zu-
knnft sehen und rathen kann. Die Unglücks-
stunde jeden Tages ist 11 bis 12 Uhr Mittags; man
hütet sich deshalb während dieser Zeit etwas zu beginnen,
das mißglücken oder von Bedeutung sein könnte.
Die Tschuwaschen kommen in ihrem Aberglauben
so ziemlich mit den Tscheremissen überein, doch haben
erstere noch die eigentümliche Gewohnheit, daß sie an
dein Tage des Festes aller Todten einen Napf mit
gekochter Grütze füllen und diesen nebst einem brennenden
Lichte zur Ehre ihrer Verstorbenen auf den Hof stellen,
weil im Unterlassungsfalle die Ruhe der Ihrigen im Grabe
leiden würde.
Die Wotjaken lassen sich durch ihren Geistlichen bei
jeder Hochzeit in: Himmel Kinder, Brod und Brannt-
wein bestellen, und geben ihren Todten ein Messer mit
ins Grab, dem sie die Spitze abbrechen. Die sür ihre
Geschäfte unglücklichen Tage sind der Mittwoch und
Freitag. Schlägt der Blitz iu einen Bauin, so ist jedesmal
ein Teufel erschlagen worden; jeder schwarze quer über den
Weg fliegende Vogel zeigt dem Betreffenden Tod oder zum
mindesten Krankheit an; ein Wotjake, der über einen Fluß
oder See fährt, wirft eine Handvoll Gras iu das Wasser,
macht ein Kreuz und spricht: Ero Kul monae (Halte
mich uicht). Wie bei deu Tscheremissen ist auch bei ihnen
die Mittagsstunde eine Unglückszeit, hier aber nur
während der Monate Juni bis August. Wenn ein Kranker
von einer ansteckenden Krankheit befallen wird, dann schießt
man einen Hund und schleift ihn an den Hinterfüßen durch
das Dorf, wobei man fortwährend den Namen des Kranken
ausruft und damit Ansteckung zu verhüten glaubt. Dieser
Glaube ist in der Neuzeit etwas in Verfall gekommen, tritt
aber doch hie und da noch einmal auf.
DieOstiakeu stecken sich, bevor sie auf dieIagd gehen,
Amulette :e., welche sie von denToteba(Priestern) gegen
Bezahlung erhalten, in die Stiefeln; sie haben Traum-
deuter, Teufelsbanner und weise Männer, welche durch
Zauberformeln Krankheiten heilen und verbeten.
Auch die Baschkurten (Baschkiren) haben Teufels-
banuer, die sie Schaitam Kurjäszia nennen. Glanbt
z. B. ein Baschkire, daß er von einem Teufel verfolgt oder
krank gemacht worden sei, dann beauftragt er einen Banner,
ihn von dem Geiste zu befreien. Jener läßt sich dann in
einenKampf mit dem Bösen ein, versetzt demselben Schüsse,
Säbel - und Stockhiebe, verfolgt ihn in den Morast oder
ins Wasser, jagt, verwundet oder tödtet ihn. An den
Bienenhäusern hängen Pferdeköpfe, damit die Bezauberung
verhindert werde. Nicht selten tragen sie Lederstückchen
am Halse, welche sie von ihren Priestern als Schutzmittel
gegen Krankheiten erhalten haben.
Wenn die Kirgisen an dem Grabe eines Freundes
vorüberreiten, reden sie den Verstorbenen an, steigen ab
und legen einige Haare aus der Mähne des Pferdes auf
das Grab; sie meinen, daß der Beerdigte sie dann in Ruhe
lassen und nicht so bald abrufen werde. Ihre „weifen"
Männer und Frauen sagen aus den Konstellationen des
Himmels die glücklichen und unglücklichen Tage voraus,
rufen Regen durch Gebete, vertreiben Ungeziefer, machen
Frauen und Thiers fruchtbar, weissagen aus den
Rissen, welche d i e K n o ch e n d e r S ch a f e i m F e u e r
bekommen, entdecken Untreue und Diebstähle k. Aehn-
liche Gebräuche finden sich auch bei den Tschnlymscheu
Tataren. Gleich den Kirgisen nehmen sie an, daß die
abgeschiedene Seele eines Verwandten oder Freundes sie
abrufen könne und springen, sobald der Todte beerdigt,
über ein in der Nähe des Grabes angezündetes Feuer, in-
dem sie glauben, daß ihnen dann der Geist des Verstorbenen
nicht weiter folgen dürfe.
Die Jakuten halten, wie die Befsarabier, die Angst-
eier der Hühner für Teufelseier (s. Globus IX, S. 332)
und sehen auch in allen Mißgeburten von Menschen
und Vieh böse Geister, deren sie sich mit größter Angst
zu entledigen suchen. Wenn sich Freunde oder Verwandte
trennen, schneiden sie gewöhnlich von einem gesegneten
Baume mehre Aeste ab und schließen aus den neu hervor-
brechenden Trieben auf eiue glückliche Wiederkehr oder ein
gänzliches Ausbleiben des Getrennten.
Die Tungnsen geben ihren Gestorbenen gewöhnlich
eine Tabackspfeife mit ins Grab und legen hohen Werth
auf die Deutung ihrer Träume; das Gleiche finden wir
auch bei den Kamtfchadalen, bei denen die Todten-
gräber, um den Tod cut derVerfolguug zu hindern, zwei-
mal durch einen geflochtenen Ring kriechen.
Die Bratskis oder Buräten haben Priester, welche
ihnen aus den Ringen lebender Schlangen die
Zukunft voraussagen, glauben an eine Zuschicknng
der Krankheiten durch Geister imd an ein beständiges Um-
fchwärmtfein der Todten von Teufeln. Noch zu Anfang
dieses Jahrhunderts galt der Brauch, daß sie das Reit-
pferd eines Verstorbenen an dessen Grabe erschlugen und
mit ihm begruben.
Kein Mongole geht auf die Jagd, bevor er nicht ein
kleines aus Holz geschnitztes Pflöckchen in einen Baum
geschlagen und dabei die Hilfe gewisser Christen beansprucht
hat. Beschwörer, Zauberer, Wahrsager und Traumdeuter,
Witteruugspropheteu, Regeubeter und Jnsektenbanner feh-
len nicht.
Die Astrachaner Kalmücken verschmähen das Fleisch
der Vögel, da nach ihrem Glanben viele Menschenseelen
in die Vögel übergehen. Rothe Kühe werden gewöhnlich
sehr geehrt, da eine rothe Kuh das erste von Gott erschaffene
Thier gewesen sein soll; bei Wasserfahrten singen sie
gewöhnlich, wodurch nach ihrer Meinung ein Unglück ver-
hütet werden kann. Reiche Leute thun Gelübde z. B.
längere Zeit Einsiedler zu werden, ehelos zu bleiben, eine
große Reise zu unternehmen, ärmlich zu leben :e. und
lassen diese Gelübde durch Andere erfüllen, die dafür
bezahlt werden.
Unter den Großrussen sind viele abergläubische Ge-
bräuche während der letzten Jahrzehnte in Verfall ge-
kommen, da die Menge der eingewanderten, mehr civili-
sirten Fremden einen wohlthätigen Einfluß äußerte.
Anthropologische Beiträge.
205
Anthropotogi
Ueber den Ursprung des Menschengeschlechts.
Von Dr. F. Epp.
Es ist jetzt ein Vierteljahrhundert verflossen, seitdem
ich meine Ansicht über den Ursprung des Menschengeschlechts
in dem Werke: „Schilderungen ans Ostindiens Archipel"
veröffentlicht habe; elf Jahre später suchte ich diese Ansicht
näher zu begründen, in einer vermehrten Auslage dieses
Werkes, und in Nr. 10 des Auslandes, Jahrgang 1869,
kam ich uoch einmal ans den Gegenstand in einem Aufsatze:
„Ueber die Pluralität der Menschenrassen" zurück. Damals
erhielt ich zuerst Kenntniß von Darwins System von der
Zuchtwahl. So geistreich dieser Naturforscher den Gegen-
stand auffaßt und so verführerisch seine Ansicht auch sein
mag, so beruhen feine Schlüsse und Consequenzen doch auf
salscheu Prämissen und es muß Befremden erregen, wie
deutsche Naturforscher dieser Ansicht so unbedingt bei-
stimmen und sie als die wahre anerkennen mögen. Agassiz
war fast der Einzige, welcher ihr mit Erfolg entgegentrat.
Auch ich widerspreche ihr.
Es sei mir deshalb erlaubt, meine Ansicht, welche sich
auf vieljährige Beobachtungen an Menschen aus den ver-
schiedenen Welttheilen und von den verschiedensten Rassen
stützt, hier näher zu begründen.
Schon Cuvier hat die Ansicht ausgesprochen, daß der
Ursprung des Menschengeschlechts aus „drei Gebirge" sich
zurückführen lasse. Wenn auch drei Gebirge nicht als die
ursprüngliche Wiege des Menschen sich nachweisen lassen,
so hat doch der große Naturforscher die Thatsache richtig
geahnt und erkannt, daß der Mensch an allen jenen Punkten
des Erdkreises erschaffen worden sein mag, wo die Be-
dingungen zu seiner Existenz gegeben waren, wo Boden,
Klima, Luft, Licht, Feuchtigkeit zu seiner Entwicklung und
zu seinem Gedeihen giinstig waren, und diese Punkte konnten
nur Gebirge sein, welche ein durch größere Erdwärme be-
günstigtes Klima hatten, als heutzutage. Das Tiefland
war zu jener Zeit wegen häufiger Erderschütterungen uoch
zu sehr den Ueberströmnngeu und Veränderungen durch
Hebung und Senkung der Erdoberfläche ausgesetzt, als daß
der Mensch in demselben eine gedeihliche Entwicklung hätte
finden können. Zwar auch die Gebirge waren diesen Um-
wälzungen und Erderschütterungen unterworfen; allein
dieselben bedingten nicht die gänzliche Vernichtung der auf
ihnen existirenden Organismen, und stehen gebliebene
Reste derselben konnten bei eingetretener Ruhe wieder einer
gedeihlichen Fortentwicklung sich erfreuen. Solcher Ereig-
nisse liegen uns zwei vor Augen: die Gletfcherbildung und
Eisperiode auf der nördlichen Hemisphäre — und die Zer-
trümmerung eines großen Eontinents auf der südlichen,
wovon der indische Archipel und die australischen Inseln
die stehengebliebenen Reste sein mögen. Der Boden die-
ser Inselwelt ist noch jetzt in fortwährender Hebung und
Senkung begriffen.
Der indische Archipel gewährt noch heute deu Beweis
einer dreifachen Menschenbildung, nämlich der Negriten
(negerähnlichen Rasse), der Oeeanier (Malayen) und der
Bergrasse (Batta auf Sumatra, Dajak auf Borneo, Alfu-
schc Beitrage.
reu in den Molukken und der in ihrer Körper-und Geistes-
bildung der indoeuropäischen Rasse ähnlichen Polynesier
herrschenden Stammes.)
Die Negriten sind die dem Neger Afrika's ähnlichen
Menschen der großen Inselgruppe des Südens, welche durch
die Malayen von dem Oeean zurückgedrängt in vielen
Inseln ganz ausgerottet, heute uoch auf Neu-Guinea
und einigen oceanischen Ländern als Papuas:c. bezeich-
uet und angetroffen werden. Sie sind meist kleiner als die
Neger Afrika's und haben dieselbe Physiognomie, der ein
jüdischer Gesichtsausdruck eigenthümlich ist. Ihr Blick ist
unstät und mißtrauisch, ihre Gemüthsart rachsüchtig uud
hinterlistig, vielleicht eine Folge des alten Hasses, welcher
aus tausendjähriger Unterdrückung und Verfolgung ent-
sprang, welche sie sowohl von den einheimischen Berg-
Völkern, als auch von den von der See her andringenden
malayischen Stämmen erdulden mußten. Die Negriten
zeichnen sich wie die Neger Afrika's durch die geringere
Empfänglichkeit für das Malariafieber, dagegen durch
größere Neigung zu Herz - und Lungenkrankheiten, beson-
ders Tuberkulose aus. Ihr Schädel ist vorteilhafter
gebaut als der der Neger Afrika's. Sie sind einer höhern
Intelligenz als diese fähig.
Die Kennzeichen der malayischen Rasse sind bekannt,
ebenso ihre späte Auswanderung aus dem Innern Suma-
tra's nach Singapur und den benachbarten Ländern im
12. Jahrhundert. Seitdem sind sie abenteuernde, Handel-
und seeraubtreibeude Seefahrer geworden. Sie haben eine
Geschichte und Poesie. Ihre Schrift ist eine Tochter der
arabischen. Die Meisten bekennen sich heute zu dem
Islam.
Die Bergvölker des indischen Archipels gleichen in
ihren körperlichen uud geistigen Eigenschaften mehr der
indoeuropäischen Rasse. Einige von ihnen erfreuten sick
früher eines hcheru Grades vou Kultur als heutzutage,
wie die Battas, was deren Schrift beweist. Durch innere
Kriege sanken sie bis zur Anthropophagie herab. Der
Menschenmord (das Köpfeschnellen bei Dajak und Alfuren)
ist bei ihnen noch im Schwange. Sie sind sehr bildnngs-
fähig.
Diese drei Menschenrassen leben seit Jahrtausenden auf
einem und demselben Boden, ohne daß durch die tellurischen
und kosmischen Einflüsse ihre Charaktereigenthümlichkeiteu
sich verwischt hätten, eine in die andre übergegangen wäre.
Ja, auf diesem Boden ist auch der „Waldmensch" (orang
utan) zu Hause, welcher neben dem Tschimpanse (Simia
troglodytes) und dem Gorilla Afrika's die meiste Aehnlich-
keit mit dem (äußern) Menschen hat, ohne daß nach bis
jetzt gemachten Erfahrungen eine Bastardbildnng, Vermi-
schung des Orangntan mit einem homo sapiens, aus der
Befruchtung oder Kreuzung möglich wäre, obgleich der
Orgasmus venereus vorhanden ist. Diese Assen sind aber
Vierhänder. Die große Zehe ihres Fußes ist ein wirklich
gegenüberstehender Daumen. Die vergleichende Anatomie
weist die übrigen Verschiedenheiten ihres organischen Baues
vor dem des Menschen nach. Der geistige Unterschied
ist noch bedeutender als der leibliche. Es fehlt die Sprache
und das Vermögen der Perfeetibilität.
206 Anthropolvi
Unrichtig ist die Annahme, als ob häßliche Völker durch
Uebersiedeln in ein anderes Land mit milderem Klima schö-
ner würden, wie die Türken und Ungarn. Wenn diese
Völker schöner geworden sind, als ihre Urahnen, so ist die
Kreuzung daran Schuld. Es ist auch bekannt, daß sie als
Eroberer die Weiber derUeberwnndenen (schöner gebildeten
Völker) sich zueigneten. Bei der herrschenden Sitte der
Vielweiberei werden sie lieber mit schöugebildeteu Frauen,
als mit ihren häßlichen Stammesweibern Kinder erzeugt
haben, wodurch ihre Itasse veredelt wurde.
Wo, wauu itttd wie oft die genesis spontanea des
Menschen auf der Erde stattgefunden hat, können wir bis
heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Nur sprechen die
neuerlich aufgefundenen fossilen Knochen und Schädel des
Menschen dafür, daß seine Schöpfung auf Erden viel
weiter zurückdatirt, als man bis daher annahm. Aber die
Schöpfung des Menschen scheint nicht nur an verschiedenen
Orten, sondern auch zu verschiedenen Zeiten uusres Pla-
neten stattgefunden zn haben. Offenbar war der Lappe
des Steinzeitalters ein älterer und weniger geistig ent-
wickelter Mensch als der Kelte und Germane, welche ihn
aus seineu Ursitzen verdrängt haben. Die großen Fluten,
welchen die Erdoberfläche wiederholt ausgesetzt war, haben
ganze Generationen und Rassen von der Erde vertilgt,
aber das Genus liomo blieb fortbestehen. Daß dieses eine
viel größere Periode zu seiner geistigen Fortentwicklung und
Ausbildung uöthig hatte, als Geschichte und Sage lehrt,
beweist uns der Entwicklungsgang in den verschiedenen
Zeitaltern. Die gauze Menschheit ist aber berufen zur
geistigen Entwicklung und unter deu verschiedeueu Rassen
ist es die kaukasische oder indoeuropäische, welche auf die
höchste geistige Eutwickluugsstufe gelaugt ist. Dennoch ist
auch sie von dem Zustande geistiger Vollkommenheit noch
weit entfernt aber stetig im Fortschritt begriffen.
Man verlegt die Schöpfung des Menschen in jene
Zeit, als nach Erstarrung der Erdrinde, nach Bildung und
Erneuerung d'er Urgesteine das Dilnvinm abgelagert wurde.
Bevor der Mensch erschien, hatte die Erde schon lange
bestanden und viele Entwicklungsperioden durchgemacht.
Nach den neuesten Berechnungen kann man zu dem Alter
der Menschheit Wohl an die gewöhnliche Zahl noch eine
oder mehre Nullen zufügen. Unsere geschichtlichen Nach-
richten gehen mit einiger Sicherheit kaum 2900 Jahre über
die christliche Zeitrechnung hinauf. Dürfen wir einen
Schluß ziehen von dem Alter der Menschheit auf das Alter
eines Volkes, von dem Alter eiues Volkes auf das des
Menschen, und umgekehrt, so befinden wir uns jedenfalls
noch in der Jugeudzeit der Menschheit und dürfen noch
viele Entwickluugsperiodeu für dieselbe voraussetzen, wenn
sie, wie alle organische Wesen, zu der Fortdauer unsres
Planeten in einem gewissen Verhältniß steht. Gegenwärtig
leben wir aber in einer Periode, in welcher es uns nicht
mehr genügt, uns einen Dens ex macliina hinter dem Men-
schen zu denken, der ihm über alle Schwierigkeiten seiner
Entwicklung hinweghilft— und ihn gleich mit einer Sprache
und Schrift zum Ausdruck seiner Gedanken und zur Auf-
zeichuung seiner Geschichte beschenkt hat. Die orthodoxen
Sprachforscher haben in sprachlicher Hinsicht die Lehre von
einem Urpaar zu retten geglaubt, aber nicht bedacht, daß
gleiche Organisation der Stimmorgane auch gleiche pho-
netische Ausdrücke zur Folge haben konnte. Uebrigens
hat sich die Hypothese vou einer gemeinsamen Ursprache
als eine irrige erwiesen. Es bildeten sich gewiß so viele
Ursprachen, als UrPaare geschaffen wurden, welche zu
Stämmen, Völkern und Rassen sich entwickelt haben/
che Beitrags
Wie an dem Knochengerüste von einzelnen Punkten die
Knochenbildnng weiterschreitet, wie aus dem Felle eines
Sängethieres solche Punkte sind, von denen nach dem Gesetz
der Spirale die Haare sich verbreiten, welches wir auch auf
dem Scheitel des Menschenkopfes beobachten können, so
haben sich die Urmenschen von den Schöpfungspunkten aus
im Umkreis verbreitet.
Weuu wir uns die Geschichte von der Entwicklung des
Menschen als ans natürlichem Wege vor sich gegangen
denken, können wir begreifen, ein wie großer Zeitraum
vorübergegangen fein muß, bevor er jeueu Standpunkt der
Bildung erreichte, auf dem wir uns heute befinden. Es
bleiben uns noch Räthsel genng zn lösen, die Ursachen ans-
zufindeu, welche nach dem Erlöschen so vieler Thier- nnd
Pflauzeugeschlechter seine Schöpfuug bedingten, die Schö-
Pfuug organischer Wesen überhaupt 31t erklären und nach-
zuweisen, warum diese Schöpfuug in jenerWeise nicht mehr
fortdauert, sondern mit Erschaffung des Menschen auf-
gehört hat.
Ein nicht minder irriges Bemühen, wie mit der An-
nähme einer gemeinsamen Ursprache, war das einer ein-
zigen Urrasse. Man läßt bald die Aegypter, bald die
Chinesen unsere Urväter sein; beides gleich irrig. Die
ägyptische Kultur und Eivilisation entwickelte sich ans dein
natürlichen Wege des Laufes seiues diese Kultur bedingen-
den Stromes, des Nil; ihre Uranfänge kamen nicht ans
Asien, sondern aus Junerafrika. Die Reiche der Aethio-
Pier waren schon vorhanden, bevor ein Staat im Deltaland
sich bildete. Bei den Chinesen war der Bezriff der Mensch-
heit allerdings allgemeiner als bei den bornirten Aegyp-
tern, bei denen sich das Erelnsivsystem ausbildete, welches
deu Juden ihren Hochmnth des Vorzugs, das auserwählte
Volk Gottes zn sein, eingeimpft hat. Die geschichtlichen
Daten beider großen Völker aber gehen nach den neuesten
Forschungen weit über unsre Zeitrechnnng hinauf.
Die Ansicht neuerer Anthropologen, daß die Bilduug
und Eivilisation den Rassentypus der Menschen verschmelze
und veredle, ist ebenso irrig. Wo keine Kreuzung stattfindet,
verändert sich dieser Typus nicht, und was die Schönheit des
Menschen betrifft, so zeigeu die Skulpturen und Alterthümer
bei den Jndiern, Aegyptern, Syrern, Persern und Griechen,
daß körperliche Schönheit ein Vorzug jugendlicher Völker
ist. Wir finden auch an jenen alten Skulpturen und Denk-
mälern den Typus der verschiedeueu Rassen schärfer und
bestimmter ausgeprägt, weil die Völker in ihrer Verbin-
dnng von der Kreuzung mit anderen Rassen sich rein zn
halten suchten. Selbst auf Java zeigen uns die alteu
Skulpturen, daß die Hiudueiuwauderer dort eine Menschen-
raffe antrafen, welche sie Reksas nannten und die der
Negritenrasse entspricht. Diese Ureinwohner findet man
dargestellt als sogenannte Tempel - oder Palastwächter mit
einem Krauskopf, dem platten Gesichtsausdruck und mit
sogenannten Hundszähnen, um anzudeuten, daß sie Earui-
voren. jaMenschenfresser gewesen sind, während die Hiudu
als Pflanzenesser die schönsten indoeuropäischen Physiogno-
mieu zeigen, welche heute dort ausgestorben zu sein scheinen
und nicht mehr angetroffen werden, obgleich das kaiserliche
Hans von Solo von Wischnu und später von einem ein-
gewanderten arabische:: Fanatiker abzustammen heute noch
vorgibt.
Mau hat ferner behauptet, die amerikanische Rasse
stamme aus Asien. Es ist Wohl möglich, daß einzelne
Individuen aus der alten Welt schon in der ältesten Zeit
in die neue sich verirrt haben; daß aber von diesen die
amerikanische Menschenrasse abstamme, ist irrig. Aegypter,
Jndier, Chinesen und Phönieier sollen die Stammüttern
Von der Hauptstadt der Mvrmon
sein, Weil in den Sitten und Kunsterzeugnissen der ameri-
kanischen Völker, selbst in der Sprache Ähnlichkeiten mit
denen genannter Völker sich finden. Es gehört aber kein
großer Scharfsinn dazu, um zu entdecken, daß die ameri-
kanische Rasse eine von der äthiopischen, mongolischen oder
der indoeuropäischen Rasse grundverschiedene sei. Selbst
die Pyramiden der centralamerikanischen Völker, die man
zum Beweis anführte, waren zu einem ganz andern Zweck
errichtet, als die ägyptischen, und weder die peruanischen,
noch die mexikanischen oder centralamerikanischen Alter-
thümer stimmen in ihrer Ausbildung mit denen der alten
Welt überein. Sie zeigen im Gegentheil etwas dem Lande
und dem Volke, das sie geschaffen — Eigentümliches,
Specififch - Amerikanisches. Die neue Welt war voll-
kommen genug gebildet, um auf ihr auch Menschen hervor-
zubringen.
Was den prätendirten Ursprung einer Rasse aus der
andern betrifft, so ist die Annahme einer solchen so paradox,
daß man nicht begreifen kann, wie vorurteilsfreie Beob-
nach Virginia City in Montana. 207
achter derselben huldigen mochten. Noch nie und nirgends
ist erwiesen, daß ein Lappe ein Germane, dieser ein Neger,
dieser ein Mongole, und umgekehrt, geworden sei. Wo
auch solche Uebergänge prätendirt werden, da hat Kreuzung
stattgesunden. Aber selbst die Mischlinge, wenn sie sich in
fortdauernder Reihenfolge ohne Kreuzung gatten, finden
ein Ziel wie der Maulefel und das Maulthier. Die Blend-
linge, wenn sie sich nicht mehr kreuzen, gehen in der vierten
und fünften Generation zu Grunde, wie man in den Tro-
penländern die Erfahrung gemacht hat. Ob ihr Samen,
wie der der Bastarde von Pferd und Esel keine Sperma-
tozoen mehr enthält, muß die physiologisch-chemische Ana-
lyse noch nachweisen.
Wir suchen den Unterschied der Rassen nicht im Bau
des Schädels und Knochengerüstes, in der Farbe der Haut,
in specififcheu Se- und Exeretionen allein, sondern in den
physischen und psychischen Eigenschaften des Menschen
überhaupt, deren Studium der Löfung dieser Frage zu
Grunde gelegt werden muß.
Von der Hauptstadt der Mormoni
Es erscheint von nicht geringen:Interesse, zu beobachten,
in welcher Weise sich im weiten Westen Nordamerikas die
neuen Gebiete und Staaten bilden. Die Verhältnisse in
jenen zumeist gebirgigen Gegenden sind von sehr eigen-
thümlicher Art, und die ganze Art und Weise der Besied-
lnng trägt einen ganz andern Charakter, als einst im
atlantischen Osten oder heute noch im Stromthale des
Mississippi. Hier war und ist es der Ackerbau, welcher
Einwanderer anzieht, und die Besiedlung nimmt in Folge
davon aller Orten einen ziemlich gleichartigen Verlauf.
In jenen Einöden zwischen der californifchen Sierra Nevada
und den Felsengebirgen ist aber nicht der Ackerbauer zuerst
ausgetreten, sondern der Jägersmann, der Bibersänger,
der Fallensteller, der Bärenbezwinger; ihm sind dann die
Gold - und Silbersucher gefolgt, und diesen zog der Krämer
nach. Dann findet sich auch der in Nordamerika unver-
meidliche Methodisten- oder Baptistenprediger ein und
gibt seine Kraftpredigten zum Besten. Der Ackerbauer
erscheint hier spärlich und zuletzt, und nicht selten ist er ein
Mann, welchem beim ,,Diggen" das Glück nicht hold
gewesen. Auch eignet sich jene ausgedehnte Region nicht
für eine umfangreiche Agrienltur, die Bodenverhältnisse
erscheinen einer solchen nicht günstig. Es kann somit nicht
ausbleiben, daß diese neuen Gebiete und Staaten im West-
lichen Binnenlande in ihrem ganzen Wesen sich eigenartig
entwickeln und einen Gegensatz zu allen anderen bilden.
Wie dem aber auch seiu möge, schon jetzt herrscht Leben
in der ehemaligen Einöde, und diese wird nach allen Haupt-
richtungen hin von Postwägen durchfahren. Wir wollen
einen Reisenden begleiten, der im Herbste des vorigen
Jahres die Strecke vom Missouri bis zu den Gestaden des
Großen Weltmeers zurückgelegt und seine Beobachtungen
in der „Neuyork Tribüne" veröffentlicht hat.
In der Mormonenstadt Great Salt-Lake City,
wo ein lebhafter Fremdenverkehr herrscht, findet der Rei-
sende alle Bequemlichkeiten. Weiterhin aber muß er sich
auf eine Menge von Entbehrungen gefaßt machen. Die
nach Virginia City in Montana.
Strecke vom Salzsee bis Virginia, der Hauptstadt von
Montana, welche wich Norden hin liegt, beträgt 475
Miles, also etwa 190 deutsche Meilen, der Weg nach
Boif6, der Hauptstadt von Idaho, in nordwestlicher
Richtung 450 Miles. Die Straße gleicht einem latei-
nischen Y; bei Bear River, 80 Miles von der Mor-
monenstadt, theilt sie sich; von dort geht der rechte Flügel
nach Montana, der linke nach Idaho. Aus beiden fahren
jetzt, dreimal in jeder Woche, Holladays Postkutschen,
und der Reisende hat 100 Dollars zu zahlen, außerdem
für die Beköstigung täglich I V« Dollar.
Die altmodischen Postwägen sind noch im Gebrauch
westlich vom Missouri bis Denver City in Colorado
einerseits, und von Californien aus gen Osten andererseits
bis Austin in Nevada. Aber auf der zwischen beiden
Punkten mitten inneliegenden Strecke der „großen Central-
route" und ihren Nebenwegen bedient man sich des alt-
bekannten „Concord Hack". Dieses Gefährt ist mit Lein-
wand überspännt, und der Kutscher sitzt vorne, etwas höher
als die Fahrgäste. Da auf folch einem Wagen der obere
Theil nicht mit Gepäck beladen werden kann, sondern der
Schwerpunkt unten liegt, so kommt er ganz leidlich durch
die Schlamm- und Schlaglöcher. Diese Wägen aus
Neu- Hampshire sind ungemein stark gebaut und merk-
würdig dauerhaft. Man hat in manchen Städten sich große
Mühe gegeben, sie so gut als möglich nachzuahmen, aber
der Concord Hack ist noch heute allen Nachahmungen vor-
zuziehen.^ ^
Ich steige, so schreibt der Reisende, in den Wagen und
hülle mich in zwei Büffelpelze, denn es ist Oktobermonat
(1865) und der gestrenge König Winter macht sich schon
in empfindlicher Weife fühlbar. Schnee wirbelt um die
Berge, welche auf die Mormonenstadt herabschauen. Ich
habe auch ein anderes unbedingt notwendiges Requisit
nicht vergessen, ein Federkissen. Man hat versucht, dasselbe
durch Fabrikate von Gatta pertscha zu verdrängen, aber
diese letzteren sind durchaus unpraktisch und werden eine
208 Von der Hauptstadt bcv Monnon
Qual für den Insassen des Concord Hack. Man kann
nämlich im Wagen nur in sitzender Stellung schlafen.
In der ersten Nacht findet man das höchst angreifend,
unbequem und ermüdend, aber bald gewöhnt man sich
daran und das Federkissen leistet vortreffliche Dienste.
Wenn man nach einer nur selten unterbrochenen Fahrt von
20 Tagen und Nächten ein Bad genommen und sich umge-
kleidet hat, dann fühlt man sich so frisch, als ob man wäh-
rend einer Nacht die Erquickung eines vortrefflichen
Schlafes genossen habe, und dünkt sich kräftiger, als man
beim Beginn der Neise gewesen. Ich begreife nun sehr
wohl, weshalb die Eskimos und einige andere Völker iin
Sitzen schlafen. Es gibt freilich Leute, welche dieses an-
haltende Fahren und Sitzen im Postwagen durchaus nicht
vertragen können; manche bekommenden „Kntschen-Wahn-
sinn", und es hat sich ereignet, daß sie in einem solchen
Delirium in die Einöde gelaufen und dort elendiglich um-
gekommen sind.
Der Wagen rollt stundenlang am Nordgestade des
großen Salzsees hin. Dieser liegt da wie ein gewaltiger
Spiegel, die Berge ans seinen Inseln sind wie von Purpur
umflossen, weiterhin steigen violette Gipfel hoch empor,
und hinter diesen heben schneeweiße Wolken sich von einem
tiefblauen Himmel ab. Daun und wann fährt man durch
ein Dorf; man sieht, daß die Mormonen in bestem Wohl-
stände leben. Die braunen, aus Lustziegeln aufgeführten
Häuser sind von Obstgärten umgeben und von Baum-
Wollenpappeln beschattet; durch die Straßen hat man Be-
Wässerungskanäle geführt, und auf den Feldern sind die
Getreidegarben in großen Massen hoch aufgehäuft. Die
große Menge blondköpsiger Kinder liefert den Beweis, daß
die Polygamie ihre Früchte trägt. Ich sah auch manche
Männer, die mit Mnsketen bewaffnet waren, denn am
andern Tage sollte in der Stadt eine große Musterung vor-
genommen werden.
Die Post geht durch Morrisville. Dieses Dorf ist
von den Anhängern des Fanatikers Morris gegründet
worden. Er war ein noch viel strengerer Mormone als
Brigham Bomig selber. Er verkündete, daß die ganze
Menschheit untergehen werde, ihn und seine Anhänger
allein ausgenommen; er predigte ferner, daß es ein gott-
gefälliges Werk sei, den Nachbarn Pferde, Rindvieh und
Getreide wegzunehmen; denn Alles, was die Erde hervor-
bringe, komme von Rechtswegen den wahrenHeiligen zn,
und den Auserwählten des Herrn. Diese Sätze gehörten
zur „Religion" des heiligen Morris, gefielen aber den
übrigen Mormonen nicht. Diese zogen im Herbst 1862
mit einer ganzen Armee gegen die Schismatiker ans,
fanden aber hartnäckigen Widerstand. Doch half es dem
Propheten Morris so viel wie gar nichts, daß er zu den
Auserwählten gehörte. Eine Kugel zerschmetterte ihm
den Schädel, und manche seiner Anhänger, selbst Frauen
und Kinder blieben auf der Wahlstatt. Die Ueberlebenden
stoben auseinander. Auch dem Mormonenthum sind
Spaltungen, schon von vorne herein, nicht erspart ge-
blieben.
Die überlebenden Morrisoniten geriethen in eine ver-
zweifelte Lage, aus welcher sie nicht von ihren ehemaligen
Glanbensbrüdern, sondern von einem „Heiden" errettet
wurden, nämlich vom Befehlshaber der Vereinigten Staaten-
Truppen, dem General Conner. Dieser gab ihnen Nah-
rung und Obdach bis zum nächsten Frühjahr und ließ sie
dann uach Soda Springs in Montana bringen, wo sie
nun hausen. Dort werden sie es wohl bleiben lassen,
ihren Nachbarn Pferde zu stehlen, denn diese Nachbarn sind
Indianer, welche in Bezug auf dieses Handwerk jedem
nach Virginia City in Montana.
Morrisoniten etwas zu rathen ausgeben können. Jener
General Conner versteht übrigens trefflich mit diesen
Söhnen der Wildniß umzugehen, ohne sich der Gransam-
keit uud Barbarei schuldig zu machen. Er steht als eine
ehrenvolle Ausnahme da, denn er läßt keine sried-
liehen Menschen abschlachten und entschuldigt
deu Judiauermord nicht; er will nichts hören
von Hinwürgen, Skalpiren uud Verstümmeln
der Weiber und Kinder, dergleichen bei der berüch-
tigten Massacre am Sand Creek in Colorado vorgekommen
ist von Seiten der Vereinigten Staaten-Soldaten.
Von dem Felsengebirge bis zum Gestade
des Großen Oceans spricht fast Jedermann zn
Gunsten einer Ausrottung der Indianer. Jede
Gemeinde weiß etwas zu erzählen von gestoh-
lenem Vieh, von Männern, die erschossen, oder
skalpirt, oder zu Tode verbrannt worden sind,
und von Frauen, welchen man Gewalt ange-
th an. Aber im Allgemeinen ist das Verfahren der Bundes-
regiernng höchst unverständig gewesen und ungerecht oben-
drein. Oftmals sind Unschuldige bestraft worden, nicht
selten hat man Schuldige belohnt, indem man ihnen wollene
Decken schenkte und Jahrgelder zubilligte. Daun aber
ernannte man Regierungsagenten, welche mit musterhafter
Unparteilichkeit sowohl die Indianer als die Regierung —
bestahlen!
Was sollte geschehen und wie zeigt sich ein praktischer
Ausweg? Man weise den Indianern sogenannte Res er-
v ati on en an, d. h. gewisse Landstrecken, innerhalb deren sie
sich zu halten und zu bewegen haben; — diese dürfen dann
von keinem Weißen betreten werden. Man sorge für den
Unterricht ihrer Kinder. Man bestrafe nnnachsichtlich jeden
Weißen, welcher friedliche Indianer mißhandelt. Gegen
feindselige Wilde soll man mit der größten Energie kämpfen,
bis sie sich fügen. Jedes Verbrechen muß gezüchtigt wer-
deu; Stämme, die sich gut und friedlich betragen, soll man
belohnen, —- mit einem Worte: man sollte endlich zugleich
gerecht und barmherzig gegen die Indianer sein. Darin
liegt das einzige Mittel, diesen bisher unablässigen Fehden
ein Ende zu machen. Mit den Komantsches, Keiowäs und
Snakes (d. h. Schoschonis, Schlangenindianern) wird man
freilich allzeit die liebe Roth haben; aber bei den Weyan-
dottes, Detawaren, Schahnis, Pottawatomis, Kickapns,
Tschoktas, Tschirokis, Kaynses uud einigen anderen ist das
Experiment doch ganz leidlich ausgeschlagen, und Leben
sowohl als Eigenthum sind unter ihnen mindestens eben so
sicher, wie in den Ansiedlnngen der Weißen am Rande
der Wildniß. —
In der ersten, sehr finstern Nacht stürzte ein Pferd und
die übrigen stürzten über dasselbe hin. Aber nach Verlauf
einer halben Stunde war Alles wieder in gehöriger Ord-
nung uud bei Tagesanbruch frühstückten wir zu Bear
River, wo wir bereits zwei Kutschenladungen Passagiere
trafen. Die eine kam aus Idaho, die andere aus Mou-
tana. Hier bekamen wir einen andern Wagen, denn selbst
ein Concord Hack muß sich ausruhen uud wird allemal nur
auf einer Strecke von 190 Miles benutzt. Der Weg ging
durch grasbewachsene Thäler und enge Schluchten, manch-
mal au kleinen Flüssen hin, deren Ufer mit strauchartigen
Cedern bestanden sind. Der Wagen mußte durch Dick uud
Dünn, deuu Brücken kommen erst mit der Eivilisation.
Uebrigens begegneten uns manche beladene Wägen, und die
sonnenverbrannten Ochsentreiber zogen langsam neben den-
selben einher. Wenn die Gänse südwärts ziehen, dann
„mnvet" der Grenzmann heim nach den „Staaten". Von
Wohngebäuden hier in dieser ganzen Gegend keine Spur;
Von der Hauptstadt der Mormone
nur einige Poststationen, sind vorhanden und diese hat man
ans Luftziegeln aufgeführt.
Wir überschreiten eine niedrige kahle Wasserscheide, und
nun liegt Utah hinter uns. Jetzt sind wir in Idaho und
sehen Gewässer, welche ihren Ablauf nach dem Stillen
Weltmeer haben. In der Nacht steckt unser Wagen in
einem Schlammloch und fällt dann um. Ich, der einzige
Fahrgast im Innern, komme sogar ohne ein blaues Auge
davou, aber ein Passagier, der neben dem Kutscher sitzt,
verrenkt sich den Arm. Die Stationshütte war allerdings
in der Nähe, hatte aber kein Wohnzimmer, sondern nur
einen Stall, mit einer Abtheilung, in welcher der Postillon
schlafen kann. Dort sitze ich aus einer Kiste, habe eine
andere vor mir, auf dieser finde ich eine Stalllaterne und
so benütze ich die Stunde, während welcher man den
Wagen aus dem Schlamme zieht, um diese Zeilen zu
schreiben.
Auf einer der nächsten Stationen nehmen wir einen
Fahrgast ein, eine junge rothhaarige Engländerin, die ein
keineswegs elegantes Kattunkleid trug und sich anstellte,
als könne sie den Buchstaben H nicht aussprechen. Der
Himmel mag wissen, wie sie in diese Einöde gekommen
ist; jetzt wollte sie zu ihrem Manne, der zu Virginia City
in einem „Hurdy-gurdy Haus" Zither spielte.
Wir befanden uns nun im Port Nenf Canon,
einer 30 Miles langen, berüchtigten Schlucht; dort war
im Juli 1865 die Post zwei Mal von Räubern überfallen
worden. Am 13. jenes Monats hatten die ans Montana
kommenden Passagiere alle Ursache, auf ihrer Hut zu sein,
weil ein verdächtig aussehender Reiter deu Wagen sehr auf-
merksam beobachtet hatte. Sie setzten deshalb ihre Revolver
in gehörigen Stand, und sie thaten wohl daran. Bald
erschienen sechs oder sieben Männer mit geschwärzten Ge-
sichtern; sie hatten sich im Weidengebüsch verborgen. Auf
beiden Seiten wurde fast gleichzeitig Feuer gegeben; ein
Räuber wurde verwundet, ist aber entkommen, von den
Fahrgästen blieben vier tobt und ein Fünfter, der von
Kugeln durchlöchert war, ist wie durch ein Wunder geheilt
worden. Damals haben die Räuber 60,000 Dollars
Werth in Goldstaub erbeutet und man ist ihrer nicht Hab-
Haft geworden, obwohl die Vigilanzmänner in Montana
sich alle mögliche Mühe gaben und große Prämien aus-
setzten.
Am folgenden Tage fuhren wir auf einer Strecke von
22 Miles au dem klaren Snake River entlang; seine
Ufer sind spärlich mit Weiden und Baumwollenpappeln
eingefaßt. Dieser große Strom, den man als eine vielfach
gekrümmte Schlagader der großen westlichen Einöde be-
zeichnen kann, bildet bekanntlich einen der beiden Haupt-
arme des Columbia, und mit Recht bezeichnen die In-
dianer ihn als den Scho scho ni, d. h. den gewundenen
Fluß. Die Post setzt bei Middle Ferry auf einer
Fähre hinüber; der weiße Mann, welchem dieselbe gehörte,
hat sich eine leidlich hübsche Indianerin zur Frau genommen.
Sie saß eben beim Blockhaus auf dem Rasen und verfertigte
Mokassins. Bei Ceder Point befindet sich abermals
eine Fähre; dort zieht man die Ponte an einem Seil über
den Fluß.
Jetzt noch in weiter Entfernung steigen drei hohe Berge
nach Virginia City in Montana. 209
aus der Ebene empor; und sie bieten in der Abendbelench-
tnng einen zauberischen Anblick dar. In der Nacht wurde
es bitter kalt, und es war uns sehr erwünscht, daß wir auf
einer Station ein mit Wermnthgestrüpp unterhaltenes
Flackerfeuer fanden. Dort wärmten wir uns einige
Stunden lang, während die Manlthiere grasen konnten.
Wir kamen über den Kammas Ereek, der ziemlich breit
war und ungemein klares Wasser hat; einige Miles weiter
abwärts versinkt er unter der Erde. Nun kamen jene
Berggipfel, die drei Tetons, näher in Sicht; wir
fuhren durch das begraste Pleasaut Valley und kamen bei
Sternenschimmer über die Wasserscheide, aus Idaho und
der paeifischen Abdachung nach Montana in das Strom-
gebiet des Missouri.
Die Sonne ging hinter einem kahlen, braunen Berg
auf, und bald nachher kamen wir durch die tiefe Schlucht
des Graßhopper Cr eck uach der Stadt Bannack, die
nach einem Jndianerstamme benannt worden ist. Dort
ist, im August 1861, die erste Ausiedlung in Mon-
teiltet gegründet worden. Damals erwarben manche Dig-
gers in einem Tage 50 Dollars, aber die „Gnlch Miltes"
waren bald erschöpft und das Goldwaschen lohnte nicht
mehr. Im Jahr 1862 zählte Bannock mehr als 2000
Einwohner, jetzt hat es kaum noch 300, und ich sah viele
leere Blockhütten. Der Galgen steht noch, hat also
manche von denen überlebt, welche ihn einst geziert. Die
Zahl der unordentlichen Leute ist damals nicht gering
gewesen, uud die Vigilanzmänner hatten vollauf zu thun,
um Ordnung zu schaffen. Selbst der Sheriff des Conn-
ty's, welcher jenen Galgen aufgerichtet hatte, mußte an
demselben baumeln, denn es ergab sich, daß dieser würdige
Beamte sich nicht blos des Straßenraubes, sondern attch des
Mordes schuldig gemacht hatte. Gegenwärtig errichtet
man in der Umgegend Pochwerke zum Zerstampfen des
Quarzes, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß manche
Goldadern sehr ergiebig sind; freilich haben andere den
Erwartungen nicht entsprochen, und mit dem Verkaufe von
„Claims" ist großer Schwindel getrieben worden.
Unser Wagen rollt über weite Flächen, die mit Cactns
bestanden sind, aber der Graswuchs ist nun üppiger, als
ich ihn in Colorado, Idaho oder Nevada gefunden. Zur
Linken liegt Montana City auf einer breiten, hübschen
Hochebene; eine „vielversprechende Stadt", denn
sie zählte jetzt (Oktober 1865) schon sechs Häuser und
ein Pochwerk, an welchem eben gebaut wurde. Auf den
tunliegenden Bergen wachsen hochstämmige Fichten, die
schon jetzt mit Schnee bedeckt waren. Ich kam dann über
den Rattlesnake Creek und über den Beaverhead
River; dieser heißt so, weil ein Fels an seinem Ufer große
Ähnlichkeit mit einem Biberkopfe hat. Noch ein anderer
Zufluß des Missouri führt einen nicht wohlklingenden
Namen; er heißt Stinking Water. Aber ich mache
mir daraus nichts, denn gleich'nachher bin ich in Virginia
City, Montana, das ich von Salt Lake City aus binnen
5 Tagen und 4 Nächten einer ununterbrochenen Reise
glücklich erreicht habe. —
Wir werden gelegentlich weitere Mittheilungen desselben
Reisenden über die neuen Staaten und Gebiete im fernen
Westen Nordamerikas folgen lassen.
Globus X. Nr. 7.
27
210
E. Kattncr: Das posener Land jetzt iy?d früher.
Das posener Jan
Von Edwa
3. Polen und Deutsche nach der Zahl.
Wenn ich die Städte im Lande Posen geschichtlich,
staatsrechtlich und gesellschaftlich als deutsche Einrichtungen
ansehe, so erweisen sie sich als solche uuwidersprechlich
auch in sprachlicher Beziehung. Sie sind die wahren
Brennpunkte des Deutschthums; von ihnen strömt uuaus-
hörlich deutsches Blut, deutsches Wort, deutsche Sitte,
deutsches Kapital, deutsches Wesen aller Art über das
Land; die slavische Rückströmnng dagegeu wird hier zer-
setzt und umgewandelt. Die Kinder von Polen, welche
nach der Stadt gezogen sind, sprechen in der Regel min-
destens ebenso gut Deutsch als Polnisch; führt sie ihr
Geschick in einen rein deutschen Ort, so werden sie oder
doch jedenfalls ihre Kinder vollständig deutsch. Umgekehrt
werden jedoch viele Deutsche, welche aus der Stadt aus
das Land ziehen, wenn nicht selbst, so doch im zweiten
Geschlecht polnisch, namentlich wenn sie Katholiken sind
oder wenn sie Mischehen eingehen. In den gebildeten
und bemittelten Ständen kommt das jetzt allerdings nur
höchst selten vor, häufiger bei den niederen. Vor 40, 30,
selbst noch vor 20 Jahren fanden auch bei jenen, sogar in
der Stadt seltsame Polouisirungen statt. Seitdem ist der
Deutsche ernüchtert; das Feurige, Leidenschaftliche, Ueber-
einstimmende, Selbstvergessene in dem Volksgeist der Polen
blendet ihn nicht mehr, ersieht darin nun eher Unbesonnen-
heit und Unselbständigkeit, manchmal auch Spiegelfechterei
und selbst UnWahrhaftigkeit. Nur Fremde, welche mit
den noch seit den dreißiger Jahren in Deutschland und
sonst herrschenden überschwänglichen Vorstellungen von
polnischer „Hochherzigkeit" nach polnischen Landen kommen,
werden durch die ersten Eindrücke in denselben noch mehr
bestärkt. So kann der eidgenössische Oberstlieutenant
v. Erlach, welcher im Jahre 1863 bei den aufständischen
Polen deren Kriegführung studirte, iu seinem der Oessent-
lichkeit übergebenen Bericht darüber nicht warm genug die
Uebereinstimmung seiner Gefühle mit ihnen betonen. Ob-
gleich er viel Leichtfertigkeit bis zur Gewissenlosigkeit, viel
kindische Eitelkeit und Windbeutelei, besonders bei jungen
Edellenten, bemerkte, so wurde er doch durch deren „ritter-
lichen Anstand" in der äußern Erscheinung, durch „die
Gabe, über öffentliche Angelegenheiten zu sprechen", und
durch „die Selbstständigkeit des weiblichen Geschlechts"
ganz bezaubert.
Doch wir kehren zu den posener Städten zurück.
Welche Veränderung in sprachlicher Beziehung mit den-
selben seit 50 Jahren vorgegangen ist, dafür liefert fol-
gende mir von einem alten jüdischen Gelehrten gemachte
Mittheilung einen Beleg. Derselbe stammt ans dem
Städtchen Scherkow nahe an der russisch-polnischen
Grenze. In seiner Knabenzeit vor 1820 befand sich da-
selbst nur ein einziger Mensch, welcher Deutsch sprechen
und lesen konnte; er hatte beides beim preußischen Militär-
gelernt. Wenn an den Magistrat von einer Behörde ein
deutsches Schreiben kam, so wurde dieser Mann gerufen,
.jetzt und früher.
Kattner.
um dasselbe zu verdolmetschen. Jetzt befinden sich in dem
Städtchen nicht nur viele Deutsche, sondern die dortigen
Juden haben indeß Hochdeutsch gelernt und auch die
meisten Polen sprechen es. Von den Erwachsenen jeder
Abstammung wird wenigstens ein Drittel deutsche Briefe
lesen können und verstehen.
Es ist zu bedauern, daß bei den Veröffentlichungen
über die statistischen Erhebungen die Sprachverhältnisse in
den Städten nicht von denen des platten Landes gesondert
werden. Es würde sich dann wohl ein erheblicher Unter-
schied zeigen, und zwar würde sich die etwaige Vermehrung
der Deutschsprechenden wahrscheinlich als hauptsächlich auf
die Städte fallend erweisen.
Diese Vermehrung im Verhältniß zu den Polnisch-
Sprechenden scheint in der Provinz im Allgemeinen jetzt
einen Stillstand zu nehmen, wenigstens ist sie von der
Volkszählung im Jahre 1861 bis zu derjenigen des Jahres
1864, wie es scheint, durchaus uicht eingetreten, während
sie in den früheren Zählnngsperioden immer mehr oder
weniger ansehnlich war. Im Jahre 1815 zählte die Pro-
vinz 775,000 Einwohner, wovon etwa 160,000 Deutsche,
so daß also aus 100 Polen etwa 25 Deutsche kamen. Das
beruht aber nur aus ungefährer Schätzung; amtlich gezählt
hat man erst seit den fünfziger Jahren. Dabei fand man
im Jahre:
Einw, Polen Deutsche Deutsche Polen
1858 unter 1,403,638 783,692 619,936 = 79 auf 100
1861 „ 1,467,604 801,521 666,083 = 83 „ 100
1864 „ 1,523,729 ca. 870,000 650,000 = 74% „ 100
Vom berliner statistischen Bureau sind die Zahlen vom
Jahre 1864 noch nicht veröffentlicht; ich benütze hier eine
Notiz im Staatsanzeiger, welche aus amtlicher Quelle
geschöpft zu sein scheint.
Sonach haben sich, wenn die Zahlen vom Jahre 1864
richtig sind, die Deutschen von 1861 bis 1864 nicht uner-
heblich, aber bedeutend im Verhältniß zu den Polen ver-
mindert. Wenn wir nach den Gründen dieser Erscheinung
suchen, so ist zunächst zu bemerken, daß die Bevölkerung
der Provinz in dieser Periode sich überhaupt wenig ver-
mehrt hat. Während diejenige des ganzen Staates von
18,491,220 auf 19,252,363, also um 4,12 % stieg, ver-
mehrte sich diejenige von Posen nur um 3,83. Dasselbe
gehört sonach zu den Provinzen mit der geringsten Ver-
mehrung, während Brandenburg unb Preußen, welche
daran grenzen, die größte, nämlich um 5,92 % und 5,15 %
hatten.
Ich schreibe diesen Umstand der besonders starken Aus-
Wanderung aus der Provinz zu. Auch die hierauf bezüg-
lichen Tabellen von 1862 bis 1864 sind vom statistischen
Bureau noch nicht ausgegeben. Aber in den 3 Jahren
von 1859 bis 1861 wanderten aus Posen mit Paß in das
Ausland mehr aus, als ein, 2815 Personen oder 0,19 %
der Bevölkerung des Jahres 1861, ans dem ganzen Staate
dagegen 30,984 Personen oder gegen 0,17 %. Also hat
Posen etwa '/so % der Bevölkerung durch genehmigte
E, Kattner: Das pos>
Auswanderung mehr verloren, als der ganze Staat. Allem
Anscheine nach ist dieses Verhältniß 1862 bis 1864 für
Posen noch weit ungünstiger. Ueberdies kommt dazu noch
die Auswanderung ohne Paß und aus dieser Provinz in
andere, welche von den Behörden nicht berechnet wird.
Alle drei Arten von Auswanderung fallen aber fast
ganz auf den deutschsprechenden Theil der Bevölkerung.
Der Pole wandert nicht aus; es fehlt ihm dazu an Leb-
haftigkeit des Strebens, seine äußere Lage zu verbessern,
an Unternehmungsgeist und an Umsicht. Auch hindert ihn
daran, daß er keine Weltsprache spricht. Dagegen wird der
Deutsche von jenen Eigenschaften, welche ihn in dieses Land
gebracht haben, z. Th. auch wieder fortgeführt. Das Ziel
der Auswanderung ist sehr verschieden. Nach Rußland
und Polen ziehen besonders Landwirthe, Müller (in Polen
müssen die Mühlen selten andere Besitzer haben, als
Deutsche), Techniker aller Art, Gärtner, Handwerker und
ländliche Arbeiter. Nach England hat mehr den Hang
außer dem Techniker der junge Kaufmann, auch der Haud-
werker. Nach Amerika wandern dieselben Volksklassen,
wie aus anderen deutschen Ländern, namentlich Landleute
mit einem kleinen Kapital — und wenn dasselbe auch nur
zur Bestreitung der Uebersahrt ausreicht. In noch größerer
Anzahl als die eigentlichen Deutschen wandern die Juden
aus. Auch an ihnen erleidet die deutsche Sprache iu der
Provinz Verlust. Doch diesen Volksstamm behandle ich
in einem besondern Artikel. Wie dem nun auch sei, es kann
nicht bestritten werden, daß die Deutschen — als solche die-
jenigen gerechnet, welche sich in ihrer Familie der deutschen
Sprache bedienen — im Lande Posen sich erheblich in der
Minderheit befinden und auch noch lange darin verbleiben
werden. Wer also blos zählt und nicht wägt, der muß
Posen als ein überwiegend polnisches Land ansehen.
Keineswegs in demselben Maße steht den Polen nebst
ihren deutschen Fürsprechern ein anderes Moment für diese
Ansicht zur Seite, nämlich die Geschichte. Wenn auch nicht
zu leugnen ist, daß sie die älteren Besitzer des Gebietes sind
oder vielmehr waren — die Zeit vor der Völkerwanderung
außer Acht gelassen — so ist es doch eine reine Willkür,
die Geschichte des letzten ganzen oder auch nur halben
Jahrhunderts gleichsam als nicht vorhanden zu betrachten.
Sie aber spricht uns Deutschen das Land zu —■ und es ist
über unsern Besitz schon Gras gewachsen. Andere Gründe
für ihre ausschließlichen und überwiegenden Rechte können
sie nicht anführen.
Jener eine stärkste Grund ist aber dennoch hinfällig;
denn, wie gesagt, die Mitglieder beider Stämme müssen
gewogen und nicht blos gezählt werden.
4. Polen und Deutsche nach Gewicht und
Bedeutung.
Wenn wir die beiden Völker, welche die Provinz Posen
bewohnen, in ihrer gesellschaftlichen Stellung und kultur-
lichen Bedeutung gegeu einander abwägen wollen, so finden
wir, indem wir zuerst die Polen auf die Wagschale legeu,
daß dieselben hauptsächlich aus fünf Ständen bestehen:
dem grundbesitzenden Adel, der katholischen Geistlichkeit,
dem Bauernstände nebst dem ländlichen Arbeiter ohne Be-
sitz, deni Kleinbürgerstande und dem Gesinde. In allen
haben sie an den Deutschen Mitbewerber in der Provinz
selbst, welche ihnen durch überlegene Bildung und Tüchtig-
keit gefährlich werden, selbst als katholische Priester. Von
der Nebenbuhlerschaft der ganz deutschen, protestantischen
'v Land jetzt und früher. 211
Geistlichkeit will ich geschweige»; sie gehört, wie sich durch
die vor etwa Jahresfrist in der Schenkelschen Angelegenheit
abgegebene öffentliche Erklärung erwiesen hat, nngetheilt
der neuen, starkgläubigen Schule an, und in dieser Rich-
tnng wird sie es deu katholischen „Amtsbrüdern" doch nie-
mals gleich thnn und ihnen in keiner Weise gefährlich
werden.
Dagegen ist die deutsche Mitbewerbung um den bäuer-
lichen Grundbesitz wichtig sür das Polenthum; denn in
dem Bauernstaude ruht seine physische Kraft. In welchem
Verhältniß dieser kleinere Grundbesitz zwischen beiden
Volksstämmen vertheilt ist, darüber kann ich Genaues nicht
angeben, weil darüber keine statistischen Aufnahmen statt-
finden; doch glaube ich nicht, daß die Deutschen den Poleu
darin schon die Wage halten. Ziemlich geschlossen liegen
die deutschen Dörfer in einem mehr oder weniger breiten
Streifen an den Grenzen von Schlesien, Brandenburg und
Westpreußen; vereinzelte ganz oder überwiegend deutsche
Landgemeinden iu der ganzen Provinz zerstreut, werden
aber gegen Osten allmälig seltner. Ob die deutschen
Bauern den polnischen gegenüber im Allgemeinen Boden
gewinnen, kann ich gleichfalls nicht durch Zahlen nach-
weifen; nach meinen persönlichen Beobachtungen glaube
ich es allerdings, obgleich es seit etwa 10 Jahren, nämlich
seitdem durch die Einwirkung der Jesuiteu der poluische
Bauer weniger dem Trunk ergeben ist, viel langsamer damit
geht, als früher. Eine uatioual-poluische Gesinnung sucht
man bei dem letztern vergebens; er befindet sich unter
preußischem Seepter wohl und weiß aus der Ueberlieseruug
der Väter noch ganz gut, iu welchem Druck und Elend er
in der freien „Republik" schmachtete. Er ist deswegen
auch ein abgesagter Feind aller Verschwörungen und Auf-
stände und geht darin vollkommen mit seinen Standes-
genossen jenseits der russischen Grenze Hand in Hand.
Während dort 1863 die von russischen Truppen ver-
sprengten Reste der unglücklichen, thörigten, verführten
Milchbärte, welche Mieroslawski ans Preußen in das Feuer
geführt und dann verlassen hatte, von ihren eigenen Lands-
leuteu mit Knitteln todt geschlagen wurden, beschenkten die
polnischen Bauern der Umgegend von Jnowratzlaw die
dorthin versprengten russischen Soldaten mit Cigarren und
Trinkgeldern. Da rede man noch von einem polnischen
Volkskriege gegen die Russen!
Vou noch größerer Wichtigkeit für das poluische Volks-
thum ist die Mitbewerbung der Deutscheu um den großen
Grundbesitz. Wenn es ihnen gelingt, den polnischen Adel
von seinen Gütern, seiner „Hintermauer", wie er sie nennt,
zu verdrängen, so ist jenem die Lebensader unterbunden;
denn im Adel hat das volkstümliche Streben seine ent-
schiedensten, eifrigsten und ausdauerndsten Vertreter, wäh-
rend die Geistlichkeit darin Wohl meistentheils mit ihm Hand
in Hand geht, aber eigentlich hauptsächlich eiue finstere
Priesterherrfchaft als Ziel vor Augen hat, und aus deu
anderen Ständen nur die unerfahrne, phantasievolle Jugend
für die „Nationalität" schwärmt und nur vereinzelte
Männer mit einer gewissen Halbbildung bis in reifere
Jahre für sie Theilnahme bewahren. Die bei den Polen
allerdings sehr einflußreichen Frauen ereifern sich nur
darum für dieselbe, weil sie in ihrer Unklarheit sie mit der
katholischen Religion verwechseln. Beim polnischen Klein-
bürger, der es im Hasse gegen die Deutschen ziemlich am
weitesten bringt, ist dazu an sich nicht der Sinn für die
Nationalität der Grund, sondern sein Unterliegen im
gewerblichen Wettkampf mit ihnen. Er wird von ihnen
aus den größeren in die kleinen Städte, von der Selbst-
ftändigkeit zur Gehilfen - und Arbeiter-Stellung gedrängt.
27*
212 E. Kattner: Das Post
Also im Adel hat der polnische Nationalgeist seinen
Hauptsitz. Wenn derselbe aber den Grundbesitz verliert,
so büßt er damit seine stoffliche Unterlage, seinen Einfluß,
seine Bedeutung, sein ganzes Wesen ein, er geht zu Grunde
und mit ihm der polnische Nationalgeist. Zinn die Gefahr
ist nicht blos da, sondern der Kampf wird seit einigen
Jahrzehnten von polnischer Seite mit der größten An-
strengung, dennoch aber unter fortwährenden Verlusten
geführt, wogegen bei den Deutschen in ihrer Gesammtheit
nationale Ideen gar nicht in das Spiel kommen, ihnen
Plan und Absicht fern liegen, sie sich eines Kampfes kaum
bewußt werden, und im Grunde auch nicht sie selbst, sou-
dem nur ihr überlegenes Kapital für sie kämpft und Siege
erficht.
In der That, seitdem die preußische Staatsregierung
zu der Einsicht gelangt ist, daß sie einen Selbstmord begeht,
wenn sie den polnischen Adel im Besitz seiner Güter erhält,
was sie nach althohenzollerschen, adelsfreundlichen Grund-
sähen bis in die dreißiger und selbst vierziger Jahre dieses
Jahrhunderts that, seitdem ist das Bestreben desselben, sich
aus eigenen Kräften darin zu erhalten, hoffnungslos ge-
worden. Wir können dieses gemeinsame Streben und
Kämpfen nicht ohne ein Gefühl der Achtung betrachten,
wie jedes willenskräftige Einstehen Aller für Einen und
Eines für Alle; aber die Erreichung des Zieles ist unmög-
lich; die Uebermacht auf der andern Seite ist zu groß.
Die Geschichte, die Zeit, der Geist stehen den Polen ent-
gegen. Sie nehmen wesentlich blos Theil an dem großen
Wettkamps des Adels gegen das Bürgerthum, des Feudal-
Wesens gegen die Industrie, des Mittelalters gegen die
Neuzeit — und dieses auf einem besonders ausgesetzten
Posten. Auch anderwärts muß der Groß-Grundbesitz
allmälig ganz in die Hände des Bürgerstandes fallen; nur
spricht letzterer soust meistens dieselbe Sprache mit dem
verfallenden Adel; der Uebergang einzelner Glieder von
einem zum andern und das Neuleben einzelner Familien
des letztern ist deswegen leichter. Hier aber gehört der
Bürgerstand einem oder vielmehr zwei ganz anderen
Stämmen an, nämlich dem deutschen und jüdischen; er
ist zugleich Vertreter eines politisch siegreichen Volkes und
wird mit den großen Mitteln des Staates unterstützt,
welche sonst meistens auf der andern Seite stehen.
Immerhin bewirkt der kräftige Widerstand doch, daß
der unabwendbare Entwicklungsgang mehr oder weniger
aufgehalten wird. Amtlichen Quellen entnehme ich fol-
gende statistische Aufstellung aus dem November vor. I.:
„Im Jahre 1859 wurde nachgewiesen, daß sich damals
884 Ritter- und andere größere Güter in den Händen
polnischer, 786 solche Güter in den Händen deutscher
Besitzer befanden. Aus den neuesten statistischen Nach-
Weisungen ergibt sich, daß inzwischen das Verhältniß für
die Deutschen noch günstiger geworden ist. Deutschen
Gutsbesitzern gehören gegenwärtig 2,529,559 Morgen,
den polnischen 2,863,514 Morgen it. s. w. Daß die
Zahlen von gleicher Bedeutung zur Vergleichung ver-
mieden werden, daraus ist zu schließen, daß die Ver-
mehrnng des deutschen Besitzes von 1859 bis 1861 nicht
erheblich ist. Es wird indeß noch versichert, daß „die Zahl
der deutschen Besitzer diejenige der polnischen schon über-
wiege". Wir glauben das nun zwar recht gern, aber wir
möchten doch die Zahlen selbst zur Ueberzengung erfahren.
Jedenfalls ist der Fortschritt des Deutschthums seit der
preußischen Besitznahme des Landes, zu welcher Zeit es
doch so gut als gar keine deutschen Rittergutsbesitzer gab,
sehr bedeutend. Wenn derselbe augenblicklich auch lang-
samer ist, so kann und wird er vielleicht schon bald wieder
er Land jetzt und früher.
beschleunigt werden, z. B. wenn der ausdrücklich zur Er-
Haltung des Grundbesitzes in Posen in den Händen der
Polen gegründete Verein „Fellns" sich wieder auflöst, was
ich für wahrscheinlich erachte. Daß seit Kurzem drei pol-
nische Magnaten, darunter der Fürst Sulkowski, ihre aus-
gedehnten Herrschaften an Deutsche verkauft haben, ist ein
Beweis, daß wenigstens der „Schurke" (laiäak), welchen
der Verstorbeue Gras Dzialynski auf diese Verletzung der
Nationalinteressen setzte, nicht mehr beachtet wird und kein
Hinderniß ist.
Zeigen sich sonach die Deutschen in denjenigen Volks-
klassen, welche den Kern und die Blüthe des Polenthums
umfassen, auf dessen eigenstem Felde als gefährliche Neben-
bnhler der Polen, so besitzen sie ein großes, wichtiges, ja
für das Volksleben das wichtigste Feld, aus dem sie ganz
uneingeschränkt herrschen, unbehelligt durch irgend eine
polnische Mitbewerbung; sie nehmen ausschließlich den
höhern Bürgerstaud ein. Dadurch siud sie Herren über
den Haudel, die Gewerbe, besonders die Großindustrie, das
Kapital, sie haben ausschließlich alle Zweige der Staats-
Verwaltung, die Kunst, die Wissenschaft, den geistigen Fort-
schritt in ihren Händen, mit einem Worte — sie sind die
Träger der Kultur.^)
Einen Beweis für diese Sachlage würden die Steuer-
listen, nach dem Volksthum der Steuernden geordnet, ab-
geben. Ich bin jedoch nur in der Lage, eine derartige
Statistik von der Hauptstadt der Provinz vorführen zu
können. Hier bildeten damals die Polen der Zahl nach
noch ein starkes Drittel der Bewohner, aber in diesem Ver-
hältniß trugen sie bei weitem nicht zu der Steuerlast bei.
Es wurden dort im Jahre 1862: 21,556 Thlr. an Ge-
werbesteuer aufgebracht, davon trugen 1788 deutsche (hier
wie immer einschließlich der jüdischen) Kaufleute und Ge-
werbtreibende 17,887, 553 polnische 3669 Thlr. Das
Einkommen der einkommenpflichtigen 569 Deutschen wurde
auf 1,613,902 Thlr. abgeschätzt, dasjenige der 75 Polen
auf 263,983 Thlr.; erstere zahlten nach Abzug des auf
die Mahl - und Schlachtsteuer berechneten Betrages 19,678,
letztere 2752, zusammen 22,430 Thlr. Einkommensteuer.
Von den städtischen Grundstücken wurde ein Reinertrag
von 535,868 Thlr. berechnet, wovon auf 883 Deutsche
441,463, auf 333 Polen 94,405 Thlr. kamen; erstere
zahlten demgemäß 11,003, letztere 2867 Thlr. Grund-
stener. In entsprechendem Verhältniß zu diesen Steuer-
kräften stand auch die Zahl der Wahlmänner bei der letzten
Landtagswahl, es gab deren nämlich in diesem Wahlkreise
135 deutsche und 35 polnische.
So ungünstig die Polen nach Ausweis dieser Zahlen
in der Stadt Posen auch gestellt sind, so werden sie in den
übrigen 35 Städten der Provinz, welche über 3000 Ein-
wohner haben, durchschnittlich doch noch ungünstiger stehen.
In 15 derselben, und daruuter den nächstgrößten: Brom-
berg mit 26,059, Rawitsch mit 9591, Lissa mit 10,898
Einwohnern, sind entweder gar keine oder nur unerheblich
wenige Polen.
Bei der Gelegenheit will ich versuchen, eine Erklärung
der auffallenden Erscheinung zu geben, daß der Pole so
selten einen tüchtigen Kaufmann abgibt. Der Kaufmann
muß Stetigkeit, Ordnungsliebe und scharfen Verstand
besitzen, und das sind drei Eigenschaften, in denen der Pole
vorzugsweise schwach ist, namentlich in der letztern. Von
Kindheit an wird er dazu angehalten, und es wird als die
erste Tugend angerechnet, nur immer ohne Prüfung, ohne
*) Es darf auch nicht übergangen werden, daß sie die
Vertreter des Protestantismus gegenüber dem polnischen Katho-
licismus sind.
E. Kattner: Das posmer Land jetzt und früher.
213
eigenes Nachdenken zu glauben: die wunderlichsten Heiligen-
geschichten, die abgeschmacktesten Märchen über polnische
Geschichte und über politische Vorkommnisse der Gegen-
wart. Versucht der junge Pole nur im Geringsten den
Maßstab der Vernunft an die seltsamsten kirchlichen Glau-
benssätze anzulegen oder gegenüber den unbegrenzten An-
sprücheu seiner Nationalität auf seine Kräfte und sein
Lebensglück mit wirklichen Größen zu rechneu, so trifft ihn
fogleich das Schreckenswort: du bist kein Katholik, oder:
du bist kein Patriot. Da er beides aber doch sein will und
muß und von dem Prüfen und Nachdenken nur Nachtheil
erfährt, so läßt er das lieber ganz sein, ergibt sich einer
dämmerigen Geistesträgheit, einer träumerischen Vertiefung
über den Werth des Dinges „polnische Nationalität",
welches kaum mehr als ein Gespenst ist, und nimmt nur
für seine eigenen, nicht sehr gewissenhaften Erzählungen
denselben prüfungslosen Glauben in Anspruch, den er selbst
schenkt. Soll nun eine solche Natur als Kaufmann unanf-
hörlich rechnen, grübeln, prüfey und sich prüfen lassen —
ja dann geht das eben nicht.
Nichts würde die Kraft und Bedeutung des Deutsch-
thums in der Provinz so schlagend beweisen, so hell an das
Licht bringen, als eine möglichst vollständige Statistik des
Vereinslebens im Vergleich mit anderen, besonders den
benachbarten Provinzen; denn diese friedlichen, bürgerlichen
Vereine sind nicht blos von den Deutschen eingeführt, fon-
dern werden auch fortdauernd überwiegend von ihnen ge-
halten. Mir liegt leider in der Beziehung gar zu wenig
Stoff zur Hand; doch will ich davon Alles zusammen-
stellen, was ich vermag.
Wir hatten in Posen im Jahre 1864 bei 1,523,729
Einwohnern 24 landwirtschaftliche Vereine, an welchen
fast nur deutsche Mitglieder betheiligt sind. Die Polen
halten sich von denselben fern, weil ihre besonderen Vereine,
als bloße Aushängeschilder zu Verschwörungen gegen den
Staat, aufgelöst wurden und weil wenigstens in dem drei
Viertel der Polen umfassenden Regierungsbezirk Posen
nur solche gestattet werden, welche den Oberpräsidenten
als ihren obersten Vorsteher anerkennen. Es kam demnach
im Ganzen auf 61,900 Seelen ein Verein. In den Pro-
vinzen:
Einw. Vereine Berein Einw.
Preußen kommt bei 3,014,505 und 110 — 1 cnif 27,405
Brandenburg „ „ 2,616,583 „ 57 — 1 „ 45,905
Pommern „ „ 1,437,375 „ 36—1 „ 39,927
Schlesien „ „ 3,510,706 „ 72—1 „ 48,760
Sonach steht Posen seinen Nachbarprovinzen in der
Zahl der landwirtschaftlichen Vereine verhältnißmäßig
bedeutend nach, Wenn dieselben auf die ganze Einwohner-
zahl gerechnet werden. Anders gestaltet sich die Sache,
wenn wir blos die 650,000 deutschen Einwohner in
Rechnung setzen, aus deren Mitte sie eben nur ihre Mit-
glieder erhalten; dann fällt ein Verein auf 27,083 Ein-
wohner. Alsdann geht Posen allen Nachbarprovinzen
voran, auch der Provinz Preußen, wo dieses Vereinswesen
seit einigen Jahren einen außerordentlichen Ausschwung
genommen hat.
Es gibt ferner in der Provinz Posen jetzt 27 Männer-
Turnvereine. Dieselben können wir ohne Weiteres nur
auf die deutschen Bewohner rechnen, da an denselben durch-
aus kein Pole theilnimmt; dann fällt einer auf 23,333
Seelen und bei 1623 Mitgliedern eines auf 400 Seelen.
In Preußen sind deren 41, also einer aus 73,526 Seelen
uud 4020 Mitglieder, also eines auf 749 Seelen. In
Pommern sind 61 Vereine, also einer auf 23,568 Seelen,
und 4931 Mitglieder, also eines auf 292 Seelen. In
Schlesien sind 89 Vereine, also einer auf 39,446 Seelen,
und 7127 Mitglieder, also eins auf 492 Seelen. Branden-
bürg schließe ich vou der Vergleichuug aus, weil die in
dieser Provinz gelegene Hauptstadt des Staates die Ver-
gleichsbedingungen verändert. So ergibt sich, daß Pofen
nur vou Pommern und zwar allein in der Zahl der Turner
übertroffen wird.
Der „Deutsche Nationalverein" alsdann zählte im
Jahre 1862 in der Provinz Posen 341 Mitglieder, also
nach der damaligen Volkszahl ein Mitglied aus 4383
Seelen und eines auf 1818 deutsche Einwohner, während
sich in Preußen 1107 Mitglieder, also eines auf 2591
Seelen, in Pommern 385 Mitglieder, alfo eines auf 3868
Seelen, in Schlesien 293 Mitglieder, also eines auf11,573
Seeleu, befanden. Indem Brandenburg aus demselben
Grunde, wie oben, vom Vergleich ausgeschlossen wird,
ergibt sich auch hier wieder ein siegreiches Wettwerben
Posens mit den Nachbarprovinzen in der Theilnahme für
öffentliches Leben. Außerdem zählte damals und zählt
wohl noch jetzt der „Verein zur Wahrung der deutschen
Interessen" über 200 Mitglieder.
Man wende nicht ein, daß auch Preußen und Schlesien
große Massen von slavischer Bevölkerung umschließen,
welche bei Vergleichungen mit Posen gleichfalls in Abzug
gebracht werden müßten. Damit gibt man mir nur blos
Wasser auf meine Mühle; ich bin ganz zufrieden, wenn
man mir einräumt, daß die Deutscheu hier dieselbe Stellung
zil den Slaven einnehmen, wie dort.
Vergleiche zu ziehen bin ich bei folgenden Vereinen der
Provinz Posen nicht in den Stand gesetzt: 2 deutsche und
2 polnische Bodenkredit-Vereine, 1 Feuerversicherungs-
Verein, 5 Freimaurer-Logen, 3 bis 4 ärztliche Vereine,
2 Lehrerwittwenkassen-Vereine, 2 Pestalozzi-Vereine, alle
ganz oder überwiegend deutsch, wenn es nicht anders bemerkt
ist. Sänger-Vereine, Schützen-Vereine, erstere nur deutsch,
letztere z. Th. gemischt, wie z. B. in der Stadt Posen, gibt
es in jeder Stadt von wenigstens 3000 Einwohnern, auch
in vielen kleineren. Dazu kommen mehre Handwerker-
Vereine, ganz deutsch, Schützen-Genossenschaften, technische
Vereine, 1 Kunst-Verein u. s. w.
214
R, Rost: Die litauische Sprachfamilie.
Die litauische
Von Nu
Vom Ganges bis zum Westende der pyrenäischen Halb-
insel, von Sicilien bis zum Nordcap treffen wir eine lange
Kette verwandter Sprachen, deren gemeinsame Abstam-
mung von einer indoeuropäischen Stammmutter eine Ver-
gleichnng der ältesten Formen der den einzelnen Sprach-
familien zu Grunde liegenden Sprachen beweist. Das
Ursprüngliche, das Erbgut der Mutter, ist jedoch höchst
ungleich unter diese Töchter vertheilt, denn je weiter wir
nach Osten gehen, desto mehr finden wir von jenem Erb-
theile, am meisten also in der Sanskritsprache, je weiter
nach Westen, desto weniger, daher sich denn auch die west-
lichste Sprache, die keltische, am meisten vom reinen Typus
entfernt hat. Es erklärt sich diese Erscheinung aus der
größern oder geringem Entfernung der Sitze dieser Völker
von dem als Ursitz der Jndoenropäer anzunehmenden,
westlich von dem Gebirgsrücken des Mustag und Belnrtag
gelegenen Hochland. Es mögen sich wohl die westlichsten
Völker am frühesten aus die Wanderschaft begeben und
daher auch ihre ursprünglichen Sprachen am meisten und
ehesten verändert haben, während die am spätesten vom
Ursitze herabgestiegenen Perser und Inder gleichsam als der
Rest jener indoeuropäischen Urbevölkerung betrachtet werden
müssen. In Indien können wir jene Ursitze des Mutter-
Volkes aber um deswillen nicht suchen, weil die arische Be-
völkerung Indiens deutlich als eine eingewanderte erkannt
wird, durch welche schon vorhandene Aboriginer (Ureinge-
borne) zurückgedrängt wurden.
Der indoeuropäische Sprachstamm zerfällt iu acht
Sprachfamilien: die indische, persische, griechische, latei-
nische, keltische, slavifche, germanische und litauische.
Ehe wir zur nähern Betrachtung der letzten dieser
Sprachgruppen übergehen, ist es nöthig, wenigstens in
etwas das Verhältniß des Litauischen zur sla-
vischen Sprachsamilie, welcher es am nächsten verwandt
ist, anzudeuten. Die von Letten und Litauern bewohnten
Landstriche sind ursprünglich fast ringsum von slavischen
Völkerschaften umgeben gewesen. Als die nächsten Nach-
barn erschienen später im Westen die Germanen. Indem
wir die augenfällige Verwandtschaft des Wortschatzes im
Litauischen und Slavischen bei Seite stellen, weil sie sich
weit über die Grenzen dieser beiden Sprachfamilien hinaus
erstreckt, nämlich bis über alle indoeuropäischen Sprachen,
die im Wesentlichen dieselben Grundwurzeln haben, wollen
wir einige Hauptpunkte aus der Formenlehre kurz nam-
hast machen. Gemeinsam sind der litauischen und slavischen
Sprachfamilie rücksichtlich der Formenlehre der Mangel
eigentlicher Pafsivformen; die Anfügung des Pronomen
reslexivum an alle Activformen behufs Bildung eines
Mediums, das im Litauischen echte Medialbedeutung, im
Slavischen oft auch Passivbedeutung hat; der Mangel von
Perfectrednplication und Augment. Von den Verschieden-
heiten beider Familien, die größer sind, als die zwischen den
einzelnen Gliedern der germanischen Familie, mögen sol-
gende erwähnt werden: Im Nachtheil gegen die slavischen
Sprachen und in einen sonderbaren Gegensatz gegen alle
übrigen Glieder des indoeuropäischen Sprachstammes stehen
die litauischen Idiome durch Entbehrung aller Aspiraten;
S p r a ch f a m i l i e.
rtf Rost.
der Litauer bewahrt ursprüngliches s, wo der Slave es
in den Kehllaut verwandelt; das Slavische duldet nur
vocalischen Wortauslaut, hat also unendlich oft Eon-
sonanten am Ende des Wortes verloren, die das Litauische
bewahrt; das Litauische hat die alte Futurbildung mittelst
» bewahrt, im Slavischen ist dieselbe untergegangen; das
Litauische kennt nicht den slavischen Unterschied momentaner
und durativer Verba; überhaupt ist im Verbum das
Slavische alterthümlicher und ausgebildeter, im Nomen da-
gegen das Litauische.
Zur litauischen Sprachfamilie gehört nun zuerst jene
Sprache, welche unter allen Idiomen Europa's am nächsten
verwandt mit dem Sanskrit ist, nämlich die litauische
(im engern Sinne). Die beiden Schwestersprachen desselben,
die preußische und die lettische, stehen in Rücksicht auf ihren
Umfang und Wortreichthum zwar aus einer Stufe, nur hat
das Lettische viele deutsche Elemente in sich aufgenommen
und ist auch das jüngere Idiom. In grammatischer Be-
ziehnng sind jedoch beide Sprachen weit verschieden von
einander. Denn während das Litauische, durch seine abge-
schlossene Lage geschützt, mit wunderbarer Treue die ur-
sprünglichen Formen erhalten und, mehr dem Wohlklang,
als einer logischen Genauigkeit folgend und eine freiere
und kühnere Eonstruetion der Perioden annehmend, selbst
eine vollständigere Entwicklung erhalten hat, so ist dagegen
das Lettische so mangelhaft an Flexionen geworden, wie das
Persische, Englische oder Deutsche. Das Preußische, welches
zwischen dem Litauischen und dem Lettischen gewissermaßen
in der Mitte steht, wurde einst gesprochen in dem Küsten-
strich zwischen Weichsel und Riemen, ist aber bereits aus-
gestorben und vom Deutschen verdrängt.
Das Litauische wird gegenwärtig vom Volke noch
gesprochen in dem nördlichen Theile Ostpreußens und in
weiterer Ausdehnung in den angrenzenden Theilen Ruß-
lands, in dem westlichen und nordwestlichen Theile des
Großherzogthums Litauen. Eine Linie von Labiau am
Kurischen Haffe, sagt Schleicher in seinem ausgezeichneten
Handbuche der litauischen Sprache, in östlicher Richtung bis
Grodno, von hier mit einer kleinen Ausbiegung nach Osten
nordwärts bis in die Nähe von Dünaburg und von da
westwärts zurück an die See (etwa nach Libau) dürfte nach
den bisherigen Angaben das Gebiet der litauischen Sprache
im Ganzen und Großen umschreiben. Im preußischen
Litauen ist die litauische Sprache und Nationalität schon
tief herabgedrückt und fast ausnahmlos auf die niederste
Volksschicht beschränkt. Besonders im Süden des Sprach-
gebietes ist das Litauische in ziemlich raschem Aussterben
begriffen; so sind die Kreise Labiau, Jnsterburg, Gum-
binnen, Goldapp zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch
fast durchaus litauisch, nunmehr bereits fast gänzlich deutsch
geworden; in den Kreisen Pilkallen, Stallupönen, Tilsit,
Ragnit, Nidernng sind ebenfalls sogar auf dem Lande die
wohlhabenderen Leute und die Bewohner der Pfarrdörfer
meist deutsch, die Bevölkerung im Ganzen ist jedoch vorHerr-
schend litauisch; in den Kreisen Heidekrug und vor allem
iin Kreise Memel ist das litauische Element am stärksten
vertreten. Die Städte sind durchaus deutsch. Die in
R. Rost: Die lita
Rußland erscheinenden Werke und der Kalender in litauischer
Sprache beweisen, daß dort die litauische Sprache mehr noch
auch den wohlhabenderen und theilweise gebildeten Theil
der Bevölkerung umfaßt.
Sowohl auf dem preußischen, als auch auf dem russischen
Gebiete theilt sich das Litauische in verschiedene Mund-
arten, die sich jedoch sämmtlich unter zwei Hauptmundarten
bringen lassen: Hochlitauisch und Niederlitauisch,
oder Litauisch im engern Sinne und Schamaitifch.
Die letztere Mundart herrscht im Norden des preußischen
und russischen Litauens. Im Preußischen kann etwa der
Memelstrom als Grenze beider Mundarten gelten. Denkt
man sich die Linie verlängert, so scheidet diese Verlängerung
auch in Rußland die beiden Mundarten. Der Unterschied
zwischen ihnen kommt dem zwischen Hoch - und Niederdeutsch,
dem zwischen äolisch-dorisch - und attisch-ionisch-Griechisch
ungefähr gleich. Der Uebergang vom Hochlitauischen zum
Niederlitauischeu ist ein ganz allmäliger und nimmt in der
Richtung von Süden nach Norden zu.
Ein näheres Eingehen auf die herrlichen Formen dieser
leider im Aussterben begriffenen Sprache werden wir bei
der Betrachtung des Lettischen und zwar in Vergleichnng
mit demselben vornehmen.
Das Lettische verhält sich zum Litauischen, wenn man
die Entwicklungsepochen berücksichtigt, wie das Mittelhoch-
deutsche zum Althochdeutschen, oder wie die jüngere
Schwester zur älteren. Es ist in seinen grammatischen
Formen bedeutend abgeschwächter als das Litauische. Die
Letten nennen sich selbst, sagt Bielenstein in seinem trefft
lichen Werke, „die lettische Sprache nach ihren Lauten und
Formen", das wir der folgeudeu Ausführung zu Grunde
legen, L a t u o - i s ch i. Das Lettische wird gegenwärtig ge-
sprochen in der ganzen Provinz Kurland mit Ausnahme
des schmalen Küstenstrichs 56 Werst vom Vorgebirge
Domesneß westlich und 12 Werst von eben da südöstlich, wo
noch finnische Liven wohnen, in dem südlichen Theile Liv-
lands, den man Lettland nennt, in dem südwestlichen Theil
des Gouvernements Witepsk, in einigen verhältnißmäßig
kleinen Theilen von Litauen, an der Südgrenze von Kur-
land, und in Preußen auf der Kurischen Nehrung, wohin
sich bei dem früher lebhafteren Verkehr zur See wahr-
scheinlich lettische Ansiedler (Fischerbauern) vor Zeiten
begeben haben. Die Größe des von etwas über eine
Million Letten bewohnten Gebietes beläuft sich auf gegen
1900 Quadratmeilen.
Fast eben so hoch dürfte die Zahl der Litauer und die
Größe des von ihnen bewohnten Ländergebietes anzu-
nehmen sein. Während aber, wie wir bereits gezeigt haben,
der Umfang des litauischen Volkes, wenigstens in Preußen,
durch Germauisirung von Jahr zu Jahr allmälig abnimmt
und seine Südwestgrenze bereits von der Weichsel bis an
das Kurische Haff und fast bis an den Memelstrom hat
zurückziehen müssen, bewahrt das lettische Volk seine Ratio-.
nalität bis heute uoch ungestört und unverändert fort. Das
Lettische ist noch nirgends ausgestorben, höchstens ist es in
den Städten und deren Nähe durch das Deutsche oder an
den äußersten Ostgrenzen durch das Russische oder Polnische
ein wenig verändert. Bemerkenswerth aber ist es für die
geistige Ausbildung der Sprache und die Entwicklung der
Literatur, daß das Lettische nebst dem Litauischen durch die
eingewanderten geistig und politisch herrschenden Deutschen
in Kurland und Preußen, durch die Polen in Litauen und
im Witepskischen auf die Ackerbaubevölkerung des Landes
oder den Dienstbotenstand der Städte zurückgedrängt und
beschränkt ist, daß der Bürger und Handwerker, der Jndn-
strielle und der Kaufmann, der Literat und der Beamte,
ische Sprachfamilie. 21 5
der Geistliche und der Gutsbesitzer in diesen Landstrichen
entweder niemals Lette oder Litauer, sondern Deutscher,
Russe oder Pole seiner Herkunft nach gewesen ist, oder aber
seine lettisch-litauische Nationalität längst aufgegeben hat,
um die der herrschenden Volksklasse und damit die sonst
fehlende geistige oder politische Ebenbürtigkeit sich anzu-
eignen.
Der lettische Zweig des lettisch-litauischen Sprach-
stammes zersällt in zwei Hauptmundarten, die hoch-
lettische oder oberländische und die niederlettische,
welche letztere sich wieder in die nordwestknrische und
mittlere Mundart spaltet.
Die hochlettische oder oberländische Mundart
wird im östlichen und südöstlichen Theil des lettischen
Sprachgebietes gesprochen, nördlich von der Düna: in den
lettischen Distrikten des witepskischen Gouvernements und
in einem angrenzenden Strich des Gouvernements Livland;
südlich von der Düna: in Kurland in verschiedenen Ab-
stufungen, in der ganzen felbnrgfchen Oberhauptmannschaft,
namentlich aber im illnkstschen Kreise. Im östlichsten
Zipfel Kurlands, im oberlauzfcheu Kirchspiel, ist das
Lettische vielfach mit russischen und polnischen Elementen
gemischt.
Die nordwestknrische Mundart wird auf beiden
Seiten des Wiudaustromes gesprochen, in dein Landstriche,
den ehemals nach den ältesten vorhandenen Nachrichten die
wahrscheinlich lettischen Wenden auf dem linken Windau-
ufer und die finnischen Kuren auf dem rechten Windauufer
bewohnten.
Die dritte Mundart herrscht in dem dritten überwiegend
größten Theil des lettischen Gebietes, von Goldingen an
der Windau bis Friedrichstadt in Semgallen und von Nieder-
bartau unweit der preußischen Grenze bis Wolmar an der
Aa. Mit Recht heißt diese Mundart die „mittlere," so-
wohl wegen der geographischen Lage, als auch wegen ihres
Wesens, das zwischen oberländischer Starrheit und Härte
und nordwestkurischer Zerflossenheit und Weichheit eine
mittlere Linie einhält und deshalb ebenso zur allgemein
giltigen Schriftsprache sich erhoben hat, als das attische
Griechisch zwischen dem Dorischen und Ionischen.
Aus der geographischen Lage der lettischen sowohl, wie
der litauischen Mundarten lassen sich bedeutungsvolle
Schlüsse ziehen in Bezug aus die Urgeschichte dieses Volks-
stammes, insbesondere auf die Richtung, in welcher er
ans Asien hergewandert ist. Es sind nämlich die Volks-
schichten, die räumlichen Verhältnisse der aus einander
folgenden Volkslagerungen, wenn man diesen Ausdruck in
dem Sinne nimmt, wie man von Gesteinlagerungen ini
Schooße der Erde spricht, höchst auffallend. " Sie folgen
auf einander in der Richtung von Nordwest nach Südost in
schmalen Streifen, deren Längenausdehnung genau von
Nordost nach Südwest sich erstreckt. Vorne im äußersten
Nordwesten liegen die Tahmen (Nordwestkuren) von Don-
dangen bis gegen Libau. Zuächst dahinter, von Wolmar
ab bis zur Mündung des Memelstroms, der Hauptstamm
der Letten und daneben die Schamaiten (mittlere lettische
Mundart und schamaitische oder niederlitauische Mundart),
dahinter endlich als Nachtrab die lettischen und litauischen
Oberländer von den Grenzen des pleskowschen Gonver-
nements bis nach Labian am Kurischen Haff, ehemals bei
Königsberg und noch weiter südlich (hochlettische und hoch-
litauische Mundart).'
Zur Betrachtung der lettischeu Sprache selbst im Ver-
gleich mit der litauischen übergehend, beschränken wir uns
natürlich nur auf einige Hauptpunkte.
Was zuerst die Betonung der Wörter betrifft, fo ist
216 N. Rost: Die tito
das Princip der Silbenbetonung im Lettischen ein
wesentlich logisches. Es liegt demnach auf derjenigen
Silbe der stärkere Nachdruck, welche die wichtigste für
den Sinn des Wortes ist. Das Betonnngsprincip im
Lettischen ist im Allgemeinen genau entsprechend demjenigen
im Germanischen und, was sehr beachtenswert!) ist, ganz
abweichend von demjenigen im noch verschwisterten
Litauischen. Hier ist der Accent nicht an die Wurzelsilbe
gebunden, wie im Lettischen; er ist nicht von der Endsilbe
oder von der Quantität abhängig, wie im Griechischen;
er haftet auch nicht an gewissen grammatischen, seien es
Ableitnngs-, seien es Beugungssilben, Er springt viel-
mehr scheinbar unregelmäßig und doch nicht ohne Gesetz
von langen auf kurze, von Wurzel- auf Neben-, ja End-
silben und umgekehrt. Dieses höchst eigeuthümliche litauische
Accentnationssystem hat nach Bopp die meiste Ähnlichkeit
mit dem sanskritischen. Wahrscheinlich ist es nun, daß
ursprünglich im Lettischen diese altertümlichere litauische
Aceentnation geherrscht, und daß erst in späterer Zeit das
logische Princip in der Betonung zur Geltung gekommen
ist. Sollte nun die Abweichung der lettischen Betonungs-
weise von der litauischen ihren Grund haben in den Ein-
flüssen anderer Völker, so liegt es näher, diese Einflüsse bei
den Liven und Esthen zu sucheu, als bei deu Germa«en.
Bei den sinnischen Völkern liegt der Hauptton jedes Wortes
auf der ersten Silbe und hat außerdem uoch durch die Ord-
nung der Nebentöne oder die Vocalharmonie der Sprach-
Rhythmus durchaus einen trochäischen Charakter.
In der ganzen lettisch-litauischen Sprachfamilie sind
eigentlich mir zwei Geschlechter, Maseulinum und
Femininum, vertreten. Vom Neutrum finden sich höchstens
geringe Reste beim Fürwort und beim Eigenschaftswort.
Das Litauische bewahrt drei Numeri, Singular,
Plural und Dual noch heute, während im Lettisch en vom
letzteren kaum Spuren aufzufinden sind. Das Lettische
hat wie das Litauische im Singular sieben Casus,
nämlich: Nominativ, Vocativ, Aecnsativ, Locativ, Genitiv,
Dativ und Instrumentalis. Der Plural hat nur sechs
Casusendungen, da der Vocativ keine besondere Form hat,
sondern der Nominativ zugleich als Vocativ gilt. Dativ
und Instrumentalis sind im Lettischen vielfach mit ein-
ander verschmolzen und gelten heutzutage, doch nicht ganz
mit Recht, als ein einziger Casus. Der Dual im
Litauischen hat nur zwei Endungen, eine für Nominativ,
Accusativ, Vocativ, die zweite für den Dativ und Jnstrn-
mentalis. Als Genitiv des Duals wird die entsprechende
Form des Plurals gebraucht. Im größten Theile Litauens,
südlich vom Memelstrome, ist der Dual gar nicht mehr
gebräuchlich, selbst nicht in Verbindung mit der stets im
Dual steheudeu Cardinalzahl du.
Die Zahlen, welche im Litauischen bis mit 10, im
Lettischen nur bis mit 9 Adjectiva mit beiden Geschlechtern
und vollständiger Flexion sind, heißen im Litauischen:
Wenas, du, trys, lceturi, penki, szeszi, septyni, asztüni,
dewyni, deszirntis; und im Lettischen: Wirts, diwi, trfs,
tschetri, pisi, seschi, septini, astüni, dewmi, desmit.
Im Litauischen gibt es auch beim Verbum Singn-
lar, Plural und Dual; im Singular werden die drei Per-
sonen, wie in anderen Sprachen, durch die Personalendungen
geschieden, der Plural uud Dual aber kennt nur die
Endungen der ersten und zweiten Person, während die dritte
Person des Singular auch als dritte Persou Pluralis und
Dualis gebraucht wird, eine Eigentümlichkeit, die sich
schon in den ältesten Drucken und im nahe verwandten
Preußischen findet, demnach also sehr alt ist. Das Litauische
kennt nur ein Aktiv und ein durch Zusammensetzung des
sche Sprachfamilie.
Aktivs mit dem Reflexivpronomen si gebildetes Medium,
denn das Passiv wird, wie in vielen anderen Sprachen,
umschrieben; es hat ferner ein Präfens, ein Präteritum,
ein Futurum uud ein Jmperfectnm, sämmtlich nur im In-
dicativ. Der Optativ und der Imperativ gehören ihrer
Beziehung, nicht aber aber ihrer Form nach zum Präsens.
Die Conjngationsformen der lettischen Sprache haben
verhältnißmäßig nicht mehr diejenige Vollständigkeit, die
den Declinationsformen eigen ist. Wenn auch bei letzteren
das Neutrum und der Dual sehlt, so haben Mascnlinnm
und Femininum, Singular und Plural jedoch ihren streng
geschiedenen Charakter, und die Sprache reicht damit aus.
Ja in den Casusformen zeigt sich sogar eine reichere Fülle
und eine größere Ursprünglichkeit als in manchen ver-
wandten Sprachen. Beim Verbum dagegen sind die
Personalendnngen nur für die erste und zweite Person gut
erhalteu. Eiu eigentliches Pafsivum gibt es gar nicht,
außer geringen, und uoch dazu sehr zweifelhaften Spuren.
Von Modis existirt außer dem Jndieativ nur ein Eon-
ditional und dieser nur im Präsens. Der Imperativ ist
eigentlich nicht zu rechnen, da er mit Formen des Jndieativs
zusammenfällt. Von Temporibus haben nur das Präsens,
das Präteritum und das Futurum im Jndieativ nicht um-
schriebene Formen; die beiden ersteren sind einfach, das
dritte ist zusammengesetzt. Alle übrigen Tempora und
Modi fehlen. — Betrachten wir noch in Vergleichung mit
dem Litauischen und Preußischen das Präsens des Hilfs-
zeitwortes „sein". Dasselbe lautet im Lettischen:
Sing.: KLinu, ich bin; essi, du bist; ir, iraid, er ist.
P lur.: essam, wir sind; essat, ihr seid; ir, iraid, sie sind.
im Litauischen:
Sing.: esmi, ich bin; essi, du bist; esti, est, er ist.
Plur.: esme, essam, wir sind; este, essat, ihr seid; esti,
est, sie sind.
Dual: esva, wir beide sind; esta, ihr beide seid; esti, sie
beide sind.
im Preußischen:
Sing.: asmai, asmu, ich bin; assai, assei, du bist; ast,
er ist.
Plur.: asmai, wir sind; astai, astei, assei, ihr seid; ast,
sie sind.
Von den drei Gliedern der litauischen Sprachengruppe
ist das eine, die Sprache der alten Preußen, einst gc-
sprechen in dem Küstenstrich zwischen Weichsel und Niemen,
bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus-
gestorben und vom Deutschen verdrängt. Wenige litera-
rische Denkmäler derselben, eine Uebersetzung des luthc-
rischen Katechismus, sind uns erhalten und diese zeigen die
Sprache in einer Gestalt, welche in ihrem grammatischen
Bau eiue eigeuthümliche Mischung von neuen und alten
Formen aufweist. Währeud das preußische Decli-
Nationssystem im Ganzen minder vollständig, als das
des Litauischen und Lettischen ist, indem der Dual, der In-
strnmentalis und Locaüv fehlen, so finden sich von den
geretteten Casus jedoch Formen, die durch treuere Bewah-
rung des ursprünglichen Gepräges das Litauische und Let-
tische, sowie auch die sämmtlichen slavischen Sprachen über-
treffen.
Bei den Zeitwörtern findet man eine regelmäßige
Conjngation. In der Conjngation des Hilfszeitwortes
„sein", die wir bereits oben mit anführten, kommt das
Preußische der Vollkommenheit des Sanskrit nahe, ja es
wird sogar, wenn man das Wegfallen des Duals abrech-
uet, der dem Preußischen überhaupt abgeht, wegen der
Fr. Brinkman
Beibehaltung des Wurzelvoeals noch regelmäßiger con-
jugirt, als selbst das Indische, welches im Sanskrit mit
Hinweglassung des Dnals folgendermaßen lautet:
Sing.: asmi, ich bin; asi (statt assi), du bist; asti, er ist.
Plur.: smas (statt asmas), wir lind; stha (statt astha),
ihr seid; santi (statt asauti), |ie stnd.
Das Indische ist ja überhaupt ein Maßstab der Ver-
gleichung, der die Stelle nachweist, Welche die verschiedenen
Völker in der großen Wanderung des Menschengeschlechts
eingenommen haben. Es ergänzt die Lücken der Geschichte,
indem es die Fortschritte jedes Zeitraumes bezeichnet,
weniger noch durch feilte literarischen Überlieferungen, in
welchen die Einbildnngskrast in tausend Farben spielt, als
n: Stadt Steyer. 217
durch die Gesammtheit seines Wörterbuchs, welches eiu
treuer Erklärer unserer europäischen Sprachen ist. Noch
in unseren Tagen hat jedes Volk an ihm ebenso innig An-
theil, als am Griechischen und Lateinischen; und wenn ein
wichtiger und feierlicher Gedanke würdig dargestellt werden
soll, kann die Muse des Ganges sich getrost zu der am
Tiberstrom gesellen.
Was aber die Sprache betrifft, über welche wir einen
kurzen Ueberblick gegebeu haben, so bietet ihr Stndinm dem
Sprachforscher einen höchst anziehenden Stöfs zur Ver-
gleichuug mit anderen Idiomen deshalb, weil in ihnen sich
Formen vorfinden, die anf eine nähere Verwandtschaft mit
dem Indischen hindeuten, als es bei den anderen Familien
des indoeuropäischen Sprachstammes der Fall ist.
Stadt
Studie von Di'. Fi
Am Dreieck, von der grauen Enns gezogen
Und von der Steyer grünem Wellenbande,
Im Thalc tief, am laubgeschmückten Rande
Der Höhen, die niedcrschann im engen Bogen:
So Hab ich ganz dein Bild in mich gesogen,
Ein herrlich Bild im schönen Vaterlandes
Oft schaut ich dich in deinem Schmuckgewande
Und höher fühlt' ich stets die Pulse wogen.
K. Kaltenbrunner.
Wer von Oberösterreich nur das Salzkammergut ge-
sehen, und auf der großen breitgetretenen Heerstraße der
Vergnügungsreisenden über Salzburg hinein- und über
Linz wieder herausgereist ist, oder diesen Weg in umge-
kehrter Richtuug gemacht hat, wird immer mit der Mei-
nung das Land verlassen, daß Linz die schönste Stadt von
ganz Oberösterreich sei, und es auch in dieser Beziehung
verdiene die Hauptstadt des ganzen Landes zu sein. Es
gibt jedoch in dem östlich von der Traun gelegenen, sehr
wenig bereisten und wenig gekannten Lande, das mit dem
Salzkammergnt den Traunkreis Oberösterreichs ausmacht
und mit diesem weder an Anmuth noch an Großartigkeit
der Landschaften zu wetteifern vermag, ein Städtchen, das
dem mit so vielen eigentümlichen Reizen ausgestattete:,
Linz die Palme der Schönheit wenigstens streitig machen
kann und von dem nubesangeneu Beurtheiler, der beide
Städte kennt, in der Regel den Vorzug erhalten wird.
Diese halb verborgene Perle aller oberösterreichischen
Städte ist der alte Fürstensitz der Ottokare, Stadt
Steyer.
Was den Ort, wo Steyer erbaut ist, so auszeichnet
und ihm selbst vor Linz den Vorrang gibt, ist theils die
Lage am Vereinigungspunkte der Enns mit der Steyer,
theils die beträchtlich größere Nähe der Alpen. Die
Entfernung von hier nach Linz beträgt etwa fechs Mei-
len und um ebenso viel ist Steyer den Alpen näher ge-
rückt. _ Die äußersten Ausläufer derselben erstrecken sich
fast bis an die THore der Stadt, ja der hügelige Land-
rücken, auf welchem diese liegt, kann noch als ein solcher
Ausläufer der Alpen betrachtet werden. Er hat die Ge-
stalt einer lang gestreckten Landzunge, in welche die Wasser-
scheide beider Flüsse endigt. An seiner östlichen Seite
Globus X. Nr. 7.
K t e y e r.
iedrich Brinkmann.
kommt graden Laufes, in imposanter Breite und vollem,
raschem Strome die grauliche Enns aus den Bergen, die sie
kaum verlassen, hervorgeflossen, an seiner westlichen nähert
sich dieser in einem scharfen Winkel die vielgewundene,
kleinere und friedlichere Steyer, und nachdem sie ihre vor
der Stadt durch Kunst in zwei Arme getheilten grünlichen
Gewässer wieder vereint hat, ergießt sie dieselben in die
grauen der Enns, zwischen denen diese noch weithin als
ein langer grüner Streifen sichtbar bleiben.
Rings um die auf dieser Halbinsel angesiedelte Stadt
haben sich nun Vorstädte angebaut, im Ganzen neun
(Cunsdorf, Schönau, Reichenschwall, Vogelsang, Ort,
Steyerdorf, bei der Steyer, Wiesenfeld, Aichet), von denen
das jenseits der Enns gelegene Ennsdors und das jenseits
der Steyer gelegene Steyerdorf am größten sind, dieses
sogar soweit die Steyer hinauf sich erstreckt (säst eine halbe
Stunde laug), daß es für sich allein größer ist als die
Stadt selbst.
Um die Schönheit der Lage zu vollenden, wird dies
reizend gegliederte lebensvolle Ganze von ansehnlichen
Hügelketten auf allen Seiten umzogen, welche die Blicke
überall wohlthuend abschließen, die Laudschast mit dem
dahinter sich erhebenden Gebirge vermitteln und selbst
wieder die besten Uebersichtspunkte gewähren, um
das so originelle, aus so mannigfaltigen Elementen be-
stehende Bild von Stadt und Landschaft von allen Seiten
zu genießen.
Unter diesen Orten der Umgegend ist keiner geeigneter,
die ganze Pracht der Lage von Steyer in Einem Blicke
erkennen zu lasseu, als der sogen. Taborberg (oder, wie
das Volk sagt, das Tabor), der sich gerade dem Vereint-
gungspunkte beider Flüsse gegenüber erhebt und das Ende
der Hügelkette ist, welche das linke Ufer der Steyer begleitet.
Die Aussicht von hier aus ist darum so überaus fesselnd,
weil es nicht ein einzelner Punkt ist, der sie gewährt, uud
es nicht Ein Bild ist, daß uns immer beschäftigt, sondern
die ganze Höhe in der vollen Breite, wie sie sich Steyer
38
218 Fr. Brinkman
gegenüber lagert, dem auf ihr von dem einen zum andern
Ende wandernden Zuschauer eiue ununterbrochene Reihe
stetig wechselnder und iu einander überfließender Bilder
aufrollt, von denen nur der Hintergrund der Berge unver-
ändert bleibt.
Fangen wir am östlichen, dm Zusammenflüsse beider
Ströme zunächst gelegenen Ende, wo ein alter Wachtthurm
steht, unsere Wanderung an, so erblicken wir zu unsrer
Linken im Vordergründe jenseits der Enns das dicht zu-
sammengebanteEnnsdors, gerade vor uns die daran vor-
beifließende, aus dem Mittelgrunde hervorkommende Enns,
deren grauliches Gewässer in vollem und immer breiter
werdendem Strom an uns vorbeiflntet und von hier aus
besonders imposaut sich ausnimmt. Darüber spannt sich
eine Brücke, die Ennsdorf mit Steyer verbindet. Von
diesem ist aber außer den Thürmen der Pfarrkirche und
des Rathhauses nur wenig zu sehen. Denn die ganz im
Vordergrunde tief zu unseren Füßen liegende, aber mit ihren
beiden Kuppelthürmeu hoch anfragende Michaelikirche ver-
deckt uns das Meiste von dem zu unsrer Rechten liegenden
Steyer, ebenso wie von Steyerdorf, dessen Hauptkirche sie
ist. Aus der Ferne schauen aber noch die Thürme des
eine halbe Stunde entfernten Klosters Garsten herüber.
Das Alles denke man sich belebt durch die röthlichen
Strahlen der zu unsrer Rechten untergehenden Sonne,
durch den blauen ans den Häusern aufsteigenden Rauch
der Abendfeuer, dnrch das sehr vernehmliche Rauschen der
rasch dahin schießenden Enns, durch ein Pocheu und
Hämmern, das von allen Seiten, besonders von Steyer-
dors her sich vernehmen läßt, und durch deu Verkehr auf
der Enns, wo mehre Flöße herabschwimmen und eine große
Zahl von Zillen (eine eigene, landesübliche Art großer
Kähne) festgebunden liegt, die Eisen aus den Bergen hieher
gebracht haben. Den Hintergrund bilden die mannigfaltig
über einander emporgethürmtenBerge des Ennsthales, deren
Linien sich malerisch verschlingen und deren dick bewaldete Ab-
hänge durch das abendliche Licht ein reizend sich abstufendes
Dunkel erhalten. Von der zwischen ihnen und der Stadt
liegenden Landschaft tritt besonders der hinter Ennsdorf
jenseits der Enns liegende Theil hervor, ein aus Wiesen,
Feld und Baumgruppen bestehendes Gelände, das sich in
allmäliger Erhebung gegen die Berge zieht und hie und
da mit einem aus Buschwerk hervorschauenden Häuschen
geschmückt ist.
Geht man nun mehr nach rechts gegen die ihrem Unter-
gange nahende Sonne, so tritt Ennsdorf sehr rasch hinter
die Michaelikirche zurück und nur ein kleiner Theil schimmert
noch zu unsrer Linken herüber; in gleicher Weise die Enns.
Dafür erscheint nun die freundliche, grüne Steyer
und die große an ihrem linken Ufer erbaute Vorstadt
Steyerdorf, eine lang hin gestreckte, fast unabsehbare
Häusermasse, der wir auf die Dächer schauen. Von der
gerade uns gegenüber liegenden Stadt selbst tritt uns hier
aber besonders das alte, vielsenstrige Schloß entgegen. Es
ist ein lang ausgedehnter, imposanter Bau, der sich iu der
Nähe des Vereinigungspunktes beider Flüsse, der Spitze
der Landzunge, erhebt. Ans seiner Mitte ragt ein niedri-
ger, aber breiter viereckiger Thurm hervor, der noch aus
deu Römerzeiten stammen soll, rings aber ist es von Bäu-
men und üppigem Buschwerk umquollen, das sich von der
Höhe, worauf es steht, bis zum Ufer hiuab- und weit den
Fluß hinaufzieht. Es bildet den Mittelpunkt des Bildes.
Zur Rechten kann der Blick den Lauf der muntern Steyer,
die hier ein so reiches Leben geweckt hat und immer nährt,
weit verfolgen, wie sie sich schon in der Ferne durch Häuser-
masseu schlängelt, unter zwei Brücken durchfließt, dann
n: Stadt Steyer.
ihre beiden künstlich geschaffenen Arme wieder vereint und
so gleichsam eine große Insel umschließt, dann brausend
und schäumend sich über zwei Wehre stürzt und endlich an
dem Schlosse vorüberfließt, um sich bald darauf mit der
Enns zu verbinden. —
Je mehr wir unfern Weg gegen Westen fortsetzen, um
so mehr entwickelt sich Steyerdors vor unseren Blicken,
während Ennsdorf jetzt ganz verschwindet, und um so mehr
tritt das frische mannigfaltige Grün des Hügels zwischen
der Enns und Steyer, worauf die eigentliche Stadt liegt,
hervor, da diese zum bei weitem größten Theile an dem
entgegengesetzten, von der Enns bespülten AbHange erbaut
ist. Daher sieht man von dieser nichts mehr als das
Schloß, den Thurm der Pfarrkirche mit den Spitzen eini-
ger anderen Thürme und einige wenige Häuser, und darum
macht das fast allein sichtbare Steyerdors hier einen so im-
posanten Eindruck, daß der hieher geführte Fremde glan-
ben muß, er fehe Steyer selbst. Das gauze jetzt vor uns
liegende Bild athniet aber eine Frische und Anmuth,
wie wir sie an keinem der früheren Punkte gefunden haben,
da unter den mannigfaltigen Bestandteilen, die sich hier
in reizender Harmonie durchdringen und gegenseitig heben,
doch das unendlich nnaneirte Grün der Natur in dem
Buschwerke, den Baumgruppen, den Waldmassen, den
Feldern und Wiesen, den fernen Bergzügen und in dem
nahen Flusse weit alles Andere überwiegt.
Am Ende dieses einzig schönen Spazierganges steht
eine dicke Linde, und eine darunter angebrachte Bank ladet
zu einer kurzen Ruhe eiu, um noch einmal die Gegend zu
überschaueu und sich einzuprägen. Jetzt ist von der Stadt
Alles verschwunden mit Ausnahme desThnrmes der Pfarr-
kirche. Wir erblicken nichts als das hämmernde und pochende
Steyerdorf und ringsherum ergießt sich die liebliche grüne
Landschaft. —
Stehen wir auf und wenden uns rückwärts, so fällt
uns in geringer Entfernung ein Thorweg mit eisernem
Gitterthore auf. Wir treten näher und lesen unter einem
Wappen der Stadt eine lateinische und eine deutsche In-
schrist, die uns mit der Anzeige überrascht, daß wir vor
dem Kirchhofe von Steyer stehen.
Die lateinische lautet:
„Haec loca corporibus defunctis Styra paravit
Aeterni at domini est fertilis illa seges;
Somnum, non mortem spectas in morte piorum
Inque deo salvi, qui moriuntur, erunt."
Die deutsche:
„Tausend fünfhundert achtzig vier
Baut' die Steyerstadt das Schlafhaus hier."
Wir nehmen die Gelegenheit wahr und treten ein.
Mir ist kein Kirchhof bekannt, der einen so wohlthnenden
Eindruck auf das Gefühl machte wie dieser. Er ist in ahn-
licher Weise angelegt wie der berühmte von St. Peter in
Salzburg, aber bei weitem einfacher und anspruchsloser.
Er zerfällt in zwei Theile, einen ältern und einen neuern,
deren jeder ein Quadrat bildet. Iu dem ältern ziehen sich
rings au den Seiten unter einen: gedeckten und gemauerteu
Gange die Familienbegräbnisse umher. In der Mitte steht
eine kleine Kapelle. Die meisten Gräber sind nur mit
eisernen Kreuzen bezeichnet, viele aber auch mit einfachen
Grabsteinen versehen. Unter den lateinischen Inschriften,
die sich nicht selten aus diesen finden, fiel mir folgende auf
als Zeuguiß alten Geschmackes: Nostros non amittimus
sed praemittimus, non moriuntur sed oriuntur, praecedunt
non recedunt, non obitus sed abitus est, et eorum migra-
tio est vitae iteratio." Der ganze Friedhof ist aber über-
Fr. B rin km an
Wachsen von Gras - und Feldblumen, aus denen sich eine
Trauerweide und eine Akazie erheben.
Im schroffen Gegensatze zu dem Kirchhofe vou
St. Peter in Salzburg, wo sich eiu ungeheuerer Prunk
in Grabmonumenten und allem möglichen Schmucke breit
macht, wo der Blick nur über ein großes Steinfeld schweift,
und wenn er sich erhebt, auf uackte Felsenwände stößt, ist
dieser Gottesacker bei aller Schönheit so einfach, er athmet
einen so tiefen Frieden, und die große Natur, die wir da
draußen bewundert haben, hat auch über dieses Todtenseld
ein so reizendes grünes Gewand geworfen, Alles ist so
licht, so frei, so heiter und ruhig, daß Einen unwillkürlich
der Wunsch beschleicht: Ja, hier möchte auch ich wohl ruhen.
Und gleich, so wie wir aus dem Kirchhofe heraustreten,
stehen wir wieder im Angesichte der herrlichen Natur und
jetzt fühlen wir lebhaft, daß die Heiterkeit unfres Geistes,
womit wir sie vorher genossen, durch den Besuch des Fried-
Hofes eher vertieft als getrübt worden ist. —
Aehnliche günstige Punkte, um die Gegend zu über-
schauen, liegen aus den übrigen Hügelzügen, welche das
Thal von Steyer einschließen. Besonders viele und ab-
wechselnde bietet derjenige, welcher das rechte Ufer der
Enns begleitet, der sog. Tamberg, in den verschiedensten
Höhen, von der sog. Niedern Enns leiten*) an, d. h. dem
untersten Saume bis zur oberu Eunsleiten und weiter bis
zur Höhe, in deren Nähe eine Kapelle, die Laurentius-
kapelle, steht, die sich des Rufes erfreut, von allen Punk-
ten um Steyer die umfassendste Aussicht zu gewähren.
Der besuchteste Ort der Umgegend ist aber das sog.
„Christkindel", das gerade im Westen der Stadt am
rechten Ufer der Steyer liegt und so mit den beiden vorher-
genannten ein Dreieck um die Stadt bildet, das diese von
allen Seiten sehen läßt. Die Aussicht von hier kauu sich
zwar an Pracht und Leben mit der vom Taborberge nicht
messen, und namentlich fehlt hier der Blick auf die beideu
Flüsse. Dagegen gewinnt das Bild der Gegend, wie es
sich hier darstellt, eine größere Innigkeit und es heimelt
uns mehr an, da die einzelnen Theile, die sich aus dein
Taborberge alle getrennt neben einander vor unseren
Augen entwickelten, daß wir nicht wußten, nach welcher
Richtung wir besonders schauen sollten, hier sich zu einem
eng geschlossenen Ganzen zusammendrängen, einem eiuzi-
gen, grünen, mit großen Massen von Buschwerk geschmück-
ten, von den Wasseradern der Steyer durchzogenen Thale,
aus dessen Mitte sich die als Eine Masse erscheinende Stadt
in sehr zierlicher Weise heraushebt. Es ist, als ob wir
hier ein Miuiaturbild von dieser erhielten.
Der Punkt, von dem man diese Aussicht genießt, ist
eine hübsche, hoch über dem Thale gelegene Gartenwirth-
schaft, die man von Steyer aus bequem in einer Stunde
erreicht. Er ist der beliebteste Vergnügungsort der Stey-
rer, und daher findet man an heiteren Nachmittagen und
Abenden immer Gesellschaft hier. Sehr Viele indessen,'
die dorthin wauderu, kommen nicht blos der schönen Aus-
sicht und der Erholung wegen, sondern zum Besuche der
kleinen, aber sehr berühmten Wallfahrtskirche, die
*) Leiten, nicht selten in österreichischen Ortsnamen, be-
deutet eine gegen einen Fluß sich abdachende Wiese, Weide oder
Feldflur.
n: Stadt Steyer. 219
dicht dabei liegt und von welcher der Ort den Namen
„Christkindel" erhalten hat. Das Christkindel gehört
aber so wesentlich zum Charakter von Steyer wie das
Schloß und die Pfarrkirche, und darum können wir nicht
umhin, die Sage, welche sich daranknüpft, hier
kurz mitzutheilen.
In Steyer lebte gegen Ende des siebzehnten Jahr-
Hunderts ein Thürmermeister und Chorregent, Namens
Seidel, der an der fallenden Sucht litt. Nachdem er lange
alle möglichen Mittel gegen dieses Uebel vergebens gebraucht
hatte, versuchte er auf den Rath der Aerzte, ob ihm nicht
der anhaltende Aufenthalt in frischer Lust, besonders in
Waldluft, Helsen könne, und ging täglich in den Wald, der
auf dem hohen rechten Ufer der Steyer gegen Westen sich
erstreckt. Da er bei seiner frommen Gemüthsart auf
diesen Spaziergängen das Bedürfniß zu beten fühlte, so
ließ er sich vou denNonnen in Steyer, denCölestinerinnen,
eine Nachbildung eines Jesukindes, das im Rufe stand,
Wunder zu wirken, in Wachs geben und stellte sie an einem
seiner Lieblingsplätze im Walde, in einer hohlen Tanne
ans. Vor diesem „Christkindel" pflegte er nun seine An-
dacht zu verrichten und nach einiger Zeit ereignete sich das
Wunder, daß er, uachdem er vor demselben gekniet hatte,
gesund ausstand. Es soll im Jahre 1695 geschehen sein.
Als dies ruchbar wurde, kamen von allen Seiten Kranke
her, und auch an ihnen bewährte sich die Wtinderkrast des
Christkindes.
So entstand denn bald in der Gegend der Wunsch,
demselben an dieser Stelle eine Wallfahrtskirche zu erbauen,
und wurde im Jahre 1709 erfüllt. Die kleine Kirche, in
welcher man zu allen Zeiten trostbedürftige Menschen vor
dein über dem Altare schwebenden Christkindlein knieen
und beten sieht, ist eine Rotunde, die oben durch eine
Knppel abgeschlossen und, wie man sagt, nach dem Vor-
bilde der Maria rotonda in Rom erbaut ist. Inwendig
ist sie reich ausgeschmückt, und an der Stelle, wo früher die
alte Tanne empor ragte, steht der Altar mit dem alten,
wundertätigen Christkindlein, lieber dem Eingange sind
die Worte zu lesen: „Nolite peccare in puerum" (Wollet
Euch nicht versündigen au dem Kinde).
Doch wie kommen solche von einer frommen Sage ge-
weihte Orte mit dem Lebeu und Treiben der Gegenwart
ins Gedränge! Selbst aus dem Christkindel werden die
Glockentöne, die von der Kirche aufsteigen, fast übertäubt
von dem Pochen der Hämmer und dem unaufhörlichen
Geklapper der Schneide-, Papier- und Korn - Mühlen, die
gerade hier sich recht zahlreich der Steyer entlang angesiedelt
haben, die lebenvolle Staffage des Vordergrundes, auf den
wir von der Wirthfchaft zum Christkindel hinabschauen.
Zum Schlüsse dieser Uebersicht über die Gegend sei
hier noch des Klosters Garsten gedacht. Wie das Christ-
kindel gegen Westen, der Taborberg gegen Norden, der
Tamberg gegen Osten, so lockt dieses alte Kloster mit sei-
nen anmuthigeu Umgebungen gegen Süden die Steyrer zu
einem Spaziergange hinaus. Es wurde 1982 gegründet,
1787 aufgehoben und wird jetzt als Strafanstalt benützt.
Die Anhöhen, welche die sehr stattlichen Gebäude des
Stiftes umgeben, sollen ebenfalls hübsche Blicke auf Steyer
bieten.
28*
220
H, Birnbaum: Die Erhebungen und Senkungen der festen Erdrinde :e.
Die Erhebungen und Senkungen der ftf
Indischen und Atlantischen A
Von Dr. H.
Unmittelbar anknüpfend an den Schlich unsres zweiten
Artikels (Globus X, S. 116) bemerken wir zunächst, daß
an der wüsten Westküste Bolivia's der Boden überall
mit Conchylienlagern und allerlei Salzinkrnstirnngen über-
deckt ist, als wenn ihn das Meer erst vor kurzer Zeit ver-
lassen hätte. UeberCobija und andere alte Küstenplätze die-
ser Gegend hinaus hat sich, ähnlich wie bei Co q n i mb o, eine
neue Gestadeeontonr gebildet, da der Boden, welcher früher
vom Oceau überdeckt war, jetzt daraus hervorgehoben ist.
In einem Zeitraum von ungefähr vierzig Jahren hat sich
das Meer von dem Hasenorte Ariea um 450 Fuß ent-
fernt, wodurch hier der Seeverkehr sehr erschwert wor-
den ist.
Das interessanteste Beispiel der Erhebung findet man
jedoch vor dem Hafen Callao von Lima, an einem
Uferabhange der Insel San Lorenzo. In einer Höhe
von 78 Fuß über dem Meere entdeckte Darwin hier ein
Lager moderner Conchylien auf einem mit Algenwurzeln,
Vogelknochen, Maisähren und Rohrgeflechten untermischten
Boden, zwischen denen sogar das Ueberbleibsel eines ans
Baumwolle gesponnenen Fadens sich befand, welches sehr
schwer vor dem Zerfallen in Staub geschützt werden konnte.
Diese Reste der menschlichen Thätigkeit gleichen genau
denen, welche man in den Begräbnißplätzen der alten
Peruaner aufgefunden hat. Es läßt sich daher kaum
bezweifeln, daß seit der Zeit, als diese Gegend noch aus-
schließlich von den rothen Indianern bewohnt war, die
Insel San Lorenzo sich um 78Fuß emporgehoben habe.
Aber eben so wahrscheinlich ist auch eine jetzt thätige De-
Pression dieser Gegend, denn im Hafen Callao liegen
schon mehre Punkte unter dem Wasserspiegel, welche sich
früher darüber befanden. Jedoch scheint dies nur lokal
und rasch vorübergehend zu sein, denn an vielen Küsten-
punkten Columbiens ist seit der Ankunft der Europäer
das ununterbrochene Heben des Bodens ganz außer Zweifel
gestellt. Will mau daher die Senkung von Callao mit
in das Bereich des allgemeinen Phänomens ziehen, so wäre
hier ein Grenzpunkt der großen Erhebung, welche in Chile
ihre Culmiuatiou erreicht hat, und eine Länge von mehr
denn 500 geogr. Meilen in sich schließt, eine Distanz, die
ungefähr mit dem Abstände Paris von Tobolsk zn ver-
gleichen ist.
Die Ostküste Südamerika's ist in Hinsicht der
Erhebungsmerkmale viel weniger genau bekannt als die
eben besprochene Westküste. Ob der Grund hiervon in
der viel größern Contonrlänge und dem verhältnißmäßig
mehr abgeflachten Relief liege, wie von mehren Seiten
behauptet wird, ist noch nicht entschieden. Die Unter-
suchungen der geologischen Thatsachen führen indeß zu der
fast allgemein beglaubigten Annahme, daß sich hier die
Erdrinde in einer Periode, die von der Herrschaft der Riesen-
sängethiere, des vorweltlichen Faulthiers Megatherium,
des eben solchen Elephanten Mastodon n. f. w. reicht,
wirklich erhoben habe. Die baumlosen Pampas der La
l Erdrinde in Amerika, in dem Stillen,
äne, in Südasien und Afrika.
Birnbaum.
Plataregion haben noch jetzt die einförmige Oberflächen-
form des Meers, unter dem sie früher begraben lagen, und
alle ihre Seen, Bäche und Brunnen deuten durch ihren
starken Salzgehalt auf maritimen Ursprung. Mau kann
in einer Landstrecke von 100 Meilen Länge kaum einen
Hügel, kaum eine Höhendifferenz von 10 Fuß auffinden,
und die Meeresgrenze bewahrt hier seit Jahrhunderten
unabänderlich dieselbe Gestalt. Indem sich nun früher
diese ganze Continentalmasse mit majestätischer Ruhe laug-
sam erhoben hat, scheint eben jetzt eine entgegengesetzte
Oscillation eingetreten zn sein, so daß sich dieselbe nach
dem Atlantischen Oceaue hin ebenso unmerklich wieder
hinabsenkt.
Am Fuße des hohen Gestades von Patagouieu ist
das Meer jetzt unablässig thätig, sich auf Kosten des Cou-
tinents zu vergrößern, und obgleich die Brandung nicht
Kraft genug besitzt, das Felsufer höher als bis zu 12 bis
15 Fuß hinauf zu untergraben, so läßt sich dieser viel-
jährige beharrlich fortgesetzte Angriff doch weit ins Meer
in allmäliger Senkung verfolgen, und in dem Maße wie
man sich von dem jetzigen Ufer nach dem Meere hin ent-
fernt, trifft mau auch neue Spuren des alten Gestades an.
Die Bodenfläche des Meeres hat sich alfo gesenkt und in
demselben Maße auch die ganze Continentalmasse, welche
in der Epoche der riesigen Mammiferen eine so großartige
gemeinsame Erhebung erfahren hat. An der Küste von
Brasilien, namentlich in der Provinz Bahia, scheinen
mehre neue Depresstonsmerkmale darauf hinzudeuten, daß
sich die Oberfläche dieses Contiuentaltheils ebenfalls all-
mälig hinabsenke. Indeß ist hier die Zahl unbezweifelter
Thatsachen noch nicht groß genug, daß wir eine so wichtige
Hypothese zur Wahrheit stempeln könnten.
Für die Wissenschaft ist übrigens das mit Sicherheit
gewonnene Resultat der Erhebung au der Westküste
Südamerika's von der Insel Chilos bis zum Hafen
Callao, sowie das der Senkung in Patagouieu von
großer Bedeutung; und eben so viel Werth legt sie auf die
Thatsache, daß Columbien in der einen Hälfte gerade
so viel an Erhebung gewonnen, als in der andern durch
Senkung verloren hat.
In Nordamerika hat man die Wahrzeichen einer
Oscillation der Erdrinde nicht in dem Umfange wie bei dem
Südcontinente auffinden können, aber durch die Resultate
mancher Betrachtungen wird die Hypothese einer allge-
meinen Erhebung, wonach die eine der parallelen Aren
mit der Richtung der Rocky Mountains zusammenfällt,
sehr wahrscheinlich. Die Gestade von Tamaulipas
und Texas wachsen rasch in die Breite und dies nicht
allein durch das Anschwemmen von Meeressand, welches
der hier fast beständig herrschende Südwind sehr begünstigt,
sondern hauptsächlich auch noch durch den Erhebungsprozeß
der Erde. Während der 18 Jahre von 1845 bis 1863
sind die Ufer der Bai von Matagorda um 1 bis 2 Fuß
höher gehoben, welches die weit vom Meere entfernt auf-
H. Birnbauni: Die Erhebungen i
gefundenen reichen Conchylienlager bestätigen, auch hat
man gerade aus diesem Grunde den Hafen vonJndianola
fast um eiue ganze Meile südlicher uach Powd erHorn
vorrücken müssen.
Die Halbinsel Florida und der Archipel der
Bahama's sind Erzeugnisse der Erhebnngsthätigkeit, wie
sich deutlich aus deu zurückgebliebenen Spuren des frühern
Meeresstrandes erkennen läßt. Jene mysteriösen Hügel,
welche unter dem Namen Mnd-Lumps die Müuduug
des Mississippi umgeben und deren Entstehen der franzö-
sische Reisende Th o m ass y dem unterirdischen Wasserdrucke
zuschreiben will, siud sicher auch nur Beweise für die all-
gemeine Erhebung der Erdrinde. Selbst die Richtung,
welche der Mississippi verfolgt, macht es sehr wahrschein-
lich, daß Nordamerika's Erhebungsare mit der des Felsen-
gebirges zusammenfällt, denn statt seine Ufer auf der
rechten Seite anzugreifen, wie dies nach der Einwirkung
der Rotatiou der Erde gefcheheu sollte, untergräbt er vor-
zngsweise die Hügel der linken Seite seines Flußbettes;
und in dem Flachlande seines Deltas schlägt er sogar einen
nach Südost gerichteten Lauf ein, parallel nnt der ebenfalls
hier vorkommenden Beugung der Rocky Mountains und
parallel mit den kleinen Flüssen in Texas. Man darf also
annehmen, daß alles Flachland Nordamerikas in der Rich-
tuug nach Westen emporgehoben wird, weil alle Ströme,
welche dasselbe gen Süden durchströmen, ein Streben nach
östlicher Ablenkung au den Tag legen.
Der Osten Nordamerika's unterliegt keinem so
einfachen Erhebungsprozesse wie der Westen. Labrador
nnd Neufundland steigen empor, während die übrigen
Küstenländer sich erniedrigen. Lyell hat in seiner zweiten
Reise nach den Vereinigten Staaten bestätigt gefunden, daß
die Küsten der Staaten Georgia und Südcarolina
jetzt einer gemeinschaftlichen Depression unterworfen
sind. Dasselbe gilt auch von dem Littoral, welches in der
Bay von Neuyork das Centrum und in Eap Eod und
Eap Hatte ras die nördlichste und südlichste Grenze besitzt;
diese ganze Userstrecke ist in einem sehr langsamen aber
ununterbrochenen Hinabsinken unter den Spiegel des
Atlantischen Oceans begriffen, wenigstens ist dies bei den
Küsten des Staates Neujersey durch wiederholteMessun-
gen scharf bewahrheitet. Eine im Jahre 1649 noch zwei
Quadratmeilen Oberfläche enthaltende Insel ist gegen-
wärtig schon so weit in die Tiefe gesunken, daß sie kaum
uoch den zwanzigsten Theil ihrer frühern Größe über
Wasser zeigt, ja bei Springflut liegt dieselbe zuweilen schon
ganz unter See. Die Geometer, welche mit der Aus-
Messung der Küste beauftragt waren, haben berechnet, daß
die Ufer der Delawarebay seit ihrer ersten Feststellung
im Durchschnitt um 7 Fuß verringert worden sind. Seit
der Colouisatiou dieser Länder beträgt ihre Depression für
jedes Jahrhundert 1,8 Fuß.
In Grönland, welches wir als einen Theil Nord-
amerika's betrachten, scheint der Act der allmäligen
Senkung noch rascher vor sich zu geheu. Die Eskimo's
kennen dies Phänomen schon lange, und auf der Ostseite
haben die Dänen dasselbe an einer Küstenstrecke von 125
geogr. Meilen seit Anfang des vorigen Jahrhunderts dnrch
wirkliches Ausmessen bewahrheitet. Daraus folgt also
im Allgemeinen die Wahrscheinlichkeit, daß sich Nord-
amerika in seiner polaren Zone eben so senke,
wie Nordeuropa und Nordasien sich hebe.
Aus ähnliche Weise, wie man aus deu Erhebuugs - und
Senkungsmerkmalen der Küsten mit großer Wahrschein-
lichkeit auf diese Thätigkeit der zugehörigen Eontinente
v Senkungen der festen Erdrinde sc. 221.
zurückschloß, suchte man auch aus der Oscillatiou der In-
seln deu Rückschluß auf die Erhebung und Senkung der
submarinen Erdoberfläche zu machen, und es ist zu bekuu-
den, wie man gerade in dieser Hinsicht zu sehr befriedigenden
Resultaten gelangte. Die von dem veränderten Meeres-
stände bewirkten Allshöhlungen, parallelen Terrassen-
formen, Eouchylieuablagerungen, welche sich fast ohne Aus-
nähme bei allen Jilfeln des Großen Oceans eben so
deutlich zu erkennen geben, wie an den Gestaden der Alten
und Neuen Welt, lassen es kanm bezweifeln, daß derGrnnd
dieses Weltmeeres dem allgemeinen Wechsel der Höhe der
Erdrinde mit unterworfen ist. Alle diese Thatsachen, welche
größtenteils durch die Werke der Polypeu erst in das
Reich unsrer Erfahrung gelangt sind, besitzen eine hohe
Bedeutung für das Studinm der Geographie, und wir
dürfen es nicht übersehen, daß wir dieselben ganz Vorzugs-
weise deul Scharfsinne Darwins zu danken haben. Durch
das sorgfältige Vergleichen seiner Beobachtuugeu mit denen
seiner Vorgänger hat dieser berühmte Geolog Resultate
erzielt, die uns die Erhebuugs- und Senknngsprozesse
dieser submarinen Erdrinde so klar vor Augen stellen, als
ob wir sie direkt hätten beobachten können.
Alle Reisenden, welche den Großen Ocean durch-
streiften, waren erstaunt über die Menge lrnd die Größe
der Korallenriffe, die mitteil im Weltineere an vielen
Stellen über die Oberfläche hervorragen. Einige dieser
Riffe umlagern die Inseln und selbst Inselgruppen wie
Festungsmauern, welche den Zugang sehr erschweren oder
gar unmöglich machen. Anderen fehlt jede Insel und
Landesnähe, sie tragen aber selbst eine dünne Erdschichte
auf deu hervorragenden Spitzen, in welcher der Pflanzen-
wuchs vortrefflich gedeihet; diese führen den Rainen Atolls,
nnd sie ruhen unmittelbar auf beut Grunde des Meeres.
Da wo die Gebäude der Polypeu und Madreporeu uoch
nicht bis zu der Oberfläche des Meeres emporgeführt wor-
den sind, erkennt man doch in ben darüber hinwegstrei-
chenden Wogen eine schäumende Brandung, ein Warnnngs-
zeichen für den Seemann. Andere lioch weniger herauf
ragende Korallengebilde erfreuen das Auge oft sehr durch
ihre blendend weißen und schönen rothen Farben. Einige
dieser Korallenriffe ragen hoch aus dem Wasser hervor und
sehen aus wie „Druidensteine", welche im offenen Meere
von Riesen aufgebaut sind. Aus einigen Atolls wachsen
schlanke Palmen einzeln oder auch in kleinen und größeren
Hainen. Diese Atolls nehmen vorzugsweise unsere Aufmerk-
samkeit in Anspruch; ihre Gestalt gleicht meistens einem
Ringe, der von oben gesehen sich zu eiuenl auf bcm Meere
schwimmenden Riesenkranze aus Palmblättern gestalten
würde.
Woher die meist ringförmige Gestalt derAtolls? Man
konnte nur Hypothesen aufstellen und mußte sich einfach
mit der Annahme begnügen, daß diese Form eine „That-
fache der Natur" sei, deren Ursache sich eben so wenig aus-
finden lasse, als der Grund, warum der Stamm eines
Baumes rund ist nnd warum das Nest einer Schwalbe die
charakteristische Form eines Schwalbennestes hat. Diese
ganze Untersuchuug hat nur so viel ergeben, daß die Ko-
rallenbänke überall eine felsige Hervorragung im Unter-
gründe des Meeres zur Grundlage haben, daß aber die
Ring form, womit sie sich über das Meer erheben, ganz
unabhängig sei von der jener submarinen Her-
vorragung.
Es ist nun leicht, den Erhebungsprozeß des Meeres-
grün des an den über das Niveau hinausragenden Inseln
zu eonstatiren, da die Zeiche» des frühern Wasserstandes
in den von den Polypen aufgebauten Kalksteiuufern sichtbar
222
Aus allen Erbtheilen.
zurückbleiben. Sind solche Inseln der Erhebung nicht
unterworfen gewesen, so werden sie gewöhnlich von den
ringförmigen Korallenriffen umgeben, aus deren wachsender
Entfernung von den Gestaden der Insel ein Rückschluß auf
die Senkung des Untergrundes möglich ist; läßt sich dabei
gar kein Wechsel ausfinden, so nimmt man an, daß auch
der Untergrund keiner Veränderung unterworfen gewesen
sei. Bei dieser Art der Untersuchung hat man gefunden,
daß die Korallenthiere in einer Meerestiefe von 100 bis
150 Fuß leben und bauen können. Zuweilen steigen die
kalkhaltigen Sandsteinfelsen, welche die gewöhnliche Um-
hüllung der Korallenriffe bilden, zu noch viel größerer Tiefe
hinab, woraus denn klar hervorgeht, daß sich hier der
Meeresgrund gesenkt habe. Manchmal haben die Korallen-
thiere ihre Bauten nur wenige Fuß unter dem Niveau
begonnen, und wenn dann der Meeresgrund dem Sinken
unterworfen ist, so bauen sie in eben dem Maße empor,
um in dem Bereiche des Lichtes zu bleiben, welches zu
ihrem Leben nöthig ist. Man sieht, wie sehr verwickelt
hier die Umstände sind, aus denen der Forscher seine That-
fachen für die Oscillation der Erdrinde zu holen hat; um
so mehr ist es daher anzuerkennen, daß man in dem Stre-
ben nach befriedigendem Aufschlüsse nie erkaltete, sondern
muthig bis zum glücklichen Siege vorschritt.
Aus allen Erdtheilen.
Begrüßung eines Europäers in China. Dem Chinesen
fällt es schwer, irgend eine europäische Sprache zn erlernen und
noch schwerer, dieselbe zu sprechen. Er sann es nicht, ihm
fehlen dafür die Organe. Er hat z. 33. kein R, und muß statt
dieses Konsonanten eine andere Liquida nehmen, das L; ans
Ende vieler Wörter hängt dann der Chinese noch ein i. Das
Bedürsniß des Handelsverkehrs hat aber auch im Blumenreiche
der Mitte, oder genauer ausgedrückt, in den Hafenplätzen des-
selben eine Geschäftssprache geschaffen, die allerdings nur
etwa ein halbes Tausend Wörter zählt und für den Umgang
ausreicht; sie ist aus euglischen und chiuesischeu Ausdrücken in
wunderlichster Weise zusammengesetzt und wird gewöhnlich als
Pitsche'n-Englisch bezeichnet. Das englische Wort ^'„Ge-
schäft" business, kann der Chinese nicht aussprechen, er hat
dasselbe iu Pitschen umgewandelt. Wenn er sprechen will:
„Du sagst eine Unwahrheit," so drückt er das so aus: „Iu
mele lai pitschen (you make lie pitchen), d, h. Du machst
ein Lügeugeschäft. Er spricht auch von Lieb esgesch ästen,
von GötteraubetNNgsgeschästeN X. (love pitchen'; tschin
tschin joss pitchen). Wer in die Wohnung eines Europäers
tritt, fragt den Diener: Herr So und So hab got? b. h. ist er
zn Hause? Die Antwort wirb lauten: Hab got topside, oder
inside oder downside, der Herr ist oben, oder im Zimmer,
oder unten.
Im Anfange des Jahres '1866 kam ein angesehener Mann,
der seit Jahren in Canton wohnt, nach längerm Aufenthalt in
Deutschland, nach China zurück. Er wurde von seinen Weizen-
gelben Freunden begrüßt und sie redeten mit ihm in der ele-
gantesten Pitfcheusprache. Wir entnehmen einem Privatbriefe
Folgendes:
Catchee littie chiio? (Ein kleines Kind gekriegt?) Das
war die erste Frage. Die Gemahlin des betreffenden Herrn ist
nämlich ans klimatischen Rücksichten nach Europa zurückgekehrt.
Antwort des Europäers: No catchee. (Keins gekriegt.)
Weitere Frage: Whatfore no catchee he? (Weshalb keins
gekriegt?)
Antwort: This belong joss pitchen, he no pay me. (Das
ist Gottes Geschäft; er hat mir keins gezahlt, d. h. gegeben.)
Gegenfrage an einen Chinesen: Catchee how muchee chilo?
(Wie viele Kmder haben Sie?)
Antwort: Fouli. (Vier.)
Frage: IIow muchee boys ?
Antwort: Allo bull chilo; cow chilo no maki count of.
(Nur Bullenkinderknaben; Kuhkinber, d. h. Mädchen,
zähle ich gar nicht.)
Unsere Leser erinnern sich, was wir neulich in unseren Auf-
sätzen über das Haus- und Volksleben der Chinesen in Bezug
auf die Geringschätzung gesagt haben, in welcher das weibliche
Geschlecht bei den Männern des Blumenreiches der Mitte steht.
_ Wrrthshansschild in der Capcolonie. Bei Gelegen-
heit des -putschen-Englisch fällt uns ein, baß wir einmal eine
merkwürdige Wirlhshansreklame gelesen haben. In Ländern, in
welchen verschiedene Nationalitäten leben, sind die Aushänge-
schilder mehrsprachig, bas ist bekannt; boch pflegen bie Gast-
wirthe bei uns in Europa sich wenigstens nicht mit lateini-
schen Febern zu schmücken nnb von Poesie ober Versemachen
ist ohnehin bei ihnen nichts zu verspüren; höchstens enthalten
bie schanberhaften Rechnungen Worte, bie sich schlecht reimen,
etwa: bougie und logis; oder dejeuner und diner; denn ein
„vornehmer Hotelier", der nie ein Gastwirth sein will
(was er ohnehin auch uicht ist, noch weniger ein Herbergsvater
der guten alten Zeit) wird doch nicht so „ungebildet" sein, dem
Menschen, welcher bei ihm geschlafen und gegessen hat, das Fell
deutsch über die Ohren zu ziehen; er thnt es „vornehm",
französisch. Doch das beiläufig.
Jü der Capcolonie leben Holländer und Engländer, welche
Wirthshäuser besuchen; Kaffern und Hottentoten besuchen noch
keiu „Hotel", werden es aber thun, wenn erst die „allgemeine
(Zivilisation" bis zu ihnen gedrungen sein wird, d. h. am St.
Nimmermehrstage. Nun erzählt Cousut Lyons McLeod iu
seinen „Travels in Eastern Africa", Loudou 1860. I. S. 95,
er sei von Capstadt nach Simons Town gefahren. Etwa eine
Stunde von diesem Ort entfernt, hielt er vor einem Gasthause.
Dasselbe hieß:
Zum sanften Schäfer der Salisbury-Ebene.
An einer weit aus dem Giebel hervorragenden Stange hing
ein großes Brett mit folgender Inschrift:
M u 11 u m in parvo! Pro bono publico!
Entertainment for man and beast all of a row.
Lekker kost as much as you please
Excellent beds without any fleas.
Nos patriam fugimus: now we are here,
Vivimus, let us live by selling beer.
On dit, ä boire et ä manger ici;
Come in and try it, whoever you be.
Also ein viersprachiges Wirthshausschild.
Die Schuldenlast in den Bereinigten Staaten von Nord-
amerika.
Wir finden in der nenyorker „Tribüne", einem Blatte, das
zu deu am meisten verbreiteten in der Union gehört und die
Ansichten der ertremsten Ultraradikalen vertritt, folgende amt-
liche und unerbittliche Ziffern.
Seit 1791, so schreibt die „Tribüne", ist bie Nation al-
schulb nur zwei Mal bis unter 1 Mill. Doll gesunken; das
war 1835 und 1836.
ketl höchsten Staub nach dem Kriege
von 1812. Damals betrug sie 127 Mill. Diese wurde in deu
nächstfolgenden 13 Jahren fast ganz abbezahlt. Im Jahre 184Ü
war sie wteoei- auf 64 Mill. gestiegen.
Vom Anbeginn bes Krieges gegen den Süden ist sie nicht
Aus allen
in arithmetischer, sondern man kann sagen in geometrischer Pro-
gression gestiegen. Hier die Zahlen. Die Staatsschuld betrug:
4. März 18G1 . 64,769,703 Doll.
1. Juli 1861 . 90,867,828 „
1. Juli 1862 . 514,211,371 „
1. Juli 1863 . 1.098,793,181 „
1. Juli 1864 . 1,740,690,489 „
1. Juli 1865 . 2,682,593,026 „
Also Während des ersten Finanzjahres wurde, zur Kriegs-
zeit, die Natioualschuld um 42U Mill. vermehrt, im zweiten um
584, im dritten um 642, und im vierten um 942 Mill. Doll.
In den vier Jahren: bis 1. Juli 1861 und bis dahin 1865
betrugen die Einnahmen der Bundesregierung — exclusive von
Anleihen und Schatznoten — 762,964,386_ Doll und zwar so,
daß auf das erste Jahr noch nicht 52 Mill, auf das letztere
aber schon 33,714,605 entfallen. Das Volk mußte gegen früher
das Achtfache an Zöllen, Steuern 2c. für die „Union" auf-
bringen.
Zieht man von jenen 2,682,593,026 Doll. die Schuld ab,
welche vor dem Ausbruche des Krieges vorhanden war und
rechnet man die dafür erforderlichen Zinsen hinzu (zusammen
etwa 89 Mill.), so bleiben 2,601,593,926 Doll.; hinzurechnen
muß man die Einnahme aus allen Quellen, abgesehen von
Schatznoten und Anleihen; also 762,964,386 Doll.
Somit kommen auf die vier Kriegsjahre 3,364,557,914 Doll.
Doch ist nicht diese ganze Summe für Kriegskosten verausgabt
worden; für die sämmllichen Civilausgaben entfallen 146,911,575
Doll. Auch diese Ausgaben stiegen; während sie sich 1862 mit
24% Mill. bezifferten, betrugen sie 1865 schon mehr als
59 Mill. Im Jahre 1862 zahlte die Union an Pensionen
nur 879,583 Doll., aber drei Jahre später waren dieselben auf
9,291,619 Doll. gestiegen und von 1866 an betragen sie reich-
lich 13 Mill. Doll.
Bis zum 1. Juli 1865 sind unmittelbar für Kriegs-
zwecke verausgabt worden 3,293,296,986 Doll. Rechnet man,
was gering veranschlagt ist, noch 259 Mill. für Militäraus-
gaben' seit dem 1. Juli' 1865 hinzu, so stellen sich die Summen,
welche der Krieg erfordert hat, auf 3'/s Milliarden Doll., dem-
nach reichlich aus 6999 Mill. deutscher Thaler oder 24,99t),OUO,999
Francs!
So viel betrugen lediglich die Ausgaben des Bundes.
Die einzelnen Unions - Staaten hatten ihrerseits
kolossale Ausgaben, die man noch nicht genau beziffern kann;
einem Bericht an den Congreß zufolge sind sie auf etwa
467,954,364 Mill. Doli, veranschlagt worden.
Ferner muß man in Anschlag bringen die sehr belang-
reichen Ansgaben der einzelnen Ortschaften, die insbesondere
für den Ankauf von Rekruten und Soldknechten hohe Anwerbe-
Prämien zahlten, die z. B. im Staate Rhode Island bis auf
1599 Doll. für jeden „Patrioten" stieg, welcher die südlichen
„Rebellen" bekämpfen sollte.
Die „Tribüne" veranschlagt die Gesammtschulden des
Bundes, der Einzelnstaaten und der Mumcipalüäteu auf mehr
als 4,599,999,999 Doll. Damit entfallen für jeden
Tag der Kriegszeit, von dem Angriff auf Fort Sumter
bis zum Fall von Petersburg, 3,199,999 Doll. —
Aus anderen Blättern ersehen wir, daß die Staats- und
Countysteuern im Staate von Neu York 1864 nur 7,957,266
Doll. betrugen, was auf jeden eingeschriebenen Wähler 35 Doll.
78 Cents betrug; im Jahre 1865 waren sie auf 13,749,465
Doll. gestiegen, also auf 79 Doll. 15 Cents für jeden Wähler.
Die Steuern hatten sich also allein für Staat und Countis
verdoppelt.
Den Gefammtverlust, welchen die Südstaaten durch
den Krieg, insbesondere durch die von den Nordarmeen ange-
richteten Verheerungen erlitten habeu, schätzt Hauptmann Manry,
der berühmte Hydrograph, auf 7999 Mill. Doll.
Die Buu des ausgaben werden nicht beträchtlich sinken,
weil die Geldvergeudung fortdauert. Der Rumpfcongreß hat
für das Jahr 1865 für Neger, welche nicht arbeiten, 11,584,599
Doll. bewilligt. Darunter befinden sich als Ansgabeposten:
Bekleidung für Neger 1,759,999 Doll., Rationen und
Speise für'Neger 4^106,450 Doll., Eisenbahnbeförde-
rung für die N eger 1,989,999 Doll. Für arme Weihe
im Süden ist kein Pfennig bewilligt worden, und das ist
„Philanthropie" der Puritaner.
Die Colonie Cananea in der brasilianischen Provinz
San Paulo. Die zu Joinville erscheinende deutsche „Colonie-
Zeitung" (ein sehr verständig redigirtes Blatt) enthält Fol-
qendes:
„Die seltsame Erscheinung, daß die Insel, auf welcher die
Erdtheilen. 223
Villa Cananea kurz nach der Entdeckung Brasiliens von den
Portugiesen vor 325 Jahren erbaut wurde, seit jeuer Zeit nur
zu demselben Zwecke, zum Reisanbau, benutzt wurde uud damit
einen Abschluß jeder weitern Entwicklung gefunden zu haben schien,
hat das augreuzende Festland Jahrhunderte lang der Wildniß
überlassen. Indianer und Thiere des Waldes hausten hier unge-
stört bis in die neueste Zeit. Erst seit die Dampfschifffahrt
den Verkehr beschleunigt uud die Villa Cananea mit berührt
hat, kam der Gedanke auf, auch dieses vom Meer begrenzte
unbewohnte Festland der Bevölkerung zugäuglich zu machen.
Die Entdeckung, daß Land und Klima gleich gut uud zur Kultur
empfehlenswert!) seien, führte zu Vermessungen. Der Distrikt
Cananea gehört zwar noch zur Provinz San'Panlo, zeigt aber
das Charakteristische der Provinz Parana, an deren Grenze er-
liegt, und hat ein Klima, wie es Aerzte ihren Reconvalescenten
nicht besser empfehlen können.
Als nun der außerordentliche Gesandte der schweizer Eid-
genossenschast, Herr v. Tschudi, für eine Anzahl seiner, als
Parcerie-Kolonisten in der Provinz San Paulo lebenden
Laildslente die Regierung um einen geeigneten Platz ersuchte,
um diese letzteren selbstständig darauf anzusiedeln, wurde ein,
3% Legoas von der Villa belegenes Quadrat, 2 ^egoas Länge
und 2Legoas Breite, vermessen und dazu augewiesen. So ent-
stand vor ungefähr drei Jahren die Colonie Eana-
nea. Wie in D. Francisca die meisten ersten Colonisten nicht
die geeignetsten waren, ganz so ist es auch hier. Es war ein
langsames Dahinvegetiren. Jetzt erscheint mit einem Male eine
Wendung. Die Einwanderung der Nordamerikaner aus den
Südstaaten, sowie die einiger'Polen lenkte den Blick auf diese
herrlichen, noch unbewohnten Landstriche und damit eröffnete
sich zu gleicher Zeit die Aussicht auf Verwirklichung des längst
beabsichtigten Plaues, eine Eisenbahn von der Meeresküste an
durch den Distrikt Cananea bis ins Innere, bis nach der Terra
Araquara herzustellen. Der berühmte Afrikareisende Kapitän
Burton, gegenwärtig englischer Eonsul in Santos, wurde
von einer Gesellschaft' Unternehmer zu dem Zwecks erkoren,
um eine Prüfung des Terrains zn unternehmen, die bereits
geschehen und im Urtheile äußerst günstig uud befürwortend
ausgefallen ist, so daß an dem Zustandekommen des Unter-
nehmens nicht mehr zu zweifelu sein dürfte.
Fast gleichzeitig mit Kapitän Burton erschienen mehre
Amerikaner. So der Pfarrer Ballard S. Dnnn, Abgeord-
neter einer Gemeinde von 169 Familien, aus dem Süden von
Nordamerika; desgleichen zwei andere Abgeordnete einer Ge-
meinde von 199 Familien; der Eine. Bowen, war Oberst in
der aufgelösten Südarmee, der Andere, Malton, war Major in
derselben. — Drei andere Amerikaner wollen eine Schneide-
mühle anlegen. Die unleugbaren Vortheile der nahen Meeres-
küste bestimmten die Ersteren, besonders nachdem sie sich von
der Fruchtbarkeit des Landes überzeugt hatten, die Regierung
uin geeignete Ländereien in unmittelbarem Anschlüsse au die
Colonie Cananea zu ersuchen. Die drei Unternehmer haben
schon die Maschinentheile für zwei Schneidemühlen mit dem
Dampfer der Intermediär-Linie, auf dem sie von Santos ge-
kommen, nach der Villa mitgebracht. Bereits sind mit HÜse
des Directors, Herrn Schmidt, zwei Wasserfälle besichtigt,
nnd es fand sich, daß dem Unternehmen kein Hindernis? mehr
im Wege steht.
So wird denn mit einem Male ein bis jetzt unbenutzter
Erdenwinkel, wo Tausende Platz finden können, in seinen Ur-
ansängen bemerkbar, und wenn derselbe, vom Meere ab pro-
gressiv fortschreitend, in einem eigenen Hafen seinen Anfangs-
pnnkt, und in einer Bahn nach dem Innern seine Verkehrsader
hat, so wird auch drüben in Deutschland die Ueberzeuguug sich
Bahn brechen, daß man hier, wohlfeil und gewiß, seinen Herd
zu bauen Gelegenheit bat.
Einwohnerzahl Brasiliens. Nach den neuesten Berichten
(1866) der Provinzpräsidenten beträgt die Einwohnerzahl von
Brasilien gegenwärtig etwa 9,196,999.
Davon kommen'auf die Provinz Amazonas 79,999, Para
259,999, Maranhon 499,999, Pianhy 175,999, Ceara 486,999,
Rio Grande do Norte 219,999, Parahyba 269,999, Pernam-
buco 1,189,999, Alagoas 259,999, Sergipe 259,999, Bahia
1,299,999, Espirito 'Santo 55,999, Rio de Janeiro 859,099,
Stadt Rio de Janeiro (Mnnicipio neutro) 499,999, St. Paulo
890,909, Parana 199,999, St. Catharina 129,999, Rio Grande
do Sul 420,000, Miuas Geraes 1,350,000, Goyaz 200,000 und
Matto Grosso 80,000.
224
Aus allen Erdtheilen.
V. X. Export der brasilianischen Provinz Cearä. Im
Monat November hat die Provinz Cearä exportirt:
Kaffee..........30,834 Arrobas (32 Pfd.) im Werthe von 193,227 Milreis
Baumwolle . . . 9,258 „ „ „ „ 154,362 „
Zucker ..... 16,165 „ „ „ „ 29,077 „
Trockene Häute. . 3,815 „ „ „ „ 19,075 „
Caoutschouk ... 396 „ „ „ 3,564 „
Biolete..........420 „ „ „ „ 143 „
Carrapicho (Drogne) 61 „ „ „ „ 56 „
Carnanba-Wachs 102 „ „ „ „ 614 „
Talg..........67 „ „ 214 „
Total 400,332 Milreis
Gibt es Pfahlbauten in Mecklenburg? Wir finden in
den „Blättern von der Saale" (vom 1. Mai 1866) folgendes
Schreiben aus Rostock vom 23. April, das wir ganz einfach
mittheilen:
„Der Entdecker der Pfahlbauten in Mecklenburg, Sergeant
Büsch aus Wismar, ist mit 28,000 Thlr. flüchtig geworden und
auf dem Wege nach Amerika. Ein mecklenburgischer Polizei-
fergeant und 'ein Hamburger Polizeischreiber sind dem Flüchtigen,
der einen Vorsprung von drei Tagen hat, nachgesandt, um ihn
von Neuyork zurück zu bringen. Dieser Vorfall hat hier großes
Aufsehen gemacht uud in der Presse eine eifrige Diskussion der
Frage angeregt, ob nicht die Entdeckung von Pfahlbauten in
hiesigem Laude auf einem Schwindel beruhe und die Sache
nicht vielmehr allein der ingeniösen Erfindungsgabe und Selbst-
sabrikation des Herrn Büsch zn verdanken sei. Gewiß ist, daß
hier schon manche Zweifel rücksichtlich der Richtigkeit der
Entdeckung lautbar geworden sind, uud hat bereits der int
vorigen Sommer hier anwesende Professor Morlot, ein bedeu-
tender Kenner der Pfahlbauteu, den ganzen fchweriner Pfahlbau
für unrichtig erklärt. Es wäre nicht das erste Mal, daß die
Herren Alterthümler getäuscht sind. Ward doch vor Kurzem
von einem französischen Gelehrten (dem Abbe Domenech) auf
Koste» der französischen Akademie das angebliche Tagebuch eines
Ur-Indianers im Faesimile herausgegeben uud mit gelehrten
Anmerkungen begleitet, welches sich später, wie durch einen
deutschen Gelehrten dargethan, als das Exercitienhest eines
deutscheu hinterwäldlerischen Jungen herausgestellt hat. Hier
passirte im vorigen Sommer der Fall, daß uicht weit vom
Schweriner See in Gegenwart unsers gelehrten Archivrathes
Dr. Lisch und verschiedener hochgestellter Personen ein angeblich
neu entdecktes Hünengrab aufgegraben ward, in welchem man
einen großen Stein fand mit der darauf eingegrabenen myste-
riösen Inschrift: Palum Snepus. Man glaubte schon eiue neue
Ursprache entdeckt zu haben und war entzückt über den Fund,
bis man schließlich erkannte, daß man in grausamer Weise
mystisieirt worden sei, denn die räthselhaften Worte, rückwärts
gelesen, lauteten plattdeutsch: Muläp süp ens, d. h. Maulaffe,
saufe mal."
Die Schulbildung in Mecklenburg. Wir sind iu der erfreu-
lichen Lage, aus diesem Lande etwas Angenehmes mittheilen zu
können. Vor etwa drei Vierteljahren fanden wir (wenn wir
uns nach so langer Zeit noch recht erinnern in einem Hamburger
Blatte) eiueu Aufsatz über die Vernachlässigung des Volkssch'ul-
wesens in jenem Großherzogthume. Derselbe theilte, angeblich,
amtliche Ziffern mit und da man gewohnt ist, aus jener Region
der Ostsee manches Eigentümliche zu vernehmen, so fanden wir
keine Veranlassung, Zweifel in jene Mittheiluugen zu setzen.
Wir entlehnten ihr einige wenige Zeilen. In Bezug auf diese
erhalten wir erst jetzt folgende Berichtigung, welche unbedingten
Glauben verdient, da sie vom statistischen Bureau iu Schwerin
herrührt:
„Der Artikel über die Schulbildung in Mecklen-
burg, welcher sich in der 10. Lieferung des VIII. Bandes des
„Globus" S. 320 befindet, enthält unter Bezugnahme auf eiue
Arbeit des großherzoglich mecklenburgischen statistischen Bureaus
Zahlenangaben, die, wie der Einblick in die betreffende Arbeit
sofort ergibt, ohne Ausnahme völlig unrichtig sind.
Es 'ist z. B. gesagt, daß in der Ritterschaft 39 Procent der
eingestellten Rekruten weder lesen, noch schreiben, noch rechnen
konnten. In der Arbeit des statistischen Bureaus findet sich
für diese Zahl gar kein Anhalt. Wohl aber ist darin nach-
gewiesen, daß im Durchschnitt der Jahre 1858 bis 1862 in der
Ritterschaft eine zureichende Fertigkeit hatten: im Lesen 81 Proc.,
im Schreibeil 46 Proc., im Rechnen 68 Proc. Für das Land
im Ganzen stellen sich die Verhältnißzahlen ans87Proc., 63 Proc.
und 81 Proc.
Es ist weiter gesagt, daß Schulbildung hatten: im ganzen
Lande 15, eine mangelhafte 59 nnd gar keine 26 Proc. Dieser
grundlosen Angabe ist die vom statistischen Bureau uachgewiefene
Thatsache gegenüberzustellen, daß von je 100 geprüften Rekruten
33 beim Lesen von Gedrucktem das Prädikat „gut" erhielten,
und daß nach der normirenden Instruktion _ die Leistung nur
dann mit dem Prädikate „gut" bezeichnet wird, „wenn der zu
Prüfende einen längeren, mit deutschen oder lateinischen Schrifl-
zeichen gedruckten Satz deutlich und fließend vorlesen kann, wie
es von einem Gebildeten verlangt wird". Wie viele Rekruten
gar keiue Schulbildung haben, geht aus deu vom statistischen
Bureau mitgetheilten Zahlen überhaupt nicht hervor. Wohl
aber ersieht'man aus denselben, daß unter je 1000 Rekruten
sich in dem Zeiträume von 1858 bis 1862 nur 2 fanden, die
zur Zeit ihrer Einstellung in das Militär gar nicht lesen
konnten; daß dagegen unter je 1000 sich 68 fanden, die gar
uicht schreiben, und daß unter 1000 Rekruten 194 waren,
die gar nicht mit geschriebeneu Zahlen rechnen konnten, d. h.
nach der Instruktion nicht wenigstens für einige von den vier
Species in ganzen Zahlen die gestellten Aufgaben fehlerfrei zu
lösen verstanden.
Um den Lesern eine wahrheitsgetreue Uebersicht des Bil-
dungsstandes der Rekruten und zugleich des Einflusses zu geben,
welchen die Ertheilnng von Unterricht im Lesen, Schreiben
und Rechnen während der zweijährigen Militärdienstzeit hat,
entnehmen wir der Arbeit des statistischen Bureaus folgende
Resultate.
Voil 1000 Geprüften konnten bei den Prüfungen
der Rekruten von der Großbeurlaubten von
1858 bis 1861 1860 bis 1863
1) Gedrucktes leseu: gut . ... 322 ....... 544
etwas. . . 544 ....... 422
bnchstabiren.131.......34
gar nicht. . 3.......—
2) Geschriebenes lesen: gut .... 171.......335
etwas ... 393 ....... 471
buchstabireu. 33».......175
gar nicht . . 101.......19
3) Schreiben: gut.... 131.......253
etwas ... 491 ....... 606
Buchstaben . 303 ....... 134
gar nicht . . 75....... 7
4) Rechnen: gut ... . 58.......100
ziemlich gut . 217 ...... . 336
etwas . . . 525 ....... 552
gar nicht . . 200 .......12
w. H. Mineralwässer in Siebenbürgen. Weuige Länder
der Erde sind an trinkbaren Mineralwässern so reich als Sieben-
bürgen. Die meisten und besten Quellen finden sich indeß hier
nur im nordöstlichen nnd östlichen Theile des Landes, da hier
allein die Trachytgebirge iu massenhafter Entwicklung austreten.
In deu rauhen Hochthälern des Hargittagebirges, umgeben von
dunklen Tannenforsten, entspringen der geheimnißvo'llen Erd-
tiefe Mineralquellen von bedeutender Reichhaltigkeit und dem
besten Geschmack. Trotz der Abgelegenheit und der wenig kom-
fortablen Einrichtung sind solche Quellenfundorte als Bäder
viel besucht. Namentlich aus der benachbarten Walachei und
Moldan kommen alljährlich zahlreiche Bojarenfamilien in die
siebenbürgischen Waldbäder, besonders nach Borzek, Elöpatak
oder Tu'snad, um Heilung für wirkliche oder eingebildete
Krankheiteil zn suchen. Uebrigens ist auch der Export von
Mineralwässern schon sehr bedeutend. Nach amtlichen Aus-
weisen betrug im Jahre 1864 der ErPort dieser Mineralwässer
9598 Zollcentner. Freilich überragte Böhmen mit seiner Ans-
fuhr diese Masse noch bedeutend, da hier der Export die nam-
hafte Ziffer von 24,016 Zentner erreichte. Dieses Uebergewicht
hat jeues Kronland wohl zunächst nnr seiner bessern geogra-
phischen Lage und den volkreicheren Nachbarländern zu verdanken;
die vorzüglicheren siebenbürgischen Wässer dürften den böhmischen
wohl nicht nachstehen an Qualität. Wenn eiust die längst ge-
wünschte Eisenbahn Siebenbürgen mit den entfernteren Ländern
in billige Verbindung setzen wird, so ist unzweifelhaft, daß der
Export von Mineralwässern selbst den Böhmens weit überragen
wird. —
Herausgegeben von Karl Andree !» Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Herrn an u I. Meher iu Hildburghansen.
Druck nnd Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildbnrghausen.
Sevilla, die Königin von Andalusien.
Das alte Hispalis. — Herkllles der Gründer. — Jtalica. — Jahrmarkt von Santi Ponce. — Alcala de Guadaira. -- Wasser-
leituna und Mühlen. — Osnna. - Die Straßen von Sevilla. — Die Sevillanerinnen und ihre Tracht. — Spanisches Post-
wesen. — Frauennamen. — Wappen und Wahlspruch der Stadt. — Murillo, die Inquisition, Tenorio-Don Juan. — Das
Stadtviertel Macarena. — Die öffentlichen Plätze und Spaziergänge. — Die Giralda und die Kathedrale.
„Die schöne Stadt des Weins und der Gesänge" liegt
im Herzen Niederandalusiens und bildet einen wahren
Schmuck der iberischen Halbinsel; es ist südliches Kultur-
leben dort.
Die Sevillaner sind stolz auf das hoheAlterthum dieser
später dieAraberJsbilia gemacht und aus diesem Namen
sei allmälig Sevilla geworden. Gewiß ist, daß der Ort
in die phönieischen Zeiten hinaufreicht.
Ans der Puerta de la Carue steht eine Inschrift, der
zufolge Herkules der Gründer, Julius Cäsar der Wieder-
„Perle Spaniens"; kein geringerer Heros als der gewal-
tige Herakles habe die Stadt in eigener Person gegründet,
und die Lokalchronologen wissen, wie sie meinen, ganz
genau, daß der Halbgott das erste Haus 2228 „nach
Erschaffung der Welt" gebaut habe. Andere freilich wollen
einen phönieischen König Hispal kennen, nach welchem die
Stadt Hispalis benannt worden sei; daraus hätten
Globus X. Nr. 8.
Hersteller war und König Ferdinand, der Held, das Christen-
thum wieder einführte.
Condidit Alcides, renovavit Julius urbem,
Restituit Christo Fernandus tertius lieros.
Der alte Heros spielt überhaupt eine wichtige Rolle
in der Fabelgeschichte Spaniens, und in Sevilla heißt einer
der Spaziergänge Alameda de Hercules.
29
Ruinen von Italica. (Nach einer Zeichnung von G. Dorv.)
226 Sevilla, die Köni
Wir haben die unseren Lesern so lieben und befrenn-
detenReisendenDor6 und D av ill i er früher (Globus X,
S. 129) von Cadiz nach Sevilla begleitet und wollen ihnen
auf einigen Ausflügen folgen, welche sie in der Umgegend
der letztern machten.
Als Julius Cäsar 45 Jahre vor unserer Zeitrechnung
Hispalis einnahm, gab er ihr den Namen Julia Romula.
Im Jahre 411 wurden die Römer von den Wandalen ver-
trieben, diesen folgten die Westgothen und im Anfange des
achten Jahrhunderts erschienen die Araber. Sevilla gehörte
dann längere Zeit den Chalisen von Cordova, deren Reich
im elften Jahrhundert in mehre Theile zerfiel. Länger als
109 Jahre hatte die Stadt ihre eigenen unabhängigen
Fürsten, wurde dann den almoravidifchen und almoha-
dischen Herrschern nnterthan und war seit 1236 eine
Zeitlang maurische Republik. Diese mußte jedoch schon
im November 1248 nach einer fünfzehnmonatlichen Be-
lagerung dem castilianischen Könige Ferdinand III. die
Thore öffnen. Sie war 536 Jahre im Besitze der Mo-
hammedaner gewesen; aber den Christen sagte sie in so
hohem Grade zu, daß Alfous der Gelehrte und Peter der
Grausame sie zu ihrer Hauptstadt erhoben. Sie blühte
unter Ferdinand und Isabel!«, besonders aber nach der
Entdeckung Amerikas. Als die Bourbous in Spanien
herrschten, erhielt von ihnen Cadiz den Vorzug uud Se-
villa's Handelsblüthe sank; aber seit einem halben Jahr-
hundert hat die Stadt sich wieder mächtig gehoben.
Unweit von Sevilla, an der Straße nach Badajoz, liegt
das Dorf Santi Ponee auf der Stelle des alten berühm-
ten Italica, oder Divi Trajani Civitas, dennTrajan
war dort geboren; ebenso der Kaiser Hadrian, der Dichter
Silins Italiens und der sogenannte große Theodosins.
Gründer war Seipio Africanns, welcher Veteranen aus
römischen Legionen dorthin verpflanzte. Die Stadt gedieh
trotz der Nähe von Hispalis unter den Römern wie unter
den Westgothen; die Araber indeß zogen Sevilla vor und
nach und nach sank jenes in Ruinen. Unsere von Dor6
an Ort und Stelle aufgenommene Zeichnung gibt wieder,
was vou denselben noch übrig geblieben ist. Vor etwa
60 Jahren fand man unter denselben eine römische Mosaik,
welche ein Wettrennen römischer Wagen darstellte; dann
grub man auch einige Marmorsachen aus. Die römischen
Skulpturen in Spanien haben im Allgemeinen einen gerin-
gen Kunstwerth.
Der Jahrmarkt in Santi Ponee wird stark besucht
und bietet allerlei andalusische Ergötzlichkeiten dar. Wer
von dort aus am Guadalquivir hingeht, kommt in der Nähe
der Cartnja vorüber, eines alten Karthäuserklosters, in
welchem jetzt ein Engländer in großartiger Weise die Fayence-
fabrikation betreibt.
In der Umgegend Sevilla's sind manche Ortschaften
bemerkenswerth, z. B. Alealä de Gnadaira. Der
Name Alcalä, welcher so häufig in Spanien vorkommt,
bedeutet im Arabischen ein befestigtes Schloß. Die hier
erwähnte Stadt heißt auch Aleala de los Panaderos,
d. h. Schloß der Bäcker, weil von dort ans die Hogazas,
Roscas und andere milchweiße Gebäcke kommen, welche in
allen Straßen Sevilla's feilgeboten werden.
Die arabische Burg bietet einen großartigen und
malerischen Anblick dar; sie muß mit ihren starken Mauern
und vielen viereckigen Thürmen eine sehr feste Position
gebildet haben und wurde von den Mauren nicht mit Un-
recht als der Schlüssel? zu Sevilla betrachtet. Bei Aleala
beginnt auch die große Wasserleitung. Vielleicht ist
keine andere Stadt so reich an Onellen als diese; sie
dringen überall hervor und bilden einen Bach, der in ein
in von Andalusien.
großes gewölbtes Becken läuft; dieser ist in einen offenen
Kanal geleitet, welcher viele Mühlen treibt, und dann in
einen langen Aqnädnct von mehr als 400 Bogen, die bis
an die Thore Sevilla's reichen. Man bezeichnet diese
Wasserleitung als Canos de Carmona, weil sie eine
Strecke weit dem Weg entlang läuft, welcher nach Car-
mona führt. Das Wafser ist krystallklar und durch die
ganze Stadt vertheilt.
Wir wollen hier bemerken, daß man die von Pferden
oder Manlthieren getriebenen Mühlen als Tahonas oder
Atahonas bezeichnet, als Molinas dagegen alle, welche
durch Wasserkraft in Bewegung gesetzt werden. Merk-
würdig ist die Molina de la Mina, die Quellenmühle,
welche aus mehren großen, aus den Felsen gehauenen Ge-
mächern besteht; die Wölbung wird von gemauerten Psei-
lern und ans dem Gestein übrig gebliebenen massiven
Stützen getragen. In diesen großen Höhlen wohnen
mehre Familien; das Licht fällt von oben herab durch enge
Spalten und gibt dem ganzen Leben und Treiben in diesen
unterirdischen Räumen etwas Phantastisches. Der Weg
von Aleala uach Morou ist mit Aloepflanzen eingefaßt, die
hier bis zu einer mächtigen Größe wachsen und lange, sehr
spitze Stacheln haben. Der Bauer bezeichnet diese als
des Teufels Zahnstocher, Mundaclientes del Diablo;
sie haben aber den großen Nutzen, daß sie nndurchdriug-
liche Hecken bilden und das Vieh von Gärten und Feldern
abhalten. Moron war früher als Ränbernest berüchtigt.
In einem Volksliede heißt es sehr hübsch: „Gensdarmen
zogen aus Morou um Räuber zu suchen; diese Räuber,
liebe Kleine, sind deine Augen." Ursprung und Ver-
anlassung eines in Spanien weit verbreiteten Sprüchworts
kennen wir nicht; dasselbe lautet: „Der Hahn von Morou
hat weder Schnabel noch Federn und kräht doch fort-
während."
Eiuige Stuudeu von Moron liegt Ofnna, von wel-
chem eine berühmte spanische Grandenfamilie den Namen
führt. Pedro Giron, Herzog von Osuua, spielte unter
König Philipp III. eine wichtige politische Rolle; es fehlte
nicht an genealogischen Schmeichlern, welche ihm beweisen
Wollten, daß er von jenem alten Riesen Geryon abstamme,
der seine Rinder mit Menschenfleisch fütterte, und welchen
Hercules erschlug.
Utrera, das nach Westen hin liegt, ist eine der hübsche-
sten Städte in Andalusien und berühmt, weil es treffliche
Kampfstiere züchtet. Jetzt ist dort eine Station der Eisen-
bahn, welche von Sevilla nach Jerez uud Cadiz führt.
Dieselbe berührt Venia de las Alcantarillas und Venta
de las Cabezas de Sau Juan und sodann Lebrija, eine
hübsche Stadt, die aus einem Hügel, etwa eine Stuude
vom Guadalquivir entfernt steht.
Die Reisenden waren zu Sevilla in der Fonda de
Europa abgestiegen und hatten Zimmer im Erdgeschosse,
deren Thüren auf einen großen Patio hinausgingen, einen
Hosraum mit einem Porticus von Marmorsäulen mit
maurischen Kapitäleu. In der Mitte trieb ein Spring-
brnnnen Wassergarben hoch empor und bewässerte einen
Garten, dessen Pflanzenwuchs ein durchaus südliches Ge-
präge hatte. Da standen Bananen, Orangen nnd Citronen-
J6äume gleichzeitig mit Blüthen und Früchten und die
Dama d e noche, eine hübsche Pflanze mit gelber Blume;
diese bleibt den Tag über geschlossen, öffnet sich am Abend
und verbreitet bei Nacht einen herrlichen Wohlgeruch.
Die Calle de las Sierpes liegt so recht im Herzen
von Sevilla, unweit vom Constitntionsplatze, dem Stadt-
Sevilla, bic Königin von Andalusien,
227
Hause, der Kathedrale und deu neuen Spaziergängen,
welche man als Alameda del Duque bezeichnet. In jener
Straße kann sich der Fremde das Leben und Treiben der
Sevillaner in aller Muße betrachteu. Wagen können dort
nicht fahren, die Fußgänger sind also durchaus unbelästigt.
Namentlich gegen Abend findet sich eine große Menschen-
menge ein und das ganze Treiben gemahnt an jenes auf
dem pariser Boulevard des Italiens. Die Männer kleiden
sich nach französischer Mode, aber viele Frauen haben die
alte nationale Tracht beibehalten; sie ziehen natürliche
Blumen, welche das ganze Jahr hindurch uicht fehlen, den
künstlichen vor und tragen die Spitzenmantille mit einer
entzückenden Anmuth. Man sieht es ihnen an, daß sie
stolz darauf sind, sich Sevillanerinnen nennen zu können.
Die Sevillanerin, so sagt ein Sprüchwort, hat in ihrer
Mantille zwei Worte und diese sagen: Es lebe Sevilla!
Tiene la Sevillana
En su mantilla
Un letrero que diee:
Viva Sevilla!
Die Mantilla de tira, welche in den spanischen Volks-
liebem so oft vorkommt, unterscheidet sich von der gewöhn-
lichen Mantilla, indem der seidene oder wollene Stöfs
einen breiten Streifen am Rande hat, eine tira, die aus-
gezackt ist. Zumeist wird sie von den Stutzerinnen
(Majos) und den Cigarreras allemal mit einer unnach-
ahmlichen Zwanglosigkeit, mit acht andalusischer „soltura"
getragen. Im Volkslieds sagt eine Maja: „Mit einem
groben Stoffe aus Malaga mache ich in Sevilla größern
Eindruck als eine vornehme Dame mit ihrem Hut. Wenn
ich mit meiner Mantilla de tira durch die Straßen gehe,
bewundert mich jede^Auge und kein Herz kann mir wider-
stehen; und wenn mir ein Franchute (Franzose), dessen
Herz ich entflammt habe, nahe kommt, dann verdrehe ich
ihm den Kopf und er muß Litaneien singen."
In der Calle de las Sierpes sind die elegantesten
Läden; in ihr treiben sich auch die „ambulanten Jndn-
striellen" umher, und gerade diese bieten oft einen höchst
malerischen Anblick dar. Der Florero, Blumenverkäufer,
preist feine Dahlien, Nelken und Rosen an, und der von
einem zerlumpten Knaben geleitete Blinde ruft das große
Lotterieloos aus und bietet es Jedem an, der es haben will.
El premio gordo! Quien se lo lleva ?
An einer Ecke der Straße liegt der Corres, das heißt
die Poste-restante Post. Das Postwesen Spaniens
weicht in einigen Dingen von jenem im übrigen Europa
ab. Jeder Brief muß frankirt werden, fönst befördert
man ihn nicht und er bleibt im Bureau liegen. An den
Wänden der großen Hausflur hängen die Listas del Corres,
aus welcher die Adressen der abzuholenden Briefe stehen.
Die Eintheilnng ist zweckmäßig, denn Soldaten, Fremde,
weibliche Personen k. haben besondere Tabellen; der-
gleichen gibt es auch für verspätete und unfrankirt auf-
gegebene Briefe. Jeder Name ist mit einer Nummer
bezeichuet und die Auslieferung geht rasch von statten.
Merkwürdig ist, daß diese Listen nicht nach alphabetischer
Reihenfolge mit dem Familiennamen bezeichnet werden,
sondern nach den Tausnamen.
Jene der Frauen sind überall in Spanien, ganz beson-
ders aber in Andalusien, mystischen oder religiösen Dingen
entlehnt. Wir wollen einige anführen: Carmen, vom
Berge Carmel; Dolores, nach Unsrer Lieben Frau der
sieben Schmerzen; Trinidad, Dreieinigkeit; Coneep-
cion und Encarnaeion, Empfängniß und Fleischwer-
dnng; Rosario, nach Unserer Lieben Frau vom Rosen-
kränz; Pilar, nach Unserer Lieben Frau vom Pfeiler in
Saragossa; Belem, Bethlehem; Neyes, nach den drei
Königen aus Mohrenland; Asuncion; Amparo, nach
Unserer Lieben Frau von der guten Hilfe; Alegria :c.
Andere Frauennamen sind dem Martyrologinm ent-
lehnt :.Pepa, Pepita oder Pepiya, Josephine; Jnös,
Agnes; Rasaela; Ramona; Paea oder Paqnita,
Franziska; Angela; Hermenegilda; Rita, Mar-
garetha.
Die Vornamen der Männer sind theilweise auch eigen-
thümlich, z. B. Vargas, Ramirez, Rodriguez, Ma-
cias, Machitca. Bei den Zigeunern ist Cristobal,
Christoph, sehr beliebt; dann auch Lazarus, Juan de
Dios, Angel, Jgnacio k. , es soll aber nicht gesagt
sein, daß sie trotz dieser Heiligennamen gute Christen wären.
Taufen lassen sie sich allerdings, denn das ist Vorschrift.
Manche Zigeunerinnen heißen: Rocio, nach der Virgen
del Rocio, zu welcher in Sevilla viel gewallfahrtet wird;
Soledad, Einöde; Salnd, Gesundheit; Candelaria;
Aurora; Milagres, Wunder; Geltrudis:c.
Die eine Seite des Constitutionsplatzes nimmt das
Ayuntamiento ein, das Stadthaus, welches in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gebaut wurde, aber nicht
ganz vollendet ist. Doch steht es da als eines der schönsten
Muster jenes Renaissancestyls, den man in Spanien als
plateresco bezeichnet; der Ausdruck ist der Goldschmiede-
kunst entlehnt, und in der That haben die reichen Einzeln-
heiten der Ornamentiruug fast die Feinheit von Cifelirnngen
an Gold oder Silber. Sie sind ganz im Geschmacke der
italienischen Renaissance, und wir wissen, daß im 16. Jahr-
hundert manche italienische Künstler sich in Sevilla ans-
hielten, während Spanier nach Italien gingen, um sich
dort in der Schule Michel Angelo's zu bilden.
Wappen und Wahlspruch von Sevilla sind an
diesem Stadthause mit Geschmack und Verständniß restau-
rirt worden. Sie stammen aus dein Jahre 1311. Der
heilige Ferdinand sitzt auf seinem Throne; in der rechten
Hand hält er ein großes Schwert; neben ihm stehen die
beiden Schutzpatrone der Stadt: die Heiligen Isidor und
Leander. Die Inschrift lautet:
Sello de la muy noble ciudad de Sevilla,
Darunter steht:
NO
DO.
Die Spanier bezeichnen eine solche Devise als Lmpresa,
und die obige findet man in Sevilla an allen öffentlichen
Gebäuden; sie bildet eine Art von Rebus und es verhält
sich mit ihr in folgender Weise:
Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde Alfons der
Gelehrte durch feinen Sohn Don Sancho vom Throne
gestoßen und viele Städte empörten sich gegen ihn. Sevilla
aber blieb treu und erhielt zum Danke dafür vom Könige
diese Emprefa, welche man als den Knoten, nodo, bezeich-
net. Zwischen den beiden Sylben dieses Wortes befindet
sich eine 8, also dieGestalt einesKnotens, im Altspanischen
madexa; wenn man dieses Wort in die Mitte denkt, so
erhält man no madexa do, oder no m'ha dexado, was buch-
stäblich sagen will: sie hat mich nicht verlassen.
Außerdem dient der Knoten, einzeln genommen, als Sinn-
bild und spielt an auf das Band der Treue, durch welches
Sevilla an seinen König geknüpft war.
Auch die Devise von Ferdinand und Jsabella
kommt in Sevilla sehr ost vor. Diese Empresa oder
Emblema findet man gewöhnlich in zwei Wappenschildern
oder Feldern. Der eine Theil zeigt ein Bündel Pfeile,
flechas, der andere ein Joch, yugo. Unter den Pfeilen
steht ein gothifches F, zugleich Anfangsbuchstabe von
29*
Tas Stadthaus in Sevilla. (Nach einer Zeichnung von G. TorS.)
230 Sevilla, die Köm
Fernando und flechas; im andern ein Y als Initiale von
Yugo und Bsabel.
Zur Zeit der beiden katholischen Herrscher wurden die
Buchstaben F und Y sehr häufig nicht nur bei der Orna-
mentirung von öffentlichen Bauwerken angebracht, sondern
auch auf mancherlei Gegenständen des täglichen Gebrauches,
z. B. aus Waffen und hispauo-moreskischen Fayencen.
Unter dem eben erwähnten Joche stehen die Worte: TANTO
MONTA, und diese erklärt man auf verschiedene Weise;
am wahrscheinlichsten ist, daß sie bedeuten: Tanto monta
Fernando como Isabel, d. h. die beiden Fürsten stiegen
einer so hoch als der andere und übten gleiche Gewalt,
Autorität. Derartige Rebus waren einst in Spanien sehr
beliebt. So brandmarkte man z. B. die Sklaven mit
einen: 8 und clavo, Nagel, und stellte so das Wort
esclavo her! —
Sehr besuchte Straßen sind die Calle de Dados
und die Calle de Fraueos; in ihnen sind die Läden,
wo Kleiderstoffe, Hüte und fertige Anzüge feil geboten
werden. Fast in jeder einzelnen Straße findet man die
Gewerbtreibenden oder Handelsleute einer bestimmten
Klasse beisammen; so wohnen die meisten Bücherhändler
in der Calle de Genoa, die Goldschmiede in der Calle de
Chicarreros und die Verkäufer andalnsischer Fußbekleidung
in der Calle de Mar. Manche Straßen sind reich an
geschichtlichen Erinnerungen oder Legenden, und an einige
knüpft der Volksmund allerlei beißende Bemerkungen, z. B.
daß in der Straße der Aebte Jeder nur Onkel und keinen
Vater habe.
En la calle de los Abades
Todos han tios, ningunos padres.
Los Canonigos no tienen hijos :
Los que tienen in casa, son sobricinos.
In der Straße del Candilejo steht eine Büste König
Peters des Grausamen in einer Mauernische. Dort
erdolchte dieser Herrscher den Mann einer Frau, die ihm
gefiel, und nachdem er dieses Verbrechen begangen, ver-
nrtheilte er sich selber, hingerichtet zu werden, — aber nur
in effigie!
In der nach Murillo benannten Straße zeigt man
das Hans, in welchem der große Maler wohnte; in der
Calle de los Taveras hielt das „heilige Tribunal" seine
Sitzungen, die scheußliche Glaubensinquisition. Se-
villa's Geschichtsschreiber nehmen für ihre Stadt „die Ehre
und den Ruhm in Anspruch, daß in ihr die Wiege dieser
Einrichtung gestanden habe" : esta Santa Inquisicion obo
su comienzo en Sevilla. Der Quemadero, d.h. die
Stätte, auf welcher man verbrennt, lag vor dem Thor auf
der Wiese des heiligen Sebastian, und dort haben bis in
den Anfang des 19. Jahrhunderts noch Anto's da se,
Ketzerverbrennungen, stattgefunden. Die heilige Jnqni-
sition ist erst 1820 durch einen Beschluß der Cortes abge-
schafft worden.
Sevilla ist auch die Vaterstadt des durch Mozarts Herr-
liche Musik unsterblich gewordenen Don Juan. Sein
Hans stand in der Calle de San Leandro; sein Familien-
name war Tenorio. Die Familie hatte im Franziskaner-
kloster eine eigene Kapelle, nnd in dieser ist, wie die Sage
erzählt, der Komthnr begraben worden, welchen der Wüst-
ling Don Juan ermordete. — In der Marktstraße, Calle
de la Feria, wurden manche Erstlingsarbeiten Mnrillo's
feilgeboten; sie gingen zumeist nach Amerika nnd werden
in der Kunstgeschichte als „Ferias" bezeichnet, eben weil
sie aus dem Markte verkauft waren. Gegenwärtig treibt
m<Üu !n ^'selben Straße auch Handel mit allerlei alter-
thümlichen Sacheu, und die Aufkäufer von Antiquitäten
[in von Andalusien.
haben dort manchen guten Fund gethan, an welchem sie
hundertfachen Prosit machten. Am Donnerstage gewährt
der Platz der Feria einen sehr malerischen Anblick und
Dor£ hat dort prächtige Bauernsiguren gezeichnet. Die
Landleute bringen Kaninchen und anderes Wild, auch
Wurzeln von der Zwergpalme, die beim Volke beliebte
Nahrungsmittel sind. Bei den Bücherhändlern fanden
unsere Reisenden, welche vergeblich nach der 1603 gedrnck-
ten spanischen Ausgabe des Don Qnixote suchten, weiter
nichts als werthlose theologische Schriften und langweilige
Andachtsbücher.
In dem Stadtviertel de la Macarena wohnen fast
nur „Leute aus dem Volke", welche mit denen aus anderen
Quartieren nicht in häusige Berührung kommen und alt-
andalusifche Trachten und Sitten beibehalten haben. Des-
halb sagt man von einem jungen Mädchen der unteren
Stände, das sich diese Cigenthümlichkeiten bewahrt hat,
es sei nna moza oder nna jembra Macarena. Ein Gang
durch die pittoresken Straßen dieses Quartiers ist lohnend;
die Bewohner halten sich zumeist außerhalb der Thüren
auf. Eines Tages, sagt Davillier, traten wir in eine
Tahona, d. h. eine von Maulthieren in Bewegung
gesetzte Mühle, deren ganze Einrichtung so arabisch war,
wie der Name auch. Der Tahonero nahm uns freundlich
auf und stellte, mit der in ganz Spanien allgemeinen
Redensart, sein Haus zu unserer Verfügung. Um sein
Haupt hatte er ein Tuch geschlungen, wie das andalnsischer
Brauch ist, und während wir zeichneten, rauchte er seine
Cigarrette. Die Tahorena, ein junges Weib von etwa
20 Jahren, stand neben ihm. und hielt einen zweijährigen
Knaben im linken Arme. Sie war, wie wir sie dort sahen,
ein prächtiger Vorwurf für den Künstler, ein ächter und
rechter Typus einer hübschen Sevillanerin. —
Im Quartier der Macarena unweit von den alten
arabischen Mauern liegt das berühmte Spital del
Saugre (des Blutes); man bezeichnet es auch als jenes
de las cineo Llagas, wegen der fünf Wunden Jesu,
welche an der Vorderseite in Stein ausgehauen sich Prä-
sentiren. Das schöne, sehr geräumige Gebäude stammt
aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, hat einen
recht ansprechenden Styl nnd manche hübsche Skulpturen.
Unter den öffentlichen Plätzen ist jener der Magda-
lena am belebtesten. Dort stehen Pnestos de agna,
kleine mit blau und weiß gestreifter Leinwand überspannte
Buden, welche an jene der Acqnajnoli in Neapel erinnern;
man findet in ihnen allerlei erfrischende, mit Schnee gekühlte
Getränke: agraz, almibar, cidra, naranja, orchata de
almendra, malvabisco und wie sie weiter heißen. Sie sind
für jenes warme Klima ein wahres Labsal und geradezu
unentbehrlich.
Aus dem Mercado kann man sich von der üppigen
Fruchtbarkeit Andalusiens überzeugen. Dort liegen Me-
lonen von riesenhafter Größe, alle möglichen Südfrüchte,
Paradiesäpfel, gewaltige Zwiebeln, rother Pfeffer und
mächtige Weintrauben; dort versteht man auch das Sprüch-
wort: Wen Gott lieb hat, den läßt er in Sevilla leben:
a quien Dios quiere bien, en Sevilla le da de corner.
Aus der Alameda de Hercules befindet sich ein
Standbild des alten Heros aus einer hohen Sänle; dort
sieht man auch eine Statue des Julius Cäsar; ein anderer
Spaziergang, die Alameda de las Delicias, reicht bis
an den Guadalquivir. Dieser Spaziergang heißt auch la
Cristiua und unweit von demselben ragt die weltberühmte
Giralda empor.
Sevilla, die Koni
Die Giralda, Sevilla's Stolz, verdient ihren hohen
Ruf in vollem Maße. Dieser hohe gewaltige Thurm
steht in seiner Art einzig da; höchstens könnte man den
Campanile bei der Marcuskirche in Venedig mit ihm ver-
gleichen. Die enthusiastischen Sevillaner stellen ihn den
ägyptischen Pyramiden zur Seite und nennen ihn das achte
Wunder der Welt:
Tu, maravilla octava, maravillas
A las pasadas siete maravillas.
Ein Schriftsteller sagt: „Das schönste Land in Spa-
nien ist jenes, welches der Baetis (Guadalquivir) bespült,
und von denen, welche er durchzieht, ist am schönsten das-
jenige, auf welches die Giralda herabschaut."
La mejor tierra de Espaua
Aquella que el Betis baua.
De la que el Betis rodea
La que la Giralda ojea.
Den Fremden erzählt man gern folgende Anekdote:
Ein Engländer oder Franzose, welcher den Prachtbau zum
ersten Male sah, konnte der Bewunderung und des Rühmens
kein Ende finden. Da sagte ihm ein andalnsischer Mann
aus dem Volke in sevillanischer Mundart: „Puez zeno, no
crea uzte que la lian traido de Pariz ni de Londrez,
que tal cual uzte la ve, la hemoz hecho acä en Zeviga!"
(Wohlan, Herr, glauben Sie ja nicht, daß man ihn aus
Paris oder London hergebracht hat; wir haben ihn, so wie
Sie ihn sehen, hier in Sevilla gemacht.)
Der Ueberlieferung zufolge wäre der Baumeister ein
Araber, den man Dfcheber oder Geber nennt; er soll der-
selbe sein, welchen man für den Erfinder der Algebra ans-
geben möchte; andere bezeichnen als den Architekten einen
Abu Yussuf Iakub, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts
gelebt haben soll. Gewiß ist, daß die Giralda als ein
zugleich gewaltiges, imponirendes und anmnthendes Monn-
ment dasteht. Die Backsteine des Thurmes spielen ins
Rosa und haben bei Sonnenschein einen herrlichen Farben-
ton. Der Thurm ist viereckig; die Mauern sind ungemein
stark; das Innere besteht gleichfalls aus mächtigem, vier-
eckigem Mauerwerk von 23 Fuß Dicke, und dieser kolossale
Mauerpfeiler reicht bis zur ganzen Höhe des alten arabi-
schen Bauwerkes hinan, 250 Fuß! Zwischen dieser Masse
und den vier äußeren Mauern befinden sich kleine Fenster-
Öffnungen mit Doppelbögen in Hufeisenform, ajimeces,
die in der Mitte kleine Säulchen haben. Innerhalb des
leeren Raumes steigt eine Rampe oder vielmehr geneigte
Ebene so sanft an, daß man bequem bis oben hinauf reiten
könnte.
Der arabische Baumeister hatte die Giralda mit vier
gewaltigen Metallkugeln gekrönt. Sie waren vergoldet
und wenn sie im Sonnenglanze strahlten, konnte man sie
aus einer Entfernung von acht spanischen Meilen sehen.
Diese Kugeln stürzten 1395 bei einem Erdbeben herab.
Im Jahr 1568 erhöhte Hernan Rniz aus Burgos den
Bau um etwa 190 Fuß und setzte, im Geschmack jener
Zeit, einen Glockenthurm darauf. Das Ganze macht eine
recht hübsche Wirkung. Da wo dieser zweite Bau ansängt,
steht mit gewaltigen Lettern eine Stelle aus den Spruch-
Wörtern Salomonis:
Nomen Domini fortissima turris,
also: der Name des Herrn ist der stärkste Thurm. — Auf
dem Glockenthurm steht ein Bild von Erz, welches den
„Glauben" vorstellen soll; es ist 1570 von Bartolome
Morel gegossen worden. Die Statue hat ganz kolossale
Verhältnisse, dreht sich aber bei dem geringsten Lustzuge;
daher die Bezeichnung Giralda, von girar, sich im Kreise
herum drehen. Man übertrug den Namen auf den Thurm
im von Andalusien. 231
selbst, und die Statue hieß dann Giraldilla oder
Giraldillo, Wetterfahne. Eine wunderliche Bezeich-
nnng für ein Standbild, welches den Glauben darstellen
foll, welchen man doch als ein für allemal fest und unver-
änderlich hinstellen will.
Cervantes kannte Sevilla sehr wohl; er spricht im
Don Qnirote auch von der Giralda. Von dieser herab
hat man einen Blick aus ein geradezu prachtvolles Pano-
rama. Der Guadalquivir schlängelt sich dnrch üppige
Fluren, im Hintergrunde blaue ausgezackte Gebirgszüge.
Berühmt ist auch das Geläute dieses Thurmes, in welchem
24 Glocken hängen; sie führen allefammt Heiligennamen.
In Spanien legt man auf die Kunst des Glockenläuteus
großen Werth, und die Campaneros in Sevilla bemüh-
teu sich, das Menschenmögliche in derselben zu leisten. Sie
geben allerlei gymnastische Kraftstücke zum Besten, um
die Glocke in Bewegung zu fetzeu; sie hängen sich an Seile
und lassen sich hoch hinauf schleudern; sie schlagen an
a badajadas oder auch a golpe de badajo, d. h. sie berühren
die Glocke langsam oder rasch, leiser oder stärker, mit dem
dicken Seile, um den gerade erforderlichen Klang herauszu-
bringen.
Unter der Giralda liegt der Orangenhof, Patio de
los Naranjos. Die Bäume siud ohne Zweifel mehre
hundert Jahre alt, und in der Mitte sprudelt eine arabische
Fontäne, welche gleichzeitig ist mit der Moschee, auf deren
Stelle mau die Kathedrale erbaut hat. Der Orangen-
Hof ist von maurischen Bauwerken eingefaßt; mehre der-
selben haben zur Zeit der Renaissance Umänderungen
erfahren, doch sind die Thüren noch mit broncenen Alda-
bones geschmückt, die aus dem 13. Jahrhundert stammen.
In der Nähe steht die Lonja, Börse.
Auf den Stufen, gradas, welche um die Kathedrale
herum sich erheben, hat man die Säulen aus den Trümmern
des alten Hispalis aufgestellt. Unter den verschiedenen
Eingangsthüren wird eine als Pnerta de Lagarto be-
zeichnet, d. h. der Eidechse, weil über dem Eingang ein
großes hölzernes Krokodil hängt. Es ist dein Thiere nach-
gebildet worden, welches der Sultan von Aegypten, als
er um die Hand der Tochter Alonzo des Gelehrten sich
bewerben ließ, dem Könige schenkte.
Die Kathedrale macht einen geradezu überwältigen-
den Eindruck. Schwerlich gibt es eiue zweite gothische Kirche,
die so groß ist und sich so imposant ausnimmt. Der Anna-
list Zuniga erzählt, daß man im Jahre 1401 den Plan
faßte, die allerschönste Kirche zu bauen, welche die Christen-
heit aufzuweisen habe. Ein Cauonicns rief: „Wir wollen
eine Kirche herstellen, die so groß ist, daß die, welche sie
vollendet sehen, uns für toll halten müssen." (Fagamos
une Iglesea tau grande, que los que la vieren acabada
nos tengan por locos!)
Die fünf Schiffe sind so geräumig und so hoch, daß
Einen schwindelt, wenn man einige Zeit aufwärts blickt.
Die Pfeiler, welche das Gewölbe stützen, sind in der Wirk-
lichkeit kolossal und sehen doch nur dünn aus; das Chor
inmitten des Hauptschiffes hat die Dimensionen einer ge-
wöhnlichen Kirche. Das Monumento, ein hölzerner
Tempel, den man in der heiligen Woche in der Kathedrale
ausbaut und iu welchem das heilige Sakrament ausgestellt
wird, ist nicht weniger als 130 Fuß hoch. Bemerkens-
werth erscheint auch die Custodia, vielleicht das größte
Stück Silberarbeit in der Welt. Sie ist ein Werk des
berühmten Goldschmiedes Juan de Arse y Villasrane,
welcher dasselbe in einem 1589 zu Sevilla gedruckten Buch
ausführlich beschrieben hat. Die Osterkerze, cirio
passual, ist 20 Fuß hoch, wiegt 2000 Psuud und gleicht
232
Sevilla, die Königin von Andalusien.
nicht einer Wachskerze, sondern einer Säule. Alles in
diesem Dom ist kolossal, auch der heilige Christoph, welchen
ein italienischer Künstler, den die Spanier Mateo Perez
de Alesio nennen, ini 16. Jahrhundert an eine Wand
gemalt hat. Der Heilige ist 32 Fuß hoch und hat einen
gewaltigen Baum in der Hand, das Jesuskind, welches er
aus der Schulter trägt, ist ein wahrer Riese. Dieses Bild
ist 1584 vollendet worden. Ein spanischer Künstler hatte
nung im Schwange, wie sich aus ein paar holperigen Versen
ergibt:
Christophori sancti speciem quicunque tuetur,
Ista nempe die non morte mala morietur.
Sevillas Eroberer, der heilige Ferdinand (wer und was
wäre in Spanien nicht „heiligt?) ruhet in der großen
Kapelle in einem silbernen Sarge; sein Sohn, der gelehrte
Alphons, hat ihm in nicht weniger als vier Sprachen die
Müller und Müllerin im Stadtviertel Macarena in Sevilla. (Nach einer Zeichnung von G. DorS.)
damals einen Adam und eine Eva gemalt; Perez de Alesio
war über Adams Beiu so entzückt, daß er ausrief: „Vale
piu la tua gamba che tutto il mio Cristoforo!" „Dein
Bein ist mehr Werth als mein ganzer Christoph \" Dieser
Maler war ohne Künstlerneid.
Wer das Bild des heiligen Christoph sieht, dein kann
an demselben Tage keine Krankheit etwas anhaben. So
glaubt das Volk, und schon im Mittelalter ging diese Mei-
Grabschrift verfertigt. In derselben Kapelle ruhet auch
Maria Padilla, des grausamen Peters Geliebte. In der
großen Sakristei und der Sala capitular hängen schöne
Gemälde von Murillo. Unter deu Werken dieses Meisters
ist der heilige Antonius von Padua mit Recht berühmt.
Die Glasmalereien der Kathedrale sind aus derZeit des Ver-
falls und rühren zumeist von französischen und flämischen
Arbeitern her.
H. Birnbaum: Die Erhebungen und Senkungen der festen Erdrinde :e.
233
Die Erhebungen und Senkungen der sejll
Indischen und Atlantischen Dl
Von vi'. |j.
Wir wollen hier Andeutungen von den Hanptergeb-
nissen dieser schwierigen Forschungen über die Koralleninseln
geben. Während die Gruppe der Saudwich-Inseln
sich beständig emporhebt, als stände sie unter demselben
unterirdischen Einflüsse, welcher die Westküste ganz Ame-
rikas noch fortwährend höher hebt, zeigt sich mehr südlich
in demselben Weltmeere ein starkes Sinken bei einer ganzen
Reihe von Inselgruppen, nämlich bei den Niedrigen
Inseln, Gesellschasts-Jnseln, bei den nach Gil-
bert und Marschall benannten Inseln, beiden Caro-
linen, — mit einem Worte bei der ganzen sogenannten
„Milchstraße der Inseln des Stillen Oceans",
welche sich in einer Länge von mehr als 1600 geographischen
Meilen und einer Breite von 250 geographischen Meilen
wie eine große Diagonale quer durch diese Welt des
Wassers zieht. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß dieses
Heer von Inseln die Ueberbleibsel eines frühern Continents
der Erde bildet, der unter dem schon Jahrtausende andauern-
deu Act der Depression allmälig unter Wasser gesunken ist
und all seine üppige Pflanzennatur, seine Fülle von Thieren
und Menschen mit sich hinabriß in das Grab des Stillen
Oeeans. Seit der Zeit, wo dies Weltmeer zuerst von
den Europäern befahren worden ist, sind schon manche
Inseln unter das Niveau hinabgesunken, während andere,
wie z. B. die Whitesunday, sehr stark an Umfang und
Erhebung eingebüßt haben.
Parallel mit diesem großen Depressions räume,
der mehr als zwei und ein halb mal die Ausdehnung von
ganz Europa in sich schließt, tritt im Südwesten des Stillen
Oceans wieder eine bedeutende Erhebungswoge der Erd-
rinde aus, welche in Form eines von Vulkanen umgebenen
Halbkreises sich daran legt. Nen-Seeland, die süd-
lichste Grenze dieser gehobenen Strecke, bildet einen Heerd
unterirdischen Feuers und ist so sehr dem Erhebuugs-
Prozesse unterworfen, daß die eingewanderten englischen
Kolonisten nicht blos das Vergrößern der Vorgebirge, son-
dern auch das Vernichten der Häfen durch Hervortreten der
Klippen aus dem Meere haben erleben müssen. Die Berge
dieser Inselgruppe erreichten ursprünglich nur eine Durch-
schnittshöhe von 4000 Fuß; dies kann man an der Ab-
lagernng der erratischen Blöcke erkennen, welche von
schwimmenden und an den Felsusern zertrümmerten Eis-
bergen herbeigeführt wurden. Seitdem sind sie aber beträcht-
lich gehoben worden, denn man zählt jetzt nicht weniger
denn zehn übereinander liegende Stufen jener eingewan-
derten Felsenfremdlinge. Selbst in unseren Tagen setzt
sich diese Erhebung noch stark wahrnehmbar fort. In einem
Zeiträume von 10 Jahren haben sich die Gestade von
Lyttleton um 3 Fuß gehoben. Die Neuen Hebriden,
die Salonrons-Inseln, die nördlichen uud östlichen
Küsten von Neu-Guinea, die Landstrecken, welche die
Sunda-Jnseln bilden, deren Thiere darauf hindeuten,
daß sie einst mit Asien in continentaler Verbindung standen,
sind jetzt alle wieder im Erhebungsprozesse begriffen,
Globus X. Nr. L.
x Erdrinde in Amerika, in dem Stillen,
ane, in Südasien und Afrika.
Birnbaum.
obgleich sie mit großer Wahrfcheiulichkeit eine starke De-
pression durchgemacht haben.
An der südlichsten Continentalspitze Asiens zerlegt
sich die eben betrachtete Erhebung in zwei Spalten, wovon
der eine Arm das südliche Chinesische Meer durch-
läuft, dessen Küsten in Eochinchina und Tonkin aber
einer allmäligen Depression unterworfen sind. Im Norden
wendet sich dieser Zweig über die Philippinen, über
Formosa, über die Inselgruppen Lieu-Kieu,
Japans, Sachalin, durch die Küstenstriche des Amur,
Kamtschatka uud dauu hinüber nach Amerika; es ist
dies die Außengrenze der Vulkane des Stillen
Oceans. Der andere Arm geht längs der Nordostgrenze
Sumatra's nördlich und durchläuft den ganzen Ben-
galischen Meerbufeu. Die Archipele der Nicobareu
und Andamanen haben vielfach Gelegenheit zum Aus-
messen der allmäligen Erhebung gegeben. Eben so ist auch
die Jusel Eeylou dieser Oscillatiou der Erde unterworfen;
sie bildet wahrscheinlich das submarine Band, welches
dieselbe mit Hindostan verbindet, und woraus die Legende
die Triumphbrücke für die Armee des Assen Hauumau
gebildet hat; früher oder später wird diese Brücke zu einem
wirklichen Isthmus werden. Es scheint auch, daß der untere
Theil des Ganges mit in diesen Zweig der Erhebung
zu zählen ist, und daß seine Grenzländer im Norden und
Süden einer Art Schwingung unterworfen sind, denn die
häufig eintretenden Überschwemmungen des unteren
Gauges, — Cousy, Mahauaddy und Soane—,
verändern fortwährend diese Mündungen. In dem kurzen
Zeiträume von 24 Jahren beträgt diese der Erhebung der
Erdrinde vorzugsweise zuzuschreibende Ablenkung des
Ganges-Deltas schon eine englische Meile. Nach
Ferguson liegt die westliche Grenze dieses großen Er-
Hebungssystems, welches in Neu-Seelau d seiuen östlichen
Anfang nimmt, genau an der Münduug des Gogra in
den Ganges, so daß die Länge desselben ebenfalls 1600
geographische Meilen betrüge, wie das vorhin besprochene
große Depressionssystem im Stillen Oeeane.
Was nun Australien und den Indischen Oeean
betrifft, so herrscht hier wieder eine allgemeine Depression
vor, wie im Centralbassin des Großen Oceans. Während
Nen-Gninea, Sumatra und die Philippinen fort-
während mehr an Land gewinnen durch deu unuuterbroche-
nen Act der Erhebung der Erdrinde, zeigt Australien,
diese Welt einer ganz besonderen Pflanzen- und Thier-
natnr, sammt seinen Inseln ein beständiges tieferes Hin-
absinken unter das Niveau des Meeres. ^Das sind ein
paar dicht nebeneinander liegende Gegensätze der Erd-
oscillation. Bis auf deu heutigen Tag kennt man hier
nur einen einzigen Punkt, der einer allmäligen Hebung der
Erdoberfläche unterworfen ist, nämlich in der Hobsons-
Bay nahe bei Melbourne; hier hat Becker eine Er-
Hebung vou ungefähr 3 Zoll jährlich aufgefunden. Sollte
dabei kein Jrrthnm obwalten, so bildet dies eine ganz
30
234 H. Birnbaum: Die Erhebungen >
alleinstehende Ausnahme, denn daß der übrige Continent
einer fortwährenden Senkung unterworfen ist, leidet
keinen Zweifel, da alle ihn umgebenden Corallenbauten
eine verjüngte obere Spitze zeigen, die nur durch das
Hinabsinken des Meeresgrundes veranlaßt sein kann.
Westlich von Australien fehlen dem Indischen
Oeeane fast alle Inseln. Auf einer Strecke von 750
geographischen Meilen trifft man nur Atolls au, welche
durch den ununterbrochenen Act der Depression auch schon
längst von den Wogen des Meeres verschluckt worden
wären, wenn die nnermüdeten Arbeiten der Polypen diesen
Untergang nicht durch beständiges Höherbauen verhütet
hätten. Bei dem berühmten Atoll derKeelinginsel hat
Darwin Studien ausgeführt, für welche ihm die Wissen-
schaft auf immer zu Danke verpflichtet fein wird; und eben fo
anch bei der Male-Diveu Gruppe, diefer Doppelkette
voil submarinen Gebirgen, wovon jede Spitze mit einer
Korallenkrone geschmückt sich aus dem Niveau des Meeres
erhebt. Alles spricht hier für einen noch immer fortgesetzten
Act der Depression.
Nach der soeben durchgeführten Betrachtung haben wir
also iu einer Strecke, welche von der Ostgrenze
Amerika's bis zur Westgrenze des Indischen
Meeres zwei Drittheil des ganzen Erdumfangs in sich
schließt, zwei großartige Systeme der Erhebung
und zwei ebensolche der Senkung kennen gelernt,
die sich, suceessiv an einander schließend, von Ost nach West
verfolgen lassen. Auf den sich langsam erhebenden Eon-
tinent Amerikas folgen die niedrigen Jnfeln des Großen
Oceans, welche durch den Act der Senkung dem Blicke
fchon längst verschwunden wären, wenn die emsigen Arbeiten
der Polypen sie uicht fortwährend wieder über den Spiegel
des Meeres gebracht hätten; daran schließt sich in Form
eiues großes Halbkreises das große Vulkanengebiet des
Oceans, in welchem der Prozeß der Erhebung der Erdrinde
thätig ist, und zuletzt herrscht im ganzen Indischen
Oceane dieselbe Depression vor, wie in dem Central-
gebiete des Stillen Meeres.
Was Afrika betrifft, so ist die Erforschung seiner
Oberflächen-Oseillation kaum erst in Angriff genommen
worden, wir wissen davon nur Einzelnes. Es fehlen
jedoch glaubwürdige Beobachtungen nicht, die uns den
Schluß gestatten, daß Ostasrika und die damit verbnn-
denen Länder eine zu Amerika und den Snnda-Inseln
passende dritte Erhebungswoge bilden. Die Korallen-
bänke, welche die Inseln Mauritius und Bourbon
(der Maskarenengrnppe), welche Madagaskar
und das Festland im Eanal von Mozambiqne um-
lagern, tragen alle die deutlichsten Spuren einer snbma-
rinen Erhebung der Erdoberfläche. Auch hat die Beobach-
tnug ergeben, daß die Gestade des südlichen Rothen
Meeres diesem Erhebungsprozesse noch fortwährend
unterworfen siud; denn in verschiedenen Höhen wurden an
den Felsufern die Merkzeichen des frühern Niveaustandes
frisch eingegraben aufgefunden. Die meisten Reisenden,
welche diese Gegend besucht haben, erstaunten über die
jetzt sichtbar gewordenen Felsriffe und die mit Seesalz
überdeckten weißen Gestade; sie berichten, daß mehre
Buchten durch das Zurücktreten des Meeres ganz ver-
schwnnden und und manche Häsen seicht geworden sind.
Davon erzähleu uns namentlich Ferret und Gallinier
in ihrer Reise in Abyssinien; sie bestätigen, was vor ihnen
schonRüppel, Salt und Valencia gefunden haben. Und
Lejean hat in unseren Tagen diese Wahrzeichen als Be-
weise für den Erhebungsprozeß der Erdrinde erkannt, auch
faud er, daß der Hafen von Dfchidda, den in der letzten
d Senkungen der festen Erdrinde:c.
Hälfte des vorigen Jahrhunderts Ni eb uhr uoch für flach-
geheude Schisse zugänglich gefunden hatte, jetzt ganz vom
Meere abgeschlossen und in eine Meerlache umgewaudelt
sei. Die Bewohner dieser Küsten wissen auch aus Er-
fahrung, daß die Tiefe des Meeres und die Form der Ge-
stade sich so rasch ändern, daß sie nach einem Zeiträume von
zwanzig Jahren kaum wieder zu erkennen seien.
Mehr gegen Norden hört diese allmälige Erhebung
auf und verwandelt sich bei dem Isthmus vou Suez
iu die fchon früher besprochene Depression. Die Grenze
zwischen beiden Tätigkeiten des Erdinnern ist noch nicht
genau bestimmt. Im Westen hat Afrika wahrscheinlich
einst eine starke Depression erlebt, durch welche die Cana-
rischeu Inseln und selbst St. Helena von dem Eon-
tinente getrennt worden sind. Es fehlt den Forschern nicht
an Andeutungszeichen, welche diese Vermuthung zulassen.
Die Untersuchungen, welche Heer über die Flora der
Inseln des Atlautischeu Oeeaus angestellt hat, rechtfertigen
feine Hypothese, daß einst noch ein Continent
zwischen Europa und den Antillen bestanden haben
müsse, der durch allmälige Depression des Atlantischen
Meeresgrundes verschwunden sei.
Alle bis jetzt bekannten Thatsachen berechtigen uns
daher zu der allgemeinen Annahme, daß in der Nähe des
Aequators rund um die Erde herum drei große Er-
hebuugs- und drei eben solche Depressionswogen in der
sogenannten festen Erdrinde vorgekommen sind. Das
Centrum einer jeden Depression fällt jedesmal gerade in
die Mitte eines der drei großen Oceane; der Hanptsitz der
drei Erhebungen liegt einmal in dem großen Archipel der
Snndainseln, dann in den Eontinentalmassen von Amerika
und Afrika. Man erkennt daraus, daß die Oscillatiourn
der Erdriude einem allgemeinen Gefetze unterworfen sind,
welches allerdings noch nicht mit wissenschaftlicher Schärfe
zu präcisireu tst, dessen Vorhandensein man aber kaum in
Abrede stellen kann. Läßt man sich hierbei nicht durch
lokale zufällige Aenderuugen, dergleichen durch Erdbeben
und Ausbrüche von Vulkanen hervorgebracht werden, irre
machen, so gelangt man sicher zu der Ueberzeugung, daß
dem ganzen Erdball eine Kraft inne wohnen
müsse, wodurch seine gesammte Oberfläche be-
ständig der Erhebung und Senkung unter-
worfen fei.
Damit wollen und können wir eine gewisse Ähnlich-
keit, ja sogar eine wahrscheinliche Zusammengehörigkeit
beider Phänomene durchaus nicht in Abrede stellen; es ist
recht gut deukbar, daß beider planetarischen Oscillation
dieselben Ursachen, nur in einem viel vergrößerten Maß-
stabe und von einem viel tiefer gelegenen Punkte aus,
thätig sind. Dagegen müssen wir die Annahme, daß dabei
eine noch ganz unbekannte Kraft vorkomme, die ähnlich
wie die Erdschwere, allgemeine Gravitation, oder der Erd-
Magnetismus aus den ganzen Planeten wirke und die
Oberflächenoseillation hervorbrächte, ganz von der Hand
weisen. Das würde sich weder im Allgemeinen mit dem
Stande aller Wissenschaften, noch mit der Astronomie
allein in Einklang bringen lassen. Doch lassen wir die
Sachen ruhen, welche über die Grenzen der Thatsachen
hinausliegen.
Ueber die Oscillatiouen der Erdrinde an den Polen
wissen wir lroch gar nichts, und das nicht blos, weil es dem
Menschen bis jetzt noch nicht möglich gewesen ist, dahin zu
gelangen, sondern hauptsachlich aus dem Grunde, daß die
Thatsachen, welche die Schlüsse zur Wahrscheinlichkeit ge-
stalten, in eben dem Maße seltener nitb unzuverlässiger
werden, als sie sich ans höhere Breitengrade beziehen. Wir
Landschaftsbilder an der Vay von Nio de Janeiro.
235
dürfen indeß diese Lücke unseres Wissens bei weitem nicht
so viel beklagen, als die vieler anderen Punkte, wobei die
Ueberwindung der Hindernisse viel eher möglich gewesen
wäre. Und genau genommen haben wir viel mehr Ursache
über das bereits gewonnene Resultat uns zu freuen, als
über das noch Fehlende zu jammern. Die Zeit der Er-
sorschung der Erdoberflächenschwankungen durch Thatsachen
zählt kaum erst ein halbes Jahrhundert, und damit
verglichen ist das wirklich schon Erreichte bewuuderns-
würdig groß. Es betrifft dies das Erforschen des
ganzen Erdballs. Welche Mühe hat es den scharf-
sinnigsten Männern der Wissenschaft gekostet, über die Be-
wegungen der Erde, über ihre Gestalt und Größe, über
ihre Schwere und Dichtigkeit, über die Verkeilung ihrer
Wärme, über ihren Magnetismus, über die Störungen in
ihrer Atmosphäre und ihren Gewässern, auf dem Wege der
Erfahrung wirkliche Gewißheit zu erlangen! — Und wie
viele Punkte dieser Eigenschaften der Erde, über welchen
die Forschung manches Jahrhundert lang sich abmühte,
sind noch nicht bis zu ihrem letzten Abschluß gelangt! —
Ganz ebenso steht es mit unserem Wissen über die
Schwankungen der Erdrinde. Wir haben einen guten
Anfang und die sichere Hoffnung zur allmäligen Weiter-
führung und Vervollkommnung. Vielleicht wird es einst
möglich sein, über jeden Punkt der Oberfläche der Erde
das Gesetz der Erhebung und Senkung so genau zu kennen,
daß sie sich so scharf berechnen lassen, wie das Voraus-
bestimmen einer Mond- und Sonnenfinsterniß, oder auch
nur einer Ebbe und Flut, obgleich die Wahrscheinlichkeit zu
diesem Vielleicht vor der Hand noch sehr gering ist. Und
wenn es auch nur möglich wäre, die Oseillationen der Erd-
rinde ebenso durch Linien darzustellen, wie den Durch-
schnittsgang der Wärme und des Magnetismus durch
Isothermen, Jsogonen und Jsodinen, so würden wir mit
einem solchen Ergebniß schon sehr zufrieden sein können.
Das siud Zielpunkte, nach denen wir streben müssen, selbst
wenn die Aussicht auf Erfolg noch in weiter Ferne liegt.
So viel dürfen wir aber, bei aller übrigen Ungewiß-
heit, für eine unbestrittene Wahrheit annehmen, daß die
sogenannte feste Erdrinde einer fortwährenden
Undulatiou unterworfen ist. Die Eontinentmassen
erheben sich in einer nach Jahrhunderten gemessenen Zeit-
epoche und sinken dann eben so langsam wieder herab.
In dem Gange dieser großartigen Oseillation herrscht aber
eine majestätische Ruhe, ein so allmälig und unmerklich
durchgeführter Wechsel, daß derselbe unmittelbar gar nicht
zu erkennen ist. Skandinavien steht jetzt unter dem
Einflüsse einer langsamen Erhebung, hat aber in der euro-
päischeu Gletscherperiode eine eben solche Depression durch-
gemacht, und seine Bewohner haben in dieser Zeit die
Thäler verlassen müssen, weil sie durch den Act der Sen-
kung in Fjords umgewandelt wurden. Ebenso haben
die Alpen von Chile und die Berge von Neu-See-
land früher erst eine Depression von 7000 und 4000 Fuß
erfahren müssen, ehe sie in den Zustand der allmäligen
Erhebung gelangen konnten, worin sie sich jetzt befinden.
Und von einer Menge anderer Punkte, in Peru, Aegyp-
teu und Nordamerika fallen ähnliche Umformungen
sogar in unsere historische Zeit, ohne daß man dieselben
einer plötzlich durchgeführten unterirdischen Revolution zu-
schreiben könnte.
Die Eontinente heben und senken sich wie der Brust-
kästen beim Athencholen, nur unendlich viel langsamer.
Dieser von Elisee Reelus herrührende bildliche Ausdruck
erinnert lebhaft an einen ganz ähnlichen von Kepler, als
derselbe bemüht war, das Phänomen der Ebbe und Flut
zu erklären.
Himmel und Erde sind also dein beständigen Wechsel
der Bewegung unterworfen. Nirgends ist absolute Nuhe,
und Darwin hat Recht, wenn er sagt: „Es wird die Zeit
kommen, wo die Geologen die Ruhe der Erdrinde in jeder
Epoche ihrer Geschichte für eben so unwahrscheinlich halten
werden, wie die Unbeweglichst der Atmosphäre in irgend
einem Zeitmomente."
Mndschastsiiildcr an der
Die wunderbaren Reize dieser herrlichen Meeresbucht,
welche eiues der schönsten Landschaftsbilder der Erde dar-
bietet, sind hundertmal gepriesen worden. Wer sie erblickt,
geräth in Entzücken über den stets wechselnden, immer an-
ziehenden Charakter des Gestades; sein Blick schweift über,
die zahlreichen, mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckten
Eilande und weidet sich an der seltsamen Gestaltung der
vielen aus dem Wasser hervorragenden Felsen.
Diese Bay ist sicher und bildet vortreffliche Häfen;
nur selten und immer nur bei wild wüthenden Orkanen
strandet ein Schiff. In ihr wehen die Flaggen aller see-
fahrenden Nationen, und die auswärtigen Schiffe vermitteln
einen Handelsverkehr, welcher im Jahre wohl an 100
Millionen Thaler beträgt. Es kann nicht fehlen, daß Nio
de Janeiro zu immer größerer Blüthe emporsteigt; schon
jetzt zählt es zwischen zwei bis dreimalhnndert tausend
Einwohner.
Nichts ist lohnender als eine Fahrt durch diese Bay,
zu welcher der Eingang vom Ocean her nur etwa drei
M) von Rio de Janeiro.
Viertelstunden Weges breit ist. Aber sobald man in die-
selbe gelangt, entfaltet sich ein geradezu wunderbares
Panorama. Das innere Becken hat eine Breite von etwa
drei, eine Länge von zehn deutschen Meilen und bietet
eine große Auswahl vortrefflicher Ankerplätze dar. Von
den Höhen herab fallen kleine Flüsse in Menge zur Bucht
hinab, und sehr beträchtlich ist die Zahl der kleineren Bayen;
sie geben den Umrissen des Gestades eine große Mannig-
faltigkeit. Einzelne Berge dienen als Landmarken, so
gleich am Eingange zur Bay der jäh aussteigende Zucker-
hut (Pao de Azuear), welcher uach Westen hin sich wem-
ger jäh absenkt und die schöne Bay von Bota sogo über-
ragt. Dieser Ort bildet eine der Vorstädte von Rio de
Janeiro. Nicht minder anmuthend ist auch die Aussicht
vou Jtai p u aus, von wo man einen Ueberblick des Orgel-
gebirges hat.
Durch die Provinz Rio de Janeiro zieht sich von Westen
nach Osten die sogenannte Küstenkette (Serra do Mar),
und diese erhebt sich im Norden der Hauptstadt bis zu
30*
Die Bat, von Botafogo und das Orgelgebirge bei Rio de Janeiro (Originalzeichnung von O. E. F. Grashof.)
238 Enthüllungen über die Schutz ansl
etwa 1270 Fuß in dem sogenannten Orgelgebirge,
dessen eigenthümliche Gestaltung auf unserm Bilde sich
deutlich zeigt.
Die schöue Bay von Rio wurde am 1. Januar 1531
von dein Portugiesen Alfons de Souza entdeckt. Er hielt
sie für die Ausmündung eines Riesenstromes und nanute
sie deshalb den Januarsfluß, Rio de Janeiro. Schon
ihm siel das zugleich Großartige und Elegante der Land-
schast ans: die Eigentümlichkeit der Umrisse des Zucker-
Hutes, der beiden Brüder, des Gavia, des Corcovado (d. h.
der Buckelige) und anderer Berge, welche in ihrer phan-
tastischen Zusammenstellung eine eigenthümliche Wirkung
auf den Beschauer üben. Dazu kommt in diesem tro-
pischen Klima die Tiefe und Schönheit der Luftfärbung;
Purpurroth und Goldgelb, rosenfarbige Tinten und tiefer
Azur wechseln mit einander ab, oder berühren sich und ver-
schwimmen in einander. Man hat gesagt, daß kein Feen-
land diese Landschaft an Pracht und Schöne übertreffen
en für die Neger in Nordamerika.
könne; wer sie erblicke, werde von Staunen gefesselt. —
Die Bay wird von Dampfern befahren und ist alle-
zeit von Schiffen belebt. Unter den vielen Eilanden ist
die hügelige Isla do Governador, die größte, überall am
Strande mit einem wahren Kranze von Häusern und
Hütten umgeben. Dergleichen stehen auch aus den klei-
neren Inseln; manchmal ist solch ein Fleck, der über das
Wasser emporragt, nur wenige Morgen groß und auf ihm
liegt nur ein einziges Wohnhaus. Ein solches ist dann
allemal umgeben von einem Bananengarten, einem mit
Mais und Mandioca bepflanzten Stückchen Feld, und
wird beschattet von Orangenbäumen und von den luftigen
Kronen schlanker Palmen, welche sich aus dem niedrigen
Gestrüpp emporheben. Häufig ragt aber auch eiu uube-
wohnbarer, seltsam gestalteter Felsen über die sanftgekräu-
felte Wellenfläche empor. In jedem Augenblicke weidet
sich das Auge an neuen Bildern, deren eins anziehender
ist als das andere.
Enthüllungen über die Schutzanstal
Nach Abschaffung der Sklaverei im ganzen Gebiete der
Vereinigten Staaten setzte der Washingtoner Kongreß, wel-
cher nur die nördlichen und westlichen Staaten vertritt,
eine große Anzahl von „Freedmens Bureaus" ein;
diese sollten für die Freigelassenen Sorge tragen, die
Stellung derselben zu den Arbeitgebern regeln und darüber
wachen, daß die abgeschlossenen Verträge von beiden Thei-
len richtig befolgt würden. Diese * Negerversorgungs-
anstalten erhielten sehr ausgedehnte Befugnisse; sie übten
zugleich eine richterliche und vollziehende Gewalt, die von
den Vorstehern sehr häufig in einer rücksichtslosen Weise
gelteud gemacht wurde. Fast überall kamen sie in schwere
Consliete, nicht mir mit den Behörden der Einzelstaaten,
deren Verordnungen und Gesetze von ihnen ganz unbeachtet
blieben, sondern auch mit den Befehlshabern der Unions-
truppeu.
Die Erfahrung lehrte, daß diese Anstalten ihren Zweck
nicht erfüllten; sie waren aber eine Lieblingsanstalt des
ultra - abolitiouistischeu Eougresses uud dieser suchte ihnen
eine noch größere Ausdehnung zu geben. PräsidentJohnson
beseitigte das darauf bezügliche Gesetz durch seiu Veto, uud
es zeigt sich, daß er gute und vollwichtige Gründe dafür
gehabt hat. Von allen Seiten waren Klagen laut geworden
über das willkürliche und unverantwortliche Verfahren der
Bureaubeamten, namentlich hatten auch die Neger selbst sich
über arge Bedrückungen beschwert. Es ist für das ganze
Verhältuiß von entschiedener Wichtigkeit, hervorzuheben,
daß diese Beamten, welche man nach dem Süden schickte,
fast ohne Ausnahme politische Stellenjäger aus den eigent-
lichen Uankeestaaten, aus Neuengland und zumeist aus
dem Staate Massachusetts kommen. Nicht wenige unter
ihnen sind puritanische und methodistische Geist-
liche, die gerade keine Gemeinden hatten und ein Unter-
kommen bei jenen Bnreaux faudeu. Gerade gegen diese
Pastoren wurden die lautesten Beschwerden erhoben; man
klagte über ihre Herbigkeit, Härte, Habsucht und fanatische
Unduldsamkeit. Die radikalen Blätter schwiegen darüber
oder erklärten kurzweg, daß ein planmäßiges Eomplott von
n für die Neger in Nordamerika.
der demokratischen Partei geschmiedet worden sei, um „die
wahreu Väter und Vormünder unserer Mitbürger von afri-
kanifcher Abkunft zu verleumden und die öffentliche Mei-
nuug gegen sie aufzureizen."
Aber die Klagen gegen die Schutzaustalteu wurden nur
immer lauter, und die Regierung konnte ihnen nicht länger
das Ohr verschließen. Im April gingen, im Auftrage des
Kriegsministeriums, die beiden Generale Fullertou und
Stedman als Commissarien nach dem Süden, um deu
^taud der Dinge näher zu ermitteln. Sie besuchten zu-
nächst die StaatenVirginien und Nordcarolina und über diese
liegt ihr amtlicher Bericht vor. Aus demselben ergibt sich,
daß Alles, was man von der Barbarei und Betrügerei
maucher Beamten, namentlich der geistlichen, schon gehört
hatte, weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Wir
unsrerseits haben mehrfach behauptet, daß die armen Neger
unter der Fürsorge der Abolitionisten weit schlimmer daran
sein würden als unter den Sklavenhaltern, und nun finden
wir die thatsächlicheu Beweise in dem Berichte der beiden
Commissarien.
Es stellt sich heraus, daß manche Beamten sich Plan-
tagen aneigneten, aus welchen sie hunderte von Negern
arbeiten ließen; sie gaben denselben Bedarf an Speisen
aus den Magazinen der Bundesregierung, welche jetzt 11
bis 15 Millionen Dollars jährlich für diese Bureaux ver-
ausgabt! Diese Betrügereien können aber Keinen über-
raschen; dergleichen sind so sehr an der Tagesordnung,
daß sie von den amerikanischen Blättern zumeist nur kurz
registrirt werden; Commentare hält man für überflüssig.
Aber es ist von philanthropischem Interesse, das Ver-
fahren der puritanischen Derwische und Bonzen zu ver-
folgen, die wie eiu Schwärm Heuschrecken von Massachu-
setts und Connecticut aus sich über den Süden verbreitet
haben.
Die Commissarien berichten Folgendes: In Nord-
carolina, NenBern gegenüber, befindet sich ein „Settle-
ment" von etwa 4000 „Freedmen" (also eine Oertlichkeit,
wo diese freien Neger campiren) in wahrhaft jammervollen
Enthüllungen über die Schutzanstalten für die Neger in Nordamerika.
239
Umständen. Die Leute wohnen in kleinen Hütten, welche
sie sich selber zurecht gemacht haben; jede Hütte besteht aus
einem einzigen Gemache, in welchem gewöhnlich mehre
zahlreiche Familien leben. Vor kurzem hatten die Pocken
unter den Bewohnern, die höchst kläglich daran sind, große
Verheerungen angerichtet. Die Kranken, Schwachen und
Hilflosen erhalten Unterstützung von der Bundesregierung,
dieUebrigen suchen ihren ärmlichen Unterhalt durch allerlei
kleine Nebenarbeiten zu gewinnen; Manche fangen Fische.
Aufs eher itud Leiter ist Hochehr w ü rd e u F i tz, f r ü h e r
Kaplan in der Armee. Er führt den Amtstitel eines
„Assistant Superintendent des Bureaus für das Trent
River Settlements.
„Dieser Agent hat die allerwillkürlichste,
im höchsten Grade despotische Gewalt sich zu
Schulden kommen lassen. Er hat gegen die
seiner Obhut anvertrauten Neger unerhörte
Grausamkeiten verübt. Das abscheuliche Verfahren
dieses Mannes wurde unserer Aufmerksamkeit empfohlen
durch eine Deputation von Freedmen; sie berichteten uns
Thatsachen, die wir kaum glaubeu konnten. Wir besuchten
dann das Settlement, zogen bei den Negern nähere Erkuu-
digungen ein, untersuchten die Beschwerden und Anklagen
und gelangten zu der Ueberzeuguug, daß er sich noch weit
ärgere Missethaten hat zuSchuldeu kommen lassen als jene,
wegen welcher er anfangs verklagt wurde. Wir habeu
aber nicht blos die Freedmen abgehört, fondern auch vier
intelligente Frauen aus dem Norden, welche Schnllehrerinnen
im Settlement find."
„Unter vielen anderen Barbareien und Grausam-
keiten, welcher der Superintendent Hoch ehr würden Fitz
verübt hat, wurde von uns ermittelt, daß er in zwei
Fällen Negern Seile um die Handknöchel band
und sie dann derart aufhängte, daß ihre Füße
den Boden nicht berühren konnten. In solcher
schwebenden Stellung ließ Hochehrwürden den
einen Neger vier, den andern sechs Stunden."
„Es wurde ferner ermittelt, daß er einen Freedman
auf drei Mouate ins Gesängniß warf, weil derselbe mit
seiner Frau einen Wortwechsel gehabt hatte."
„Reverend Fitz hielt einen andern Mann, der wegen
Schulden verhaftet worden war, monatelang in einem
Blockhause gefangen; während dieser Zeit blieben dessen
Frau und Kinder in der allerkläglichsten Verlassenheit und
starben an den Pocken. Hochehrwürden Fitz ließ
dann den Gefangenen, unter Bedeckung, aus
dem Kerker führen und zwang ihn, sein Kind in
der Wiege zu begraben, in welcher es todt lag."
„Ein Wächter hinterbrachte dem Hochehrwürdeu Fitz,
daß eiue farbige Frau sich über ihn nicht hochachtungsvoll
ausgedrückt habe. Ohne zu untersuchen, was die Frau
etwa gesagt, ließ er sie bis zum andern Morgen 9 Uhr
einsperren, dann solle sie vor ihn geführt werden, um sich
wegen ihres Benehmens zu verantworten."
„Einst kerkerte Hochwürden Fitz sechs Kinder
auf zehn Tage lang ein, weil sie am Sabbath
auf der Straße gespielt hatten."
„Einen hochbetagten Neger belegte Hochwürden Fitz
mit einer Geldbuße von 60 Dollars, weil derselbe einem
andern Neger gesagt habe, Fitz Werde diesen Wohl ein-
sperren. Dieser arme Mann wurde eingekerkert, Weiler
jene 60 Dollars nicht hatte. Sein Sohn bezahlte die-
selben, mußte aber noch 3 Dollars Kerkergeld für eine
Nacht erlegen."
Nachdem die Generale solche Proben von abolitioni-
stischer Philanthropie berichtet haben, schildern sie den
hochwürdigen Pfarrer in seiner Eigenschaft als „Finanz-
mann".
„Der Grund und Boden, auf welchem die Hütten
stehen, gehört gewissen Erben in Nordearolina, ist aber vom
Bureau als sog. verlassenes Eigenthum in Besitz genommen
worden. Jeder Inhaber einer Hütte muß einen Zins
entrichten, welcher, der Behauptung des Superintendenten
Fitz zufolge, zur Unterhaltung des Bureaus verwandt
wird. Wer die Tare nicht auf Tag und Stunde an ihn
bezahlt, wird vou ihm auf die Straße geworfen
oder eingekerkert; in einigen Fällen hat er auch
die Hütten niederreißen lassen. Von Allem, was
die Leute arbeiten und verdienen, erhebt Reverend Fitz eine
Abgabe, seiner Angabe zufolge, gleichfalls für das Bureau.
Von jedem kleinen Laden treibt er allmonatlich 5 Dollars
Licenzgelder ein, von jedem Fischerboote 2, von jedem Pferd
und Karren 5 Dollars, u. s. f."
Jedem, der ihm diese Taxen nicht zur Stunde bezahlt,
coufiscirt er sofort das Eigenthum. Wir waren
nicht in der Lage zu ermitteln, wie viel Geld Hochehrwürden
Fitz auf diese Art erhoben hat oder wohin dasselbe gekom-
men ist. Da er seine Bücher in höchst nnordent-
licher Weise geführt, fo wäre eine langwierige und in
alle Einzelnheiten eingehende Prüfung nöthig gewesen, um
auch nur annähernd zu ermitteln, wie viel Geld er einge-
nommen hat. Wir fragten ihn, wie er es rechtfertigen
wolle, daß er den Negern so ungemein drückende Lasten
aufgebürdet habe, und erhielten zur Antwort: Kapitän
Seely (der Superintendent des östlichen Distrikts von
Nordcarolina und gleichfalls der Gaunerei und des Be-
trugs schuldig) habe ihm gesagt: „Ich muß tausend
Dollars in jedem Monat aus diesemSettlement
herausschlagen."
Solche Dinge stehen nicht etwa als vereinzelte Aus-
nahmen da; der Bericht enthält, allein aus Nordcarolina,
manche andere Enthüllungen. In Goldsborough ist ein
anderer puritanischer Geistlicher, Hochehrwürden G. O.
Glavis, Superintendent der Freedmen. Dieser sitzt tief
in Plantagenspekulationen und mißbrauchte die Neger zu
seinen: und seiner Spekulatiousgenoffen Privatvortheil.
Nachdem sie zwei Monate auf den Plantagen gearbeitet,
gingen sie fort, weil Glavis uud Genossen ihnen die con-
traetliche Zusage nicht erfüllten. Sie erhielten fast gar
kein Geld, und man gab ihnen einen Kittel, ein Beinkleid
und ein paar Schuhe, welches Alles Hochehrwürdeu lieferte.
Wir ermittelten bei den Anctionatoren Borham und Ballard
in Goldsborough, daß sie für Kaplan Glavis 40 wollene
Decken versteigerten, welche alle das Zeichen U. S. (Ver-
einigte Staaten) trugen; dann verkauften sie auch für seine
Rechnung eine Quantität Kleidungsstücke, welche aus Ro-
ehester im Staate Neuyork nach Goldsborough_ geschickt
worden waren, damit das Bureau dieselben gratis an die
hilfsbedürftigen Neger austheile. Der hochehrwürdige
Kaplan konnte nicht in Abrede stellen, daß er aus folcheu
Fällen 260 Dollars gemacht habe, späterhin wollte er
behaupten, es seien nur 126 Dollars 50 Eeuts gewesen.
Dieser Beamte hat gar keine Bücher gehalten und nicht
einmal Notizen über Einnahmen oder Ausgaben nieder-
geschrieben.
Der Bericht setzt dann auseinander, in welcher Weise
die abolitionistischen Puritaner aus Massachusetts, in ihrer.
Eigenschaft als Nährväter nnd Obhüter der befreiten Neger,'
ein System barbarischer Sklaverei eingeführt haben,
das alle Phantasien, die im „Onkel Tom" zum Besten
gegeben werden, hinter sich zurückläßt. Fitz hing Neger
an den Handgelenken auf, das ist schon oben gesagt worden.
240 R. Drescher: Die Sagen
Major Wickers ha m war als Spekulant bei einer Reis-
Plantage betheiligt. Er bekam den vierten Theil des Ernte-
ertrags dafür, daß er die Neger zwang, auf der Pflanzung
zu arbeiten. Er gestand ohne Weiteres ein, daß er sie
mit Ketten und Kugelu belastet und so zur Arbeit
angehalten habe. Er war den Eontraet eingegangen,
40 Arbeiter für die Plantagen zu stellen. Der Bericht
sagt, daß er sie wie überführte Verbrecher behandelt habe.
Ein anderer Beamter des Bureaus, Colonel Whittlesey
und noch andere Unteragenten betheiligten sich gleichfalls
bei Spekulationen, indem sie die ihrer philanthropischen
Obhut untergebenen Schwarzen zwangen, für den aller-
niedrigsten Lohnsatz zu arbeiten und sie höchst streng be-
handelten. „Die Agenten und Beamten des Bureaus
verfuhren durchaus willkürlich. Sie dictirten Geldbußen
und andere Strafen und kümmerten sich gar nicht um die
Gesetze. Viele gestanden ein, daß sie vom Gesetz gar nichts
wüßten oder verständen; es sei ihnen unbekannt, was ein
Criminal- und was ein Civilsall fei." —
Wir fanden diesen Bericht in den „New Bork Weekly
News" vom 19. Mai 1866. Es ist bezeichnend, daß die
radikalen Abolitionistenblätter (so weit sie uns vorliegen),
zwar des Berichtes erwähnen, der als ein „Angriff" gegen
dasFreedmens Bureau geschildert wird, aber das Dokument
selbst nicht abdrucken. Die N.2)- Tribüne, in der Nummer
vom 17. Mai, gesteht aber eiu: man habe gemeint, daß
das Bureau ehrlich, pflichteifrig und wohlwollend geleitet
worden sei; nun zeige sich freilich, daß pflichtvergessene
>m Nachtjäger in Schlesien.
Beamten Schweinefleisch, Kleider, Schuhe, Zucker zc. ge-
stohleu hätten, daß einer, der hochwürdige James, so-
gar der Ermordung eines Negers beschuldigt sei, und daß
wenigstens in Nordcarolina die Leitung des Bureaus in
den Händen von „Schwindlern und Dieben" sich besuu-
den habe.
Seitdem die Neger Freedmen sind, hat der Tod in
grauenhafter Weise unter diesen armen Leuten aufgeräumt.
Darin stimmeu die Berichte aus allen südlichen Staaten
überein, aber am bedauerlichsten lauten jene aus dem
Staate Mississippi. Der dortige Buudesrichter Sharkey
und der Prosoßmarschall haben amtliche Ziffern veröfsent-
licht. Seitdem man die Neger bewaffnet und in die
Nordarmee eingestellt hatte, blieben 2997 sarbige Sol-
daten in den Gefechten tobt oder starben an den dort
erhaltenen Wunden, während 26,031 schwarze Soldaten
von Krankheiten in den Spitälern hinweggerafft wurden,
eiu Verhältniß wie 1 von 8 oder gar 7; denn im Ganzen
hatte man etwa 180,000 Neger bewaffnet. Von den
weißen Nordsoldaten starben an solchen Krankheiten durch-
schnittlich 1 von 15. Aber auf je 1 schwarzen Soldaten,
der an Krankheiten starb, kommen im Durchschnitt nicht
weniger als 5 schwer erkrankte.
Im Washington wurde dem Reeoustructiousausschusse
des Eougresses dargethan, daß der Staat Mississippi 1860
etwa 486,000 Neger gezählt habe. Richter Sharkey
sprach aus, daß vou diesen seit jener Zeit mindestens
200,000 gestorben seien.
Die Sagen vom Ns
Von Dr. R
Mit dem Ende des Oktobermonats, des eigentlichen^)
Kirmesmonats der Schlesier, und wie das Volk gern bezüg-
lich sagt: „Noch d°r Kerms" beginnt zugleich die duukelste
Zeit, beginnen die längsten Nächte des Jahres. So an-
regend dieselben, wie überall unter den deutschen Bauern,
auf die Geselligkeit der schlesischeu Dorfbewohner einwirken,
so ist doch ein großer Uebelstand mit ihnen verbunden,
wenigstens nach der Meinung der Landleute. Die an-
gegebene Zeit, welche bis zum Neujahr gerechnet wird, ist
nämlich auch die unheimlichste des ganzen Jahres. Wäh-
*) Der Herr Verfasser, welcher an einem ausführlichen Werk
über Schlesiens Land und Leute arbeitet, hat uns diesen Auf-
sah eingesandt, der auch deshalb von Juteresse erscheint, weil er
zeigt, wie sich in uusenn deutscheu Osteu die Spuren des ger-
manischen Heidenthums erhalten und gestaltet haben. Auch ist,
so viel wir unsrerseits wissen, bisher keine zusammenhängende
Arbeit über den wilden Jäger in Schlesien erschienen. (Wir
erinnern an die Mittheiluugeu, welche wir früher aus der
, Bavaria" über Wuotau Und das wilde Heer in der Oberpfalz
nutgetheilt haben.) Ein Anzahl vou Verweisungen des Herrn
Verfassers auf wissenschaftliche Autoritäten haben wir, als hier
unerhebliche Citate, weggelassen. Daß die Arbeit gründlich sei,
leuchtet ohnehin ein. A.
**) Die Kirmessen werdeu in neuerer Zeit iu Folge einer
Reglenmgsvervrdnnng wenigstens im preußischen Schlesien an
vielen Orten erst während des Novembers abgehalten.
jäger in Schlesien.
Drescher. *)
rend derselben versieht sich das Landvolk in Schlesien des
ärgsten Gespensterspuks, und nicht selten hört man jetzt
unter ihm um Goldberg und Hainau zur Nachtzeit die
Aeußeruug: „Mach m - r och, daß m ° r fortkumma.*) Siste
ni? -S kimmt a Unhsmlich."^) Alljährlich von
Allerheiligen an bis Weihnachten treiben es „d- Unhßm-
liehe" in den Nächten am tollsten und ist kein Mensch
vor ihnen sicher. Am grausigsten aber toben sie in der
Christnacht und das besonders an gewissen berüchtigten
Stellen, z. B. im „MinnichswÄld" (Mönchswald zwischen
Goldberg und Hainau) und in dem Propsthainer Spitzberg
*) Die mundartliche Schreibart ist hier, um falschen Lesun-
gm vorzubeugen, so gewählt, daß nur geschrieben wird,
was gehört wird. Jeder einfach geschriebene Vokal ist kurz
zu lesen. Der Puukt über der Zeile bezeichnet das stumme
e iu dm Fällen, wo es in der Mitre eines Wortes oder als
Abkürzung auftritt z. B. Vuät'r, d' statt Vater, die. Bei dem
Doppellaut uä ist das u nur ein leichter Vorschlag und nur
das ä zu betonen.
**) So habe ich die Aeußeruug wörtlich nach dem Volks-
munde in jener Gegend niedergeschrieben (Leisersdorf, Gröditz,
Pilgramsdorf, Neukirch). Das noch allgemein (in der gedachten
Gegend) geläufige Wort würde hochdeutsch „Uuheiiuliug"
lauten; es ist gebildet wie das gläzische B echt lich. Vergl.
Weinhold. W. 8. In demselben Sinne gebraucht man in Nord-
böhmeu das Uhemlich.
N. Drescher: Die Sagen
(bei Schönau). Natürlich steckt nach der Volksmeinung
hinter all dem Spuk Niemand anders, denn der leibhaftige
Teufel selber. Dem Volksglauben nach zeigt er sich aber
um diese Zeit seltener in seiner wahren, sondern Vorzugs-
weise in einer ganz bestimmten andern und besonders
grausigen Gestalt in Begleitung noch vieler schaurigen
Nebenumstände, nämlich als den sogen. Nachtjäger.
Der Nachtjäger, so heißt im deutschen Schlesien die-
selbe Gespeustererscheiuung, die man in anderen deutschen
Ländern mit dem Namen: „Der wilde Jäger" oder
„das wüthende Heer" u. s. w. bezeichnet. Man stellt
sich ihn aus verschiedene Weise vor.
Schon Prätorius in seiner Daemonologia Rubinzalis
Silesii 1G62. IL 134 bis 136 erzählt u. A.: „Die Ein-
wohner des Riesengebirges hören bei nächtlichen Zeiten
oft Jägerruf, Hornblasen und Geräusch von
wilden Thieren; dann sagen sie: „„Der Nacht-
jäger jagt."" Kleine Kinder fürchten sich da-
vor und werden geschweiget, wenn man ihnen
zuruft: „„Sei still, hörest du nicht den Nacht-
jäger."" Ganz so ist es noch heute wohl überall unter
dem schlesifchen deutschen Landvolke und darin herrscht
kein Unterschied; an diesen hörbaren Merkmalen erkennt
man noch überall das Nahen der gespenstischen Erschei-
nung. Nur iu Bezug auf seine äußere Erscheinung Herr-
schen verschiedene Meinungen. Im nordwestlichen Schle-
fxeit stellt man sich ihn nämlich als Reiter vor, in den
übrigen Landestheilen anscheinend zum größten Theil als
Fußgänger.
In den Dörfern um Goldberg, Schönau und Lähn
(z. B. Pilgramsdorf, Leisersdors, Gröditz, Neukirch, Süßen-
bach) denkt man sich ihn als „pferdefüßigen Reiter
ohne Kopf auf eiuem schnaubenden Rosse mit
drei Köpfen, und um ihn herum eine unaufhör-
lich klaffende Meute von zwölf Hunden mit feu-
rigen Znngen" (so wörtlich). Besonders oft hat man
ihn in dem finstern „Minnichswald" (Mönchswald) erblickt,
der auch durch anderweitigen Gespensterspuk berüchtigt ist.
Um den gewaltigen Propsthainer Spitzberg sah man ihn
um die oben angegebene Jahreszeit mit furchtbarem Getöse
seine klaffende Meute hinter sich bei nächtlicher Weile rings-
umreiten, früher alljährlich, jedoch feit der Franzosenzeit
seltener (Süßenbach). Einst ging ein Mann zu später
Nachtzeit von Armeruh nach Süßenbach. Da vernahm er
plötzlich einen schrecklichen Lärm hinter sich von gellendem
Pfeifen, Peischenknallen, Tuten, Blasen und überlautem
Hundegebell, daß ihm Hören und Sehen verging. Und so
sehr er auch rannte, der Nachtjäger — denn der war es —-
holte ihn dennoch ein und er fühlte deutlich, daß ihm ein
Pferd seinen Kopf über die eine Schulter legte, und das
Schnauben der Nüstern. Doch kam er mit dem bloßen
Schreck davon.
„Bei den drei Aspen" im sogen. „Schätzelloche"
in den Bergen bei Peterswalde unweit Reichenbach befindet
sich ein Grenzstein, der selbst diesen Namen führt und die
Jahreszahl 1779 trägt. Unter diesem Stein liegen der
Sagenach viele böse Geister verbannt, die um die
Mitternachtsstunde hervorkommen und ein schauerliches
Wesen treiben. „Geister mit klaffenden Wunden
oder den Kopf unter dem Arm, nach Ruhe
ächzend, durchjagen zu Roß und zu Fuß, um-
geben von feuerspeiendem Gethier, den Berg."
Das ist Niemand anders, denn der Nachtjäger mit seinem
Gefolge und Hunden. Wir werden noch mancherlei ähn-
liche Züge von ihm berichten.
Eine Reisegesellschaft begegnete im Jahre 1835 spät
Globus X. Nr. 3.
vom Nachtjäger in Schlesien. 241
in der Nacht im Steinbusche unweit Kanfnngen bei
Schönau einem herrenlos herumjagenden Pferde, vor dein
die Kutscheupserde heftig scheuten. „Das ist das Pferd
des Nachtjägers," sagte der entsetzte Kutscher. (Münd-
lich von meinem Freunde Th. Oelsner in Breslau, dem
der Vorfall felbst mit begegnet ist.)
Im Eulengebirge und im eigentlichen Riesengebirge
schildert man den Nachtjäger als Fußgänger. Er zieht
als gespenstischer grüner Jägersmann ohne Kopf,
hinter sich eine Koppel klaffender scheckiger Hunde (das
bestätigt auch Weinhold in dem schles. Prov.-Bl. 1862.
194), entweder durch die Lüfte oder über Felder und
Wälder, in der Regel zur Nachtzeit, zuweilen aber auch
bei Tage. Genau so stellt sich auch (uach mündlichen
Aussagen, die gleich mir auch von Hrn. Rector Or. Luchs
gemacht wurden) das Volk im Riesengebirge noch heute
den berühmten Berggeist Rübezahl vor und erklärt
ausdrücklich: „Der Nachtjäger ist der Rübezahl."
Dazu stimmen denn auch die a>u besten Beglaubigten
älteren Überlieferungen, in denen der gedachte Geist mehr-
fach als grüner Jägersmann auftritt. Wie man dem
Nachtjäger in anderen schleichen Gegenden bestimmte
Berge oder Gebirgszüge als Jagdrevier zuweist, z. B. den
Mönchswald, den Probsthainer Spitzberg, das Eulen-
gebirge und wohl noch andere, so weist man ihm in diesem
Falle das Riesengebirge zu. Der Name Rübezahl thut
hier Nichts zur Sache. Wie der Nachtjäger zu demselben
gekommen, das ist freilich eine Frage für sich.
Schon aus weiter Ferne, so berichten zahlreiche Sagen
aus dem Riesen - und Eulengebirge, vernimmt man das
Kläffen, Winseln und Heulen der ihn begleitenden Hunde,
und Mancher vernahm deren Schnauben schon dicht hinter
seinen Fersen. „Diese Hunde sind manchmal nur ganz
kleine sogen. „Pimm-rla", die leicht hinter dem voran-
ziehenden Nachtjäger zurückbleiben, weil sie über einen
Graben nicht hinwegkönnen. Dann winseln sie ganz
erbärmlich, und wer sich ihrer erbarmte und ihnen darüber
half, erhielt vom Nachtjäger zum Dank einen Thaler."
Auf die Menschen, die ihm nicht aus dem Wege gehen,
schießt er und wohin er trifft, da entsteht bald eine schwere
Entzündung. So ging es z. B. dem verstorbenen „ala
Varwrigschaffer" (alten Vorwerksschaffer) zu Schlegel bei
Neurode. Der hörte auf einmal in der Nacht auf freiem
Felde das Bellen und Heuleu der Meute und das Halloh
und Knallen des Nachtjägers in nächster Nähe, und noch
ehe er sich sammeln konnte, knallte es mit einen: Male dicht
hinter ihm und hörte er eine Kugel pfeifen (sie!). Gleich
darauf fühlte er einen Schmerz im einen Beine. Da hatte
ihn der Nachtjäger hingetroffen und es dauerte lange, bis
die davon herrührende Wunde zugeheilt war.
Manch einsamer Wanderer im Eulengebirge hat auch
schon den Nachtjäger mit grausiger Stimme rufen hören:
„Hast du nicht einen Hasen gesehen?" Ein Bauer in der
Gegend von Neurode war einst so keck, dem in der Luft
vorüberziehenden Nachtjäger aus seinem offenen Fenster zu-
zurufen, er solle auch für ihn Wild schießen: „Nachtjäger
känntst mer ä wuas mite schißa!" Die Mitternacht darauf
fiel ein ganzes Menschen viertel durch den Schornstein
auf seinen Küchenherd.*) Der Bauer vergrub das Vier-
theil augenblicklich in seinem Garten; aber in der darauf
folgenden Mitternacht fiel es von Neuem durch den Schorn-
stein. Er vergrub es nochmals, doch es kam zum dritten
Mal wieder. Da endlich ging er zum Geistlichen des
*) Nach einer andern Mittheilung derselben Sage ein
geschossener Hase.
31
242
R. Drescher: Die Sagen vom Nachtjäger in Schlesien.
Ortes und bat diesen, zugegen zu sein, wenn er das grau-
sige Geschenk zum dritten Mal vergrübe. Das half deun
auch endlich.
Durch diese letzte Sage erfahren wir, was der Nacht-
jäger eigentlich jagt. Nicht nur Hasen und sonstiges
Jagdgethier, er jagt auch Menschen, aber nicht gewöhnliche
Menschen, sondern gespenstische gleich ihm selbst, sogen,
„elbische Wesen", deren Namen uns wieder aus an-
deren Sagen bekannt sind. Dem Volksglauben nach wer-
den nämlich die Wälder des ganzen schleichen Gebirges
von den sogen. „Püschweiblan" bewohnt. Das sind
nach ausdrücklicher Ueberlieferung kleine mit Moos be-
deckte Weiblein, die außerdem noch „Holzweib'l" oder
„Rütt'lweib'l" und in anderen deutschen Ländern
„Moosweiblein, wilde Frauen" u. s. w. genannt werden.
In einer verwandten Sage aus der Gegend von Saalfeld
in Thüringen heißt es auch ausdrücklich, daß in dem oben
erzählten Falle die Lende eines Moosweibleins auf den
Heerd niedergefallen sei.
So muß man auch bei uns früher die Sache angesehen
haben; denn Sagen des Riesen- und Rabeugebirges berich-
ten ausdrücklich, daß der Nachtjäger die „Püschweibla" ohu'
Unterlaß verfolge uud äugstige, und daß diese vor ihm nur
auf dem Stamm eines Baumes Ruhe fänden, bei dessen
Fall ein Holzhauer gesagt hätte: „Göt wäls", nicht aber:
„Wals @6t."*) Die Naturerscheinung, welche diesem
Mythus zu Grunde liegt, ergibt sich klar aus uachsolgeu-
dem Brauch der Bewohner unsres Rabengebirges; diese
sagen nämlich, wenn der Wind die Wolken am Gebirge
zerreißt: „Nü z!n de Püschweiblan H6m."
Vom Gefolge des Nachtjägers ist auch bei uns
die Annahme verbreitet, daß es aus den armen Seelen un-
selig Gestorbener bestehe. Die Schilderung: Geister mit
klaffenden Wunden oder den Kopf unter dem Arm, nach
Ruhe ächzend, umgeben von Hunden mit feurigen Zungen
u. s. w., entspricht völlig den oft haarsträubenden Erzäh-
lungeu vom wüthenden Heere aus anderen mitteldeutschen
Ländern.**) Die bei uns verbreitete Vorstellung jedoch, daß
die Hunde des Nachtjägers diese armen Seelen
seien, beruht auf einer Abfchwächnng der ev]t erwähnten
Vorstellung. „Gelangt eine solche arme Seele bei den Um-
zügen des Nachtjägers über einen Baumstamm, in desfen
Rinde ein Holzhauer, während er fiel, geschwind drei Kreuze
eingehauen hat, so ist sie erlöst." ***) In norddeutschen
Sagen wiederholt sich vielfach die Erzählung, daß einer
dieser Hunde in der Weihnachtszeit einmal durch die geöff-
nete Thür in ein Hans eingedrungen sei und dort ein gan-
zes Jahr ruhig unter dem Heerde gelegen habe n. s. w.^)
Mit diesen Erzählungen stimmt auch folgende schlesische
Sage dem Hauptinhalte nach überein, nur ist der Bezug
ausdeu Nachtjäger verloren gegangen, der ihr ursprünglich
gewiß ebenfalls eigen war.
Aus dem Kanthurhofe zu Poditau bei Glaz erschien
einst Abends um 9 Uhr ein schwarzer Pudel iu der Gesiude-
•) Grimm, Deutsche Sagen. Nr. 270. Noch heute sagen
unsere Holzhauer und Feldarbeiter jeden Morgen, wenn sie an
die Arbeit gehen: „Wals Göt!"
**) Vergl. Grimm, Myth. 837.
***) Aus dem Gläzischen. Um Saalfeld in Thüringen
gilt dasselbe ausdrücklich von den Moosweiblein, sobald'sie
sich auf einen solchen Stamm niedersetzen. Grimm, Deutsche
Sagen, S. 59.
t) Simr o ck, 225. Aus dieser Vorstellung auf einen Ofen
ubertragen stammt wohl das allgemein verbreitete auch aus
Schlesien von srüherher bezeugte Sprüchwort: „Er hat nicht
einen todten Hund ans'dem Ofen zu locken." Siehe
Sttef, Schles. Hlswr. Labyrinth. 1737. 264.
stube, legte sich lautlos auf die Bank am warmen Ofen
und schlief dort ruhig die ganze Nacht. Doch am Morgen
war er verschwunden. Am nächsten Abend aber kam er
um dieselbe Stunde uud legte sich wieder auf denselben
Platz. Das trieb er längere Zeit täglich so fort, alle
Hausbewohner gewöhnten sich an ihn uud keiner wagte ihn
zu belästigen. Da kam eines Abends spät ein Knecht
betrunken in die Stube, stieß und schlug deu Huud uud
jagte ihn von der Bank herunter. Doch nun fletschte der
Pudel mit einem Male die Zähne und schnappte in so un-
heimlicher Weise nach dem Knechte, daß diesem Angst wurde
uud er schnell in den nahen Stall hinter die Pferde flüchtete,
der Pudel hinter ihm her. Da hörte er den Pudel deut-
lich sagen:
Wärschte ne zwisch-r Stöl on Aisa,
Wöll ich d'r wuäs and'rsch b'waisa.
Die Hufeisen der Pferde und die Eisenbeschläge an
den „Ständen" ließen den Pudel uicht zu ihm heran.*)
Darauf verließ das Ungethüm den Stall, zerriß draußen
noch den Kettenhund und fort war es.
In nicht fchlesifchen deutschen und außerdem in nor-
dischen Sagen verlautet es, daß der wilde Jäger unter
anderm Gethier auch gespenstische Rinder verfolge.**) Auf
dieselbe, nur inzwischen bei uns verloren gegangene, An-
schannng scheint denn auch folgende schlesische Sage Bezug
zu haben: „Zu Mölten, unweit Glaz, saß einst spät
an einem Winterabende das Gesinde in der herrschaftlichen
Gesindestube gemüthlich plaudernd beisammen um den
warmen Ofen und die Mägde spannen dazu fleißig. Da
plötzlich ging ein Fenster auf und man sah einen Ochsen
seinen Kops in die Stube hereiustreckeu, nach einer Weile
aber wieder zurückziehen. Der Ochs sah einem sehr ähn-
lich, der im Stalle stand. Darum ging eine Magd hinaus,
um ihn anzubinden; denn alle meinten, er habe sich los-
gerissen. Wie sie aber in den Stall trat, sah sie den ge-
suchten Ochfen ganz ruhig und wohl angekettet auf seinem
Platze stehen, und kaum war sie mit ihrem Erstaunen wieder
in die Gesindestube eingetreten, da stieß schon wieder ein
Windstoß das Fenster auf und steckte derselbe geheimniß-
volle Ochs seinen Kopf in die Stube herein. Nun merkten
auch die Anderen, daß sie es mit einem Gespenst zu thuu
hatten."
In den meisten der bisher mitgeteilten Sagen war mit
dem gespenstischen Jäger der Teusel gemeint, aber Nacht-
jäger genannt; in den nachfolgenden wird ganz dieselbe
Persönlichkeit gemeint, diesmal aber Teufel genannt. In
ihnen hat der Nachtjäger wieder die Eigenschaft des Reiters.
*) Man vergleiche hierzu die oben geschilderte, auch außer-
halb Schlesiens heimische Sitte, Hufeisen, „weil glückbriu-
gend", auf die Thürschwellen zn nageln. Der Aberglauben,
daß Eisen vor bösen unheimlichen Gewalten schützt, ist noch
heute unter der Stadt- und Landbevölkerung Schlesiens sehr
verbreitet, und wir werden ihm weiter unten noch häufig be-
geguen. Man hegt ihn auch außerhalb Schlesiens (Grimm,
Aberglauben, LXXXV. LXXXVIII. XCI. XCV. XCVIII. CV.
cvii.) im Erzgebirge, um Saalfeld in Thüringen, um Pforz-
heim in Schwaben/ um Osterode im Harz, im Ansbachischen
in Fraukeu, in Westphalen, in Schweden u. s. w. ("Grimm
Myth. 952.) '
**) Simrock, Myth. 224. In Unterfranken ward ein
Mann zur Adventszeit Nachts durch die Erscheinung
eines feurigen Kalbes ohne Kopf erschreckt, das ihn mit
menschlicher Stimme anschrie. Es konnte ihm nichts anhaben,
w"l er Brot bei sich trug. Mü n ch n e r Sonntagsblat t,
1865. S 350. Von einem „gespenstischen Ochsen aus
dem wüthenden Heere, der Nachts in die Häuser
eindringt erzählt auch eine bayrische Sage bei Panzer,
Beitrag z. d. M. II. 67.
R. Drescher: Die Sagen
Zwar führt er diesen Namen nicht mehr. Trotzdem aber
ist er es.
In einer stürmischen Nacht wurde einst der Schmied
zu Eckersdorf plötzlich aus dem Schlafe geweckt. Es war
ein unheimlich aussehender fremder Mann da, der sein
Pferd frisch beschlagen lassen wollte. Auch das Pferd kam
dem Schmied ganz unheimlich vor, es sah gar nicht aus,
wie andere Pferde und obendrein hörte er bei der Arbeit
ein fortwährendes Wimmern und Wehklagen, ohne daß er
sich zu erklären vermochte, woher das kam. Als er fertig
war, belohnte ihn der Fremde überreichlich mit vielem
Gelde und kaum saß er auf dem Pferde, hui war er fort.
Zugleich verstummte auch das grauseuerregeude Wimmern
und Wehklagen. Erst am andern Morgen erfuhr der
Schmied, daß dieselbe Nacht ein Nachbar von ihm unselig
gestorben war, und nun wurde ihm mit Schrecken klar, daß
er dem Teusel sein Roß beschlagen hatte. Das Roß aber
war des Nachbars arme Seele gewesen, die der Teusel
zur Hölle geritten hatte. Der Schmied war ein frommer
Mann, er rührte das Tenfelsgeld nicht an, sondern übergab
es ungetheilt einem Steinmetzen, der ihm ein steinernes
Kreuz dafür machte. Das stellte er vor seinem Haufe auf,
und da ist es heute noch zu sehen.
Aehnlich aber noch schlimmer erging es dem Schmiede
zu Buchau bei Neurode. Zu dem kam auch einst mitten
in der Nacht ein vermummter Reiter und ließ sein Pferd
beschlagen, und auch er hörte dabei ein fortwährendes
Wimmern. Da auf einmal beim dritten Eisen hört er das
Pferd deutlich und mit bekannter Stimme sagen: „O wih
G' votier!" Es war die Seele seines Gevatters, des
Müllers, deu der Teufel in derselben Nacht geholt hatte.
Der Schmied soll ihm wenige Tage daraus nachgefolgt
sein.*)
Wie im ganzen übrigen Deutschland besitzen wir aber
auch in Schlesien eine Reihe von Sagen mit einem histo-
rischen Hintergrunde, die mit den Sagen vom Nacht-
jäger scheinbar nichts zu thun haben, dennoch aber auf der-
selben mythischen Grundlage beruhen.
In Grünau bei Striegau lebte einst ein sehr böser
gottloser Herr, gen. ,,d-r äle Schernhaus (Tschirnhaus)",
der keiu größeres Vergnügen kannte als die Jagd und das
Reiten. Außerdem war er hart und grausam gegen seine
Unterthanen iu Grünau. Diese hatten Jahraus, Jahrein
keine Ruhe vor deu harten Frohndiensten, fast unerfchwing-
liehen Abgaben, endlosen Botengängen und ganz besonders
wegen der Treiberdienste bei seinen fortwährenden Jagden
in dem nahe gelegenen Eichenwalde gen. „der Hmn" d. i.
der Hain. Wer sich nur den geringsten Einwand gegen
seine Wünsche erlaubte, wurde stets auf das Grausamste
körperlich gezüchtigt oder kam in den finstern Thurm, der
noch heute gezeigt wird. So betete denn auch für ihn keine
Lippe, als das Gerücht ging, er läge auf dem Todtenbette;
und als er todt war, zweifelte kein Mensch daran, daß ihn
der Teufel geholt habe. Er faud keine Ruhe im Grabe.
Oft sah man ihn auf seinem schneeweißen Schimmel durch
deu „Huau" jageu, wie bei seinen Lebzeiten, wenn er einen
Hirsch oder einen Hafen verfolgte. Ost kam er auch bei
Tage und bei Nacht aus dem „Huan" in rasendem Galopp
heraus in das Dorf und in den Herrenhof herein, ganz wie
früher, als er noch lebte; und jeder Mann zog sich scheu
vor ihm in sein Haus zurück, und, wer katholisch war, schlug
ein Kreuz. Der hochbetagte Greis, von dem ich mir die
Geschichte als Kind oftmals erzählen ließ, betheuerte jedes-
*) Fast wörtlich denselben Inhalt hat eine Sage aus
Rastenburg in Ostpreußen iu Grimms d. S. S. 284.'
vom Nachtjäger in Schlesien. 243
mal, daß seine Mutter, welche in ihrer Jugend auf dem
Herrenhofe als Magd gedient hatte, ihn einst etwa um das
Jahr 1769 am hellen lichten Tage mit allen übrigen Leuten
des Hofes habe plötzlich erscheinen sehen. Sein Anblick
scheuchte sofort jedes lebende Wesen aus dem Hofe in das
alte Schloß, das Gesindehaus, die Ställe, die Scheunen,
so daß Niemandem ein Leid widerfuhr. Meine Mutter
aber stand auf dem „Simse" am Gesindehause und beob-
achtete ihn durch ein Astloch. Er that aber Nichts, als
daß er etwa drei Mal den Schimmel rings um den Hof
herum trieb und dann plötzlich zum obern Hofthore hinaus-
jagte in das Dorf. Das ging lange Zeit so fort, bis end-
lich ein kluger Marrn*) herbeigeholt wurde, der Geister zu
baunen verstand. Dieser machte sich mit seinen Künsten
an das Gespenst, das ihm zu entgehen sich vergeblich in die
verschiedensten Thiergestalten verwandelte. Endlich wie es
gerade eine Hummel geworden war. fing es der Mann und
sperrte es in einen Sack. In dem machte sich aber die
Hummel schrecklich schwer. Doch wurde der Sack mit vieler
Anstrengung in die herrschaftliche Karosse gehoben und der
Geisterbanner setzte sich mit hinein neben ihn. Wie sehr
aber auch die vorgespannten Pferde anzogen, die Kutsche
bewegte sich nicht von der Stelle. Da spannte man sämmt-
liche 12 Pferde und ebeu so viel Ochseu aus den Hofställen
vor und nun ging es mit vieler Mühe zum Hose hinaus in
den nahen Eichenwald und zwar in den Theil, welcher der
„Ob ° rhuän" (Oberhain) geuauut wird. Hier ward das
Gespenst iu eine große Doruhecke hinein gebannt, in deren
Nähe es seitdem bis zum heutigen Tage „spukt" und beson-
ders gern Vorübergehenden aufhockt. Noch heute wird auf
dem grnnaner Herrenhofe ein steinernes Bildniß gezeigt,
das aus deu Ruinen des alten Schlosses der Tschiruhause
stammt und in ganzer Figur und beinahe in Lebensgröße
einen langbärtigen Greis in der ritterlichen Tracht, etwa
des 15. Jahrhunderts, als Halbrelief erkennen läßt. Diese
Figur stellt nach dem Volksglauben „da Kla Schernhaus"
dar, von dem die Sage erzählt wird. Sie ist aber schon
längst arg verstümmelt; denn wohl seit mehr als einem
Jahrhundert schon, und noch bis zum heutigen Tage, werfen
die Dorf- und Hoskinder zu Grünau im Angedenken an
die Sage unermüdlich mit Steinen nach ihr, indem sie sagen:
„Na wort ok du lll-r Schernhaus."
Nachweislich gehörte Grünau in der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts zweien Brüdern aus der adeligen
Familie v. Tschirnhaus. Das alte Schloß brannten erst
die Preußen nieder in den schleichen Kriegen. Aehnliches
erzählt man sich in der Gegend von Schön au, wo die frei-
herrliche Familie V. Zedlitz-Neukirch seit fünf Jahr-
Hunderten schon reich begütert und noch heute ansässig ist.
Zu Tief-Hartmannsdorf, so geht die Sage, lebte vor
vielen vielen Jahren einmal ein Herr v. Z. von überaus
böswilliger Gemüthsart, der feine armen Unterthanen über
alle Begriffe plagte und bei den geringsten Vergehungen
hart und unbarmherzig strafte. Am meisten aber hatten
sie von seiner Jagdliebhaberei zu leiden, die schier uuersätt-
lich war. Er hatte in seinem Leben so viel Böses gethan,
daß er auch keine Ruhe im Grabe fand, sondern verdammt
war, uach dem Tode ruhelos zu reiten und zu jagen und
in Feld und Wald umherzustreifeu. Schon als er begraben
werden sollte, konnte der Sarg nicht getragen werden, son-
dern Pferde mußten ihn mit großer Anstrengung nach dem
Kirchhofe fahren, und als man vom Leichenbegängniß in
der Dunkelheit zurückkehrte, fand man das Zimmer des
*) Ausdrücklich hier nur „ein kluger Manu", kein Geist-
licher!
31 *
244 Fr. Brinkman
Verstorbenen im Schlosse erleuchtet, obwohl Niemand darin
war. Im nächsten Jahr an seinem Begräbnißtage Nachts
um 12 Uhr entstand aber plötzlich in allen Ställen des
Herrenhofes eine unerklärliche Unruhe. Die Rinder brüll-
ten, Schafe, Schwarz-und Flügelvieh gaben ängstliche Töne
von sich, die Hunde heulten, und vor Allem die Pferde
schlugen in ihren Ständen aus und wollten sich losreißen.
Zugleich entstand ein plötzlicher Sturmwind und „d' r äle
Z." kam auf seinem „schneeweißen Schimmel", den er auch
bei Lebzeiten geritten hatte, zum Hofe hereingejagt, stieg
ab, und bald wurde es in seinem Zimmer licht. Um 1 Uhr
erschien er wieder unten, stieg auf und jagte davon. So
geschah es alljährlich lange Zeit, bis man sich endlich an
einen Geistlichen in Liegnitz wandte, der als Teufels - und
Geisterbanner großen Ruf genoß. Dieser kam denn auch,
auf seinen Rath wurde der Todte wieder ausgegraben und
iu eine nahegelegene finstere Waldschlucht, genannt „der
tiefe Grund" gefahren und dort von Neuem begraben.
Nach der einen Erzählung trieb man einen eisernen
Pfahl in das neue Grab hinein, nach der andern wurde
dem Todtcn von dem Geistlichen ausgegeben, so lange den
nächtlichen Spuk zu lassen, „bis er einen Teich im
finsteren Grunde mit einer Kanne ausgeschöpft
haben würde, die keinen Boden hatte".
Nun geschah es aber lange Jahre nachher, daß in einem
heißen Sommer der Teich von selbst austrocknete. Sogleich
begann auch der Todte wieder seine nächtlichen Ritte, und
das alte Unwesen mit ihm fing wieder von vorne an. Da
berief man zum zweiten Male einen Geisterbanner. Auch
n: Stadt Steyer.
dieser fing das Gespenst ein. Wieder mußte man es mit
vieler Anstrengung nach dein tiefen Grunde fahren, und
jetzt stellte ihm der Geisterbanner die Ausgabe, sich so lange
ruhig zu verhalten, „bis es eine große alte Eiche mit
einem hölzernen Messer durchschnitten haben
würde". Seitdem kam der Todte nicht mehr wieder. —
Der alte Mann, welcher mir das unter Anderem erzählte,
behauptete, als Knabe noch den Kutscher gekannt zu haben,
der in dem Rufe gestanden hatte, den Todten das zweite
Mal nach dem tiefen Grunde gefahren zu habend)
Von einem einstigen Burgherrn auf Burg Lähnhaus,
Konrad, auch aus dem Geschlechte der Zedlitze, der selbst,
den geschichtlichen Nachrichten zufolge sich allerdings durch
Härte und ein schonungsloses Verfahren gegen feine Unter-
gebenen hervorgethan zu haben scheint, geht eine ähnliche
Sage noch heute unter dem Landvolke in der lähner Gegend.
„Er fand keine Ruhe im Grabe und muß zur Strafe für
seine Grausamkeiten bis zum jüngsten Tage als Gespenst
umherreiten." Viele wollen ihn gesehen haben, die Nachts
von Mitternacht her aus Märzdorf gekommen und über
den Hellaberg bis zur Hagenschenke gewandert, wie
er den Kopf unter dem Arm anf feuerschnaubendem
Rappen plötzlich vom Burgberge herabgesprengt und
gegen das Städtlein zugeritten sei.**)
*) Theils _ nach selbst siesammelten mündlichen Berichten,
theils nach einer aus Kaufungen stammenden Aufzeichnung
meines Freundes Oelsner.
**) Knoblich, Lahn 1863. S. 156.
Stadt
Studie von Di'. Fi
Nachdem wir uns so mit der Lage der Stadt und ihrer
Umgebung bekannt gemacht haben, treten wir in sie ein
und betrachten sie uns von innen. Die Bauart
ist diejenige, welche man allgemein in den Städten und
großen Marktflecken Oberösterreichs antrifft, und womit
die große Masse der Reisenden vorzüglich in Linz bekannt
wird. Das besonders Charakteristische derselben, das eigen-
thümlich flache Dach, in welches die hohen und breiten
Fa<?aden der Häuser auslaufen, findet man hier sogar noch
häufiger als in Linz. Dazukommt der sehr helle, meist
weiße oder mattgelbe Anstrich, der sehr lang gestreckte vier-
eckige Marktplatz mit zwei schönen Brunnen und zwei als
Schmuck derselben angebrachten Standbildern des heiligen
Leopold und der Maria, und der unvermeidliche Zopfstyl
der Kirchen mit ihren doppeltgekuppelten Thürineu.
Was aber die Häuser von Steyer vor denen von
Linz und aller anderen österreichischen Städte auszeichnet,
das ist die Ausschmückung der Fa?aden mit Freskogemälden,
die beim Durchwandern der Straßen uns so häufig vor-
kommt, daß wir dadurch lebhaft au Tyrol und das bayrische
Hochland erinnert werden, und diese Eigentümlichkeit
möchte sich wohl dadurch erklären, daß Steyer die älteste
Stadt des Landes, die alte Hauptstadt der Steyermark ist,
K t e y e r.
iedrich Brinkmann.
und das altertümliche Aeußere sich treuer bewahrt hat als
die anderen Städte. Unter diesen Bildern fällt uns befon-
ders die große Zahl vou Nachbildungen der lieblichen
Madonna Mariahilf von Kranach auf (siehe meine „Stn-
dien und Bilder" II, S. 191 bis 114), dann aber eine
merkwürdige Darstellung der Dreieinigkeit, eine der älte-
sten, welche die Kunstgeschichte kennt, dadurch charakterisirt,
daß über dem am Kreuze Hangenden Christus Gott Vater
mit einer dreifachen Krone auf dem Haupte die Arme aus-
breitet und so die Enden der Kreuzesarme festhält, unter
dem Sohne aber, in der Gegend der Hüften, der heilige
Geist in Gestalt einer Taube schwebt. (Die alten Meister
haben häufig in dieser Weise die Dreieinigkeit dargestellt,
z. B. Amberger, Schüler Hanns Holbein des Aeltern,
siehe in der alten Pinakothek zu München, Kabinet VII,
Nr. 121.)*)
Die Straßen sind trotz der vielen Fenersbrnnste,
welche die Stadt erlebt hat, so enge, wie man es in unseren
-) Ein Haus auf der Hauptstraße (in der Enge) ist durch
etite goldene Inschrift als die Gebnrtsstätte des durch die Tra-
vestie derAene'lde berühmt gewordenen Dichters B lumauer ans-
gezeichnet, der hier 1755 geboren wurde und 1793 in Wien starb.
Fr. Brinkmai
ältesten Städten nur antreffen kann. Man scheint eben
bei allen Erneuerungen immer die alten Straßen bei-
behalten zu haben. Auf den meisten, selbst den lebhaftesten,
können zwei sich begegnende Wagen nur mit Mühe eiu-
ander ausweichen. Das Pflaster aber ist durchschnittlich
so schauderhaft schlecht, daß man glauben möchte, es sei
nur für das so zahlreich, weit und breit aus der Umgegend
hieher zusammenströmende Landvolk berechnet, und der
Fremde, der nach Steyer kommt, thnt sehr wohl daran,
seine doppelsohligen, nägelbeschlagenen Bergschuhe wieder
hervorzusuchen.
Die schönsten Häuser stehen an dem langen Markt-
platze zusammen, und unter ihnen erhebt sich in der Mitte
einer Langseite das stattliche Rath haus. In einer Ecke
liegt die alte, im Jahre 1472 erbaute Dominikanerkirche,
die an Wochentagen ebenso wohl wie an Sonntagen eines
außerordentlichen Besuches sich erfreut und die Lieblings-
kirche der Steyrer ist, ein seltsamer, überall sich wieder-
findender Zug des Volkes, daß es die kleinen Kirchen,
besonders frühere oder noch als solche bestehende Kloster-
kirchen den großen Domen vorzieht.
Vom Markte ziehen sich die Häuser den Abhang hinan
und oben auf dem Hügel steht die alte, ehrwürdige Pfarr-
kirche, die zwischen all den anderen, im Renaissancestyl
gebauten Kirchen Oberösterreichs uns wie eine Oase in der
Wüste erscheint, denn sie ist rein gothischen Styles. Das
entgegengesetzte Ende der eigentlichen Stadt und zugleich
der Mittelpunkt des aus dieser und den Vorstädten be-
stehenden Ganzen wird durch das Schloß markirt, das,
wie wir schon sahen, ganz nahe am Vereinigungspunkte
beider Flüsse liegt.
Wir wollen uns jetzt diese drei merkwürdigsten Gebäude
Steyers, die zugleich hervorstechende Züge seiner Physio-
gnomie ausmachen, das Rathhaus, die Pfarrkirche und das
Schloß etwas genauer ansehen.
Das Rathhaus ist jüngernUrsprungs, als man von
einer so alten Stadt erwarten sollte, entspricht aber darum
um so besser dem Charakter der ganzen Stadt, da in Folge
der vielen Feuersbrünste nur sehr wenige alte Häuser sich
erhalten haben. Es wurde in den Jahren 1765 bis 78
erbaut. Es ist drei Stockwerke hoch, vom ersten springt
ein Altan vor und oben zieht sich um das flache Dach ein
steinernes, mit Statuen geschmücktes Geländer. Darüber
erhebt sich aber ein sehr zierlicher, golden strahlender
Kuppelthurm.
Im Innern werden noch manche Andenken an die alte
Zeit aufbewahrt: die Bildnisse des Erzherzogs Ferdinand
von Tyrol und seiner Gemahlin Philippine Welser, der
schönen Bürgerstochter von Augsburg; das Bild Kaiser
Karls VI., in dessen Perrücke sich ein gewisser Philipp
Pachter als der „Reiß- und Schreibekunst Liebhaber" ver-
ewigt hat, indem er das Lob der Weisheit aus der Bibel
hineinschrieb; sechs zinnerne Krüge von altertümlicher
Form, aus denen man in früheren Zeiten, wo bei den
Hochzeiten der wohlhabenden Bürger der erste Tanz aus
dem Rathhause gemacht wurde, den Ehrentruuk zu nehmen
pflegte, n. a. m. Am interessantesten möchten unter diesen
Dingen aber wohl die im Archive aufbewahrten Symbole
der richterlichen Gewalt sein, welche die Stadt vermöge
eines besondern Privilegiums früher besaß: das große
Schwert, welches dem jedesmaligen neugewählten Stadt-
richter nach der Bestätigung durch den Landesherrn über-
geben und bei der Verkündigung der Urtheile vor ihm her-
getragen wurde, und der alte Blutrichterstab mit einem
silbernen durchbrochenen Griffe, den dieser bei der Verkün-
digung der Blntnrtheile in der Hand hielt. Es erinnern
t: Stadt Steyer. 245
uns diese beiden Zeugen der alten Zeit an die sehr nnab-
hängige, deu freien Reichsstädten fast gleiche Stellung,
welche Steyer in Bezng auf die Gerechtigkeitspflege den
Landesherren gegenüber einnahm. Schon durch das große
Privilegium Älbrechts I. v. I. 1287 erhielten die Bürger
das Recht, sich ihren Stadtrichter selbst zu wählen und die
Eremption von dem Landrichter. Der Blutbann, d. h. die
Eriminaljustiz über todeswürdige Verbrechen wurde damals
ausgenommen. Aber auch dieseu bekam die Stadt im
Jahre 1523, und damit war denn die Eremption vollstän-
dig und unterschied sich nur dadurch von derjenigen der
Reichsstädte, daß der gewählte Stadtrichter der landesherr-
licheu Bestätigung bedurfte. Unter Joseph II. (1786) kam
die Beschränkung hinzu, daß nur eiu geprüfter Jurist wähl-
bar war. —
Die Pfarrkirche wurde in den Jahren 1443 bis 1522
erbaut und zwar nach dem Vorbilde der Stephanskirche in
Wien. Sie litt dann aber gleich nach ihrer Vollendung
bedeutend durch eine Feuersbrunst und wurde erst 1630
ganz wiederhergestellt. Das Junere ist 120 Fuß lang,
70 Fuß hoch und durch acht Paare von Säulen, die
oben an der Decke in ein Netzwerk von Aesten auslaufen,
in drei Schiffe getheilt. Die sieben Altäre gehörten bis
in die neueste Zeit dem Zopfstyle an. Man hat aber jetzt
angefangen, sie nach und nach durch gothische zu ersetzen.
Der neue Hauptaltar steht schon seit einer Reihe von
Jahren da. Er ist von Guggenberger in München ange-
fertigt und macht dem Meister alle Ehre. Es ist ein Auf-
bau von Thürmchen und Pfeilern mit Figuren. Doch
sind jene mehr als zu Grunde gelegtes Schema, als Hinter-
grnnd und Abschluß des Ganzen verwandt, der Hanptranm
ist von Figuren erfüllt. Ein gekreuzigter Christus mit
Maria und Johannes steht in der Mittlern, größten Nische,
zu jeder Seite ein Heiliger in einer Nebennische; darunter
zwei betende Engel, darüber Peter und Paul, uud ganz zu
oberst Gott Vater. Vou besonders wohlthueuder Wirkung
sind die angewandten matten Farben, Braun, Mattblau,
Mattroth mit Gold.
Zu diesem Hauptaltare sind im 1.1864 zwei gothische
Nebenaltäre gekommen, die sich jedoch mit ihm an Kunst-
Werth nicht messen können und von einem steyrer Tischler
herrühren. Sie stehen auf beiden Seiten des Hochaltars
und wurden gerade an dem Tage, als ich die Kirche besich-
tigte, aufgestellt. Am folgenden Morgen sollten unter-
großen Ceremonien die reich aufgeputzten, mit Gold und
Perlen ganz bedeckten Reliquien der Schutzheiligen
Columba, die seit dem Jahre 1688 hier ruhen, in ihrem
neu angefertigten, dem gothischen Style entsprechenden
gläsernen Schreine an dem einen der Nebenaltäre aus-
gestellt werden.
Auch die Kanzel ist im gothischen Style. Von den
Fenstern sind die sieben dem Hochaltare zunächst liegenden
mit Glasmalereien bedeckt und fünf davon rühren noch aus
alter Zeit her. Sehenswerth ist auch der in einer befon-
dern, dem heiligen Sebastian geweihten Kapelle stehende
Taufstein aus Gußeisen, 8 Fuß hoch, im Durchmesser
5 Fuß breit, und über 15 Centner schwer (im 1.1569 ge-
gössen). Er hat die Gestalt einer Vase und ist reich mit
Basreliefs geschmückt.
Der Thurm paßt leider nicht zur Kirche. Er hat
eine Kuppel, wie sie alle Kirchthürme Oberösterreichs
tragen.
Im I. 1545 wurde dieser Dom für den protestan-
tischen Gottesdienst eingerichtet, also ungefähr um
dieselbe Zeit, wo seine Brüder in Nürnberg, die Lorenzo-
246 Fr. Brinkman
und die Sebaldnskirche, das gleiche Schicksal erfuhren. Die
Neuerung dauerte aber hier nur bis zum Jahre 1621.*)
Jetzt bringt wieder Tag für Tag der Priester in weißem
Gewände das Meßopfer dar, der Weihranch dampft, und
das Volk beugt feine Knie vor den Gebeinen der heiligen
Columba, als ob nie etwas Anderes hier bestanden hätte.
Das Andenken an die protestantische Zeit ist bis auf die
letzte Spur im Volke verschwunden. Vivat Ferdinandns!
Du hast gesiegt, großer — „Reformator"!!
Dieser Gedanke mit all' den anderen, die sich daran
ketten, ist es, der uns den Genuß dieses alteu gothischeu
Baudenkmales verbittert. Verstimmt und verdüstert kehren
wir ihm den Rücken.
Im Vorbeigehen werfen wir nur noch einen Blick aus
die kleinere, dicht bei der Kirche stehende Margarethen-
kapelle, die in rein gothischem Style gebaut ist und auch
eiu zierliches gothisches Thürmchen trägt, indessen jetzt nn-
gebraucht dasteht, und steigen dann wieder zur Stadt hinab,
um das Schloß uns anzusehen. —
Wie das Schloß der Mittelpunkt der ganzen Stadt
ist, so war es auch der Anfang derselben. Wenn es wahr
ist, daß die Römer schon hier angesiedelt waren, wofür
allerdings einige Thatfachen zu fprechen scheinen, so werden
sie auch an der Stelle, wo jetzt das Schloß steht, als der
strategisch wichtigsten ein Kastell gehabt haben, und Viele
halten in der That den breiten, viereckigen Thurm, der
über das Schloß hervorragt, für ein Werk der Römer.
Gegründet wurde dieses vou den Ottokaren und war
immer ihre Residenz. Nach der Vereinigung von Steyer nnd
der Steyermark mit Oesterreich wurde es der Sitz der vou
deu österreichischen Herzogen als Vertreter hergeschickten
Burggrafen. Die letzten waren die Grafen von Lam-
berg. Im I. 1666 erwarben sie durch Kauf das Schloß
als Eigenthum und sind von da an im Besitze desselben ge-
blieben bis zur Gegenwart. Im I. 1707 wurde das
Haus in den Fürstenstand erhoben und gehört seitdem zu
den ersten Fürstenhäusern Oesterreichs.
Im Uebrigen ist das Schloß historisch noch dadurch
merkwürdig, daß Herzog Johann Friedrich von Sach-
sen, der besonders durch seinen Antheil an den Grumbach-
scheu Händeln bekannt ist, hier am 9. Mai 1595 starb,
nachdem er 28 Jahre theils in Dresden, theils in Wien,
theils in Wienerisch-Neustadt als Gefangener und Ge-
ächteter gelebt hatte. Der Grund, warum er nach Steyer
gebracht wurde, war der Türkenkrieg. Er starb aber noch
in demselben Jahre, in welchem das dortige Schloß sein
Gefängniß geworden war.
Von jenem Schlosse des 16. Jahrhunderts ist aber mit
Ausnahme des dicken Thurms kaum etwas übrig, da es
zu verschiedenen Malen von Feuersbrünsten zerstört wurde,
zuletzt im Jahre 1824.
Von außen betrachtet hat der vielsenstrige, ein lang-
gestrecktes Dreieck bildende Bau wenig Ansprechendes.
Das Innere verdient aber eine nähere Kenntnißnahme
und möchte vielleicht Manchem das Interessanteste sein,
was in Steyer zu sehen ist.
Es findet sich hier nämlich eine Hirsch-, Reh- und
Gemsgeweihsammlung von einer solchen Größe und
Vollständigkeit, daß man der Behauptung Glauben schenken
darf, es sei die größte in ganz Europa. Der letzte,
vor einigen Jahren verstorbene Fürst war ein leidenschast-
Itcher Jagdliebhaber und hat über dreißig Jahre laug mit
den bedeutenden Geldmitteln, die ihm zu Gebote stauden,
an dem Zustandebringen dieser Sammlung gearbeitet.
Die Hirschgeweihe füllen nicht weniger als zehn große
n: Stadt Steyer.
Säle nnd mehre Gänge. Sie sind theils auf Hirschköpfen
an den Wänden in unzähligen Massen angeheftet, theils
sind daraus allerlei Möbel, Stühle, Ruhebänke, Sessel,
Tische und Kronleuchter verfertigt. Die größten, schön-
sten, prachtvollsten Geweihe, die je auf der Stirn eines
Hirsches gewachsen, sind hier zu sehen, und daneben wieder
die seltsamsten Anomalien und Mißbildungen, die allein
einen ganzen Saal füllen. Dazu kommen dann noch die
Säle mit Rehgeweihen, unter denen viele die Größe von
Hirschgeweihen haben, und Gemshörnern, mit einzelnen
Exemplaren von Steinbock-, Elennthier-, Antilopen - und
Rennthierhörnern.
Mitten unter diesen Jagdtrophäen wird das schlichte
Jagdgewand des Fürsten, eine graue Joppe, und das seines
Freundes, des Fürsten von Schwarzenberg, in gläsernen
Schreinen aufbewahrt.
_ Der Fürst war einer der reichsten und angesehensten
Aristokraten des österreichischen Staates, und doch war er
Wohl kein glücklicher Mann. Dort hängt sein Bild in
einem der Prunksäle, welche dem Fremden nach der Besich-
tigung der Geweihsammlung gezeigt werden. Es stellt
ihn in Lebensgröße dar, im Jagdanzuge, mitten in einer
Hochgebirgslandschast. Es ist von einem der ersten Künstler
der Hauptstadt angefertigt und von entschiedenem Kunst-
werthe. Je länger man die Person anschaut, um so leben-
diger wird sie, um so plastischer hebt sie sich aus dem
Rahmen heraus und endlich ist es, als ob sie wirklich aus
dem Rahmen hervorträte, und lebte und athmete. Ueber
was mag ersinnen? Schweift sein Geist in die Vergangen-
heit, denkt er vielleicht an seine Aeltern, deren Bild ihm
gerade gegenüber hängt und wirklich ein Bild des Glückes
ist, häuslichen Glückes? Oder denkt er an die Zukunft
seines Geschlechtes? — Was mag der Grund des Leidens
sein, das sich so deutlich iu seinem Gesichte, seiner Haltung,
und besonders in der so meisterhaft gemalten, über sein
Knie herabhangenden Hand ausspricht?
Er starb früh in der Blüthe seiner Jahre, und kaum
hatte er die Augen geschlossen, so brach zwischen seinen
Söhnen und zwischen diesen und den Agnaten ein leiden-
schastlicher Prozeß über die Erbfolge aus, der seinen Grund
in deu eigeuthümlicheu Familienverhältnissen des Fürsten
hat und wegen der schwierigen Rechtsfragen, die dabei zu
entscheiden sind, und des kolossalen sideikommissarischen
Vermögens, welches das Streitobjeet bildet, ein langes
Leben fristen wird. —
Zur Physiognomie unserer alten Städte gehören be-
kanntlich in der Regel auch mehr oder weniger gut erhal-
tene Stadtmauern mit Wall und Graben nnd Stadt-
thore, und so wollen wir denn nach Besprechung der
öffentlichen Gebäude Steyers auch dieses Punktes kurz
gedenken. Früher war die Stadt stark befestigt und mußte
es sein, um alle die Belagerungen und Angriffe auszu-
halten, die ihr böser Stern über sie brachte. Die erhaltenen
Reste dieser Befestigungen sind jedoch unansehnlicher, als
wir es erwarten dürfen. Nur einzelne wenige Spuren sind
geblieben: ein Theil des alten Stadtgrabens, der uns auf-
fällt, wenn wir vom Schlosse durch deu ausgedehnten, im
französischen Geschmacke angelegten Schloßgarten nach der
Stadt zurückkehren, von hier bis zum Gilgenthore (wo-
durch man nach Garsten geht) sich zieht und zur Anlage
von schönen Gärten benützt ist; der Name Tabor für den
nördlich von der Stadt liegenden Berg, da er von den böh-
mischen Söldnern des Georg von Stein, zeitweiligen Be-
sitzers von Steyer, herrührt, die hier oben Schanzen auf-
warfen (im 15. Jahrh.), und Tabor im Böhmischen soviel
Ein Besuch auf der Eil
wie Schanze bedeutet; und dann besonders die Stadtchore,
deren es jetzt noch fünf gibt, während früher, da Cunsdorf
uud Steyerdorf noch jedes besonders befestigt waren, ihre
Zahl sich auf zehn bis zwölf belief. Auf ihnen findet sich
noch immer das alte Wappen der Stadt abgebildet,
dasselbe, welches früher die alten Herzoge von Steyer, die
ldgruppe der Marianen. 247
Ottokare, führten, ein weißer, aufrecht stehender Panther
in grünem Felde, der aus dem Rachen und den Ohren
Feuer sprüht, letzteres vielleicht eine Anspielung auf die
Feueressen der mannigfaltigen Werke der Eisenindustrie,
die seit den ältesten Zeiten in Steyer uud der Steyermark
blühten.
Ein Besuch aus der Eil
Wir erhalten nur dann uud wann spärliche Kunde
über diese oeeanischen Inseln, welche in langer Reihe sich
zwischen dem 13. und 24. Grad nördl. Br. von Norden
nach Süden hinziehen. Jetzt liegt der Bericht des spanischen
Korvettenkapitäns Engenio Sanchez y Zayas vor,
welcher im Auftrage seiner Regierung die verschiedenen
Inseln der Gruppe im Jahre 1864 besucht hat.
In unseren geographischen Handbüchern lesen wir:
„Die Inseln bestehen hauptsächlich aus Korallenkalk; nur
auf Gnajan finden sich alte vulkanische Gesteine." Dagegen
sagt Sanchez y Zayas, daß alle Inseln vulkanischen
Ursprungs zu sein scheinen, und daß man auf der Mehr-
zahl derselben noch jetzt thätige Vulkane fiude.
Er theilt die Eilande in drei Gruppen. Die südliche
wird gebildet durch die Juselu: Guajau (mau schrieb früher
gewöhnlich Guam oder Guaham), Nota, Aguigau, Tinian
uud Saypan. Sie sind wohl sämmtlich von älterer geologi-
scher Bildung, die größten unter allen, von mittlerer Höhe,
am wenigsten gebirgig und gegenwärtig die allein bewohnten.
Die mittlere Gruppe besteht aus: Farallon de Medinilla,
Anatajan, Sariguan, Guguau, Alamaguau, Pagan und
Agrigau; sie ist eiu Durcheinander von Felsen und Vul-
kanen, die theils erloschen, theils noch in Thätigkeit sind.
Früher haben sie Bewohner gehabt. Die nördliche Gruppe
wird gebildet aus den Inseln: Asnucion, Uracas uud
Pajaros; alle drei haben vulkanische Kegel; der auf der
erstem ist erloschen, der Krater auf der zweiten ist ein-
gestürzt und jener auf der dritten in voller Thätigkeit.
Die Marianen sind am 6. März 1521 von Ferdinand
Magellan entdeckt worden; er nannte sie Ladronen oder
Diebsinseln; eigentlichen Besitz ergriffen die Spanier
erst 1668.
Man erzählt so viel von den Grausamkeiten, welche
von Seiten der christlichen Eroberer in Mexiko und Peru,
überhaupt in Amerika verübt worden sind; aber so ent-
setzlich diese Gräuel auch gewesen sind, sie werden weit über-
troffen von den auf den Marianen verübten. Die Inseln
hatten eine zahlreiche Bevölkerung, die zwischen mindestens
40,000 uud höchstens 100,000 Köpfe betrug. Der Pater
Sauvitores, vou welchem 1690 ein Werk über diese
Eilande erschien, will in einem einzigen Jahre an 50,000
Seelen getauft haben; er bemerkt, daß allein auf Guajau
180 Dörfer vorhanden gewesen seien. Diese sind alle ver-
schwuudeu, aber die Namen der Oertlichkeiten kennt man
jetzt noch. „Ick) selber habe viele Punkte besucht, an denen
laut der Ueberlieferuug einst Jndianerhütten im Schatten
von Kokospalmen standen; jetzt sind sie mit Gestrüpp über-
wuchert. Die Berichte der Missionäre sind vielleicht über-
trieben, aber die vielen Ruinen von Gräbern, welche man
aus Schritt uud Tritt findet und zwar nicht bloß auf
Gu'ajan, sondern auf allen anderen Inseln, und die mit
ndgruppe der Marianen.
Menschenschädeln angefüllten Grotten, die fehr häufig sind
und für die Eingebornen ein Gegenstand des Kultus waren,
zeugen für eine einst zahlreiche Bevölkerung. Auch die
Kokosbäume sprechen dafür, daß die Inseln bewohnt waren,
denn diese Palme ist allemal eiu Beweis für die Anwesen-
heit von Menschen; sie bezeichnet den Gang, welchen die
Wanderungen einst genommen haben."
Die Spanier gingen gleich nach der Besitznahme auf
Bekehrung aus. Die Geistlichen wurden in freundlichster
Weise von den Eingebornen empfangen, das gute Ein-
vernehmen nahm aber sehr bald durch die Schuld der Mönche
ein Ende. Pater Sanvitores erzählt den Hergang. Die
Insulaner begriffen natürlicherweise nicht im entferntesten,
was man ihnen von Himmel und Hölle, Dreieinigkeit,
Teufel und Engeln u. dergl. mehr vorpredigte. Sie wider-
setzten sich, als der Pater ihre Kinder mit Gewalt taufen
wollte, denn sie wähnten, das Taufwasser sei vergiftet und
ihre Kinder würden davon sterben. Der Jrrthnm war er-
klärlich; von Seiten der Missionäre waren, aus christlichem
Eifer, viele Menschen auf dem Sterbelager und auch Kinder
getauft worden, welche schwächlich zur Welt kamen oder nn-
heilbar krank waren. Die geistig unentwickelten „Wilden"
konnten sich durchaus keine Vorstellung davon macheu,
was ein Benetzen mit Wasser und das Hersprechen von
Gebetformeln unter Anwendung von Salz uud Oel be-
deuten solle; sie hatten nur das, was bald nach der Vor-
nähme einer solchen Handlung erfolgte, im Auge uud
glaubten, ihre Angehörigen würden dadurch dem Tode ge-
weiht. Verständige Menschen hätten sich Mühe gegeben,
diesen Insulanern erst einige notwendige Begriffe beizu-
bringen und sie vorzubereiten; die Mönche waren aber
nicht verständig und wandten Gewalt an. Die Eingebornen
wehrten sich, uud Pater Sauvitores wurde todtgeschlageu,
während er die Taufhandlung vornahm; man sah in ihm
einen Vergifter; andere Mönche erlitten dasselbe Schicksal
uud die übrigen Spanier, deren allerdings nur eine geringe
Anzahl auf den Inseln sich befand, geriethen in die äußerste
Roth. Aus dieser wurden sie erlöst, als ein paar Schiffe,
die aus Aeapuleo in Mexiko nach den Philippinen bestimmt
waren, vor der Insel Umata ankerten, und als sie den
Stand der Dinge erfuhren, eine Anzahl Soldaten ans
Land setzten.
Die Marianen erhielten dann einen Gouverneur.
Sanchez y Zayas schämt sich, den Namen dieses Wütherichs
zu nennen, schildert aber die Art und Weise, in welcher
derselbe „Ruhe und Ordnung" wieder herstellte. „Er-
würgte die Indianer, plünderte ihre Hütten aus, ver-
brannte die Ernten. Statt den Wilden Zeit zu gönnen
und sie durch Ueberreduug zu leiten, wüthete er mit Eisen
und Feuer, und den Aufstand, welcher durch den über-
triebenen blinden Eifer der Geistlichen hervorgerufen worden
248 Ein Besuch auf der Eil
war, erstickte er mit dein Blute der Armen. Die, welche
nicht ermordet wurden, flohen von Gnajan, wurden aber
durch deu ganzen Archipelagns von einer Insel zur andern
verfolgt. Nachdem, sehr begreiflich, eine entsetzliche Hungers-
noth sich eingestellt hatte, brach eine verheerende Seuche aus.
Die Ruhe war nun allerdings hergestellt, aber Menschen
waren uicht mehr vorhanden!"
Man nahm 1719 eine Zählung der noch übrigen vor
und fand, daß nur 3539 dem Eisen, dem Feuer, den
Seuchen und dem Hunger entgangen waren. Im Jahre
1722 zählte man abermals und fand nur noch 1936 Seelen!
Von da an ist die Bevölkerung wieder angewachsen, aber
ungemein langsam; sie betrug 1800 erst 4060 Köpfe,
1818 schon 5406 und 1840 war sie auf 8609 gestiegen;
1856 auf etwa 9500; dann aber wurden Viele von den
Blattern hinweggerafft, so daß aus dem ganzen Archipelagus
nur 4556 übrig bliebeu. Doch hat man 1864 schon 5610
Köpse gezählt.
Man bezeichnet die eingebornen Insulaner als Cha-
morros. Sie haben große Aehulichkeit mit deu Tagaleu
und den Visayos aus den Philippinen, sind aber von
kräftigerem Körperbau, dagegen noch träger als jene,
während die von den Karolineninseln stammenden von
Natur arbeitsamer sind. Sie leben mäßig und haben sried-
liche Neigungen; ihre Bedürfnisse sind gering, die gütige
Natur liefert ihnen Alles, worauf sie Werth legeu; sie sind,
gleich so vielen anderen Wilden, wie große Kinder.
Bemerkenswerth sind die A l t e r t h ü m e r auf den
Marianen, namentlich jene auf Tinian. Als Lord An-
son in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts diese
Juseln besuchte, fand er sie verlassen und auch jetzt ist die
Bewohnerzahl gering. Er erwähnt der Denkmäler, welche
unbekannten Ursprungs sind, und jetzt hat der spanische
Corvettencapitäu sie geschildert. Sie sind in ihrer Art
einzig und lassen sich mit anderen nicht vergleichen.
Unweit vou dem Ankerplatze Snnharon stehen in
zwei Reihen zwölf viereckige Säulen einander gegenüber;
sie haben die Gestalt von abgestumpften Pyramiden, die
Basis ist aber nicht bei allen die gleiche. Die Höhe beträgt
ungefähr 4 Meter 2 Centimeter, die größte Breite an der
Basis 1 Meter 22 Centimeter an der größten und 1 Meter
1 Centimeter an der kleinsten Säule. Auf jeder ruhet eine
massive Halbkugel vou etwa 2 Meter Durchmesser und zwar
so, daß die platte Oberfläche oben ist. Die Säulen bestehen
aus einem aus Sand und Kalk verfertigten Mörtel, der
aber so fest nud hart ist, daß man ihn beim ersten Blicke
für Gestein hält. Jede Säule besteht aus einem einzigen
Stücke, während die Halbkugeln aus mehren Theilen des-
selben Mörtels gebildet und vermittelst derselben Masse an
einander gefügt wordeu sind.
Auf jeder Seite stehe», wie schon bemerkt, sechs solcher
Säulen und zwar so regelmäßig, daß sie eine Art von
Straße bilden. Sieben stehen jetzt noch aufrecht, fünf da-
gegen sind umgefallen; es zengt aber für die Festigkeit der
Constrnktion, daß keine einzige zerbrochen ist, nur bei zweien
hat sich die Halbkugel von der Säule abgelöst.
Freycinet hat auf seiner bekannten Fahrt auch Tiuian
besucht; er meinte, diese Säulen hätten als Träger für die
Wohnungen angesehener Insulaner gedient. Darin irrt
er ohne allen Zweisel. Die Eingebornen bezeichnen diese
Ruinen als H a u s d e r A l t e n. Sie meinen aber damit
nicht die Wohnung, in welcher jene gelebt hätten, sondern
die, in welcher sie b e g r a b e n wurden. Einer Ueberlieferung
der Insulaner zufolge befände sich in diesen Säulen von
Snnharon das Grab der Tochter des Taga, der einst
ndgruppe der Marianen.
- König von Tinian gewesen sei, aber lange, lange Zeit vor
der Entdeckung der Inseln durch die Spanier gelebt habe.
Die Leiche der Prinzessin sei in Reismehl gebettet und
dann beigesetzt worden. Der jetzige Gouverneur der
Marianen, Philipp de la Corte, untersuchte die Säulen;
er saud alle Halbkugeln mit Mörtel ausgefüllt, bis auf
eine. In dieser fand er eine Aushöhlung von 1 Meter
4 Centimeter Länge und 6 Centimeter Breite; sie war mit
Erde gefüllt, aus welcher ein Baum heraus wuchs. Er
ließ denselben fortschaffen und nachgraben. Zu Tage kamen
ein Kiuubackeu und zwei Fingerknochen; sie scheinen einer
erwachsenen Person angehört zu haben.
Man findet Alterthümer auch auf den Inseln Nota,
Guajan, Saypan und auch noch andere ans Tinian
selbst; sie sind aber nicht so hoch und jene bei Snnharon
die einzigen, welche aus Mörtel aufgeführt wurden. Alle
anderen sind aus Stein und zumeist niedrig, nur bis zu
1 Meter und 1 bis 4 Centimeter hoch. Auf Agaua siudet
man deren bei Afan nicht weniger als sechs. Bei einigen
hat man Menschengerippe in sitzender, znsammeugekauertcr
Stellung gefunden. Diese Art, Todte zu bestatten, ist nicht
blos iu Japau und Peru, sondern auch in vielen anderen
Ländern verschiedener Erdtheile gebräuchlich gewesen und
sehr häufig vorgekommen. Man darf aus ihr nicht vor-
eilige Schlüsse auf Völkerverwandtschasten ziehen wollen.
Die Monumente ans den Marianen sind höchst wahr-
scheinlich oder vielmehr ganz gewiß Grabdenkmäler eines
Menschenschlages, welcher lange Zeit vor der Entdeckung
auf diesen Inseln wohnte und bevor die Insulaner, welche
Magellan aus denselben antraf, dort lebten.
Vor etwa 20 Jahren kamen nach der Insel Agana
einige Leute vou den Carolinen. Sie erzählten, daß ihre
Heimatinsel unter Wasserfluten begraben worden sei; ein
großer Theil der Bewohner habe das Leben verloren, sie
selber hätten sich flüchten können und bäten nun um Aus-
nähme. Die Karolinen sind alle, mit alleiniger Ausnahme
von Jlap, niedrige Eilande. Man schickte jene Flüchtlinge
nach Saypan, wo sie sich angesiedelt haben. Anfangs leb-
ten sie in Höhlen, nachher baneten sie das Dorf Garap an,
welches der spanische Corvettenkapitän besucht hat; der
Gouverneur und der apostolische Vicar schlössen sich ihm an.
Die Insulaner, über so hohen Besuch erfreut, läuteten
mit einer Glocke, welche einen Sprung hatte; aber das
Läuten war doch gut gemeint. Garapan zählte 424 Leute
von den Carolinen uud 9 Chamorros; einer von diesen
letzteren war Alealde, also Dorfschulze, welchem die Ver-
waltung sehr leicht wurde, deuu die Unterthanen sind sanften
und friedfertigen Gemüths. Sie haben große Ehrfurcht vor
dem Alter; alle Zwistigkeiten, welche etwa vorkommen,
Werden den bejahrten Männern zur Entscheidung vorgelegt
und ihrem Ausspruche fügt sich ein Jeder. Menschenblut
wird nicht vergossen; kein einziger Mensch hatte auch nur
eine Wunde. Alle zeigen sich fügsam und gelehrig; ein
Chamorro fungirt als Lehrer und wird sehr hoch gehalten.
Sie haben eine beträchtliche Strecke Landes urbar gemacht,
und in ganz Garapan herrscht Ordnung und Sauberkeit.
Die weißen Männer wurden glänzend empfangen und
mußten sich die landesüblicheBegrüßung, nämlich das
bei deu braunen Menschen Oeeaniens übliche An einand er-
reiben der Nasen, gefallen lassen; in das Händegeben
konnten sich die Insulaner nicht gut finden. Es war ein
großer Tag; der Alealde hatte sogar einen Nock und weiße
Beinkleider angezogen, ja noch mehr, er trug Schuhe. Am
andern Tage gestand er aber offenherzig, daß er sehr froh
gewesen sei, als er sich dieses Anzugs habe entledigen können.
E. Kattner: Das Pos
Das posener Lan
Von Edwa
5. Die Juden früher.
Bisher habe ich die Juden immer zu deu Deutschen
gerechnet und werde das auch ferner thun. Es ist jedoch
Zeit, darauf aufmerksam zu machen, daß sie mit denen von
germanischer Abstammung keineswegs verwechselt werden
dürfen.
Dieser Volksstamm, seit dem frühen Mittelalter überall
verfolgt und ausgetrieben, war in Polen verhältniß-
mäßig wohlgelitten. Zwar die städtischen Bürger
lebten mit ihnen immerwährend im Hader. Diese erwirkten
sich von den Königen das Privilegium, sie von ihren Mauern
auszuschließen oder wenigstens auf enge Judenviertel ein-
zuschränken, während jene wieder durch ihr Geld Gegen-
Privilegien erwarben. Wnttke (Städtebuch des Landes
Posen, Leipzig bei Herm. Fries) meint, daß die deutschen
Bürger durch diese Zwistigkeiten wesentlich zur Schwächung
und zum Untergange der alten Städte in Polen beigetragen
hätten. Zwar war der Jude jeder Mißhandlung bis zur
Beraubung des Lebens von Seiten des Edelmannes aus-
gesetzt; er wußte der Gefahr jedoch meistens durch Schlau-
heit zu entgehen, und die Mißhandlung geschah auch nicht
aus Haß, sondern aus einem Hange zu Spaß. Derselbe
Beweggrund lag auch überwiegend vor, als noch unter
König Sobieski die wissenschastbeflifsene edle Jugend der
Hochschule zu Krakau einmal das dortige Judenviertel
plünderte, anzündete und ein Paar Hundert von dessen
Bewohnern umbrachte. Es war ein zeitgemäßer Ulk, etwa
wie ihn Heidelberger Museusöhue vor einigen Jahren auch
mit zeitgemäßen Abänderungen in Neckargemünd ans-
führten. Im Ganzen liebte der Edelmann den Juden.
Derselbe war gegen ihn jederzeit unterwürfig, dienstwillig
und zu Allem zu gebrauchen, wo es auf Verschlagenheit
ankam, er schaffte ihm in seinen beständigen Geldnöthen
immer Rath und konnte ihm durch Einforderung von Kapital
und Wucherziusen doch niemals gefährlich werden. War
die Schuld gar zu groß, so machte der Edelmann einen
Strich durch die Rechnung. Klagen konnte der Jude immer-
hin, aber Recht bekommen — gegen einen Edelmann, und
den Rechtsspruch zur Vollstreckung bringen — ein Jude
gegen einen Edelmann — nein, das war keine Möglich-
keit; da wäre ja der Himmel über der freien Republik zu-
sammengestürzt. Das wußte der Jude auch, und es fiel
ihm niemals ein, den Rechtsweg zu beschreiten; er wußte
sich auf Umwegen durch Vorsicht und Schlauheit zu helfen.
Es fand zwischen den beiden Ständen ein fortwährender
Kampf von List und Gewalt statt, welcher allerdings so-
gleich für den bisher fchwächern Theil eine günstigere
Wendung nahm, als nach den Theilnngen durch die Frem-
den eine mehr oder weniger feste Rechtsordnung eingeführt
wurde.
Dennoch dauert auch jetzt noch das Verhält-
niß der gegenseitigen Anziehung zwischen bei-
den fort; der polnische Gutsbesitzer braucht den Juden,
und dieser zieht ihn dem dentscheu bei Weitem vor, weil er
Globus X. Nr. 8.
er Land jetzt und früher. 249
jetzt und früher.
Kattncr.
au ihm viel mehr „verdienen" kann; er respektirt den letz-
tern viel weniger, weil er sparsam ist, auf äußern Glanz
nicht fo viel Gewicht legt und viel mehr selbst, ohne Ver-
mittlung eines Juden thut (z. B. Steuern abführt), als
der polnische; das kommt ihm für einen „solchen Herrn"
unanständig vor; die Anrede „gnädiger Herr" (jegomoscz
oder wietmozny pan) wendet er deswegen auch nicht in der-
selben Ausdehnung bei diesem, wie bei jenem an.
Doch wir steheu noch in der Zeit der polnischen „Frei-
Heft". Es ist noch die Frage, ob der Jude bei der
Masse des Volkes, bei deu Bauern, verhaßt
war; und die muß ich mit „Nein" beantworten. Er that
ihm ja nichts zu Leide, warum sollte er ihu hassen? Daß
er ihn betrog, wußte er kaum; auch kam er bei ihm immer
noch besser ab, als beim Edelmann (dem Schlachzitzen).
Der nahm ihm fort, was ihm beliebte, ohne alle Entfchä-
dignug; der Jude gab ihm dafür doch Etwas, wenn auch
Wenig; und vor Allem erlaugte er durch ihn jenes Feuer-
Wasser, das Labsal des Sklaven, welches ihm in der
Bewußtlosigkeit vorübergehendes Vergessen seines Elends
verschafft. Ueberdies trugen beide an dem gemeinsamen
großen Joch. Gleiches trübes Schicksal verbindet die ein-
zelnen Menschen wie die Stände. Dieses gute Einver-
nehmen dauert auch jetzt im Wesentlichen fort. Nur bei
dem besitzlosen ländlichen Arbeiter äußert sich in Zeiten
der Aufregung manchmal Ranbfucht im Verein mit Fana-
tismns in gefährlichen Wuthausbrüchen.
Unter solchen Umständen erklärt es sich, daß die Juden
im alten Polen in größerer Menge wohnten und noch
heute in den früheren Gebieten desselben in größerer Anzahl
zu finden sind, als in jedem anderen Lande Europa's und
der übrigen Erdtheile.
Als Friedrich der Große'1772 Westpreußen und
den Netzdistrikt in Besitz nahm, fand er dort zwar sehr
wenig Juden, weil ihnen da Landesprivilegien die Nieder-
lassnng verwehrten, aber desto mehr hier. Er glaubte sehr
weise zu handeln, als er 4000 derselben, weil sie „bettelnd
umherzogen oder die Bauern betrogen", über die neue
polnische Grenze trieb! Und nach dem damaligen
Standpunkte der Staatskunst konnte er auch nicht gut
anders verfahren. Daß ein Mensch, ein Volksstamm,
wenn wir von den durch die Natur auf eine sehr niedrige
Geistesstufe gestellten Rassen absehen, nur das ist, wozu
er durch seine Erziehung, durch seine Stellung in der Ge-
sellschaft, durch das ihm ertheilte Recht gemacht wird,
diese Einsicht ist erst eine Errungenschast der französischen
Revolution; und einen nicht unerheblichen Beleg dafür
liefern eben die Juden in Posen seit der preußischen Besitz-
nähme.
Die Juden sind in ihren natürlichen Anlagen nicht
nur nicht niedrig gestellt, sondern sie sind in ihrer Art
höher begabt, als irgend ein anderer Volksstamm; an Ver-
stand, namentlich an Scharfsinn kommt ihnen keiner gleich.
Wenn oder wo sie dabei nicht nützliche Staats- und Ge-
sellschaftsglieder sind, so liegt das nicht an ihnen, sondern
32
250 E, Kattner: Das Pos
an der Einrichtung des Staats, der Gesellschaft. Der
Staat muß der menschlichen Natur, aber nicht die mensch-
liche Natur dem Staate angepaßt werden. Daß die Juden
ihre geistige Uebcrlegenheit nicht dazu anwenden wollen,
um rechtlos oder doch unter eingeschränkten Rechten die
Knechte („Kannnerknechte") eines andern, von ihnen geistig
übersehenen Stamms zu fein, nicht, damit dieser den Vor-
theil davon genieße, ist ihnen nicht zu verübeln. Volle
Freiheit, volles Bürgerrecht heben ihre niederen Eigen-
schasten auf und machen sie zu sehr nützlichen und achtnngs-
werthen Staatsbürgern, wenn auch nicht zu Idealen. Doch
das siud für den Gebildeten schon längst Gemeinplätze,
welche durch den Erfolg der bürgerlichen Gleichstellung der
Juden in Frankreich, Nordamerika und anderwärts ihre
tatsächliche Erhärtung finden.
Als Preußen das posener Land 1815 zum
zweiten Mal in Besitz nahm, befand sich die jüdische
Bevölkerung desselben sittlich und materiell noch in einem
traurigen Zustande. J,n Ganzen war sie trotz ihres Er-
werbseisers noch immer sehr arm, der Schacher konnte so
viele damit Beschäftigte nicht nähren, und andere Erwerbs-
quellen waren ihnen meistens verschlossen. Es war kein
Wunder, daß sich seit dem Anfange des Jahrhunderts iu
den großen kriegerischen Bewegungen und Unruhen eiu
namhafter Theil derselben an eine umherstreichende Lebens-
weise gewöhnt hatte. Zahlreiche Juden zogen den verschie-
denen Heeren nach, um von der Zerstörung der Habe der
friedlichen Landesbewohner Vortheil zu ziehen, indem sie
sich theils durch Kauf, theils unmittelbar in den Besitz der
Trümmer setzten, auch gefallene Soldaten ausplünderten:e.
Der Uebergaug zu einem regelmäßigen Gaunerthum
war leicht. Dasselbe wurde in einem ausgedehnten Maße
durch ganz Nord- und einen Theil von Süddeutschland
betrieben. Es waren Tauseude dabei beschäftigt; alle
standen unter einander im Zusammenhange; das jüdische
Rothwälsch diente ihnen als Geheimsprache. Die Anschläge
Wurden mit einer Keckheit und Verschlagenheit ausgeführt,
daß die Sicherheitsbehörden rath- und machtlos davor
standen und keine Abhülfe schaffen konnten. Endlich im
Jahre 1831 gelang es der Polizei bei einem gewaltsamen
Einbruch iu Berlin der Bande auf die Spur zu kommen
und sich einer großen Anzahl derselben zu bemächtigen.
Es zeigte sich, daß dieselbe ausschließlich aus Juden bestand,
und daß sie zwar in ganz Norddeutschland ihre Helfers-
Helfer, aber in den kleinen Städten von Posen ihren eigent-
lichenSitz, ihre Schlupfwinkel hatte, daß dafelbst theilweise
sogar der Ortsvorstand mit ihr unter einer Decke steckte.
Es entstand nun eine Verfolgung im größesten Maßstabe;
520 Verdächtige wurden gefänglich eingebracht, 197 zur
Untersuchung gezogen und 190 davon im Jahre 1835 ver-
nrtheilt, zu Zuchthaus bis zu 30 Jahren und zu Stock-
schlägen, 7 freigesprochen, nachdem das Verfahren gegen
6 Jahre gedauert hatte. Das war der Riesenprozeß gegen
Löwenthal nnd Genossen, welcher seiner Zeit ungeheueres
Aussehen erregte.
6. Die Inden jetzt.
Der Prozeß Wider Löwenthal und Genossen war ein
Schlag gegen das jüdische Gaunerwesen, welchem kein ähn-
licher folgen durfte; denn es hat sich seitdem, in der bis-
herigen Ausdehnung wenigstens, ganz verloren. Die
Erlernung und der Betrieb von Handwerken fanden bei
den ^nden der Provinz Posen immer mehr Eingang,
er Land jetzt und früher.
während die Neigung zu jeder Art vou Handelsgeschäften
bei ihnen allerdings vorwiegend blieb.
Der Handel der Provinz ist daher auch zum
größerenTheileiuihreu Händen, während sie auch
in anderen Gewerben, namentlich im Fabrikbetriebe neben
den Deutschen, im großen Grundbesitz neben den Polen
ihren Platz einnehmen. Da das Bank- und Wechsel-
geschäst fast ausschließlich vou ihnen betrieben wird, so
erwerben sie damit sehr viel Güterpfandscheine. Man kann
annehmen, daß ein Viertel des größeren Grundbesitzes in
Posen theils ihnen verpfändet ist, theils ihnen eigentüm-
lich gehört. Im letztern Falle haben sie die Güter meisten-
theils in der nothwendigen Versteigerung erstanden, um
sich ihre darauf stehenden Kapitalien zu erhalten. Oft auch
kaufen sie dieselben aus freier Haud von Polen, indem
diese, wenn sie sich nicht mehr halten können, immer
lieber an sie, als an Deutsche verkaufen. Sehr selten be-
halten die Juden die Güter, um sie selbst zu bewirthschas-
teu; sie sind zu gute Rechner, um nicht zu wissen, daß
ihnen das auf dieselben verwendete Kapital verhältuiß-
mäßig nur geringe Zinsen abwirft; auch haben sie als
Landwirthe nicht Glück oder vielmehr nicht Geschick; dieser
Beruf sagt ihrer Eigenart nicht zu. So behalten sie denn
die Güter in der Regel nur so lange, bis sie dieselben mit
möglichstem Vortheil wieder verkaufen können, was meistens
an Deutsche geschieht. Auf diese Weise werden sie dann
die Vermittler zum Vorschreiten des deutschen Elements.
Jndeß gibt es auch nicht wenig jüdische Familien, welche
schöne ländliche Besitzungen fest in ihren Händen bewahren.
Die jüdische Bevölkerung Posens ist in be-
ständiger Bewegung, indem sie aus kleinen Ortschaften
in immer größere und größere übersiedelt. Wenn der
Jude durch Schauk und Kram sich auf dem Dorfe tausend
Thaler oder mehr erworben hat, dann zieht er nach einer
kleinen Stadt. Ans dem Schank wird dort eine „Destilla-
tion", aus dem Kram ein „Schnittwaarengeschäst", oder
er handelt mit „Produkten", d. h. mit Getreide, Spiritus,
Wolle und dergleichen ländlichen Roherzeugnissen. Da-
neben betreibt er noch Alles, „wobei Etwas zu verdienen
ist". Hat er sich zu 10,000 Thalern aufgeschwungen,
dann zieht er nach Posen oder Bromberg und dehnt die
Geschäfte noch weiter aus. Überschreitet sein Vermögen
100,000 Thaler, dann wird er in Berlin Großhändler,
oder setzt sich dort zur Ruhe uud treibt nur zu seiner Zer-
streuung etwas Geldgeschäfte, die ihn: natürlich viel mehr
einbringen, als einem andern Sterblichen Unternehmungen,
an die er feiue ganze Kraft fetzt.
Aber auch jüngere und unbemitteltere Juden suchen
nnd finden in anderen Gegenden und Ländern, wo ihnen
der Erwerb weniger durch die Mitbewerbung ihrer Stamm-
genossen erschwert wird, ein leichteres Fortkommen. All-
jährlich wandert eine große Anzahl nach Ame-
rika, unter ihnen auch uicht wenige Flüchtlinge vor ihren
Gläubigern, noch mehr aber solche junge Männer, welche
der Einziehung zum Militär aus dem Wege gehen. Unter
den Hunderten von Aushebungsflüchtigen, welche durch die
Amtsblätter alljährlich vor Gericht geladen werden, sind etwa
ein Drittel Juden, eiu zweites Deutsche und der Rest Polen.
Jene sitzen dann schon längst jenseits des Weltmeers. Es
ist nicht Feigheit, welche sie dorthin treibt, wie denn der
preußische Soldat eiu halbes Jahrhundert hindurch nickt
größeren Gefahren ausgefetzt war, als jeder andere Stand.
Es ist die straffe Zucht, iu welche sich ihr bewegliches, un-
ruhiges Temperament nicht finden kann, in noch viel
höherem Maße aber der wirthfchaftliche Nachtheil, welchen
sie bei dem kargen Sold und bei dem Mangel an anderem
E. Kattner: Das Pose:
Verdienst tragen müssen. Mir ist ein Beispiel bekannt,
daß ein jüdischer Aushebungsflüchtling jenseits desOceans,
wo Soldaten gilt bezahlt werden, gegen die Südstaaten die
Waffen getragen hat.
Von den Auswanderern kehren viele, wenn sie sich
Vermögen erworben haben, wieder nach Preußen zurück
und zwar theilweise nach dem Posenschen, theilweise nach
Berlin. Das ist jedenfalls ein hinlänglicher Beweis da-
für, daß der Jude Anhänglichkeit an das Vaterland besitzt,
welche ihm von der Rückschrittspartei abgesprochen wird.
Es sind gewiß bedeutende Summen, welche dem Volksver-
mögen dadurch alljährlich zugeführt werden. Das nach-
weislich von den Auswanderern mitgenommene Vermögen
wird zwar, wie im ganzen Staate, so auch in Posen, immer
von demjenigeu bedeutend überstiegen, welches Einwanderer
mitbringen; in dem Jahre 1859 ist dieses Verhältniß aber
ganz besonders auffallend. Damals nahmen 113Answan-
derer aus Pofeu nachgewiesen 44,473 Thaler mit; dagegen
brachten 195 Einwanderer 2,047,300 Thaler herein. Ich
vermuthe, daß sich unter diesen 195 Personen neben fremden
Gutskäufern anch viele zurückgewanderte Juden befinden.
Auch durch die Unterstützungen, welche ausgewanderte
Juden in treuer Anhänglichkeit ihren Aeltern und audereu
Verwandten über Land und Meer zuschicken, kommen dem
gefammten Volke ansehnliche Summen zu.
Unter solchen Umständen ist es erklärlich, daß die
Zahl der Juden sich in der Provinz nicht bedeu-
teud vermehrt, daß sie sich in einzelnen Orten sogar
vermindert hat. Nach Zedlitz, „die Staatskräfte Preußens",
befanden sich im Pofenfchen im Jahre 1828 etwa 67,000.
Die Volkszählung im Jahre 1826 hatte im Ganzen
1,039,930 Seelen ergeben. Nehmen wir darunter etwa
64,000 Juden an, so müßten im Jahre 1861 unter einer
Gesammtbevölkernng von 1,485,550 Seelen, hier wie dort
das Militär mitgerechnet, sich etwa 91,400 Inden befun-
den haben, wenn sie sich gleichmäßig wie die Christen ver-
mehrt hätten. Es wurden deren aber nur 74,172 gezählt.
Auch im ganzen Staate hat die Vermehrung der Juden
nicht gleichen Schritt gehalteu mit derjenigen der übrigen
Bevölkerung. Im Jahre 1826 wurden in demselben
12% Mill. Seelen und darunter etwa 170,000 Juden
gezählt. Bei gleicher Vermehrung müßten sich 1861 unter
einer Gesammteinwohnerzahl von 18V- Mill. 256,700
Juden befunden haben; es gab aber deren nur 253,457.
Die Besorgniß älterer Staatsmänner vor zu großer Ver-
mehrung der mit Abneigung betrachteten Juden hat sich
also nicht gerechtfertigt. Und sie würde sich noch weniger
rechtfertigen bei voller politischer und religiöser Freiheit,
an welcher dieselben gleichmäßig theilnähmen.
Was aber noch viel wichtiger und bedeutsamer ist: es
zeigt sich immer mehr und mehr, daß die Juden
gute, nützliche, sehr werthvolle Staatsbürger
sind, obgleich ihnen noch heute manche Rechte vorenthalten
werden und bis 1848 deren noch mehr vorenthalten worden
sind. Ich beschränke mich zum Beweise dessen auf Posen
und stelle sie den Polen gegenüber.
Was haben diese, in ihrem Adel und ihrer Priester-
schast so lange von der Regierung mit Zugeständnissen ver-
sehen und geliebkost, seit 1815 zum Wohle des Ganzen
geleistet? Welche Nahrungsquellen haben sie neu eröffnet?
Welche Zweige der Industrie haben sie gehoben? Auf
welche Weise haben sie auf materiellem oder noch mehr auf
geistigem Gebiet den Fortschritt, die Aufklärung, die Frei-
heit gefördert? ^ Welches sind die Künstler, die Gelehrten,
die ans ihrer Mitte hervorgingen? Welches sind die mensch-
r Land jetzt und früher. 251
heitbeglückenden Ideen, die sich ans ihrem Geistesleben ent-
wickelt haben?
Aus alle diese Fragen dürften die Antworten fo ziem-
lich auf „Nichts" hinauslaufen. Einen einzigen Groß-
fabrikanten gibt es unter ihnen; die Gründung der Biblio-
thek in der Hauptstadt durch deu Grafen Raczinski ist
meines Wissens die einzige Stiftung, welche der wissen-
fchastlichen Bildung zu Gute kommt. Von allgemeinen
Ideen haben sie blos eine einzige aufgefaßt, diejeuige der
Nationalität, sie brüten und nagen daran unaufhörlich,
aber sie können sie nicht verdauen. Unter diefer mißver-
standenen Triebfeder hat ihre hervorstechendste Thätigkeit,
ihr ewiges Beschwerdeführen, Krakehlen, Plänkeln, haben
ihre Verschwörungen und Ausstände dem Wohlstande der
Provinz unermeßlichen Schaden zugefügt, deu Credit beein-
trächtigt, deu Zufluß der Kapitalien gestört, das Glück
zahlloser Familien zerrüttet, Tausenden Leben und Ge-
snndheit geraubt, dem Staate große Geldopfer verursacht,
seine Macht und seinen Einfluß nach Außen geschwächt.
Durch die Hemmung der deutscheu Einwanderung haben
sie zugleich das Vorschreiten der Kultur gehemmt; durch ihre
enge Verbindung mit Jesuiten und Pfaffenthum haben sie
die Finsterniß und den geistigen Stillstand befördert. Es
versteht sich von selbst, daß sie bei Allem selbst am meisten
gelitten haben und zurückgeblieben sind.
Und was haben die Juden indeß gethan? Auch
sie besitzen eine „Nationalität" einschließlich Nationalreligion
und Halten an derselben mit noch mehr Zähigkeit fest, als
selbst die Poleu. Aber von Beeinträchtigung derselben
durch Staat und Regierung ist nicht die Rede. Noch nie ist
ein Nothfchrei darüber durch dieLüfte gedrungen. Warum?
Weil die „Nationalität" eigentlich ihnen fo wenig wie
jedem andern Volke genommen werden kann. Der Haupt-
beschwerdepunkt der Polen, der nämlich, daß sie Deutsch
lernen sollen, wird von den Judeu mit klugem Bedacht als
eiue Gunst betrachtet, weil es, als eine Weltsprache, ihnen
zu ihrem Fortkommen förderlich ist, und sie haben von der-
felben mit solchem Eifer Gebrauch gemacht, daß jetzt jeder
Hochdeutsch spricht, während wenigstens der gemeine Jnde
daneben nach wie vor sich in seiner Familie der „nationalen
Sprache", des jüdischen Rothwälsch bedient, woran er durch
die Regierung nicht gehindert wird. Nur eines andern,
von den Polen fiir sehr wichtig gehaltenen Bestandteils
ihrer Nationalität, der „Nationaltracht", des schwarzen
Kastans und der Pfropfenzieher-Locken, haben sie sich frei-
willig ganz entledigt — mit ebenso klugem Bedacht: sie
zog ihnen Spott und Neckereien zu und brachte ihnen also
nur Nachtheil. Dagegen haben sie in neuerer Zeit entdeckt,
daß sie nicht weniger als die Polen, Tschechen, Magyaren,
Slovenen eine „glorreiche Vergangenheit" besitzen, und
halten an deren Erinnerung fest, woran gleichfalls Nie-
mand sie hindert. Warum auch?
Während sie also ihrer „Nationalität" uud Religion
treu blieben, waren sie weit davon entfernt, ihre Thä-
tigkeit mit dieser Beschäftigung zu erschöpfen. Dieselbe
war vielmehr hauptsächlich auf ihr materielles
Vorwärtskommen gerichtet. Und dieses Ziel haben
sie denn auch im Ganzen in einem hohen Grade erreicht;
zugleich aber haben sie dadurch das materielle Gemein-
wohl bedeutend gefördert. Wer so viel Volkswirt!)-
schaftliche Einsicht besitzt, daß er weiß, wie die Erzeugnisse
der Arbeit erst durch den Handel ihren Werth erhalten,
der kann auch die Bedeutung der Juden für den Wohl-
stand der Provinz ermessen, denn sie haben denselben ganz
überwiegend in ihren Händen. Daß sie dabei immer den
meisten Vortheil für sich zu erringen suchen, daß sie auch
32*
252 Die mohammedanischen Rebellen und
die Verlegenheiten der Verkäufer für denselben bestens
ausbeuten, liegt in der Natur des Handels überhaupt,
dessen Grundlage und Triebfeder ja eben darin besteht,
möglichst billig einzukaufen und möglichst theuer zu der-
kaufen. Die Gehässigkeit, welche deswegen von „Christen"
auf sie geworfen wird, beruht hauptsächlich auf der Em-
psindlichkeit darüber, daß sie klüger sind, als diese. Wer
immerwährend schlechte Handelsgeschäfte macht, dadurch in
seinen Vermögensverhältnissen zurückkommt und schließlich
zu Grunde geht, ist daran selbst Schuld und nicht der
Jude, der „Betrüger", der „Wucherer".
Ueberdies beschränkt sich die gewerbliche Thätigkeit der
Juden keineswegs auf den Handel. Ein großer Theil der
Industrie der Provinz ist ihr Verdienst. Ich erwähne
hier die Einführung des Droschkenfuhrwerks in den beiden
Bezirkshauptstädten und der Dampfschifffahrt auf der
Weichsel und Brahe. Von Fabriken werden nicht wenige
von ihnen betrieben.
Was aber hat der Staat dabei gethan? Haben
ihm die Juden auch große Opfer gekostet, große Schwierig-
leiten und Verlegenheiten bereitet, ein immerwährendes
großes Rüstzeug von Militär und Polizei erfordert?
Alles das nicht. Auch an eine Unterstützung aus der
Staatskasse, wie die 200,ÖOO Thaler zur Gründung der
polnischen Landschaft, kein Gedanke — ebeu so wenig an
eine Bevorzugung oder auch nur Förderung durch die
Regierung. Die Juden zahlten ihre Abgaben und trugen
durch die Gewerbesteuer erheblich zum Steuerertrag der
Provinz bei. Im Uebrigen wurden sie durch die Staats-
gewalt nur zurückgesetzt und gehemmt, theils aus religiösem
und Stammesvorurtheil, theils durch die verkehrte Handels-
und Gewerbegesetzgebung.
Den Juden allgemein eigenthümlich und durch ihren
scharfen Verstand erklärlich ist der Werth, den sie auf den
Schulunterricht legen. Der Aermste gibt seinen letzten
Groschen, um seinen Sohn möglichst Viel lernen zu lassen;
und auch der Kuabe begreift schon früh den Werth des-
selben, er braucht vom Lehrer keineswegs angetrieben zu
die Timg kia tse im westlichen China.
werden, sondern gehört regelmäßig zu deu besten Schülern;
besonders zeichnet er sich im Rechnen ans. Zwar erstreckt
sich der Eifer des Lernens hauptsächlich auf Keuutniffe,
welche sich im praktischen Leben verwerthen lassen, die an-
deren gehen aber doch mit, und alle bilden den Geist aus
und legen in empfänglichen Naturen die Grundlage zu
höherer wissenschaftlicher Bildung. So sind denn aus der
Mitte der posener Juden eine große Menge von tüchtigen
Aerzten, Juristen und Tagesschriftstellern hervorgegangen.
Ueberall bewährt sich ihr eigenartiger Scharssinn und macht
sie zu ausgezeichneten Kritikern. Auffallend ist die
große Reihe von Gelehrten, welche die posener
Judenschaft hervorgebracht hat. Professor Wuttke
zählt von ihnen in seinem Städtebuch (S. 236) folgende
auf: „Das kleine, arme Scherkowo stellte zwei Gelehrte
ersten Ranges: Fürst in Leipzig und Grätz in Breslau.
Der Reformer Hold heim ist aus Kurnik, Hitzig aus
Lissa, der getaufte Bifeuthal in Breslau aus Lobsens;
Stern in Frankfurt a. M., Jolo witsch in Königsberg :c.,
vielleicht der größere Theil der jüdischen Gelehrten stammt
aus dem Posenscheu." Ich füge noch hinzu: Earo, den
Fortsetzer der Röpellschen Geschichte Polens und Jaffe,
den Herausgeber der „Regesta Pontificum".*)
Aber auch diejenigen Juden, welche keine Wissenschaft-
liche Bedeutung erlangt haben, stehen, wenn sie in Wohl-
stand gekommen sind, besonders aber in dem Geschlecht,
welches darin aufgewachsen ist, weder an Ehrenhaftigkeit,
noch au Bildung oder Gemeinsinn den Christen.nach. Und
das Alles hat die Befreiuug von dem Druck und der Recht-
losigkeit, die aus dem Volke in polnischer Zeit lastete,
bewirkt. Beweis genug, wenn es daran anderweitig fehlte,
daß eine vollständige Rechtsgleichheit und Freiheit noch
viel förderlicher auf Geist und Sittlichkeit der Juden wirken
würde.
*) Nicht zu vergessen unsern ausgezeichneten Philosophen
und Völkerpsychologe'n M. Lazarus aus Filehne, jüngst noch
Rector der Universität Bern, jetzt nach Berlin zurückgekehrt.
A.
Die mohammedanischen Rebellen und
Ueber den Stand der Dinge in jenen Theilen des
großen Reiches, welches noch immer einer allgemeinen Zer-
rüttnng preisgegeben ist, erhalten wir dann nnd wann Nach-
richten durch die katholischen Missionäre, z. B. dnrch Pater
Faurie. Dieser ist apostolischer Vicar für die große
Provinz Kui-Tsch«u, und er hat es verstanden, sich bei
den Mandarinen großes Ansehen zu verschaffen. Sie be-
handeln ihn mit Auszeichnung, und es ist ihm gelungen,
ihnen manchen erheblichen Dienst zu leisten.
Die folgenden Mittheilnngen, welche wir den Briefen
dieses energischen Mannes entlehnen, gewähren einen Ein-
blick in die Verhältnisse. Sie beziehen sich ans die Monate
Juli bis September 1864; das letzte Schreiben ist vom
10. Oktober 1865.
Ueberall in der Provinz herrschte Unruhe, und die m o -
Hamme danischen Rebellen machten erhebliche Fort-
schritte. Der Missionär erhielt als Bedeckung 50 Mann
kaiserliche Soldaten, welche er lieber heimgeschickt hätte. Er
ie Tnng kia tse im westlichen China.
wollte nach der Stadt Bün nin, aber schon anf halbem
Wege liefen die würdigen Krieger vorans nnd plünderten
mehre Dörfer aus; nachher, als sie mit Beute beladen
waren, fanden sie sich wieder ein. Der Missionär wollte aber
nichts mehr von ihnen wissen, erklärte ihnen, sie seien straf-
bares Raubgesiudel nnd zog ohne sie in Tung kua litt ein,
wo eben Markt war. Das nahmen sie übel; sie fingen an
zn meutern, stießen mit ihren Lanzen auf die Erde und
schrieen: „Wir wollen den Markt plündern, wollen alles
Gepäck wegnehmen!" Dabei vergriffen sie sich an den
Dienstlenten Faurie's und versetzten denselben flache Säbel-
hiebe. Da ließ der Missionär die Meuterer vortreten,
redete sie zornig an, drohte ihnen mit empfindlicher Strafe
und sofort fielen sie auf die Knie. Nachdem sie um Ver-
zeihung gebeten und Besserung angelobt hatten, gab Faurie
ihnen ein Trinkgeld und dann zogen sie ab.
Er gelangte ohne Anfechtung nach Yüu nin, 25« 45'
nördl. Br., wo der Mandarin ihn feierlich empfing und
Die mohammedanischen Rebellen und
ihm offen mittheilte, daß er vom Vicekönige strengen Be-
fehl habe, ihn äußerlich mit Auszeichnung zu behandeln,
dagegen Alles aufzubieten, daß er mit feinem Bekehruugs-
werke scheitere.
, Am 20. August gerieth die ganze Stadt in Aufregung.
Es hieß, die Rebellen seien im Anzüge und schon ganz in
der Nahe bei Mu tu se. Sofort wurde die Lärmkanone
gelöst, das Volk versammelte sich und während der ganzen
Nacht wurde hin und her berathen, was zu thun sei. Faurie
gab deu Rath, Kundschafter auszusenden, damit man wisse,
wo eigentlich der Feind stehe; er selber schickte zwei Boten
an den Insurgentenanführer und ließ demselben Friedens-
Vorschläge machen.
Aber dieser Mann, Ma ho tu, wollte von denselben
Nichts wissen. Er entgegnete: „Auf beiden Seiten ist der
Haß zu tief eingewurzelt. Ich weiß übrigens recht wohl,
daß Bischof Faurie es gut meint. Wenn er zu uns kommen
und seine Lehre verkündigen will, so werde ich ihn an der
Grenze begrüßen und er wird ganz sicher sein. Wir unsrer-
seits haben uns erhoben, um Gerechtigkeit zu üben und ich
vollstrecke nur die Gebote der Vorsehung. Den Thron von
China wollen wir nicht usurpiren, wohl aber das verfluchte
Volk (er meinte wohl die Mandschn), durch welches das
Laud unglücklich geworden ist. Wer ihm den Gnadenstoß
gibt, den wollen wir für unfern Herrn erkennen. Die Tage
der Tsing- Dynastie sind gezählt." Damit spielte er auf
den Volksglauben an, demgemäß der Herrscherstamm der
Tsing, welcher 1644 ans Ruder kam, uicht viel über 200
Jahre die Obergewalt behalten werde.
Dieser Ma ho tu war früher Kaufmann und wurde
Rebell, um sich den Erpressungen und Verfolgungen eines
Mandarinen zu entziehen. Er führt den Titel Oberfeldherr,
doch die höchste Gewalt bei den mohammedanischen Jnsnr-
genten übt der Oberpriester Kin A'hnng, der gleichsam
für den Patriarchen aller Muselmänner im Blumenreiche
der Mitte gilt. Diesen Mann hatte die kaiserliche Re-
gierung aus der Provinz ?)im nan, seiner Heimat, nach
Kui Tscheu gesandt, um seine Religionsgenossen zur Unter-
werfung zu ermahnen, er that aber das Gegentheil und
stellte sich an ihre Spitze. Nun wohnt er in Tsin tschen;
auch dorthin hatte schon früher Faurie einen Boten mit
einem Schreiben gesandt, aber eine ablehnende Antwort
erhalten.
Die Zahl der Muselmänner in Kui Tscheu ist nicht
beträchtlich, aber man zittert und bebt vor ihnen, weil sie
kein Quartier geben. Es liegt in ihrem Plane, wo mög-
lich alle angesehenen und einflußreichen Männer aus dem
Wege zu schaffen. In den westlichen, namentlich südwest-
lichen Provinzen bilden die eigentlichen Chinesen nur einen
geringen Bruchtheil der Bevölkerung; sie sind dort bisher
eigentlich nur der Herrscherstamm gewesen und im Lande
sehr unbeliebt. So kommt es, daß die mohammedanischen
Rebellen willige Hilss- und Bundesgenossen an den He
Miao oder schwarzen Miao tse finden, wilden, sehr
tapferen Leuten, welche mit barbarischer Grausamkeit ohne
Unterschied Kinder, Weiber und Männer nieder machen. —
Auf der Reise nach Tschen nin tschen traf Faurie mit
nichtmohammedanifchen Rebellen zusammen, den
Tung kia tse. Diese sind ein eingeborner, nichtchine-
sischer Stamm, und sie hatten sich dem Aufstand an-
geschlossen, weil sie von den Mandarinen arg mißhandelt
und ausgesogen wurden. Niemand konnte in einem Pro-
zeß, welchen er gegen einen Chinesen anstrengte, Recht be-
kommen. Nach und nach hatten sich in alle Dörfer Chi-
nesen eingedrängt, die mit Nichts gekommen waren und
doch allmälig allen Grund und Boden in ihre Hände zn
die Tung kia tse im westlichen China. 253
spielen wußten. Das war möglich, weil die Mandarinen,
welche Nichts umsonst thun, mit ihnen unter einer Decke
spielten und ihnen Alles zusprachen. Daraus erklärt sich,
daß sie bei der ersten günstigen Gelegenheit rebellirten.
Die Chinesen boten ihnen den Frieden, welcher auch von
ihnen angenommen und von den Mandarinen beschworen
wurde; trotzdem ließen aber diese mehre Dörfer überfallen
und die gesammte Einwohnerschaft ermorden. Natürlich
griffen die Tung kia tse wieder zu den Waffen.
Faurie konnte mit ihnen in Unterhandlung treten, weil
feit einiger Zeit in mehren Dörfern die eingebornen Christen
gute Aufnahme gefunden hatten. Man wandte sich an ihn,
damit er einen ehrlichen, dauerhaften Frieden vermitteln
möge. So wandte er sich an den Mandarinen von Tschen
nin tschen und hielt diesem vor, daß es unklug sei, wenn
er ferner darauf ausgehe, sich der eingebornen Häuptlinge
zu bemächtigen und sie umzubringen. Er, Faurie, wolle
sich für die Ruhe der Tung kia tfe verbürgen, wenn der
Vicekönig einen Generalpardon bewillige; ohne diesen sei
der Friede gar nicht möglich.
Dann zog er ab, um sein Friedenswerk unter den „Bar-
baren", wie die Chinesen sich ausdrücken, zu beginnen.
Die Fama eilte ihm voraus, und überall empfing man ihn
mit Musik und Geschützsalven. Sobald er in ein Dorf
einzog, schlachtete man ein Schwein; er aß allein an einem
Tisch und die angesehensten Männer der Gemeinde be-
dienten ihn, während die Musikanten spielten. Die Unter-
Handlungen gingen gut von statten, und der Vicekönig
bewilligte Generalpardon und verpflichtete sich, fernerhin
Mißhandlungen nicht mehr zu dulden.
Wir erhalten durch Faurie über jene bisher noch von
keinem Europäer geschilderte Gegend und über das Volk
manche Nachrichten. Er sah während seiner Reise nach
Tschen nin tschen sehr viele steile Kegelberge. Auf manchen
derselben waren verschanzte Lagerplätze gebaut worden, die
einen sichern Zufluchtsort bildeten. Der Bischof bestieg
einen dieser Berge. Der enge Pfad schlängelte sich an den
Felsen hinauf und war für Pferde nur mit Mühe zu be-
gehen. In Zwischenräumen waren Schanzen in solcher
Weife angelegt worden, daß wenige Männer einem ganzen
Heer das weitere Vordringen streitig machen konnten. Die
kaiserlichen Truppen haben keine einzige von diesen Felsen-
bürgen einnehmen können. Auf dem Gipfel liegen die
Dörfer und die Getreidespeicher, und niemals fehlt ein
Brunnen, der reichlich Wasser liefert.
Ueberhaupt sind die Dörfer der Tung kia tse an Hügeln
oder Bergen gebaut. Das Erdgeschoß wird aus Steinen
aufgeführt und dasselbe bildet den Viehstall für Pferde,
Rindvieh, Ziegen, Schweine, Hühner, Enten :e. Das
obere Geschoß ist von Holz und bildet einen Saal ohne
innere Abtheilungen. In der Mitte hat man einen Heerd
angebracht; Rauchfänge sind unbekannt.
Alle Männer haben seit längerer Zeit chinesische Klei-
dnng angenommen, die Frauen sind bei der alten landes-
üblichen Kleidung geblieben; sie tragen ein Schnürleibchen
und einen weiten Rock mit vielen Falten. Verstümmelung
der Füße kommt nicht vor.
Die Sprache der Tung kia tse hat Verwandt-
schast mit der siamesischen, und es wäre von er-
heblichem Interesse, dieselbe näher zu ermitteln. Sie wird
nicht geschrieben und die Überlieferungen des Volkes reichen
nicht weit. Die Männer verstehen Chinesisch und können
es auch sprechen, die Frauen reden nur die Landessprache.
Bei den Tung kia tse kommen weder Tempel noch
Götzenbilder vor. Sie fürchten einen bösen Geist und ihr
Kultus besteht darin, ihn zn besänftigen. In Krankheiten
254 Aus allen
nehmen sie wenig Arznei und halten Amulette für wirk-
samer. Auch wird Wohl ein Zauberer herbeigerufen, der
einen Hund opfert und denselben nachher, gemeinschaftlich
mit der Familie des Kranken, verzehrt. Ein Hund gilt
für deu höchsten Leckerbissen; anch Bischos Faurie findet,
daß er vortrefflich schmecke und das Fleisch sehr nahr-
Haft sei.
„Einige Stämme ehren das Kreuz; sie stellen ein
solches am Eingange der Dörfer auf und bringen ihm zu
gewissen Zeiten Opfer. Manche nähen auf ihre Kleider
ein Kreuz von farbigem Zeuge. Ich kann diese Tradition
nicht verfolgen und weiß nicht, wie alt der Gebrauch fem
mag, kann aber versichern, daß er christlichen Ursprungs ist.
Sie machen ihren Todten ein Aschenkreuz auf die Stirn
und bezeichnen das Kreuz als den „großen Urältervater,
Heiland oder Beschützer." *)
Faurie hatte nach einiger Zeit eine Unterredung mit
*) Wir müssen dahin gestellt sein lassen, ob die Behauptung
Faurie's, das Zeichen des Kreuzes bei den Tung kia tse sei
christlichen Ursprungs, richtig ist. Es möchte sich aber schwer
nachweisen lassen, auf welchem Wege dasselbe durch christliche
Erdtheilen.
dem Vicekönige, der ihn dafür lobte, daß er binnen ein
Paar Wochen eine Gegend beruhigt habe, an welcher sich
die Mandarinen so schwer versündigt.
Einflüsse zu ihnen gekommen sein sollte.^ Wir unsrerseits möchten
hier vielmehr buddhistische Einflüsse aus Siam uud Kam-
bodscha annehmen, also von sprach - oder stammverwandten Völkern
her. Das Kreuz ist in bnddhistischen Tempeln häufig und in
diesen zuverlässig nicht den Christen entlehnt; es hat iu jenen eine
ganz andere Bedeutung als bei diesen. Wir wollen eine Stelle
anführen. Adolf Bastian fand es bei seiner Erforschung des
mehrfach von uns im Globus besprochenen Nakhon Wat (Oug-
kor Wal) uud anderer Denkmäler in Kambodscha. Er sagt:
(A visit to the ruined Cities and buildings of Cambodia, Lon-
don 1866, S. 7). A four faced deity is worked out in gigantic
proportions on the large gate of Nakhon luang and there called
Phrohm (lirama), signifying the protection given by the all see-
ing god, which was aftenvards transfevred by the Buddhists to
the four Pala. As this direction to the four points of
the horizön naturally forms a cross, the Siamese call
a crossing „phrahm, and the Prasat, the distinguishing feature
of these exotic stone monuments of Cambodia forms always
a cross, with the corridors dissecting each otherat right angles.
The cross is the distinctive character for the doctors
of reason in the pristine Buddhism of Kasyapa." A.
Aus allen Erdtheilen.
Vom Senegal. Mit der Post, welche am 16. Mai 1866
von St. Lonis abging, ist die Nachricht angelangt, daß die von
uns oftmals erwähnten Reisenden Mag e uud Quint in noch
am Leben seien. Ein Schwarzer, der vom obern Niger her in
Bakel eingetroffen war, hatte sie im Januar selber gesehen und
sie befauden sich körperlich ganz wohl. Sie hätten,' sagte er,
früher einen: Boten Briefe anvertraut gehabt; dieser fei jedoch
unterwegs krank geworden und habe sich von den Briefschaften
nicht trennen wollen. Die Reisenden sind in der That Ge-
fangene bei einem Sohne des Hadsch Omar, werden aber gut
behandelt. Es ist nicht gesagt, an welchem Orte der Schwarze
sie gesehen hat. Sie sind am 12. Juli in Paris eingetroffen.
r. Ein madagassischer Kalender. Seit 1864 erscheint zn
Tananarivo ein madagassischer Kaleuder, der die intelligente
Bevölkerung der Insel über Ans- nnd Untergang der Sonne,
die Mondphasen, die Finsternisse und andere Thatsachen und
Entdeckungen aufklären soll, welche geeignet sind, Interesse zu
erregen und die „(Zivilisation" weiter zu führen.
Die Stadt Uarkend im chinesischen Turkestan. Die Lage
derselben war bisher nicht genau bestimmt; jetzt ist sie ermittelt
worden; nördliche Breite 38" 19' 46"; östliche Länge von Green-
wich 77» 30'. Kapitän Montgomerie, der bei der Triangn-
lirung in Indien seit langer Zeit beschäftigt ist und einige Zeit
auch in Kaschmir und Klein-Tibet verweilte, verfolgte den Plan,
die nördlich des Mnstag und des Karakorumgebirges liegenden
Gegenden, iu welche schou eiuer der Gebrüder Schlagiutwe'it vor-
gedrungen war, näher erforschen zu lassen. Er trat mit einem
Mnnschi, d. h. einem nach orientalischer Art wisseuschaftlich ge-
bildeten Schreiber, in Verbindung. Dieser Mohammed i Hamid
verstand sich dazu, die mathematischen Instrumente nach Uarkend zu
schaffen uud dort Beobachtungen anzustelleu, außerdem wollte er über
die Straße zwischen jener Stadt uud Ladakh geuaue Erkundigung
einziehen. Im Sommer 1863 machte er sich auf den Weg^ ge-
langte unangefochten nach Uarkend, blieb den Winter über dort,
benutzte die hellen Nächte, um seine Beobachtungen anznstellen
und verließ im Frühjahr eilig die Stadt, weil die chinesischen
Behörden ihn mit allerlei Unannehmlichkeiten behelligten. Unter-
Wegs starb er unweit von einer der am weitesten vorgeschobenen
trigonometrischen Stationen, aber alle seine Papiere sind in
Montgomene's Hände gelaugt. Ihnen zufolge liegt Mrkend
etwa 1200 Meter über der Meeresfläche. Die Reise durch das
Gebirge bis zu der Wasserscheide zwischen Hindostan und Türke-
stau nahm 51 Tage in Anspruch; davon kommen 25 Tage ans
eine Wanderung in Gegenden, die nirgends eine Höhe von
weniger als 14,(XX) Fuß hatten. Der Winter war iu parkend
sehr streng, der Thermometer fiel bis auf 29'', vom 19. bis 26.
Januar war Schneefall; int Allgemeinen war aber der Himmel
klar. Die Umgegend ist fruchtbar. Ein chinesischer Gouverneur
verwaltet die Provinz; in der Stadt liegt eine chinesische Be-
satznng, aber die überwiegende Mehrzahl' der Bewohner besteht
aus Mohammedanern, die ihr Stadtoberhaupt selber wählen. '
Australien. Die Volkszählung in Süd austratien im
Mai 1.866 hat 164,165 Seelen ergeben; eine Zunahme von
37,335 seit 1861.
Im Nordterritorium hatte ein Eolonist, Namens Auld,
einen Eingebornen mnthwillig erschossen. Er ist dafür vor das
Kriminalgericht gestellt worden, man hat ihn aber bis zum Tage
der Aburtheilung gegen 4000 Pfd. St. auf freiem Fuße gelassen.
Es schaut also, als ob endlich die Ermordung schwarzer
Menschen iu Australien als Kapitalverbrechen behandelt werden
solle. Es war auch hohe Zeit.
Auf der Kängur»Hinsel ist ein sehr ergiebiges Zinn-
lager entdeckt worden.
Eine Republik ans den Gesettschafts - Inseln. Der
„Deutschen Abendpost", welche zu San Francisco in Kalifornien
erscheint, wird unterm 2. Februar ans Tahiti gemeldet, daß
anf jener Eilandgruppe große Verwirrung herrsche. „Auf den
Leeward-Inseln 'haben mehre heftige Gefechte zwischen den Re-
bellen und den königlichen Truppen stattgefunden. Die könig-
liche Armee wurde total geschlagen nnd sahen sich König Tomä-
tan, Prinz Ariifaite, der Gemahl der Königin Pomare der
Staatsminister nnd dte ganze europäische Einwohnerschaft ge-
"vthlg , sich mtter den Schutz des Vereinigten Staaten -Konsnls
zn stellen. Dte Rebellen haben einstweilen die Republik
prok lamtrt."
Aus allen
Deutsches Element am La Plata. Daß in den La Plata-
staaten eine deutsche Zeitung (zn Buenos Ayres) erscheint, ist
schon früher von uns mitgetheilt worden. Jüngst hat man
einen weitern „Fortschritt" gemacht, indem man in jener Haupt-
stadt eine Lagerbierbrauerei auf Aktien gründete. Das ist
gewiß „erquickend"; wir gönnen unseren Landsleuten auf der
südlichen Erdhälfte einen heimatlichen Labetrank; indessen in-
teressirt uns doch eine andere Erscheinung weit mehr. Vom
Herrn Hans von Frankenberg, dem Direktor des deutschen
Colleginms (höhere Lehranstalt) in Montevideo ist nämlich das
erste am La Plata gedruckte deutsche Buch erschienen, und
ans der „deutschen Druckerei zu Buenos Ayres" hervorgegangen.
Es führt den Titel: „Versuch einer Darstellung der politischen
Verhältnisse der La Platastaaten, mit Rücksicht ans Colonisa-
tion." In dem Prospektns wird gesagt:
„Das deutsche Element am La Plata, stark schon in
numerischer Hinsicht, hat sich, durch seine Intelligenz, durch
seine Arbeitskraft und Thätigkeit, sowie durch das
Kapital, welches es vertritt, eine so große Achtung erworben,
wie kaum eine andere fremde Nation. Die Handelsbeziehungen,
von unseren deutschen Häusern mit der Heimat unterhalten,
dehnen sich von Tage zn Tage mehr aus, und mit vermehrten:
Interesse beschäftigt man sich seit einiger Zeit in Deutschland
mit den Verhältnissen dieser Länder. Dazu kommt, daß wenn
auch jetzt noch die deutsche Einwanderung nach dem La
Plata gegenüber der von Franzosen, Engländern, Italienern
und Spaniern verhältnißmäßig schwach ist, dennoch un-
fehlbar über kurz oder lang sich ein Theil des Auswanderer-
stroms nach hier wenden wird. Wie also für die deutschen
Bewohner des La Plata, so ist namentlich auch für die Heimat
eine Aufklärung über die politischen Verhältnisse dieser Länder
von hoher Wichtigkeit, und an unseren hiesigen Landsleuten ist
es, diese Aufklärung nach Krästeu zu fördern und so das In-
teresse und den Kredit für dieselben zu erhöhen. Dazu soll das
oben angezeigte Buch dienen.
Der Verfasser, seit längeren Jahren am La Plata ansässig,
hat aus eigener Anschauung und gegründet auf das Studium
vorhandener Quellen eine klare und vom Standpunkte des
Fremden objective Darstellung der politischen Verhältnisse der
La Platastaaten geschrieben, die hauptsächlich auch in Bezug ans
Colonisation derselben von großem Werthe ist."
Zur Statistik der Unglücksfälle und Geldverluste in Nord-
amerika.
Amerikanische Blätter nehmen, gewiß nicht ohne einige
Übertreibung, als ausgemacht an, daß allein in den Vereinig-
ten Staaten mehr Mordthaten und Unglücksfälle sich ereignen,
als in ganz Europa. Die Zahl der letzteren ist allerdings un-
gemein beträchtlich; hier ist kein Zweifel gestattet, weil amtliche
Nachrichten vorliegen.
»m die drei Monate Oktober, November und Dezember
1365 fallen 110 große Feuersbrünste; Verlust 20 Mill.
Dollars.
Auf den Staat Neu York kommen für 1865 nicht wem-
ger als 75 Schadenfeuer; Verlust 8 Millionen. In der Stadt
Lima (Staat Neuyork) brannten 25 große Häuser auf einmal
nieder, in Belfast über 100. Binnen 9 Jahren sind in solchen
Feuersbrünsten, bei welchen der Verlust mehr als 20,000 Doll.
betrug, reichlich 72 Mill. Doll. verloren gegangen.
Iu den vier ersten Monaten des Jahres 1866 sind 38
große Schadenfeuer angemeldet worden; Verlust 10,670,000
Doli.; die kleineren, bei welchen der Schaden unter 1 Mill.
Doll. betrug, sind nicht gerechnet. Petroleum und Baumwolle
bilden dabei ein nicht unerhebliches Item.
Auf deu Eisenbahnen fanden vom September 1865 bis
Januar 1866 nicht weniger als 76 „Accidents" statt, und im
Durchschnitt gingen bei jedem dieser Unglücksfälle 2 Menschen-
leben verloren. In 8 Fällen ereignete sich Unglück durch un-
sinnig schnelles Fahren, in anderen 8 sprangen die
Kessel, in 3 brachen Brücken zusammen, in 4 waren die
Weichen sa'lsch gestellt worden. Auf mehr als einerEifen-
bahn sind 3 und auch 4 Lokomotiven binnen 24 Stunden zu
Grunde gegangen. Auf die Bahnen im Staate Neuyork ent-
fallen allein 20 solcher „Accidents", und für fämmtliche Staaten
im Jahr 1865 mehr als 200. In den acht Monaten vor dem
1. April betrug die Zahl der Unglücksfälle nahe an 200; davon
kommen 11 auf Zusammenstöße imb 10 auf Explosionen.
Erdtheilen. 255
„Erplosionen" spielen überhaupt eine große Rolle. In
den Monaten September bis Jannar zählte mau deren 31;
davon kernten 8 auf Eisenbahnen, 10 auf Dampfer, 8 in Fabri-
ken und Magazinen, 4 durch Pulver, 1 durch Nitroglycerin.
Auf die Zeit vom Jannar bis März entfallen 28, zumeist durch
Springen der Kessel ans Dampfschiffen. Bei jenen auf deu
Dampfern „Miami", „Missouri" und „Carter", welche auf dem
Ohio und dem Mississippi in die Luft flogen, verloren mehr
als 400 Menschen das Leben. Die durch Nitroglycerin ver-
ursachten Erplosionen, bis jetzt 3 an der Zahl, haben nahe an
100 Leuten das Leben geraubt. Bei den 56 Erplosionen, die
binnen acht Monaten vorkamen, sind mehr als 1000 Menschen
verloren gegangen.
Was die Dampfer betrifft, so sind in fünf Monaten 70
verloren gegangen, zumeist auf den westlichen Gewässern; davon
13 durch Zusammenstoßen, 10 durch Erplosionen, 7 verbrannten,
9 gingen unter, weil sie leck waren, 12 wurden durch Eis zer-
drückt je. Im Ganzen betrug hier der Verlust mehr als 300
Köpfe. — In den folgenden drei Monaten gingen 42 Dampfer
verloren; im Ganzen während einer Zeit von acht Monaten
112 oder fpecieller gerechnet, 117 Dampfer verloren. Dazu
kommen ün letzten Vierteljahr 1865 noch 75 Unglücksfälle
auf See; Menschenverlust 259 Köpfe; — vom Januar bis
1. Mai 48 mit 170 Köpfen; überhaupt auf das Halbjahr 123
Unglücksfälle auf See.
Die „Tribüne", gibt eine Recapitnlation und sagt: „Wir
hatten also binnen sechs Monaten 217 „Accidents"
auf Eisenbahnen und Dampfern, dazn 56 Erplo-
sionen und 123 Schiffbrüche auf See."
Wettlanf eines Indianers in Nebraska auf Tod und
Lebe«. Ein Herr Hardisty, der längere Zeit im Fort Benton
und am obern Missouri gelebt hat und namentlich mit den
Sitten der Schwarzfußindianer bekannt ist, erzählt als Augen-
zcnge Folgendes:
Eines Tages erschien ein einsamer und verwegener Eri zn
Fnß im Fort. Kurz uach seiner Ankunft traf eine Schaar
berittener Schwarzsüße ein, und da sie sahen, daß ein Mann
des feindlichen Stammes anwesend war, forderten sie mit
großem Geschrei die Auslieferung desselben. Der im Fort
befehligende Handelsmann hätte dem Eri gerne das Leben ge-
rettet, fürchtete sich indeß, die Auslieferung zu verweigern, denn
die Schwarzfüße waren zahlreich und gut bewaffnet uud über-
dies in die Pallisaden- Verschanzung zugelassen worden. Nach
vielem Hin- und Herreden kam ein Compromiß zu Stande,
welches den Weißen verpflichtete, deu Eri einen Monat laug iu
sicherer Obhut zu behalten; nach Verlauf dieser Zeit sollteu die
Schwarzfüße ins Fort zurückkehren, und der Gefangene dann
losgelassen werden mit einem Vorsprung von 100 Mrds vor
seinen Verfolgern, letztere nur zu Fuß und ohne alle anderen
Waffen, als ihre Messer, Jagd auf denselben zu machen.
Die Schwarzsüße zogen ab und der Eri ward sogleich in
harte Vorübung genommen. Er wurde mit frischem Büffel-
fleisch, so viel er essen konnte, genährt und mußte zweimal eine
Stunde täglich im schnellsten Lauf um die Umfassungsmauer
des Forts rennen.
,„r des festgesetzten Monats kamen die Schwarz-
fuße, der Uebereinkunft gemäß, ans Fort. Ihre Pferde wurde»
innerhalb der Mauern angebunden, alle ihre Waffen, mit Aus-
nähme der Messer, ihnen abgenommen, und dann ward das
Opfer vom gefammten Stab der Niederlassung an den Abgangs-
platz geleitet. Sämmtliche Weiße begaben sich zn Pferd aus
dem Fort, um darauf zu sehen, daß redlich Sviel gespielt werde.
Der Eri wurde au seinen Posten gestellt, 100 Uards vor seinen
blutdürstigen Feinden, welchen wie Wölfe nach ihrer Beute
gelüstete. Das Schlagwort ward gegeben, und weg fchoß der
gejagte Indianer, und hinter ihm drein die Rotte seiner Vcr-
folger.
Anfänglich kamen ihm die Schwarzfüße rasch näher, denn
Schrecken schien die Glieder des unglücklichen Eri zn lähmen
und seiu Entkommen schien hoffnungslos. Als aber seine
Feinde bis auf wenige Dards an ihn gelangt waren, gewann
er feine Geistesgegenwart wieder, raffte sich zusammen, seine
Abrichtung und'seine schöne Körperbeschassenheit fingen an, sich
merkbar zu macheu, und zu ihrem Erstaunen nnd Verdruß ent-
sernte er sich mit jedem Schritt mehr von ihnen. In einer
zweiten englischen Meile war er weit voraus, blieb einen
Augenblick stehen, warf triumphirend den verblüfften Verfolgern
feine Faust entgegen, rannte davon und kam ihnen rasch'ans
den Augen. 1 '
256
Aus allen Erdtheilen.
In der That gelang es ihm, wohlbehalten seine Stammes-
genossen zu erreichen.
Gold in Siebenbürgen. Kronstadt im Mar. 1866.
Siebenbürgen ist als ein Goldland seit lange bekannt. Jndeß ist
die Gesammtmasse des erbeuteten Goldes keineswegs so^ groß,
wie Mancher diesem Renomme nach glauben möchte. Die Ge-
winnnng desselben durch regelmäßigen Bergbau aus dem Mutter-
gestern,' sowie die Auswaschung aus dem Flußsande und dem
sogen. Goldseiseugebirge ist mit großen Kosten verbunden,
die an einigen Orten selbst den Werth des gewonnenen Goldes
übertreffen/ Nirgends findet sich das Gold hier mehr in sehr
bedeutender Masse, oder noch mehr in den oberen Gesteinslagen.
In den Bergwerksdistrikten bei Ossenbanya, Verespatak u. s. w.
sind die leichter abzubauenden Berge schon von den Römern so
durchwühlt worden, daß den späten Nachkömmlingen eben nicht
viel mehr übrig geblieben ist.
In der genannten Gegend wird jetzt das Meiste in beden-
tenderer Tiefe aus einem' harten Grünsteintrachyt gewonnen,
welcher den vorherrschenden Glimmerschiefer durchbrochen hat.
Hier findet man das Gold auch als sogen. Schristtellure, eine
Verbindung von meist 10 Proc. Tellursilber mit 30 Proe. Gold.
Roth - und Schwarzgültigerz, Kupferkies und Bleiglanz finden
sich nur in schmäleren, wenig mächtigen Gängen, Bändern und
Schnüren im Gestein. Der' häufig vorkommende Schwefelkies
ist indeß in der Regel mich goldhaltig.
In früheren Jahren wurde au' mehren Orten aus dem
Sande der Flüsse Gold gewaschen, so namentlich bei Oläh-
pian. Jetzt aber lohnt sich auch dies nicht mehr. Die so wenig
bedürfenden Zigeuner, welche dieses Geschäft früher ausschließ-
lich betrieben, wenden sich nach und nach anderen einträglicheren
Arbeiten zu. Da sie jetzt nicht mehr leibeigen sind, so kann sie
auch kein Fürst oder Grundherr mehr zwingen, diese Arbeit zu
verrichten, wie es früher meist der Fall war. So war es
namentlich in der benachbarten Moldau, wo das gewaschene
Gold zum Nadelgelde der jeweiligen Fürstin gehörte und durch
den sogen. Armäschmare für dieselbe eingesammelt und ver-
rechnet wurde; dabei verfuhr der Armasch stets mit solcher Ge-
schicklichkeit, daß der Nachtheil nie auf seiner Seite war.
Voraussichtlich ist in Siebenbürgen das schon seit Jahr-
Hunderten ausgebeutete Waschterrain erschöpft, und die reicheren
und besseren Lagen lmd Bänke sind alle geleert. Nun es kommt
wohl nichts mehr nach, und so muß natürlich der Ertrag immer
geringer werden und die Wäscherei auf ein Minimum zusammen-
schrumpfen. Proben im sogeu. Goldseifengebirge ergaben ein
sehr wenig aufmunterndes Resultat. Um hier großartig zu
arbeiten ist der Gehalt zu gering, da in 1000 Emmern des
Gesteins oft nur % bis 1% Loth Gold enthalten sind. Auch
hier würden die Aufbereitungskosten natürlich den Gewinn ^ver-
schlingen, da man Pochwerke und Schlemmheerde erbauen müßte,
um durch Amalgamation das Gold zu gewinnen.
Alle größeren Flüsse des Landes führen in ihren Sand-
und Schotterlagen mehr oder weniger Goldpartikelchen mit; in-
deß wurde bis jetzt noch kein Terrain erkundet, welches reich-
haltig genug wäre, um Gold mit Nutzen gewinnen zu können.
Uebrigens ist das siebenbürgische Waschgold von sehr guter Be-
schaffenheit, findet sich aber auch hier uiemals ganz rein, son-
dem enthält immer einige Procent S'lber beigemischt. Bei
Olähpian gewonnenes sahen wir in sehr schönen 'Blättchen und
abgerundeten Kügelchen. Aenßerst selten findet man es kry-
stallisirt.
Nach authentischen Quelleu erlauben wir uns schließlich,
Folgendes über die Menge des in Siebenbürgen gewonnenen
Goldes zu geben.
Die jährliche Gold Produktion schwankte innerhalb
der Jahre 1823 bis 1861 zwischen einem Minimum von 2338
Mark im Jahre 1824 und einem Maximum von 4087 Mark
im Jahre 1846. Sie betrug in runden Zahlen im Mittel für
die Jahre:
1823 bis 1832 . . . 2650 Mark
1833 „ 1842 . . . 3500 „
1843 „ 1847 . . . 3850 „
1850 „ 1854 . . . 3500 „
1855 „ 1858 . . . 3250 „
In den letzten Jahren scheint sich die Goldprodnktion wie-
der etwas gehoben zu haben; denn für das Jahr 1861 fanden
wir die Erzeugung mit 2032 Münzpfund, gleich 3619 Mark
angegeben.
Ein Glück, daß der Reichthum und Wohlstand eines Landes
sich nicht nur uach seiner Goldproduktion berechnen läßt; indeß
wäre bei unseren metallarmen (?) Zeiten wohl zu wünschen, daß
auch hier nene und ergiebige Lagerstätten des edlen Goldes ent-
deckt werden möchten, was bei noch genauerer geognostischer
Durchforschung des Landes nicht unmöglich sein dürfte.
W. Hansmann.
r. Ein neues Steinsalzlager in Deutschland. Die von
dem preußischen Staate betriebene Tiefbohrung in der Gegend
von Schönebeck bei Magdeburg hat nach Meldung des
„Staats-Anzeigers" im Februar 1866 zum Aufschlüsse eines
Steinsalzlagers in der Tiefe von 1091 Fuß unter der Erd-
oberfläche geführt. Man wird das Bohrloch im Steinsalz zu-
nächst bis zu einer Tiefe von 150 bis 200 Fuß fortsetzen, um
sich von der Beschaffenheit des Salzes zu überzeugen und für
die spätere Ausbeutung mittelst Zuführung süßen Wassers, wel-
ches nach der Sättigung mit Salz empor gepumpt wird, die
genügenden Flächen zum Angriffe zu erhalten. Es ist angeord-
uet, in kurzen Entfernungen Kernstücke ans dem Steinsalze aus-
zubohren und zu Tage zu bringen, um au den festen Stücken
die Beschaffenheit sowie das Streichen und Fallen der Schichten
zu beobachten. Ganz besonders wichtig ist hierbei, festzustellen,
ob dieses Steinsalzlager eine ähnliche Zusammensetzung wie das
von Staßfurt habe, dessen obere Schichten aus einer Reihen-
folge von kalihaltigen Salzen bestehen, deren Ausbeutung für
die Industrie und Landwirthschast von sehr großer Bedeutung
ist. Aber auch in dem Falle, wenn die kalihaltigen Salz-
schichten fehlen sollten, wird der neue Aufschluß des Steinsalzes
in der Nähe der Elbe und der Siedehäuser der Saline zn
Schönebeck große technische Vortheile bei der Salzfabrikation
gewähren.
Die Kriegsmarine des Königreichs Italien. Dieselbe
besteht, amtlichen Vorlagen zufolge, aus folgenden Schiffen:
Panzerschiffe. 6 Fregatten ersten Ranges; davon waren
am 1. Januar 3 noch im Bau, sind aber der Vollendung nahe.
7 Fregatten zweiten Ranges; 2 Corvetten ersten Ranges; 6 Ka-
nonenboote; 2 schwimmende Batterien, — zusammen 23 Panzer-
schiffe mit 8248 Pferdekraft und 448 Kanonen und 3738 Mann.
Schrauben dampf er. 8 Fregatten ersten, 1 zweiten
Ranges; 5 Corvetten, 5 Kanonenboote, — zusammen 19 von
6780 Pferdekraft, mit 544 Kanonen und 7155 Mann.
Raddampfer. 14 Corvetten und 11 Avisos, — zusam-
men 25 von 6050 Pferdekraft mit 118 Kanonen, 3381 Mann.
Segelschiffe. 4, mit 42 Kanonen und 632 Mann.
Sch rauben transp ortschiffe. 12 von 2550 Pferde-
kraft, mit 24 Kanonen und 1092 Mann.
Dazu kommen noch 14 andere Transportschiffe.
Die italienische Kriegsflotte besteht aus 71 Fahrzeugen von
25,820 Pferdekraft, mit 1197 Kanonen und 20,627 Mann; das
Transportgeschwader aus 26 Fahrzeuge» mit 4390 Pferdekraft
und 3320 Man».
Das Gebiet der Jakuten in Sibirien. Nach amtlichen
Berichten betrug die Einwohnerzahl desselben 1864 nur 226,652
Köpfe. Davon waren 9887 Russen, 200,149 Jakuten, 10,690
Tungusen, 1521 Uukaren (Jukagiren), 268 Tschuwaschen und
1990 Lawruten. Dazu kamen noch 3 „Fremde" und 2144 Jndi-
viduen verschiedener anderer Nationalitäten. Unter den Russen
befanden sich 50 Erbadelige und 461, welche den persönlichen
Adel hatten; 510 Geistliche, 5102 Bauern. Am wenigsten dünn
ist die Bevölkerung an den Ufern der Lena und des Aldan.
Im ganzen Nordostsibirien sind nur 78 aus Steiu aufgeführte
Gebäude vorhanden und 773 Holzhäuser nach europäischer Art.
Die Zählung des Viehstandes ergab 430,380 Häupter; davon
Pferde 124,376, Rindvieh 276.027 und nur 615 Schweine und
349 Schafe; Rennthiere dagegen 26,439 und Hunde, welche als
Zugthiere verwandt werden, 3126. Auf den Jahrmarkt der
Stadt Icckutsk kamen 1864 für 841,999 Rubel Maaren, davon
f'innnn' «w r J ^ ' ftU Baumwolleuwaareu wurde für
109,290 Rubel abgesetzt; an chinesischen Waaren sür 63,569,
und an Seidenwaaren für 15,933 Rubel.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meher in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographische» Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Eine Wanderung im vordern Kleinasien; von Nima nach Ephesus.^)
Erdbeben.
Die ersten Sultane der Osmanen, Osman und
Der Hafenplatz Mudania. — Eine Besterguug des Olympos. — Ulabad; Ruinen von Cyzieus; der Fluß Nhyn-
ie nomadischen Auruks. — Harmandschik. — Die Ruinen von Aizaui. — Tie Handelsstadt Ufchack. — Kula im
Rferhaipit. — Näiil,?,' — Die SRHihprfrfinft SpifipfS am Tmolusaebirae. — Die Ruiuen von Sardes. — Ein
Von Nieäa nach Brussa. — Die Hauptstadt ^vou Bithynien.
Orchan.
daeus. — Die
verbrannten Phrygien. — Räuber. — Die Brüderschaft der Zeibeks am Tmolusgebirge.
Ausflug nach Ephesus.
Der Weg von Nieäa nach Brussa führt über Beni
scheher. Graf Moustier, welchen wir schon auf einem
frühern Ausfluge begleitet haben, schildert diesen Ort als
ein Durcheinander von Erdhütten, und selbst der große
Einkehrstall, der Konak, ist in argem Verfalle. Der
vornehme Europäer faud von Seiten der türkischen Be-
Hörden eine sehr freundliche Ausnahme und bemerkte unter
den Notabeln einen mehr als hundertjährigen Greis. Das
ganz Kleinasien nur noch in Smyrna ein „Hotel"; alle
übrigen Städte entbehren einer solchen Bequemlichkeit!
Brussa, die Hauptstadt Bithyniens, liegt nur 5 Weg-
stunden von dem kleinen Hafen Mudania, welcher durch
Dampfer mit Konstantinopel in Verbindung steht, und jetzt
hat man eine gute fahrbare Straße bis zum Meeresufer
hergestellt. Moustier fand im „Hotel de l'Olympe" Alles
gnt und sauber; er hatte sich eben behaglich aufs Lager
Die Mauern von Ulabad, dem alten Lupadium. (Nach A. von Moustier.)
Klima ist gesund, auch der Bodeu fruchtbar, die Vegetation
bis nach Brussa hm sehr üppig, uud an der Landstraße er-
heben sich prächtige Kastanienbäume. Bald kam der Berg
Olympos in Sicht, au dessen unterem Abhang das schöue
Brussa liegt, welches der Wanderer spät Abends erreichte.
Es ist keine Kleinigkeit, bei Nacht in eine türkische Stadt
einzureiten uud sich zurecht zu finden. In den engen und
krummen Gassen brennt kein Licht; die Läden sind ge-
schlössen, aus den Häusermauern springen Ecken hervor,
in der Straße liegen Steine umher, sind tiefe Gossen, und
die aus ihrem Schlaf geweckten Hunde bellen. Man muß
die abgemndeten Pferde gewähren lassen und, gleich einem
Schiffbrüchigen, seine Seele dem lieben Gott empfehlen.
Aber Brussa hat einen Gasthof nach europäischer Art,
und das ist ein großer Vorzug. Außerdem findet man in
*) Vergl. Globus IX, S. 353.
Globus x. Nr. 9.
geworfen und war eingeschlummert, als er durch Geschrei
aufgeweckt wurde. Er sprang auf und sah, wie eine ganze
Baude unheimlichen Gesindels Fackeln schwenkten und auf
den Gasthof zu rannten. Die Sache schien bedenklich zu
werden; vor ein paar Monaten war bei einem Volkstumult
das Haus eines Christen in Brand gesteckt worden. Aber
die Sache nahm einen guten Verlaus, die Fackelträger zogen
vorüber, und es stellte sich heraus, daß es sich um eine
Feierlichkeit bei einem jüdischen Begräbnisse handelte.
Brussa ist die „Perle von Anatolien". Gegen Süden
ist es durch den bewaldeten Olymp beschützt, der Wasser in
Fülle in das üppig fruchtbare Thal hillabsendet. Im
Sommer wird die Hitze durch See- und Gebirgswinde ge-
mäßigt, und der Baumwuchs kann an saftiger Pracht nicht
übertroffen werden. Da stehen Cypressen, Platanen und
Pappeln, Kastanien und Maulbeerbäume in ungezählter
Menge und spenden erquickenden Schatten; die Moscheen
33
258
Eine Wanderung im vorder» Kleinasien; von Nicäa nach Ephesus.
und Minarets sind von Grün umgeben, und der Anblick
hat etwas zugleich Anmuthendes und Fesselndes.
Aber Brussa steht auf verrätherischem Boden und hat
oftmals unter verheerenden Erdbeben gelitten; auch von
entsetzlich verwüstenden Feuersbrünsten wurde es uicht
selten heimgesucht und ist namentlich in den Jahren 1490,
1804 und am 19. Sept. 1863 zum großen Theil in Asche
gelegt worden.
Die Stadt hieß hu Alterthum Prosa ad Olympum,
nach ihrem Erbauer, dem Könige Prusias; BitHynieu hat
mehre Herrscher dieses Namens gehabt, und wir wissen
nicht, welcher von ihnen der Gründer war, ob einer, der
schon in den Tagen des Krösus lebte, oder ein anderer, bei
welchem Hannibal gastliche Aufnahme fand. Im Alter-
thum spielte es keine Rolle; dagegen war es im Mittel-
alter von großer Bedeutung. Die vornehmen Byzantiner
verweilten dort gern wegen der warmen Quellen. Als die
Mohammedaner Kleinasien überfluteten, zeigte sich bald,
wie wichtig die strategische Lage dieser Stadt war. Schon
im Anfange des 10. Jahr-
Hunderts waren die Sara-
cenen bis an den Olymp
vorgedrungen. Sie er-
oberten die Stadt, welche
von den byzantinischen
Kaisern wieder erobert
und bald abermals ver-
loren wurde. Dann ka-
inen die Kreuzfahrer, und
während die Franken in
Konstantin o p el ein Kaiser-
thum gründeten, thaten die
aus Byzanz vertriebenen
Herrscher ein Gleiches in
Kleinasien. Theodor La-
skaris umgab Brussa mit
sehr starken Mauern, und
sie wargegeu alle Angriffe
der Lateiuer gesichert.
Kleinasien bot um jene
Zeit einen merkwürdigen
Anblick dar. Weder die
christlichen Kaiser, noch
dieseldschuckischen Sultane
hatten Kraft genug, die
Provinzen Anatoliens iu
Unterwürfigkeit zu erhal-
tcn. Nach und uach waren eine Anzahl von Feudalfürsten-
thümern entstanden, welche im Besitz griechischer Des-
poten oder muselmännischer Begs waren. Die Grenzen
dieser Besitzungen durchkreuzten sich vielfach, und die
Fürsten verschiedenen Glaubeus waren heute gute Freunde
und morgen erbitterte Feinde.
Die Uebermacht der Mohammedaner wurde allmälig
immer größer, namentlich unter Osman, Erthogrnls Sohne,
der als Bey, und nominell abhängig vom Sultan zu Jeo-
uium, einen Theil Bithyniens beherrschte. Nach dem Tode
dieses Sultans wurde er selbst Gebieter, und fein Sohu
Orchan belagerte Brussa, das erst uach einer zehnjährigen
Belagerung iu seine Hände siel und nun eine vorzugsweise
muselmännische Stadt wurde.
In den Wäldern und Höhlen des Olympos hauseteu
viele christliche Anachoreten. Einst waren die Heiden von
den Christen bedrängt uud verfolgt worden; jetzt kam eine
Wiedervergeltung, indem sie ihrerseits den Druck der Mo-
hammedaner empfanden. Die christlichen Einsiedler mußten
Altphrygisches Felsengrab zwischen
(Nach A> von
deu Santous Platz machen, uud einer dieser Heiligen,
Güökli Baba, d. h. Vater der Hirsche, hat viele Wunder
gethan. Die wilden Thiere, unter denen er lebte, folgten
seinen Worten, und als einst, während der Belagerung, die
Christen von Bruffa aus einen Ausfall gegen die Türken
unternahmen, erschien er plötzlich an der Seite Orchans,
aus einem Hirsche reitend und einen gewaltigen Säbel
schwingend. Mau sieht, die Heiligen der verschiedenen
Religionen verrichten ähnliche Thaten; die Legenden haben
viel Übereinstimmendes.
Die Türken nahmen endlich Brussa ein; Osman lag
auf dem Sterbebette, als ihm die Uebergabe gemeldet wurde.
Das war im Jahr 1326. Er hielt feinen Einzug im
Sarge; der erste Sultan der Osmanen ließ sich in
der Schloßkapelle begraben, die er in eine Moschee um-
wandelte. Aehnliches hatten einst die Christen mit den
Tempeln der Heiden gethan. Orchan war feines Vaters
Nachfolger. Brussa wurde die Hauptstadt des neuen
Reiches und erhob sich zu großem Glanz. Aber gleich im
Anfange des 15. Jahr-
Hunderts brach ein schwe-
res Verhängnis; über die-
selbe herein. Tamerlan
hatte den Sultan Bajasid
bei Augora besiegt und
plünderte die Stadt, von
welcher ein großer Theil
eine Beute der Flammen
wurde, u. späterhin wirk-
ten innerliche Kriege ver-
derblich. Doch seit der
Mitte jenes Jahrhunderts
waren ihr ruhigere Tage
beschieden. Konstantino-
pel wurde Hauptstadt der
Osmaueu, 1453, aber
Brussa gilt bei ihnen bis
auf diesen Tag für eine
heilige Stadt. In ihr
ruhen die irdischen Ueber-
reste ihrer ersten Sultane,
ihrer tapfersten Krieger
und vieler heiligen Man-
ncr; man zählt mehr als
600 Gräber berühmter
Leute, und die Zahl der
Moscheen, Leichenkapellen
(Türbe's) und Klöster (Tekieh) soll mehr betragen, als
das Jahr Tage hat. Sehr viele dieser Denkmäler stam-
men aus dem 15. Jahrhundert; die Mehrzahl derselben
fällt in Trümmer, aber sie tragen wesentlich dazu bei, der
Stadt einen eigenthümlichen Charakter zu geben. Diese
erhebt sich in der Ausdehnung von mehr als einer Weg-
stunde auf Hügeln, die sich an den Olymp lehnen; auf dem
höchsten derselben steht die Citadelle und die Altstadt, welche
klein ist und von Türken alten Schlages bewohnt wird.
Alles Uebrige ist Neustadt. Die Uludschami, große Moschee,
ist eines der größten Gebäude im Orient; sie hat in dein
heftigen Erdbeben von 1856 verhältnißmäßig wenig ge-
litten. Der Bäder haben wir schon erwähnt.
Von Brussa aus unternahm Moustier eine Besteig u n g
des Berges Olympos, nachdem er zuvor über die In-
dustrie der Bewohner Erkundigung eingezogen. Am be-
kniendsten ist die Seidenzucht, welche von den Bauern
der Umgegend betrieben wird. Die Spinnereien sind
in den Händen von Ausländern, namentlich Deutschen,
Harnlandschik und Tanschanli.
Moustier.)
Eine Wanderung im vordem Kleinasien; von Nicäa nach Ephesns.
259
Schweizern, Italienern und Franzosen; sie liegen in der
Stadt selbst und beschäftigen etwa 5000 Arbeiter beiderlei
Geschlechts; die Gesammterzeugung soll sich auf 15 bis
20 Millionen Francs belaufen. Die leichten Seiden-
gewebe von Brussa habeu ihren alten Ruf verloren; es
sind höchstens ein paar hundert Webstühle vorhanden.
Der Name Olympos wurde im Alterthum nicht
weniger als 14 Bergen beigelegt; unter ihnen war der
thessalische am berühmtesten, nach ihm jener in Kleiuasien.
Am galatischen Olympos schlug Cousul Maulius die
Galater aufs Haupt.
Wer den bithynifchen Olymp ersteigen will (er wird
wohl auch der mysische genannt), übernachtet gewöhnlich
auf halber Höhe uuter einem Zelte der Nomaden, welche
auf den Hochebenen ihre Heerden weiden laffen. Mit
guten Pferden kann man jedoch die ganze Partie in einem
Tage machen; sie bietet keine außergewöhnlichen Schwierig-
keiten dar. Herr von Moustier brach, von zwei moham-
medanischen Dienern begleitet, am 3. Okt. 1862 Morgens
folgt eine steinige Ebene, die wohl eine Stunde lang uud
mit Wachholdersträucheu bewachsen ist; die Granitblöcke
werden weiter aufwärts immer zahlreicher und größer; von
allen Seiten her kommen Bergwasser herab. Endlich ge-
langt man an eine gewaltige Mauer von weißem krystal-
linischen Marmor, durch welche mehre Granitbänke sich
emporgehoben haben; sie liegt am Siidabhange des Pla-
tean's und bildet den Kamm des Olympos. Der Gipfel
ist von der Nordostseite her zugänglich auf einem steilen
AbHange, der mit Marmorfragmenten bedeckt ist.
Herr von Moustier befand sich schon halb 11 Uhr
Morgens am Fuße desselben uud erstieg ihn in einer guten
halben Stunde. Dann war er oben uud hatte einen weiten
Rundblick über ein wildes Land; überall wellenförmiger
Boden, Berghöhen und unendliche Wälder, in denen einige
Seen als Lichtpunkte schimmerten. Von menschlicher
Thätigkeit ist keine Spur zu erblicken, weil die angebauten
Thäler durch die bewaldeteu Höhen verdeckt werden. Nach
Norden und Westen hin sieht man das Meer. Alte Denk-
Ein türkisches Haus in Harmc
halb 7 Uhr auf und ritt den westlichen Abhang hinan. Der
untere Saum des Berges war mit Kastanienwäldern be-
deckt; weiter aufwärts folgten Bucheu. Die Aussicht auf
die Stadt und bis zum Golf von Mudauia war ganz
prächtig. Nach etwa anderthalb Stunden nimmt man die
Richtung nach Osten hin; der Pfad ist mit allerlei Gestein
übersäet uud etwas schwierig zu passiren, auch führt er an
einem tiefen Abgrund hin; Glimmerschiefer und Gneiß
folgen auf den Sand- und den Kalkstein, welche auf der
Seite nach Brussa hin die Unterlage bilden.
Dann folgt die Region der Fichten. Dort zog der
Reisende durch eine niedergebrannte Waldstrecke. In der
Türkei wirtschaftet man geradezu gottlos mit dem Feuer;
der erste beste zündet den Wald an und macht sich damit
einen Spaß; ja die Bauern sehen in einem Waldbrande
das bequemste Mittel, sich Kohlen zu verschaffen. Für
einen Europäer, welcher den Werth des Holzes zn würdigen
weiß, ist ein solcher Anblick traurig und geradezu empörend.
Mitten unter den Fichten lagen mächtige Granitblöcke, aber
die Pferde kletterten darüber hinweg wie Ziegen. Dann
schik. (Nach A. von Moustier.)
mäler hat Moustier auf dem Gipfel des Olympos nicht
gefunden, wohl aber einige Steinhaufen zu Ehren moham-
medanischer Heiligen. Vou ewigem Schnee kann keine
Rede sein; er schmilzt im Juli und nur au einzelnen
Stellen bleibt er länger liegen. Man hat sich dnrch den
Glanz des weißen Marmors täuschen lassen. Der Gipsel
liegt nur 2200 Meter über dem Meere, die untere Schnee-
grenze aber reicht unter dieser Breite bis 3300 Meter
hinauf. In den Wäldern des obern Platean's hausen
Bären, weiter abwärts kommen Hirsche und auch wilde
Schweine in großer Menge vor. Dann uud wann wird
ein Panther erlegt. Abends halb 7 Uhr war Herr von
Moustier wieder in Brussa.
Vou Brussa uach Ulabad sind es nur 10 Reisestunden.
Unterwegs wurde ein Ausflug gemacht nach Abutiont,
dem alten Apollonia ad Rhyndacum. Der Ort liegt ans
einem von Wasser umgebeuen Hügel und wird zumeist von
Christen bewohnt. Der See ist fischreich; von seinen
33 *
260 Eine Wanderung im vorder« K
malerisch eingezackten Usern hat man einen Blick nicht blos
aus den Olymp, sondern auch aus deu Ida. Abends ein
Waldbrand, dann über den Rhyndacns nach Ulabad, wo
Moustier bei einem Papas, christlichen Geistlichen, Unter-
kommen fand. Der Mann war zugleich Landwirth und
Viehzüchter, und ging am andern Tage mit auf die Jagd.
Die Bauern waren eben mit der Aussaat des Winterkornes
beschäftigt uud bedienten sich eines sehr einsachenPsluges;
aasien; von Nicäa nach Ephesns,
Weiterhin läßt man das alte Miletopolis zur
Rechten und hat einen Blick aus die etwa 2 Stunden von
der Straße entfernten Ruinen von Cyzicus. Auch
diese Stadt ist schwer von Erdbeben heimgesucht, uud die
Säulen ihrer Tempel sind zum Bau der Sophienkirche in
Konstantinopel benutzt worden.
Am Rhyudacus entlang wächst in Menge die lang-
blätterige Eiche, Quercus Aegylops; sie ist eine dem Orient
Ein Türkenhaus in Uschack,
statt der Egge hatten sie einen jungen Baum, an welchen! sich
noch die Aeste befanden; diesen schleiften sie über das Feld.
Die Mauern von Ulabad sind vom Kaiser Alexius
Comneuus gebaut worden; überhaupt ist „Lupadium"
keine alte Stadt; sie hat aber viele Gefechte und Angriffe
erlebt; 1339 fiel sie in die Gewalt des Sultans Orchan.
Die Dorfkirche war 1856 durch das große Erdbeben zer-
trümmert worden. Einen Theil der Aecker des Papas
hatten Tscherkeffen in Besitz genommen.
(Nach A. von Moustier.)
eigene Varietät, und ihre große Frucht steckt in einem be-
haarten Kelche wie in einem Büschel Wolle. Sie liefert
die von den Gerbern sehr gesuchte levantische Vallouea,
welche eines der Hauptausfuhrerzeugnisse Kleinasiens bildet.
Unter solchen Eichen hatten einige Yuruks, türkische No-
maden voll der Horde des schwarzen Schöpses, ihren Lager-
platz. Manche türkische Stämme haben bekanntlich bis
aus den heutigen Tag das seßhafte Leben verschmäht; so
die Turkomanen, welche in Kleinasien vorzugsweise in den
Eine Wanderung im vordem Kl
südlichen Gegenden umherziehen, namentlich am Taurus.
Aber sie sind nur Halbnomaden, haben Dörfer, bestellen
den Acker und ziehen blos während der Sommermonate mit
ihren Heerden umher. Die Nuruks dagegen leben nur
unter Zelten und verweilen nie lange an derselben Stelle,
sondern wandern zwischen dem Tmolusgebirge und dem
Schwarzen Meere hin und her; der Olymp kann als
ihr Hauptquartier und Centrum betrachtet werden. Im
Sommer verweilen sie im Hochgebirge; ^während ihre
lasien; von Nicäa nach Ephesus. 261
vertritt. Dieser hat es viel Mühe gekostet, bei jenen No-
maden mit Patriarchalischeu Sitten die Rekrutiruug durch-
zusetzen; sie erhebt eine gewisse Jahresabgabe dafür, daß
die Nuruks Staatsläudereieu benützen.
Monstier fand ans dem Wege uach Harmaudschik
im ganzen Thale des Rhyndacns eine Menge von Wacht-
feuern der Nuruks; nach Einbruch der Dunkelheit war der
Anblick in hohem Grade malerisch. Der Konack in dem
eben genannten Orte war ein rechtes Musterbild eines
Säulen vom Tempel der Cybele in den R>
Kameele, Kühe, Schafe und Ziegen aus den Ebenen oder
in den Wäldern weiden, sammeln sie Harz ein. Gegen
den Winter ziehen sie ins Unterland und weben grobe
Teppiche, die sogenannten Kilins.
Diese Nuruks zerfallen in Assirets, deren jede aus
hundert und mehr, manchmal auch bis eintausend Familien
besteht; es sollen im Ganzen 36 solcher Assirets vorhanden
sein. An der Spitze jeder einzelnen steht ein Bey, welcher
großes Ansehen hat und den Stamm gegenüber der Pforte
en von Sarves. (Nach A. von Monstier.)
wohleingerichteten Türkenhauses. Es sah, wie unsere Ab-
bildung zeigt, förmlich elegant aus und enthielt mehre rem-
liehe, mit hübschen Teppichen belegte Säle.
Am andern Tage stieg Monstier wieder von dem Pla-
teau zum Nhyndacus hinab; den Abhang des erstern bilden
seltsam gestaltete Felsen, die von vulkanischer Wirkung
zeugen. Ein schöner Tusiblock hat die Form eines Gie-
bels; in dem untern Theil ist eine Vertiefung eingegraben
worden, welche zu einer innern Kammer führt. Diese
262 Eine Wanderung im vordem Kl
Grabkammer stammt aus altphrygi scheu Zeiten; man
hat dergleichen mehrfach in Kleinasien gesunden, namentlich
in der Umgegend von Uschack und Kara hissar.
Das Thal von Tauschauly, d. h. Haseuseld, war
vortrefflich angebaut; weiterhin gelangt man zn den Nni-
nen von Aizani, die erst seit etwa 40 Iahren bekannt
geworden sind. Man sieht noch das Theater, das Stadium,
die Brücke über den Rhyudacus, die Userbauten und sehr
schöne jonische Säulen von einem Jupitertempel. Ans den
Mauern liest man griechische uud lateiuische Zuschriften
aus den Zeiten des Kaisers Hadrian.
Das Landvolk in diesem Theil Anatoliens befindet sich
in leidlichen Verhältnissen, weil der Boden fruchtbar und
die Bevölkerung nur dünn ist; dazu kommt, daß diese
Leute nur sehr geringe Bedürfnisse haben. Die Türken,
als Masse genommen uud abgesehen von denen, welche in
den großen Städten sich dem Luxus ergeben, schöpfen aus
ihrem Glauben eiue große Seelenruhe und eine fatalistische
Entsagung. Sie arbeiten mäßig, rauchen ihren Tschibuk,
trinken Kaffee und sind in ihrer Weise glücklich. Von enro-
päischer Ruhelosigkeit uud von dem, was man als (Zivili-
sation oder Fortschritt rühmt, kann bei ihnen keine Rede
sein. Aber sie siud gastfrei und auf ihr Wort kann man
sich verlassen. Dazu kommt, daß ihre äußere Haltung
etwas Würdiges hat uud iiu Wesen der Türken viel Selbst-
achtung liegt. Selbst bei Leuten aus dem niedrigen Volke
kommen Schimpfwörter selten vor; dagegen ist freilich
der Andersgläubige „ein Hund". Aber wo der Glaube
ins Spiel kommt, hört ja überall nicht selten die Hnma-
nität auf.
In diesem Theile des alten Phrygiens bäckt man das
Mehl zn sehr dünnen Kuchen, die zugleich als Teller dienen
uud an denen der Orientale sich die Finger abwischt. Auch
verspeist man den Weizen wie wir den Reis, und vor jedem
Hause steht ein steinerner Mörser, in welchem die Körner,
bevor sie in die Küche gelangen, halb zerstampft werden.
Ein von tiefen Nissen und Spalten durchzogenes Pla-
tean verbindet die Bergketten des Dindymenes uud des
Temnus, die im Alterthum Hauptstätten für den Kultus
der Cybele waren. Beide zweigen sich von dieser Hochebene
ab; das eine Gebirge verlängert sich in der Richtung nach
Cappadoeien hin, das andre zieht nach dem Aegäischen
Meere zu, uud solchergestalt wird Kleinasien in zwei Ab-
dachungen getheilt, in eine nordwestliche zum Poutus
Euxinus und zur Propoutis hin und iu eine westliche zum
Mittelländischen Meere. Aus jenem Plateau sah Herr
von Moustier die Quellpunkte des Rhyndacns und des
Hermus, deren Gewässer nach verschiedenen Meeren hin
abfließen. Das Thal des letztgenannten Flusses ist recht
gut angebaut. In demselben liegt Uschack, das nicht ohne
commereielle Wichtigkeit ist, denn es vermittelt den Verkehr
zwischen den Agrikulturgegenden Phrygiens und der Küste.
Allwöchentlich ziehen Kameelkarawanen mit Getreide, Ta-
bak, Opium und Knoppern nach Smyrna. Auch werden in
dieserStadt die sogeuauntenSmyrnateppiche verfertigt,
und mit dieser Industrie sind wenigstens 800 Webstühle
beschäftigt. Die Bevölkerung beträgt etwa 15,000 Seelen,
wovon ungefähr ein Drittel Christen sind. Gewerbe und
Handel befinden sich fast ganz in den Händen der letzteren.
Es ist nicht ausgemacht, ob Uschack auf der Stelle des
alten Akmonia oder des alten Encarpia steht; gewiß ist,
daß man viele Marmorskulpturen findet; sie scheinen alten
Gräbern angehört zu haben und bilden nun eine Zierde
der Springbrunnen. Unsere Abbildung (nach einerPhoto-
graphle von Herrn von Moustier) zeigt ein Haus, das
nasictt; von Nicaa nach Ephesus.
aus Trümmern alter Leichenmonumeute aufgeführt wor-
den ist. (S. 260.)
Von Uschack zog der Reisende über eine öde, mit Stei-
nen übersäete Hochebene weiter nach Smyrna. Er über-
nachtete in dem armseligen Dorfe Takmak und fand unter-
Wegs nur wenige Zeltlager der Auruks. Aber von einigen
Höhen herab hatte er bei Sonnenuntergang einen herrlichen
Blick über einen großen Theil des westlichen Kleinasiens
bis zum Ida. Durch ein wahres Felsenlabyrinth gelangte
er nach Kula, welches in dem „verbrannten Phrygieu"
(der Katakekanmena) eine Art von Centrum bildet. Der
Ort liegt am Fuße des „schwarzen Tintenfasses" (Kara
Develit), d. h. eines großen, längst erloschenen Vnlkanes,
aus dessen Krater jedoch in geschichtlichen Zeiten lange
Ströme von Lava abgeflossen sind, welche die ganze Um-
gegend von Kula bedecken und bis dicht au die Stadt rei-
chen. Sie gleichen den plötzlich erstarrten Meereswogen.
Kula ist nicht ganz so stark bevölkert wie Uschack, aber Ge-
werbsamkeit uud Handel sind dort nicht minder beträchtlich.
' In diesen Gebirgen, welche an und für sich einen nn-
heimlichen Anblick darbieten, ist es auch sonst nicht geheuer.
Dem Europäer schlössen sich zwei griechische Kaufleute an,
die allerlei böse Dinge zn erzählen wußten. Es ist in jenen
Gegenden heute wie bei uns im Mittelalter. Die Kauft
leute müssen, wenn sie einigermaßen sicher sein wollen, in
möglichst großer Anzahl reisen, gut bewaffnet sein und den
Tag der Abreise sorgfältig verheimlichen. Gewöhnlich neh-
men sie auch dann noch eine dem Reiseziel entgegengesetzte
Richtung und allemal thnn sie wohl daran, mit deu
Straßenräubern eiu gütliches Abkommen zu treffen. Die
Türken halten, wie schon bemerkt, ihr Wort und wer sich
mit ihnen verständigt hat, kann sicher reisen. An Mittels-
leuten sehlt es nicht, und Herr vou Moustier machte mit
einem solchen Räubermäkler Bekanntschaft. Mitten in der
Einöde steht eine alte Barracke, welche den stolzen Namen
„Kaffeehaus" führt. Dort langte der Reisende Nachts
11. Uhr an. Die griechischen Kaufleute sprangen sofort vom
Pferde und wurden von einem hohen, vierschrötigen Manne
begrüßt, der gut gekleidet uud uicht minder gut bewaffnet
war. Als dieser sich einen Augenblick entfernte, äußerten
die Griechen leise, man müsse ihm die Tasse Kaffee recht
gut bezahlen; er sei einst ein weit und breit gesürchteter
Räuber gewesen, jetzt aber ein durchaus rechtschaffener
Mann geworden, welcher den Handelsleuten nützliche
Dienste erweise. Als Moustier bezahlte, nahm dieser
rechtschaffene Wirth das Geld, ohne dasselbe eines Blickes
zu würdigen und unterhielt sich ganz unbefangen weiter
mit seinen Freunden. Man sah wohl, daß er sich seiner
Wichtigkeit bewußt war.
Etwas weiter hiu, im Tmolns, au dessen Fuß der Rei-
sende am nächsten Abend sein Lager aufzuschlagen gedachte,
Hausen Leute, deren bloßer Name in der ganzen Gegend
von A'i'din nach Knla und bis nach Smyrna hin Schrecken
erregt, — die Zeibecks, d. h. die Unabhängigen. Sie
gehörten wohl ursprünglich zu einem Stamme, der lange
Zeit seine Selbstständigkeit behauptete; gegenwärtig bestehen
sie aus sehr gemischtenBestandteilen und man findet sogar
Neger unter ihnen. Alle verzweifeltei^Burfche und Leute,
welche mit den Gerichten auf schlechtem Fuße leben, schließen
sich dieser Brüderschaft an. Sie nimmt große Privi-
legien für sich in Anspruch, namentlich das Vorreckt, auf
Kosten anderer Menschen zu leben. Im Allgemeinen sind
sie indeß ziemlich bescheiden und weit weniger scklecht als
z. B. die italienischen Briganten. Sie halten den Reisen-
den an und sind insgemein zusrieden, wenn sie ein Gold-
stück, Lebensmittel oder Tabak erhalten. Da sie von der
Eine Wanderung im vordem Kl
Ueberzeugung durchdrungen sind, daß sie ein Recht zu
existiren haben, so verbergen sie sich auch nicht, sondern
tragen Sorge dafür, daß man sie sofort an ihrer Kleidung
erkenne.
Vor etwa 30 Iahreu wollte ein Pascha den Zeibecks
das Handwerk legen und verbot ihnen zunächst das Tragen
ihrer eigentümlichen Kleidung bei schwerer Strafe. Auch
schickte er regelmäßige Truppen gegen sie ins Feld, und auf
beiden Seiten ist damals viel Blnt geflossen. Die Zeibecks
blieben jedoch, wie sie immer gewesen waren. Im Jahr
1861 schlug die Pforte einen andern Weg ein. Damals
führte der Sultan Krieg mit den Montenegrinern; der
Pascha von Smyrna bekam Auftrag, unter den Zeibecks zu
rekrutiren, und stellte ihnen reiche Beute iu Aussicht. Etwa
8000 Mauu ließen sich anwerben uud kamen nach Smyrna,
wo es gerade an Kohlen für die Dampfer fehlte. Drei
Tage lang blieben sie in Smyrna, das einer mit Sturm
eroberten Stadt glich. Ein Zeibeck war so unbesonnen, sich
an einem Engländer zu vergreifen. Sofort traten die euro-
inasien; von Nicäa nach Ephesus. 263
goldreiche Paetolns und der Mäander und der Hermus
durchströmen, auf altberühmter Erde. Ueberall tauchen
dort große Erinnerungen auf. Aber von der einst blühen-
den Hauptstadt Sardes sind nur noch Trümmer übrig; sie
ist oftmals erstürmt und eingeäschert worden; sieben Mal
hat sie Plünderung erlitten durch die Skythen, Perser,
Griechen, Gothen und Saracenen. Dazu kamen die Ver-
Wüstungen, welche das große Erdbeben zur Zeit des Kaisers
Tiberius in ganz Kleinasien anrichtete; aber das schwerste
Schicksal erlitt sie, als 1402 die Soldaten Tamerlans Alles
in Grund und Boden verheerten. Von diesem harten
Schlage hat sie sich uie wieder erholt, uud seitdem stehen
Zelte der Auruks aus deu Trümmern der Stadt des
Königs Krösus. Mit Ausnahme von zwei prächtigen
Säulen, welche zu einem Tempel der Cybele gehörten,
stammen alle anderen Ruinen, namentlich jene des Thea-
ters, des Stadiums, des Gymnasiums und der Kirchen aus
der nachchristlichen Zeit. Sie bieten in ihrer Gesammtheit
einen imponirenden Anblick dar, weil sie einem breiten Thal
Die Ruinen von Ephesus, vom Berge Prion ans gesehen. (Nach A. von Moustier.)
päischen Consuln gemeinschaftlich mit großem Nachdruck
auf, und noch an demselben Abend wurden die Zeibecks
eingeschifft. In Montenegro schickte man sie immer zuerst
ins Feuer, uud vou jenen dreitausend haben nur wenige
den Tmolus wieder gesehen. Die Art selber ist aber darum
doch nicht ausgegangen.
In den meisten Gegenden Anatoliens findet man
Quellen, welche auf Kosten frommer Muselmänner zur
Erquickung der Reisenden mit Mauerwerk eingefaßt worden
sind und Ruhepunkte darbieten. Auf dem Plateau jeuseits
Kula sind aber keineQuelleu vorhanden, jedoch barmherzige
Mohammedaner sorgen dafür, daß dem Wanderer ein
Labsal nicht fehle; sie hatten große, mit frischem Wasser-
gefüllte Krüge in den Schatten der Bäume stellen lassen.
Bald kam die imposante Kette des Tmolns ganz und
voll in Sicht, und am Abend bot das kleine DorfSalikli
einen willkommenen Ruhepunkt. Von dort aus unternahm
Moustier einen Ausflug nach den nur anderthalb Weg-
stunden entfernten Ruinen von Sardes. Er war nun
auf lydischem Boden, in dem Lande, welches der einst
entlang auf den letzten Abhängen des Tmolns sich erheben.
Der Hügel, auf welchem die Königsburg stand, ist in Folge
eines Erdschlipses bis nahe an das Theater hinabgerutscht.
Es träumt sich schön im Anblick dieser Ruinen von
Sardes. Man denkt an Solon und Krösus, an König
Midas, an Herknles, der zn den Füßen der Omphale saß,
an Gyges und Kandaules und die reizenden Schilderungen
im ersten Buch des Herodot. In Sardes zog Xerxes sein
gewaltiges Heer zusammen, 480, bevor er seinen Zug
nach Hellas antrat; hier organisirte der jüngere Cyrus den
Zug, 401, welchen Xenophon verherrlicht hat; hier hielt,
334, der maeedonische Alexander seinen Einzug nach der
Schlacht am Granicus, und hier war, 190, Scipio nach
der Schlacht von Magnesia. Auch Kaiser Friedrich Roth-
bart ist in Sardes gewesen, 1190; bald nachher fand er
seinen Tod in den kalten Wellen des Cydnns.
So kann man träumen, wenn man unter dem Schatten
riesiger Platanen in einem türkischen Kaffeehause sitzt,
dessen Dach von alten Säulen getragen wird. Vor dem-
selben fließt der Pactolus vorüber.
264 Psychische Seuchen und Tanz
Sechs Stunden von Sardes entfernt, jenseit des Her-
mus liegen rasenbedeckte Hügel. Diese Tnmuli erheben
sich über den Gräbern der alten lydischeu Könige,
am Rande des Sees Gyges. Sie sind so zahlreich, daß
sie bei den Türken Ben Tepe, die tausend Hügel,
heißen. Den höchsten derselben hat schon Herodot als das
Grabmal des Alyattes beschrieben, und sein Umfang beträgt
mehr als 3000 Fuß. Man hat in demselben Nachgrabungen
angestellt, die aber kein wichtiges Ergebniß lieferten.
In der Nähe liegt die kleine Handelsstadt Kassaba.
Von dort zog Moustier durch das Gebirgsthal zwischen
dem Tmolus und dem Sypilus; jenseit des letztern liegt
Magnesia, wo Seipio Afiaticus den König Antiochns den
Großen aufs Haupt schlug. Hier macht sich schon die
Nähe der großen Hafenstadt Smyrua bemerkbar, die Ge-
gend wird belebter und lange Züge beladener Kameele sieht
man häufig.
Von Smyrua aus unternahm Herr von Moustier einen
Ausflug nach den Ruinen von Ephesns. Früher waren
zwei Tagereisen zu Pferde dafür erforderlich; jetzt kann
man die bis A'i'diu führende Eisenbahn benützen. Die
Provinz Aidiu umfaßt das ganze Flußgebiet des Mäander
tth bei verschiedenen Völkern.
und liefert Getreide, Rosinen, Feigen und Tabak. Die
buntscheckige Menge der Fahrgäste gewährt Unterhaltung;
sie reden in sehr verschiedenen Zungen und man glaubt sich
beim Thurmbau von Babel zu besiudeu. Die Bahn führt
über den Ka'i'ster, unweit der Station Aya Slnk. Diese
Gegend ist ungesund, weil der Fluß und der alte Hafen
von Ephesus durch Anschwemmungen verschlämmt worden
sind; aus den Sümpfen steigt böse Luft auf, und deshalb
ist die muselmännische Stadt Aya Slnk, welche die alte
Stätte von Ephesus einnahm, verlassen worden. Man
sieht von der Bahnstation aus die Ruinen: einen großen
Aqnädnct, eine mittelalterliche Burg aus dem Berge
Naleffus, eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert und
vier Granitsäulen, welche einst zum Tempel der Diana ge-
hörten. Dazu kommt noch mancherlei anderes Getrümmer.
Etwa eiue halbe Stunde von Aya Slnk erhebt sich ein
einzeln stehender Hügel, der Berg Prion; von ihm aus
hat man einen guten Gesammtüberblick der Ruinen von
Ephesus. Auch diese Stadt ist seit deu Tagen der Amazonen
nicht weniger als sieben Mal zerstört worden, der berühmte
Tempel der Diana zwei Mal. Herostratns ist durch die
Einäscherung desselben unsterblich geworden!
Psychische Seuchen und
Im Völkerleben treten seltsame Erscheinungen auf, für
welche die Wissenschaft bis jetzt keiue genügenden Erklärungen
fand. Ein geheimnißvolles Etwas packt urplötzlich viele
Meufcheu mit unwiderstehlicher Gewalt; sie werden völlig
aus dem Gleichgewichte geworseu und verlieren alle und
jede Kraft zur Selbstbestimmung. Manchmal bemächtigt
sich ihrer eine gewaltige Unruhe und sie müssen wandern;
oder irgend ein religiöser oder politischer Fanatismus durch-
dringt die Massen und wirkt ansteckend wie eine körperliche
Seuche, oder sie verfallen in Tanzwuth, Geißelwuth
(Flagellanten) und Tarautismns.
Ueber derartige Vorgänge hat vor mehr als dreißig
Jahren Professor Hecker in Berlin ein vortreffliches Werk
geschrieben, das in der jüngst erschienenen neuen Auflage,
welche Hirsch veranstaltete, uoch wesentlich gewonnen hat.
In Frankreich wendet ein sehr gediegener Gelehrter, Bon-
din, diesen krankhaften Lebensäußerungen seine Aufmerk-
famkeit zu. Wir unsererseits haben im Globus dieselben
keineswegs vernachlässigt, und insbesondere jene, welche in
unseren Tagen hervortreten, eingehend erörtert. Wir er-
innern hier an unsere Aufsätze über die Ramenanzas
auf Madagaskar und die Hauhau's mit demPai-Marire-
glauben auf Neuseelaud.
Ueber die Krankheitserscheinungen auf Madagaskar,
welche man dort als Ramanindfchana oder auch als
Ramina b e bezeichnet, hat auch ein katholischer Missionär
(Annales de la propagation de la foi, Bd. 26, S. 402)
Beobachtungen angestellt. Er hätte beinahe sein Leben
eingebüßt, weil er schwarze Kleider trug. Gegen Alles,
was schwarz aussah, hatten die von der geistigen Seuche
Ergriffenen eine Abneigung, die sich bis zur Wuth steigerte.
Der Geistliche hielt die letztere anfangs für erkünstelt, weil
f" bei ähnlichen krankhaften Erscheinungen
der Widerwille gegen gewisse Farben gleichsam typisch ist.
bei verschiedenen Völkern.
Die im 14. Jahrhundert in Deutschland und den Nieder-
landen vou der Tauzwuth Ergriffenen bekamen Zuckungen,
sobald sie etwas Rothes sahen, während diese Farbe bei
den mit Tarautismus behafteten Italienern so beliebt war,
daß sie am liebsten rothe Kleider trugen, oder währeud des
Tauzes wenigstens ein Stück rothen Tuches zwischen den
Zähnen hielten. Andere hatten Vorliebe für Grün,
Schwarz oder Gelb. Es gab also sympathische und auti-
pathische Farben; während jene den Ergriffenen in frohe
Stimmung versetzten, brachten diese die heftigsten nervösen
Zuckungen hervor.
Ueber den Ramanindfchana köuuen wir uns hier
kurz fassen, weil wir schon früher den Gegenstand eingehend
besprochen haben. Dem eben erwähnten Missionär zufolge
kamen die ersteu Kranken vom Süden her, um dem Könige
Radama allerlei Botschaft von seiner verstorbenen Mutter
zu bringen. Die einzelnen Banden machten nur kurze
Tagereisen, überuachteteu in Dörfern und unterwegs er-
hielten sie großen Zulauf. Einige Tage vor Palmsonntag
1863 traten sie zuerst in der Hauptstadt Autauauarive auf;
es mochten ihrer etwa 2000 fein. Als einige Tage später
bei Sonnerana eine Heerschau abgehalten und die Trommel
gerührt wurde, verließen urplötzlich mehr als tausend
Soldaten das Glied und tanzten den Ramanindschana!
Die Offiziere waren machtlos und die Heerschau hatte ein
Ende. Die Kranken wurden wie durch Zauber von Kopf-
schmerz ergriffen, bald nachher that ihnen der Nacken weh,
alsdann der Magen und nach Verlauf einer kurzen Zeit
fingen die Zuckuugeu an. Während derselben „traten
die Lebendigen in Verbindung mit den Ab-
geschiedenen^; sie sahen die verstorbene KöniginRano-
valona, den König Radama I. und andere einst wichtige
Personen, von welchen sie dann Austräge für Lebende, zu-
meist an König Radama II. bekamen. Dieser wurde vor
Psychische Seuchen und Tanz
allen Neuerungen gewarnt; er solle nicht mehr beten lassen,
die Weißen von der Insel Madagaskar entfernen, keine
Schweine in der heiligen Stadt dulden u. dergl. mehr.
Wo nicht, solle großes Unheil über ihn kommen. Merk-
würdig ist auch, daß alle Ergriffenen in dem Wahne standen,
daß sie schwere Lasten auf dem Kopfe hätten uud diese hinter
den Todten hertrügen. Dabei gingen sie niemals im
Schritte, sondern nachdem sie einmal ihre Aufträge von
jenseit des Grabes erhalten hatten, fingen sie an zu trippeln,
zu schreien und um Gnade zu flehen; sie bewegten unter
Zuckungen Kopf und Arme und schüttelten das Ende des
Mantels (der landesüblichen Lamba), oder überhaupt des
Kleides, welches sie gerade trugen. Oftmals sprangen sie
in die Höhe, tanzten und schrieen Eh ata und Jsakai'
mikia, das heißt: Wir sind gedrückt!
Zumeist wurden Sklaven von der Krankheit gepackt,
aber die Heimsuchung erstreckte sich keineswegs auf diese
allein, sondern ergriff Leute aus alleu Stäudeu. Sie zogeu
dann aus der Stadt auf das Land hinaus, tanzten auf den
Gräbern und opferten ein Stück Geld. Nach Verlauf
einiger Tage kam eine neue Manie hinzu. Sie zogen in
den untern Theil der Stadt, schuitteu Zuckerrohr ab, trugen
dasselbe wie im Triumph auf den Schultern und legten
es dann auf deu geweihten Opferstein von Mahasie zu
Ehren der verstorbenen Königin Ranovalona. Dabei
tanzten, liefen und sprangen sie ohne Unterbrechung.
Manche trugen eine Flasche mit Wasser aus dem Hopfe,
um gelegentlich zu trinken oder sich zu benetzen. Es ist zu
bemerken, daß sie trotz aller Zuckungen uud allen Tanzens
die Flasche im Gleichgewicht zu halten wußten; es sah aus,
als ob dieselbe auf dem Kopfe gleichsam angenagelt gewesen
wäre.
Bald nachher wieder eine neue Form des Wahuwitzes!
Die Besessenen verspürten einen unwiderstehlichen Drang,
alle Vorübergehenden anzuhalten und von ihnen eine Ve-
grüßung zu verlangen. Wer eine solche verweigerte, wurde
mißhandelt. Einen katholischen Geistlichen wollten sie
zwingen, den schwarzen Rock abzulegen, weil die Farbe
desselben ihnen Anstoß gebe.
Die Zuckungen kamen ruck- und stoßweise. Mehre
tanzten eine Weile vor dem geheiligten Stein (aus welchen
der Thronerbe steigen muß, um vor allem Volke zu er-
scheinen), stürzten sich dann ins Wasser und waren nach
dem Bade eine Zeitlang ganz ruhig und ordentlich, bis
dann abermals eine Krisis eintrat. Andere sielen vor Er-
schöpsung auf den Straßen oder Plätzen nieder, schliefen
lange und wachten geheilt auf. Manche waren aber noch
ein paar Tage krank, ehe der normale Zustand wieder ein-
trat. Bei manchen hat die Krankheit ein paar Wochen ge-
dauert. Während der Zuckungen erkennt der Besessene
Niemand, antwortet auch auf keiue Frage und erinnert sich
hinterher kaum an Etwas, das mit ihm geschehen ist. So
lange die Anfälle dauern, sind Hände und Füße eiskalt,
während der übrige Körper von Schweiß bedeckt und der
Kopf heiß wie Feuer ist.
Vielfach wurden Leute von ihnen mit Füßen getreten
und mit Fäusten geschlagen; sie drangen in manche Häuser
und zertrümmerten Alles, was sie fanden. —
Wir lassen nun einige Bemerkungen über den Ta-
ranteltanz in Italien folgen. Am Rhein und in den
Niederlanden hatte 1374 der St. Veitstanz großes Un-
heil angerichtet. Er trat im 15. Jahrhundert auch in Jta-
lien auf, wo man wähnte, er werde durch die Stiche der
Tarantel hervorgerufen. Diese, so sagte man, sei früher
Globus X. Nr. 9.
uth bei verschiedenen Völkern. 265
in Italien nicht vorgekommen, nun aber in Apulien vor-
Händen. Das Volk war der Meinung, daß ein Gebissener
dem Tode verfallen sei, oder wenn er doch das Leben be-
halte, bis an sein Ende geistesschwach bleibe. Bei Manchen
litten Gehör und Gesicht, Andere verloren die Sprache, Alle
blieben gewöhnlichen Reizmitteln gegenüber unempfindlich.
Zuweilen fühlten sie Erleichterung, wenn sie Flöten- uud
Guitarrenspiel hörten; dann öffneten sie, gleichsam als ob
sie ans einem Zanberschlas erwachten, die Augen, be-
wegten sich anfangs nur laugsam uud im Takte, dreheteu
sich aber bald rascher uud tanzten leidenschaftlich. Es
war auffallend, daß Landleute ohne alle Erziehung und
ohne musikalische Keuntnisse bei diesen Tänzen eine außer-
ordentliche Gewandtheit zeigten uud sich fein oder anmuthig
bewegten. Matthioli, der als Augenzeuge redet, war
ganz erstaunt über die Wirkungen der Musik. Kranke,
welche von Schmerzen geplagt uud an ihrer Heilung der-
zweifelnd im Bette lagen, sprangen wie begeistert aus, so-
bald sie die ersten Töne vernahmen; sie tanzten stunden-
lang uach dem Takt, ohne sich ermüdet zu fühlen. Wenn sie
dann völlig in Schweiß gebadet waren, stellte sich Mattig-
keit ein, die ihnen auf einige Zeit, manchmal fast ein Jahr
lang, Erleichterung gewährte. Kein Musikant konnte es
mit den Tänzern aushalten; wenn er einmal eine Pause
machen mußte, hielten jene inne, fielen auf die Erde nieder
und erhoben sich erst wieder, wenn die Musik abermals auf-
gespielt wurde. Manche lachten, tanzten und sangen,
Andere verfielen in eine Art von Erstarrung, die Meisten
wurden von Anwandlungen des Ekels uud vou Erbrechen
heimgesucht und Andere zitterten unaufhörlich, Mauche be-
kamen Wuthanfälle, namentlich beim Anblicke von Farben,
die ihnen antipathifch waren. Im 15. Jahrhundert sahen
die St. Johannistänzer den ganzen Himmel offen und in
demselben die Prozessionen aller Heiligen; in ähnlicher
Weise waren die Taranteltänzer gleichsam auf das blaue
Meer versessen und starrten dasselbe stundenlaug sprachlos
an. Sie wurden schon aufgeregt, wenn sie vom Meere
nur sprechen hörten; Viele stürzten sich mit blinder Furie
in die Wogen, ähnlich wie es die St. Veitstänzer am Rhein
gemacht hatten, und Manche empfanden beim Anblick eines
mit Wasser gefüllten Glafes eine unaussprechliche Freude.
Während des Tauzes trugen sie mit Wasser
gefüllte Gläser in der Hand und zeigten allerlei
wunderliche Bewegungen; es machte ihnen Freude, wenn
auf dem Platze, wo sie tanzten, große Wassergefäße standen,
und wenn diese mit Gesträuch oder Wasserpflanzen um-
geben waren. Dann steckten sie Kopf und Arme in Wasser
und Pflanzen und hatten dabei wollüstige Empfindungen.
Andere wälzten sich auf der Erde und ließen sich bis an
den Hals eingraben; dadurch bekamen sie Erleichterung.
Der Taranteltanz hat im 17. Jahrhundert in Italien
seinen Höhepunkt erreicht. Die Kranken verspürten Eises-
kälte, und nur langanhaltendes Tanzen konnte ihnen Er-
leichterung gewähren. Manche verloren die Stimme,
Andere weinten unaufhörlich, noch Andere ließen sich die
Fußsohlen peitschen, weil sie sonst das fürchterliche Jucken
an denselben nicht hätten aushalten können.
Mit dem Taranteltanz hat der sogenannte Tigretier
in Abyssinien eine große Aehnlichkeit. Er ist zu verschie-
denen Zeiten in der Landschaft Tigre beobachtet worden, und
Hecker meint, er sei ein und dieselbe Krankheit mit der so-
genannten äthiopischen Astaragaza. Der Engländer
Pearce, welcher 9Jahre, von 1810 bis 1819, inHabesch
verweilte, erzählt, daß die Frauen öfter ergriffen würden
als die Männer. Zuerst zeigt sich eiu heftiges Fieber, das in
ein schleichendes Fieber übergeht; dabei magert der Körper
34
266 Psychische Seuchen und Tanz
ungemein ab, und der Kranke stirbt, wenn nicht rechtzeitig
Gegenmittel angewandt werden. Wer befallen ist, murmelt
unverständliche Worte, welche nur von Unglücksgenossen
gedeutet werden können. Der Dosier, eine Art Priester,
liest dem Kranken aus dem Evangelium Johannis vor und
besprengt ihn eine Woche lang mit kaltem Wasser. Das
hilft aber uichts, deuu insgemein erfolgt der Tod. Eine
wirksamere Behandlung erfordert größere Kosten. Die An-
gehörigen miethen eine Musikbande, und alle jungen Leute
des Dorfes finden sich vor dem Haufe des Krauken ein, um
ein Fest zu feiern. Ich wurde, sagtPearce, von einem Nach-
bar gerufen, dessen juuge Frau krank geworden war. Sie
nahm die Arzneien, welche ich ihr gab, doch besserte sich ihr
Zustand nicht. Von dem, was sie sprach, konnten wir nichts
verstehen; sobald ein Priester sich blicken ließ, zeigte sie vor
demselben einen großen Widerwillen und weinte Thränen
mit Blut untermischt. In diesem Zustande besaud sie sich
drei Monate lang, und während dieser ganzen Zeit hatte
sie so wenig Nahrung zu sich genommen, daß wir nicht be-
griffen, wie sie überhaupt das Leben hatte fristen können.
Jetzt endlich entschloß sich der Mann, ein landesübliches
Mittel anzuwenden; er borgte bei allen Nachbarn auf, was
dieselben an Silberschmuck besaßen und putzte damit die
Kranke heraus.
Am Abende des Festes stellte ich mich in die Nähe der
Kranken, um Alles, was vorging, genau zu beobachten. Die
Trompeten begannen zu schmettern und etwa zwei Minuten
darauf bemerkte ich, daß sie die Schulter bewegte, bald
nachher Kopf und Brust, und nach Verlaus einer Viertel-
stunde saß sie im Bett aufrecht. Dann und wann lächelte
sie; dazwischen warf sie aber auch wilde Blicke um sich;
deshalb trat ich einige Schritte zurück, war aber uicht wenig
erstaunt, daß eine bis auf die Knochen abgemagerte Kranke
sich mit so viel Kraft bewegen konnte. Kopf, Hals, Schul-
tern, Hände und Füße, kurzum der ganze Leib bewegte sich
in: Takte nach der Musik und endlich stand sie aufrecht
mitten unter uns da. Ein seltsamer Anblick fürwahr!
Sie sing an zu tanzen, machte in Zwischenräumen allerlei
Sprünge, hüpfte hin und her, und je lauter Musik und
Gesang der Anwesenden wurde, um so höher sprang sie,
manchmal bis über 3 Fnß empor. Sobald die Musik eine
Weile aufhörte, wurde sie von peinigender Angst ergriffen,
sobald jene wieder begann, fing sie an zu lächelu und schien
zufrieden. Während des Tanzens war an ihr auch uicht
eine Spur von Ermüdung zu bemerken, selbst dann nicht,
wenn die Musikanten erschöpft waren und sich ausruhen
mußten. Das Letztere war ihr allemal in hohem Grade
mißfällig.
Am andern Tage wurde sie, denl landesüblichen Brauche
gemäß, auf den Marktplatz geführt. Dort begann sofort
die Musik nnd dte Kranke tanzte; sie nahm dabei die
wunderlichsten Stellungen an. Dieser Tanz dauerte
den ganzen Tag über. Gegen Abend nahm sie nach
einander von Hals, Armen und Beinen alle silbernen
Schmnckstücke ab, und das geschah in einer Zeit von etwa
drei Stunden; ein Verwandter nahm dieselben aus und gab
sie den Eigenthümern zurück. Bei Sonnenuntergang
lies dann die Kranke mit einer so großen
Schnelligkeit, daß auch der beste Läufer sie
schwerlich eingeholt haben würde. Plötzlich stürzte
sie zu Boden. Ein junger Mann eilte hinzu, feuerte in
ihrer Nähe eine Luntenflinte ab, schlug ihr mit der flachen
Seite des Dolches auf den Rücken und fragte sie um ihren
Namen. Sie nannte unverzüglich denselben, und das gilt
für ein sichres Zeichen der Heilung, weil während der
ganzen Dauer der Krankheit ans die Frage nach dem Tauf-
uth bei verschiedenen Völkern.
nainen keine Antwort erfolgt. Jetzt wurde sie nach Hanse
gebracht, wo schon ein Priester bereit stand, um sie zu taufen;
denn sie ist gleichsam neugeboren und muß erst wieder in
die Kirche aufgenommen werden.
Bei manchen Kranken muß der Tanz auf dem Markte
mehre Tage lang wiederholt werden; bei anderen bleibt er
ohne alle Wirkung. Ich habe gesehen, daß sie die selt-
samsten Körperverrenkungen anstellten, namentlich daß sie
eine Flasche mit Wasser auf dem Kopfe trugen
und daß auch uicht ein Tropfen verschüttet wurde.
(Also wie auf Madagaskar und beim Taranteltanze!) Ich
würde von dieser Krankheit nicht geredet und auch an das
Vorhandensein derselben nicht geglaubt haben, wäre ich
nicht Augenzeuge und wäre meine eigene Frau nicht von
derselben ergriffen gewesen. Ich glaubte (so erzählt
Pearce weiter) daß die Karbatsche Wohl das beste Heil-
mittel sein werde, und ich versetzte ihr täglich einige leichte
Hiebe; meinte ich doch, daß das bekannte weibliche Naturell
hier eine Rolle spiele. Aber wie groß war mein Erstaunen,
als sie wie todt zu Boden stürzte! Alle Glieder, selbst die
Finger wurden steif und unbeweglich; ich meinte, ihre letzte
Stunde sei gekommen. Meinen Leuten sagte ich, sie habe
das Bewußtsein verloren, verhehlte ihnen aber, wie die
Sache eigentlich lag. Sie hatten jedoch das Richtige schon
geahnt und Musiker bestellt, von denen ich bis dahin nichts
hatte wissen wollen. Als diese zu spielen begannen, kam
meine Frau sogleich wieder zum Bewußtsein. Von da an
überließ ich ihren abyssinischen Verwandten das Weitere,
und sie verfuhren mit ihr in landesüblicher Weife. Die
Krankheit dauerte lange und verursachte viele Kosten.
Einst als sie tanzte, näherte ich mich und mischte mich so
unter die zuschauende Menge, daß sie mich nicht bemerken
konnte. Als ich sah, daß sie sich mehr wie eine wilde Bestie
benahm, denn als eine menschliche Creatnr, sagte ich er-
staunt zu meinem Begleiter: Das ist meine Frau nicht. Sie
aber fing darüber dermaßen zu lachen an, daß sie noch nicht
aufhören konnte, als man sie nach Hause gebracht hatte. —
Boudin giebt einen Bericht über die Tanzwuth
bei den Negern an der Westküste von Afrika.
Bekanntlich ist keine Menschengruppe so leidenschaftlich dem
Tanz ergeben, als jene der Neger. Durch den Tanz wollen
sie sich in innigere Verbindung mit den Naturgewalten
bringen; sie machen eine lärmende Trauermusik, und diese
religiösen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, Tänze spielen
eine große Nolle bei der Schlau gen Verehrung, na-
mentlich auch bei den westindischen Negern in dem Kultus
des Wodu.
Der Missionär Gaume hat 1864 seine Wahrnehmun-
gen veröffentlicht, welche er 1850 persönlich gemacht hat,
und zwar au der Westküste von Afrika: —
Das Zeichen wird gegeben mit Schlägen auf eine Art
von Tamtam. Sofort beginnt ein wahrhaft infernalisches
Geschrei; dieses ist die Einleitung zum Opfer. Es ist
herkömmlicher Gebrauch, daß das zum Opfer auserkorene
Geschöpf lebendig und gliedweis geschunden und
zerstückelt werden muß. Zuerst schneidet man dem
Menschen die einzelnen Glieder des Daumens und dann
so weiter die Finger der Hand ab. Dann geschieht das-
selbe mit dem linken, nachher mit dem rechten Fuße, mit
dem Ellbogen, den Knien, den Schultern, den Schenkeln,
hinüber und herüber, so daß am Ende nur der Rumpf mit
dein Kopse übrig bleibt. Die abgeschnittenen Glieder
werden einzeln in einen Kessel gethan, in welchem das
Wasser siedet. Zuletzt schneidet man den Kopf ab, der auf
den Platz hin geworfen wird.
Itud nun beginnt eine Seene, die sich gar nicht schildern
R. Drescher: Die Sagen vom Nachtjäger in Schlesien.
267
läßt. Die Anwesenden werden von einer wahrhaft dia-
bolischen Wuth gepackt. Bei den Tönen eines scheußlichen
Geschreis von Negerstimmen und einer gräßlichen Musik
fangen Weiber und Männer zu tanzen an, d. h. sie winden
sich in erschrecklichen Zuckungen. Jeder in der höllischen
Runde versetzt dem Kopfe des Geopferten einen Fußtritt
und schleudert ihn weit weg. Dann rennt er zum Kessel,
fischt ein Stück Menschenfleisch heraus und frißt das Fleisch
mit der Wuth eines Tigers. Damit, so wähnt der Schwarze,
wird der Zorn der bösen Naturgewalten begütigt!
Die Sagen vom Nachtjäger in Schlesien.
Von Dr. Rudolf Drescher.
II.
Auch in der Grafschaft Glaz weiß man von einem
gespenstischen Schimmelreiter, der aber gleich dem
Nachtjäger auch ausdrücklich kopflos geschildert wird. Auch
er hat in stürmischen Nächten schon manchen einsamen
Wanderer durch sein Erscheinen erschreckt. Der Sage nach
ist es ein ehemaliger Priester, der zur Zeit „d er Schweden-
kriege" sich eines Abends betrunken hatte, bevor er zu
einem Sterbenden gerufen ward, und auf dem Wege zu
diesem den heiligen Leib verlor, so daß der Kranke ohne
geistliche Tröstung sterben mußte. „Dafür wurde der
Priester verwünscht, in Ewigkeit als ruheloses Gespenst zu
reiten und umherzujagen, bis seine Schuld gebüßt sein
wird."*)
Auch zu Eckersdorf bei Glaz erzählt man von einem
gespenstischen Reiter ohne Kops, der zur Nachtzeit oftmals
die Leute erschreckt hat.
Diese gespenstischen kopflosen Reiter, wie auch der
Schimmelreiter der Festeszeiten und endlich der Nachtjäger
sind, wie längst erwiesen ist, nur verschiedene Formen, in
denen sich die Erinnerung an Wnotan, den göttlichen
Schimmelreiter des Heidenthums, noch bis zum heutigen
Tage im Gedächtniß des schlesischen Landvolkes erhalten
hat. Den mitgetheilten Mythen liegt bald die eine Eigen-
schaft des Gottes als von Hans zu Haus ziehenden und
Segen spendenden Wohlthäters des Menschengeschlechts,
bald die andere als Beherrschers der Stürme und als An-
führer der Schaaren von gefallenen Helden zu täglichen
Jagd - und Kampfspielfreuden zu Grunde.
„Der Engel Urhel büß in fey Hnrn,
Ha pfiff, ha stürmte mit grußem Zurn,
Do zanten de Tannen, do zanten de Echen,
Swasser hette rate rnügen de Knie machen."**)
Diesen schlesischen Zauberspruch, der offenbar gegen
das Tobeu des im nächtlichen Sturmesbrausen einher-
fahrenden göttlichen Nachtjägers gerichtet ist und wider ihn
Schutz gewähren soll, hat uns Andreas Gryphins anfbe-
wahrt. Er bringt ihn zweimal, nämlich in seiner „Geliebten
Dornrose" und in dem „Horribili scribrifax" zur Anwen-
dung und legt ihn beide Male einer alten abergläubischen
Frau in den Mund. Für Wuotan ist, wie in fast allen
erhalten gebliebenen Zaubersprüchen, ein ch r i st l i ch e r
Name gesetzt. Alles Uebrige ist der Hauptsache nach
geblieben, was es ursprünglich war. Nur die für die Alli-
teration eingeführten Endreime liesern den Beweis, daß
*) Glazifche Sagen. Kypselos, Breslau. 1838.
**) A. Gryphins. Geliebte Dornrose. Bresl. 1855. 591.
wir nicht mehr die anfängliche, sondern eine spätere Fassung
des Spruches vor uns haben. Er harmonirt völlig mit den
sonst bekannten und veröffentlichten Zaubersprüchen,*) und
ich bin der Ansicht, daß Gryphius seinen Wortlaut wohl
unverändert aus dem Volksmuude aufgenommen hat. Es
werden auch aus anderen deutschen Ländern Beschwörungs-
formeln gegen das wüthende Heer erwähnt.
Die Vorstellung von den armen Seelen, welche
eben sowohl in den schlesischen, wie in den verwandten
Sagen dcr übrigen deutschen Länder als das Gefolge des
Nachtjägers augegebeu werden, entstand nachweislich aus
der heidttischen, daß die Seelen der im Kampf gefallenen
Helden unter Anführung Wnotans täglich zu Jagd - und
Kampfspiel auszögen. Der Glaube an diesen Vorgang
konnte auch nach der Bekehrung zum Christenthum nicht
ausgerottet werden; doch hatte diese wenigstens zur Folge,
daß man die alte Vorstellung aus die nach des Volkes An-
ficht zur Uuseligkeit Verdammten anwandte. So wurden
die Seelen der vermeintlichen Unseligen nach dein schlesischen
Volksglauben, in welchen:, wie wir oben sahen, selbst diese
christlich umgestaltete Vorstellung theilweise wieder abge-
schwächt ward, schließlich in die Hnnde des Nacht-
jägers uud in die Pferde des Teufels hinein versetzt.
Zu diesen Unseligen gehörten aber auch uach einem
alten und allgemeinen Volksglauben die Seelen der un-
getauften Kinder, welche zufolge einer mildern eben-
falls neuern Anschauung in manchen außerschlesischen Sagen
nicht hinter dem höllischen Jäger, sondern hinter einer
holderen Persönlichkeit, nämlich der Göttin Holda (auch
Berchta genannt) herziehend geschildert werden. Diese
mildere Wendung findet sich auch bei uns in Schlesien.
Folgendes Märchen hat sich in einem Volkslieds zu Grabig
bei Glogau erhalten.**)
Es kam von einer Neustadt her
Ein Wittsrau schwer betrübet
Ihr war gestorben ihr liebes Kind
Das sie von Herzen geliebet.
Sie ging einmal ins Feld hinaus
Ihr Traurigkeit zu lindern,
Da kam das liebe Jesulein
Mit so viel weißen Kindern.
Mit Himmelskleidern angethan
Mit Himmelsglanz verehret
Mit einer schönen Ehrenkron
Warn diese Kinder gezieret.
*) Vergl. Grimm. Myth. 1173 bis 1197. Desgl. 871
**) Hoffmann und Richter. Schlef. Volkslieder. Nr "
34*
268 N. Drescher: Die Sachen
Ach Mutter, liebste Mutter mein,
Vergesset euer Sehnen,
Hier Hab ich einen sehr großen Krug
Muß sammeln eure Thränen,
Habt ihr zu weinen aufgehört,
Gemildert eure Schmerzen,
So fand ich Ruhe iu der Erd,
Und freute mich von Herzen.*)
Die Mischung Heidnischerund christlicher Anschauungen
hat in dieser Fassung den seltsamen Widerspruch zu Wege
gebracht, daß der Heiland selbst zum gespenstischen Anführer
einer offenbar als unselig gedachten, weil nach dem Tode
ruhelosen, Seelenschaar geworden und durch die Nacht ein-
herziehend geschildert wird, daß man den Christengott eine
heidnische Gottheit direkt ersetzen ließ. Die Vorstellung,
daß diese unseligen Kinder ungetanste waren, ist hier zwar
nicht erwähnt, aber unzweifelhaft vorausgesetzt.
In Süddeutschlaud will man in der Advents zeit
hoch in den Lüften eine wunderbare tausendstimmige Musik
vernehmen. Tausende von Geistern ziehen einher und
lassen einen wunderbar schönen Gesang hören. Das ist
vom Wuotesheere — so nennen sie es. Zu Otto-
beuren vernahm man diese geheimnißvollen Töne aus einer
Stube heraus in einem Hause aus der Frohugasse. Damit
stimmt iu der Hauptsache überein, was in Breslau von
dem soeben abgebrochenen uralten Hause „zum grünen
Rautenkranz"**) auf der Nicolaigasse bis jetzt erzählt
wurde. Jedes Jahr um die Adventszeit vernahmen
die Bewohner dieses Hauses einen wunderbaren tau-
sendstimmigen Gesang, der aus der Tiefe her-
auftönte. Alsdann wagte sich Niemand in die Keller-
räume hinab, die sich unter dem Hause in hohen Wölbungen
hinzogen; denn es ging die Rede, das Haus sei vor vielen
hundert Jahren einmal ein Kloster gewesen und „das waren
die Stimmen von allen den längst gestorbenen Nonnen, die
einst in dem Kloster gelebt hatten, welche jetzt aus dem
Keller herausdrangen; die Nonnen hielten dann ihren all-
jährlichen Umzug und sangen dazu die alten Lieder, die sie
bei Lebzeiten zu solchen Veranlassungen gesungen hatten".
Ein anderes uraltes Haus hinter der St. Maria Magdalenen-
Kirche aus der Altbüßergasse zu Breslau hat von einer
ähnlichen Sage seinen noch heutigen Namen: „Zur stilleu
Musik" empfangen. Auch hier vernahmen — aber nur
in früheren Zeiten — die Bewohner alljährlich zu
gewisser Zeit eine eigentümliche geisterhafte Musik, die
aus den Kellern zu kommen schien. Man forschte nach,
indem man hinabstieg. Aber die Musik verstummte nicht,
nur klang sie zum Keller aus noch größerer unergründ-
Itcher Tiefe herauf, bis sie später von selbst aufhörte. Ich
zweifle nicht im Geringsten an der ursprünglichen Ueber-
eiustimmung dieser beiden breslauer Sagen. Beide bilden
*) Vergl, Grimm. Hausmärchen, 109.
**) Diese meine Aufzeichnung geschah getreulichst nach der
Aussage einer noch lebenden Frau, die mit den bisherigen
Clgenthümeru des „Rautenkranzes" nahe verwandt von Jugend
aus in diesem Hause aus - und eingegangen.
mx Nachtjäger in Schlesien.
nur ein Glied in der großen Kette von Sagen, welche
sämmtlich ihren Ursprung haben in dem von unseren Heid-
nischeu Vorfahren gehegten Glauben an feierliche
Umzüge der Götter während der finstersten
Jahreszeit.
In all den mitgeteilten schleichen Sagen zeigt sich
die offenbarste Verwandtschaft mit solchen aus anderen
deutschen Gegenden, nicht nur in den Hauptzügen, nein
auch in nebensächlichen: „Wer des Nachtjägers spottet, den
bestraft er durch einen zum Schornstein ins Haus hinein-
geworfenen Thier- oder Menschenschenkel; der von ihm
zurückgelassene Hund wird erst gefährlich, wenn man seine
Ruhe stört; Stahl und Eisen schützen vor seinem Hunde,
wie sie in anderen deutschen Sagen vor ihm selbst schützen;
ein freuudliches graues Mäunlein endlich warnt und
schützt vor ihm, wie das der getreue Eckhardt in anderen
Sagen thnt. Es begegnen dabei aber auch freundlichere,
noch ans dem Heidenthum vererbte Züge: „Geringe Dienste
werden vom Nachtjäger reichlich belohnt; wer sich ihm
freundlich zeigte, dem schenkt er scheinbar geringe Sachen,
die sich nachher in Gold verwandeln; wer seinen Hunden
forthilft, erhält ein reichliches Geldgeschenk; Hufeisen wiegt
er mit Gold auf u. s. w."
Auch von der Verwandlung des Nachtjägers in
eine Schlange und in einen Kuknk erzählen Sagen
des Enlengebirges, gleichwie dies nordische Sagen vom
großen Wnotan berichtend)
Noch bis zum heutigen Tage hat sich auch eine von
Menschen veranstaltete Nachbildung der wilden Jagd des
Nachtjägers bei uns erhalten gleich der von Jakob Grimm
dafür ausgelegten sogenannten Posterlijagd im schwei-
zerischen Eitflibuch.**) Fast genau ebenso wie dort pflegen
nämlich bei uns in deutschen Gegenden Oberschlesiens
(z. B. Piltsch bei Troppau) die Hirten einen lärmenden
Umzug folgender Art abzuhalten, nur nicht schon am
Donnerstage vor Weihnachten, fondern erst amWeihnachts-
abend selbst. Sie nehmen den Rindern und Schafen die
Schellen ab und hängen sie sich selbst um. Wer feine Schelle
hat, nimmt eine Kette, oder sonst einen klirrenden Gegen-
stand. Manche haben alte Trompeten, Kuhhörner oder
Hirtenflöten. Alle erregen mit diesen originellen Jnstru-
menten durch das ganze Dorf einen betäubenden Lärm,
ähnlich dem einer modernen Katzenmusik. Sie geheu in
jeden Hos, erhalten von der Bäuerin Kuchen und Bier,
uud erst mit dem Glockenschlage 10 hört das tolle Treiben
auf.***) Dieser echt heidnische Lärm verdankt seine
Erhaltung bis zur Gegeuwart nur dem glücklichen Um-
stände, daß man ihn, wie zahlreiche andere heidnische
Bräuche, christlich ausgelegt hat als eine Erinnerung an
die laute Freude der Hirten, da ihnen auf dem Felde die
Geburt des Heilandes verkündet wurde.
*) Weinhold. Schles. Prov.-Bl. 1862, 191. S im rock.
Myth. 485.
**) Grimm. Myth. 886. S im rock. Myth. 558.
***) Rößler in Schles. Prov.-Bl. 1864, 9.
R. 91 oft: Die indochinesischen oder hinterindischen Sprachen.
269
Die indochinesischen oder hintenndischcn Sprachen.*)
Von Rudolf Rost.
Die hier zu behandelnden Sprachen sind, nach Stein-
thal, die unentwickeltsten, formlosesten von allen. Sie
bilden gleichsam die Grenzen der menschlichen Rede und
nähern sich der Stummheit der Geberdeusprache. Sie be-
stehen aus lauter einsilbigen Wurzeln, ihr Satzband ist ein
Abbild des niedrigsten mechanischen Vorganges, des Falles,
denn ein Wort fällt auf das andere.
Bei dem Namen indochinesisch darf man nicht
denken, daß sie etwa als ein verbindendes Mittelglied
zwischen Chinesisch und Indisch zu betrachten seien, sondern
nur daran, daß sie seit undenklicher Zeit in einem Lande
geredet werden, das gewissermaßen zwischen Vorderindien
und Südchina sich ausdehnt. Wie groß die Zahl dieser
Sprachen sei, kann noch nicht genau bestimmt werden, ja
es ist bis jetzt sogar noch ungewiß, wie viele unter sich ver-
schiedene Familien sie bilden mögen, da wir vou deu meisten
nur sehr dürftige, von mehren fast gar keine Kunde haben.
Die bis jetzt bekannter gewordenen kommen allerdings
ihrem Charakter nach dem Chinesischen nahe, viel näher,
als irgend eine bekannte Sprache außerhalb Hinter-
indiens; daneben zeigen sie fast alle starke Beimischung
sanskritischer Wörter, ohne daß jedoch dadurch der Selbst-
ständigkeit ihres Wesens irgend Eintrag gethan würde.
Sprache, Schrift und Literatur der Chinesen haben
namentlich auf drei Nachbarvölker einen starken und
bleibenden Einfluß ausgeübt. Japanesen, Koreaner
und Annamiten verdanken China ihre geistige Bildung,
die jedoch nur den beiden ersten ein Antrieb zu eigenen
literarischen Leistungen wurde, während dieAnnamiten jeder
eigenen Literatur verlustig gehen solleu; die Schöpfungen
der chinesischen Denker sind in Annam nur Gegenstände
des ehrerbietigen Erlernens, nicht Muster zur Belebung
eigener Thätigkeit. — Die Gelehrten in Japan und Korea
schreiben manches umfangreiche Werk iit rein chinesischer
Sprache und Schrift; aber für ihre Landessprachen besitzen
sie daneben eigene Schriftarten, die denselben viel an-
gemessener siud. Japan gebraucht eine gewisse Anzahl
von Zeichen der chinesischen Wort- oder BegriKfchrift als
Silbenzeichen, Korea aber bedient sich mehrer Buch-
staben, die keineswegs den Charakter chinesischer Abkunft
tragen.
Denken wir also bei dem Namen indochinesisch an die
geographische Lage und vom sprachwissenschaftlichen Stand-
punkte einerseits an geistige Verwandtschaft mit dem
Chinesischen, andererseits an jene starke Versetzung mit
sanskritischen Wörtern, so verbinden wir mit diesem Aus-
drucke den allein richtigen Begriff und brauchen ihn für
jetzt noch nicht abzuschaffen.
Von lexikalischem Einflüsse aus Vorderindien frei ge-
blieben ist vielleicht nur die Sprache der Annamiten, zu
denen alle Gesittung aus China gekommen ist. Dagegen
verkündet der Wörterschatz der annamitischen Sprache über-
all starke Einwirkung des Chinesischen. Die Annamiten
*) Die Anmerkungen zu diesen: Aufsatze sind von Herrn
Georg von derGabelentz, einem ausgezeichneten Linguisten
und würdigen Nachefferer seines b-rühmtenBaters HansConon
von der Gabelentz. A.
unterscheiden sich außerdem von allen Völkern Hinterindiens
noch darin, daß sie ihre Sprache mit einer Wortschrift
schreiben, die der chinesischen im Wesentlichen gleich ist,
während die übrigen Hinterindier, so weit sie überhaupt
von der Schrift Kunde haben, wahre Alphabete von
vorderindischer Abkunft besitzen.
Bei der nähern Betrachtung der indochinesischen Sprachen
folgen wir dem auf diesem Gebiete berühmten Gelehrten
Wilhelm Schott.
Unter allen Sprachen Hinterindiens sind mts bis jetzt
nur drei näher bekannt: die barmanische (die Sprache
der Birmanen oder richtiger nach W. v. Humboldt, Bar-
meinen, die sich selbst „Mranma" oder „Mramma"
nennen, was „ Bya m m a " ausgesprochen wird), die be-
reits erwähnte annamitische und die siamische. Die
beiden letzteren stehen ihrem Charakter nach sehr nahe;
in etymologischer Hinsicht aber scheinen alle drei so weit
auseinander zu gehen, daß sie bis jetzt drei verschiedene
Familien darstellen.
Das Annamitische und Siamische können mit ganz
gleichem Rechte wie das Chinesische einsilbige Sprachen
heißen; nicht so das Barmanische. Bei den einsilbigen
Sprachen gilt das Prineip, daß durch deu Laut blos die
Bedeutung und zwar einheitlich ausgedrückt wird, die Be-
ziehnng aber der Stellung jener Laute, vorzüglich dem
Accent überlassen bleibt. Dabei ist es durchaus nicht als
eine Abweichung vom Prineip anzusehen, daß sich Spuren
von Zusammensetzung zweier solcher Laute finden, von
denen dann einer die Beziehung ausdrückt. Demi bei
einer solchen Verknüpfung zweier Worte ist der die Be-
Zeichnung ausdrückende Laut als eiu ursprünglicher Be-
deutungslaut aufzufasseu. Da uuu die Bedeutungslaute
wohl aller Sprachen einsilbig sind, so müssen deshalb auch
Sprachen, welche nur die Bedeutung lautlich ausdrücken,
einsilbig sein. Was die einsilbigen Sprachen vorzugsweise
noch kennzeichnet, ist der Umstand, daß die angedeutete
Zusammenstellung zweier Laute niemals, oder doch nur sehr
ausnahmsweise grammatische Bedeutung hat, d. h. zu
einer Art vou Wortbildung sich erhebt. Bestimmte
Wörterklassen entbehren jeder Bezeichnung; höchstens
bemerkt man nur zerstreute Versuche zur Erreichung dieses
Zweckes. Ganz anders ist es schon im Barmanischen,
wenn man auch im Uebrigen gestehen muß, daß keine
Sprache dem einsilbigen Charakter näher kommt, aber es
unterscheidet gewisse Wörterklassen mittelst oft wieder-
kehrender, an sich bedeutungslos gewordener Zusätze.^)
Das Siamische wird im Reiche Siam gesprochen.
Man kennt jetzt wenigstens vier in schwesterlichem Ver-
hältniß zu einander stehende Siam-Sprachen: T'ai,
Ahom (S'jan), Lao und K'am-ti, die auf einer sehr
ansehnlichen Landstrecke, nordwärts bis zum Quellengebiete
des Jravaddi, leben. Das T' a i wird im eigentlichen Siam
gesprochen; gewöhnlich nennt man es p'äsä t'ai, Sprache
*) Lexikalisch dürfte nach meinen Untersuchungen das Bar-
manische dem Tibetischen am nächsten stehen. Hnckhana die
Sprache von Arracan oder Aakiain, ist ein scheinbar etwas
älterer Dialekt des Barmanischen. ®
270
R> Rost: Die indochinesischen ober hinterindischen Sprachen.
der Freien, oder Sajama p'asZ, Siam-Sprache. T'ai ist
ein heimisches Wort für „frei"; p'äfä ist ein Pali-Wort
für „Sprache", aus der Sanskritwurzel b'as (sprechen)
stammend. Sajama (woher Siam) soll s'jama, uiger, fein;
ältere Namen kennt Niemand, und doch kann selbst dieser
erst aus der Periode uach Einführung des Buddhismus
(um die Mitte des 6. Jahrhunderts) stammen.
Ein kurzes Lehrbuch diefes Idioms (in der Reihe das
zweite) erschien 1850 zuBangkok, versaßt von dem hochwür-
digsten Bischof und apostolischen Vicare I. B. Pallegoir.
Seine „Grammatica linguae T'ai" ist einigermaßen ency-
klopädisch, denn in ihr befindet sich nicht blos eine An?
Weisung zur Verskunst und eine Art Chrestomathie in Prosa
und Versen, sondern auch ein Kapitel über Maße und Ge-
Wichte, eines über Geldsorten, eine chronologische Ueber-
ficht der Schicksale des Volkes und feiner Fürsten, ein
Verzeichniß der vornehmsten Städte, eines dergleichen der
heiligen buddhistischen Bücher und endlich eine ausführliche
Darstellung des Buddhismus. Ein Wörterbuch dieser
Sprache von demselben Verfasser hat Napoleon III. im
Jahre 1854 drucken lassen. ^)
Das T'ai zerfällt in eine gemeine und eine höhere
oder Hofsprache, besser, in einen Niedern und höhern
Styl. Gleiche Erscheinungen bieten namentlich die ma-
layischen Sprachen; fo zerfällt z. B. die javanische
Sprache in drei Mundarten, die Volkssprache oder
niedere Sprache (Nyoko), die höfliche cere-
mouielle Mundart, das Hochjavanische (Kromo)
und endlich die alte mystische Sprache, (das Kawi).
Der höhere Styl des T'ai hat viele besondere Redens-
arten, auch stärkere Beimischung von Wörtern ans der
Camboja-Sprache und dem Malayischen, wie es auf Ma-
lakka gesprochen wird. Auch in der Volkssprache gibt es
bis in die Partikeln hinein eine bedeutende Anzahl sans-
kritischer Wörter. Manches mehrsilbige Fremdwort erhält
schon in der Schrift einsilbige Form und wird beim
mündlichen Gebrauche am Ausgang so abgeschliffen, daß
nicht blos mehre verschiedene Wörter gleichlauten, sondern
obendrein mit irgend einem Stammworte der Landessprache
zusammenklingen.
Viele von den Grundwörtern haben, wie bei den Anna-
miten, einen derbern, grobkörnigem Charakter als im
Chinesischen. Sie können mit zwei Consonanten anlauten,
doch muß alsdann der zweite, wie im Annamitischen, l oder
r sein. (Im Chinesischen kann bekanntlich nur ein Kon-
sonant ein Wort beginnen). Hinsichtlich der Grammatik
ist zuvörderst zu bemerken, daß im Siannschen und auch im
Annamitischen abweichend vom Chinesischen das Substantiv
seinem Adjektive und im Genitivverhältnisse das regierende
Wort dem regierten vorhergeht. Partikeln, welche zum
Ausdruck grammatischer Verhältnisse dienen, gibt es im
Siannschen, wie auch im Annamitischen weniger als im
Chinesischen, auch zeugt der Satzbau von größerer Unfrei-
heit und der Kreis der Begriffe ist viel enger begrenzt.
Diese drei letztgenannten Erscheinungen erklären sich wohl
aus der unleugbar tiefern geistigen Stellung bei den
Völkern, wenn man sie mit den Chinesen zusammenhält
und aus deni Umstand, daß sie, wie die Hinterindier über-
haupt, bis jetzt noch keine wahrhaft selbständige Literatur
besitzen. —
Eine nähere Verwandtschaft hinterindischer Sprachen
unter einander und mit der chinesischen nachzuweisen, wird,
wenn überhaupt, so doch dann erst möglich sein, wenn
*) Eine andere kurze Grammatik dieser Sprache ist von
Low verfaßt. G.
wir sie alle zu beherrschen vermögen. Höchst sonderbar
ist dabei die Erscheinung, daß gerade die Sprache von
A n n a m , welche doch so starke und anhaltende Ein-
Wirkung des Chinesischen erfahren, einer Vergleichung
ihres eigenen Wörtervorrathes mit dem der Chinesen vor-
zugsweise hartnäckig widerstrebt. Dieser Umstand läßt
sich wohl daraus erklären, daß es den eingewanderten
Fremdwörtern aus China nirgends gelang, einheimische
Ausdrücke zu verdrängen; es behauptet das nichtverwandte
annamitische Wort immer seinen Platz neben dem gleich-
bedeutenden chinesischen, und wo es ja vermischt werden
sollte, da darf man mit Sicherheit annehmen, daß die
geistesarme Sprache niemals in feinem Befitze war.
Da für Begleichungen die Zahlwörter die größte
Bedeutung haben, so betrachten wir die Kardinalzahlwörter
von 3 bis 10 im Siamischen und die entsprechenden
chinesischen, und zwar die südchinesischen Formen und
die aus dein Kuan-hoa, dem sogenannten Mandarinen-
dialekt oder der gewöhnlichen Umgangssprache.
Siam Südchina Kuan-hoa
3 säm sam san
4 Sl shy, shi, su shy, sh'
5 ha ngii, ngou ngü, ii, wü
6 hok - lok In
7 set cit, gät
8 pet pat, bat pä
9 käo ldu, gäu kieu
10 sip sip, sap Sl
So unverkennbare Verwandtschaft diese Zahlen zeigen,
so unvergleichbar sind die Wörter für 1, 2, 100 und 1000.
Siam China
1 Imüng yat, äk, it, i
2 song yi, ni; si, örl
100 rai bäk, pek, pe
1000 pan £in, cien, gian
Zur Vergleichung in größerem Maßstabe sind sehr
brauchbar die reichhaltigen Zusammenstellungen von Zahl-
Wörtern und Fürwörtern aus vielen, großentheils sehr
wenig erforschten Sprachen des Himalaya nnd Indiens,
welche Mar Müller seinem Werke „on turanian lan-
guages" beigegeben hat. Obgleich nun das Zahlwort
der Annamiten nicht mit aufgenommen worden, fo läßt
sich aus jenen Tabellen doch der Schluß ziehen, daß die
Sprache Annams im Fürworte wie im Zahlworte nicht
blos von der chinesischen abweicht, sondern auch unter den
Idiomen Hinterindiens fast einzig dasteht. Dagegen zeigt
merkwürdiger Weise eine gute Hälfte ihrer Zahlwörter
eine auffallende Übereinstimmung mit entsprechenden des
Volkes Muuda in Vorderindien.
Munda
miad, mid
nai
pia
ponia
aja
Auch die Sprachen der Kiranti's (am Fuße des
Himalaya) und des Gebietes Arracan liefern Beiträge,
jede aber nur einen. Sieben heißt in erstem Sprache
Annam
1 mot
2 hai
3 ba
4 bon
7 bai
R. Rost: Die indochinesischen
b'ägja, wozu sich das dal der Annamer und aja der Munda-
sprache als starke Erweichungen verhalten. Sechs heißt in
Arracan sauk, welche Form fast identisch ist mit dem s^u
der Annamer.
Vergleichen wir noch das Fürwort von Annam mit dem
der siamischen, der chinesischen und der Mundasprache.
Annam Munda Siam China
ich toi
du mäi umma, um, am
er nö uni, ini nan; non (jener) na, jener
dieser näi ni; ini ni
ke k'ao (jener) k'i, jener
jener äi ai, aja (er)
DasAnnamitische wird mit Charakteren geschrieben,
die theils ohne Veränderung den Chinesen abgeborgt, theils
selbst gemacht worden sind; in letzteren ist aber nur die
eigentümliche Verbindung das Werk der Aunamiten;
kein einfaches Bild oder symbolisches Zeichen hat in Annam
Dasein erhalten, ihrer Bestimmung nach ist die Schrift hier
wie bei den Chinesen immer eine Wortschrift, welche
ganze Grundwörter, keine Lautelemente darstellt.
Die Sprache der Aunamiten bedurfte aber auch einer
Wortschrift, da sie ganz in demselben Grade wie die
der Chinesen das Gepräge der Erstarrung und Unbildsam-
keit trägt.
Das Lautsystem des Annamitischen ist sogar namentlich
im Vokalismns reicher entwickelt, als das des Chinesischen,
auch finden sich mehr Aeeente vor. Die Grundwörter eut-
halten zum großen Theil mehr Konsonanten, als die des
Chinesischen im Norden, während die Häufigkeit der kon-
semantischen Anstaute das Annamitische den Mundarten
des südlichen China's am ähnlichsten macht. Obgleich mm
Annam das nächste Nachbarland im Südwesten China's
ist, so findet dennoch dnrchans keine Verwandtschaft zwischen
beiden Sprachen statt. Denn bietet anch das Wörterbuch
der Annamiten ans jeder Seite echt chinesische Wörter dar,
deren oft sehr bedeutende Lautveränderung sie als anna-
mitifche könnte erscheinen lassen, so gibt es doch immer noch
ganz verschiedene Wörter der Landessprache, mit denen jene
oft nm den Vorrang zu kämpfen scheinen. Vor allen aber
sind die Grundzahlen, die Fürwörter, sowie die meisten
Partikeln und Ausdrücke für die Bedürfnisse des gewöhn-
lichen Lebens echt annamitisch nnd haben mit den ent-
sprechenden der chinesischen Sprache nichts gemein, als die
Einsilbigkeit.
Nach den dürftigen Hilfsmitteln, ans die wir beim
Stndinm der annamitifchen Sprache angewiesen sind, zu
urtheileu, muß dieselbe an Zeichen zum Ausdrucke gram-
matischer Verhältnisse noch ärmer sein als die chinesische.
Wenn wir Ostasien ans rein sprachlichem Gesichtspunkte
betrachten, so offenbart sich nns vom Annamitifchen und
Chinesischen ab eine stnsenweise Entwicklung des gramma-
tischen Bewußtseins über Siam, das Reich der Barmanen
und Tibet bis zum großen tatarischen Sprachstamm. —
Wie im Chinesischen, so kann auch im Annamitischen
durch Vereinigung zweier Grundwörter eiu neuer Begriff
gebildet oder ein schon vorhandener verdeutlicht werden.
Die verdeutlichenden Ausdrücke werden vorangestellt, was
im Chinesischen umgekehrt ist. — Wir führen jetzt einige
christliche Verse jedoch nur in alphabetischer Umschreibung
der Wörter an, um einen ungefähren Begriff vom Anna-
mitischen zn geben.
oder hinlenndischeu Sprachen. 271
Doi-ön c nä-ca ba-ngöi,
gratias-ago domino supremo trino,
dyng nen muon vät co toi liyöng düng.
creavit omnes res ad nostros usus,
C uä lä vö t'i vö c ung,
dominus est sine principio, sine fine,
t'yöng sin t'yöng vyong k'ong cüng k'ong sai.
Semper vivus Semper rex omnipotens.
Noch etwas über den Namen Annam. Der chinesische
Name An-nam oder Nyan-nan (ruhiger Süden),
welcher in Canton On-nam, im Lande selbst An-nam
ausgesprochen wird, umfaßt alle drei Provinzen eines
fchmalen aber sehr in die Länge sich ziehenden Staates,
der ursprünglich drei besondere Staaten bildete. Das
herrschende Volk, welches die annamitische Sprache redet,
wohnt in der nördlichen und Mittlern dieser Provinzen,
von denen die erstere Tnng-king (anch Tong-king),
die andere aber C'en-v ing (Tschen-tsching) heißt.
Diese beiden Namen sind ebenfalls chinesisch, und zwar
bedeutetTung-king „östliche Residenz" und im zweiten
Worte ist c ing so viel als „feste Stadt", während die
Silbe e en der Name eines Ortes war. Dem sinnlosen,
von Enropäern erfundenen Namen Cochinchina liegt
jenes c en-mng nach nordchinesischer Aussprache zum
Gruude. Die vorangestellte Silbe, welche aber im Chine-
fischen stets hinter dem Worte steht, bedeutet: Reich.
Eine noch hierhergehörige Sprache ist die des kleinen
Bergvolkes der Kassia, welches ein auf 3500 englische
Quadratmeilen abgeschätztes Gebiet bewohnt, das imNorden
von Assam, im Westen von den Garrowbergen, im Osten
von Cachar und im Süden von dem bengalischen Distrikte
Silhet begrenzt wird. Von den früheren Schicksalen dieses
Volkes ist wohl nichts bekannt, anch scheint es niemals
eine Schrift besessen zn haben.
Die Kassia-Sprache bezeichnet Hans Conon von der
Gabelentz, welcher eine sehr sorgfältige und vortreffliche
grammatische Bearbeitung dieses Idioms geliefert hat, zwar
als einsilbig und unveränderlich; doch ist sie beides nicht
etwa in dem Sinne wie das Siamische, Annamitische oder
Chinesische. Denn diese drei wissen nichts von lautlicher
Anähnlichung, nichts von Verdrängung gewisser Laute durch
einen oder den andern Nachbarn, auch haben sie, abgesehen
von den sogenannten Aceenten, keine Spur bedeutsamer
Lautveränderung aufzuweifeu. Die sogenannten zusammen-
gesetzten Wörter sind es in jenen drei Sprachen nur schein-
bar, da ja jeder Bestandteil seinen Accent bewahrt. Zwar
widersetzt sich anch das Kassia einer Veränderung der Grund-
Wörter, mögen sie nun ihre selbstständige Bedeutung be-
haupten oder als bloße Zeichen grammatischer Beziehung
Dienste thnn, doch gibt es in diesem Idiom auch sehr be-
merkenswerthe Ausnahmen.
Ohne aus die Eigentümlichkeiten in der Lautlehre des
Kassia näher einzugehen, wollen wir nur das Fürwort
als den merkwürdigsten Redetheil dieser Sprache etwas
näher betrachten. Das persönliche Fürwort ist beinahe
alleiniges Merkzeichen des Geschlechts der Hauptwörter,
da man in dieser Sprache die Geschlechtsbezeichnung dnrch-
aus uicht durch Endnngen oder überhaupt durch Zusätze
ausdrücken kann und nur ausnahmsweise ganz verschiedene
Wörter zur Unterscheidung des Geschlechts hat, als PK,
Vater; mi, Mutter; tei, Weib; s'in-rang, Mann. Für die
Einheit des persönlichen Fürwortes zweiter und dritter
Person jedoch gibt es für beide Geschlechter zwei besondere
Wörter, die zu Hauptwörtern jeder Art passen. Daher ist
dieses Fürwort in der zweiten und dritten Person das
272 E, Kattner: Das Pos«
wahre Geschlechtswort des Kassia, wozu noch kommt,
daß die Formen der dritten Person als Artikel und zwar
im weitesten Sinne dienen, z. B. kün, Kind; ukün, er
Kind, d. h. der Sohn; ka kün, sie Kind, d. h. die Tochter.
Wie anderwärts wird aber auch im Kassia ein Unterschied
der Geschlechter da angenommen, wo Geschlechtsorgane
ganz undenkbar sind. Daraus sieht man also, daß selbst
vergleichsweise formlosen Sprachen dieNeigung innewohnt,
ihre getrennten Geschlechtswörter in demselben Umfange zu
verwenden, wie formreiche Sprachen thnn, sofern sie über-
Haupt durch Endungen oder am Artikel ein Geschlecht unter-
scheiden. In dieser einen Beziehung nur kommt das Kassia,
freilich auf seiner eigenen Bahn, dem semitischen und dein
indoeuropäischen Sprachstamme geistig näher als manche
weit vollkommnere Sprache und würde sich demnach ein
mit diesem Idiome Ausgewachsener in unserm grammati-
schen Geschlechte schneller znrecht finden, als ein unvor-
bereiteter Türke, Finne oder Ungar.
Eine andere Sprache des innern Asiens, welche jedem
Ding sein Geschlecht anweist und die sonst nicht eben viel
weiter als das Kassia über Formlosigkeit sich erhoben hat,
ist die tibetanische. Hier werden die Geschlechter aller-
dings nicht durch das Fürwort unterschieden, sondern es
werden zu diesem Zwecke zwei einfache Wörtchen für Vater
und Mutter verwendet. Da sie dem betreffenden Snb-
stantiv gewöhnlich nachgeschickt werden, so konnten sie mit
der Zeit Geschlechtsendungen werden. Diese Wörtchen
sind im Tibetanischen po oder vo, zuweilen pa für das
männliche und mo oder ma für das weibliche Geschlecht.
Wenn daher rta Pferd bedeutet, so ist rta-po oder po-rta
Hengst und rta-mo oder mo -rta Stute.
Diese tibetanischen Geschlechtswörter übernehmen nun
ebenfalls das Amt von Artikeln, wie die persönlichen Für-
Wörter in der Kassia-Sprache. Dieselben finden im Kassia
'X Land jetzt und früher.
schon wegen der Verschiedenheit ihrer Aemter viel häufigere
Anwendung als irgend sonst wo; dazu kommt aber noch,
daß sie einmal alle übrigen Fürwörter begleiten und daß
sie auf jedem Schritte daran erinnern müssen, welches Wort
Subjekt oder Objekt dieses oder jenes Verbums ist, z. B.
uga ruh ngan kylli ja pi ka wei ka ktin (ich auch ich werde
fragen euch das eine das Wort).
Zu deu heutigen Völkern Hinterindiens gehören endlich
auch die im Barmanenreiche und in Siam zerstreut leben-
den Karenen, die man als eingewandertes Volk zn be-
trachten hat. Sie haben ihre eigenthümlichen Sitten, ihren
Glauben und ihre Sprache bewahrt. Ihre Sprache ist ein-
silbig und wird nicht geschrieben (?). Sie besitzt Accente
wie das Chinesische, Annamitische und Siamische. Viele
ihrer Wörter sollen mit barmanischen und siamischen über-
einkommen. Ob aber Verwandtschaft mit irgend einer indo-
chinesischen Sprache besteht, ist dadurch noch nicht aus-
gemacht, da ja die Verwandtschaft aller dieser Sprachen
unter sich noch zu beweisen ist.*)
*) Das Karen ist in zweien seiner Dialekte Sgau und
Pgo, welche unter sich verschiedene, aber der barmanischen und
der Laoschrist verwandte Alphabete haben, neuerdings vielfach
und wie es scheint, sehr gründlich bearbeitet worden, wahr-
scheinlich, weil das Voll, das sie redet, dem Christenthum zu-
gänglicher ist, als seiue Nachbarn.
' Zu den indochinesischen Sprachen darf man nach der geogra-
phischen Lage und uach dem, freilich dürftigen Material, das
uns vorliegt, uoch rechnen: das Pegnanische (Mön, Ta-
leinig), die Noga - (Flnki -) Dialekte, ferner Leptscha,
Garro, Abor, Ahom, Mi du, Mischmi, Dophla it. A. m.
Hält man die geringe Zahl der grammatisch und lexikalisch
bearbeiteten monosyllabischen Idiome mit den 40 bis 50 dort-
hin gehörigen Sprachen und Dialekten zusammen, die uns theil-
weise nur dem Namen nach und höchstens in mageren Wörter-
sammlnngen bekannt sind, so mag man ahnen, welch weites
Feld sich'hier der linguistischen Forschung bietet. G.
D « s p o f t n 7 an
Von Edwa
7. Barbarei und Kultur.
Herrn Jakob Venedey ist es unbekannt, daß Posen
durch das deutsche Volk ,,der Barbarei entrissen", daß
schon durch „unsere Vorfahren" im Mittelalter nicht nur
das Christenthum, die Quelle jeder höhern Geistesentwick-
luug, sondern auch jeder andere Kulturzweig, welcher da-
mals in Blüthe stand, dahin gebracht worden ist, daß ganz
Polen nahe daran war, germanisirt zu werden, daß dort
das Slaventhnm am Anfang des 14. Jahrhunderts nur
durch die widerstrebende Priesterschaft gerettet, mit ihm
aber die Barbarei wiederhergestellt worden ist und da, wo
nicht Deutsche Herren des Landes geworden sind, noch bis
zum heutigen Tage herrscht. Wenn das ein Geschichts-
schreiber des deutschen Volkes nicht weiß,*) so wird es dem
Herrn Jakob Venedey kann seine Unkunde nicht hoch
angerechnet werden, er ist Dilettant und ein idealistischer. A.
jetzt und früher.
Kattner.
großen Publikum noch sicher unbekannt sein. Es wird
daher wohl von Interesse sein, wenn ich hier mit Ueber-
gehung des Mittelalters zunächst zeitgenössische Zeugen
über die gesellschaftlichen Zustände in Polen aus der Zeit
der Theilungen vorführe und als Gegenbild zu den vor-
angehenden Darstellungen der Gegenwart in Posen noch
einige andere hinzufüge. In einem amtlichen Berichte
vom Jahre 1773, welcher sich in den Akten der Regie-
rung zu Bromberg befindet, heißt es:
„Das von Preußen in Besitz genommene Land war
wüst und leer. Die alten Schlösser lagen in Schutt und
Trümmern, so nicht minder die meisten Städte und Dörfer;
was an Wohnungen vorhanden war, schien kaum geeignet,
menschlichen Weseu zum Aufenthalt zu dienen. Die roheste
Kunst, der ungebildetste Geschmack, die ärmlichsten Mittel
hatten aus Lehm und Stroh elende Hütten zusammengestellt.
Durch unaufhörliche Kriege und Fehden der vergangenen
Jahrhunderte, durch Feuersbrünste und Seuchen, durch die
E. Kattner: Das Pose
mangelhafteste Verwaltung war das Land entvölkert und
entsittlicht. Wald und Sumpf nahmen die Stätten ein,
wo vordem, nach den noch jetzt vorhandenen umfangreichen
altgermanischen Begräbuißstätteu zu urtheilen, eine zahl-
reiche Bevölkerung Platz gefunden hatte. Jeder Verkehr
fehlte."
Eine lebhafte Schilderung des damaligen
Knlturzustaudes von Polen gibt uns unser
Georg Forster in einem Briefe an Lichtenberg vom
18. Juni 1786. Er sagt:
„Oft habe ich mir schon in vollem Ernste Ihren Blick
und die vortreffliche Art die Sitten zu malen gewünscht.
Sie würden an diesem Mischmasch von sarmatischer oder
fast neuseeländischer Rohheit und französischer Superfein-
heit, an diesem ganz geschmacklosen, unwissenden und den-
noch in Luxus, Spielsucht, Moden und äußeres Clinqnant
so versunkenen Volke reichlichen Stoff zum Lachen finden,
— oder vielmehr auch nicht: denn man lacht nur über
Menschen, deren Schuld es ist, daß sie lächerlich sind, nicht
über solche, die durch Regierungsform, Auffütterung (so
sollte hier die Erziehung heißen), Beispiel, Pfaffen, Despo-
tismus der mächtigen Nachbarn und ein Heer französischer
Vagabonden und italienischer Taugenichtse schou vou Jugeud
auf verhunzt worden sind und keine Aussicht zur künftigen
Besserung vor sich haben. Das eigentliche Volk, ich meine
jene Millionen Lastvieh in Menschengestalt, die hier schlechter-
dings von allen Vorrechten der Menschheit ausgeschlossen
sind und nicht zur Nation gerechnet werden, ohnerachtet sie
den größten Haufen ausmachen, — das Volk ist nunmehr
wirklich durch die langgewohnte Sklaverei zu einem Grad
der Thierheit und Fühllosigkeit, der unbeschreiblichsten
Faulheit und stockdummen Unwissenheit herabgesunken,
von welchem es vielleicht in einem Jahrhundert nicht wie-
der zur gleichen Stufe mit anderem europäischen Pöbel
hinaufsteigen würde, wenn man auch desfalls die weisesten
Maßregeln ergriffe, wozu bis jetzt auch nicht der mindeste
Anschein ist. Die niedrige Klasse des Adels, dessen äußerste
Armuth ihn abhängig macht und zu den verächtlichsten
Handarbeiten verdammt, ist fast in der nämlichen Lage,
was Dummheit und Faulheit betrifft, und in Ansehung
der kriechenden Niederträchtigkeit und des zertretenden Miß-
branchs seiner etwa bei Gelegenheit ihm zufallenden Macht
ist er noch viel verworfener. Der reichere und höhere Adel
bis hinauf zum Throne ist, im Ganzen genommen, nur
eine Schattirung der vorhergehenden Klassen mit mehr
Gewalt. Jeder Magnat ist ein Despot und läßt Alles
um sich her fühlen, daß er es sei; denn nichts ist über ihm,
und selbst die größten Verbrechen büßt er höchstens mit
einer Geldstrafe oder einem VerHaft von etlichen Wochen,
wobei er ein Palais zum Gefängniß hat und die ganze
Zeit mit seinen Freunden in Schmausen und Lustbarkeiten
aller Art zubringt."
„Eiue tüchtige Magd in Deutschland arbeitet mehr,
als drei polnische Kerle zu gleicher Zeit, sie trägt dreimal
größere Last, sie geht dreimal geschwinder, uud ich glaube
gar, sie schlüge auch drei solche elende Wichte, die wie matte
Fliegen herumkriechen, zu Boden. Zwischen den hiesigen
Weibern der Volksklasse und deu deutschen findet durchaus
kein Vergleich statt; ich kenne nichts Elenderes und Häß-
licheres in allen den Kupfern zu Cooks Reise, — daher
hat hier auch fast jedes Geschäft seinen eigenen Bedienten,
und wenn ich, wie meine Kollegen alle, Pferde hielte, so
müßte ich, wie sie, fünf Dienstleute halten. Mein Ofen-
Heizer und Holzhacker ist ein Adliger, der des Jahrs hin-
dnrch seine Ko,t und acht Thaler Lohn nebst einem Schaf-
pelz und ein Paar Stiefeln bekommt und dem man bei
Globus X. Nr. 9.
v Land jetzt und früher. 273
jedem dritten Wort mit Prügeln droht oder Branntwein
zum Lohue verspricht."
Zerboui, damals südpreußischer Beamter,
gibt im Jahre 1890 in feinem Buche: „Einige Gedanken
über das Bildungsgeschäft in Südpreußen", ebenfalls
manchen Beitrag zur Beurtheiluug der damali-
gen Polen. Er sagt von den Bauern, sie seien „zum
Thiere herabgewürdigt", nennt die Edellente ihre „Treiber
und Peiniger", behauptet, daß die Geistlichkeit „an der
Verewigung der Unmündigkeit beider arbeite". Bezeich-
nend ist folgendes Stückchen, das er, selbst Katholik, von
dieser mittheilt: „An verschiedenen Orten gehört die
Schankgerechtigkeit zu den Parochial - Einkünften, und
Völlerei wird ein Glaubensartikel oder eine Bedingung
der Absolution n. f. w."
Mit diesen zeitgenössischen Zeugnissen, welche noch
beliebig vermehrt werden können, will ich mich begnügen;
ich halte sie für hinreichend, um meine Behauptung zu
begründen, daß in dem selbstständigen Polen Barbarei
geherrscht habe. Sie zu heben, gingen unsere Vorfahren
feit den Besitznahmen von 17-72, 1793 und 1795 mit
Eifer uud Kraft an das Werk. Das Hauptverdienst für
die von ihm besetzten Provinzen fällt natürlich auf Friedrich
den Großen; er konnte schon 1773 an Voltaire schreiben:
„In Westprenßeu habe ich die Sklaverei abgeschafft,
barbarische Gesetze reformirt, vernünftigere in Gang ge-
bracht, einen Kanal eröffnet, welcher die Weichsel und
Oder verbindet, Städte wieder aufgebaut, welche seit der
Pest von 1709 zerstört waren, 20 Meilen Morast trocken
gelegt und eine Polizei eingeführt, welche diesem Lande,
selbst dem Namen nach, unbekannt war."
Diese Angaben treffen eben so gut Posen, als West-
Preußen; denn bekanntlich gehört der Netzedistrikt, welcher
von Friedrich erworben wurde, jetzt zu der erstern Provinz.
Aber auch andere Mitglieder des deutschen Volks haben
sich um das „Bildungsgeschäft" in den polnischen Pro-
vinzen Verdienste erworben. Bis auf die letzten Jahrzehnte
müssen vorzugsweise die Beamten aus Friedrichs
Schule genannt werden, welche jetzt freilich ausgestorben
sind. Da wurde anßer einer geordneten Verwaltung ein
Rechtsbnch eingeführt, der früher ganz zersplitterte
Rechtsweg vereinfacht, Jedermann Rechtsschutz gewährt.
Mit Stauuen und Schrecken vernahmen die polnischen
Junker, daß einer von ihnen hingerichtet worden sei, blos
weil er einen Bauern todt geschlagen hatte. Da hörte die
alleinige Anwartschaft von katholischen Adligen auf Richter-
stellen auf; da verschwanden die „Geistlichen Gerichte";
da durfte kein Ketzer mehr gehetzt werden; sondern „Jeder
konnte nach seiner Fa?on selig werden". Da wurden
Schulen eingerichtet; da wurde die Gewerbthätigkeit, das
Fabrikwesen, der Handel durch ausgesetzte Preise auf-
gemuntert. Auch der Angelpunkt aller Kultur der Neu-
zeit, Mannigfaltigkeit der Steuern, blieb nicht aus.
Es darf natürlich nicht mit Stillschweigen übergangen
werden, was seit 1815 für das Land, nämlich
Posen, geschehen ist.
Die Thätigkeit der Regierung war im Ganzen im
Vergleich zu derjenigen während des frühern Besitzes merk-
lich geringer, doch war sie keineswegs unerheblich. Die
beiden ersten Könige ließen sich persönlich besonders die
Gründung neuer protestantischer Kirchenge-
meinden und die Erbauung protestantischer Kirchen an-
gelegen sein, wodurch sie zur Förderung des Deutschthums
allerdings nicht unwesentlich beitrugen. Weniger von ihnen
persönlich ging die Errichtung von Schulen aus.
Darin wurde Bedeutendes geleistet. Im Jahre 1815
35
274
E. Kattner: Das posener Land jetzt und früher.
fanden sich in der ganzen Provinz im Ganzen 543 Ele-
mentarschulen vor, darunter 273 evangelische, 157 katho-
lische. Die Zahl solcher Schulen ist gegenwärtig auf 2996
gestiegen, darunter 877 evangelische, 1207 katholische und
12 gemischte. Während die Provinz 1815 von höheren
Schulen nur 2 Gymnasien besaß, sind gegenwärtig 17
höhere Schulen vorhanden, nämlich 6 vollständige, 5 nn-
vollständige Gymnasien, 1 höhere Erziehungs- und Unter-
richtsanstalt in Ostrau und 5 Realschulen. Von Schul-
lehrer-Pflanzschulen hatte die Provinz 1815 nur 1, gegen-
wärtig 5, nämlich 3 katholische und 2 evangelische.
Es ist hauptsächlich das Verdienst der Regierung, daß
die Provinz jetzt von vier Eisenbahnen durchschnitten
wird, und daß sie an Kuuststraßen einigen benachbarten
kaum nachsteht, Preußen sogar übertrifft. Im Jahre
1862 hatte
Fläche Chaussee
Posen . . 279 M., ergibt bei 536 Q.-M, auf 1Q.-M. 0,52 M.
Preußen . 452 „ „ „ 1178 „ „ 1 „ 0,38 „
Brandend. 407 „ „ „ 738 „ „ 1 „ 0,55 „
Pommern. 310 „ „ „ 5763/4 „ „ 1 „ 0,54 „
Dagegen
Schlesien . 524 „ „ „ 741% „ „ l „ 0,70 „
und gar
Rheinland 789 „ „ „ 487 „ „ 1 „ 1,62 „
der ganze
Staat. . 3791 „ „ „ 5104 „ „ 1 „ 0,75 „
Jni Jahre 1815 gab es in Posen nicht eine Meile
Chaussee! Die Post, das Telegrapheuweseu ist hier
dasselbe, wie im gauzeu Staate. Was von der erstem in
der freien Republik vorhanden gewesen, kann man sich
vorstellen. Die Telegraphie ist bekanntlich erst eine neue
Erfindung und zwar durchaus keine polnische.
Für den Handel hat die preußische Regierung schlecht
gesorgt, indem sie für alles herzliche Einvernehmen mit
Rußland für das Land nicht einmal Aufhebung der Grenz-
sperre auswirkte. Nur die Gründung des Zollvereins kam
auch Posen zu gut.
Neue Ausiedlungen hat sie wenige angelegt und
bei denselben auf das Volksthum der Ansiedler keine Rück-
ficht genommen. Dagegen sind die sehr umfangreichen
Meliorations an lagen hauptsächlich ihr zum Verdienst
anzurechnen. Sie gründete gewöhnlich Genossenschaften
der betheiligten Grundbesitzer, welche nach Verhältniß die
Kosten ausbrachten, während sie meistens ein mehr oder
weniger bedeutendes, unverzinsliches Darlehn aus Staats-
mittelu dazu gab; die Ausführung übernahm sie, die
weitere Unterhaltung der Anlagen dagegen legte sie der
Genossenschaft auf. Im Bezirk Bromberg wurden solche
Arbeiten besonders an der obern Netze und deren Gebiete,
ini Regierungsbezirk Poseu an der Obra, Warthe, Prosna
und Bartsch vorgenommen. Im letztern Bezirk wnrden
dadurch allein gegen 250,000 magdeb. Morgen, d. i. bei-
nahe 4 vom 100 der gauzeu pflanzentragenden Fläche der
Landwirtschaft gewonnen, wobei ungefähr eben so viel
Thaler Staatsgelder verwendet wurden. Auch imUebrigen
wurde die Landschaft von der Regierung, wie int ganzen
Staate, so auch hier vielfältig gefördert.
In immer steigendem Verhältniß ist jedoch die freie
Betriebsamkeit, der Unternehmungsgeist und die
Intelligenz der deutschen Bevölkerung selbst-
ständig schaffend eingetreten. Allerdings steht die Pro-
vinz in der Großindustrie gegen die anderen z. Th. noch
bedeutend zurück. Es fehlen zu größerm Umfang derselben
auch noch zu viel Vorbedingungen, namentlich Uebersüllc
an Kapitalien, welche einträgliche Anlage suchen, Reich-
thum an Rohstoffen, welche die Erdrinde liefert, nament-
lich aber fehlen Steinkohlen, ferner geübte Hände und
Ueberflnß an Arbeitskräften. Immerhin jedoch ist der
Fortschritt aus dem beinahe vollständigen Nichts ein sehr
erheblicher. Im Jahre 1815 wurde zwar eine umfang-
reiche Tuchfabrikation in der Provinz vorgefunden, welche
hauptsächlich durch die russische Grenzsperre zu Grunde
ging; sie hatte aber auch erst seit den: ersten preußischen
Besitz des Landes ihren Aufschwung genommen. Große
Fabriken, welche über 50 Arbeiter beschäftigen, waren
jedoch noch gar nicht vorhanden. Im Jahre 1858 gab es
von ihnen doch schon 10, während Pommern 27, Preußen
31, Rheinland dagegen 635 besaß. Im Jahre 1861 hatte
sich diese Zahl bereits ans 17 mit 1852 Arbeitern erhoben,
während Preußen 38 mit 3679 Arbeitern nnd der ganze
Staat 2069 mit 330,057 Arbeitern besaß.
Größere und kleinere Fabriken mit Einschluß
der Mühlen und dergleichen besaß Posen 1861 5773 An-
stalten mit 1962 Personen an Direktions- und Aufsichts-
Perfoual, 4064 Meistern (Weber uud Müller), 9738
männlichen und weiblichen Arbeitern, dazu 3217 Gehülfeu
und Lehrlingen (Weber und Müller), zusammen 18,981
Personen. Ich erwähne von Fabriken: 3 Wollspinnereien
mit 593 Arbeitern, 2 Fabriken von Baumwolleuzeugeu
mit 286, 10 Maschinenfabriken mit 391, 6Eiseugießereieu
mit 165, 12 Glashütten mit 514, 1 Steingutfabrik mit
86, 3 Möbelfabriken mit 99 Arbeitern. Der ganze Staat
besaß in demselben Jahre 82,290 Fabrikanstalten mit zu-
stimmen 766,180 dabei beschäftigten Personen. Von letzte-
rett treffen auf
Preußen . 29,256 Personen bei 2,866,866 Einwohnern
Posen . . 18,981 „ „ 1,485,550
Brandenb. . 117,015 „ „ 2,467,759
Pommern . 23,267 „ „ 1,389,739
Schlesien . 152,216 „ „ 3,390,605
Sachsen . 99,814 „ „ 1,976,417
Westphal. . 94,801 „ „ 1,619,015
Rheinland. 227,889)
Hohenzell. . 2,941 J "
3,280,459
Zusammen 766,180 „ „ 18,476,410 „
Ans diesen Zahlen ist am besten der Rang zu bestim-
meu, deu Posen in der Industrie unter den Provinzen
Preußens einnimmt; es ist im Verhältniß zur Einwohner-
zahl nicht der letzte.
Unter den 17 Großfabrikanten befindet sich ein Pole.
Dasselbe Verhältniß des Volksthums der Eigenthümer
dürfte auch ungefähr bei deu 5756 kleineren Fabriken
und gewerblichen Anlagen stattfinden. Polnische Hand-
werker gibt es zwar im Innern und im Osten der Provinz
noch eine ziemlich bedeutende Anzahl; zu größerm Umfange
des Geschäfts, zum Fabrikbetriebe erheben sie sich aber
höchst selten. Jedenfalls sind alle die Gewerbszweige von
Deutscheu früher oder später eiugesührt wordeu.
Wenn das Feuerversicherungs kapital als ein
Maßstab der Wohlhabenheit nnd der Intelligenz eines
Landes betrachtet werden kann, so nimmt Posen unter den
Nachbarprovinzen, wenigstens was unbewegliche Güter
betrifft, den letzten Rang ein. Es betrug uämlich 1862:
in Posen .
„ Preußen
„ Pommern
„ Schlesien
75,244,000 Rthlr.
118,384,000 „
98,591,000 „
128,690,000 „
An Anstalten für den literarischen Verkehr
steht die Provinz kaum einer andern nach mit Ausschluß
vou Brandenburg mit der Hauptstadt Berliu. Sie besaß
1858: 36 Buchdruckereieu, 19 lithographische Anstalten,
42 Buch-, Kunst- und Musikalienhandlungen, 4 Anti-
qnare, 49 Leihbibliotheken; es erscheinen jetzt in ihr 5 poli-
tische Tageblätter, darunter 1 polnisches, 2 landwirthschaft-
Aus der Serrania de
liche Zeitschriften und eiue bedeutende Anzahl anderer
kleiner Blätter, darunter auch nur eiu Bruchtheil polnische.
ZurZeit des Poleureiches wird hier wohl kaum eine einzige
polnische Druckerei, vielleicht 1 oder 2 deutsche in Lissa
oder anderen alten deutschen Städten im Südwesten vor-
Händen gewesen sein; ähnlich verhielt es sich wahrscheinlich
mit den Buchhandlungen, Leihbibliotheken und Wochen-
blättern, von Zeitungen zu geschweigen. Erwähnt mag
hier noch werden, daß die Schaubühne, hauptsächlich durch
zwei Schauspielergesellschaften vertreten, ausschließlich
deutsch ist. Ebenso steht es mit den Personen, welche die
Musik und andere Künste ausüben.
Wer verlangt noch mehr Beweise, daß Posen in die
Reihe der Kulturländer eingetreten, daß dieses das Ver-
dienst der deutschen Regierung, wie des deutschen Volkes,
und daß das letztere im Bunde mit deu Judeu, welche mit
Verstand zuerst und vorzugsweise davon denVortheil zogen,
noch immer der Träger der fortschreitenden Kultur ist?
Wenn ich noch mit wenig Worten meinen Ausspruch
rechtfertigen soll, daß in denjenigen Theilen des alten
Polenreiches, welche nicht in deutschen Besitz gekommen
Rouda iu Andalusien. 275
sind, noch heutzutage die Barbarei herrsche, so erin-
nere ich nur an das Jahr 1863, an die Schreckensherr-
schaft der unterirdischen Nationalregierung, an die von ihr
ohne Zweifel genehmigten Mordanfälle nicht nur auf au-
dere russische Gewalthaber, sondern auch auf den wohl-
wollenden und nachsichtigen Großfürsten Konstantin, an
die Scheußlichkeiten der Hängegensdarmen, an die Plün-
derung , Mißhandlung und Ermordung vieler friedlichen
Deutschen, blos weil sie Deutsche waren; dann andrer-
seits an die Schreckensherrschaft Mnrawieffs, an die von
russischen Soldaten an Polen begangenen Grausamkeiten,
au den Mord, den Brand, die Plünderung, welche Bauern
ungestraft, ja sogar aufgemuntert und belohnt, an polni-
schen Edellenten nach ihrem stierköpfigen Gutdünken voll-
ziehen konnten, an das Fortschleppen von Tausenden, alt
und jung, vornehm und gering, schuldig und unschuldig,
nach Sibirien oder anderen angenehmen Landschaften des
Czaren, an die gewaltsame Austreibung von polnischen Fa-
mitten aus ihren angestammten Besitzungen jetzt noch, nach-
dem die Ruhe längst hergestellt ist, u. dgl. m. Das ist doch
wohl die blanke ungeschminkte Barbarei auf beiden Seiten.
Aus der Serrania de Ronda in Andalusien.
Die alte Stadt Nonda und ihre Toreros. — Der Capitan der Bandoleros und seine Thaten. — Spanische Romanzen und
Volksbücher. — Räubergeschichten.
Die unseren Lesern wohlbekannten Reisenden Dors
und Davillier verweilten auf ihren Streifzügen durch Auda-
lusien eiuige Zeit iu Rouda, dem Arunda der Römer.
Diese Stadt gilt für das rechte und echte Hauptquartier
der Toreros, der Majos und der Contrabandistas. Seenen
aus dem Leben und Treiben der letzteren haben wir fchon
früher geschildert.
Ronda liegt wie eiu Ablernest auf den: Gipfel ciues
hohen Felsens. Altstadt und Neustadt siud durch eine tiefe
Schlucht, el Tajo genannt, von einander getrennt. Unten
fließt der Gnadalvin, über welchen eine Brücke führt, die
von den Römern gebaut worden ist. Die Stadt selbst
aber trägt einen durchaus maurischen Charakter, und uoch
zeigt man das Haus des Kölligs AI Motahed, welcher die
Schädel der von ihm Enthaupteten iu Silber fassen ließ
und als Trinkbecher benützte.
Der Platz für die Stiergefechte ist in ganz Andalusien
berühmt nnd in der That einer Stadt würdig, welche stets
für den klassischen Boden der Tauromachie gegolten hat.
Die jungen Rondenos spielen Stier, wie bei uns die Kinder
Soldaten spielen. Als die beiden Reisenden die Mi na
de Ronda, eine steile Felsentreppe, welche zu den ara-
bischen Mühlen führt, hinabgestiegen waren, sahen sie eine
Familienseene, über welche Doro entzückt war. Der Vater
lag auf den Knien, mit gebücktem Kopfe, in der Stellung
eines Stiers, der gegeu seinen Feind einrennen will. Vor
ihm stand ein achtjähriger Knabe in der Haltung eines
Matador, genau so, wie unser Bild zeigt; ein anderer
Junge saß auf dem Nacken eines altern Bruders rittliugs
und war stolz darauf, einen Picador zu fpieleu. Die Nach-
baru sahen wohlgefällig und mit Kennerblick diesem Schan-
spiel zu, das als sehr charakteristisch für Land nnd Leute
auch den beiden Fremden großes Vergnügen verursachte.
Die Unterhaltung der Leute in Ronda dreht sich ent-
weder um Stiergefechte oder um Räubergeschichten. Ist
doch die Serrania de Ronda ganz in der Nähe und
gerade sie spielt eine große Rolle in der Historie der Ban-
diten ! In dein wilden Gebirge haben viele Bauden Schlupf-
Winkel gefunden und allen Verfolgungen Trotz geboten, irnd
erst in unseren Tagen ist das Räuberwesen mehr und mehr
in Abgang gekommen.
Als Hauptmann einer Bande (einer Partida), sign-
rirte nicht selten ein junger Mann, welcher etwa aus
Eifersucht einen Mord begangen hatte und ins Gebirge
geflüchtet war. Manchmal war er weiter nichts als ein
Ratero, ein vereinzelt sich umhertreibender Räuber, der
unbewaffnete Reifende überfiel und sich Wohl hütete, mit
Alguaciles, Miqneletes und anderen Dienern der
Gerechtigkeit in nahe Berührung zu kommen. Ans die
Dauer wird das Alleinsein langweilig; der Ratero fand
einige Genossen unter anderen Leuten äs vida airada, d. h.
solchen, welche sich gleichfalls mit der Gesellschaft über-
worfen hatten. Daun ward er Capitan und sie wurden
seine Bandoleros, seine Vasallen gleichsam, und nun
konnte er sein Handwerk in größerem Maßstabe treiben.
Unter einem Capitan de Bandoleros hat man
sich durchschnittlich einen von der Sonne gebräunten, flinken
und rüstigen Mann vorzustellen. Er ist allemal dien em-
patillado, nämlich mit einem starken Backenbarte versehen;
das sehr kilrz geschorene Kopfhaar bedeckt er mit einem
grellfarbigen bunten Seidentuche, von dem zwei Zipfel auf
den Nacken hmabfallen; darüber stülpt er den andalusischen
Hut, den Sombrero calaues. Die Jacke war von
gelbbraunem Leder (Marsille remendado), mit allerlei
Stickereien geziert uud mit Knöpfen von Silberfiligran
(dotanadura de plata) dicht besetzt; diese rasselten oder
276 Aus der Serrania d"
klapperten bei jeder Bewegung. Ein eng anliegendes
Beinkleid siel bis über die Wade hinab; bis zu dieser
reichten schwarze Lederstiefeln; um deu Gürtel trug der
Capitau eine seidene Schärpe und in dieser nicht nur ge-
ladeue Pistolen, sondern auch ein Pnnal und etliche Dolche,
— das ganze eine Theaterfigur, die nichts zu wünschen
übrig läßt.
Ronda in Andalusien.
Der berühmte Jose Maria pflegte auf seinen Stutzen zu
klopfen uud seinen Kameraden zn sagen: „Wer würde
es wohl wagen, mir einen Paß abzufordern?"
Das Kraft- und Kernstück des Capitans bestand im
Ueberfallen des Postwagens. Die Partida versperrte den
Weg und spannte die Pferde aus; die Reisenden mußten
aussteigen und sich mit dem Bauche platt auf die Erde
Römische Brücke zu Ronda in Andalusien
Ein Bandolero von echtem Schrot und Korn war
beritten. Sein Gaul war eiu starkknochiger Potro von
andalnsischem Schlage, dessen lange Mähne mit seidenen
Bändern durchflochten wurde; eiu Gleiches geschah mit
dem Schweif, und die Satteldecke mußte so buntfarbig fein,
wie der Regenbogen. Es versteht sich von selbst, daß der
unvermeidliche Trabuco Malagueno, jener Stutzen
mit trompetensörmiger Mündung, am Sattelknopfe hing.
. (Nach einer Zeichnung von G. Dor6.)
legen, boca abajo, dann wurden ihnen die Arme auf dem
Rücken zusammengebunden. Man plünderte sie aus, durch-
suchte das Gepäck, nahm mit, was brauchbar erschien, und
die geknebelten Passagiere durften eine halbe Stunde nach
dem Abzüge der Partida weiter ziehen, aber keine Minute
früher.
Die Beute wurde den Gewohnheitsrechten zufolge in
drei Theile getheilt. Das erste Drittel gehörte dem Ca-
Aus der S»rrania de Renda in Andalusien.
Die Kinder eines Torero zu Ronda in Andalusien. (Nach einer Zeichnung von G. Dorö.)
278 Aus der Serrania de
pitan, das zweite gehörte den Bandoleros, deren gewöhnlich
acht, höchstens zehn waren, das dritte wurde dem Reserve-
fond zugewiesen. Aus dem letztern wurden gefangene
Kameraden unterstützt; man verwandte gern viel Geld dazu,
sie aus dem Kerker zu befreien. Für solche, welche „ohne
Castagnetten am Galgen tanzen" mußten, wurde aus dem
Reservefonds das Geld für die Seelenmessen bestritten.
Zu den berühmtesten Banden gehört jene der Sieben
Kleinen von Eeija (sprich Essicha). Die Großthaten
dieser verwegenen Burschen leben noch jetzt ganz allgemein
im Munde des Volkes. Es waren ihrer stets nur sieben;
nie mehr oder weniger. Sobald einer fehlte, wurde die
Zahl sofort ergänzt; es mangelte auch uie au Leuten, welche
sich im Voraus zum Eintreten gemeldet hatten. Die S i e t e
Ninos wurden sehr reich; sie unterhielten einen ganzen
Stab wohlbesoldeter Späher und waren von Allem, was
weit und breit vorging, wohl unterrichtet. Auch standen
sie mit den Landleuten auf gutem Fuße und unterhielten
Einverständnisse selbst in den Städten. Wer zum Verräther
an ihnen wurde, siel, von Dolchstichen durchbohrt, durch
eine unbekannte Hand.
Die Sieben Ninos von Eeija hatten mehre Hanptleute
nach einander. Am berühmtesten wurde Ca pitan Oji-
tos; er war aus einer guten Familie, galt für einen voll-
endeten Cavalier und verdrehte durch seine Schönheit und
sein liebenswürdiges Benehmen allen Mädchen und Frauen
die Köpfe. Dagegen war sein Adjutant, welchem man den
Spitznamen Ketzergesicht gegeben, ein wilder, grimmig
aussehender Bnrsch. Ojitos nahm ein tragisches Ende;
als er mit einem seiner Bandoleros in Wortwechsel ge-
rathen war, griffen beide zum Puüal und durchbohrten
einander dermaßen mit Messerstichen, daß sie neben einander
todt zu Boden sanken.
Die Bande trotzte Jahre lang allen Verfolgungen, und
durch Gewalt konnte man ihr nichts anhaben. Man suchte
ihr also durch List beizukommen. Ein falscher Bruder
wurde bestochen und gewann als angeblicher Späher das
Vertrauen der Banditen. Einst meldete er, daß ein Geld-
transport zu einer gewissen Stunde einen Hohlweg Passiren
werde, und die Sieben von Eeija ermangelten nicht, sich auf
die Lauer zu legen. Nun hatte man einen mit harten
Thalern (Dnros) gefüllten Sack auf die Straße hin-
gelegt, und die Räuber meinten, daß irgend ein Reifender,
welcher vorher durchgekommen fei, denselben verloren habe.
Der, welcher ihn fand, und das war eben der vermeintliche
Späher, schnitt mit seinem Dolche den Sack auf, und die
blanken Thaler rollten heraus. Die übrigen kamen herbei,
um dieselben aufzusammeln, als sie aber mitten in der
Arbeit waren, flogen Kugeln aus einem Hinterhalte, und
die Sieben von Eeija küßten allesammt den Staub; nicht
einer kam davon.
Als Volksheld und „edler Räuber" lebt in Aller Munde
„der große und ritterliche Jose Maria"; war er doch,
wie das Volkslied sagt, „ein Beschützer der Armen, ein ge-
fühlvoller Bandit, aber gegen die Neichen unerbittlich".
Del pobre protector, ladron sensible
Fue sempre con el rico inexorable.
Er stammte aus Ronda, und man bezeichnete ihn als
den Trempauillo, weil er schon mit dem Grauen der
Morgendämmerung auf den Beinen war. Nicht selten gab
der „edle Mann" den armen Leuten Alles, was er den
Reichen abgenommen, und deshalb war er beim gemeinen
Volke sehr beliebt. Er beschloß seine Tage in Frieden,
Ruhe und Wohlleben, er wurde ein rechtschaffener Rentier.
toitba in. Andalusien.
In den Romanzen wird seine Geliebte gepriesen, „ein
braunes Mägdlein aus der Serrania de Ronda", die er
seine kleine Mairose nannte. Sie bewog ihn, bei der
Regierung um Pardon einzukommen, und dieser Jndulto
wurde ihm auch gern bewilligt.
Statt der „Volksbücher", welche in Deutschland überall
verbreitet sind, also statt des Eulenspiegels, der Sieben
Schwaben, der schönen Magellone und des hürnenen Sieg-
fried, hat Spanien seine Räubergeschichten und Romanzen
über die Großthaten der Bandoleros, und in diesen lernen
die Kinder lesen. Dor<z und Davillier haben eine Menge
dieser Art von Volksbüchern gekauft. In einem derselben,
welches sie in Carmona, wo viele solcher Romanzen gedruckt
werden, in die Hände bekamen, rühmt sich ein Räuber-
Hauptmann:
Soy gefe de Bandoleros,
Y al frente de ini partida
Nada mi pecho intimida,
Nada me puede arredrar.
Que vengan carabineros,
Que vengan guardias civiles!
Mis trabucos naranjeros
Los liaran escarmentar,
Y no querrän mas ensayo.
A caballo!
Trabucazo, y a cargar!
„Ich bin Hauptmann der Bandoleros, und an der
Spitze meiner Partida kann nichts mir Furcht einflößen,
nichts kann mich zurückhalten. Mögen die Gensdarmen
nur kommen, mögen die Nationalgarden nur kommen,
meine Stutzen, mit Kugeln so groß wie Orangen, werden
ihnen Lebensart zeigen, und sie werden ferner keine Versuche
mehr machen. Zu Pferde! Den Stutzen abgefeuert und
drauf los!"
Ueberall findet man die gedruckten Geschichten von
Diego Eorrientes, dem großmüthigen Räuber; von Orejito,
vom Palillos oder vom Francesco Estebon, und dazu
kommen noch die bunten Bilderbogen. Da sieht man den
Banclido generoso in prächtiger andalusischer Tracht. Er
plündert Reisende aus; diese liegen vor ihm auf den
Knieen und flehen ihn um Gnade an. In manchen Büchern
werden aber auch die Thaten der Räuber mißbilligt, na-
mentlich solcher, die kaltblütig arge Grausamkeiten ver-
übten und deu armen Leuten nichts gaben. Dahin gehören
die sieben Brüder, deren ältester Anton Vasqnez war. Sie
alle wurden auf einmal eingefangen und bekannten, daß
sie uicht weniger als einhundert und zwei Mord-
thaten verübt hätten.
Auch Räuberinnen spielen eine Rolle. Ein buntes
Bild zeigt ein Mädchen zu Pferde; es hat einen Säbel an
der Seite und einen Stutzen in der Hand. Der Text er-
zählt dann die Geschichte der Marie Eisneros, welche
1852 garrotirt wurde. Sie hatte erst ihren Mann und
bald nachher ihren Geliebten ermordet, siel noch jung in
die Hände der Justiz und bekannte nicht weniger als vier-
zehn Mord thaten.
Bis vor wenigen Jahren wurde allemal der Kopf eines
hingerichteten Bandolero iu einen eisernen Käsig gethan
und aus einem Pfahle befestigt, damit das Haupt des
Missethäters, la cabeza del malvado, als abschreckendes
Beispiel wirke. Die Abschreckungstheorie hat aber iu der
Praxis nicht viel geholfen. Der spanische Brigant hat
sein Handwerk aufgegeben, seitdem die Bürgerkriege im
Lande aufgehört haben, und heute ist die Serrania de Ronda
so sicher, wie irgend eine friedliche Landstraße; ihre Schrecken
und ihre Räuber gehören nur noch der Vergangenheit an.
Wilhelm Lejean in Mesopotamien.
279
Wilhelm J t j c a ti i
Dieser unermüdliche, unseren Lesern wohlbekannte
Reisende hat im Spätjahr 1865 eine Wanderung nach
Innerasien angetreten, welche eine ergiebige Ausbeute für
die Wissenschaft verspricht. Es ist seine Absicht, das Land
der im Norden von Afghanistan wohnenden Kafirs zu
besuchen, anf welche wir seit einiger Zeit durch die Mis-
sionäre der englischen Hochkirche wiederholt aufmerksam ge-
macht wordeu sind. Wir unsrerseits haben im vorigen
Jahre einige Berichte über das noch so wenig bekannte
Kafiristan mitgetheilt.
Lejeau durchzog einen Theil Kleinasiens und war im
Februar zu Mosnl in Assyrien; von dort liegt (im Juni-
hefte des Bulletins der pariser geographischen Gesellschaft)
ein Brief vor, der einige interessante Notizen enthält. Ueber
die assyrischen Alterthümer haben wir bekanntlich durch
Botta, Layard, Badges :c. ausführliche Werke; Lejean war
aber erfreut, auch für das griechische Alterthum und das
byzantinische Mittelalter reichhaltigen Stoff zu finden und
er hat eine Anzahl topographischer Aufnahmen und Pläne
an das Ministerium des öffentlichen Unterrichts nach Paris
eingeschickt. Bisher war das berühmte Schlachtfeld von
Arbela noch nicht genau ermittelt worden. Er durchzog
zwanzig Tage lang das obere Mesopotamien und bezeichnet
dasselbe als ein „glänzendes Alterthümermusenm". Zu
Denk, unweit Mardin, öffnete er ein Grab, in welchem
er, außer Thier- und Menschenknochen, auch viele bar-
barische Alterthümer fand, welche genau denen entsprechen,
die man in den Knrganen auf der Halbinsel Krinun
angetroffen hat. Er ist der Ansicht, daß sie aus der Zeit
der kimmerischen Invasion 634 v. Chr. herrühren. In der
Nähe befanden sich noch vier andere Gräber, der Reisende
hatte aber keine Zeit, dieselben näher zu untersuchen. Ein
chaldäischer Priester versicherte, daß bei Kesari Rum, etwa
drei Tagereisen von Mosul entfernt, eine sehr große
Ruinenstadt liege, welche siebenfache Ringmauern habe;
dort befinde sich auch eime Kolossalstatue, und diese sei mit
Inschriften bedeckt. Von besonderem Werthe für Lejean
war die ethnographische Ausbeute, namentlich in Bezug
aus die iranischen Völker in der Tigrisregion, wo er die
Kurden, Jesidis, Tscheback ?e. beobachten konnte. Die
letztgenannten haben 38 Dörfer inne und reden einen „sehr
wilden" iranischen Dialekt; in religiöser Beziehung stehen
sie den Ansarieh und den Jesidis nahe.
Lejean wollte von Mosnl aus die obeuerwähute Ruine«-
stadt besuchen und dann nach Bagdad gehen. Dort ge-
dachte er anf einem englischen Dampfer nach Karratschi
zu fahren und sich weiter uach Peschawer zu begeben,
wo dann seine eigentliche Reiseeampagne beginnen sollte,
wie er meinte, in der Mitte des Maimonats. Wenn es
ihm gelingt, in das Land der Kafirs, dieser ethnologisch
interessanten Si ah Posch (über welche wir im Globus
mehrmals Nachrichten gegeben), einzudringen, dann dürfen
wir werthvolle Mittheilungen erwarten.
In da Umgegend von Nisibis fand er das Volk weit
und breit in Aufregung, weil der Sultan am großen
Chabur mehre Tausend vom Kaukasus ausgewanderter
Tscherkessen, vom Volksstamme der Tschetschenzen, dort
ansässig machen wollte. Sie sollten bei Ras el Ain eine
eigene Stadt haben, die Resai'na eolonia, an welcher
n M e s 0 p 01 a in i c n.
gerade damals gebaut wurde; man hatte für diese „faulen,
zur Arbeit durchaus unlustigen Aristokraten des Kaukasus"
sogar die Felder mit Getreide bestellen lassen; das Volk
besorgte, daß sie sich dem Raubgewerbe zuwenden würden.
Willkommen und nützlich könnten diese kriegerischen Lente
sein, wenn sie ein Bollwerk gegen die arabischen Stämme
der Schamar und Tai bildeten, von deren Raubzügen jene
Gegend viel zu leideu hat.
Mesopotamien, in soweit es damals von Lejean
bereist worden war, ist ihm zufolge eiues der schönste»
Länder der Welt; die Kartographen, welche südlich von
Orfa und Harrau Wüsten verzeichnen, seien völlig im Un-
recht, denn dort gerade liege eine prächtige Alluvialebene,
die wohlbewässert und mit Dörfern übersäet sei, freilich
aber auch streckenweit von Arabern ausgeplündert werde.
Ans dieser Ebene steigen viele Hügel (arabisch Tell,
Mehrzahl: Tlul) empor; sie bilden theils abgestumpfte
Kegel, theils mehr oder weniger regelmäßige Kuppen. Le-
jean hat auf seiner Kartenskizze mehr als 200 solcher „Erd-
pustelu" verzeichnet; es seien aber mehr als zehnmal so
viele vorhanden, namentlich nach Sindschar und uach dem
Chabur hin, wo sie mit alten Ruinen bedeckt sind. Fast
an jedem Tell springt eine Quelle fließenden Wassers her-
vor, manchmal auch zwei. Die von Nimrod und Assur
erbaueteu Städte, Niuive ausgenommen, seien befestigte
Tell gewesen und manche derselben haben ihren alten Namen
bis heute sich erhalten, so: Schala, Erasch, Schalan und
noch andere. —
Der französische Reisende hat wohl daran gethan, daß
er in der Umgegend von Mosul sich nach solchen Alter-
thümern umsah, die bislang weniger Aufmerksamkeit erregt
haben, als die aus der altern assyrischen Zeit. Schon 1811
hatte Rich darauf hingewiesen, daß bei Babylon und Ninive
für die Altertumswissenschaft und die Kunstgeschichte eine
Ausbeute vom höchstem Belang zu gewinnen sei. Dann
verfloß ein Menschenalter, bevor die Forschungen begannen,
deren großartige Ergebnisse nun längst vorliegen. Die
Arbeiten von Felix Jones, Layard, Botta, Rawlinson,
Oppert uud Anderen haben das alte Assyrien gleichsam
bloßgelegt; das alte Ninive ist wieder ans Sonnenlicht ge-
bracht worden, gleich dem von der Asche des Vesuvs
verschütteten Pompeji, und die assyrischen Inschriften
werden jetzt mit nicht größeren Schwierigkeiten entziffert,
wie die ägyptischen Hieroglyphen. Der Horizont der
archäologischen Stndien ist in unseren Tagen mächtig er-
weitert worden.
Wir haben einen vollen Einblick in das Leben und
Treiben des Volkes und seiner Könige, deren Namen aus
den Bücheru der alten Hebräer allgemein bekannt sind.
Jetzt sind die alten Prachtpaläste, deren Glanz in jenen
Büchern wahrheitsgetreu geschildert wird, vor uns bloß-
gelegt, und es ist für einen gewandten und archäologisch
gebildeten Maler, wie Eugen Flau diu, eiue verhältuiß-
mäßig leichte Aufgabe gewesen, an Ort und Stelle sehr
genaue Darstelluugeu der Paläste und ihrer inneren Ein-
richtnngen zu entwerfen, denn der Stoff lag und liegt noch
in reichlicher Fülle vor, und uameutlich die Skulpturen
geben die wichtigsten Fingerzeige.
Gefangene Hebräer vor dem assyrischen Könige Tiglath Pileser. (Nach einer CoMosition von E. Flandin.)
K. v. Köstritz: Die brasilia
Sie beziehen sich fast durchgängig auf das Leben und
die Thaten der Könige. Die Assyrer unterschieden sich in
manchen Lebensgewohnheiten von anderen Orientalen. So
z. B. saßen sie auf Stühleu uud Tabourets, gleich uns
Europäern, und speisten an Tischen. Beide Hansgeräthe
waren, in den Palästen wenigstens, reich nnd geschmackvoll
verziert und haben Ornamente, die auch heute bei uns vor-
kommen, als da sind Thierköpfe, Löwenfüße und was der-
gleichen mehr ist. Auch der Kleiderluxus war groß; man
sieht es an den langen Röcken, den weiten Mänteln, den
gestickten Gürteln nnd befranzten Schärpen.
Nur selten finden wir weibliche Gestalten abgebildet;
sie kommen nur bei Auszügeu vou Kriegsgefangenen vor
und als Sängerinnen im Gefolge von Musikanten.
Die Paläste standen ans Erderhöhungen; zu Mauern
und Wänden verwandte man Luftziegel, die außen mit
Basaltplatten, innen mit Gyps bekleidet wurden. Der
letztere erhielt ein marmorgleiches Ansehen und ans ihm
finden wir Skulpturen und Inschriften. An den Eingangs-
thüren standen ans Granit oder Alabaster gehauene Steiue
oder Löwen mit Menschenköpfen, und das Ganze machte
den Eindruck des Monumentalen. Auch das Juuere war
großartig. In der Reihenfolge großer Säle, von denen
einige von allem Schutte gereiuigt worden sind, haben
manche 190 Fuß Länge und die Breite ist nicht geringer.
Neben denselben befanden sich viele kleinere Gemächer.
Die Mehrzahl der Skulpturen an den Wänden war farbig,
und in jedem Saale finden wir in diesen farbigen Skulp-
tnren verschiedene Gegenstände dargestellt, aber allemal
bildet der König die Hauptfigur. Er sitzt z. B. auf seinem
Thronsessel und man führt ihm Kriegsgefangene vor, öder-
er fährt in seinem Wagen, der von schmucken Pferden ge-
zogen wird, oder er empfängt fremde Gesandte, welche ihm
Tribut darbringen; dabei fehlen die Erzeugnisse des Landes
nicht, aus dem sie kamen. Das Getäfel der Decken war
von kostbaren Hölzern.
ische Provinz Alto-Amazonas. 281
Auf unserm, von Flandin componirten Bilde hat der
Künstler den König Tiglath Pileser dargestellt, der um 740
eine Anzahl jüdischer Gefangener nach Assyrien führte.
Ein anderer König desselben Namens hat dritthalbhundert
Jahre früher geherrscht, uud vou ihm sind mehre Inschriften
vorhanden, welche Oppert hat entziffern können. Die
eine ist durch ihren Inhalt nicht minder wichtig wie jene des
persischen Königs Darms auf dem Felfeu von Bisntnn.
Zunächst ruft der König die Götter des Landes Assur
an, und dann werden seine Titel aufgeführt; wir lernen
den Kanzleistyl eines asiatischen Hoses vor 2800 Jahren
kennen: „Tiglath Pileser, der mächtige König, der höchste
König über die Völker aller Zungen; König der vier Welt-
gegenden, König über alle Könige, Herr über alle Herren,
oberster Gewalthaber, König der Könige, der erlauchte
Herrscher, welchen der Sonnengott beschützt, der bewaffnet
ist mit dem Seepter, angethan mit dem Gürtel der Gewalt
über alle Menschen, der da herrschet über das gesammte
Volk des Bel; der mächtige Fürst, dessen Lob weithin ver-
breitet ist, wie bei allen Königen, der hochgeehrte Gebieter,
dessen Ruhm ans die Nachwelt kommt, der viele Ebenen
und Berge im Oberland und im Unterland erobert hat; der
siegreiche Held, dessen Name alle Völker mit Schrecken er-
füllt; der glänzende Stern, welcher den Krieg in fremde
Länder getragen hat nnd unter dem Schutze Bels, des
Gottes, der seines Gleichen nicht hat, die Feinde Assurs
unter das Joch brachte."
Nach dieser Einleitung zählt dann Tiglath Pileser seine
Kriegszüge, Jahr für Jahr, Feldzng nach Feldzug auf und-
nennt viele Länder und Völker; er habe deren nicht weniger
als 42 bezwungen; auch werden die Tempel und Paläste
aufgeführt, die er gebauet oder ausgebessert, die Be-
Wässerungskanäle, welche er angelegt, die nützlichen Thiere,
welche er nach Assyrien eingeführt und die neuen Baum-
arten, welche er angepflanzt habe. Er ist offenbar ein
gewaltiger Krieger und ein fürsorglicher Regent gewesen.
Die brasilianische Pr
Von Karl
Porto Alegre, Südbrasilien, im Herbst 1865.
Im äußersten Nordwesten des großen südamerikanischen
Kaiserreiches erstreckt sich, am mächtigen Amazonenstrom
entlang und durchschnitten von vielen seiner bedeutendsten
Nebenflüsse, die Provinz Alto-Amazonas, die im Norden
von den colnmbischen Republiken und dem englischen
Guyana, im Osten von der Provinz Gran-Para, im
Süden von Matto Grosso, und im Westen von der Republik
Ecuador begrenzt wird. Auf vielen Tausenden von Ge-
viert-Meilen noch ungemessenen Landes zählt die große
Provinz nur 62,000 Einwohner, von denen mehr denn
40,000 den wilden Jndianerstämmen angehören.
Die Provinz Alto-Amazonas bildete zur Zeit der
portugiesischen Oberherrschaft die Capitania di S. Josd do
Javari und erst 1821 wurde sie zu ihrem jetzigen Range
erhoben, der ihr nach der Unabhängigkeitserklärung Bra-
siliens wieder entzogen, dann aber im Jahr 1850 durch
ein Gesetz der Assemblea zurückgegeben wurde. Unter den
Globus X. Nr. s.
vin; AUo-Amazonss.
m Koseritz.
vielen reichen und für die Zukunft vielversprechenden Re-
gionen Brasiliens nimmt diese Provinz, sowohl durch ihre
Lage an der mächtigen Lebensader des Amazonenstromes,
als auch durch ihre Fruchtbarkeit und ihren Produktenreich-
thnm, einen hervorragenden Platz ein. Unter den jetzigen
Verhältnissen hat sie allerdings noch keine erhebliche Be-
dentnng; sind doch manche Gegenden derselben noch nicht
einmal näher bekannt?
Das Klima ist im Thale des Amazonenstromes feucht
und heiß, wird aber durch häufige Regengüsse gemildert,
und trotz demselben ist der Gesundheitszustand der Provinz
besser, als der vieler anderer tropischer Länder. Ihr Pro-
duktenreichthnm ist endlos; Kautschuk (Seringa), Uarara,
Caeao, Arzneipflanzen in großer Menge, Färbehölzer und
Nutzhölzer können dort in ungeheuerer Menge gewonnen
und ohne große Anstrengung von der nomadischen Be-
völkernng in den Handel gebracht werden. Die äußerst
geringe Einwohnerzahl ist schuld, daß der Alto-Amazonas
36
282 K, v, Kosevitz: Die drasilia
bis heute noch keine erhebliche Bedeutung für deu Haudel
gewinnen konnte; eine glänzende Zukunft wäre ihm aber
sicher, wenn es gelänge, ihm hinreichende Arbeitskräfte zu
verschaffen. Von Weißen Arbeitern kann freilich dort keine
Rede fein.
Die Bevölkerung des Ainazonenthales ist noch rein
nomadisch; das Innere wird nur von wilden Indianern
bewohnt, und die meisten Einwohner europäischer Abkunft,
die man dort findet, theilen die wandernde Lebensweise der
Eingebornen. Sie haben keine sesteu Wohnplätze, sie säen
und ernten nicht, sie betreiben auch weder Handwerke noch
Handel; während der Sommermonate dringen sie in den
Urwald, ziehen Kautschuk aus und suchen Uarara, Färbe-
Hölzer :c., was Alles sie dann an die Zwischenhändler
(meist portugiesischer Abkunft) verkaufen, um ihre geringen
Bedürfnisse zu decken. Ohne Arbeit, ohne Vorsorge,
ohne irgend welche Anstrengung bietet ihnen die üppige
Natur Alles, was sie brauchen, und begünstigt sie in ihrer
nomadischen Lebensart. Ihre Industrie ist nicht pro-
duktiver, sondern extraktiver Art; dadurch wird eine ge-
sunde Eutwickelung der gesellschaftlichen Verhältnisse ver-
hindert.
Das civilisirte Leben beschränkt sich also auf die
wenigen Städte der Provinz, die übrigens unbedeutend
genug sind. Die wichtigste derselben ist Mankos, die
Hauptstadt, welche seit 1848 zum Range einer Stadt er-
hoben ist und früher Barra do Rio Negro genannt
wurde, weil sie au der Mündung diefes riesigen Neben-
sluffes des Amazonas liegt. Den Namen Mankos erhielt
sie von einem Jndianerstanune, der früher auf der Stelle,
welche die heutige Stadt einnimmt, Hütten befaß. Die
frühere Hauptstadt, Barcellos, bildet den Mittelpunkt
der Provinz, hat jedoch viel von ihrer früheren Bedeutung
verloren; dagegen uinunt Tabatinga, die Grenzfestung
gegen Peru, am User des Amazonas, da wo derselbe aus
dem peruanischen Gebiet heraustritt, an Wichtigkeit zn,
weil eine regelmäßige, niemals unterbrochene Dampfschiff-
fahrt zwischen Tabatinga und Bel6m (d. i. ParS) rege
Handelsverbindungen anbahnt, die von äußerster Wichtig-
keit werden müssen, sobald Brasilien den Amazonas den
Flaggen aller Völker öffnet. Noch ein Ort der Provinz,
welcher auf den Namen „Stadt", wenn auch uuberechtigter
Weise, Anspruch macht, ist S. Jos6 de Marabitanas,
eine kleine Grenzsestung am Rio Negro. Keine dieser
Städte ist bedeutend; ihre gewöhnliche Bevölkerung besteht
aus einigen Beamten uud solcheu Handelsleuten, die den
Indianern des Innern die Früchte ihrer geringen Arbeit
abnehmen und ihnen die nöthigsten Bedürfnisse an Klei-
dung, Waffen, Angeln k. dafür austauschen.
So wenig also diese Provinz der Industrie und der
Civilisation im Allgemeinen zu danken hat, so unbedeutend
sie auch an Bevölkerung, Einkommen und Produktion
augenblicklich dastehen möge, fo unendlich wichtig wird sie
künftig einmal, durch ihren natürlichen Reichthum, durch ihr
mächtiges Flußgebiet, welches einen Theil des Amazonas,
den Rio Negro, deu Hyupura, den Aavary, den Jutahy,
deu Purus, deu Madeira zc. umfaßt, für den Welthandel
werden, dem sich im reichen und üppigen Thale des füd-
amerikanischen Stromriesen unendlich großartige Horizonte
erschließen. Da wir nun die künftige Wichtigkeit des Alto-
Amazonas vollständig erkennen, glauben wir, daß einige
genauere Angaben, die wir den amtlichen Berichten des
Präsidenten der Provinz entnehmen, für die Leser des
Globus von Interesse sein werden.
Bei der nomadischen Lebensweise der Bevölkerung der
Provinz und hei dein Mangel an öffentlichem Unterricht
lsche Provinz Alto-Amqzonas.
und an Bildung nimmt es Wunder, daß verhältnißmäßig
wenig Verbrechen vorkommen und daß die öffentliche Ruhe
uud Ordnung mit Leichtigkeit aufrecht erhalten werden.
Das ist vorzugsweise dem friedlichen Geiste der Bevölkerung
zu danken. Im Berichte wird gesagt: „Dieses Faktum ist
ein Beweis der friedlichen Gesinnung der Bewohner des
Amazonas, und ich habe solches Zutrauen zu denselben,
trotz der allgemeinen Unwissenheit des Volkes, trotz der
Trägheit, in der es lebt, trotz seiner nomadischen Lebens-
weise, trotz der geringen Liebe, die es zu dem Boden hat,
den es nicht kultivirt, oder zu der Wohnung, welche ja
keinen festen Platz hat, zum häuslichen Heerde, dessen wohl-
thueudeu Reiz es fast nicht kennt, — daß ich glaube, daß
die öffentliche Ruhe, welcher die Provinz bis jetzt sich er-
freute, nur sehr schwer gestört werden kann. In der ganzen
Provinz fanden im Jahre 1864 bis 1665 (von Juli zu
Juli) nur ein Todtfchlag, 7 leichte Verwundungen, ein
Raub, eiu Ungehorsam gegen Behörden, ein Diebstahl und
2 Beleidigungen statt, was gegen die übrigen Provinzen
des Reiches vorteilhaft kontrastirt.
Die militärische Besatzung ist verhältnißmäßig gering;
es liegen dort nur 559 Mann Linientruppen, und die Na-
tionalgarde wird auf 5494 Mann angegeben. — Die Pro-
vinzial-Regierung besitzt einen Dampfer, den Piraj6, der
zur Erforschung der Flüsse verwendet wird. — Der Zustand
des öffentlichen Unterrichts ist traurig genug; man
hat im Ganzen nur 19 öffentliche Elementarschulen, von
denen 16 für Knaben und 3 für Mädchen bestimmt sind;
jene wurden von 499 Knaben, diese von 49 Mädchen be-
sucht; Privatschulen existiren in der ganzen Provinz nur 3,
mit 64 Schülern. Die schulfähigen Kinder werden auf
etwa 6000 veranschlagt, von denen also nur 522 Unterricht
empfangen. Es kommen 95 Einwohner auf einen Schüler,
während z. B. in Preußen auf je 6 Einwohner ein Schüler
kommt. In Mankos wird das öffentliche Gymnasium von
54 Schülern besucht.
Die Regierung der Provinz wendet der Erforschung
des Amazonas und seiner Nebenflüsse ganz speeielle Auf-
merksamkeit zu. Nach jener Exploration des Rio Purus
durch den Kapitän Silva Eoutiuho, über die wir bereits
in dem Globus berichtet haben, wurde derselbe Ingenieur
mit der Untersuchung der Flüsse Mauös und Tapajoz
beauftragt, um ausfindig zu machen, ob eine Fahrbahn
zwischen Amazonas und Matto Grosso vorhanden sei, und
später mit der Erforschung der Flüsse HyupurÄ, Jtury
und Madeira. Eoutiuho begann seine Reise am 14. März
1864 uud kehrte am 24. Mai zurück, nachdem er bis zur
Mündung des Apoporis in deu Hynpurä (mit dem kleinen
Kriegsdampfer Jbicnhy) vorgedrungen war. Die früher
nicht menschenleeren Ufergegenden sind jetzt fast ganz ver-
lassen. Vom Solimoens (Amazonas) bis zum Apoporis
fand Eoutiuho nur 12 elende Jndianerhütten. Der be-
deutende Stamm der Miranhas bewohnt die Wildniß
von der Mündung des Eaynany bis zu der des Cuemany;
die Stämme Pac6 und Homaua, die früher am Hyu-
pura hausten, existiren nicht mehr, und nur einige Reste der
Hyury- und Coratuiudiauer erscheinen noch von Zeit zu
Zeit am Hyupurä, um Eaeao zu suchen; diese Stämme
leben am Moe6-Mirim und handeln vorzugsweise mit den
Schiffern des Tokantins.
Zwischen dem Rio Negro und dem Hyupur-l lebeu noch
nomadische Stämme der großen Familie der Macus. Um
jene äußerst reichen Gegenden dem Handel zugänglich zu
machen, gedenkt man aus einem Berge in der Nähe der
Mündung des Apoporis ein Fort zu errichten und die
Jndianerstämme der Umgegend in Missionen zu vertheilen,
K, v. Köstritz: Die brasilia
Wovon man viele Vortheile erwarten kann, weil besagte
Stämme friedfertiger Natur sein sollen.
Die Aufgabe, eine Verbindung zwischen dem
Purus und dem Madeira, oberhalb der Hindernisse,
welche die Schifffahrt dieses letzteren stören, aufzufinden,
imd somit eine direkte Verbindung zu Wasser zwischen
Amazonas, Matto Grosso und Bolivia zu erreichen, be-
schäftigt noch immer die Aufmerksamkeit der Regierung.
Neuerdings ist mau zu der Ueberzengung gelaugt, daß diese
Verbindung nur durch den Rio Jtury, den bedeutend-
steu Nebenfluß des Purus, auf dessen rechtem Ufer er
mündet, vermittelt werden kann.
Diese wichtige Erforschung ist dem Lootseu Manuel
Urb au o anvertraut worden, der am 24. Mai 1864 ab-
reiste und an dem Tage, an welchem der Präsident seinen
Bericht schloß, noch nicht zurückgekehrt war. Er hatte Be-
fehl, deu Jtuxy so weit hinauf zu gehen, als derselbe über-
Haupt schiffbar wäre, und zn sehen, ob derselbe durch irgend
einen Nebenfluß oder Kanal mit dem Madeira in Ver-
bindung stehe.
Der Purus ist noch von keinem Brasilianer in seiner
ganzen Ausdehnung erforscht worden (wohl aber durch den
Engländer Ehaudlefs); der Dampfer Piraja drang bis
zu deu Stromschnellen von Hyutauahan vor, während der
Lootse Manuel Urbano vor einiger Zeit mit Kähnen bis
zu dem peruanischen Dorfe Saraiaeu kam. Aller Wahr-
scheinlichkeit nach geht der Purus bis in das Herz von
Peru und wird eine der wichtigsten Wasserstraßen der Zu-
kunft sein, wenn die Hindernisse (Stromschnellen) im
Ucayale erst einmal beseitigt sind. Im Mai 1864 ging
von Mankos aus der englische Reisende George Chandless
den Purus hinauf mit dein Vorsatz, bis zu den Quellen
desselben vorzudringen (das ist ihm, wie bemerkt, gelungen).
Was den Madeira betrifft, so ist er 1861 bis zu den
großen Riffen untersucht worden und man gedenkt jetzt
eine größere Expedition zu einer eingehenden Erforschung
desselben auszurüsten, die um so wichtiger sein wird, als
der Madeira sowohl für den Handel wie für die Politik
von größter Wichtigkeit ist, denn sein ganzes rechtes, fowie
ein großer Theil des linken Ufers gehören dem Kaiserreiche,
und die Schifffahrt ist auf der ganzen Ausdehnung des-
selben durch alte Verträge garantirt. In dem Zeitabschnitte
von 1749 bis 1780 war die Schifffahrt auf dem Madeira
äußerst rege. Die Reisenden fanden in der Ortschaft Erato
und in einer andern in der Nähe des zweiten Riffes Alles,
was sie zu ihrer Ausrüstung gebrauchten, so daß sie Wenig
oder Nichts von den Verfolgungen der wilden Stämme Mnra
und Munducnrus, welche die Ufer unsicher machten, zu fürch-
ten hatten. Für die Provinz Matto Grosso ist die Schifffahrt
des Madeira eine wahre Lebensfrage, denn dieselbe liegt
600 Legnas (18 aus den Grad) von der brasilianischen
Küste, so daß sie nur mit der größten Schwierigkeit erreicht
werden kann. Die beiden einzigen Wasserstraßen sind der
Paraguay und der Madeira; jener kann der Schifffahrt
leicht verschlossen werden, da er theilweise fremden Staaten
angehört, wie es jetzt von Seiten Paragnay's geschehen ist,
fo daß Matto Grosso fünf und sechs Monate lang ohne
Verbindung mit der Hauptstadt bleibt. Deshalb nun ist
die Schifffahrt des Madeira von höchster Wichtigkeit, und
wenngleich die Verlegung der Hauptstadt von der Ortschaft
Matto Grosso am linken Ufer des Uapor« nach CuyabÄ,
sowie der Verfall der oben bezeichneten Ortschaften den
Verkehr fast gänzlich abgeschnitten hat, so ist es doch durch
den gegenwärtigen Krieg der Regierung nahe gelegt, ans
eingehende Weise für die Wiederherstellung der Verbindun-
gen auf jener Wasserstraße zu sorgen, um so mehr als die
sche Provinz Alto-Amazonas. 283
Indianer fast als gezähmt zu betrachten sind und die Er-
öffnnng des Amazonenstroms für alle Flaggen, sowie die
Eröffnung einer regelmäßigen Dampfschifffahrt anf dem
Madeira jene Gegenden dem Welthandel erschließen werden.
In Folge dessen unternahm Silva Eontinho eine Unter-
suchung des Flusses (in seiner ganzen Ausdehnung) bis
Bolivia und war angewiesen, geeignete Punkte zur Er-
bauung von Forts itttb zur Anlage von Städten zu be-
zeichnen. Etwa 180 Leguas weit ist der Madeira für
große Dampfer schiffbar; dann folgen in einer Ausdehnung
von 70 Leguas große Wasserfälle, deren Umgehung durch
Kanäle Eontinho skizziren sollte. Fernerhin sollte er nnter-
suchen, ob der Beni wirklich in den Madeira mündet, wie
alte Ueberliefernngen behaupten, und er follte ferner den
geheimnißvollen See Rogaguallo zu erreichen fnchen; er
sollte die Stämme der Earipuras, der Turas und
Urnpäs besuchen und sehen, ob sie einiger Eivilisation
zugeführt werden können; er sollte ferner die Holzarten
und Arzneipflanzen untersuchen, geognostische Studien an-
stellen, die Thiers jener Gegend klassificiren, Speeimina
von Mineralien :e. sammeln und durch astrouomische Be-
obachtungen die geographische Lage der Hauptpunkte des
Flusses bestimmen. Der Präsident der Provinz begleitete
ihn bis zu der ehemaligen Ortschaft Erato, von der hente
keine Ueberreste mehr existiren. Der Ingenieur war deu
letzten Nachrichten zufolge bereits über die äußersten Wasser-
fälle hinaus und setzte seine Forschungen fort.
Der Rio B'rauco, eine nicht minder wichtige Wasser-
straße, ist gegenwärtig fast von jedem Hindernisse frei,
denn ein Gutsbesitzer jener Gegenden hat die auf einer
Strecke von 2 Legnas vorhandenen Steine und Felsen mit
Hülfe der Regierung gesprengt und das Bett des Flusses
der Schifffahrt zugänglich gemacht.
In dem Stromgebiete des Amazonas, in welchem so
viele Tansende von wilden Indianern leben, giebt es
nur sehr weuige Missionen. Mehr als 300 Jahre sind
verflossen seit der Entdeckung, aber wenige Schritte von
den Städten leben in ihren Sertoes Tausende und aber
Tausende von Indianern, die keine Idee von Religion und
Eivilisation haben. Seit den Zeiten, in denen die Jesuiten
in jene Wildniß drangen und sich die Indianer unterwarfen,
ist in Brasilien nichts mehr zu Gunsten der Eingebornen
geschehen. Heute sucht die Indianer in ihren Urwäldern
Niemand auf, außer den Haudelsleuteu, die überall hin-
dringen, um die Produkte der Wälder einzuhandeln. Diese
sogenannten Negativs (Schacherer), meist portugiesischer
Abkunft, gehen in die Wildniß, nehmen den armen Wilden
die^ Erzeugnisse ihres Fleißes mit grausamer Uebervor-
theiluug ab, bringen ihnen mit dem Branntwein (Cavaga)
das Laster und das physische Verderben, entehren ihre
Frauen und Töchter und machen die weiße Race täglich
verhaßter unter diesen Söhnen des brasilianischen Urwaldes.
Wie die Schacherer mit den armen Indianern verfahren,
geht ans folgenden Beispielen hervor: Im vergangenen
Jahre kam der Häuptling oder Tuchana der Mau6s mit
einigen Begleitern nach Mankos, und der Präsident erfuhr
von ihm, daß er für ein Hemd von gestreifter Baumwolle,
welches er trug und von einem Händler gekauft hatte, nicht
weniger als 32 Pfund Uarar-l gegeben habe, d. h. den
Werth von 15 bis 16 Dollars. Ein anderes Mal lag
der große Kahn eines portugiesischen Regatäo's an einer
Stelle des Purus vor Anker; ein Indianer fährt mit seinem
Kahne vorbei, in dem er einige Centner Seringa (Kautschuk)
transportirt, die Frucht der Arbeit eines ganzen Jahres,
deren Betrag er zur Zahlung einer Schuld bestimmt hatte!
Der RegaUo schlägt ihm ein Geschäft vor, aber weil dem
36*
284 K. v. Köstritz: Die brasiliai
Indianer der angebotene Preis nicht paßt, bietet er ihm zu
trinken an, betäubt ihn mit Branntwein und legt den völlig
Trunkenen in seinen Kahn, setzt eine Flasche Cara?a
(Branntwein) neben ihn, schneidet das Tau durch, und
läßt den Unglücklichen stromab treiben. Dieser Fall kam
zur Kenntniß des Präsidenten und derselbe bestrafte den
Portugiesen. So flieht der Indianer vor der „Eivilisation"
und der Berührung der weißen Race, die er nur durch Ver-
folguug und Leiden kennen lernt. Die sogenannten In-
dianer-Direktoren, denen die Beaufsichtigung der Wilden-
Distrikte anvertraut ist, sind gewöhnlich die schlimmsten
Feinde der Indianer, denn sie beuten dieselben unbarmherzig
aus und tyrannisiren sie. In Folge dessen flieht der
Indianer immer tiefer in die Wälder, wird immer miß-
tranischer und den Weißen feindlicher gesinnt, und viele,
die bereits in Niederlassungen (Aldeamentos) wohnten
und zum Christenthume übergetreten waren, sind nach und
nach wieder in die Wälder gegangen, um der Berührung
mit den Direktoren und den Schacherern zu entfliehen; sie
leben nun wieder in ihrem ursprünglichen, wilden Zustande.
Auf diese Weise verliert Brasilien nach und uach eiue Menge
von Leuten, die äußerst nützlich verwendet werden könnten.
Es ist Pflicht der Regierung, diesem Uebelstande ab-
zuhelfen; sie muß Mittel fiuden, diefe Bevölkerung an sich
zu fesseln; sie muß diesen Wilden und Halbwildeu, welche
sich in fortwährend dauernden, blutigen Kämpfen gegen-
feitig aufreiben, die Freundeshand darbieten. Das ein-
zige Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ist die Einrichtung
von Missionen, und deshalb auch hat die Provinzial-
regiernng beschlösse,:, einen berühmten Missionär, Don
Jos« Antonio Maria Jbiagina, für dieses segensvolle
Werk zu gewinnen und ihn mit einer Gesellschaft von
Missionspriestern an den Purns zu schicken, wo er vor
einigen Monaten angelangt ist und seine segensreiche Mis-
sion begonnen hat.
In der Provinz Alto-Amazonas hat man gegenwärtig
39 Indianer - Direktoren, unter deren Verwaltung 17,489
halbzahme Indianer lebeu, während die in den Wäldern
zerstreut lebenden Wilden auf das Doppelte dieser Zahl
steigen. Von diesen 17,480 Halbwilden gehören 8255
dem männlichen, 9225 dem weiblichen Geschlechte an; sie
bewohnen 755 Hütten und haben 21 Kapellen. Die
wilden Indianer des Amazonas sind friedliebender
Natur, und wenn sie nicht so viel von den Weißen zu leiden
hätten, würden sie leicht gezähmt werden können. Sie
beschäftigen sich mit Fischfang, Jagd und Einsammeln von
Uararä, , Kautschuk, Kakao und Arzneipflanzen, sind
gewandte Jäger und tapfere Krieger. Keiner von diesen
Stämmen frißt Menschen. Sie skalpiren ihre tobten Feinde
nicht, schneiden ihnen aber die Ohren ab, die sie
trocknen und am Gürtel tragen. Nur manche Stämme
bedienen sich der Feuerwaffen, fast alle handhaben Pfeil
und Bogen mit großer Geschicklichkeit. Die Männer
arbeiten gar nicht, während die Frauen fast
che Provinz Alto-Amazonas.
übermenschlich arbeiten müssen. Von Kleidung ist
nicht die Rede; eben so wenig von festen Wohnungen; die
Stämme durchziehen die Wälder, bauen Waldhütten, die
sie beim Weiterziehen verlassen, und beten noch immer ihren
alten Gott Tnchä an, der im Donner zu ihnen spricht.
Heber die Sprache der Völkerstämme des Amazonas ist
nichts Specielles festgestellt; sie sprechen Abarten der
Tnpi-Sprache, die wenig oder keine Ähnlichkeit mit dem
in Paraguay und den südlichen Provinzen Brasiliens ge-
fprochenen Guarani hat, für welches Grammatiken und
Lerika schon aus den Zeiten der Jesuiten existiren.
Die finanziellen Verhältnisse der Provinz sind kläglich.
Dieselbe hat noch keine produktive Industrie; Landbau und
Mannfakturei kennt man nicht. Man verkauft die Erzeug-
uisse, welche der Wald bietet. Wir haben die Hauptartikel
fchou namhaft gemacht; außerdem sind zu erwähnen: Ge-
trocknete Fische, Jalapa, Pfeilgift, Sassaparille und
Jpeeaenanha; ob und welche Metalle der Boden birgt,
weiß man nicht. Die Indianer verfertigen Hängematten
aus Bast, Federblumen, bunte Thonwaaren, rohgearbeitete
Tabakspfeifen und grobe Strohhüte. Diese Produkte
werden gegen europäische Maaren vertauscht. Die Weißen
Bewohner der Provinz haben keinerlei Manufaktur, und
die Ausfuhren sind demnach sehr unbedeutend. Daher
kommt es auch, daß die Einnahme für die Central-Reichs-
kasse im letzten Jahre nur etwa 11,009 Dollars betrug,
während sich die Ausgaben beinahe auf 200,000 Dollars
stellten. Das Einkommen der Provinz übersteigt nicht
50 bis 60,000 Dollars und auch hier muß die Nachbar-
Provinz Para oft aushelfen. Wenn jedoch die gegenwär-
tigen Verhältnisse ein wenig beneidenswertes Bild bieten,
so ist nicht minder wahr, daß eine bessere Zukunft in Aus-
ficht steht, sobald der Amazonenstrom allen Flaggen ge-
öffnet sein wird, sobald der Madeira und der Purus von
Dampfschiffen befahren, der Jtnry und der Rio Brauco
nicht ferner verödet bleiben, und sobald die Verbindung zu
Wasser mit Matto Grosso hergestellt sein wird. (Freilich
bleibt unter allen Umständen die allerwichtigste Frage zu
beantworten: — Woherwillman Arbeite r n e h m e n?
Denn daß die wilden Jagdnomaden im Gebiete des Ama-
zonas durchaus unfähig für das sind, was wir Eivilisation
nennen, das kann Niemand bezweifeln. Sie werden bleiben
was sie sind, oder wenn man sie ihrem umherschweifenden
Leben entnimmt und zwangsweise seßhaft machen will,
dann müssen sie zu Grunde gehen. Weiße Menschen können
in jenen tropischen Ebenen nicht arbeiten, und der freie
Neger arbeitet nicht, weil er in jenen heißen Regionen feine
Bedürfnisse mit größter Leichtigkeit befriedigen kann. Man
wird deshalb die Erwartungen von einem hohen Auf-
schwunge jener von der Natur allzuüppig ausgestatteten
Gegenden auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen
müssen, so lauge man nicht weiß, woher man die Kräfte
zum regelmäßigen Arbeiten nehmen will. Und wo wären
diese? A.)
Aus allen Erdtheilen.
285
Aus allen
Quentin und Mage vom obern Niger zurückgekehrt.
Beide Reisende sind am 19. Juli wohlbehalten in Paris ein-
getroffen. Unsere Leser wissen, daß sie im November 1863 vom
Senegal ans nach dem obern Niger gingen; seit dem April
1864 waren in St. Louis keine Nachrichten von ihnen einge-
troffen; dann erschienen sie plötzlich am 28. Mai 1866 im Fort
Medine am obern Senegal und waren am 19. Juni in St. Louis.
Die Augustnummer der „Revue maritime et coloniale" erklärt
nun, wie es gekommen sei, daß man so lange Zeit Nichts von
ihnen erfahre» habe. Mage schrieb von Segu am Niger, wo
er sich schon seit 7 Monaten befand, im Dezember 1864 an den
Gouverneur des Senegal, aber seine Briefe wurden dem schwar-
zen Boten unterwegs entwendet. Er sagte in dem Schreiben,
daß er damals seine Reise zum Hadsch Omar nicht fortsetzen
konnte, weil dieser im Kriege mit dem Fulbesultau vou Massina
sich befand. Der König von Segu wollte die Reisenden nicht
weiter ziehen lassen, bevor sie nicht ihres Auftrages bei seinem
Vater Omar sich entledigt haben würden, doch wollte er gegen
ihre Rückwanderung Nichts einwenden, falls diese vom Gou-
vernein: zu St. Louis verlangt werde. Die Antwort aufMage's
Brief war 13 Monate unterwegs, weil während des Kriegs alle
Verbindung zwischen Segu nnd dem Senegal gehemmt war.
Im Anfange des Jahres 1866 kamen die Boten vom Gouver-
neur an, und nun konnten die Reisenden abziehen. Der König
gab ihnen eine Bedeckung von 400 Mann, nnd von dieser wnr-
den sie bis Nioro in Kaarta geleitet. Jedenfalls werden ihre
Berichte helles Licht auf die bisher dunkeln Verhältnisse am
obern Niger werfen.
Zustände im Nigerdelta.
Wir vernehmen aus der Region des Palmölhandels selten
etwas Erbauliches; die Barbarei tritt dort in ihrer schander-
hastesten Gestalt auf. Es muß abgewartet werden, ob die Mif-
sionen in jener Gegend einen bessern Erfolg haben, als in dm
übrigen Negerländern der Fall ist.
'Im Anfange des Jahres 1865 gründete der bekannte Bischof
Samuel Crowther eine Mission zu Bonny, einer Stadt
an dem gleichnamigen Nigerarme, in welcher der vielgenannte
König Pepple gebietet. Crowther ist selber ein schwarzer
Mann, wiewohl kein Vollblutneger nnd steht als eine seltene
Ausnahme da; auch Richard Burton, der Afrika besser kennt
als irgend ein Anderer, läßt ihm volle Gerechtigkeit wieder-
Es ist ihm gelungen, in Bonny eme Kapelle nnd eme
Schule zu eröffnen; beide wurden am 26. April 1866 feierlich
eingeweiht, und König Pepple, obwohl ein wunderlicher Kauz
und echter Barbar, war dabei zugegen. Er hatte den Bischof
gebeten, in der Einweihungsrede recht viel von den Königen
Nebnkadnezar und Salomo zu erzählen und auch Belsazars
nicht zu vergessen. Nickt weniger als 53 Schulkinder waren
anwesend; auch wurden Bibeln nnd Nene Testamente verkauft.
Die Kinder erhielten als Prämie Bücherranzen, und der Häupt-
ling Oko Jumbo bat sich gleichfalls einen solchen aus. König
Pepple scheukte dem Missionär eine große Ziege.
Bischof Crowther gibt in feinem Briefe vom 5. Mai (Church
Missionary Intelligenter, Juli 1866. S 223) eine Schilderung
der Zustände, die offenbar wahrheitsgetreu ist. Er schreibt Fol-
geudes:
„Wmige Schritte vou unserer zeitweiligen Schulhütte ent-
sernt, steht' hier in Bonny Town das große Jujuhaus.
Auf den Pfosten der Eingangsthüren, an den Wänden und
dann auch im Innern sieht man als Schmuck und Verzierung
des Götzenhauses Hunderte von Menschenschädeln auf-
gestellt. Man sagt, sie seien von Kriegsgefangenen, welche dem
Juju geopfert wurden; das Fleisch wurde verzehrt, weil man
dadurch Rache an den Feinden zu nehmen gedachte. Draußen,
der Vorderseite des Jujuhauses gegenüber, befand sich ein etwa
6 Fnß hohes Gerüst, aus welchem die Knochen der Geopferten
lagen. In der neuesten Zeit haben die Dinge noch eine Wen-
dnng zum Schlimmem genommen.
Das heilige Haus ist jetzt sehr iu Verfall gerathen und
bedürfte der Ausbesserung in hohem Grade; die Wände sind
Erdtheilen.
ans dem Loth gewichen und drohen dm Einsturz; auch die
Bambusmatten, welche als Bedachung dienten, sind nicht mehr
wasserdicht. Ein Theil der Schädel ist abhanden gekommen,
das Gerüst mit den Knochen eingestürzt und die letzteren liegen
nun zerstreut iiu Gras umher. So viel ich abnehmen kann,
denkt Niemand ans Ausbessern. Die jüngeren Lente sagen,
man könne diese Dinge nicht mehr gebrauchen; es werde hier
anders.
Es gibt auch manche Privat-Jujuhäuser und Priester und
Priesterinnen, bei denen man viele Schädel sieht; man kann sie
recht eigentlich als Schädelhäuser bezeichnen. Die abscheulich
häßlichen Holzfiguren, welche Götzen darstellen, sind genan so
wie in anderen Theilen Afrika's, und ich will sie deshalb nicht
näher beschreiben.
Man verehrt hier die Jguauas, große Eidechsen, welche
den Götzen geheiligt sind, und man sieht sie überall in und
vor den Häusern. Sie gewähren einen häßlichen Anblick, be-
sonders wenn sie mit Schlamm bedeckt sind, welchen sie sehr
gern haben. Sie sind sehr zahm nnd gehen dem Menschen nicht
aus dem Wege. Ich saß eines Tages in der Veranda und be-
obachtete solch eine Creatur. Ganz in der Nähe war ein Faß
in die Erde getrieben worden, das als Brunnen diente; dieser
hatte etwa 2 Fuß hoch Wasser. Ich sah, wie eine Jguaua an
^en Wänden des Fasses emporkroch; sie hatte sich eine große
Krabbe herausgeholt und verzehrte dann dieselbe mit großer
Schnelligkeit. Als sie ins Wasser tauchte, verlor sich der Schlamm
und ich sah nun das Thier in seiner wahren Gestalt; die Haut
ist schön gelb und grün gewürfelt. Machmal springt man aber
unsanft mit den göttlichen Thieren um, weil sie den Leuten die
Küchlein auffressen.
Auch die Haifische werden verehrt. Man bezeichnet dm
Hai als Kalabar-Juju; in Braß-Town wird nebenher auch
die Boa C on st riet or-Schlange vergöttert.
Ueberall an der Bucht von Benin ist es während der letzt-
verflossenen Monate sehr unruhig hergegangen. Braß, Bonny
und Okrika führten Krieg gegen Neu-Kalabar. Auf einem Zuge
gegen den Feind machten die Leute vou Neu-Kalabar 45 Ge-
fangen?. Diese alle wurden getödtet und gefressen. Die
einzelnen Glieder sind unter das Volk, Alt und Jung, Weiber
und Männer vertheilt worden. Jeder trug seinen Antheil ganz
offen nach Haufe; mehre Supercargos, welche von den Schiffen
zur Stadt kamen, sind Augenzeilgen gewesen. Man macht auch
gar keinen Hehl aus der Sache.
Bei einer andern Gelegenheit nahmen die Krieger der Okri-
kas den Nen-Kalabarefen 103 Gefangene ab, und zur Wieder-
Vergeltung wurden diese allesammt todtgeschlagm nnd dann auf-
gefrefsm."
Auch an der Spitze des Nigerdelta's, wo der verstorbene
Dr. Baitie sich so viele Mühe gegeben hatte, die schwarzen
Potentaten friedlich zu stimmen, sah es zu Anfang des Jahres
1866 sehr wild ans. Der eingeborne Katechist der Mission zu
Gbebe (Jgbebe) schreibt aus Lokoja (am Zusammenflüsse
des Venne und Niger), wohin er sich geflüchtet hatte, unterm
27. Februar, daß Gbebe am 20. Februar von den Bassas er-
stürmt worden sei. Die Fehde war schon im November aus-
gebrochen; König und Häuptlinge waren der Mission sehr gram,
weil diese sich 'nicht am Kriege betheiligen wollte. Deshalb
wurde sie mißhandelt, bestohlm und am 19. Februar von den
Odokodo- Leuten völlig ausgeplündert. Der Katechist entrann
nur mit genauer Roth ihren Pfeilen. Nachher wurde die Stadt
von den Bassas in Brand gesteckt, nnd jetzt steht nicht eine ein-
zige Hütte mehr.
Der Krieg zwischen den holländische» Bauern und den
Basutos, dessen wir oftmals erwähnten, hat endlich aufgehört.
Das amtliche Blatt des Oranjeflnß - Freistaates meldet, daß
am 3. April 1866 bei der Basutofestung Thaba Bossiu ein
Friedensvertrag abgeschlossen sei zwischen dem Präsidenten der
Republik einerseits und den beiden Bevollmächtigten des Basnto-
königs Moschesch andrerseits; diese heißen Nehemiah und Mo-
peri. Der König verzichtet auf alles Land, worauf er Anspruch
erhoben hatte üud erkennt als Grenze die Vom Volksrath der
Boers festgestellte Linie an. Diese zieht von Cornet Sprint
286 Aus allen
aus am Kraal Buchuli vorbei über einen Spitzberg 3 Miles
von Letsea und durch Cathcarts Drift. Der Freistaat hat damit
ein Gebiet erworben, auf welchem etwa 4000 Landgüter, jedes
mit 2000 Morgen Bodenfläche, angelegt werden können. Außer-
dem gibt Moschesch den Bauern 3000 Häupter Rindvieh und
verpflichtet sich, alle Basutos ans dem bisher streitigen Land-
striche zu entfernen. Die von ihm tapfer vertheidigte Festung
Theba Bossiu darf er behalten. — Wir ersehen aus dem Journal
des „Missious evangeliqnes", daß die französischen Missionäre
dllrch den Krieg viel Ungemach zu erdulden hatten
Ostindien. Die Hauptstadt Calcutta besteht aus drei
verschiedenen Municipalitäten: dem eigentlichen Calcutta, der
,,Stadt"; den vielen Vorstädten, welche mit ihr auf derselben
Seite des Flusses Hughly liegen und iu denen die Europäer
und die Mehrzahl der Mohammedaner wohnen, und drittens dem
Stadttheil Hanrah. Die Gesammtzahl der Bewohner kann man,
der „Homeward Mail" zufolge, auf mindestens 1 Million See-
len veranschlagen, doch darf man das Ergebniß der Zählungen
nur als ein unvollständiges, mehr oder weniger annäherndes
betrachten. Die Bevölkerung ist im höchsten Grade buntscheckig.
Auf Tfchauringhi (Chowringhee wie die Engländer schreiben),
wo die meisten eingebornen Kaufleute leben/entfallen 378,066
Seelen; davon sind 11,067 Europäer und Amerikaner, 10,950
Eurasier, d. h Ostindier von europäischen Vätern und indischen
Müttern, 33 Griechen, 722 Amerikaner, 1443 Asiaten aus nicht
indischen Gegenden, 548 Juden, 113 Parsis, 33 Afrikaner,
408 Chinesen, 113,365 Muselmänner und 219,300 Hindn's.
Diese Volksmenge wohnt in 15,976 Häusern und 42,917 Hütten.
In gauz Calcutta starben 1865 etwa 23,000 Personen; davon
22 Procent an der Cholera und eben so viele an den Blattern.
Schifffahrt auf dem Jrawaddy. Seit einer Reilfe von
Jahren sind die Engländer eifrig bestrebt, den Verkehr auf die-
fem Strome zu beleben und vermittelst desselben einen bequemen
Handelsweg nach dem südwestlicheu China, namentlich nach der
Provinz Minnan zu eröffnen. Das Mündungsgebiet des Jra-
waddy (das Land Pegn) haben sie dem Kaiser von Birma
bekanntlich abgenommen und ihn dadurch vom Meer ansge-
schlössen. In dem jüngsten Vertrage mit diesem Monarchen
erzwangen sie auch die Bestimmung, daß es jedem englischen
Unterthan erlaubt sein solle, in Birma zu Land und zu Wasser,
namentlich auch auf dem Jrawaddy zu reiseu, ohne daß ihm
irgend ein Hiuderniß in den Weg gelegt werden dürfe. Bis
jetzt ist aber noch keinem europäischen Kanfmanne gelungen, anf
dem Strom über Mandelay, die Residenz des Kaisers, hinaus-
zukommen. Wir wissen ans Adolph Bastians sehr inhalt-
reichem Werk über Birma, daß er nicht einmal Wissenschaft-
liehen Reisenden gestattet, nach Nordosten hin ins Innere vor-
zudringen. Nur ein englischer Consnl und ein paar Missionäre
haben'bis Bh am o gelangen können, also bis in die Nähe der
chinesischen Grenze. Jetzt'wollen nun die englischen Kaufleute,
nötigenfalls mit Gewalt, sich den Jrawaddy eröffnen. Jndi-
sehen Berichten zufolge ist auf Veranlassung der Handels-
kammern von London und Liverpool ein Dampfer zu diesem
Zweck ausgerüstet worden. Er ist mit europäischem Schiffsvolke
bemannt, hat eine volle Ladung englischer Fabrikate nnd soll
direkt bis Bhamo hinaufsteuern Die ganze Mannschaft ist
wohl bewaffnet und wird sich im Nothfalle wehren. Wenn der
Dampfer nnübersteigliche _ Hindernisse findet und zur Umkehr
gezwungen wird, dann will man die birmanische Regierung für
allen Verlust verantwortlich machen und vollen Schadenersatz
verlangen.
Die Japaner dürfen ins Anstand reisen. Diese Befug-
niß ist allen Einwohnern des „Jnselreiches im Sonnenausgange"
von Seiten des obersten Staatsrates, des „Gorogio", evthei.lt
worden durch ein am 23. Mai 1866 erlassenes Dekret. Keine
Volksklasse, nicht einmal jene der Bauern, ist davon ausgenom-
men. Es ist Vorschrift, daß jeder Japaner, der sich ins Aus-
land begeben will, bei der Regierung seine Absicht kund gebe
und Mitteilung mache, zu welchem Zweck er reisen werde;
dann erhält er einen kaiserlichen Paß. „Personen, welche nach
verschiedenen Ländern über See reisen wollen, um dort
Wissenschaften nnd Künste zu erlernen oder auch
des Handels wegen, werden dazu Erlaubuiß bekommen."
Demut ist ein schwerer Bann gebrochen, der seit nun dritthalb-
hundert Jahren anf Japan lastete. Früher wurde den Bewoh-
Erdtheilen.
nern des Jnselreiches keinerlei Hinderniß beim Verkehr mit
dem Ausland in den Weg gelegt, sie durften sich frei bewegen,
und japanische Dschonken schifften bis nach Bengalen. Als aber
die christlichen Völker die Zuvorkommenheit, mit welcher sie in
Japan aufgenommen worden, damit vergalten, daß sie Rebellio-
nen anzettelten nnd das Land in blntige Unruhen stürzten,
wurde aller Verkehr mit dem Ausland abgebrochen und das
Reiseu außer Landes streng verboten. Diese Schranke ist nun
gefallen. Wir wiederholen, was wir schon oftmals gesagt haben;
die Japaner sind in der That ein Kulturvolk, das weit höher
steht als alle übrigen Asiaten ohne Ausnahme.
Die Goldgruben im Ural. Vier derselben gehören dem
russischen Staate; es sind die von Katharinenburg, Bogoslowsk,
Slatonst und Goroblagodat; die erste, 1754 eröffnet, ist die
älteste; sie hat seit jener Zeit 1974 Pnd 21 Psuud und 27 So-
lotnik Gold geliefert, also etwa 64,000 Pfund; Bogoslowsk,
bearbeitet seit 1823, lieferte 1421 Pud 14 Pfund Gold, also
46,560 Pfund; Goroblagodat, iu demselben Jahr eröffnet,
386 Pud 39 Pfnnd: 10,000 Pfund Gold; Slatoust, die ergie-
bigste Grube, ist auch die jüngste, 1823 eröffnet, 1906 Pud
19 Pfuud 63 Solotniks Gold, also 63,960 Pfuud. — Die Aus-
beutung der Goldgruben, welche Privatleuten gehören, geht
nicht über das Jahr 1825 hinauf. Man hat von da ab 'bis
Ende des Jahres 1764 aus ihnen 13,546 Pud, oder 392,000
Pfnnd Gold zu Tage gefördert.
Petroleum in Russisch-Asien und Siidrußland. Die
Naphthaquelleu bei Baku sind allbekannt; jetzt hat man auch
auf einem andern Punkt am Kaspischen Meere, „im Distrikt
Natuschaitsk", Erdöl gesunden. Als der Bohrer im harten Ge-
stein eine Tiefe von etwa 120 Fuß erreicht hatte, drang ein
wahrer Strom von Oel hervor nnd floß etwa 20 Minuten
lang. Dann wurde plötzlich ein sehr starkes unterirdisches Ge-
ränsch vernommen; es schien, als ob die Erde bebe, und die
Arbeiter flüchteten. Als sie wieder kamen, drang ans dem Bohr-
loch klares, stark salzhaltiges Wasser hervor; nach Verlans einer
halben Stunde folgten Schaum, Rauch und Steine. Zuletzt
fand sich dann Oel ein, das seitdem fortwährend zu Tage
quillt.
Auch iu Südrußland hat man Naphthaquelleu ent-
deckt. Ein HerrNowosiltzew bohrte bei „Jemrionr" (so finden
wir den Namen im „Le Tour du Monde" geschrieben) und
traf auf eine Naphthaquelle, welche täglich 73,000 Litres aus-
gibt, obwohl das Bohrloch sehr enq ist. Etwa 30 Werst ent-
fernt hat er dann noch eine zweite Naphthaquelle im Osten der
Straße von Jemkaleh gefunden. Es scheint, als ob die ganze
Krim reich an Erdöl sei.
Petroleum im britischen Nordamerika. Fast allwöchent-
lich^ werden tu Obercanada Steinölquellen aufgefunden und es
scheint, als ob dieses Land daran eben so reich sei wie Pennsyl-
vanien. Das gilt namentlich auch von der großen Insel Ma-
nitnlin im Hnron-See. Dort ist das Petroleum den India-
nern längst bekannt gewesen; im Frühjahr 1866 entdeckte, dnrch
den Geruch geleitet, ein französischer Canadier die Stelle, wo
dasselbe aus der Erde hervorquillt.
Kanalprojckte zur Verbindung des St. Lorenzostromes
mit dem Mississippi. Iu Nordamerika beschäftigt man sich mit
denselben sehr eifrig nnd hat drei praktikable Linien in Aus-
ficht genommen. Die eine würde vom Michigansee bei Chi-
cago ausgehen bis zu den Quellen des Illinois, diesen
Fluß abwärts bis zu desseu Vereinigung mit dem Mississippi
bei Alton. Sie würde fast ganz imGebiete des Staates Illinois
liegen, sehr lang und sehr kostspielig sein und wird vorzugsweise
nur in Chicago befürwortet. Die zweite Linie liegt weiter nörd-
lich, ganz im Staate Wisconsin; sie bildet den Fox-Kanal und
ist um die Hälfte kürzer als jene in Illinois. Der Forflnß ent-
springt mittewegs zwischen dem Mississippi und dem Michigan-
see, zieht nach Nordost durch den Winnebagosee und mündet in
die Greeubay. Der Wlsconsinfluß seinerseits läuft in südwest-
licher Richtung zum Mississippi. Er soll sein Qnellaebiet iu
derselben Sem- und Sumpfregion haben, aus welcher auch der
Fox kommt, und wenn das wirklich der Fall ist, dann hat die
Natur selber du? Richtung gezeigt, welche der Kanal nehmen
mußte. Es scheint aber, als ob der nordamerikanische Congrcß
keine Bundesgeldcr zur Herstellung desselben bewilligen werde.
Aus allen Erdtheilen,
287
— Die dritte Linie, welche gleichfalls für leicht ausführbar gilt,
ist jene des Nock River und sie würde deu in Betreff der
beiden oben erwähnten Linien rivalisirenden Staaten Wisconsin
und Illinois gleichmäßig zu Gute kommen. Der Nock River
entspringt nicht sehr weit vom Winnebagofee, fließt durch vier
Counties von Wisconsin, dnrch sechs Connties von Illinois
und mündet der in Iowa liegenden Stadt Davenport gegen-
über in den Mississippi. Ueber knrz oder lang wird sicherlich
diese Kanallinie in Angriff genommen werden.
V. k. Der Handel zwischen Brasilien und Peru. Erst
seit 1355 besteht Die Dampfschifffahrt auf dem Amazoneustrom
und dennoch sind die Handelsverbindungen zwischen der brasi-
lianischen und peruanischen Grenzprovinz von großer Wichtig-
keit. Von Jahr zu Jahr steigt der Austausch von Produkten,
wie man aus folgender Statistik ersehen kann.
Ueber Tabatinga wurden von Peru Waaren importirt:
Im Jahre 1855 im Werths von 62,0971/2 Dollars
,, „ 1856 „ „ „ 163,967
„ „ 1857 „ „ 245,275-/2 „
„ „ 1858 „ „ „ 246,275
„ „ 1859 „ „ 237,0551/2 „
„ „ 1860 „ „ „ 159,8381/2 „
„ „ 1861 „ „ „ 156,260
„ „ 1862 „ „ „ 170,388
1863 „ „ „ 242,830
„ „ 1864 „ „ „ 274,749 „
In 10 Jahren ist also in Tabatinga von Peru die Summe
von 1,959,231 Dollars in Waaren importirt worden. Der
brasilianische Export steigt ungefähr auf die gleiche Summe.
Die benachbarte peruanische Provinz Lorcto exportirt nach Taba-
tinga hauptsächlich Strohhüte (sogen. Chilehüte) und zwar in
folgendem Maßstade,
In Tabatinga wurden importirt:
Im Jahre 1855 20,250 Hüte im Werthe von 60,700 Dollars
„ „ 1856 53,480 „ „ „ „ 160,440
„ „ 1857 80,716 „ „ „ „ 242,148 "
„ 1858 66,370 „ „ „ „ 232,295 "
„ „ 1859 66,088 „ ,. „ „ 231,308
1860 39,781 „ „ „ „ 139,2431/2 „
„ 1861 32,793 „ „ „ „ 114,7251/2 „
1862 47,114 „ „ „ „ 164,899 „
„ „ 1863 66,774 „ „ „ „ 233,704 „
„ „ 1864 120,112 „ „ „ „ 264,633
Ju 10 Jahren sind also in Tabatinga 593,488 peruanische
Hüte im Werthe von 1,844,146 Dollars importirt worden. Die
Nachfrage ist noch immer int Steigen begriffen, kann aber nicht
befriedigt werden, da die produzirenden Distrikte von Loreto nicht
mehr als 25,000 Einwohner haben. Der Rest des peruanischen
Exports an dieser Grenze besteht in gesalzenen Fischen, doch
übersteigt er jährlich nicht die Höhe von 10,0(J0' Arroben
(2909 Centner), da die Nachfrage gering ist. Der Ackerbau ist
in der Uferprovinz Loreto gleich Null und selbst die Droguen
der Wälder wnrden wegen Maugel an Arbeitskräften nicht
erportirt. Im Jahre 1865 hat sich der Handel noch mehr am-
nürt, denn nur in den beiden Monaten Juli und August wurde
in Tabatinga die Stimme von 60,833 Dollars importirt nnd
zwar folgendermaßen:
im Werthe von
17,589 Strohhüte ....... 35,178 Doll.
140 Arroben gesalzene Fische . . • 3291/2 „
Mandiocameht....... 106 „
5 Arroben Salsaparrilha .... 25 „
1 Arroben Tncnn - Bast..... 6 „
14 Hängematten von Tncnn ... 7 „
2 Fjschcrnetze......... 281/2 „
58 Pfd. Kautschuk....... 9 „
23 Pfd. Lernambi....... 13U „
39 Pfd. Pech......... 12/3
280 Päckchen Taback ...... 140 „
Natnrgeschichttiche Gegenstände die
einer spanischen wissenschaftlichen
Commission angehörten . . . 25,000 „
Kleinigkeiten......... 6 „
In denselben beiden Monaten exportirten die Brasilianer
über Tabatinga nach Peru (Loreto) 84,502 Dollars, wobei
15,100 Dollars gemünztes Gold und Silber sich befanden.
Die Silberbcrgwerke in Nevada. Int Jahr 1862 war
kaum ein weißer Mensch in diesem Lande; 1866 sind bei Vir-
ginia Ctty und Allstin nicht weniger als 130 Silberbergwerke
in Betrieb, von denen manche täglich einen Werth von 1000
Dollars liefern. An mehren Stellen ist das Erz so reich daß
die Tonne von 20 Centnern ungefähr für 200 Dollars Silber
ausgibt; 80 Dollars auf die Tonne ist etwas Gewöhnliches.
Die' Compagnie Gonld u. Comp, hat bereits 14 Millionen
Silber gewonnen lind davon 2 Millionen an ihre Aktionäre
gezahlt. ' Die ergiebigsten Erze gehen nach Sem Francisco in
Californien, werden von dort nach England verschifft und in
Sw anfea ansg eschin 0 lzcn.
Begräbnis) einer indianischen Jungfrau in Dacotah.
FortLaramie, 8. März. Oderst Maynadier, welcher den West-
liehen Distrikt von Nebraska commandirt, hat sich alle mögliche
Mühe gegeben, um den Abschluß eines dauernden Friedens mit
den großen Sionr-Stämmen in Dacotah zn erlangen. Vor
einigen Tagen erhielt derselbe eine Botschaft von Pegalefhka,
dem Häuptling der Brnles, eines Stanmies der Sionr, welcher
darum bat, mit seinem todten Kinde nach Fort Laramie konmien
zu dürfen, um es in der Nähe des Platzes zn begraben, wo es
geboren und erzogen wurde.
Tafchuugaziz iwie oder Monica war ein zartes, in-
teresfantes Mädchen von achtzehn Jahren. Geboren in der
Nähe von Fort Laramie und aufgewachsen unter den Töchtern
der alten Händler nnd Jäger, bekam sie eine starke Sympathie
für die Weißen und ihre schönen kleinen Pontes, wovon ihr
sonderbarer indianischer Name stammt. Sie hielt sich von den
roheren Indianern zurück und wies die Anerbietitngen der
Sionr-Krieger mit Verachtung zurück, während es der Traum
des Häuptlings Pegalefhka war, daß seine Tochter die Gattin
eines bleichen Kriegers werden sollte.
Während der letzten schrecklichen Kämpfe zwischen den Weißen
und den Indianern blieb sie ihren alten Neigungen treu, aber
an die Stelle ihrer frühem Fröhlichkeit trat eine bittere Meiern-
cholie. Sie dachte nur au ihre alten Freunde von Laramie und
fragte nur nach ihnen und, so seltsam es auch klingen mag, sie
starb vor Kummer, indem sie ihrem Vater noch auf dem Tobten-
bette das Versprechen abnahm, daß er ihre Leiche 150 Meilen
weit über die schneeigen Gipfel der Black Hills nach Laramie
zn ihrer letzten Ruhestätte bringen wolle.
Pegalefhka erhielt Erlaubniß, Monica hierher zu bringen
und gestern kam die Nachricht, daß der Leichenzug sich nähere.
Der Oberst und sein persönlicher Stab, sowie noch andere Offi-
ziere des Forts ritten dem Indianerhäuptling und feinen Krie-
gern entgegen nnd geleiteten sie nach dem Councilsaale, der mit
Flaggen verziert war.
Monica's Liebliugsponies waren unmittelbar nach ihrem
Tode getödtet worden und die Köpfe derselben wurden nunmehr
an dem obern Ende des Sarges auf die Plattform, auf welcher
derselbe stand, genagelt, sowie die Schwänze am Fußeitde des
Sarges befestigt wurden.
Gegen Sonnenuntergang war die Feierlichkeit vorüber, die
in ihrer Mischung von christlichen nnd indianischen Gebräuchen
auf alle Anwesenden einen eigentümlichen Eindruck machte.
Volksmenge in den australischen Colonien. Man stellt
in denselben nach Ablauf fast jeden Halbjahres Zählungen an.
Am 31. Dezember 1865 ergab jene in der Colonie Victoria
626,530 Seelen, was eine Zunahme von 21,029 Köpfen gegen
das Vorjahr ergibt. Auf 357,496 männliche Bewohner kommen
nur 269,034 weibliche. — Ju Südaustralieu ist der Zuwachs
laugsamer, aber sehr stetig und sicher; diese Colonie Hatte*l47,341
im Jahr 1864; sie zählte 156,704 im Jahr 1865 (Dezember);
also Zuwachs 9363 Seelen. Davon kamen auf Einwanderung
4865, auf Geburten 6672; die Sterbefälle betrugen nur 2174.
— In Queensland ist die Einwanderung fortwährend be-
trachtlich. Vom 30. April 1864 bis dahin '1865 waren 8949
Köpfe angekommen, von da bis 30. April 1866 schon 10,377;
seit 1861 überhaupt 33,483 direkt aus Europa.
Neuseelands Reichthum an Mineralien ist auf der In-
dustrieansstellung zu Duucdiu recht augenfällig geworden. Be-
sondere Aufmerksamkeit erregten die Steinkohlen, an denen
beide große Inseln unermeßlich reich sind. Auch in dieser
Beziehung ist Neuseeland das „Großbritannien der Südsee".
Bearbeitet werden in der Provinz Auckland die Grubeu bei
Drury, au der Juselbay und am Waikato; in der Provinz
Nelson bei Bulla, Pakawau, an der Goldbay, am Greyfluffe
nnd bei Mohikinui; in der Provinz Canterbury bei Kowai; in
der Provinz Otagv an vielen Punkten. Die allerbesteil sind
jene in den Kakanuibergen, an der Mündung der Clntha
nnd an der Westküste.
288 Aus allen
Praktische Winke für das Reisen in tropischen Ländern.
Herr F. Jagor aus Berlin hat soeben ein ganz Vortreff-
liches, ungemein lehrreiches Werk über Singapore, Ma-
lakka und Java (Berlin 1856, bei I. Springer) veröffentlicht.
Er bezeichnet dasselbe sehr bescheiden als „Reiseskizzen"; es ist
aber viel mehr und enthält eine Fülle von Belehrungen über
die westlichen Regionen des indischen Archipelagus. Wir werden
gelegentlich das sehr werthvolle Buch näher besprechen; heute
entlehnen nur demselben die nachstehenden Bemerkungen, die
von praktischer Bedeutung sind:
— Der Grund, warum tropische Länder, die jetzt so leicht
zu erreichen sind, so selten besucht werden, liegt, wie ich glaube,
besonders in der Furcht vor dem Klima, den Giftschlängen
und dem Ungeziefer. Die ungesundesten Gegenden sind aber
immer den in der Nähe Wohnenden bekannt und können ge-
wohnlich von dem, der zum Vergnügen reist, vermieden werden.
Uebrigeus ist eine gewisse Mäßigkeit in allen Genüssen, ohne
strenge Enthaltung, bei gehöriger Bewegung und angenehmer
Beschäftigung ein anerkanntes Mittel, Krankheiten fern zu halten;
gegen die gefürchtetsten, Fieber und Dyssenterie, pflegen Chinin
und Opium, zeitig angewandt, zu helfen. Das Leben in den
Hafenplätzen ist deü Europäern freilich weniger zuträglich. Sie
arbeiten dort lange und oft angestrengt in Komtoreu, halten
dort reichliche Mahlzeiten, genießen stark gewürzte, den Durst-
reizende Speisen und geben sich wohl noch anderen Excefsen hin.
Auch die europäische Kleidung, welche schon bei uns weder
schön, noch besonders zweckmäßig ist, wird zu einer wahren
Plage und der Gesundheit nachtheilig. Im Walde kleidet man
sich, wie man will. Nach mehren Versuchen nahm ich einen An-
zng an, den ich als besonders zweckmäßig empfehlen kann: —
Hose und lauge Jacke von blauem Kattun (weiß würde alle
Thiere verscheuchen), Schuhe aus Segeltuch und einen chinc-
fischen Hut in Form eines Helms. Die Jacke vertritt zugleich
die Stelle des Hemdes, ist ungefüttert, enthält aber mehre
Taschen. Strümpfe sind sehr unbequem, barfuß gehen ist schwer
zu lernen, Segeltuchschuhe sind am zweckmäßigsten. Wenn man
durch ciuen Fluß reitet, zieht man sie aus und hat dann gleich
wieder trockene Füße; so lange man geht, schaden nasse Füße
nicht. Abends im Quartier wechselt man den ganzen Anzug,
wäscht denselben, und am andern Morgen ist er wieder trocken.
In einer so dünnen Hülle belästigt die Hitze fast gar nicht.
Es verschwinden zugleich fast alle Terrainscbwierigkeiteu, denn
es ist ziemlich gleichgiltig, ob man auf dem Trocknen, im Sumpf
oder im Wasser geht. Der Hut besteht aus dem Mark eines
Baumes, augeblich Aesehynomene aspera, so porös, leicht, die
Wärme schlecht leitend wie Holnudermark. Er ist von größerem
Umfang als der Kopf; man trägt ihn vermittelst eines zollbreiten,
geflochtenen Ringes, der innerhalb des Hutes an dessen unterem
Rand angebracht und nur au drei oder vier Stellen so mit ihm
verbunden ist, daß die Luft riugsum zwischen Hut und Kopf
cirkuliren kann. An der hintern Seite hängt eine kurze Gardine,
um den Nacken gegen die Sonne zu schützen. Der Ueberzug
besteht aus hellem Seideubast, jener des breiten, unteren Randes
aus blauem oder grünem Stoff, um die Augen zu schützen.
Die große Furcht vor Schlangen und reißenden
Thieren ist ganz ungerechtfertigt. Alle Thiere fürchten sich vor
dem Menschen; auch sind die meisten Schlaugen giftlos und
ziehen sich gewöhnlich bei Zeiten zurück, wenn sie Menschen
kommen hören. Wie schwer sie anzutreffen sind, das erfährt
man am besten, wenn man ihnen eifrig nachstellt. Wir suchten
immer; ich zahlte für das Stück 6 Pence oder einen Schilling
und dennoch habe ich in vier Jahren kaum einige Hundert zu-
sammengcbracht. Nachdem die erste Furcht, die man empfindet,
sobald man als Neuling den tropischen Wald betritt, über-
wunden, dann sind sie leicht zu saugen, wenn man sie mit
einem Stocke gegen den Boden drückt und sie dann unmittelbar
hinter dem Kopfe fest anpackt. Die Diener, welche bei mir
waren, hatten anfangs die größte Furcht vor alle» Schlangeu,
auch vor den ganz 'harmlosen; besonders gefürchtet war die
Zunge, welche für sehr giftig gilt. Nachdem sie aber einmal
gelernt hatten, wo die Giftzähne sitzen und nachdem sie sich
überzeugt, daß das Thier im Nebrigen ganz wehrlos ist, trat
an die' Stelle der frühern Furcht eine solche Dummdreistigkeit,
daß ich oft Unglück besorgte. Eine im Kraut verborgene Schlange,
auf welche mau unversehens tritt, beißt wohl aus Nothwehr,
das ist aber fast die einzige Gefahr, welcher man ausgesetzt
ist, und sie ist namentlich für Europäer gering; diese haben ge-
Erdtheilen.
wohnlich mehre Personen im Gefolge, deren Lärmen die Thiere
früh genug warnt.
Von Infekten wird man in Indien viel weniger geplagt,
als im Süden Europa's. Flöhe gibt es nicht, die' Läufe der
Eingebornen suchen den Europäer nicht heim. Dies letztere ist
besonders auffallend auf den Philippinen, wo die Eingebornen
sehr viel reinlicher sind, als die Spanier. Jene baden täglich
und pflegen ihr schönes Haar, während diese in beidem nach-
lässiger sind, und doch haben die Tagalen, namentlich die Frauen,
fast immer Ungeziefer im Haar, die Spanier wohl nie.
Gegen alle lästigen Infekten aber, und nament-
lich auch gegen die'Moskitos schützt vollkommen
das Insektenpulver, das auch die Ameisen von den
Sammlungen fern hält. Eine Tinktur aus einem Theil
Insektenpulver (Pyrethrum roseum), zwei Theilen Alkohol und
zwei Theilen Wasser schützt, selbst noch zehnfach mit
Wasser verdünnt, alle Körpertheile, welche damit
benetzt werden, absolut gegen jeden Angriff.
Auf den wegen der Moskitos so sehr verrufenen Flüssen
von Siam schlief ich oft ohne Mückennetz ganz nackt in meinem
Boot, ohne im Geringsten belästigt zu werden; das Summen,
welches sonst jeden Schlaf verscheucht, weil es die Nähe des
zum Angriff bereiten Feindes verräth, wird zu einer harmlosen
Musik, die Einen, im Bewußtsein der Sicherheit, um so leichter
einschläfert. So schützt Benetzung des Bartes und der Hände
den Jäger auf der Wasserjagd gegen Mücken, selbst bei der
starken Transpiration in jenen Gegenden, wenigstens auf zwölf
Stunden.
Besonders interessant ist auch die Wirkung auf die in tro-
pifchen Ländern so sehr zahlreichen Am eis en. Vor den Fenstern
meiner Wohnung in Albay auf Luzou lief ein 6 Zoll breites
Brei rings um das ganze Haus. Auf demselben bewegten sich
zwei dichtgedrängte Züge einer schwarzen Ameise in entgegen-
gesetzter Richtung ununterbrochen dicht neben einander hin,' so
daß die Oberfläche gleichmäßig schwarz erschien. Aber ein
handbreiter Streifen dünn gestreuten Pulvers oder verdünnter
Tinktur genügte, um sie alle zu vertreiben. Zuerst staueteu sich
die Züge'am Rande des Streifens; dann überschritten ihn die
vordersten, von den nachfolgenden gedrängt; aber schon wenige
Zoll weiter zeigten sich die Merkmale der Vergiftung; sie
taumelten, setzten sich auf die Hinterbeine, bewegten ängstlich
die Vorderbeine und starben nach ein paar Minuten. Bald
darauf verließen alle das Haus. Auch die in den Philippinen
so verbreitete Krätze wird durch Waschen mit der concentrirten
Tinktur schnell beseitigt; das Jucken hört augenblicklich auf. Die
fast magische Wirkung des für Menschen ganz nn-
schädlichen Mittels scheint noch völlig unaufgeklärt.
r. Zur Statistik der Juden. Unter den 1300 Millionen
Menschen, welche die Erde bewohnen, sind etwa 800 Millionen
„Heiden", 337 Millionen Christen, 156 Millionen Mohammedauer
und nur 7 Millionen Juden, von welchen 3'/« Millionen sich in
Europa aufhalten. Die Mehrzahl derselben wohnt in Rußland,
welches deren 1,220,000 zählt, Oesterreich hat 853,300; Preußen
284,500; das übrige Deutschland 192,000; der Rest ist über
Europa zerstreut. Ju Frankfurt am Main kommt ein Jude
auf 16 Christen, in Preußen ein Jude auf 73 Christen. In
Sachsen gibt es uur sehr wenige Juden; in Schweden und Nor-
wegen ist das Verhältnis; ein sehr unbedeutendes, ein Jude auf
6000 Christen. Merkwürdigerweise scheint die Anzahl der Inden
in Frankreich, England und Belgien, wo sie emancipirt und im
Vollgennsse aller bürgerlichen und politischen Rechte sind, abzu-
nehmen, während sie in Ländern zunimmt, wo dieses Volk we-
niger frei ist, oder gar verfolgt wird. — Nach einem Berichte
des Missionärs Krüger bestehen 33 Missionsgesellschasten, die
sich allein mit der Bekehrung des Volkes Israel beschäftigen.
Sie zählen 200 Missionäre, von welchen die Hälfte vom Juden-
thnme übergetretene Proselyten sind. Seit Beginn dieses Jahr-
Hunderts sind ungefähr 20,000 Israeliten getauft worden.
Eiereinfuhr in England. In den ersten 5 Monaten des
Jahres 1866 sind in England mehr als 196 Millionen Stück
Hühnereier eingeführt worden. Im Jahr 1865 betrug der
Import im Durchschnitt täglich 1 Million Stück; im Mai'1866
aber mehr als 56 Millionen.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hitdbnrghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausrn.
Ein Besuch beim Könige von Dahome.
i.
Whydah, die Hafenstadt von Dahome und die französische Faktorei. — Die Barre nnd ihre Gefahren. — Handel und Wandel. —
Der Tempel der Fetischschlangen. — Die Priester. — Marltleben und Zahlungsmittel. — Der Vieelönig und der Abgesandte mit
dein löniglicheu Stabe. — Die Ortschaften zwischen Whydah und Abomeh. — Königshäuser. — Ein Tornado — Verschiedene
Arten von Fetischbildern. — Opferhütten. — In Canna.
Wer hätte nicht von diesem schwarzen Herrscher gehört,
in dessen Hauptstadt Abomeh Menschenblut in Strömen
vergossen wird? Mau sträubte sich lange Zeit, den Be-
richten über die geradezu schauderhaften Austritte, welche
iu Dahome an der Tagesordnung sind, Glauben beizu-
messen, aber seitdem wir die amtlichen Berichte von Fordes,
Elischart, Burton, Repinnndjene mehrer Missionäre haben,
ist kein Zweifel mehr gestattet; glaubwürdige Augenzeugen
haben geredet.
Wir haben vor längerer Zeit seine Berichte über die Ge-
stade von Congo mitgetheilt.
Der Dampfer legte vor Whydah au. Von dort aus
sollte eiu Bote dein Könige melden, daß ein Besnch ihm
bevorstehe; unter den drei Männern, welche ihn begleiten
sollten, befand sich auch Dr. Nepin.
Die Franzosen haben in Whydah eine Faktorei. Von
dieser kam eine große, schöne Pirogne sofort an Bord des
Dampfers. Die Uniformen und Alles, was sonst von
Die Meeresbrandung bei Whydah an d^r Küste von Dahome. (Nach Nepin )
Wir wollen erzählen, was ein französischer Marinearzt,
vi-. Nepin, mittheilt. Seine Regierung hatte in Brest
einen kleineil Schraubendampfer, den Dialmath, bauen
lasseu; er war mit 4 zwölfpfündigen Mörsern bewaffnet
und hatte uur geringen Tiefgang, um die Ströme au der
westasrikanischen Küste befahren zu können. Insbesondere
sollte er Whydah anlaufen, jenen bekannten Seehasen von
Dahome. ^ Von dort aus wollte man den König besuchen,
demselben int Namen der französischen Regierung werthvolle
Geschenke überreichen und bei ihm anfragen, ob er nicht
einige seiner Söhne znr Erziehung nach Paris zu schicken
geneigt sei. Befehlshaber war Kapitäu Ballon, welcher
die afrikanischen Gewässer nub Küsten sehr genau kannte.
Globus X. Nr. 10.
Gepäck ans Land gebracht werden sollte, wurden in große
Fässer, sogenannte Ponchons, verpackt. Ein Gleiches ge-
schieht allelnal mit sämmtlichen Handelswaaren; ohne diese
Vorkehrung würde man sie nicht trocken an die Küste brin-
gen können. Die drei Europäer waren jeder nur mit einem
Hemd und einer kurzen Leinwandhose bekleidet und stiegen
wohlgenmth in die Pirogne. Aber das Laliden ist hier alle-
mal mit Lebensgefahr verbunden. Der Dampfer lag eine
gute Wegstunde weit von der Küste entfernt, denn ein Anker-
werfen in größerer Nähe ist nicht thunlich. Das Boot
steuerte deni Lande zn, lind bald wurde der eintönige Ge-
sang der schwarzen Ruderer von dem Brausen und Brüllen
der Wogen übertäubt. Das Fahrzeug befand sich auf der
37
290
Em. Besuch beim Könige von Dahome,
Barre, und nirgends auf dem weiten Oeean ist das
Meer so gefährlich als auf den Barren an der Gniueaküste.
Neun Monate im Jahre herrschen im Golfe von
Guinea Südwestwinde vor. Durch ihre Einwirkung wird
im Meer ein langgezogener Wellenschlag hervorgebracht,
der sich an der sandigen Flachküste bricht. Die Wogen,
welche manchmal zu mehr als 30 Fuß Höhe sich auf-
thürmen, laufen mit ihrer Basis auf den seichten Strand,
während der obere Theil seinen, man kann sagen wüthenden
Laus ungehindert fortsetzt und iu ungeheueren Voluten und
mit gewaltigem Tosen sich auf den Strand wälzt. Diese
Wogen bilden drei in ziemlich gleichem Abstände von
einander entfernt laufende Wellenberge, deren erster etwa
1000 Fuß vom Ufer ent-
serut ist. Wer jemals eine
solche Barre gesehen hat,
vergißt das großartige
Schauspiel nicht wieder;
er denkt zeitlebens daran,
daß er inmitten dieses
Wellengetümmels in einem
schwachen Fahrzeuge wild
hin und her geschleudert
wurde und den: Tode nahe
war.
Jede europäische Fak-
torei in den westasrikani-
schen Küstenstädten besitzt
eine Anzahl vonLanduugs-
sahrzengen, zumeist Piro-
gueu, die aus einem ein-
zigen Baumstamme verfer-
tigt werden, manchmal 30
Fuß Länge haben und so
breit sind, daß zwei Män-
ner neben einander Platz
finden. Die 12 schwarzen
Ruderer sind unbekleidet
und führen kurze Ruder
mit großer Kraft und Ge-
wandtheit. Die Ruder sind
Pagayen, d. h. keine Ein-
legernder, sondern solche,
die frei mit deu Häudeu
bewegt werden. Der Ob-
mann steht am Hintertheile
und handhabt ein söge-
nanntes Schwanzruder;
cht eigentliches Steuer-
ruder ist uicht vorhanden,
und das Boot an beiden
Enden gleich. Beim Pas-
siren der Barre kommt
Alles darauf an, daß die Pirogne oben auf der Welle bleibe;
dabei wird sie allerdings zum Theil mit Wasser angefüllt,
aber dieses schöpft man aus, während man sich in den tie-
seren Zwischenräumen befindet. Der dritte Wellenberg
ist allemal der gefährlichste.
Manchmal läuft die Welle so schnell, daß die Ruderer
ihr nicht mit der Arbeit folgen können. Wenn in einem
solchen Falle das Boot gut gesteuert oder vielmehr geleitet
wird, und zwar so, daß die Welle keine Seite packen kann,
dann wird es mitten durch die Schaumwirbel mit einer
Schwindel erregenden Raschheit aus Land getrieben. So-
bald es aber von der Seite gepackt wird, dann kentert es
unfehlbar und wird rundum gewälzt. Die Neger jedoch
schwimmen so vortrefflich, daß sie ihr Boot inmitten des
grausigen Wellengewirrs wieder aufrichten, vom Wasser
entleeren und sich wieder allesammt auf die Bänke setzen,
es sei denn, daß ein Haifisch sich einen zum leckern Fräße
geholt habe. Das geschah wenige Monate vor RePins
Ankunft einem englischen Schiffskapitän auf der Barre bei
Lagos. Vou Seiten dieser gierigen Bewohner des Meeres
drohet größere Gefahr als von der Welle. Der Europäer
thut am Besten, sich ganz und gar aus die Neger zu ver-
lasseu. Nepin und Mage (derselbe, welcher jetzt vom
obern Niger glücklich heimgekehrt ist), wurden auf der sehr
gefährlichen Barre von Assiixte schon auf der ersten Welle
ins Wasser geschleudert und waren wohl 800 Fuß vom
Lande entfernt. Aber die
Neger sprangen wie Frö-
sche hinter ihnen her und
schoben sie, die beide nicht
schwimmen konnten, durch
die beiden übrigen Wellen-
berge wohlbehalten ans
Ufer.
Vor Whydah ging es
ihnen besser. Zwar füllte
sich die Pirogue einige Mal
mitWasser, aberdieNeger
schöpften dasselbe sofort
wieder aus, und das Fahr-
zeug lief ungefährdet auf
deu Strand. Von dort
aus geht der Weg etwa
eine halbe Stunde weit
über eiue sumpfige Ebene
nach Whydah.
Das Opferhaus in Canna. (Nach Nepin.)
Dahome ist, nächst
Aschanti, das mächtigste
Königreich au der afrika-
nifchen Westküste, doch hat
es nicht einmal eine Mil-
lion Einwohner. Im We-
sten bildet Aschanti die
Grenze, im Osten liegt
Narriba, im Süden die
Bucht von Benin und im
Norden die Kette des so-
genannten Konggebirges.
Es ist hier nicht der Ort,
aus die blutige und bar-
barische Geschichte dieses
Laudes näher einzugehen;
wir wollen nur bemerken,
daß vor etwa 140 Jahren
ein König von Dahome den Herrscher von Whydah befehdete
und bezwang und dadurch festen Fuß an der Küste gewann.
Auch die Häuptlinge von Ardrah und Jaquiu wurden be-
zwnngen, und die europäischen Faktoreien zerstört. In:
Anfange des vorigen Jahrhunderts erhielten dann die
Franzosen Erlaubniß, in Whydah eine Handelsniederlassung
anzulegen, welche allmählig in ein Fort verwandelt wurde.
Während der Kriege iu den Zeiten der Revolution und des
Kaiserreiches gerieth dasselbe in Verfall, ist aber seit 1842
durch das vielgenannte marseiller Handelshaus Regis
wieder ausgebaut worden. Palmöl und Elsenbein sind
die wichtigsten Ausfuhrartikel.
Die Stadt Whydah liegt unter 6" 20' nördl. Br. aus
Ein Besuch beim
einer sanft abfallenden Hochebene, von welcher man das
etwa 3 Miles entfernte Meer sehen kann. Gleich allen
Negerstädten nimmt sie einen sehr ausgedehnten Raum ein,
weil die Hütten von Gärten umgeben sind und offene Plätze
nicht fehlen. Die Angabe, daß sie 20 bis 25,000 Ein-
wohner zähle, ist nach Repin vielleicht um ein Drittel zu
hoch. Als er dort war, 1856, befanden sich nur sehr
wenige Weiße iu der Stadt; außer denen in der sranzö-
sischen Faktorei fand er nur drei oder vier Familien portn-
giesischen Ursprungs, die einst durch Sklavenhandel reich
geworden, nun aber verarmt waren. Die zahlreichen Mu-
latten bewohnen ein besonderes Stadtviertel und sprechen
eine Art von portugiesischem Jargon; im Uebrigen unter-
scheiden sie sich von den Negern nur durch ihre Farbe.
nige von Dahome. 291
Pfähle sind manchmal mit Farbe angestrichen, oder auch
mit rohem Schnitzwerke verziert. Hier empfängt der Mann
Besuche; ins Innere läßt er selten Jemand; dasselbe ist
übrigens sehr einfach, denn der gesammte Hausrath besteht
aus einer niedrigen, langen und breiten Bank von Palm-
holz, einigen Kalebassen und irdenen Krügen, und ein paar
Stühlen, die aus vollem Holze gehauen worden sind. Je
nachdem der Besitzer mehr oder weniger reich ist, hat er sie
mit Schnitzwerk verziert; wenn er ausgeht, läßt er sich einen
solchen Stuhl nachtragen.
Das französische Fort liegt im westlichen Theile der
Stadt, bildet ein längliches Viereck, hat 4 Bastionen,
welche durch Eourtiueu mit einander in Verbindung stehen,
und ist mit einem tiefen, sehr breiten Graben umgeben.
Tas französische Fort in Whydal) an
(Seit jener Zeit haben sich auch einige Engländer in Why-
dah niedergelassen und katholische Missionäre eine Station
gegründet).
Die Hütten sind ans gestampftem gelben Thon auf-
geführt, welcher an der Sonne sehr hart wird. Der Neger
gibt sich nicht die Mühe, Backsteine aus demselben zu formen.
Die Größe der Hütten ist je nach dem Wohlstände des
Besitzers verschieden, aber die Bauart allemal dieselbe und
zwar so, daß eine Anzahl kleiner Häuser vou einer Ring-
maner umschlossen sind. In jedem derselben wohnt eine
Frau, welche ihrem Herrn und Gebieter, falls derselbe
sie besucht, Obdach gibt. Die Hütte hat keinen andern
Eingang als die Thür und ist mit getrocknetem Grase
derart gedeckt, daß das Dach weit überspringt, von Pfählen
gestützt wird und eine Art von Verandah bildet. Diese
r Küste uon Dahome. (Nach Repin.)
Die Bastionen verfallen, eiserne Kanonen liegen im Grase
zwischen zerbrochenen, halbverfaulten Lafseten, aber die Ge-
bände sind in leidlichem Zustande, und ein Theil derselben
wird zum Oelpresseu und zur Bereitung der Fässer benützt.
Zeitweilig herrscht im Fort eine große Regsamkeit; viele
Neger kommen ans dem Innern und bringen Palmöl in
großen irdenen Gefäßen, oder Elfenbein, auch wohl Gold-
staub in kleinen Lederbeuteln, welche sie um deu Hals ge-
hängt haben.
Wer keinen Negermarkt gesehen hat, macht sich nur mit
Mühe eine Vorstellung von den Schlichen und Liften, welche
von dieseu äußerst primitiven Handelsleuten aufgeboten
werden, um einen möglichst hohen Verkaufspreis heraus-
zupressen. Wohl zehn oder zwanzig Mal gehen sie fort,
weil das Angebot sie'zu niedrig dünkt, aber der Europäer
37*
294
Ein Besuch beim Könige von Dcchome.
kennt ihr Verfahren und läßt sie laufen, denn er weiß wohl,
daß sie von selbst wieder kommen. Sie betrügen, wann
und wo sie irgend können, mischen Knpferstaub unter das
Gold und leugnen die Verfälschung auch dann noch, wenn
sie überwiesen worden sind. Auch sind sie alle Diebe, und
Diebstahl wird nur dann getadelt, wenn er ungeschickt aus-
geführt worden ist. Sie sind allezeit auf der Lauer, um
sich anzueignen, was irgend zu greife» ist. Wer ertappt
wird, ist der Verhöhnung von Seiten seiner schwarzen
Landsleute sicher; die Beamten der Faktorei verfahren
summarisch mit ihm und werfen ihn, nachdem er eine
tüchtige Tracht Schläge bekommen hat, aus der Faktorei.
Aber an Ehre, deren Begriff überhaupt dem Neger fremd
ist, verliert er durch ein solches Mißgeschick nicht. Um fünf
Uhr Abends hat der Markt ein Ende, die Thüren des
Forts werden geschlossen und erst am andern Morgen um
sieben Uhr wieder geöffnet.
Repin besuchte den berühmten Tempel der Fetisch-
schlangen; er liegt unter einer Gruppe prächtiger Bäume
unweit vom Fort und besteht einfach aus einer Art von
Rotunde, die etwa 36 Fuß im Durchmesser und 24 Fuß
Höhe hat. Die Wände
sind von gestampftem
Lehm, wie bei den ge-
wöhnlicheu Hütten, und
haben zwei einander ge-
genüber liegende Thüren,
durch welche die Götter,
d. h. die Schlangen, nach
Belieben aus- und ein-
gehen. Die Decke be-
steht aus Baumzweigen,
die durcheinander gesloch-
ten sind und solchergestalt
viel leeren Raum zwischen
sich lassen. Ueber densel-
ben befindet sich das auf-
.gestülpte Strohdach, oder
richtiger gesagt, dieser
Dachaufsatz besteht aus
getrockuetem Grase.
„Die innere Seite des
Daches, die Baumzweige,
die Balken, die Wände,—
Alles das wimmelt von
Schlangen verschiedener Art, die jedoch sämmtlich zu den nicht-
giftigen gehören. Sie sind von 3 bis 9 Fuß laug, in der Mitte
etwas stärker als am übrigen Leibe, und das Schwanzende,
welches etwa den dritten Theil des Körpers einnimmt, läuft
verjüngt zu; der Kopf ist breit, platt uud dreieckig, doch
so, daß die Winkel abgerundet sind. Die Farbe ist ver-
schieden, zwischen hellgelb bis gelbgrün, und dieser Wechsel
in der Farbe wird vielleicht durch das respektive Alter be-
dingt. Ich bemerkte bei den meisten auf dem ganzen
Rücken zwei braune Längsstreifen, während andere uu-
regelmäßig gefleckt waren. Ich möchte aus alle dem
schließen, daß sie verschiedenen Arten ausLinne's Familien
der Pythonen und von Coluber gehören; der längliche
Greifschwanz und die große Leichtigkeit, mit welcher manche
von ihnen klettern, lassen mich vermuthen, daß einige zum
Geschlechte Leptophis, Familie der Syneranterier (nach
Dumeril und Bibron) gehören."
. „Die Zahl der Schlangen, welche ich im Tempel sah,
belief sich auf mehr als einhundert. Einige krochen aus
der innern Wölbung des Daches herab, andere hatten sich
um die an den Wänden befindlichen Baumstämme ge-
Fetische der Dahome-Neger. (Nach RePili.)
schlungen, noch andere hatten den Schwanz um Zweige
gewunden und schaukelte« sich harmlos über meinem Kopse
hin und her; sie züngelten lebhaft und fchauteu mich mit
ihren blitzenden Augen an. Manche hatten sich zusammen-
gerollt, schliefen in dem Gräfe des Daches und ver-
daneten die reichlich gespendeten Opfergaben. Der ganze
Anblick hatte etwas seltsam Fremdartiges, und von irgend
welcher Gefahr konnte gar keine Rede fein; aber ich fühlte
mich doch sehr unbehaglich unter diesen schlüpferigen und
schleimigen Gottheiten, und als ich wieder draußen in
freier Luft war, kam mir das Ganze wie ein schwerer Traum
vor und ich athmete wieder frei auf."
Gar nicht felten kriechen manche dieser geheiligten
Schlangen in den Straßen der Stadt spazieren. Jeder
Neger, der ihnen begegnet, wirft sich auf die Kuie; er
nimmt das Thier vorsichtig in die Arme, bittet um Ver-
zeihung, daß er es angreife, und trägt es nach dem Tempel
zurück. Dieser Schlangenfetisch ist heilig und wer ihm ein
Leid zufügt, wird mit dem Tode bestraft. Repin erzählt,
daß ein Europäer, der erst vor Kurzem in Whydah ange-
langt war, im Fort eine Schlange sah, deren heiligen Eha-
rakter er nicht ahnte; er-
schoß sie todt. Man gab
sich alle Mühe, diesen
Vorgang zu verHeim-
lichen, er wurde aber doch
ruchbar und man hatte
große Mühe, den Zorn
der Priester durch reiche
Gaben zu besänftigen.
Das Volk hätte, wenn
die Schlange in den
Straßen getödtet worden
wäre, sich nicht so leicht
zufrieden gegeben, son-
dern der Fanatismus des-
selben würde ein Opfer
verlangt haben.
Die Priester wohnen
unweit vom Schlangen-
tempel in einer großen
Hüttengruppe und mästen
sich von den Opsern der
Gläubigen; auch sind sie
Aerzte u. Zauberer. Ihr
Einfluß auf das Volk ist groß, obwohl sie scheinbar sich
um Alles, was die Gemeinde anlangt, gar nicht kümmern
und an öffentlichen Berathungen keinen Antheil nehmen.
Sie wollen einen Nimbus des Geheimnißvolleu um sich
verbreiten und ziemlich isolirt bleiben. Repin suchte mit
ihnen in nähere Verbindung zu treten, weil er gehört
hatte, daß sie verschiedene wirksame Arzneimittel, z.B.
gegen den Guineawurm uud gegeu den Biß giftiger Schlau-
gen besitzen, auch verstehen sie aus verschiedenen Kräutern
sehr wirksame Gifte zu bereiten. Aber es gelang ihm
durchaus nicht, mit ihnen in irgend welche Berührung zu
kommen.
Das Marktleben in Whydah bietet einem Euro-
päer, welcher zum ersten Mal eine afrikanische Stadt betritt,
viel Interessantes dar. Es erinnert ihn auf den ersten Blick
an das Treiben in den Bazarcn der kleinen türkischen Städte.
Er sieht eine Doppelreihe armseliger, aus Bambus ver-
fertigter Buden, in welchen Frauen, — denn nur diese, nicht
die Männer verkaufen Waarenumgeben von großen und
kleinen Kalebassen sitzen. Diese sind mit allerlei Waaren
angefüllt, deren ein Neger zum täglichen Unterhalte bedarf,
Em Besuch beim I
also mit Reis, Palmöl und Salz; dazu kommen Glas-
und Porzellanperlen, Baumwollenzenge und was der-
gleichen mehr ist. Auch Garküchen fehlen nicht, und unter
den Leckerbissen, welche in ihnen zu haben sind, nimmt
Hundefleisch den ersten Rang ein. Dasselbe wird auf
mehrfache Weife zubereitet. Die Liebhaberei für Hunde-
fleisch beschränkt sich nicht ans die Sklavenküste, sondern
ist auch bei manchen anderen Völkern Afrika's vorhanden,
namentlich an der Congoküste. Mit Wasser geknetetes
Maniokmehl in der Gestalt faustdicker Kugeln dient als
Brot. Zu den Hauptspeisen gehört auch Ochsenfleifch, das
man in lange, fchmale Streifen zerschneidet, an der Sonne
trocknet und ohne jede weitere Zubereitung oder Znthat
verzehrt; es gehören aber Kinnbacken und Zähne eines
Kannibalen dazu, solch eine zähe Masse zn zermalmen.
Run: oder Palmwein wurde auf dem Markte nicht ver-
kauft; der Neger trinkt beim Essen nicht, sondern löscht
nach vollendeter Mahlzeit den Durst mit Wasser. Starke
Getränke genießt er zu anderen Zeiten, er ist dem Brannt-
nige von Dahome. 295
Inzwischen war der Herrscher Ghezo, Vater des jetzt
regierenden Königs, von der Ankunft der Europäer in
Kunde gesetzt worden. Er saudte nach Whydah einen seiner
Adjutanten, einen Racadehr, welcher sie begrüßen und
ihnen „den Weg geben sollte". Ohne ausdrückliche Er-
laubniß darf keiu Ausländer ins Innere gehen. Der
Racadehr überreichte dem Kapitän Ballon den könig-
lichen Stab. Dieser gilt als Zeicheu dafür, daß der
Ueberbringer ein bevollmächtigter Mann sei; er nimmt den
Stab wieder zurück, nachdem er seinen Auftrag ausgerichtet,
weil er dieses Symbols auch ferner bedarf. Dasselbe ist
eine Art von Paß, und der Träger hat, sobald er den Stab
vorzeigt, aus Gehorsam zu rechnen.
Das Gefolge des Racadehr bestand aus etwa 300
Leuten; ein Drittel war mit ordinären Flinten oder auch
mit alten portugiesischen Trabucos bewaffnet und bildete
die Ehrenwache der Fremden, die übrigen wurden als
Träger verwandt. Lastvieh ist in Dahome sehr selten;
Pferde können das Klima nicht vertragen und Ochsen
Fetischhülte bei Tofsoa, (Nach Repin.)
wein leidenschaftlich ergeben und berauscht sich, sobald er
irgend Gelegenheit dazu hat.
Als Münze dient die bekannte Kanrimufchel, Cypraea
moneta, welche in großer Menge aus den Küstengegenden
ani Indischen Ocean, namentlich von Sansibar, nach West-
afrika gelaugt. (Im Durchschnitte haben etwa 2400 solcher
Porzellanmuscheln den Werth eines Maria-Theresia Tha-
lers.) Dieses Zahlmittel ist iu jeder Bude maffenweis
aufgehäuft, und in der französischen Faktorei sind allzeit
mehre Beamten mit dem Zählen solcher Muscheln be-
schästigt.
Repin machte dem Gouverneur vou Whydah seine
Aufwartung. Dieser wenig intelligente Neger, ein Mann
von etwa 50 Jahren, war einer der angesehensten Häupt-
linge in Dahome und hatte den Titel eines Javogan,
d. h. Vieekönigs. Er empfing die Franzosen unter einer
Veranda, umgeben von einer Dienerschaft, die sich in Be-
weisen hündischer Sklavenfervilität förmlich überbot, und
fchieu die Anwesenheit der Fremden keineswegs gern zu
sehen.
kommen nur spärlich vor. Die Reisenden werden in Hang-
matten getragen, welche an einer langen Bambnsstauge
befestigt sind. Es liegt sich sehr gemächlich darin und durch
ein ausgespanntes Stück Baumwollenzeug ist man gegen
die Sonnenstrahlen geschützt.
Am 13. Oktober war Alles reisefertig, nachdem der
Racadehr eine erkleckliche Menge von Prügeln auf die
Schultern feiner Leute hatte regnen lassen. Der Weg
schlängelt sich anfangs durch Felder, die mit Mais, Ma-
niok, Jgnamen und Baumwolle bepflanzt sind; dann und
wann sieht man Gruppen von Oelpalmen, welche bei dem
Dorfe Xavi, häufiger werden. Dort machten die Reisenden
einen Augenblick Halt vor dem Tempel der Fetisch-
pri esterinnen. Es waren ihrer sechs, allesammt über und
über mit Bernstein- und Korallenschnüren behängt; um
die Hüften trugen sie einen seidenen Schurz. Diese Prie-
stemmen sind Gemahlinnen der Fetischschlange. Mehrmals
im Jahre laufen die alten Priesterinnen im Dorfe umher,
296
Ein Besuch beim Könige von Dahome.
nehmen acht- bis zehnjährige Mädchen weg und bringen
sie in den Tempel, wo sie ein Noviziat durchmachen und
späterhin der Schlauge vermählt werden. Nachher verheira-
tet sich Wohl die eine oder andere mit sterblichen Menschen,
verlangt aber, kraft ihres heiligen Charakters, von ihrem
Manne unbedingten Gehorsam. Die jüngeren Priesterin-
nen führten einen höchst üppigen Tanz auf und brachen am
Schlüsse desselbeu in eiu geradezu iuserualisches Kreischen
und Schreien aus. (S. 293.)
Im Dorfe Tauli wurde Nachtruhe gehalten; der
Kabosir (eigentlich Eabesöir, vom portugiesischen cabegaira,
Oberhaupt einer Familie oder Gemeinde) hielt saubere
Hütten in Bereitschaft. Von nun an führte der Weg durch
dichte Waldungen; auch das Dorf Ha such liegt inmitten
derselben. Weiterhin gelangt man nach der Stadt Allada,
wo der stattlich aufgeputzte Kabosir die Fremden am Thore
begrüßte. Nachdem er den
Willkommen gesprochen,
führte er sie aus einen gro-
ßeu Platz, wo sie unter
hohen Bäumen ausruhten,
während eine Musikbande
mit Tamtams, Rohrflöten
und Zithern einen dishar-
monifchen Lärm zum Be-
steu gab und Frauen und
Krieger allerlei Tänze auf-
führten. Allada hat einen
vielbesuchten Markt und
etwa 8000 bis 10,000
Einwohner.
In den Straßen von
Allada gewahrte Repin
einen großen Baun?, dessen
schwarzes, unbewegliches
Blätterwerk einen ganz
eigenthümlichen Anblick
darbot. Als er näher trat,
bemerkte er zu seinem nicht
geringen Erstaunen, daß
die vermeintlichen Blätter
nichts anders waren als
eine ganz ungeheuere
Menge großer Fleder-
mause, welche sich mit
ihren scharfen Krallen an
Aesten und Zweigen fest-
hielten. Er feuerte ein mit
Hagel geladenes Gewehr
ab und eine Anzahl fiel zu Boden, während alle anderen
aufflogen und iu der Luft eine gewallige schwarze Wolke bil-
deten. Diese häßlichen Thiere haben röthliches Haar, 8 bis
10 Centimeter Länge und bei ausgespannten Flügeln 25
bis 30 Centimeter Breite; sie sehen mit den vorstehenden
Zähnen und den langen steifen Ohren höchst widerwärtig
ans. Es scheint, als ob sie eine Varietät des Genus Vesper-,
tilio maximus seien, wahrscheinlich Vespertilio nygliceus;
sie sind sehr häufig iu jenen Gegenden Afrika's.
Von Allada aus führt der Weg etwa eine Stunde weit
durch bebaute Felder; dann beginnt abermals dichter
Wald. Man hat in demselben eine Stelle gelichtet und
dort eiues jener Königshäuser gebaut, deren im Laude
mehre vorhanden sind. Solch ein Haus bildet eiue Art
von Karawanserai, in welchem der König mit seinem Ge-
folge Unterkommen findet; es unterscheidet sich von den
übrigen Negerhütten nur dadurch, daß es immer reinlich
Das Opfertaus in Camia. (Nach Rcpia.)
gehalten wird. Jeder Neger, welcher an der Thür desselben
vorüber kommt, muß sich zu Boden werfen und den Kops
mit Erde bestreuen.
Am Himmel zog sich das Gewölk dicht und dick zu-
sammen, die Luft wurde unerträglich schwül und bald
nachher brach ein Donnersturm, eiu echt afrikanischer Tor-
nad o herein, welcher binnen einer Viertelstunde den Boden
überall in einen See oder itt tiefen Morast verwandelte.
Völlig durchnäßt erreichten die Europäer spät am Abend
das Dorf Toffoa, das auf einem Hügel steht, während
die Umgegend weit und breit eine fnmpfige Ebene, die soge-
nannte Lama bildet; sie reicht bis an den Fuß der frucht-
baren Hochebene von Canna und Abomeh. Während der
Regenzeit und noch einige Wochen später ist sie gar nicht
zn Passiren, und man muß den Umweg über Agrimeh
nehmen.
In Tossoa wohnten
die Europäer in einem
Tempel, der mit Fetisch-
bildern gleichsam über-
füllt war. Manche waren
von Holz, andere von Thon
oder Elfenbein; klein und
groß, Menschen- oder
Thiergestalten u. viele hat-
ten ganz phantastische For-
men. Da waren Schlan-
gen, Tiger und Affen,
Hunde mit eiuem Krokodil-
köpfe und Menschen mit
einem Hundekopfe. Be-
sonders auffallend war
eine Doppelgestalt von
natürlicher Größe; sie
stellte Momu und Weib
dar, in sitzender Stellung,
so wie unsere Abbildung
zeigt. Beide Figuren wa-
ren aus einem und dem-
selben Blocke geschuitzt,
hingen aber an der einen
Seite zusammen. Die
Frau sollte Wohl ein Sym-
bol der Fruchtbarkeit dar-
stellen; darauf deutete eiue
dreifache Reihe von Brü-
steu hin. Beide Gottheiten
wareu mit Ann- it. Hals-
bändern von Glasperlen
und Korallen geschmückt; vor und neben ihnen standen
kleine Gefäße von rothein Thon, die noch halb mit Palmöl
gefüllt waren; der in denselben liegende Docht war verkohlt.
Repin hätte gern einige der kleineren Fetischgötzen mitge-
nommen; das hätte aber vielleicht üble Folgen nach sich
gezogen, und er mußte sich damit begnügen, einige Skizzen
zu zeichnen.
Am andern Morgen war die Lnft klar und die Aus-
sieht hübsch. Nach Norden hin sah man die ersten Sinsen
des Plateaus von Abomeh, zur Rechten und Linken dehnte
sich die Lama mit ihrem Gestrüpp, ihren Zwergpalmen,
Wasserpflanzen, Lagunen und Flußläufen aus. Vier
Stunden vou Toffoa liegt das Dorf Epueh, ein viel-
besuchter Marktort, wo die aus dem Innern nach Whydah
ziehenden Trägerkarawanen Rast halten. Weiter landein,
im Dorfe Ackisabam liegt eine Finanzwache (Deeimero,
wie solch eine Zollstation von den Portugiesen in Whydah
Aus einer chiuej
genannt wird); hier erhebt der König von allen Ein - oder
Ansfuhrwaaren eine Abgabe. Der Weg nach Cana führt
eine Strecke weit durch mannshohes Guineagras; alle
Gewässer müssen durchwatet werden; der Neger bauet
keine Brücke und legt nicht einmal Baumstämme über
einen Bach.
Ju Caua, das auch Calnnna oder Camina genannt
wird, empfing der Bürgermeister (Kabosir) die Fremden
sehr höflich; auf des Königs Wunsch sollten sie den gauzeu
nächsten Tag dort verweilen. Die Stadt liegt aus dersel-
beu Hochebene wie Abomeh und gilt für die zweitwich-
tigste Stadt im Laude, obwohl sie viel weniger Einwohner
als Whydah zählt. Aber sie ist die heilige Stadt und Nesi-
denz der höchsten Fetischpriester. Der König besitzt dort
zwei sehr geräumige Wohnungen, welche einigen hundert
Mann Soldaten als Kaserne dienen; er kommt in jedem
Jahr an festbestimmten Tagen dorthin, um bei den Men-
schenopsern zugegen zu sein. Die Opferhütte liegt einer
der Königswohnungen gegenüber und besteht aus gestamps-
ten Lehmwänden; diese siud mit Kalk beworfen und auf
dem weißeu Grunde sieht man rohe und plumpe Fresken,
die mit rother Farbe aufgetragen worden sind, z. B. eine
Schlange, welche einen ganzen Menschen verschlingt, Kai-
mans, ein europäisches Schiss uud einen Priester, der ein
großes Messer schwingt, während er einen vor ihm knieen-
den Mann am Schöpse gepackt hat, um deu Kopf abzu-
fabeln.
Am folgenden Tage erschienen Abgesandte vom König
Ghezo und brachten Branntwein. Die Fremden tranken
ans die Gesuudheit des schwarzen Potentaten, während aus
allen eisernen Kanonen 21 Schüsse abgefeuert wurden.
Bevor die Weiterreise angetreten wurde, mnßten die Euro-
päer aus ihren Hangmatten steigen, um vor dem Tempel
der böseuFetische vorüber zu gehen. Dieser Formalität
kann sich der König selber nicht entziehen. Diese Hütte
liegt in einem dichten, dnnkeln Haine. Ans der Schwelle
saß ein Priester, der unablässig eine Klapper bewegte und
dabei Beschwörungen murmelte, um die Reisenden gegen
heu Geographie. 29?
deu Einfluß böser, übelwollender Götter zu schützen. Von
Cana nach Abomeh führt ein sehr breiter, guter Weg.
Abomeh hat einen Umfang von 12 bis 15 Miles,
ist mit einem sehr breiten und tiefen Graben umzogen und
die Umfassungsmauer von gestampftem Lehm etwa 29 fyujj
hoch. Die Brücken an den vier Eingangsthüren sind leicht
und können im Nothsalle rasch entfernt werden. Mehr als
30,000 Einwohner wird diese Hauptstadt von Dahome
schwerlich ausweisen können. Die Straßen sind breit uud
leidlich sauber, aber wenig belebt; die Häuser sind alle von
großen Hofräumen umgeben und diese von der Straße
durch Lehmmauern abgeschlossen. Auf den großen Plätzen
stehen prächtige, hohe Bäume. In der Mitte des geräumig-
steu Platzes sieht man ein kleines, unscheinbares Haus, dessen
rundes Dach von hölzernen Säulen getragen wird. Das ist
der Tempel für die Menschenopfer, in welchem na-
mentlich Kriegsgefangene abgeschlachtet werden. An jenem
Platze liegt auch des Königs Palast, wenn man diese Be-
Zeichnung anwenden kann ans ein wirres Durcheiuauder
von Hütten, zwischen welchen Hofräume und Gärten
liegen. Dort wohnen die Frauen, die Kriegerinnen und
die Sklaven, welche den König bedienen. Alle Wände be-
stehen aus Lehm, die Dächer aus Bambusstäben, und nur
eine einzige Hütte kann ein Stockwerk über dem Erdgeschoß
aufweisen. Dort verwahrt der König seine Schätze; alle
Wände sind mit Kanrimnscheln, die aus Sträuge gezogen
werden, behängt. Besondere Gemächer hat der König nicht;
er wohnt bald in dieser, bald in jenerHütte bei einer seiner
Frauen. Das Ganze dieses Hüttenpalastes ist mit einer
15 bis 20 Fuß hohen Lehmmauer umzogen; in dieser
befinden sich viele eiserne Haken und an denselben hängen
Menschenköpfe; manche sind schon gebleicht, an anderen
hängen noch Stücke verfaulten Fleisches, noch andere sind
frisch, weil erst vor Kurzem vom Rumpf abgeschuitteu.
Neben den Eingangsthüren fah Repin mächtige Haufen
von Elephantenknochen, wahrscheinlich Jagdtrophäen, die
aber von den Eingebornen mit einer gewissen abergläubigen
Furcht betrachtet werden.
Aus einer chinesi
Wir dürfen den Chinesen keinen Vorwurf daraus
machen, daß sie von Europa uud dessen Zuständen
nicht viel Genaues wissen. Wie weit sind denn bei uns
die Massen, der Mittelstand, und selbst ein großer Theil
der sogenannten höher gebildeten Klassen in der Geographie
und Völkerkunde, selbst in Betreff von Ländern unseres
eigenen Erdtheils?
Der lebhaftere Verkehr mit Ostasien hat erst in unseren
Tagen begonnen, und beide Theile lernen einander sehr
allmälig näher kennen. Es stellt sich immer deutlicher
heraus, daß es verschiedene große Civilisations-
kreise gibt, deren jeder seine volle Berechtigung hat, weil er
aus den Eigenartigkeiten des Rassenelementes
heraus entstanden ist. Eben deshalb wird man eine
solche, iu sich selber originale, dem Volkswesen durchaus
angemessene, ans demselben hervorgearbeite Civilisation
nicht durch eine beliebige andere ersetzen können. Die
Chinesen lassen sich durchaus uicht in europäischer Weise
Modus X. Nr. 10.
cht» Geographie.
ummodeln, sie werden Chinesen bleiben bis ans Ende
aller Tage, und unser europäischer Hochmuthsdünkel, der
unsere Anschauungen und Lebensformeln aller Welt aus-
bürden möchte, wird ihnen gegenüber nur sehr geringe Er-
folge haben.
Wir finden an den weizengelben Bewohnern des
Blumenreiches, welche reichlich ein Drittel der gesammten
Erdbewohner ausmachen, sehr Vieles sonderbar und ab-
stoßend. Aber auch das Umgekehrte ist der Fall; dem
Chinesen kommt manches Europäische „ungeschickt und
albern" vor.
Bei uns Europäern ist es hergebracht, daß man einem
Gast zur Rechten einen Platz anweist; der Chinese sieht
darin eine Barbarei, weil bei ihm die Ehrenseite zur
Linken ist.
Ein weibliches Wesen mit unverkrüppeltenF ü ß e n
galt für gemein und ohne Erziehung. Nach und nach
haben jedoch einzelne Familien diese Verstümmelung in Ab-
38
298 Aus einer chiue
gang kommen lassen, sie werden aber dafür von den „guten"
Familien mit scheleu Augen betrachtet, etwa so wie bei uns
solche, welche sich eine sogenannte Mißheirat zu schulden
kommen lassen.
Der Chinese hat seine eigene Schrift, deren Zeichen
auch die Nachbarvölker anwenden, um ihre Sprache zu
schreiben. Daß nun in Europa civilisirte Völker sich der-
selben Buchstaben bedienen und doch nicht gleich auf den
ersten Blick verstehen können, was mit denselben geschrieben
worden ist, das kommt jedem chinesischen Gelehrten höchst
Wunderbar vor!
China hat viele Fabrikanten, welche falsche Nasen
verfertigen, aber künstliche Zähne waren bis auf die
jüngste Zeit unbekannt. Man versteht dagegen, alle Arten
von Zahnschmerz augenblicklich zu entfernen. Der bekannte
englische Unterhändler I. B o wring speiste einst bei einem
vornehmen Mandarinen, und dieser zeigte ihm einen ganzen
Kasten voll falscher Nasen, die sehr künstlich gearbeitet waren.
Der Mann wechselte dieselben täglich einigemal; er setzte
eine vor Tisch auf, eiue andere nachdem er gespeist hatte,
und Abends legte er eine dritte an.
Bisher haben, ganz im Gegensatze zu den geistig viel
regsamereren und gewandteren Japanern, die Chinesen
noch wenige von unseren mechanischen Verbesseruugeu au-
genommen. Nur allem die Feuerspritze ist, in den großen
Seestädten wenigstens, ziemlich allgemein in Gebrauch ge-
kommen. Aber mit der Uhrmacherei haben sie sich noch
nicht besreuudeu können, obwohl reiche Leute gewöhnlich
zwei Uhren bei sich tragen. Unsere vervollkommneten
Ackergeräthe werden noch immer von ihnen verschmäht, und
bis jetzt haben sie kein Dampfschiff fertig gebracht, während
die Japaner ihre Dampferflotte sich selber bauen.
Sie prägeu auch heute noch keine Gold- und
Silbe r m ünzen, und die Webstühle, auf welchen
sie ihre wunderbar schönen Zeuge herstellen, sind von ganz
primitiver Art.
Dagegen geben sie uns in manchen Dingen etwas auf-
zurathen; sie verstehen z. B., das Kupfer stahlhart
zu machen; sie stellen die herrlichsten Farben her, namentlich
ein haltbares Grün aus Pflauzeustoffen. Den Buch-
druck, die Holzschueidekuust, den Gebrauch des
Kompasses, die Artillerie und noch manches Andere
haben sie viel eher gehabt, als Europa. Lauge, bevor es
ein Christenthum gab, bereiteten sie schon L um p e up a p i e r;
Geldanweisungen und Wechsel kannten sie, ehe man
im Abendlande nur eiue Ahnung von dergleichen hatte.
Sie sind stolz auf eine Schriftsprache und eineLitera-
tnr, dte weit über dreißig Jahrhunderte zählt; dagegen
haben wir Europäer keiue Literatursprache, die in ihrer
jetzigen Gestalt über unser Mittelalter hinausreichte.
Ein Kulturvolk, natürlich ein eigenartiges, von uns
europäisch-eivilisirteu Menschen grundverschieden, sind und
bleiben die Chinesen. Wir nennen sie sonderbar; sie thuu
uns gegenüber ein Gleiches, und beide Theile haben recht.
Es ist uns aber nicht zu verdenken, wenn manche chinesische
Wunderlichkeiten unser Lächeln erregen. Als z. B. die
Ta'iping- Rebellen mächtig waren und den Bang tse-kiang
fast in dessen ganzer Länge beherrschten, begaben sich in der
altberühmten Hauptstadt Nanking seltsame Dinge. Ein
Theil der älteren jüdischen Bücher ist ins Chinesische
übersetzt worden, und durch dieselben waren allerlei
verwirrte Vorstellungen in die Köpfe der weizengelben
Menschen gekommen. Auch was sie in den Büchern des
Neuen Testamentes gelesen, hatte dazu beigetragen, manche
seltsame Begriffe bei ihnen hervorzurufen. (Siehe „Glo-
bus" Bd. Ii, S. 105.) Einer von den Rebellen-
chcn Geographie.
königen bezeichnete sich in seinem Amtstitel ganz bescheiden
als: „Der heilige Geist, der da tröstet". Erver-
langte Anerkennung dieses Titels von den Engländern;
diese müßten ja in ihren heiligen Büchern gelesen haben,
daß in denselben die künftige Erscheinung dieses heiligen
Geistes verkündet werde; er sei nun dieser Tröster!
Ein anderer der Rebellenkönige bezeichnete sich eben so
bescheiden als den „jüngern Zwillingsbruder Jesu
Christi". Er wußte ausführlich zu erzählen, daß er und
Jesus einander häufig zu gegenseitigem Besuch einlüden;
er, seinerseits, begebe sich gar nicht selten ins Paradies,
in welchem sein „älterer himmlischer Zwillingsbruder" ihm
seine Frauen und Kinder vorgestellt habe! Einst sei Jesus
bei ihm in Nanking ausdrücklich zu dem Zweck erschienen,
um ihm mitzutheilen, wie viele Bambus hiebe eiue
der Frauen des Harems erhalten solle; sie hatte
sich eine Unregelmäßigkeit zu schulden kommen lassen. Die
Europäer wurden in Nanking als Koko, d. h. Brüder,
bezeichnet, aber anch gefragt, ob sie Tribut mitgebracht
hätten und die Herrschaft des Oberkönigs der Ta'iping über
den ganzen Erdball anerkennen wollten!
Man sieht, wie roh und uuverdauet folche halb-
europäische unverstandene Begriffe sind.
Der bekannte Sinologe Med hurst hat 1849 zu
Schanghai die Uebersetznng einer chinesischen Geo-
graphie drucken lassen, die uus recht deutlich zeigen kann,
welche Vorstellungen die Bewohner des Blumenreiches von
ausländischen Völkern haben, oder erhalten. Verfasser des
klafsifchen Buches ist eiu HerrWaug tae la'i', der längere
Zeit im hinterindischen Archipelagus verweilt hatte. Nach-
stehend geben wir einige wörtliche Mittheilnngeu dieses
chinesischen Strabo oder Karl Ritter: —
„Die europäischen Länder liegen außerhalb
der Grenzmarken höherer Gesittuug. Weun sie
jetzt sich einigermaßen dem Zustande nähern, in welchem
sich bei uns die Dörfer des tiefen Binnenlandes befinden,
fo^ verdanken sie das lediglich dem wirksamen und kräftigen
Einflüsse, welcher von unserer (der chinesischen) erhabenen
Regierung ausgeübt wird. Sie waudelt jene entlegenen
und unbekannten Länder vermöge der ihr innewohnenden
Kraft und Majestät zum Besseru um."
„Die Herrschaft über Europa ist getheilt zwischen deu
Holländern, der rothhaarigen Nation (Eng-
ländern) und den Franzosen."
„Die englische Nation ist sehr arm, aber mächtig;
ihr Land hat eine günstige Lage; deshalb machen die Eng-
länder häufig Angriffe auf andere Völker."
„Die Holland er sind einem Menschen vergleichbar,
der sich die Ohren verstopft hat, während er eine Glocke
stiehlt. Wenn man zu ihrer Beurtheiluug den Maßstab
der Vernunft anlegt, dann ergibt sich, daß sie kaum eine
einzige der fünf Cardinaltngenden besitzen, also: des Wohl-
wollens, der Rechtschaffenheit, Weisheit, Wahrheitsliebe
und des Rechtssinns. Bei ihnen unterdrückt der Große den
Kleinen, er ist hochmüthig und habgierig. Wohlwollen ist
bei ihnen gar nicht anzutreffen. Männer und Frauen
trennen sich, haben aber Erlaubuiß, einander wieder zu
heiraten. Rechtschaffenheit fehlt ihnen ganz und gar; auch
lebeu sie höchst ausschweifend und sinken ins Grab, ohne
ihren Kindern etwas zu hinterlassen. Sie haben keine
Weisheit und von Aufrichtigkeit nur ein ganz klein wenig."
„DieFranzosen sind lärmend nnd gewaltthätig. In
ihrem sehr armen Lande wohnen nur wenige Kanslente;
deshalb kommen sie selten nach Batavia. Die Holländer
müssen sich, wenn sie von den Engländern beleidigt werden,
an die Franzosen um Hülfe wenden. Das Königreich
Einblicke in den
Frankreich ist sehr groß und stark bevölkert; deshalb fürchten
die Engländer sich manchmal vor demselben."
„Die abhängigen Länder Enropa's sind endlos
durcheinander gemischt. Einige können, wenn sie näher
bekannt sind, von Schiffen besucht werden; manche werden
von den Holländern beherrscht. Dort leben die meisten
Menschen in hohlen Bäumen und Erdlöchern;
sie kennen den Gebrauch des Feuers nicht und
gehen nackt umher oder doch nur dürstig be-
kleidet. Wer vermöchte sie alle genau zu kennen oder
nähere Erkundigung über sie zu erlangen ?"
Von Mekka sagt dieser wohlunterrichtete Geograph:
,,Die Mauern sind sehr hoch und der ganze Erdboden
glitzert vou Silber, Gold und köstlichen Edelsteinen. Diese
Schätze werden von einhundert Geistern bewacht und können
deshalb nicht geraubt werden. Die wahren Verehrer der
Tugend dürfen nach Mekka gehen und dort den wirklichen
Bnddha verehren. Wenn sie dort einige Jahre lang fasten
und nachher zurückkehren, haben sie Anspruch auf den Titel
Lau Keun, Doktor. Dann besitzen sie die Gewalt,
Geister auf die Erde herabzubringen, Ungeheuer zu bändi-
gen, schädliche Einflüsse zu entfernen und Teufel zu be-
siegen."
Der Erdbeschreiber Wang tae lciü weiß auch von dem
Magnetmeere, Tze schi Yang. In demselben sind
so viele Magnete, daß ein Schiff, an welchem sich eiserne
Nägel befinden, schon aus weiter Ferne angezogen wird
und untergehen muß. Deshalb bedient man sich in jener
Gegend statt der Nägel stets nur der Pflöcke aus Bambus.
„Bei Malakka gibt eseiuHaü ma, einen Seeheng st,
der ans den Fluthen des Oceans eniporsteigt, um eine
Seestute zu verfolgen. Er hat eine glänzende, schwarze
Haut, sehr langen Schweif und kann an einem Tage mehre
hundert Meilen zurücklegen. Man sieht ihn aber nur selten
und der Mensch hat keine Gewalt über ihn. Die Seestute
ist unten im Meer an einem Felsen befestigt und zwar ver-
manischen Orient. 29!)
mittelst eines Nabelstranges, der eine ungemeine Länge
hat. Männchen und Weibchen sieht man oft beisammen;
dieses ist gewißlich wahr. Die Holländer zahlen den
Fischern eine große Summe für eine Seestute; diese kann
aber nicht mehr lang leben, sobald sie von dem Nabelstrang
entfernt ist. Von den Holländern wird sie in Spiritus
gesetzt."
„Deu fliegenden Kopf habe ich selber nicht gesehen,
aber viel von ihm erzählen hören. Er ist bei Amboina
sehr häufig und gleicht dein Kops einer eingebornen Frau.
Das Auge hat keine Pupille und kann im Dunkeln nicht
sehen. Der Kopf fliegt umher, in die Häuser hinein und
frißt dort menschliche Eingeweide. Wenn er aber etwas
Saueres genießt, kann er die Augen nicht aufmachen. Er
wird kein Unheil anrichten, wenn man ihn mit kleinen Lein-
wandstücken bewirft."
„Auch gibt es ein Thier, das einigermaßen einem
Menschen ähnlich sieht; sein Mund reicht von einem Ohre
bis zum andern. Allemal wenn es laut auflacht, erhebt
sich ein fürchterlicher Sturm. Es wird Ha'i ki schang,
d. h. Seepriester, genannt. Sobald es sich blicken
läßt, ereignet sich bald nachher großes Unglück."
„Die We'i tan sind ein Schlag von Menschen, welche
ein Hügelland bewohnen. Sie haben ein sehr häßliches
Gesicht und tättowiren sich; ihre Schwänze sind 5 bis 6
Zoll lang; am Ende des Schwanzes sind immer einige
starke Borsten. Diese Wilden verdingen sich manchmal
als Matrosen und kommen nach Batavia; sobald man sie
aber dort entdeckt, laufen sie weg oder verbergen sich.
Wenn man sie trotzdem fängt, verändern sie ihr Aussehen
und leisten heftigen Widerstand."
„Es gibt Fische, die so groß sind, daß sie ganze Schiffe
verschlingen können. Ich selber habe einen Mörser ge-
sehen, der zehn Scheffel Korn halten konnte und der aus
dem Rückenwirbel eines solchen Fisches verfertigt worden
war."
Einblicke in den o
Mesopotamien
Das feinere nordische Obst, der dem rheinischen Ge-
wachs anssallend ähnelnde Wein von Hamadan und der
dem spanischen verwandtere von Schiras werden, wie auch
die Kartoffeln, von Persien eingeführt. Der bagdader Wein
ist entweder syrnpartig süß oder wird aus gekochten Rosinen
spottschlecht bereitet.
Von den Hausthiereu steht unstreitig das Pferd
obenan. Ein kleiner Kopf mit gerader Stirn und Nase,
weiten Nüstern, kleinen Ohren und feurigen großen Augen,
ein glänzendes weiches Fell, seidenartige Mähne, ein hoch-
getragener voller Schweis, seine unbehaarte Fesseln, ein
zierlicher Hus und ein eleganter Bau mit zartem schön
gekrümmtem Halse kennzeichnen namentlich die Stute von
edlem Blut. Große Thiere sind selten und werden nnge-
*) Vergl. Bd. X, S, 46 u. HO.
«manischen Drient.
und Bagdad.
[.*)
mein geschätzt. Ein wirklich werthvolles Pferd ist nicht
leicht aufzutreiben, und man muß oft monatelang mehre
Roßkämme in Bewegung setzen, ehe man zu Kauf be-
kömmt, was man an Schönheit und Ebenmaß wünscht. Die
höchsten Preise stellen sich für einen Hengst 311 10,000,
für eine Stute zu 30,000 Piaster, doch gibt es auch aus-
nahmsweise berühmte Rosse, für welche selbst ein Beduinen-
schech dem andern 1000 Kameele, 10,000 Schafe und
100 Sklaven bietet. Die in der Stadt und nicht in der
Wüste auferzogenen Pferde taugen nichts, weil sie in einem
frühen Alter von lümmelhaften türkischen Sei's buglahm
geritten werden. Der Handel mit Pferden ist nur gering.
Es beruht auf einem auch unter den Türken allgemein ver-
breiteten Jrrthum, daß in Bagdad die besten und billigsten
Pferde anzutreffen seien. Im Gegentheil sind Thiere von
derselben Mittlern Güte in Anatolien, namentlich bei den
38*
300 Einblicke in den
Türkmen, um zwei Dritttheile wohlfeiler als in Irak. Die
Perser aber ziehen das kräftige tnranifche Streitroß dem
arabischen, und nicht mitUnrecht, vor. Was man sonst von
der Ausdauer und der eisernen Constitution eines arabischen
Pferdes sagt, ist hier eine Fabel. Es verlangt, empfindlich
wie es ist, eine außerordentliche Sorgfalt iu Wartung und
Pflege, oder es geht zu Grunde. Im Winter spaziert es
auf der Weide ganz und gar bis auf deu Bodeu in warme
Teppiche gehüllt einher, Nachts und bei schlechter Witte-
rnng ruht es am besten Platze des Familienzeltes auf
warmer Spreu. Bei eiuigeu Stämmen erhält es gar kein
Körnerfutter, sondern nebst dem Grase, das es abweidet,
Datteln und Kameelmilch; endlich wird es nur zum Prunke
und im Gesecht geritten. Gewöhnliche Gänle, wenn sie
arbeiten oder marschiren müssen, werden zweimal täglich,
am Morgen vor dem Aufbruch und am Abend nach der
Ankunft zuerst getränkt und dann gefüttert uud geputzt.
Ihre Ration für 24 Stunden beträgt 7V2 Pfund Gerste,
und Häcksel nach Bedarf; Heu erhalten sie nicht, dafür
läßt man sie zur Blutreinigung im Frühjahr einen bis zwei
Monate grasen. Luruspferde oder solche, die keine beson-
deren Anstrengungen auszustehen haben, müssen sich mit
einer Ration täglich, die ihnen am Abend verabreicht wird,
begnügen. Ein gnt behandeltes Pferd, vorausgesetzt daß
es allmälig eingewöhnt wird, legt Tag für Tag mit einem
Reiter und zwei Sattelsäcken voll Gepäck zehn deutsche
Meilen zurück.
Auch der arabische Esel ist ein nobles Thier. Schlichte
Langohren mit grauem Fell und schwarzem Kreuz uud
kräftigere braune und schwarze aus Kurdistan bilden zwar
die große Masse, aber dies Proletariat von 100 Piastern
das Stück darf sich nicht mit dem weißen, leichtfüßigen
Aristokraten aus dem Nedsched in eine Linie stellen. Der
edle weiße Esel — denn es fehlt nicht an gemeinen —
trägt wie das Pferd seinen Rassenamen. Er ist hoch von
Gestalt, hat starke nervige Beine, einen großen Kopf, einen
fetten Halskamm und eine feine empfindsame Haut mit
glatten feinen Haaren von blendender Weiße. Beim Lauf,
der dem des Pferdes wenig nachgibt, muß er feine langen
Ohren nach vorne aufgerichtet tragen. Vorzügliche Thiere
sind gleichfalls sehr selten und kosten wohl bis über 5000
Piaster. Sie dienen insbesondere den Damen als Zelter.
Ein echter weißer Esel mit Sattel von karmoisinrothem
Sammt und befranztem seidenem Zaumzeug von derselben
Farbe ist derStolz und die Freude einer bagdader Chattun.
Der Paßgang mit seiner sanften Bewegung ist ihm eigen.
Die untergeordneteren Thiere dienen dem Volk zu Ausflügen
iu die Umgegend als Droschken. Mit Trotteln uud rasseln-
den Schellen behängt, zotteln sie, von einem barfüßigen
magern Burschen angetrieben, an den Feiertagen nach allen
Richtungen dahin und nehmen am Abend mit einer sehr
frugalen Kost vorlieb. Nebeubei ist es der höchste Ehrgeiz
eines Wasserträgers (Sakka), sich einen weißen Esel anzu-
zuschafsen; hat er dies Ziel erreicht, so blickt er mit hoch-
müthiger Geringschätzung auf feine minder glücklichen
Kollegen hinab.
Die Maulthiere, obschou sie an Größe weder mit
dem persischen noch mit dem spanischen verglichen werden
können, sind, was Ausdauer, Schnelligkeit und Tragfähig-
keit aubelaugt, von vorzüglicher Güte. Mit einer Last von
drei Centner, den sehr schweren Packsattel nicht mit ein-
gerechnet, legen diese unermüdlichen, mäßig genährten
Bastarde in: Nothfall 20 türkische Wegstunden zurück.
Kein Reitpferd, uud wäre es noch so gut, kann es mit
ihnen aushalten. Ihnen fällt hauptsächlich der Waaren-
trausport zu, und nur gröbere Artikel, bei denen es
^manischen Orient.
keine Eile hat, werden durch Kameele befördert. Das
klügste, mit mehren Glocken und Schellen behangene Thier
schreitet gewöhnlich, schneller als ein Mensch auf der Reise
geht, der Karawane voran und verliert auch in stockfinstrer
Nacht in den weiten Ebenen, durch die Flüsse und Gebirge
niemals den bekannten Pfad. Der mittlere Preis eines
guten Manlthieres beträgt 100 bis 150 Thaler.
Von deu Käme eleu hegen die Nordländer im Durch-
schnitte eine viel zu gute Meinung. Das Schiff der Wüste
ist ein Transportmittel, das der Kaufmann lieber ver-
meidet und uur dann benutzt, wenn er massenhafte Sen-
düngen von Rohstoffen zu macheu hat, wozu er die uöthigen
Maulthiere nicht ohne eine bedeutende Erhöhung der Fracht
auftreiben könnte. Der EinHöcker ist ein saumseliges, nur
in der Ebene verwendbares Thier, das auch keine viel
bedeutendere Last als jenes zu tragen vermag, dagegen
täglich nicht einmal die halbe Distanz zurücklegt. Auf
feuchtem schlüpferigen Boden kommen sie gar nicht vorwärts
und unterliegen überdies, besonders durch Stiche giftiger
Mücken, vielen tödtlichen Krankheiten. Seine Enthaltsam-
keit ist in einem Lande, wo es weder an Wasser gebricht,
noch die Gerste theuer ist, nicht hoch in Anschlag zubringen.
Mit ihm darf aber das zweihöckerige turkomauische Kameel
nicht verwechselt werden. Das letztere ist ein kräftiges
Thier, das die höchsten Gebirge ohne zu wanken über-
steigt und in der heftigsten Kälte ausdauert. Nur die
leidige Langsamkeit theilt es mit seinem Stammverwandten.
Doch nicht alle Kameele sind langsam. Das Dromedar,
ein lebhafter EinHöcker von schlanken Formen, mehr kleiner
Gestalt und klugem Sinn, findet an ausdauernder Flüchtig-
keit unter den Vierfüßlern seines Gleichen nicht. Im lang-
gestreckten Trabe eilt es mit seinem Reiter durch die Steppe,
und ehe man Zeit hat, die Schnelligkeit seines Ganges zu
bewundern, ist es, wie ein Eisenbahnzug, am Horizonte
verschwunden. Auf ihm beruht die Unangreifbarkeit des
Beduinen. Die Strecke von Bagdad nach Damaskus
durchmißt es, und noch dazu auf einem weiten Umwege, in
sieben bis neun Tagen. Man benutzt es zur Beförderung
der Briefpost zwischen den genannten Städten. Auch der
Personenverkehr ist hier möglich, aber keineswegs rathsam,
denn erstens ist die Tour, da es keine Stationen gibt, mit
ungemeinen durch den eigentümlichen Gang des Drome-
dars erhöhten Anstrengungen verbunden, zweitens kann
man, wenn man nicht riskiren will von denAnnesi-Bedui-
nen nackt ausgeplündert zu werden, nur einen schäbigen
Anzug uud weniges unscheinbares Gepäck mitnehmen;
endlich ist die Fahrt viel kostspieliger als auf jedem andern
Wege. — Die geschätztesten Dromedare, wie alle Haus-
thiere erster Qualität, stammen aus Nedsched, der bekann-
ten arabischen Plateaulandschaft. — Zur Winterzeit, wenn
die Wege schlüpferig sind uud das karge Gras der mesopo-
tamischen Steppe keine hinlängliche Nahrung mehr bietet,
feiern gewöhnlich die Lastkameele und müssen sich kümmer-
lich von den vereinzelten Sodapflanzen der bagdader Wüste
ernähren. Spekulanten kaufen sie dann auf und setzen sie,
wenn es an Fleisch mangelt, zu guten Preisen an die
Kameelschlächtereien wieder ab. Der Araber findet die Kost
ganz nach seinem Geschmack uud vielleicht übertrifft sie in
jeder Beziehung die in Deutschland bereits eingebürgerten
Leckerbissen aus Pferdefleisch. Das letztere würde der
Mohammedaner durchaus wie eine Kannibalenmahlzeit
betrachten.
Büffel sind nicht sehr zahlreich. Die vorhandenen
werden weniger zum Feldbau als zur Gewinnung der
Milch benutzt, ein Nahrungsmittel, das sich vorzüglich im
sauern Zustande eines großen Verbrauchs erfreut. Die
Einblicke in den
Büffelkuh gibt eine reichliche fette Milch von guten: Ge-
schmack. Hörner und Häute bilden einen lncrativen Aus-
suhrartikel nach Persien und Auatolieu.
Die Rind er, meist Zebus, gehören zu einem kümmer-
lichen Schlag, noch unansehnlicher als man sie in Deutsch-
land im Hessischeu uud Nassauischen antrifft. Man der-
wendet sie als Zug-, doch zuweilen auch als Lastthiere.
Ein Ochs trägt indeß nicht mehr als ein Esel. Die Rinder
sind sehr mager und ihr Fleisch ist zähe und unschmackhaft.
Ueberhaupt muß der Europäer bei seinem Eintritt in die
Türkei dem Rind - und Kalbfleisch, auch oft dem Schweine-
fleisch gänzlich entsagen. Des Hammels ewige Gestalt
schwebt seiner Tafel vor, uud die einzige Abwechslung, die
er sich erlauben kann, wäre etwa, was oft rathsam ist, ein
feister Ziegenbock. Die Tödtung eines zugkräftigen Rindes
däucht dem ackerbauenden Orientalen eine Sünde, weshalb
er nur kranke, abgelebte und halbverhungerte Thiere schlach-
tet. Findet man doch selbst in Konstantinopel nur schlech-
tes Kuhfleifch. Eine arabische Kuh liefert kaum halb so
viel Milch wie eine gute Schweizerziege.
Das den Westasiaten, vor allen aber den Nomaden,
wichtigste Geschöpf ist unstreitig das Schaf. Nach dem
Koran, glaub ich, wird es als die erste vierfüßige Ereatur
Gottes bezeichnet. Weite ebene Länderstrecken, wie Irak
uud Mesopotamiens grasreiche Flächen eignen sich beson-
ders für feine Zucht, während die Ziege besser in den Wild-
nissen der Gebirge gedeiht. Für solche dem Ackerbau doch
einmal, infolge des Mangels an Bevölkerung oder einer
menschlichen Regierung verlorenen Länder kann man sich
nichts Besseres denken, um den Boden nur einigermaßen zu
verwerthen. Das arabische Schaf ist eiu Fettschwäuzer
eigener Raffe, die von den Türken die karamanifche genannt
wird. Sein Fleisch hat einen widerwärtigen Beigeschmack, an
den man sich aber Wohl oder übel gewöhnen muß, weshalb
Leute, die sich nicht an die Hörner stoßen, ihm die Muff-
lonziege, die gewöhnliche Asiens, vorziehen. Sein Fließ
hinwieder ist vortrefflich und liefert eine reichliche Wolle von
mittlerer Qualität, den Haupterport der Euphrat-
ebenen. Sie könnte, wenn man ihr die Aufmerksamkeit,
wie in England und namentlich in Deutschland widmen
wollte, zweifelsohne die beste der Welt sein. Das Schaf
würde, wie das Kameel, das Pferd uud der Esel, seine
höchste Veredlung in Arabien erreichen. Mir sind
Wollenproben, den Merino - wie anderen Arten ähnliche,
zu Gesicht gekommen, von denen Kenner behaupteten, daß
sie au Feinheit und Seidenglanz alle ihnen bekannte Sorten
bei weitem überträfen. Dies sind leider vereinzelte Bei-
spiele. Statt die edleren Schafe abzusondern uud besonders
zu pflegen, und die roheren Rassen durch Kreuzung mit
auserlesenen Zuchtwidderu zu verbessern, läßt man die
Heerden durcheinander laufen und thnt nicht das Geringste,
um sie im Winter vor Hunger aus Mangel an Kräutern
und vor deu Einflüssen der rauhen Witterung zu schützen.
Beide werden den Heerden ebenso verderblich wie an-
steckende Krankheiten, gegen welche die Fatalitätslehre den
Eigentümern keine wirksamen Maßregeln zu treffen er-
laubt. So sterben die Schase in manchen Jahren massen-
hast aus.
Die erwähnten Uebelstände sind indeß nur gering in
Anschlag zn bringen im Vergleich mit den Verheerungen,
welche das Steuersystem der Regierung anrichtet. Die
den Heerden zufallenden Auflagen werden, wie alle sonstigen
Einkünfte der Pforte, an habgierige, höchstbietende Speku-
lauten verpachtet, welche natürlich nur das eine Interesse
haben: in Jahresfrist einen möglichst hohen Gewinn ans
ihrem Pacht herauszuschlagen. Zu dem Ende bezahlen sie
manischen Orient. 301
eine jener faulen, brutalen uud gefräßige», unter dem
Namen Awniieh bekannten Horden von türkischen Baschi-
bosuks und fallen mit diesem berittenen, prahlerisch bewafs-
neten Gesindel über ihre legitime Beute her. Nun geht es an
ein Erpressen, Rauben, Verwüsten. Der Pächter stellt For-
derungen für das Lamm int Mutterleibe, verlangt auf der
Stelle, was, wie er weiß, unter dem Landvolk nicht immer
zu finden ist, baares Geld, und nimmt in Ermanglung
desselben die Schase zu seinen Preisen in Beschlag. Unter-
dessen schwelgen seine Söldner und begehen außer der Ver-
uichtuug des Eigenthums uoch andere abscheuliche Ereesse.
Kurz, wenn die Bande abzieht, ist der arme Schäfer fo gut
wie vollkommeu ruinirt. Klagt er in Bagdad, solachen
ihn die bestochenen Richter entweder aus oder, was noch
weit türkischer ist, sie bestellen ihn ein paar Jahr hin-
durch so laug auf morgen wieder, bis er die Geduld ver-
liert uud nicht mehr wiederkommt.
Dabei bleibt es nicht. Die freien Beduinen glau-
ben die der Pforte zwangsweise unterworfenen Stämme
als Feinde behandeln zu dürfen und plündern sie bis vor
die Thore von Bagdad oft buchstäblich nackt aus, oder,
wenn ihre Streifparteien dazu keiue Zeit haben, entführen
sie ihnen wenigstens ihre hauptsächlichste Erwerbsquelle:
die Heerden. Dieselben Baschibosuks nun, welche so tapser
unter den gedrückten Fellahs bramarbasiren und aufräu-
meu, möchten, offiziell zu ihrem Schutze ausgeseudet, vor
Äugst iu eiu Mausloch kriechen, wenn sie auch nur auf
Meilenferne denSchatten eines Beduinen erblicken. Gleich-
Wohl stecken jene voll Flinten und Pistolen, uud diese führen
nichts als ihre lange Lanze mit dem Bambusschaft und
vielleicht zum Ueberfluß eine Streitaxt oder Keule. Es gibt
Beispiele, wo nahe an hundert zum Schutz einer Karawane
bestimmte Awniieh vor einem Dutzend friedlich reisender
Araber davongelaufen sind. Diejenigen ansässigen Stämme
hingegen, welche den Türken nur einen Tribut entrichten,
lassen sich nicht so geduldig wie die Fellah schinden, sondern
greifen, wozu man sie oft, um sie zu unterwerfen, reizt, zu
den Waffen. Zum Glück bieten ihnen die großen Sümpfe
des Euphrat und Tigris eine uneinnehmbare Deckung, sonst
wäre es mit ihrem Reisbau und ihrer Viehzucht bald für
immer vorbei.
Der Wollhandel, welcher meist seinen Weg über
Aleppo nach Marseille nimmt, wird durch arabische,
oder chaldäische des Landes kundige Zwischenhändler be-
trieben. Diesen Leuten vertrauen dieKanfleute — Schwei-
zer und Griechen vornehmlich — oft bedeutende Sum-
men an; sie reisen in das Innere zu deu verschiedenen
Stämmen und strecken den Eigentümern schon vor der
Schur uach einem Neberschlag, ohne Rücksicht auf Sorte und
Farbe, die bedungene Geldsumme vor; natürlich in der
Absicht, um von vorne herein eine etwaige Konkurrenz aus-
zuschließen. Wie man sieht, bernht selbst in diesen Wild-
nissen der Handel lediglich auf dem Credit. Vieler Ver-
lust ist jedoch mit diesen Transactionen verbunden, indem
oft schlechte Waare einläuft und die Eommifsionäre zuweilen
der ihnen anvertrautenBaarsummen beraubt werden. Man
vertheilt daher wo möglich das Geld. Im Ganzen lohnt
sich das Geschäft trotz aller Schwierigkeiten und Kosten!
Wie ganz anders, wenn einmal die projektirte Bahn
durch das Euphratthal zu Stande kommen sollte!
An Dampfschiffe ist aus tausend Gründen nicht zu denken.
Bis die Gesaiumtmasse der Wolle eingelaufen ist, wird sie
in der Eile etwas sortirt und in den Chans von Bagdad
untergebracht; sind dann die nöthigen Kameele gefunden,
so bringt man die Säcke auf Eseln, je eine halbe Ladung,
vor das Thor der Stadt. Nachdem man alle Vorbereitungen
302 Einblicke in den
gehörig getroffen, tritt die Karawane, oft zwei bis drei-
tausend Lastthiere stark, im Frühjahr ihren Marsch durch
die von Gras und Kräutern üppig strotzende mesopotamische
Prairie, Mossul sechs Stunden rechts liegen lassend,
nach Aleppo an. — Der Maulthierweg führt über
Kysfri und Kerkuk auf der linken Seite des Tigris durch
Chaldäa. Die arabische Wolle ist auf dem Platz von
Marseille aus eigensinniger Namensverwechslung als per-
fische bekannt. Im Durchschnitt dars man wohl behaup-
teu, daß der Wollhandel aus deu oben angeführten, der
Regierung allein zur Last zu legenden Ursachen, wodurch
steigeude Verteuerung des Artikels hervorgerufen wird,
immer mehr abnimmt.
Für den Eingebornen (was für alle Völkerschaften des
türkischen Asiens gilt) hat die Mufflonziege mindestens
denselben Werth wie das Schaf, indem uicht nur ihr Fleisch
von dem gemeinen Manu dem des letztern vorgezogen,
sondern auch ihre meist dunkelbraune Wolle allge-
meiner zu Bekleidungsstoffen verarbeitet wird; dahin ge-
hören vornehmlich: die Tunika der Fellahs, Mäntel, Tep-
piche und Zelte. Endlich ist die Ziege ausdauernder als
das Schaf. Von beiden benutzt mau die Milch zu Käse,
einem weißen, salzharten, geschmacklosen Produkt, uud zur
Kochbutter, die, mit Dattelsyrup vermischt, in Schläuchen
zu ziemlich hohen Preisen nach Bagdad gebracht wird.
Frische Butter ist eine Seltenheit und allemal schlecht. Man
bereitet sie, indem Weiber den Nahm der vorher gekochten
Milch in einem halbgefüllten Ziegenschlauch kneten und
schütteln, wodurch die Scheidung von den Molken, aber
nicht so vollständig wie bei unserm Butterfaß, bewirkt
wird. Gar mancher Händler verfälscht überdies sein Pro-
dukt mit dem unangenehmen Schwanzfett der Schafe.
Lämmer und Zicklein gelten im Frühjahr als das Höchste
der arabischen Feinschmeckern.
Von dem Hausgeflügel verdienen nur die vou den
unserigen nicht uuterschiedeueu Hühner Erwähnung. Sie
legen, gut gefüttert, fast das ganze Jahr hindurch Eier
und brüten "sehr fleißig. Eine hochbeinige weit weniger
produktive Rasse ist seltener. Truthühner sind nicht immer-
zu haben und stehen im Vergleich mit anderen Ländern der
Türkei hoch im Preis. Gänse und Enten gehören volleuds
zu den Ausnahmen, obschon sie ebenso gut wie wo anders
gedeihen, aber ihr Fleisch ist wenig beliebt.
Zu anderen minder Nutzen gewährenden Thieren zählen
die im Orient überall einheimischen, hier demSchakal ähn-
lichen Straßenhunde, eckelhafte Schmarotzer, die sich,
im Sommer ihrerseits mit zahllosen Zecken behangen, von
Abfall und Aas nähren. Der Hund liebt den haut; goüt
und greift feine Beute vorzugsweise am dritten Tage an;
zuweilen scharrt er Leichen aus. Diese Bestien vertheilen
eine Stadt unter sich in Distrikte und halten scharfe Wache,
daß kein Marodeur sich auf fremdes Gebiet wage. Jeder
Genossenschaft steht eiu besonders kräftiger Köter als Haupt-
ling vor, dem sein Stamm bei allen irdischen Genüssen den
Vorrang läßt. Wehe dem Rebellen, der ohne seine Erlaub-
uiß einen noch ungegohrenen Esel antastet! Auch bean-
spracht er das jus primae noctis. Seine Würde ist indeß
nicht erblich und verliert sich mit der Kraft und dem Gebiß.
Jagdhunde können die Hitze nicht vertragen und bleiben,
wenn überhaupt, felteu drei Sommer hindurch am Leben.
Windhunde von der vortrefflichen kurdischeu Rasse
gibt es viele, und derJagdliebhaber stellt sie an Werth mit
den Pferden auf eine Linie. Mit ihnen hetzt man die
Antilopen, doch es geliugt gewöhnlich nnr die jüngeren
dieser außerordentlich flüchtigen Thiere zu greisen. Oft-
mals kommt es zum Kampfe, wo dann die spitzen gemsen-
manischen Orient.
artigen Hörner der Böcke den Hund übel zurichten oder
gar tödteu.
Die Katzeu stehen mit den Straßenhunden in einer
Kategorie; während diese den Boden als ihre Domäne an-
sehen, hausen jene massenhaft auf den flachen Dächern als
überlästiges Raubgesindel ohne Eigenthümer. Sie ernähren
sich von Tauben, Sperlingen und von den guten Dingen,
welche sie in Folge ihrer Klettergewandtheit in unbewachten
oder schlecht verschlossenen Küchen und Vorrathskammern
ergattern können. Eine heilige Scheu, hervorgegangen aus
der Erzählung der Sunny, wonach der Prophet den Zipfel
seines Mantels abgeschnitten habe, um seine Lieblingskatze
nicht zu wecken, verhindert die Mohammedaner, Mittel
gegen die Stadtplage zu ergreifen. Unterdessen ist das gut
im Stand gehaltene Kloakensystem von Legionen von Ratten
uud Mäusen bevölkert, die glücklicherweise das Tageslicht
scheuen. — Tauben werden fast nie gegessen, sondern
dienen zur Belustigung junger Taugenichtse, die sie vou
der Terrasse, wo sie brüten, aufjagen und mit einem Wedel
vom Rückflnge abfcheuchen, um deu Glanz ihrer Fittige
und die schillernden Halsfedern im Sonnenlicht bei ihren
Flugkreisen zu bewundern. Namentlich erfreuen sie sich an
den Purzelbäumen, die eine Abart in der Lnft schlägt.
Die No ah taube, ein größerer Vogel mit langem Schna-
bel, soll sich vorzüglich zur Briefträgerin eignen, wiewohl
ich uie vou einer praktischen Anwendung derselben etwas
in Erfahrung bringen konnte. Fast in jedem Hause, wo
sich eiu Loch iu dem untern Holzwerk des Daches findet,
nisten Wildtauben, während die Turteltauben mehr
die Vorsprünge am Hause und die im Hof stehenden Bäume
liebt. Dieser Umstand erklärt die im alten Testament den
Armen vorgeschriebenen Opfer von zwei jungen Tauben
oder Turteltauben. Dem Orientalen sind beide so ziemlich
heilig (haram), der Europäer aber thut wohl daran, wenig-
stens die eben flügge gewordene Brut iu den Bereich seiner
sonst so kärglich bestellten Tafel zu ziehen. Ihr unauf-
hörliches Gurreu ist dem Eiueu eine idyllische, dem Andern
eine unausstehliche Musik.
Einen charakteristischen Zug in dem Bilde Bagdads
bilden unstreitig die ja auch in Norddeutschland so bekann-
ten Störche. Dort wie hier, nur in noch weit bedeuten-
derer Anzahl, halten die hochbeinigen Langschnäbler im
Frühjahr ihren Einzug und nisten auf der Bedachung der
Windfänge, indem sie das Material zu ihrem Bau vor-
zugsweise aus dem Dorngesträuch zupfen, welches man
oft auf deu Scheidemauern der Häuser anbringt, um den
Katzen den Uebergang zn erschweren. Ende Juli, wenn
den Jungen die Schwingen erstarkt, entfliehen die Störche
der gransamen Temperatur uud ziehen iu kühlere Gegen-
den. Während ihrer Anwesenheit hört man ein sortwäh-
rendes Klappern, Zischen und Flügelranschen Tag und
Nacht. Der Araber zollt dem ernsten Vogel denselben
Respekt wie der uiederdeutsche Bauer. Den Winter über
hält sich der Storch wahrscheinlich in den großen Sümpfen
des Landes auf; ich bin wenigstens im Februar einigen
Exemplaren an den Wassergräben zwischen Kyfsri uud
Kerkük begegnet.
Zu dem Gethier der Stadt, an dem alle Welt grade
kein besonderes Gefallen findet, zählen die Schlangen.
Es gibt deren in allen Häusern und eine Menge Abarten.
Obschon einige eine Länge von 10 Fuß erreichen, so ist doch
keine derselben giftig, gleichwohl werden sie von den Ein-
gebornen überaus, doch mehr als böse Geister, wie als
Schlangen gefürchtet. In Wahrheit stiften sie den größten
Nutzen, indem sie der von den Katzen fast ungestörten Ver-
mehrung der Ratten und Mäuse kräftig Einhalt thun; sehr
Fr. Brinkmann: Stadt Steyer.
303
selten wird ein Küchlein oder eine junge Taube von ihnen
mehr aus Mordlust wie aus Gefräßigkeit erwürgt. Die
elftere Eigenschaft ist ja dem Ungeziefer gegenüber nur
schätzenswerch. Die Harmlosigkeit der Schlangen in der
Stadt schreiben die Bewohner dem Zauberspruche eines
heiligen Jmams zu, der gerührt von deu vielen Unfällen,
die früher vorgekommen, ihnen die Giftkraft genommen
habe. Noch heute prahlen Derwische und andere Kerle, die
als geseit uud mit geheimen Mächten im Bunde gelten
wollen, vor dem Volk mit einer unglücklichen Schlange,
die gar keine böse Absicht hat noch haben kann. Angesichts
dieses Aberglaubens hält es schwer, sich eine Sammlung
dieser interessanten Reptilien anzulegen.
Ein weit gefährlicherer und durchaus häufiger Böse-
wicht ist der meist flaschengrüne bis zu 4 Zoll heran-
wachsende, am Schweis mit krummem Giftstachel bewaffnete
Skorpion. Am Tage versteckt er sich, bei Nacht aber bricht
er mit zahlreichen Genossen, den Schweis auf den Rücken
gelegt, mit rasselndem Panzer aus seinem Schlupfloch
hervor und jagt nach Insekten. In der Dunkelheit ist es
daher nicht rathsam im Hanse herumzugehen und die Hand
an die Mauern zu legen; selbst auf deu Straßen schwärmen
die giftigen Abenteurer. Sehr viele Personen werden von
ihnen gestochen, doch sind die schlimmsten Folgen höchstens
ein Fieberschauer; sofortige Anwendung von Ammoniak-
geist verhütet weitere Beschwerden. In ganz Irak dagegen
verrufen ist der g e l b e Skorpion von M e n d a l i, einer
kleinen türkischen Grenzstadt auf dem Wege von Bagdad
nach Kermanschah. Bei dem Ort befindet sich ein Platz,
wo die Karawanen gewöhnlich lagern und ans demselben
viel Spreu und schnell trocknenden Mist zurücklassen. Iu
diesem Kehricht haust das gefürchtete Insekt und sticht,
wenn es zufällig gedrückt wird, den einen oder andern
sorglos schlafenden Knecht oder Pilger. Das Schlimmste
ist, daß der Verletzte anfangs die Wunde gar nicht bemerkt;
erklärt sich aber das Gift, so ist es gewöhnlich zu spät und
er muß ohne Rettung sterben. Selbst größere Thiere fallen
dem kleinen Mörder zum Opfer. Trotz einer fo grausamen
sich jährlich mehrmals wiederholenden Erfahrung fällt es
keinem Menschen ein, den erwähnten Schutt zusammen-
zuschaufeln und zu verbrennen; nein — wo gestern Einer
ums Leben gekommen, legt sich morgen ein Anderer mit
dem unerschütterlichen Glauben an sein Verhängniß schla-
fen. Hierbei ist wahrlich nichts zu bewundern; denn hinter
der Fatalität versteckt sich ein anderer Götze, dem man cigent-
lich huldigt: die Faulheit.
Hornissen überschwärmen in manchen Jahren die
Stadt, doch trägt ein schöner grüner Vogel mit langem
gelben Schnabel viel zu ihrer Vertilgung bei. In nnge-
heuerer höchst lästiger Menge finden sich im Frühjahr und
den ganzen Sommer hindurch die Stubeufliegeu ein
und wachsen oft zu einer wahren Landplage an; jeder
Bissen im Munde wird Einem von dem leidigen Geschmeiß
bestritten. Um vor ihm Ruhe zu haben und gleichzeitig
Kühlung zu geben, müssen während der Mahlzeit Diener
beständig fächeln. Leider sind ihre natürlichen Gegner,
die Spinnen, Schlupfwespen und großen Bremsen,
allzu sehr in der Minderzahl; auch kein Vogel hält sie
für besonders lecker. Nicht minder lästig bewähren sich die
Schnacken und Mücken, worunter auch die fast unsicht-
bare Sandfliege, und wiewohl sie nicht in so enormer
Anzahl wie etwa in den Niederungen der Guyana austreten,
sind sie immerhin ein Schlas und Ruhe Verscheucheudes
Ungeziefer. Zu einer gewissen Jahreszeit hat man nur
zwischen ihnen und einer erstickenden Hitze unter dem noch
so feineu Mosquitonetze die Wahl; nach einigen qualvollen
Nächten flüchtet man sich dann gewöhnlich auf die Terrasse.
Ihre Feinde sind am Tage die Schwalben, in der Nacht
die sehr zahlreich schwärmenden Fledermäuse. Kakerlaken
gibt es, Wanzen fehlen ganz, um so vielfältiger siud da-
gegen die Flöhe vertreten, und den haarreichen Häuptern
der wohlhabendsten eingebornen Damen fehlen bekannte
stille Einsiedler ebensowenig wie den Kleidern ihres Gatten.
— Ein harmloses Haitsreptil darf ich nicht vergessen, näm-
lich den Geko, eine hellgelbe bis weiße kleine Eidechse, die
den Tag über unbeweglich an den Stubenwänden sitzt und
Nachts auf den Jnsektenfang ausgeht. Charakteristisch ist
der eigenthümliche schwache nicht unmelodische Ton, den sie
bisweilen von sich gibt uud die Geschicklichkeit, mit der sie,
wie eine Fliege, an glatten Plafonds hinläuft.
t a d t Steyer.
Studie von Dr. Friedrich Brinkmann.
III.
Das Gewerbsleben der Stadt und seiue
geschichtliche Entwicklung.
Es wurde schon oben gesagt, daß der Anfang der Stadt
in der Erbauung der Burg durch das Geschlecht der Otto-
kare zu suchen ist. Es war dies aber mehr die äußere Ver-
anlassung ihres Entstehens, als der innere Grund. Wenn-
gleich jene Burg und die Hofhaltung der Markgrafen gewiß
viele Handwerker und Kaufleute herbeizog uud die An-
siedelnng manches adeligen Hanfes in der unmittelbaren
Nähe veranlaßte, so läßt sich doch mit Bestimmtheit be-
hanpten, daß, wenn auch die Burg uicht hier gestanden
hätte, dennoch genau an dieser Stelle ein städtisches Ge-
meinwesen entstanden wäre. Steyer ist mit innerer
Nothwendigkeit aus der Natur seiner näheren
und ferneren Umgebung hervorgewachsen.
Die unzerstörbare Wurzel, woraus alle seine Gewerbe
und sein Handel hervorgewachsen sind, und die nach allen
herben Verlusten ihm rasch wieder neue Lebenskräfte zu-
führte, liegt tief in den Bergen des nach ihm benannten
Landes, dessen Hauptstadt es einst war, der Steyermark,
versteckt. Es ist das Eisen der Steyermark.
So weit die Geschichte dieses Landes in das Alterthum
hinauf verfolgt werden kann, finden sich auch Spuren der
304 Fr. 33vtnTitian
Eisenindustrie. Schon bei den Römern war das
steyermärkische Eisen, das norische, wie sie es nannten
(ensis Noricus), als das beste berühmt, noch ehe sie das
Land besaßen, als noch die Kelten es inne hatten, die be-
kanntlich in der Gewinnung und Bearbeitung der Metalle
sehr geschickt waren. So lange die Römer die Herren des
Landes waren (seit dem I. 15 n. Chr.) wurde die Eisen-
indnstrie eifrig sortbetrieben. Die Wirren der Völker-
Wanderung aber, insbesondere die verheerenden Streifzüge
der Avaren, brachten eine so völlige Unterbrechung aller
friedlichen Gewerbthätigkeit mit sich, daß das Andenken
dieser alten berühmten Eisenbergwerke völlig verloren ging,
und sie später von Neuem wieder eutdeckt werden mußten.
Dies Verdienst gebührt den Slaven (Winden), welche
nach den Avaren lange Zeit im Besitze des Landes waren
(daher der alte Name die „Windische Mark") und in
manchem noch geltenden Ortsnamen (z. B. Windisch-
Garsten) ihr Andenken erhalten haben.
Vor allen metallhaltigen Bergen Steyermarks zeichnet
sich aber durch die Menge und Gediegenheit, in der das
Eisen vorkommt, der im nördliche» Theile des Landes, etwa
in der Mitte zwischen Hieflau und Leoben liegende Erz-
berg aus. Er besteht durch und durch aus Eiseustein, und
dazu ist er größtentheils so rein und liegt so offen zu Tage,
daß er ohne eigentlichen Bergbau weggebrochen werden
kann. Der Segen, welcher sich an die Verarbeitung dieses
Eisensteins und den Vertrieb der so mannigfaltigen daraus
gewonnenen Gegenstände knüpfte, mußte aber naturgemäß
denjenigen Gegenden besonders zu Theil werden, welche
an den beiden Flüssen liegen, die in geringer Entfernung
vom Erzberge vorbeifließeu, der Muhr im Süden, der
Enns im Norden. Es waren dies die beiden großen nach
Norden und Süden weisenden Straßen, ans denen das Erz
abgeführt werden mußte, um durch viele tausend geschäftiger
Hände hindurchzugehn und zu Werkzeugen der Kultur ver-
arbeitet zn werden. Das nördliche Steyermark und Ober-
öfterreich waren die natürlichen Verarbeitungsgebiete des
Eisens des Erzberges.
Was aber Oberösterreich insbesondere betrifft, so war
es wieder ebenso nothwendig, daß gerade in der Gegend
vonSteyer die Eisenindustrie ihren Höhepunkt
und Mittelpunkt fand. Denn wegen seiner Lage am
Vereinigungspunkte der Steyer mit der Enns konnte es
aus den großen Waldungen, die beide durchfließen, beson-
ders reichlich mit Flößholz versorgt werden, und was noch
wichtiger ist, während die Enns zu groß ist und einen zu
heftigen Strom hat, als daß sie zur Anlage von Eisen-
hämmern und sonstigen Eisenwerken benutzt werden könnte,
eignet sich die kleinere und ruhigere Steyer vortrefflich
dazu. Die Entfernung der Stadt von der Einmündung
der Enns in die Donau beträgt aber kaum drei Meilen.
Die hier gewonnenen und aus der Umgegend zusammen-
strömenden Eisenwaaren können daher mit Leichtigkeit von
hier nach der Donau und in den Welthandel gebracht
werden, und so war Steyer durch seine Lage ebensowohl
zum Mittelpunkte des Eisenhandels als der Eisen-
indnstrie Oberösterreichs berufen.
In echt mittelalterlicher Weise suchten nun aber die
Landesherren noch durch allerlei künstliche Mittel, durch
Ertheilung von Privilegien an die Stadt und
durch willkürliche Beschränkung anderer Städte das Wachs-
thnm und den Wohlstand Steyers zu fördern. So hatte
dieses schon seit alten Zeiten das Privilegium, daß alles
Eisen, welches aus Steyermark uach Oesterreich ausgeführt
wurde, nach Steyer gebracht und dort den Bürgern drei
n: Stadt Steyer.
Tage laug zn einem von zwei unbescholtenen Männern
festgesetzten Preise seilgeboten werden mußte. Nur das,
was in dieser Weise nicht verkauft werden konnte, durfte
weiter gebracht und anderswo verkauft werden. Dasselbe
Recht hatten die Bürger in Bezug auf das Holz, welches
durch die Stadt kam, und das Eine wie das Andere wurde
in dem sogenannten großen Privilegium, welches Albrecht I.
im Jahre 1287 ihnen gab, bestätigt. Durch dieses Vor-
kaufsrecht hatten sie die ganze Eisenindustrie und den
Holzhandel auf der Enns und der Steyer in ihrer Hand.
Um ferner ihren aus dem Eisenhandel hervorgegangenen
Handel mit anderen Waaren, namentlich mit sogenannten
vcnetianischen Waaren recht emporzubringen, bestand seit
alten Zeiteu das Verbot, daß außer deu Steyreru Nie-
manden als den Bürgern von Linz, Enns, Gmunden und
Freistatt erlaubt sein sollte, aus dem nächsten Wege über
Klans und denPyrrhnpaß nach Venedig zu fahren. Beson-
ders scharfe Verordnungen waren aber gegen die Bürger des
nur wenige Meilen vonSteyer entfernten Waidhofen erlas-
sen, um ihnen alle Konkurrenz mit Steyer unmöglich zu ma-
cheu. — Bei dieser großen Gunst der Lage und der Gewalt-
Haber ist es nicht zu verwundern, daß Steyer sehr früh eine
der bedeutendsten Industrie - und Handelsstädte Oesterreichs
wurde, und feilte auf so festem und altem Grunde ruhende
Thätigkeit uach alleu noch so harten Geschicken sich immer
rasch aufzuraffen und den verlornett Wohlstand wieder zu
schaffen vermochte. Die weiteren mannigfaltigen Wechsel-
fälle können wir hier nicht genauer verfolgen und wollen
nur noch bemerken, daß gleich nach den Religionskriegen,
etwa iu deu Jahren 1630 bis 1670, und nach den Kriegen
mit Frankreich zu Anfang dieses Jahrhunderts, ums Jahr
1820, der Wohlstaud der Stadt am meisten darniederlag.
Auch jetzt hört man wieder mancherlei Klagen. Namentlich
sollen die Seuseuschrniede seit mehren Jahren bedeutend
weniger als sonst absetzen und die Ausfuhr nach Rußland,
Polen, Amerika und Frankreich sehr ius Stocken gerathen
sein. Indessen treffen diese Uebelstände bis jetzt mehr die
kleineren Orte Oberösterreichs (z. B. Scharnftein im Alm-
thale) als Steyer selbst. Dieses ist noch immer die
lebhafteste Stadt Oberösterreichs, es übertrifft in
dieser Beziehung sogar die Landeshauptstadt Linz, und seine
schmucken Häuser tragen durchschnittlich das Gepräge von
Wohlhabenheit.
Folgeudes ist eine kleine Uebersicht über den jetzi-
genBestand der hiesigen Eisenindustrie. Am zahl-
reichsten sind und waren von jeher die Messerschmiede (60
im Jahre 1840), dann kommen die Ahlschmiede (19), die
Nagel- und Zweckschmiede (20), die Feilenhauer (14),
die Klingenschmiede (10), die Scheermesserer (12), die
Schleifer (9), die Zirkelschmiede (4), die Zengschmiede (4)
n. s. w. Von den 23 Handlungen beschäftigen sich 9 blos
mit dem Vertrieb der Eisenwaaren. Die meisten Schmiede
wohnen in dem lang an der Steyer sich hinstreckenden
Steyerdorf. Gar keine sind in der eigentlichen Stadt. Hier
sind nur die Handlungen. Die Seelenzahl der Stadt mit
den Vorstädten beläuft sich auf ungefähr 11,000.
Hervorgehoben muß noch werden, daß neben der Eisen-
indnstrie und dem Eisenhandel noch eine Menge anderer
kleiner Gewerbe hier blühen, die einen nichtnnbeträcht-
lichen Theil ihrer Erzeugnisse an die überaus zahlreich
hierher kommenden Landleute absetze«, da Steyer der
Markt für einen sehr großen Bezirk ist, an Markt-
tagen alle Straßen der Stadt von Landvolk wimmeln und
selbst der außerordentlich große Marktplatz für das Ge-
dränge von Wagen und Menschen zn klein zn sein scheint. —
Alls Samuel White Bakers Reise in die Region der Rituellen.
Aus Samuel White Baliers Reise in die Region der Nilqnellen.
305
Samuel Baker als Reisender. — Schilderung von Chartum. —
dem Weißen Nil und dessen Betrieb. — Die Nazzias beim Elfe
Icindschaft am Weißen Nil. — Verkehr mit den Nnehrnegern; die
Die Kylschneger mld ihr trauriger Zustand. — Die österreichische
in Gondokoro. — Die Sklavenhändler und die Barineger. — C
nach der Seeregion. —
Männer von Bakers Schlage sind selten. Wir finden
bei ihm einen ausdauernden Mnth, der auch vor dem
Schwierigsten nicht zurückbebt, und in Verhältnissen, welche
sich als geradezu hoffnungslos darstellen, bewahrt er sich
seine Zuversicht auf günstigen Erfolg. Er hat sich ein
großes Ziel gesteckt und das will er um jeden Preis er-
reichen; es ist sein Vorsatz, den Luta Nzige-See zu er-
forschen und ausfindig zu machen, in welchem Verhältnisse
der aus Speke's Victoria Nyauza-See abfließende Strom
zu jenem steht, welcher aus jenem Luta Nzige abfließt;
er fetzt Alles daran, diesen Punkt sestzustelleu. Keine von
den vielen Gefahren, welche in dem urwildeu und ganz
barbarischen Lande der Schwarzen ihm entgegenstarren, hat
er sich verhehlt, er weiß, was ihm bevorsteht, aber er schreckt
davor nicht zurück. Wir finden in ihm einen vollendeten
Mann mit klugem Kopf und klarem Blicke, mit einer
geradezu preiswürdigen Begeisterung für die Wissenschaft,
mit dem nicht zu beugeudeu Willeu, ein großes Problem zu
löfeu. Und bei aller Energie tritt stets das Reinmenschliche
in ihm hervor. Ein erhöhtes Interesse gewinnt seine Reise
noch dadurch, daß seine jugendliche Gemahlin ihn begleitete
und alle Beschwerden und Entbehrungen mit wahrhaft
tapferm Geist ertrug.
Wir möchten Baker unter die gesunden Reisenden
rechueu und ihn neben deu vortrefflichen Richard Burton
stellen, den Entdecker des Tanganyika - Sees. Welch
ein Gegensatz zwischen dem körnigen Baker, der mnerkich
durch und durch frei ist und einfach und klar schildert,
was er beobachtete, und Livingstone, der zwar an Mnth
und Ausdauer hinter ihm nicht zurücksteht, aber wenig
gebildet, unwissenschaftlich und dogmatisch voreiugenom-
mm, stets nach dem englischen Missionspublikum der
Ereterhalle hinblickt und sich für eine unbefangene, wissen-
schaftliche Auffassung der Dinge geradezu unfähig zeigt.
Der Missionär Livingstone idealisirt die wilden Barbaren,
der Forschungsreisende schildert einfach, was er gesehen und
erlebt; jener gefällt sich in pfeudophilauthropischeu Gemein-
plätzeu und oftmals in sinnlosen Reflexionen; dieser gibt
der Prosa des gesuudeu Meuscheuverstaudes die Ehre, sucht
die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, liebäugelt nach
keiner Seite hin und schreibt einfach, aber vortrefflich und
im hohen Grad auzieheud.*)
Am 15. April 1861 verließ er mit seiner Frau Kairo
und ging zunächst auf ein Jahr nach dem nördlichen Abyfsi-
nien und dessen Grenzländern, um sich in der arabischen
Sprache zu vervollkommnen und nicht ferner von einem
Dolmetscher abhängig zu sein. Am 11. Juni 1862 war
*) The Albert Nyanza, the great basin of the Nile
and explorations of the Nile sources; by Samuel White B a k er,
gold medallist of the royal geographical society. London 1866,
2 Bände mit Jllustratioueu und 2 Karten.
Globus X. Nr. 10.
Traurige Zustände im ägyptischen Sudan. — Der Handel ans
nbeinhandel. — Methode "beim Sklavenranbe. — Die öde Ufer-
eiserne Leopardenkralle. — Delikatesse aus Hippopotamusfleisch. —
Mission zum Heiligen Kreuz und ihre Erfolglosigkeit. — Ankunft
?peke's uud Grants Ankunft. — Instruktionen für Bakers Reife
Abreise von Gondokoro.
er in Chartum. Dort gewann er einen tiefen Einblick
in die türkisch-ägyptische Mißwirtschaft.
Die „Hauptstadt des ägyptischen Sudan", 15° 29'
nördl. Br., liegt bekanntlich auf der Laudspitze zwischeu
dem Blauen und dem Weißen Nil. Armseliger, schmutziger
und ungesunder kann keiue Stadt fein; so weit das Auge
reicht, erblickt man nur Sandwüste. Die Häuser bestehen
zumeist aus ungebrannten Backsteinen, und bei Hochwasser
werden die Straßeu manchmal unter Wasser gesetzt. Obwohl
Z0,0()V Meufcheu dichtgedrängt beisammen wohnen, fehlen
doch Gossen und Abzugskanäle, der üble Geruch ist pesti-
leuzialisch; gefallene Thiere bleiben liegen; Alles ist ab-
scheulich. Einig? weuige rechtschaffene Handelshäuser siud
vorhaudeu, Deutsche, Frauzoseu uud Italiener; die Ge-
sammtzahl der Europäer betrug uur etwa 30 Köpfe. _ Ab-
gesehen von den Schwarzen, welche die Hauptmasse der
Bevölkerung bilden, wohnen in Chartum auch Griecheu,
Syrer, Kopten, Türken, Armenier, Araber und Aegypter.
Baker schildert die schlechte Regierung des General-
gonvernenrs Mnsa Pascha; wir wollen aber nicht näher
daraus eingehen. Alles faßt sich zusammen in den Worten:
„Elende Verwaltung, Monopol, Erpressung, Druck; tlie
Türk never improves".
„Der ägyptische Sudan bietet deu Anblick eines
allgemeinen Elendes dar; er hat auch uicht einen einzigen
Anziehungspunkt, welcher den Europäer entschädigen könnte
für das pestilenzialifche Klima und die brutale Barbarei.
Ein Fremder wird es für die größte Thorheit erklären, daß
die ägyptische Regierung ein Land behält, das ihr keinen
Nutzen uud keinen Vortheil bringt; die Einnahmen sind,
trotz des Steuerdrucks, viel geringer als die Ausgaben.
Dieser Sudan ist weit von der Seeküste eutsernt und von
Wüsteneien umschlossen; der Transport der Waaren ist
so schwierig und theuer, daß ein ausgedehnter und be-
trächtlicher Handelsverkehr gar nicht stattsiudeu kann. Den
wichtigsten Artikel bildet das Gnmmi, und von diesem
kommt die beste Art aus Kordofau; andere Erportwaaren
siud Senna, Häute und Elfenbein. Sie müssen
sämmtlich auf Kameelen transportirt werden, denn durch
die Nilkatarakten zwischen Assuan uud Chartum ist die
Stromschifffahrt sehr lästig. Häufig leidet das Laud uutcr
anhaltender Dürre; dann sterben Rindvieh und Kameele
aus Mangel an Weide in großer Menge hinweg, es fehlt
an Trausportthiereu, uud aller Handel stockt. Unter so
bewandten Umständen ist der Sudau ganz werthlos und er
hat nicht einmal politische Wichtigkeit. Aber die Aegypter
halten ihn fest, weil er Sklaven liefert.^
„Ohne den Handel auf dem Weißeu Nil würde Chartum
sofort in völligen Verfall gerathen, und dieser ganze
Handel besteht in Raub und Mord. Der Charak-
ter der Chartumer ist weltberüchtigt. Das Elfenbein,
39
306 Aus Samuel White Bakers N>
welches sie vom V^e^'en Nil her erhalten, beträgt im Jahre
den Werth von höchstens 300,009 Thalern."
Dieser schnöde Handel wird betrieben von Syrern,
Kopten, Türken, Cirkassiern und auch einigen En-
ropäern.
Geld ist im ganzen Sudan selten und der Zinsfuß
so exorbitant, daß er von 66 bis 80 Procent beträgt. So-
mit ist er ein Hinderniß für jedes rechtschaffne Handels-
unternehmen; aber der gewissenlose Spekulant borgt dazu
Geld, und eine erfolgreiche Expedition auf dem Weißen NU
hält ihn schadlos. Es gibt zwei Klassen solcher „Nil-
Handelsleute"; die eine besitzt Kapital, die andere ist ohne
alle Habe, beide befolgen jedoch dasselbe System.
Ein Spekulant borgt Geld auf und verpflichtet sich,
dem Darleiher die Summe in der Art zu bezahlen, daß er
ihm für den Betrag eine Quantität Elfenbein für die
Hälfte des Marktpreises überläßt. Dann miethet er einige
Schiffe und 100 bis 300 Leute, zumeist Araber und Tauge-
nichtse, die aus entfernten Gegenden nach Chartum geflohen
sind. Er kaust Gewehre, Schiffsbedarf und einige Centner
Glasperlen; seinen Leuten zahlt er den Lohn für fünf
Monate im Voraus und zwar fo, daß sie für den Monat
45 Piaster, das sind 3 deutsche Thaler, erhalten. Für
jeden Monat mehr bekommt der Mann 80 Piaster. Die
Vorschüsse bezieht er theils baar, theils in Baumwollen-
zeug zu hohem Preise. Jeder hat ein Blatt Papier, auf
welchem der Schreiber der Expedition vermerkt, was jener
an Geld oder Waare bekommen hat. Die Schiffe fahren
im Dezember ab, landen dann an einer geeigneten Stelle,
und die Mannschaft begibt sich ins Innere nach dem Dorf
eines Negerhäuptlings, mit dem sie in Verbindung treten.
Er verbündet sich mit denselben gegen einen Nachbar, mit
welchem er in Fehde liegt, und man verabredet einen Ueber-
fall, der gewöhnlich eine halbe Stunde vor Tagesanbruch
ausgeführt wird, wenn die Leute im Dorfe noch schlafen.
Man steckt die Grashütten in Brand und feuert nach allen
Richtungen in dieselben hinein. Die Unglücklichen suchen
sich aus den Flammen zu retten und wollen entfliehen, aber
die Männer werden, wie das Wild auf einer Treibjagd,
niedergeschossen, während man Weiber und Kinder gefangen
nimmt. Man bindet sie vermittelst der Scheba, einer
Stange mit einer Gabel, aneinander, in welche der Kopf
hineinpaßt; die Arme werden vorne an die Stange ge-
bunden und die Kinder mit Stricken an den Müttern
befestigt. So bilden sie eine lange, lebendige Kette und
werden, mitsammt dem geraubten Rindvieh, nach den
Schiffen getrieben.
Auf solche Weise nimmt das Geschäft seinen Anfang.
Es versteht sich von selbst, daß das ganze Dorf aus-
geplündert wird. Man wühlt den Fußboden in den
Hütten auf, um nach Elfenbein zu suchen und nach eisernen
Hacken, welche einen Hauptreichthum der Neger bilden; die
Getreidespeicher werden zerstört und die Arm- und Bein-
knochen der Erschlagenen abgehauen, damit man die Eisen-
und Kupferringe, welche als Zierrath dienen, bequem ab-
löfeu kann. Dergestalt mit Beute beladen, ziehen die
„Kaufleute" iu das Dorf des verbündeten Häuptlings
ein, und dieser ist ganz entzückt, daß sein Feind gezüchtigt
worden ist. Ohnehin bekommt er vielleicht 30 bis 40
Stück Vieh und ein junges Mädchen für seinen Harem.
Dann nimmt die Sache ihren weitern Fortgang. Der
Negerhäuptling möchte gern noch mehr Vieh haben, und die
Kaufleute haben wohl an 1500 Stück oder mehr erbeutet.
Wer nun Elsenbein bringt, kann Vieh bekommen, etwa so,
daß man ihm eine Kuh für einen Zahn gibt. Da dieselbe
Nichts gekostet hat, so bringt das Geschäft natürlich Profit.
e in die Region der Nisquellen.
Der Handel wird lebhaft, es müssen aber einige Bräuche
beobachtet werden, die am Weißen Nil herkömmlich ge-
worden sind. Die Sklaven und zwei Drittel des geraubten
Viehes gehören dein Unternehmer, aus dessen Risico die
Expedition unternommen wurde; ein Drittel kommt seinen
Leuten zu gute. Die Sklaven werden demnach unter diese
vertheilt und dann öffentlich versteigert, so daß jeder nach
Belieben kaufen mag. Der Betrag wird auf dem oben
erwähnten Papiere (Serki) angemerkt und gegen Lohn
gutgeschrieben. Dabei bedient sich jedoch der Schreiber
einer Fälschung, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, die
ja folgen könnten, wenn das Papier in die Hände eines
europäischen Eonfuls gelaugte. Man rechnet z. B. den
Sklaven zu 1000 Piaster, sagt aber davon kein Wort in
der Rechnung, sondern notirt statt dessen einen fingirten
Empfang von: Seife 50 Piaster, Tarbusch 100, Brannt-
wein 509, Schuhe 200, Baumwollenzeug 150. Die Leute
treiben dann mit ihren Sklaven einen Handel unter sich
hin und her; Einige werden wohl von ihren Verwandten
gegen Elfenbein ausgelöst; wer zu entrinnen versucht, wird
unbarmherzig gepeitscht oder auch wohl, damit ein Exempel
statuirt werde, erschossen oder ausgehäugt.
Solch eine Razzia hat im weitern Verlause gewöhnlich
eine Fehde mit dem verbündeten Häuptling im Gefolge, der
dann seinerseits ausgeplündert, auch wohl ermordet wird.
Man nimmt dann sein Vieh, seine Weiber und Kinder als
gute Beute mit.
Eine Partie von 150 Leuten hat eine gute Saisou,
weun sie etwa 20,000 Pfund Elfenbein nach Chartum
bringt. Dort ist die Waare etwa 28,000 Thaler Werth.
Die Leute werden in Sklaven bezahlt, die nichts gekostet
haben, und der Unternehmer behält seinerseits gewöhnlich
400 bis 500 Sklaven, die einen Marktpreis von 5 bis 6
Pfund Sterliug, also 35 bis 40 Thalern haben.
Man packt die geraubten Menschen in Boote, und ein
Theil der Leute des Unternehmers bringt dieselben nil-
abwärts, während der andere Theil oben bleibt und ein
Lager bildet. Von demselben aus wird weit und breit umher
geplündert und massakrirt und der Sklavenfang betrieben,
bis im nächsten Jahre der Unternehmer mit Schiffen wieder
von Chartum heraufkommt, um auch diese Beute in Empfang
zu nehmen. Die Sklaven landet er an einer Stelle, die
allemal einige Tagereisen von Chartum entfernt liegt; dort
finden sich Agenten und Käufer ein, zumeist Araber, und
bezahlen die Waare mit baarem Gelde. Diese treiben die
Sklaven nach verschiedenen Gegenden, z. B. nach Sennar,
wo Zwischenhändler sind, welche den Weiterverkauf an die
Araber und Türken besorgen. Manche werden nach Häsen
am Rothen Meer, namentlich Suakim und Massawah ge-
bracht und dort nach Arabien oder Persien verschifft. Auch
geht ein Theil bis nach Kairo.
Man sieht, in welcher Weise der biedere Elfenbein-
Händler ein profitables Geschäft macht, und daß er wohl im
Stande ist, die ausgeborgte Summe zurückzuzahlen. ^
Seit 1864 sind zeitweilig diesem abscheulichen Handel
ani obern Nil einige Schranken gesetzt worden, weil die
europäischen Mächte ein ernstes Wort darein geredet haben,
doch ist es sehr wahrscheinlich, daß der alte Unfug wieder
einreißen werde.
Baker wollte zunächst nach Gondokoro, dem Punkt
also, bis wohin der Weiße Nil schiffbar ist, und das 45 bis
50 Tagereisen von Chartum entfernt liegt. Er hatte als
Bedeckung 45 Bewaffnete nöthig, sodann 40 Bootsleute,
mehre Diener, im Ganzen 06 Leute, miethete 3 Schiffe und
Aus Samuel White Bakers R
versorgte sich mit dem erforderlichen Proviant. Als Trans-
portthiere hatte er 21 Esel, 4 Kameele und 4 Pferde, und
bei der gesammten Ausrüstung überwachte er mit großer,
praktischer Umsicht alle Einzelnheiten. Dabei unterstützte ihn
ein vortrefflicher Manu, Johann Schmidt aus Deutschland,
der, seines Zeichens ein Zimmermann, einst als Jäger am
Takazze, im Lande der Basen, dem Engländer begegnet
war. Schmidt kaufte dort Thiere für europäische Me-
nageriebesitzer, und Baker trat mit diesem „mnthigen und
energischen Manne" in Verbindung. Er begleitete ihn
nach dem Weißen Nil, erlag aber dort bald einem Lungen-
übel.
Am 18. Dezember 1862 trat Baker die Fahrt von
Chartnm aus au. Acht Tage nachher segelte er an be-
waldeten Ufern hin; der Strom war theilweife ausgetreten
und bildete Sümpfe; in dem stagnirenden Wasser lagen
mächtige Bäume, und zwischen denselben bildeten Wasser-
pflanzen, die dort in Menge zusammengetrieben waren,
schwimmende Inseln. Das Ganze war eine Fieber aus-
dünstende Wilduiß, die Strömung fast unmerklich, das
Wasser schlammig und braun, iu der Luft schwärmten
Myriaden Moskitos, in Summa ,,eiue feuchte Hölle für
den Menschen".
Am 28. Dezember erreichte er die Region, in welcher
keine Araber mehr wohnen; nun beginnen die Negervölker,
am östlichen Ufer die Dinka, am westlichen die Schillncks.
Manche Dörfer der letzteren waren verlassen, weil ein in
jener Gegend hausender Sklavenjäger, Mohamed Her, sich
des Landes bemächtigt hatte und dasselbe ausplünderte.
Die Schillucks besitzen zahlreiche Rinderheerden. Am
3. Januar 1863 wurde die Mündung des So bat erreicht;
sie war nur 120 Uards breit; Breite 9" 21' 14". —
Der Bahr Giraffe ist ein kleiner Flnß, welcher am
Südufer zwischen dem Sobat und dein Gazellenslnß in den
Nil fällt; Baker erfuhr von seinem Reis (Schiffsführer),
er sei kein selbstständiges Gewässer, sondern ein Arm des
Weißen Nils, welcher sich im Lande der Aliab vom Haupt-
ström abzweige. — Die Mündung des Gazellenflusses
gleicht einem etwa 3 Miles langen See, ist eine Mile breit,
doch wechselt das je nach den Jahreszeiten. Er hatte
volles Wasser, aber gar keiue Strömung, und es schien,
als sei er lediglich ein vom Nil gebildetes Hinterwasser.
Er reicht aber weit nach Westen hin und bildet ein aus-
gedehntes System von Sümpfen und Morästen, von stag-
nirenden Gewässern, die mit Binsen, Schils und Ambatsch
bewachsen sind; durch diese haben sich die Schiffe mit Mühe
einen engen Kanal gebahnt.
Weiter aufwärts war das ganze Uferland ein weiter
Morast. Bei Nacht spielten die Hippopotamen ihre Musik
auf, iudem sie im Röhricht laute Töne aus deu Nüstern
bliesen; dazu kam das Pfeifeu, Zischen und Gesnmm der
Moskitos, dieser „Nachtigalleu des Weißen Nil". „Meinen
schwarzen Bnrschen Richarn hatte ich zum Korporal er-
nauut, werde ihn aber bald zum Gemeinen degradiren
müssen. In Chartnm war er alle Tage betrunken; jetzt,
da er nicht vollauf Branntwein haben kann, ist er in tiefe
Schwermuth versunken. Er spielt auf der Zither und raucht
deu ganzen Tag, wenn er nicht etwa schläft; er seufzt auch
nach den Merissa- (Bier) Töpfen Aegyptens. Er ist
seinerseits wieder ein lebendiger Beweis, wie wenig die
Missionäre ausrichten; er wurde in der österreichischen
Misston erzogen und kann für ein Durchschnittsprodukt
gelteu. Vor wenigen Tagen sagte er mir, daß er nicht
länger Lust habe, Christ zu seiu."
Der Weiße Nil ist unbeschreiblich monoton, Baker sagt,
der Strom sei ein wahrer Styr, und bei schwachen: Wind
fe in die Region der Nilquellen, 30?
ist die Fahrt der vielen Krümmungen halber höchst be-
schwerlich. Oberhalb der Mündung des Gazellenstroms
ist die Strömung beträchtlich, aber an verschiedenen Stellen
sehr verschieden.
Am 13. Januar kamen Eingeborne vom Volke der
Nnehr an Bord, „snperlative Wilde; die Männer
so nackt, wie sie auf die Welt gekommen sind. Sie reiben
sich deu gauzeu Körper mit Asche ein und beschmieren sich
ihr Wollhaar mit einem Teig, der aus Asche und Kuhurin
besteht. „Ich kann diese Burschen nicht anders charakteri-
siren, als wenn ich sage, daß sie aussehen, wie Teufel aus
der Hölle. Unverheiratete Frauenzimmer geheu gleichfalls
völlig unbekleidet, die verheirateten haben eine aus Gras
geflochtene Biude um die Hüften geschlungen; die Männer
sind mit schweren Strängen Glasperlen behängt, die sie am
Halse tragen; am Oberarme haben sie zwei Elfenbeinringe,
über den Knöcheln Kupferringe und dazu eiu Armband von
massivem Eisen, das mit Nägeln von der Länge eines Zolls
bespickt ist, einer Leopardenkralle gleicht und ähnlich
wie diese gebraucht wird. Der Häuptling eines Nnehr-
dorses kam zu mir und bettelte um Alles, was er sah; als
ich ihm ein Messer anbot, lehnte er dasselbe als unbranch-
bar ab. Die Weiber durchbohren die Oberlippe
und tragen in dem Loch einen Schmuck vou allerlei Glas-
perlen, die auf eiuen 4 Zoll langen Eifendraht gezogen sind.
Man kann nicht anders, als sie sehr häßlich nennen. Die
Männer, alle von kräftigem Wuchs, haben Lanzen und
tragen Pfeifen, die wohl ein Viertelpfund Tabak fassen
können; wenn dieser mangelt, rauchen sie Holzkohle, welche
etwas berauscht, und das ist es eben, was sie wollen. So
sehen die Nnehr im Dorf Eli ab ans."
„Der Häuptling, von dein ich ein Porträt zeichnete,
hatte feilte Frau mitgebracht; er wies auf Arme und Rücken
derselben, die über und über mit hohen und tiefen Narben
bedeckt waren. Dabei bemerkte er, daß er sie dem
Weibe mit der oben erwähnten Leoparden-
kralle beigebracht habe. In der That, diese armen
Schwarzen, wie sie von den Negerfreunden in England
sentimental genug bezeichnet werden, sind ganz charmante
Leute! Der Nuehrhänptling war nicht wenig stolz darauf,
daß er seine Frau gekrallt hatte, wie ein wildes Thier.
Ich spreche iu vollem Eruste, wenn ich ver-
sichere, daß mein Affe Wallady diesen wilden
Nuehrnegern gegenüber wie ein civilisirtes
Wesen erscheint."
In der Mitte Januars hatten sich die Boote des Nil-
Händlers Knrschid Aga den Schiffen Bakers angeschlossen,
so daß nun sieben Fahrzeuge beisammen wäre::. Als Deli-
katesse kam ein in Europa unbekanntes Gericht auf deu
Tisch. „Wirkliche Schildkrötensuppe ist im besten Falle
nur Mock-Hipp opotamns. Ein Ragout vom Fluß-
Pferde ist jenem von Schildkröten bei Weitem vorzuziehen.
Ein Stück vom Kopse, gut gedünstet mit Essig, Zwiebeln,
Cayennepfeffer und Salz ist geradezu unvergleichlich.
Meine Leute schwelgen in Hippopotamnssnppe, und gegen
Sonnenuntergang vertheile ich Grog. Allgemeine Zn-
friedenheit!"
„Etwa unter 7° nördl. Br. war das Uferland weit und
breitem unabsehbarer Morast, und in dieser nassen Jahres-
zeit befanden sich die Eingebornen in einem jammervollen
Zustande. Sie wollen kein Stück Vieh schlachten, arbeiten
wollen sie uoch -weniger und so verkümmern sie vor Hunger;
Natten, Eidechsen uud Schlangen, dann und wann ein
Fisch, welchen sie speeren, sind Leckerbissen. Der Hänpt-
ling dieser Kytsch-Neger trug eiu Leopardeufell über der
Schulter und auf dem Kopf eine aus Glas- und Porzellan-
308 Aus Samuel White Bakers Ne
perlen verfertigte Kappe, auf welcher sich eine Art Kamm
von Straußfedern befand. Alle Mädchen haben nur einen
dünnen Strang um die Hüsten geschlungen, der kaum etwas
verdeckt; die Kinder sahen wie Gerippe aus, und der ganze
Stamm war in hohem Grad abgehungert."
„Diese Kytsch reden die Dinkasprache; sie sind reine
Affen und verlassen sich in Betreff ihrer Nahrungsmittel
lediglich auf das, was die Natur ihnen bietet; sie liegen
stundenlang am Boden und warten, ob sie eine Feldmaus
erhaschen können. Bei Nacht lagern sie sich um ein Feuer,
um nicht durch Wolken von Stechmücken gepeinigt zu
werden. In dieser nassen Jahreszeit gibt es hier keinen
trockenen Platz außer den Ameisenhügeln, und auf diefeu
kauern die Kytsch-Neger zusammen wie wilde Thiere, von
welchen sie sich aber dadurch unterscheiden, daß sie ihren
Körper mit Asche beschmieren. So armselig und erbarm-
lich sind sie, daß sie auch Häute und Knochen aller ge-
fallenen Thiere fressen; die letzteren werden zwischen
Steinen zermalmt und daun als eine Art von Brei ge-
Nossen. Ich habe nie so entsetzlich niedrig stehende Wilde
gesehen, als diese. Ihre Art, sich für eine Gabe zu be-
danken, bestand darin, daß sie meine Hand ergriffen und
thaten, als ob sie aus dieselbe speieu wollten; sie begnügen
sich jedoch mit der bloßen Andeutung. Vielweiberei ist
natürlich im Schwange, wie in allen heißen Klimaten und
bei allen wilden Völkern; wenn ein Vater so alt wird,
daß er seinen zahlreichen juugen Weibern keiue Aufmerksam-
feiten mehr erweisen kann, dann wird sein Sohn Stell-
Vertreter! In jeder Viehheerde ist ein heiliger Bulle, welcher
angeblich einen großen Einfluß aus das Gedeihen derselben
übt; man schmückt seine Hörner mit einem Fedcrbüschel
und wohl auch mit Glöckchen."
„Die ganze Nilgegend von Chartum bis ins Land der
Kytsch ist geradezu abschreckend; ich habe keine ab-
scheulichere Region gesehen; der Strom ist mit schwimmen-
den Pflanzen bedeckt; Fieberluft, Sümpfe, Moräste, Mos-
kitos, Elend überall. Wir hören die Hippopotamen bei
Tag und Nacht laut schnarchen, sie lassen sich aber nur
selten blicken. Die schwarzen Weiber, welche wir an Bord
haben, zanken den ganzen Tag und Prügeln sich wie Bullrn-
beißer; es ist eine abscheuliche Reise."
„Am 23. Januar war ich bei Abukuka, wo sich ein
französischer Händler niedergelassen hat, und zwar auf
einem höchstens 60 Ellen im Quadrat haltenden trockenen
Flecke, auf welchem etwa ein Dutzend Strohhütten stehen.
Die Leute hatten das Fieber und baten um etwas Getreide.
Ich blieb etwa 10 Minuten dort. Dieser Nil ist ein
wahrhast herzbrechender Fluß, nirgends ist auch nur ein
tröstlicher Punkt, und ich wundere mich gar nicht, daß in
dieser erbärmlichen Gegend alle Erpeditionen gescheitert
sind. Das Äasser ist sehr schlecht, jenes des Bahr Gasal
freilich noch schlechter."
„Am 23. Januar kam ich bei der österreichischen
Mission zum heiligen Kreuz an (6° 39' nördl. Br.),
und gab einen Brief an Herrn Moor lang ab. Sie be-
steht aus etwa 20 Grashütten, welche auf einer trockenen
Stelle unweit vom Ufer errichtet worden sind. Die
Kirche ist eine kleine Hütte, aber nett eingerichtet. Herr
Moorlang gestand offen, daß die Mission ruiter
solchen Wilden durchaus unnütz sei; er habe
sich manches liebe Jahr unverdrossen die größte
Mühe mit ihnen gegeben, wisse aber auch gar
nichts mit ihnen anzufangen. Sie ständen
tiefer, als das Vieh; dieses letztere beweise doch denen,
von welchen es gut behandelt werde, eine gewisse Zuueiguug,
während hier den Negern all und jeder Begriff und jedes
in die Region der Nilquellen.
Gefühl vou Dankbarkeit fehle. Sie sind Lügner und
Meister in der Kunst der Verstellung; je mehr man ihne'n
gibt, nm fo mehr verlangen sie, aber ohne irgend welche
Gegenleistung."
„Zwanzig oder dreißig dieser ekelhaften, mit Asche be-
schmierten, im Uebrigen nackten Viehmenschen hatten Keulen
und spitze hölzerne Lanzen; sie lagen träg neben der
Station. Die Mission wurde als eine durchaus über-
flüssige Anstalt, die in jeder Hinsicht gescheitert
war, aufgegeben, und Missionär Moorlang verkaufte
heute das Ganze, d. h. Dorf und Station, für 210 Thaler
an Kurschid Aga. Ich kaufte ein Pferd, das ich dann
Priester nannte, weil es von den Missionären kam; es war
früher vom Herrn von Harnier geritten worden. Dieser
Reisende liegt hier begraben neben einigen Missionären,
welche ihre Knochen in diesem abscheulichen Lande lassen
mußten, ohne auch nur einen einzigen Schwarzen
bekehrt zu haben."
Weiter aufwärts wohnen am östlichen Ufer die Bohr,
am westlichen die A'liab, welche zahlreicheHeerden besitzen.
Die Völker am Weißen Nil melken nicht nur die Kühe,
sondern lassen ihnen auch von Zeit zu Zeit, gewöhnlich in
jedem Monat einmal, Blut ab, das sie kochen und als
Speise genießen. Die Moskitoplage ist in diesen Gegenden
so arg, daß die Schwarzen hohe Hügel aus Dünger ans-
werfen, dieselben in Brand stecken und fortwährend Brenn-
stoff hinzufügen. Um diese Hügel herum lagert sich das
Vieh, um gleichfalls von dem Qualm etwas zu profitiren
und gleich den Menschen vor den Mücken gesichert zu seiu.
Diese Haufen werden nach und nach bis acht Fuß hoch und
dienen daun als Schlafstätten und Warten. Die Ein-
gebornen schmieren sich mit dieser Düngerasche ein und
sehen unbeschreiblich teuflisch aus; die Frauen gehen aber
nicht völlig nackt, sondern tragen handbreite Lappen ge-
gerbten Leders; die Hinterseite des Gürtels, an welchem
solch eine Schürze hängt, besteht aus einem Schwänze,
welcher bis auf die unteren Theile der Schenkel herabhängt.
So erklärt sich die Angabe der Araber, daß ein Stamm
in Centralafrika Schwänze trage, die den Roßschweifen
glichen; jene an der Schärpe bestehen nämlich aus seiu-
geschnittenen Lederstreifen. Die Hütten sind bei allen
Stämmen rund, und der Eingang ist so niedrig, daß man
aus Händen und Füßen kriechen muß.
Am 31. Januar kam endlich ein hochgelegener Punkt
in Sicht, der Berg Cardo, der nach Südwesten hin lag.
Nun gewann die Landschaft ein anderes Aussehen; die
Moräste verschwanden, und das mit Bäumen bestandene
Ufer war etwa 4 Fuß hoch. Die Gegeud schien gut be-
völkert zu seiu, und die Eingebornen stanuten die Kameele
und die Esel an. Am 2. Febrnar wurde Gondokoro
erreicht; 4° 55' uördl. Br., 31° 46' östl. Länge. Hier
hatte der Reisende endlich wieder einmal festen Boden
unter den Füßen, weil die Hütten 20 Fuß über dem Wasser-
spiegel liegen. Man sieht noch die Ruinen der ehemaligen
Mission, die aufgegeben werden mußte, weil sie unter den
Barbaren gar nichts ausrichten konnte. Gondokoro ist
keine Ortschaft, sondern lediglich eine Station für die Elfen-
beinhändler, welche etwa zwei Monate im Jahre dort ver-
weilen. Während der übrigen Zeit ist es verödet, denn
die mit Waaren beladenen Boote fahren nach Chartum
zurück, und die Handelspartien ziehen ins Innere. Das
Klima ist heiß und ungesund.
Es war von vorne herein Bakers Absicht gewesen,
Spcke und Grant, welche ans ihrer Heimreise vom
Nyanza-See Gondokoro berühren mußten, zu unterstützen,
so viel in seinen Kräften stand. Er brachte alle feine Vor-
Alls Samuel White Bakers Rc
räthe ans Land, miethete von Kurschid Aga einige Getreide-
speicher und beauftragte dieseu Mann, die Hälfte aller
Vorräthe an die beiden Reisenden zu verabfolgen, sobald
dieselben eintreffen würden.
Die vielen in Gondokoro versammelten Handelsleute
betrachteten den Engländer mit argem Mißtrauen; sie be-
griffen nicht, daß er lediglich als Reisender nach Gondokoro
gekommen sei, und meinten, es sei seine Absicht, ihnen in
die Karten zu sehen. In der That hatten sie alle Ursache,
ihr schnödes Treiben zu verbergen, so gut sich das thun ließ.
Aber trotzdem gewann Baker einen tiefen Einblick. Er
hörte, sobald er sich den Lagerplätzen der verschiedenen
Handelsleute näherte, das Gerassel der Ketten und erfuhr,
daß man kurz vor seiner Ankunft, die schon im Voraus
uach Gondokoro gemeldet worden war, den größten Theil
der geraubten Sklaven ins Innere getrieben hatte, um sie
vor ihm zu verbergen. Einer von diesen „White Nile
Traders" war ein Kopte, Vater des amerikanischen Eonsnls
in Chartnm, und Baker sah ein mit „Briganten" be-
manntes Schiff unter nordamerikanischer Flagge in Gondo-
koro ankommen! Er schildert dasselbe als eine „vollkommene
Hölle". An Ort und Stelle waren die Lagerplätze der
Handelsleute mit Sklaven angefüllt, uud von den Bari-
negern erfuhr der Reiseude, daß landeinwärts eine be-
trächtliche Anzahl Sklavendepots seien; man werde die
dort Eingesperrten sogleich nilabwärts schaffen, sobald er
abgereist fei. Die Zahl der Räuber, welche im Solde der
Handelsleute standen, betrug damals nicht weniger als
699; sie waren fast immer betrunken, zankten unter einan-
der und mißhandelten die Sklaven; das war ihr Zeitvertreib.
Während des Rausches seuerteu sie wie toll und blind ihre
Gewehre nach allen Richtungen hin ab; das Knallen nahm
Tag uud Nacht kein Ende, uud die Kugeln pfiffen in der
Luft umher; mehr als eine flog zu Bakers Füßen nieder,
und gewiß hatten die Räuber nicht geringe Lust, ihm das
Lebenslicht auszublasen. Sie wiegelten planmäßig die
Leute des Reisenden aus; wenn diese ihn verließen, war
der ganze Plan desselben vereitelt! Sie fingen auch an zu
meutern, und Baker bedurfte seiner ganzen Geistesgegen-
wart uud Energie, um das Schlimmste abzuwendeu. Aber
die Lente waren nun einmal demoralisirt, uud er verhehlte
sich keinen Augenblick, daß ihm von uuu an eine unüber-
sehbare Menge von Ungelegenheiten bevorstehe. Diese
sind denn auch nicht ausgeblieben.
Gondokoro liegt im Gebiete der Bari, eines Negervolkes,
doch ohne die dickwulstigen Lippen und platten Nasen; sie
tättowiren sich deu ganzen Bauch, reiben die Haut mit
Okerfarbe ein und entfernen all und jeden Haarwuchs bis
auf einen Büfchel anf dem Kopf, in welchen sie als Schmuck
einige Vogelfedern stecken. Sie gelten für kriegerisch uud
feindselig und für die schlimmsten Schwarzen am ganzen
Nil; die zunächst dem Strom wohueuden haben aber durch
das Feuergewehr der Handelsleute so schwere Verluste
erlitten, daß sie nun friedlich sind. Diese Art von Unter-
würsigkeit wurde auch durch folgende Mittel erzielt: Man
sing Barineger ein, band ihnen Hände und Füße zu-
sammen, schleppte sie an eine Stelle, wo das Ufer etwa
30 Fuß hoch ist, und wo der Strom einen starken Wirbel
macht, und warf die Opfer ins Wasser als Futter für die
Krokodile! Die Wohnungen werden reinlich gehalten;
jede einzelne ist mit einer undurchdringlichen Euphorbien-
hecke umgeben und der Hof mit einer Mischung aus Asche,
Kuhdünger und Sand so zu sagen gepflastert. Die Ein-
gangsöffnnng der Hütten ist etwa eine Elle hoch.
In diesem Gondokoro lag nun Baker. Man erzählte
ihm, durch Eingeborne weit aus dem Innern her sei vor
' in die Region der Rituellen. 399
einiger Zeit die Nachricht gekommen, daß dort irgendwo
zwei weiße Männer seien, die längere Zeit von einem
Snltan gefangen gehalten worden wären; sie hätten wunder-
bare „Feuerwerke"; Beide seieu sehr krank gewesen, und
der eine wäre gestorben.
In Chartnm hatte Baker gehört, daß die am weitesten
nach Süden gelegene Handelsstation etwa 15 Tagereisen
von Gondokoro entfernt sei. Es war nun seine Absicht,
alles schwere Gepäck zurückzulassen, bis zu dieser Station
vorzudringen und sie als Ausgaugspunkt für feine Weiter-
reise nach Süden zn wählen. Er erfuhr außerdem, daß
in den nächsten Tagen eine mit Elfenbein beladene Partie
des Händlers Debono vor jener Station in Gondokoro
eintreffen werde; er beschloß, dieselbe abzuwarten und dann
mit ihr nach dein Süden zurückzukehren.
Er war nun schon zwöls Tage in Gondokoro, da ver-
nahm er am 15. Februar ein lebhaftes Musketengeknatter;
Debono's Partie zog heran. Bakers Leute rannten vom
Land her in fein Boot und riefen, es seien zwei Weiße
Männer mitgekommen, weit vom See her!
Diese waren Speke und Grant. Man kann
sich die Ueberraschnng beider Theile denken. Baker erkannte
sofort seinen alten Frennd Speke, der seinerseits ihn nicht
gleich erkannte und keine Ahnung davon hatte, daß jener
ihm in Centralasrika begegnen werde! Um so größer war
die Freude, als nun alle drei Reisende in Bakers Boote
beisammen saßen, und die beiden vom See Nyanza glücklich
Angelangten sich der Ruhe und Pflege erfreueteu. Speke
war, wenn der Ausdruck erlaubt ist, äußerst abgetrieben,
außerordentlich mager, aber doch zäh; er war die ganze
weite Strecke von Sansibar bis Gondokoro zu Fuße ge-
gangen, ohue ein einziges Mal ein Reitthier zwischen den
Schenkeln gehabt zu habeu. Grant war mit ehrenvollen
Lumpen bedeckt; seine Kniee guckten durch ein Etwas, das
einst eine Hose gewesen; an dieser hatte er mehr als ein-
mal seine Schneiderkuust versucht, um sie vor völligem Aus-
einanderfallen zn bewahren. Der Mann selber sah abge-
müdet und fieberisch aus, aber Beide hatten Feuer im Blick.
Man begreift, daß sie Gondokoro so bald als möglich
zu verlassen wünschten, um rasch nach Europa zu gelangen,
und Baker stellte ihnen seine Schiffe zur Verfügung. Sie
gaben ihm eiue Karte ihrer Reiserouten und alle möglichen
Notizen. Es ergab sich, daß in Bezug auf die Auffindung
der Nilquellen und des Stromlaufes in der Seenregion
noch viel zu thun übrig bleibe. Sie hatteu deu Fluß
2° 17' u. bei den Karnmafällen überschritten, nachdem
sie denselben von seinem Ausfluß aus dem Nyanza-See
an verfolgt; bei seinem Austritt aus dem See nahm er
seine Richtung nach Norden, machte dann von den Karuma-
fällen ab plötzlich eine Biegung nach Süden, und sie sahen
ihn erst wieder unter 3" 32', wo er aus Südsüdwefteu
herströmte. Die Eingebornen und Kamrasi, König
von Unyoro, hatten versichert, daß der aus dem Nyanza
kommende Nil, ebeu der, welcheu die Reiseudeu bei Karuma
überschritten, einige Tagereisen weit westlich fließe und
dann in einen großen See falle, welchen sie Lnta Nzige
nannten; dieser See reiche weit nach Süden hin, der
Strom aber, welcher an dessen nördlichem Ende hineinfalle,
fließe fast unmittelbar wieder aus demselben ab und habe
dann eiueu nördlichen Lauf durch die Landschaften Koschi
und Madi. Beide Reisende legten großen Werth auf
dieseu Luta Nzige und bedauerten, daß es ihnen unmöglich
gewesen sei, denselben näher zu erforschen, denn es war
Krieg in jenen Gegenden, durch welche kein Fremder Pas-
siren konnte, weil manche Stämme gegen Kamrasi im Felde
standen.
310 E. Kattncr: Das Post
Speke sprach die Ueberzenguug aus, daß der Luta Nzige
als die „zweite Quelle des Nils" betrachtet werden könne.
Baker seinerseits war hoch erfreut, daß für ihn noch etwas
zu entdecken und zu erforschen übrig geblieben sei, daß auch
er ein Blatt von dem Lorbeer gewinnen könne.
Dann gab Speke ihm manche werthvolle Winke. Er
solle zwei Leute annehmen, von welchen der eine die Bari-
oder die M a d i - S p r a ch e rede, und der andere das
Kiuyoro, denn auf der ganzen Strecke siude man nur zwei
Sprachfamilien, allerdings mit einigen mundartlichen Ab-
weichungen. Baker solle sich zu Kamrasi M Kamma,
König von Unyoro, begeben und dann versuchen, so viel als
möglich von den westlichen Gegenden zu sehen, welche an den
kleinen Luta Nzige, den See der todten Heuschrecken,
grenzen; er solle mit Elfenbeinjägern über den Fluß Afna,
acht Tagereisen weit, nach Apnddo gehen, und werde
in ferneren zwei Tagereisen nach Panyoro gelangen, wo
es viele Heuschrecken gebe. Dann werde er in einer Tage-
reise den äußersten Handelsposten der Türken, Faloro,
r Land jetzt und früher.
erreichen, von wo cuts er, nach Errichtung eiues Depots,
einen Ausflug über deu Weißen Nil nach Kofchi machen
könne, um zu erforschen, in welcher Weise der Strom von
Süden her komme und wo er mit dem kleinen Luta Nzige
zusammenhänge; auch möge er Erkundigungen über das
Land Ts ch o p i einziehen. Dazu kamen noch manche Winke
über die Art, in welcher Baker mit König Kamrasi um-
zugehen habe; vor allen Dingen solle er sich bemühen,
dessen fette Gemahlinnen und Brüder zu sehen :e.
Nun stand der Aufbruch bevor. Am 20. Februar kam
ganz unerwartet Petherick mit seiner Frau aus dem
Lande Niambara iu Goudokoro au; er war in großer Noth
um Getreide, aber Baker außer Stande, ihm dergleichen
zn verabfolgen; doch kam ein Vorrath aus dem Lande der
Schir au. ■
Am 26. Februar segelten Speke und Grant nilabwärts,
nnd am 26. März 1863 brach Baker von Gondokoro nach
Eentralafrika auf.
Das p o sener f an
Von Ed)M
8. Die Landwirtschaft.
Um das Bild von dem Aufschwuug, deu Posen unter
der preußischen Regierung genommen hat, zu vervollstän-
digen, will ich einen Kulturzweig, dessen ich bisher nur
nebenbei Erwähnung that, hier noch ausführlicher behau-
deln; es ist die Landwirtschaft.
Herr Veuedey fragt in seiner Verteidigungsschrift des
Polenthums unter Anderm auch, ob denn „die Felder von
Posen vom deutschen Volke urbar gemacht" seien, und
erwartet von den Gegnern eine beschämende Verneinung.
Allein ich setze ihm hiermit eine entschiedene Bejahuug
entgegen.
Seit Einführung des Christenthums, seit Stiftung und
Landausstattung von Bischofssitzen und Klöstern wurden
auch von den Geistlichen, Mönchen und von anderen Grund-
besitzen: deutsche Bauern in das Polenland beru-
sen, um einen geordneten Ackerbau einzuführen.
Der Herzog Wladislaw Spertalos gestattete unter Anderm
in einer Urkunde vom Jahre 1234, „ut geiles exlraneo»
invitet et in villis ecclesiae locet, quae exempla sint."
(Ausländer einzuladen und in den der Kirche angehörigen
Dörfern anzusiedeln, damit sie zum Muster dienen.) Siehe
Klebs „Die Landeskultur-Gesetzgebung im Großherzog-
thum Posen", Berlin, Springersche Buchhandlung. Es
heißt dort weiter:
„So finden wir fchon in jener frühen Periode nicht
blos an den Grenzen, wenn auch hier häufiger, sondern
bis tief in das Land hinein, wie Oafen iu der Wüste zer-
streut, eiu e Meuge deutsch er Gemeinden, die, mitten
unter den vielfach gedrückten und geknechteten rechtlosen
polnischen Landleuten ansässig, sich persönlicher Freiheit,
eines vollen Eigenthums, eines geordneten Nechtszustandes
jetzt und s r ü h c r.
Kattuet.
und einer freien Gemeindeverfafsuug erfreuten. Es bedurfte
so großer Vergünstigungen, mit die Deutschen zur Ein-
Wanderung und Ansiedelung in einem von inneren uud
äußeren Kämpfen heimgesuchten Lande, dessen Sitten und
Sprache ihnen fremd waren, geneigt zu machen."
Seit dem 14. Jahrhundert nahm die Einwanderung ab
und stockte gegen das 16. ganz, als mit der steigenden
Macht des Adels die Bedrückung aller unteren Volks-
klaffen auch auf die fremden Ansiedler ausgedehnt und ihr
„deutsches Recht" uicht mehr geachtet wurde. Im Innern
des Landes verschwanden diese alten Ansiedelungen auch
bis anf die letzte Spur; nicht so an den Grenzen.
Einen neuen Aufschwung nahm die Einwanderung von
deutschen Bauern, als eiu großer Theil des polnischen Adels
die gereinigte Kirchenlehre annahm und mit den Glaubens-
verwandten aus Deutschland durch eiu gemeinsames Band
verbunden wurde. Dasselbe wirkte wenigstens so weit, daß
er für den Vortheil, deu diese „rechtschaffenen, ehrbaren
und arbeitsamen Lente", wie sie in zahlreichen Gründungs-
Urkunden bezeichnet werden, ihm durch Leistung von Grund-
zins brachten, ein offnes Auge behielt. Auch manche katho-
lische Grundbesitzer suchten durch Herbeiziehung derselben
ihre Güter zu verbessern, wobei sie allerdings sich wohl
mehr um Katholiken bemühten, wie denn z. B. die durch
die Pest verödeten Känuuereidörfer der Stadt Poseu von
1709 bis 1711 durch Bamberger besetzt wurden.
Eine eigentümliche Gattung dieser Ansiedelungen waren
die sogenaunteu „H a ulä u d e r e i en", welche seit'der Mitte
des 18. Jahrhunderts entstanden und, wie der Name an-
beutet, auf ausgehauenen und ausgerodeten Waldflächen
angesetzt wurden. Wenn du, deutscher Landsmann, anf der
Karte uicht blos iu Posen, sondern tief in Russisch - Polen
hinein zahlreiche Ortschaften mit der Bezeichnung „Hau-
E. Kattn er: Das Pos
land" findest, so denke dir dort stets deutsche Arbeiter,
welche polnisches „Land urbar gemacht" und dadurch, wie
selbst Venedey einräumt, in deutsches umgewandelt haben.
Die Bezeichnung „Hanland'' hat dieselbe Bedeutung, wie
das sächsische „Rode" z. B. in Wernigerode, Elbingerode,
Bleicherode, das niederrheinische „Rath" z.B. in Ben-
rath, Honrath, Osterrath, und das nassauische „Roth"
z. B. in Weroth, Willmeroth, Nückeroth.
Bei alledem bildeten die deutschen Dörfer in Groß-
polen nur eine schwache Minderheit, und wie es mit den
polnischen Dörfern und Bauern bestellt war, kann man
ans den im Artikel 7 angeführten Aussprüchen von Zerboni
und G. Forster entnehmen. Daß die letzteren bei so viel
Elend und Verkommenheit dem Boden, selbst dem aller-
reichsten, viel mehr als ihren eigenen dürftigen Lebensunter-
halt abgewannen, darf man im Voraus als sehr unwahr-
scheinlich annehmen. In der That sank die Aussuhr von
Danzig, dem natürlichen Haupthafenplatz Polens, von
Jahrzehnt zu Iahrzehut, anstatt zu wachsen. Nach Cella-
rius, descriptio provinciarumPolon., sollen in einem Jahre
ungewöhnlicher Fruchtbarkeit im 16. Jahrhundert 365,000
Lasten Getreide über Danzig ans Polen ausgeführt worden
sein, während die gewöhnliche Ausfuhr damals doch
100,900 Lasten betragen habe. Am Ende des 18. Jahr-
Hunderts war sie auf 45 bis 50,000 Lasten gefallen. Jetzt
beträgt sie durchschnittlich etwa 120,000 Lasten, z. B. im
Jahre 1863:
64,501 Lasten Weizen,
49,401 „ Roggen,
6,471 „ Gerste,
zusammen 120,378 Lasten Getreide.
Wie sollte das auch anders kommen? Die Edellente
kümmerten sich um die Landwirtschaft nicht, sondern über-
ließen sie den Bauern, und diese kannten nicht einmal
die erste Grundlage jedes nachhaltigen Ackerbaus, die
Düngung, und standen somit hierin tatsächlich den
wilden Neuseeländern nach, mit welchen G. Forster,
der beide Völker aus eigener Anschauung kannte, sie zu ver-
gleichen geneigt war. Sie glaubten dem Acker durch bloße
Ruhe neue Kraft zu geben; besonders brannten sie in man-
chen Landstrichen von Zeit zu Zeit die Wälder nieder, um
sie zu Ackerland zu machen, während das alte zum Holz-
auwuchs liegen blieb. „Das Vieh ging beständig in den
Wiesen, Weiden, Brüchen und Feldern herum, und man
gewann daher keinen Dünger;" auch befand sich dieses ohne
Kraftfutter in einem kümmerlichen Zustande. Von edlen
Rassen konnte natürlich keine Rede sein.
Es ist nun die Frage: was ist seit der preußischen
Besitznahme aus dieser stümperhaften Landwirth-
schast geworden? Ich kann sie am besten durch eine
kurze Darstellung des gegenwärtigen Zustandes derselben
beantworten, indem ich die polnischen Güter nicht von den
deutschen trenne. Die unleugbaren großen Fortschritte,
welche die Polen, Edellente wie Bauern, namentlich in
Preußisch-Polen, seit 50 bis 80Jahren in der Landwirt-
schaft gemacht haben, sind doch unzweifelhaft dem Einfluß
des Deutschthums anzurechnen, abgesehen davon, daß
Musterwirtschaften im Allgemeinen auch jetzt nur von
Deutschen geführt werden.
Zunächst sind die Wälder der frühern planlosen Ver-
Wüstung entzogen und namentlich als Staatsforsten einem
geordneten Betriebe übergeben, der auch in den großen
Waldungen von deutschen Privatbesitzern eingeführt ist.
Von der Gewinnung großer, werthvoller Flächen durch
Trockeulegung ist schon im vorigen Artikel gesprochen
worden.
ix Land jetzt und früher. 311
Nach Klebs „nahmen imJahre 1852 die Gärten 1,48,
der Acker 50,15, die Wiesen 7,08, die Räume, Hütungen
6,97, die Waldungen 18,53 und das Unland 15,73 Proc.
der Gesammtfläche der Provinz ein. Vergleicht man diese
Procentsätze mit den Durchschnittssätzen, welche für den
ganzen preußischen Staat ermittelt sind und für Gärten
1,25', für Acker 42,86, für Wiefeu7,53, für Räume,
Hütungen 7,75, für Wald 18,95 und für das Unland
21,67 Proc. betragen, fo ergibt sich, daß die Provinz Posen
nur bei deu Wiesen, Hütuugeu und Waldungen hinter den
Durchschnittssätzen und zwar nur wenig zurückbleibt; daß
sie dagegen an Gartenland etwas mehr, bedeutend mehr
aber, nämlich 7,56 Proc. als Acker benutzt und daß sie an
unknltivirtem Lande beinahe 6 Proc. weniger aufzuweisen
hat, als der gesammte Staat im Durchschnitt."
Im Jahr 1858 hatte sich dieses Verhältniß etwas zu
Ungunsten von Poseil geändert. Nicht daß es zurückgegangen
wäre; vielmehr hatte sich das Unland von 15,73 auf 10,87
Proc. verringert, dasjenige des gefammten Staates aber
noch mehr, nämlich von 21,67 auf 14,69 Proc. So-
nach übertraf Posen den ganzen Staat immer noch um
beinahe 4 Proc. in der Ausdehnung der landwirthschaft-
lich nutzbaren Fläche.
Diese Zahlen dürften Wohl fo manchen Westdeutschen,
auch sogar manchen Ostdeutschen überraschen.
Nicht ungünstiger als die Statistik der Benutzung der
Bodenfläche stellt sich diejenige des Vieh stand es der Pro-
vinz. Es wurden in derselben gezählt:
Schafe Stück Pferde Schweine
Rindvieh u. Füllen
im Jahre 1858 2,222,891 517,566 162,883 232,913
1816 vefv>-1819 796,114 312,011 85,964 1825:180,412
Im Durchschnitt kamen 1858
auf 1 Schaf 1 Rindvieh 1 Pferd 1 Schwein
im ganzen Staat 1,15 Menschen, 3,21 M., 10,94 M., 6,85 5R,
in d.Prov. Posen 0,63 „ 2,73 „ 8,70 „ 6,08 „
Sonach steht Posen nur im Rindviehstande dem Durch-
schnitte des Staates nach und zwar nur etwa um eiu
Siebentel. In der Zahl der Schafe nimmt es nach Pom-
mern den ersten Rang ein. Der Fortschritt seit 1816 zeigt
sich am meisten in der Feinheit der Wolle. Damals gab
es in Posen 32,146 Merino's und ganz veredelte Schafe,
1858: 738,026, 1861 sogar 1,068,221; damals gab es
hier 127,219 halbveredelte Schase, 1858: 1,193,405,
1861: 1,176,899. Auch in dieser Beziehung wird Posen
nur von Pommern übertroffen, welches 1861: 2,542,297
ganz- und halbveredelte Schafe befaß, während
Preußen deren 2,450,665 zählte, Brandenburg 2,210,018,
Schlesien 2,419,837, Sachsen 1,545,446, Westphalen
154,302, Rheinland mit Hohenzollern 174,704. Sonach
stehen diese anderen Provinzen mit ihren veredelten Schafen
im Verhältniß zur Gefammtzahl aller Schafe, wie zur
Seelenzahl alle mehr oder weniger hinter Pofen zurück.
Unzweifelhaft fand sich vor der preußischen Besitznahme
des Landes im vorigen Jahrhundert hier nicht ein einziges
ganz - oder halbveredeltes Schaf; es müßte gerade in dem
deutschen Grenzstrich der Fall gewesen sein.
Es sei hier noch erwähnt, daß die Landwirthschaft der
Provinz den 6 Runkelrüben - und den etwa 20 Tabaks-
fabriken, welche sich innerhalb ihrer Grenzen befinden, den
Rohstoff liefert. - Der Hopfenbau, der allerdings schon
einst unter polnischer Herrschaft in etwas ruhigerer Zeit
geblüht hat, dann aber untergegangen war, ist seit 1815
wieder aus dem Grabe erstanden und wird hauptsächlich
von deutschen Bauern tnx Südwesten betrieben. Er liefert
312 Zwei „Naturwunder" au
jährlich durchschnittlich gegen 40,000 Centner zum Markt,
das macht bei gewöhnlichen Preisen etwa 1 Mill. Thaler,
welche der Provinz zum Theil vom Auslande zufließen.
Ein anderer unter preußischer Herrschaft und Vorzugs-
weise von der Negierung durch die Lehrer neu eingeführter
Kulturzweig ist der Seidenbau. Posen lieferte 1861
1056 Metzen Coeons, während der ganze Staat deren
etwa 30,000 erzeugte. Seitdem hat die Krankheit der
Seidenwürmer mehr um sich gegriffen und wird die Erträge
gestört haben.
Einen Angenfcheinsbeweis von der Blüthe der Land-
wirthfchaft Posens gab die nur von deutschen Land-
w irth en veranstaltete provinzliche Ausstellung des Jahres
der Küste von Ecuador.
1864, welche nach demUrtheil von Sachverständigen hinter
derjenigen keiner andern zurückstand.
Es scheint mir sonach genügender Grund zu der An-
nähme vorzuliegen, daß selbst die Landwirtschaft, dieses
einzige von den Polen jederzeit betriebene Gewerbe, seit
der Herrschaft des deutschen Volkes in dem Lande einen
solchen Aufschwung genommen hat, daß dasjenige, was
beiUebernahme desselben dort vorgefunden wurde, dagegen
keinen Vergleich aushält, und also die Behauptung, „das
deutsche Volk habe hier die Felder urbar gemacht", nicht
blos für das Mittelalter, fondern nach dem inzwischen
wieder eingetretenen Verfall auch für die neueste Zeit erwie-
sen zu sein.
Zwei „Naturwunder" an
Singende Fische. — Die Manta als Seeungeheuer.
Vor einigen Monaten ist in Paris von Don Henrique,
Vieomte Onffroy de Thoron, ein Werk über die Repn-
blik Ecuador erschienen. Der Verfasser hat länger als
neun Jahre in diesem Lande verweilt und dasselbe nach
allen Richtungen erforscht; er schildert die geographischen
Verhältnisse, den Produkteureichthum, die verschiedenen
Volksstämme und deren Mischlinge, entrollt auch eiu
historisches Bild, und das Ganze ist belehrend. Das Buch
enthält zugleich Mittheilungen, welche der Vieomte an die
Akademie der pariser Wissenschaften geschickt hat.
In der ersten Eingabe schildert er die singenden
Fische. Als ich, so schreibt er, die Bay vou Pailon
untersuchte, welche im Norden der Proviuz Esmeraldas
liegt, steuerte ich einst gegen Abend am Strande hin. Da
drangen plötzlich befremdliche, andauernde Töne in mein
Ohr. Ich glaubte anfangs das Summen einer ungewöhn-
lich großen Hummel zu veruehmen, bemerkte aber nichts.
Ich fragte deu Ruderer meiner Pirogne, ob er nichts höre,
und erhielt zur Antwort: „Das sind Fische, die singen;
man nennt sie Sirenen oder Mnsicos." Bald nachher
hörte ich eine Menge verschiedener Stimmen, die zusammen
ein harmonisches Ganze bildeten und vollkommen so klan-
gen, als vernehme man aus einiger Entfernung Orgel-
töne. Ich ließ die Pirogue anhalten, um ungestört zu
horchen.
Mein Ruderer schüttelte den Kopf und sprach: „Herr,
ich meinerseits glaube nicht, daß Fische so singen können.
Das sind las animas de los antiguos (die Geister der
Alten, Abgeschiedenen)." Die Indianer glauben, daß die
Seelen ihrer Vorfahren auf die Erde zurückkommen, uud
wenn sie das geringste Krachen, Geräusch oder einen kla-
genden Ton in ihren Wohnungen oder auch sonst ver-
nehmen, dann meinen sie, die kämen von den animas,
namentlich auch von solchen, die sich im Fegefeuer befinden.
Hier aber hörte ich keine klagenden, sondern sehr harmo-
nische Töne.
Man bemerkt dieselbe Erscheinung auch an anderen
Punkten der ecuadorischen Südseeküste, zum Beispiel und
noch stärker als in der Bucht von Pailon im Flusse
Matajs, besonders an dem kleinen Vorgebirge Eam-
pana, d. h. Glocke. Dieser Strom mündet mit zwei
Armen in den Stillen Ocean und hat noch eine dritte
der Küste von Ecuador.
Mündung, diese in der Pailonbay. Etwas weiter aufwärts
bei Eampanilla hört man abermals die singenden
Fische und ein Gleiches soll im Flusse del Molice, der
sich in den Mataje ergießt, der Fall sein. Die Pailonbay
hat Salzwasser, während der Fluß nur während der Flut-
zeit Brakwasser führt, im übrigen aber süß ist. Die Fische
singen mehre Stunden hintereinander, ohne an die Ober-
fläche des Wassers zu kommen; durch das fortwährende
Vibriren des Tous in der Lust entstehen geheimnißvolle
Klänge. Der Fisch ist höchstens 10 Zoll lang, von weißer
Farbe und mit bläulichen Flecken in der Rückengegend.
So sieht wenigstens der Fisch ans, welchen man während
des Gesanges an der Angel fängt. Der Gefang beginnt
gegen Sonnenuntergang und dauert während der Nacht fort;
er ist, wie schon bemerkt so, als käme er von einer Orgel.
Vieomte Onffroy de Thoron begnügt sich die Thatsache
festzustellen; er hat keine Kenntnisse in der vergleichenden
Anatomie, will aber die Zoologen auf jene merkwürdige
Erscheinung hinweisen und zu weitereu Forschuugen veran-
lassen.
In Bezug auf die Manta erzählt er Folgendes: Er
fchiffte in der Gegend des Eabo de Manglares und
von da nach der Mündung des oben erwähnten Mataje.
„Plötzlich stieg aus dem Ocean ein seltsam gestaltetes
Ungeheuer empor und kam unserm Boote so nahe, daß ich
ihm einen Schlag mit dem Ruder hätte versetzen können.
Von Entweichen war für uns keine Rede, ohnehin waren
meine Ruderer dnrch Ueberanstrenguug erschöpft. Ich
konnte nicht wissen, ob das Monstrum uns angreifen werde,
Vorsicht war dringend nöthig, und ich befahl, die Ruder ins
Boot zu legen. Der Pilot sagte: „Das ist die Manta;
nehmen Sie Ihr Machete (das bekannte große Haumesser,
welches im spanischen Amerika Jeder bei sich führt), und
wenn sie das Boot packen will, hauen Sie ihr die Hand ab."
Das Thier fchien ein Amphibium zu fein. Ich hielt
mein Machete in Bereitschaft, wollte aber nicht angreifen,
fondern begnügte mich mit einer sorgfältigen Beobachtung
des in hohem Grade seltsamen Geschöpfes.
Die Manta hatte Arme wie ein Mensch; sie waren
weiß und etwa 1V2 Meter lang, also ungefähr 4% Fuß,
und im Vergleich zur Länge und zum Umfange des Körpers
sehr dünn, im Uebrigen gegliedert wie uusere Arme, näm-
lich am Handknöchel, am Mittelarme, wo sie aber mehr
abgerundet waren als unser Ellbogen, und oben an der
Neun Monate auf der Z
Schulter. Die kleinen und etwas uach iunen gekrümmten
Hände waren nicht weiß, sondern schmutzig, wie altes, ver-
trocknetes Pergament; die Finger sind wahrscheinlich durch
eiue Floßhaut mit einander verbunden, doch kann ich dar-
über uichts Gewisses sageu. Der Kopf der Mauta ist
horizontal abgeplattet, dreieckig und uach den Schultern
hin wird er immer breiter, an der Basis bis zu 2 Fuß, und
der Rachen, welchen sie geschlossen hielt, war so breit wie
der Kopf. Der Leib war nur wenige (Zentimeter dick, aber
in der Horizontale 4 Fnß breit, der Rücken flach, von
gleichmäßiger Breite, und der für mich sichtbare Theil des
Körpers an der Oberfläche des Wassers war ungefähr
3 Meter, also zwischen 9 und 19 Fuß, lang und ohne
Schwimmflossen. Der übrige Theil, welcher unter einem
Winkel von 20 Grad im Wasser hing, blieb für mich uu-
sichtbar. Die Haut war weiß und oben auf dem Rücken
gefleckt, etwa wie beim Seekalb oder beim Leoparden. Ich
weiß nicht, ob diese Haut etwa so war wie bei der Seekuh
oder wie bei einem Frosche; aber so viel ist gewiß, daß ich
von Haar oder Schuppen keine Spur bemerkte, weder ans
dem Kopse, uoch an den Armen oder ans dem Leibe. Mein
Pilot versicherte mich, daß er schon ganz weiße Mantas
ohne Flecken auf dem Rücken gesehen habe; ich wollte aber
jetzt gar keine Fragen an ihn richten, um Alles selber zu
beobachten. Ich weiß uicht, ob die Mauta eiu Vierhänder
ist, wie der Frosch, oder ob sie am untern Theile des Leibes
Schwimmflossen hat.
Sollte diese Manta, welche ich in den Gewässern von
Ecuador beobachtete, ein lebendiges Chirotherium
gewesen sein, jener 15 Fuß lange Frosch, welchen die
Geologen im fossilen Zustande gesunden haben? Für mich
unterliegt es keinem Zweifel, daß beide als Varietäten der-
selben Batrachiersamilie zu betrachteu seien. D'Orbigny
sagt in seinen Vorträgen über Paläontologie, daß die
Batrachier einen platten Kopf haben; die Zähne, wo der-
gleichen überhaupt vorhanden, sind klein, spitz und gleich-
mäßig. Die den Süßwasserthieren analogen Seethiere sind
größer als jene; wenn man also fossile Frösche von 12
bis 15 Fuß Länge gefunden hat, so darf es nicht Wunder
nehmen, daß dergleichen im Meere von weit größerer
Länge vorkommen.
Neben meinem Boote hielt die Manta ihren Kopf ein
wenig über das Wasser empor; ihr Blick war klar, aus-
drucksvoll, forschend aber sehr sanft, etwa so als ob sie uns
zu sich aulockeu wolle; sie betrachtete mich wohl volle drei
ennsel im Großen Ocean. 313
Minuten lang sehr aufmerksam, gleichsam als überlege
sie, was sie thun wolle. Während der ganzen Zeit hielt ich
mit erhobenem Arme mein Haumesser bereit, um uöthigeu-
falls eiueu Hieb zu führen. Der eine Arm lag ausgestreckt
auf dem Wasser, der andere ragte über dasselbe hervor,
war am Ellbogen etwas eiugebogen, und die etwas ein-
gekrümmte Faust stand so, daß sie sosort zupacken konnte.
Nachdem wir uns solchergestalt aufmerksam beobachtet
hatten, sank die Manta ganz langsam und ohne jede Be-
wegung unter, indem sie dabei ihren Blick unverwandt ans
mich gerichtet hielt.
Es scheint mir, als ob dieses Amphibinm nach allen
Gegenständen, welche auf dem Meere schwimmen, seine
Hände ausstrecke; so versicherte mich wenigstens mein Pilot,
der auch wisseu wollte, daß es auf solche Weise zuweilen
ein Boot umreiße und deshalb den Fischernachen im Golfe
gefährlich sei. Zur Familie der Lamantins (Seekühe) kann
sie nicht gerechnet werden; bis jetzt ist sie noch nicht klassi-
fizirt worden. Ich nehme deshalb die Priorität der Ent-
decknng für mich in Anspruch; ich habe die Manta in der-
selben Meeresgegend gesehen, wo ich im Jahre 1861 die
singenden Fische hörte, über welche ich der Akademie der
Wissenschaften Bericht abgestattet habe. Jene Region des
äquatorialen Amerika ist noch nicht naturwissenschaftlich
durchforscht worden.
Die Spanier bezeichnen als Peees mantas, Mantas-
fische, verschiedene Arten von Haien und Cephalopteren,
und nennen auch manche Amphibien Fische. Aber meine
Manta, welche ich im Golfe vouAucon de Sardinas
fand, ist von ihnen nicht beschrieben worden; sie hat am
Vorderkörper keine Schwimmflossen und kann deshalb mit
anderen Mantas nicht verwechselt werden. Allem Anschein
nach ist sie ein herbivores Thier."
Der Vieomte spricht die Hoffnung aus, daß eiu Zoologe
sich die Mühe geben werde, den Golf von Ancon de Sar-
dinas zu untersuchen und daß ihm dort gelingen werde,
Mantas und singende Fische zu fangen. „Dann würden sie
zu benennen sein: Marinum Manta, ampliibium Onffroy
Thoronis und Canorus piscis Onffroy Thoronis." —
Der nordische Krake und die weltberühmte Seeschlange
haben nun an dem Seesrosche, der Manta, einen Genossen
erhalten. Doch ist es nicht unmöglich, daß an den Küsten
von Ecuador eiu großes Froschthier im Meere lebe. Der
Vicomte sagt: „Die Zukunft wird mir, früh oder spät,
Recht geben."
Neun Monate ans der M
In den weiten Räumen der Südsee schwärmen die Wal-
fischsahrer nach allen Richtungen hin, die Missionäre haben
sich auf einer Eilandflur nach der andern niedergelassen,
die Kaufleute sind ihnen gefolgt und die europäischen Ein-
slüsse machen sich mehr und mehr geltend. Viel Neues wird
in diesem gewaltigen Wasserbecken nicht mehr zu eut-
decken sein.
Aber es ist für die Wissenschaft von hohem Belang,
das Leben und Wesen der Südseeinsulauer näher zu
erforschen. Die Sache hat Eile, denn der Vernichtungs-
prozeß nimmt einen raschen Fortgang. Die braunen Men-
schen in der Sudsee, die Polynesier, sind dem Unter-
gange geweiht, seitdem sie mit der (Zivilisation in Berührung
kamen, und es hat den Anschein, als ob keine menschliche
Globus X. Nr. 10.
ennsel im Großen Dcean.
Macht das drohende Geschick abwenden könne. Wir haben
diesen Gegenstand im „Globus" oftmals berührt und heute
sind wir im Stande, nachzuweisen, wie selbst weit abge-
legene, außerhalb der großen Fahrbahnen liegende Eilande
in verderblicher Weise berührt werden.
Ganz einsam, mehr als 390 deutsche Meilen von der
nächsten Inselgruppe (dem Pomotu-Archipel, der Haselung
der gefährlichen Inseln) entfernt, erhebt sich aus den Wogen
der Südsee die Osteriusel. Dort ist einst vulkanische
Kraft thätig gewesen, aber die Krater der etwa 1000 Fuß
hohen Kegelberge sind längst erloschen. Salas yGomez,
das unser Adalbert von Chamisso im Gedichte besungen
hat, liegt etwa 60 Meilen weiter östlich. Sonst ist weit
und breit nur Wasserwüste.
40
314 Ncltn Monate auf der £
Der kühne holländische Seefahrer Roggeween fand
auf seinen Streifzügen in der Südsee am Ostertage des
Jahres 1622 unter 27" südl. Br. und 92" westl. L. von
Greenwich eine bis dahin unbekannte Insel, welche er auf
seiner Karte verzeichnete. Lauge Zeit uahete sich kein
Europäer ihrem schwer zugänglichen Gestade, bis 1687 der
Freibeuter Davis das Eiland besuchte. Dann vergingen
mehr als 80 Jahre, ohne daß man in Europa etwas von
jenem fernen Eiland vernommen hätte. Cook besuchte
und durchforschte dasselbe im März 1774, später, im April
1786, warf LaP sroufe Anker bei demselben, dann erschie-
neu hin und wieder Walfischfahrer. Sie verübten gewalt-
thätige Handlungen gegen die Eingebornen und erbitterten
das braunhäutige Volk so sehr, daß Kotzebue 1816 und
zehn Jahre später Beeck)ey eine durchaus feindliche Be-
gegnung bei demselben fanden.
So ist es gekommen, daß wir über jenen Fleck Erde
keine eingehende Knude erhalten haben, bis in unseren
Tagen der katholische Missionär Engen Eyraud Ge-
legeuheit sand, diese ethnographische Lücke auszufüllen.
Im Sommer des Jahres 1862 kam ein Franzose,
Lejeuue, Kapitäu des Schiffes „Cassini", an die Oster-
insel. Er setzte zwei Boote aus, deren Mannschaft ans
Land ging uud von den Kanacks (so bezeichnet man be-
kanntlich die braunen Insulaner der Südsee, wenn man
ihnen eine Gesammtbenennuug beilegt) gut empfangen
wurde. Mehre kamen an Bord und brachten süße Kartoffeln,
Taro und ein Huhu. Die Insel schien fruchtbar zu sein,
war aber ohne allen Baumwuchs; die Leute waren sehr
diebisch.
Lejeuue brachte diese Nachricht nach Valparaiso in Chile,
wo sich gerade der Missionär Albert Moutitou befand.
Dieser hatte 13 Jahre auf deu Pomotuiuseln gearbeitet
uud faßte nun den Plan, eine Station auf der Osteriusel zu
gründen. Zwei andere Patres, Rigal uud Eyraud,
schlössen sich ihm an und gingen zunächst nach Tahiti, wo
sie am 11. Mai 1863 landeten.
Zu jener Zeit herrschte in der Südsee große Bewegnug.
In den südamerikanischen Republikeu war großer Mangel
au Arbeitskräften, namentlich in Peru; die eingeboruen
Indianer wollten nicht arbeiten und die freien Neger noch
viel weniger. Deshalb hatte man Kulis zu Tausenden aus
China geholt, diese aber sehr schlecht behandelt. Die Kuli-
auswauderung stieß in Asien selber auf Hindernisse; in der
That war sie damals weiter nichts als eine neue Form des
Sklavenhandels. Mehre Spekulanten kamen dann auf deu
Gedaukeu, Arbeiter von den Südseeinseln zu holen, uud
uachdem die ersten Ladungen guten Profit abgeworfen
hatten, rüstete man sofort eine Anzahl von Schiffen aus,
welche Kauacks nach Peru holten. Dabei verfuhren sie
ärger als jemals die Sklavenhändler in Afrika; hier wurde
wenigstens der Neger gekauft uud bezahlt, aber in der Süd-
see wurde der Meuscheuranb in ein förmliches
System gebracht. Man lockte die Insulaner durch kleiue
Geschenke an Bord, gab ihnen Branntwein, uud wenn sie
berauscht waren, segelte das Schiff mit den in Ketten geleg-
ten Kanacks fort. Es kam häufig vor, daß man Streifzüge
bis ins Innere der Eilande unternahm und Menschen in
Masse ranbte. So wurden Tausende als „freie Arbeiter"
nach Peru gebracht uud dort, unter den Augen der Regie-
rnng, au deu Meistbietenden verkauft! Auch die Osteriusel
wurde einigemal heimgesucht, und es sollen etwa 900 Meu-
scheu von ihr fortgeschleppt worden sein. Als dieses schmach-
volle Treiben bekannt wurde, nahm der französische Gouver-
neur von Tahiti ein Einsehen und ließ mehre Schiffe, welche
den Menschenraub bei den Markesas - und den Pomotuiuseln
rinsel im Großen Ocean.
betrieben hatten, aufbringen. Auch die Bewohner der
Gambier- (Mangarewa-) Inseln bemächtigten sich eines
solchen Piratenfahrzeuges und segelten mit demselben nach
Tahiti, um es der Behörde zu Überliefern; am Bord des-
selben waren auch einige Leute von der Osteriusel.
Damals befanden sich die obengenannten Missionäre auf
Tahiti. Auf Andringen des französischen Geschäftsträgers
zu Lima hatte die peruanische Regierung sich dazu verstau-
deu, die geraubten Kanacks in ihre Heimat zurückzusenden.
Freilich war die Mehrzahl derselben in Peru gestorben; die,
welche man heimschickte, trugen den Keim zu den
Blattern in sich; diese brachen dann auch bald an
Bord der Schiffe aus uud rafften den größten
Theil hinweg. Durch die, welche ihre Heimat
erreichten, wurde dann die Krankheit auf den
Inseln selbst verbreitet, und auf den Markesas
erlag derselben fast die Hälfte der Gesammt-
bev ölkerung.
Auf Tahiti befanden sich zu jener Zeit vier Eingeborne
der Osterinsel, die nun wieder dorthin geschafft werden
sollten. Es lag eine kleine Goelette vor Anker, welche zu-
nächst auf den Gambierinseln eine Anzahl von Kanacks
ans Land setzen sollte. Aus mancherlei Gründen schiffte
sich von den Missionären nur allein Eyraud ein; er nahm
etwas Baumwollenzeug, allerlei Handwerksgeräth, einiges
Zimmerwerk zum Aufschlagen einer Hütte auf der holzarmen
Insel und etwas Mehl mit. Dazu kamen einige Katechismen
und Gebetbücher in tahitischer Sprache, welche, gleich jener
der Gambierinseln, mit jener ans der Osterinsel nahe ver-
wandt ist. Ein Eingeborner der letztern, Namens Pana,
war von der Anakenabay, und dort sollte das Schiff landen.
Die Osterinsel, welche auf unseren Karten auch als
Waihiu bezeichnet wird, heißt bei den Eingebornen Ra-
panue. Sie kam am 2. Januar 1864 in Sicht. Eyraud
bemerkt, daß sie einen recht angenehmen Anblick darbiete,
25 Kilometer lang und 17 breit sei. Die Küste zeigt nur
selten einen Einschnitt, der Boden erhebt sich allmälig
bis zu deuBerghügeln. Alles ist grün und fruchtbar; aber
Bäume und Wasserläufe fehlen durchaus. Nur 3 Buchten
sind vorhanden, wo gelandet werden kann: Anarova im
Nordwesten, Anakena im Norden und Wahni im Süden,
aber keine von ihnen gewährt Schutz.
Ein Mann von den Gambierinseln wurde in der Ana-
rovabay aus Land gesetzt, um Kundschaft einzuziehen und die
befreiten Insulaner abzuliefern. Er schilderte die Eingebor-
neu als sehr feindselig und völlig unbekleidet; fast überall
richteten die Blattern Verheerung an. Das war richtig.
Von 100 Kanacks, welche vor einiger Zeit aus Eallao in
Peru nach Rapanue zurückgebracht waren, kamen nur 15
an und diese brachten den Keim zu der verheerenden Krank-
heit mit. Bald nachher erschienen etwa 1200 Eingeborne
drohend am Strande; die Männer waren mit sehr primiti-
ven Lanzen bewaffnet; sie hatten nämlich einen scharfen
Stein au einen Stock befestigt. Ihre Aehnlichkeit mit den
Bewohnern der Markesas war auffallend, die Haut hell-
kupfergelb. Wenn aber Eyraud behauptet, daß viele völlig
weiß seien, so glauben wir ihm das durchaus nicht, weil
kein Polynesier weiß sein kann. Der ganze Leib war be-
malt; als Bekleidung diente ein Hüftenschurz, der aus einer
Art von Papyrns verfertigt wird.
Unter diesen Leuten lebte Eyraud nenn Monate. Er-
fand die Hütten unsauber und voll von Ungeziefer; man
mußte auf dem Bauch hineinkriechen. Das Wandern auf
der JuscJ ivar beschwerlich wegen der vielen spitzen Steine
und Felsen; der ganze Boden zeugt von früherer vnlkani-
scher Thätigkeit. Endlich sand der Europäer ein Unterkom-
Neun Monate auf der Os
men bei einem gewissen Temanu, welcher ihm einige Hühner
überließ, die ihm sofort ein anderer Insulaner, Toro-
in et i, stahl. Dieser Mann war ein rechter Plagegeist für
den Europäer; er betrachtete denselben sammt aller Habe
als sein Eigenthum und gab ihm jeden Tag eine Portion
gekochter Bataten. Auch hatte er nichts dagegen, daß der
Fremde die Kinder lesen lehrte, ,,aber freilich hatten
d i e s e a r m e n L e n t e auch n i ch t d e n a l l e r g e r i n g st e n
Begriff von den Dingen, welche ich ihnen begreif-
lich machen wollte, und es fehlte ihrer Sprache
durchaus an allen Ausdrücken, um dieselben zu
bezeichnen. Bei Wilden darf man keine Frage stellen oder
Auskunft verlangen. Sie sagen Einem > den Namen des
Gegenstandes, welcher gerade vor Augen ist, aber weiter
gehen sie nicht; nach dem Sinn und der Bedeutung, welche
sie nicht begreifen, darf man nicht fragen; irgendwelche
Definition würde weit über ihre Intelligenz hinausgehen.
Statt zu antworten, wiederholen sie die Frage. Alle, gleich-
viel ob groß oder kleiu, sind Kinder."
Zwölf Monate lang im Jahr haben die Insulaner gar
uichts zu thun, denn wenn sie ein paar Tage Arbeit auf den
Kartoffelacker verwenden, ist ihnen ein reicher Ernteertrag
sicher, der für das ganze Jahr ausreicht. So können sie
faullenzen, Besuche machen und schlafen nach Herzenslust,
und die Festlichkeiten nehmen das ganze Jahr hindurch
keiu Ende. Im Sommer werden beim Pamafest füße Kar-
toffeln in ungeheuerer Menge verschlungen; im Herbst und
Winter, also iu der Regenzeit, bauet man hohe Hütten und
feiert das Areantifest. Dabei wird viel gesilngen; man ver-
zehrte aber auch die Schafe, welche er mitgebracht hatte,
um eine Zucht anzulegen! Im Frühling wird zwei volle
Monate hindurch das M ata v eri fe st gefeiert und unmittel-
bar an dasselbe schließt sich das Pama- oder Sommerfest.
Es geht dabei hoch her und man bemalt den Körper mit
größerer Sorgfalt als gewöhnlich. Die Frauen hängen
allerlei Schmuck ius Ohr; schon in früher Jugend wird
dem Mädchen der Ohrlappen durchstochen und das Loch
allmälig durch eiu Stück Holz immer mehr vergrößert;
nachher stecken sie eine aus zusammengerollter Rinde be-
stehende Walze in dasselbe, welche während der festlichen
Zeit so groß als irgend möglich ist. Die Männer legen
Werth ans den Kopsputz, der iu mancherlei wunderlichen
Dingen besteht; einige stülpen einen halben Kürbis auf das
Haupt, andere irgend einen Vogel mit buntem Gesieder,
oder einen alten europäischen Hut, ja Eyraud sah, daß ein
Kanack sich einen Wassereimer auf den Kopf stülpte. Ein
Anderer hatte ein Paar von den peruanischen Sklavenrän-
bern zurückgelassene Stiefeln auseinander geschnitten, in
einer besondern Art wieder zusammengenäht und sich daraus
eine Kopfbedeckung gemacht, welche allgemein bewundert
wurde. Wer irgend eines Kleidungsstückes hat habhaft
werden können, legt es nun an, und hat er deren zwei,
dann zieht er sie übereinander. Und über alle Maßen glück-
lich fühlt sich ein Kanack, der etwas Klingendes oder Klap-
perndes besitzt, etwa ein Stück Eisen, eine Schelle oder gar-
em Glöckchen. Leib und Bekleidung, so weit von einer sol-
chen die Rede sein kann, wurden mit einem übelriechenden
Kraut eingerieben. Eyraud bemerkt ausdrücklich, daß die
Eiugeboruen der Osterinsel Ungeziefer mit großem Appetit
verzehren!
Das religiöse Element ist in ihnen sehr schwach. Sie
haben kleine Figuren von Menschen, Fischen und Vögeln,
die als eine Art von Idolen betrachtet werden können, doch
erzeigen sie denselben keine Ehrfurcht; auch Todteugebräuche
fehlen. Man umwickelt die Leiche mit einer Strohmatte und
nnsel im Großen Ocean. 315
legt sie der Wohnung gegenüber an den Strand auf einen
Steinhaufen oder ein Gerüst, allemal so, daß der Kops nach
dem Meere zu gerichtet ist. Solcher getrockneter Leichen
bemerkt man sehr viele; es bekümmert sich Niemand weiter
um dieselben. Vor dem Tode haben die Kanacks große
Furcht. Tarometi stahl eines Tages dem Missionär allerlei
Sachen. Als dieser ihm das Unrecht vorhielt und ihm sagte,
daß er sterben müsse, sing er zu zittern an ittxb man sah
deutlich, daß Zorn und Schrecken in ihm kämpften. Es war,
als ob der fremde „Papa" ein magisches Wort ansgespro-
chen habe; Alle riefen: e pohe on! und ein paar Wochen
lang dauerte die Bestürzung. Der Papa hatte offenbar, ohne
es zu wissen, ein großes Verbrechen begangen.
In allen Hütten findet man Holztäfelchen oder kleine
Stäbe mit einer Art von hieroglyphischen Zeichen, z. B.
Gestalten von Thieren, welche auf der Jufel nicht vorkom-
men; dieKauacks verfertigen dergleichen mit scharfen Stei-
nen. Jede Figur hat ihren besondern Namen, doch macht
man sich aus diesen Hieroglyphen nicht viel und weiß
wohl auch nicht mehr, was sie etwa ursprünglich bedeutet
haben. Lesen und Schreiben sind, wie sich von selbst ver-
steht, durchaus unbekannt, aber die Osterinsnlaner zählen
mit großer Leichtigkeit und haben für jede Zahl eine beson-
dere Bezeichnung. Ihr Jahr ist ein Mondjahr und sie zeigen
reges Interesse für Alles, was sich auf die Himmelskörper
bezieht. Beachtenswerth ist ihre große Fingerfertigkeit; sie
flechten Stroh, verfertigten aus den Fasern der Pflanze
Püraü Fäden und stellen vermittelst derselben hübsche
Gürtel und Netze her; sie bereiten ans der Rinde des
Manie eiue Art Zeug, mit welchen: sie sich die Schultern
bedecken. Zu alle dem benutzen sie nichts als ihre Finger
und deu ersten besten Stein; mit europäischen Werkzeugen
wissen sie durchaus nichts anzufangen. Mit demselben
scharfen Steine scheeren sie sich den Bart, (der allerdings
sehr wenig bedeuten will) und schneiden den Faden ab,
wenngleich eine Scheere zur Haud ist. Sie nähen leiden-
schaftlich gern.
Es ist schon gesagt worden, daß der Boden der Insel
felsig fei, aber fruchtbar ist er trotzdem; doch von Zeit zu
Zeit fällt Regen und die Wärme ist gemäßigt. Die Säme-
reien, welche Eyraud anpflanzte, gediehen vortrefflich, aber
die Insulaner vernichteten Alles. Ihnen genügen die Ba-
taten und die Jgnamen, deren Anpflanzen nicht die geringste
Mühe erfordert. Dann und wann werden Fische und Hüh-
ner gegessen, doch hütet man sich sehr, das Blut der Thiere
zu vergießen; den Hühnern dreht man den Hals um, Hunde
und Ziegen schlachtet man derart, daß man den Kopf in die
Erde vergräbt und der Tod durch Ersticken erfolgt; nachher
sengt man die Haare ab. Es scheint, als ob sie auch vor
menschlichem Blute Scheu haben. Seitdem die Peruaner auf
der Insel waren, gibt es dort Messer, aber diese bleiben bei
Zank und Streit unbenutzt; sie lieben das Steinigen.
Alle Bewohner der Osterinsel ohne jegliche Ausnahme
sind Diebe. Torometi betrachtete sich als Herrn und Eigen-
thümer aller Gegenstände, welche Eyraud mitgebracht hatte.
Ihre dreiste Zudringlichkeit kennt keine Grenzen. Nachdem
sie den Missionär gezwungen hatten, ihnen beim Bau eines
Bootes behülflich zu fein, stahlen sie ihm obendrein seine
Beinkleider; sie wollten es den Europäern nachthun, denn
die Matrosen gehen nicht nackt! Späterhin stahlen sie ihm
Rock, Schuhe und Hut und zuletzt blieb ihm gar nichts. Er
war seelensroh, als endlich das Schiff „Teresa Ramos"
erschien und ihn erlöste, am 10.Oktober 1865. Das Mis-
sionswerk war gescheitert.
40*
316
Zerstörung der Mission Bonga in Tibet und Vertreibung der Missionäre.
Zerstörung der Mission Bonga in T
Die Bemühungen französischer Sendboten, von den
westlichen Provinzen China's her nach Tibet vorzudringen
und ihre Lehre im Lande des Dalai Lama zu verküudigen,
haben auch iu der wissenschaftlichen Welt mit Recht große
Aufmerksamkeit erregt. Unsere Leser wissen, daß wir oft-
mals auf diese Bestrebungen hingewiesen, und erst vor
wenigen Mouateu hat Herr Emil Schlagintweit (Globus IX,
S. 171) die Wichtigkeit derselben hervorgehoben.
Es hätte ein großer Gewinn für Völker- und Sprach-
künde in Aussicht gestanden, wenn die Lazaristen in Tibet
festen Fuß gefaßt hätten. Sie entwarfen fogar den Plan,
in der Hauptstadt H'laffa selber, unter den Augen des
Dalai Lama, das Kreuz aufzurichten uud ihren Glauben zu
predigen. Aber die römischen Geistlichen geriethen dabei
ganz von selber in feindselige Berührung mit buddhistischen
Geistlichen. In China gelten die Mandarinen Alles und
die Bonzen gar nichts; dort fanden die Miffionäre
keinen geistlichen Widerstand; iu Tibet dagegen ist die
Geistlichkeit Alles in Allem; die Hierarchie der
Lamas bestimmt das ganze Leben, der höchste Gebieter ist
ein fleischgewordener Gott, das geistliche Oberhaupt für
viele Millionen Menschen, uud H'laffa ist eiu asiatisches
Rom, in welchen! sich der buddhistische Vatikan erhebt.
Es gibt in der Geschichte kein Beispiel, daß eine
Hierarchie sich von jener eines andern Glaubens, einer
andern Kirche friedlich hätte verdrängen lassen. Auch
Priester wehren sich und nun gar Mönche! Die christlichen
Sendlings kamen nach Tibet, um zn verkündigen, daß das
ganze System des Buddhismus irrig sei und nichts tauge,
daß der Dalai Lama keiu fleifchgewordeuer Gott sei und
daß an die Stelle desselben der heilige Vater in Rom als
Haupt aller wahren Gläubigen treten müsse. Es begreift
sich, daß die tibetauische Hierarchie der Verkündigung solcher
Lehren, überhaupt der Verbreituug des Christenglaubens
und was damit zusammeuhäugt, durchaus abhold ist. Sie
will keiue Coucurreuz duldeu. Die Christen ihrerseits
drangen in Tibet ein, gründeten die Mission Bonga,
machten eine Anzahl Proselyten und schickten sich au, uach
der Hauptstadt H'lassa vorzudringen. Nun traten die
Lamas ihnen rücksichtslos entgegen und erklärten, daß man
solche Ruhestörer uicht am Sitze Seiner Heiligkeit des
Dalai Lama dulden werde. Wir haben früher eingehend
mitgetheilt, welche Hindernisse man ihnen in den Weg ge-
legt hat. Die Missionär? beriefen sich daraus, daß in
Folge der Verträge China's mit den europäischen Mächten
ihnen das Recht zustehe, im gauzeu Reiche sich frei zu be-
wegeu und zu predigen; dagegen wendete man von Seiten
der tibetanischen Geistlichkeit ein, daß der Pekinger Hof gar
kein Recht habe, eine derartige Verfügung über Tibet zn
erlassen.
Die Verfolgung wurde mit geistlichem Eifer betrieben,
uud die Mission, ein Werk, an welchem die Lazaristen
anderthalb Jahrzehnte gearbeitet hatten, völlig zerstört.
Im Laufe des Jahres 1865 flüchteten sich die zum Christen-
thum bekehrten Tibetaner nach den drei Missionsstationen
Bonga, Kiang ka uud Kio na tong, wo sie bis auf
Weiteres persönlich sicher waren. Aber die Lamas, diese
tibetanischen Geistlichen, verboten ihren Landslenten, Lebens-
nuttel nach jenen Stationen zu bringen; sie wollten die-
kt und Vertreibung der Missionäre.
selben aushungern. Im Juni begauu der offene Krieg.
Der tibetanische Mandarin Aton hatte eine Anzahl Christen
gesangen genommen; diese trieb er nach Konguier, wo sie
enthauptet wurden. Die Missionäre Fage uud Duber-
uard mußten aus Kiaug ka flüchten, Durand und
Alerander Biet erlitten in Kio na tong allerlei Ungemach,
und gegen die Station Bonga rückte eine bewaffnete Macht
an. Am 29. Juni kam Rodong Tseuaug, „der Heuker der
Christen", an; die Leute der Station flüchteten sich ins
Gebirge; nur die Missionäre Desgodins und Felir
Biet blieben, nebst den Kranken uud deu Kindern, dort.
Sie litten große Roth, aber diesmal wurde Bouga uoch
nicht eingeäschert.
Der weitere Verlauf der Diuge wird in einem Briefe
des Missionärs Chanveau, datirt Ta tsieu lu 8. Jan.
1866, geschildert (Annales de la propagation de la foi,
Juli 1866, S. 284 ss.). Am 29. September 1865 wurde
Bouga von etwa 600 bewaffneten Leuten überfallen; sie
zerschlugen Alles, mißhandelten die Bewohner, jagten sie
dann fort und äscherten alle Gebäude ein; Alles wurde
dem Boden gleich gemacht.
Durand und Alerander Biet befanden sich in
dem kleinen Dorfe Kio na tong, das etwa 13 Wegstunden
von Bonga entfernt liegt. Dorthin kamen sie am 28. Sep-
tember. Die Missionäre entflohen; Biet rettete sich auf
chinesisches Gebiet, Durand hat sein Leben ein-
gebüßt. Er kam an die Seilbrücke, welche über den
Lau tfan kiang führt (dieser ist derMekong, derStrom
von Kambodscha, welcher in Tibet entspringt, durch die
chinesische Provinz Uünnan uud durch Annam fließt und
dann in den Bufeu vou Siam mündet), uud faßte das
Bambusseil an. Als er etwa in der Mitte des Stromes
au demselben hing, feuerten die ihn verfolgenden Tibetaner;
er erhielt einen Schuß in den Hals, einen andern iu die
Brust uud stürzte ins Wasser. So fand er den Tod; einige
eingeborne Christen, welche ihn begleitet hatten, wurden
gleichfalls erschossen uud iu deu Fluß geworseu. Nach
22 Tagen fand Biet Durands Leichnam bei Uly, bekleidete
denselben mit einem roth und Weißen Gewände, dem Sym-
bole des Märtyrerthums, und begrub ihn in chinesischer
Erde.
Auch die eingebornen Christen, sowohl Chinesen wie
Tibetaner, hatten viel zu leiden. Der „Christenwürger"
Aton prügelte sie mit eigener Hand, ließ sie dann an Pfähle
binden und einen Tibetaner mit zusammengebundenen
Händen an einem Dach aushängen. Anderen hing er ein
Messer um den Hals, um anzudeuten, daß sie ihr Leben
verwirkt hätten, noch Andere wurden mit Ketten belastet,
und was dergleichen mehr ist.
Die tibetanischen Geistlichen triumphirten. Desgodins
und F. Biet wurden nebst einer Anzahl von Neubekehrten
nach Tschraua gebracht, wohin die Aebte der 3 großen
Lamaklöster Hlassa's (sie heißen Gaden, Sera und
Dschrepond) gekommen waren, um Gericht zu halten.
Wir erfahren, daß der gegenwärtige Dalai Lama ein Knabe
von 8 Jahren ist, und daß die Gewalt sich in den Händen
jener Klostervorsteher befindet. Sie hatten einen Civil-
mandarinen mitgebracht; die beiden Missionäre wurden,
sammt den von ihnen Bekehrten, durch bewaffnete Mönche
Aus allen
escortirt; diese hatten auch zuerst Feuer iu Bonga an-
gelegt. Man erklärte, die Missionäre dürften in Tibet
bleiben, wenn sie sich zum Buddhismus bekehren wollten;
man würde auch nicht die geringste Spur von Christenthum
dulden, die zu demselben verleiteten Tibetaner müßten diesen
falschen und verderblichen Glauben abschwören, sonst werde
man sie ersäufen. Um zu beweisen, daß Bonga nie wieder
christlich sein solle, wurde auf der Stelle, wo die Kirche ge-
standen hatte, sofort ein buddhistischer Tempel gebaut.
Am 16. Oktober wurde den Missionären mitgetheilt,
daß alle bekehrten Tibetaner, selbst die kleinen Kinder, er-
säuft werden sollten; man werde an jedem Tag Einen ins
Wasser werfen, und die Uebrigen müßten dabei Augenzeugen
sein. „Auch ihr, Franzosen und Meister der Religion,
sollt zugegen sein." Das war keine bloße Drohung. Der
Civilmaudariu bezeichnete sofort das erste Opfer, einen ge-
wissen Lu tse; man führte ihn auf einen Felsen, warf ihn
von dort herab ins Wasser und schlenderte ihm Steine nach.
Am andern Tage verlangten die Mönche von dem
Civilmandarinen, er solle die gesammte Habe der beiden
Erdtheilen. 317
Franzosen und sämmtliche Bekehrte, sogar die Kinder an
der Brust, ius Wasser werfen. Diesem Befehl widersetzte
er sich: „Ihr befahlt mir, Bonga zu verbrennen, und das
habe ich gethan; gestern verlangtet ihr, daß ich einen
Menschen ins Wasser werfen follte, und das ist geschehen.
Was ihr heute befehlt, das empört mich und ich will mit
euch nichts mehr zu schaffen haben."
Nun zogen die 3 Aebte andere Saiten auf, und das
Ende war folgendes: Die Missionäre mußten einen Geld-
Werth von 800 Francs bezahlen; die den tibetanischen
Christen zuerkannte Todesstrafe wurde in Verbannuug um-
gewandelt, und die Missionäre, denen man ihre Sachen
wieder gab, sollten mit ihnen abziehen. Am 21. Oktober
verließen sie dann Tschrana und zogen über die chiuesische
Grenze. Am 31. Oktober waren sie in Kiata, das von
Tibet unabhängig ist und schou zur Provinz Su tschueu
gerechnet wird.
Kio na tong und Kiang ka sind gleichfalls zerstört
worden und nun gar keine Christen mehr auf tibetanischem
Boden.
Aus allen
Die Mohammedaner im chinesischen Turkestan.
Wir brachten jüngst einige Nachrichten über die Nebellion
der Muselmänner in den westlichen Provinzen des eigentlichen
China und folgten dabei den Berichten des französischen Mis-
sionärs Fanrie. Wir finden nun, daß in der geographischen
Gesellschaft zu St. Petersburg Herr Heinz ausführliche Nach-
richten über die Stellung gegeben hat, in welcher sich die Mo-
hanunedauer im chinesi'schen Turkestan befinden.
Man bezeichnet in ganz China die Anhänger des Islam
als Dungans, und Heinz nimmt ihre Anzahl im Reiche auf
etwa 30 Millionen Köpfe an; dabei sind aber jene in Turkestan
nicht mitgerechnet. Jene Ziffer ist vielleicht um 10 Millionen
zn hoch gegriffen. Sie sind im ganzen Lande zerstreut, und am
zahlreichsten in den Provinzen Kansu, Schensi, Sse tfchueu,
?)ünnan und dann im Norden des Thian schan- (Himmels-)
Gebirges,
Der Regierung gegenüber haben sie eine Ausnahmestellung.
Von Seiten des Herrschervolkes der Mandschu werden die ver-
schiedenen Nationalitäten im Reiche eifersüchtig überwacht, aber
den Mohammedanern haben sie doch einige Vorrechte zugestan-
den, z. B. der zahlreichen Gemeinde Salar. Diese wird von
einem Jmam verwaltet, der zugleich geistliches Oberhaupt der
Dungans ist. Sie hat mehrmals gegen die Mandschndynastie
rebellirt und dann allemal viele andere Mohannnedaner in den
Aufstand hineingezogen; indessen blieben die Chinesen stets
Sieger. Aber die Wirksamkeit einer, den letzteren feindseligen
Propaganda, die zugleich religiöser und politischer Art ist, hat
niemals aufgehört. In der letztverflossenen Zeit stand an der
Spitze derselben ein gewisser Sawnn, welcher sich den Titel
Wan, d. h. Fürst, beigelegt hatte und am Pekinger Hof in
Ansehen stand. Er ist vor einigen Jahren gestorben.'
Heber die gegenwärtige Rebellion der Muselmänner hat
Herr Heiuz Folgendes erfahren:
In der Stadt Si ngan fu, in der Provinz Schen si, stau-
den zwei reiche Kaufleute,'ein Mohammedaner und ein Mandschn,
in häufigem Verkehr. Der erstere kaufte von dem letztern Vieh,
wollte aber die seiner Ansicht nach übertrieben hohe Summe
für dasselbe nicht zahlen; er glaubte sich übervortheilt. Als der
Mandschu ihn im Beisein anderer Leute mit Scheltworten über-
häufle, rannte er ihm seine» Säbel in den Leib. Die darüber
erbitterten Mandschu machten ihn auf der Stelle uieder und
plünderten sein Hans. In Folge davon entstand ein Gemetzel
zwischen den Dungans und den Mandfchn; die ersteren blieben
'Sieger, waren dann bald Herren der Stadt, und der Aufstand
Erdtheilen.
verbreitete sich nach Nordwesten hin, wo die Muselmänner sehr
zahlreich sind. Sie schlössen eine Art von Bund, steuerten in
eilte gemeinschaftliche Kasse, speisten anch gemeinschaftlich und
errichteten Spitäler für die Verwundeten.
Die Insurrektion hat ihre schwache Seite darin, daß sie
über ein sehr großes Gebiet verbreitet ist und in manchen Ge-
genden über verhältuißmäßig geringe Kräfte verfügt. Aber im
chinesischen Turkestan, d. h. Jli, dem Westlande, der kleinen oder
hohen Bncharei, dem Thian schan nan lu, d.h. Land im Süden
des Hinnnelsgebirges, oder auch Sin kiang, d. h. Land der
neuen Grenze, —' denn alle diese Namen beziehen sich auf die-
selbe Provinz, und in der Dsungarei (die auch als Jli, und als
Thian schau pe lu, d. h. Nordland, weil im Norden des Him-
melsgebirges, bezeichnet wird) sind sie bisher siegreich geblieben;
und haben nur in Tschngutschak (in Tarbagatai, d. h. Murmel-
thiergebirg) einige Niederlagen erlitten, weil dort die Chinesen
von den Kalmücken unterstützt wurden. Herr Heinz meint aber,
daß die Mandschuregieruug ohne auswärtige Hülfe nicht stark
genug sei, Turkestan und die Dsungarei wieder zu unterwerfen
oder dauernd zu behaupten; sie ist ohnehin erst seit 1759 im
Besitze derselben.
Ausschließlich religiöse Beweggründe liegen dem Aufstande
nicht zn Grunde; die Mißverwaltuug der Mandarinen ist in
nicht geringem Maße schuld an demselben. Dazn kommt der
ethnische Gegensatz zwischen Chinesen und den türkisch-tatarischen
Völkern. Diese Gegensätze liegen schon im Blut, in der Rasse
und deshalb werden sie bleiben'; die tiefe Abneigung ist gegenseitig.
Weitere Fortschritte in Japan. Zwischen dem Minister des
Auswärtigen, Midzn no Jdzuni no Kami und den Gesandten von
England, Frankreich Nordamerika und der Niederlande ist am
25.Juni 1866 ein Vertrag abgeschlossen worden, welcher den seit
1858 gültigen Zolltarif in der Weise abänderte, daß fortan alle
ein- und ausgehenden Maaren 5 Procent vom Werthe zahlen;
er ist seit dem 1. August für die Häfen Nagasaki und Hako-
dade, und schon vier Wochen früher für den von Kanagawa-
Jokohama in Kraft getreten. — Japan will künftighin in den
obengenannten Ländern und auch in Rußland Consuln halten.
— Wichtig ist auch in jenem Vertrage die Bestimmung, daß die
japanische Regierung ihr Münzamt erweitern werde, damit alle
fremden Gold- und Silbermünzen in Landesmünzen von gleichem
Werth umgeprägt werden können; dafür sind dann nur die
Prägekosten zu 'bezahlen. Die japanischen Unterthanen können
von nun au Dampfer und andere Handelsschiffe von Anslän-
318
Aus allen Erdtheilen.
dern ankaufen. Die Regierung wird in den geöffneten Häfen
Lenchtthürme oder Leuchtfeuer unterhalten. —
Wir wollen noch bemerken, daß in dem Jahre vom 30. Juni
1865 bis dahin 1866 die Ausfuhr von Thee 8,200,000 Pfd.,
gegen 3,870,000 im Jahr vorher betrug. China erportirte in
derselben Zeit 124,884,000 Pfd. schwarzen und 23,719,000 Pfd.
grünen Thee.
Duldsamkeit der Japanesen. Das ganze Benehmen der
Europäer und Nordamerikaner in Japan ist nicht von der Art
gewesen, daß es bei dem japanischen Kulturvolke irgendwelche
Sympathien hätte erwecken können. Wer will es der japani-
schen Regierung verdenken, daß sie die fremden, ohnehin unge-
betenen und unwillkommenen Gäste sorgfältig überwachte ? Schon
vor dritthalbhuudert Jahren hatte sie alle Ursache, die Euro-
päer weit weg zu wünschen, und trieb sie aus dem Lande, als
die eingebornen Christen zu einer politischen Partei geworden
waren, welche Nebellionen anstiftete. Sie hat auch in unseren
Tagen die Missionäre, welche im Jnselreiche des Sonnenauf-
gangs ihr Heil versuchen wollen, sehr ungern gesehen. Fort-
weisen konnte sie diese Leute nicht, sie wurden aber genau über-
wacht. Seitdem man sich aber überzeugt hatte, daß sie keinen
Schaden anrichten würden, behandelte man sie sehr freundlich
und zuvorkommend. Der amerikanische Missionär R. S. Brown
schildert im * londoner „Church Missionary Intelligenter" Juni
1866, wie die Dinge gegenwärtig stehen. Die Regierung schickte
zuerst 12 junge Edelleute nach Kauagawa, wo sie bei einem
Missionär Englisch lernten. In Nagasaki und in Uokohama
gründeten die Behörden Schulen zu demselben Zwecke und über-
trugen die Leitung den protestantischen Missionären. Sie haben
nichts dagegen, daß diese Schulbücher christlichen Inhalts beim
Unterrichte gebrauchen und daß die Schüler Fragen an die
Lehrer über Gegenstände des Glaubens richten. Auch die Frauen
der Missionäre habenSchuleu eröffnet, und es ist nur zu wün-
schen, daß sie den braven Japanern keine ihrer puritanischen
Uankeetrichinen einpflanzen, sondern ein tolerantes Christenthum
lehren möchten.
Der hohe Staatsrath in Beddo läßt jetzt eine große Schule
in Uokohama bauen, in welcher einige Hundert Jünglinge ans
den angesehensten Familien im Englischen uud Frauzösischeu
unterrichtet werden sollen. Die Missionäre erhalten bei ihrem
Studium der japanischen Sprache und Literatur allen möglichen
Vorschub, sie haben ein japanisch-englisches Wörterbuch vollendet,
das 40,000 Wörter enthält uud demnächst in die Presse gege-
ben werden soll. Sie sind auch mit einer Übersetzung der Bibel
beschäftigt. „Es hat sich gezeigt, daß die Japaner im Allge-
meinen keinesweges feindlich gegen die Ausländer gesinnt sind;
eben so wenig zeigen sie sich bigot in religiösen Dingen. Viel-
mehr rühmen sie von sich, daß sie viel unbefangener und libe-
rater als die Chinesen seien. Viele zeigen den lebhaftesten Eifer,
sich mit den Sprachen, Wissenschaften und Künsten des Abend-
landes genau vertraut zu machen"
Die Menagerie eines indischen Fürsten.
Präsidentschaft Bombay liegt die Halbinsel E
Im Gebiete
der Präsidentschaft Bombay liegt die Halbinsel Gudscherat oder
Guzerat. Sie wird beherrscht von einem Maharattenfürsten,
dem Guikowar, welcher iu Subsidienallianz mit den Engländern
steht, ein Heer von etwa 10,000 Mann unterhält und ein Ein-
kommen von ungefähr 5 Millionen Thalern hat. Seine Haupt-
stadt liegt in einer hübschen Gegend und zählt 140,000 Ein-
wohner. Dort hat der Monarch eine Menagerie von wilden
Thieren, die wohl einzig in ihrer Art dasteht; Seiner Hoheit
machen nämlich Thierkämpfe das größte Vergnügen. In der
„Bombay-Gazette" entwirft ein Engländer, welcher sich die
Thiersammlung zu Baroda angesehen hat, folgende Schilderung:
Schon von weitem drang ein wunderliches Durcheinander
von Gebrüll und Geheul aller Art zu uns; unsere Führer sag-
ten uns, wir brauchten gar keine Furcht zu haben. Es macht
aber doch einen seltsamen Eindruck, wenn man sich einem ganzen
Bataillon von Tigern gegenüber sieht, alten und jungen, mehr
oder weniger wilden; grimmig sehen sie alle aus. Alle sind an
eingerammte Pfähle gebunden; die eisernen Halsketten sind
allerdings stark genug, aber das lederne Halsband beruhigte
uns nicht, denn das indische Leder ist bekanntlich schwach und
schlecht. Die Hüter mögen sich wohl damit trösten, daß die
Bestien einmal an die Gefangenschaft gewöhnt sind und nicht
daran denken, sich loszureißen. Wenn man diese Tiger in
solcher Menge und in sehr verschiedenen Lagen und Stellungen
ber ammen sieht, erinnern sie lebhaft an unsere gewöhnlichen
Katzen; die Ähnlichkeit ist wirklich überraschend. ÄVir wagten
uns bis auf etwa drei Schritte an einen, der leidlich zahm
schien, heran; er benahm sich ruhig, aber sein nächster Nachbar
zeigte große Lust, über uns herzufallen. Er heulte und fletschte
die Zähne; dafür bekam er vom Wärter einige Hiebe über den
Kops und war dann so artig, wie der gestiefelte Kater. Die
meisten Tiger sahen uns gleichgültig an, zwinkerten mit den
Augen in der Sonne und ließen sich von den Wärtern streicheln,
oder mit dünnen Stöckchen schlagen. Mitten unter ihnen befand
sich eine Löwin, welche durch eine majestätische Ruhe imponirte.
Dagegen waren die 8 oder 10 Panther um so lebhafter; einer
davon war ganz schwarz und sah aus wie ein Hund. Einen
melancholischen Eindruck machten die Nashörner, deren der
Guikowar 3 Stück besitzt, darunter einen Veteran, dessen ab-
genütztes Horn Zeugniß von manchem harten Kampf ablegt.
Er war sehr lang, doch nicht über 5 Fuß hoch; ein junges war
erst seit einigen Monaten in der Menagerie und benahm sich
doch schon ganz zahm. Alle wilden Thiers Indiens sind re-
präsentirt; ans Afrika hat man eine schöne Giraffe geholt, die
volle 15 Fuß mißt.
Eis im ägyptischen Sudan. Ein Blatt in Konstantinopel,
„la Tnrguine" enthält ein Schreiben aus Kassal a, iu der Pro-
vinz Takka, vom 20. Mai 1866, mit der Angabe, daß etwa
20 Wegstunden von Kassala, im Gebiete der Beni Amer, ein
gewaltiger Hagelschlag stattgefunden habe; dann sei die Kälte
so heftig geworden, daß das Wasser sich mit einer Eisdecke über-
zogen habe. Elephanten und Hansthiere seien vor Kälte umge-
kommen. Das wäre, die Richtigkeit der Angabe vorausgesetzt,
für jene tropische Gegend eine merkwürdige Erscheinung.
r. Humanität der alten Aegypter. Die alten Grab-
schristen legen rühmliches Zeugniß ad von der Bildung und
milden Gesittung der alten" Aegypter. So liest man auf den
Steinwänden der Königsgräber die schönen, an christliche Para-
beln erinnernden Worte: „Ich habe gelebt von der Wahrheit
und mich genährt mit Gerechtigkeit. ' Was ich den Menschen
gethan, war voll Versöhnung, und wie ich Gott geliebt, weiß
Gott uud mein Herz. Ich habe Brod dem Hungrigen, Wasser
dem Durstigen, Kleider dem Nackten gespendet und dem Wanderer
gewährte ich ein Obdach."
Abnahme der Sklaverei in Brasilien. Alle intelligenten
Leute iu jenem Kaiserreiche sind überzeugt, daß die Negerskla-
verei auch dort ihrem Ende entgegengeführt und sobald als
möglich abgeschafft werden müsse.' Die Vorschläge zur Frei-
lassung häufen sich, alle aber kommen dahin überein, daß man
schon im Interesse der Neger selbst das in hohem Grade un-
verständige Verfahren der radikalen Partei Nordamerikas ver-
meiden müsse. Man wird die Neger nicht hülflos aufs Pflaster
werfen, sondern Uebergänge stattfinden lassen. Das empfiehlt
sich auch aus wirtschaftlichen Rücksichten. Erfreulich ist, daß
ein Theil der Geistlichkeit sich für die Sache der Emancipatiou
iu wirklich menschenfreundlicher Weise interessirt. So hat z. B.
das Kapitel der Benedictiner in Bahia die Maßregel getroffen,
daß, vom 3. Juni 1866 an, alle Kinder, welche von Sklavinnen
geboren werden, die dem Orden gehören, frei sein uud in den
Klöstern unterrichtet werden sollen' Einen unangenehmen Gegen-
satz bildet das Verfahren der Carmelitermönche zu Santos iu
der Provinz San Paulo. Dort wurden am 7. April nicht
weniger als 47 Prozeffe zur Freilassung von Sklaven vor Ge-
ficht gebracht. Der Sachverhalt war, daß mehr als 70 Sklaven
des Carmeliterklosters freigekauft werden sollten, aber die Mönche
widersetzten sich, weil die Sklaven ihnen Geld einbrachten.
Darauf hin traten mehre Menschenfreunde zusammen und ver-,
klagten den Orden, welcher nun auf gerichtlichem Wege zur
Annahme des Freikaufs veranlaßt werden wird.
Ehrengeschenk für den Hydrographen Kapitän Maury.
Der berühmte Verfasser der „Physischen Geographie des Meeres"
und der „Sailing Directions" war Jahrelang Vorstand des
Observatoriums iu Washington. Beim Ausbruche des Unab-
hängigkeitskampfes ^ der nordamerikanischen Südstaaten hielt er
zu den letzteren, ging späterhin einige Zeit nach Mexico und
nun befindet er sich seit dem Frühjahr 1866 in England. Dort
zeichnet man den hochverdienten Mann nach Gebühr aus; man
veranstaltete ihm zn Ehren ein Gastmahl, an 'welchem 140
Männer Theil nahmen, und überreichte ihm ein Ehrengeschenk
Aus allen
von 3000 Guineen. Sir John Pakington, gegenwärtig Marine-
minister, führte den Vorsitz; unter den Anwesenden befanden sich
manche Admiräle, z.B. Back, Halstead, Anson und Codrington,
Physiker wie Wheatstone und Glaisher, der Reisende du Chailln
und manche auswärtige Diplomaten. Pakington hob den Nutzen
hervor, welchen Maury's „wundervolle Karte" der Winde und
oeeanischen Strömungen für die Schissfahrt und den Handel
gebracht haben. Aus Maury's Antrieb versammelte sich 1853
zn Brüssel der Marin econgreß; seitdem erhielt das britische
Handelsamt eine meteorologische Abtheilung. Man hat es den
Forschungen und Weisungen Maury's zu danken, daß die Aus-
gaben für ein Schiff von 1000 Tons, das von einem Nordsee-
Hafen, z. B. nach Rio de Janeiro, Indien oder China fährt,
sich um 250 Pfd. St. geringer stellen als früher, und für eine
Fahrt von und nach China oder Australien beträgt die Geld-
ersparniß 1200 bis 1300 Pfd. St. Mit Recht sagte Alexander
von Humboldt, Maury habe eiueu ganz neuen Zweig der
Wissenschaft begründet, die physische Geographie des Oceans.
Die Verdienste des gefeierten Mannes wurden auch in Deutschland,
Rußland, Oesterreich, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Schwe-
den, Holland, Belgien, Sardinien und von dem Papst anerkannt;
Großfürst Constantin habe ihm nach Beendigung des amerika-
nifchen Krieges ein Asyl in Rußland angeboten; ein Gleiches
sei von Seiten der französischen Regierung geschehen. Zu dem
Ehrengeschenke, welches ihm feierlich überreicht wurde, kamen
aus Holland 1000 Pfd. St. und aus Rußland kam eben fo
viel; der Rest wurde in England unterzeichnet. Maury bemerkte
in seiner Dankrede, daß heilte jedes Kauffahrteischiff in einen
schwimmenden Tempel der Wissenschaft und eiu Observatorium
verwandelt werden könne, ohne daß man dafür auch nur einen
Thaler zu verausgabeu brauche; aber der Weg sei kaum beschritten
worden, mau befinde sich erst in den Anfängen und es bleibe
noch viel zu thuu übrig. — Es ist in hohem Grad erfreulich,
daß mau die Verdienste Maury's nicht blos mit Worten ehrt;
man hat ausgerechnet, daß allem in Folge seiner Segelweisungen
der Seehandel jährlich einen Profit von mehr als 1 Million
Dollars hat und zwar durch die Ersparnisse, welche durch die
gegen früher bedeutend abgekürzte Reisedauer gewonnen werden.
Geographische Expeditionen in Rußland. Die geogra-
phifche Gesellschaft in St. Petersburg erwirbt sich um die Er-
forschung des großen Reiches, insbesondere auch um jene der
asiatischen Provinzen, viele Verdienste. Auf die großen sibiri-
schen Erpeditionen haben wir im „Globus" oftmals hingewie-
sen; jetzt lesen wir, daß abermals einige neue Forschungsreisen
durch sie veranlaßt und von ihr unterstützt werden. Es handelt
sich zunächst um eine Untersuchung des nördlichen Je-
nissei; sie soll von Turuchansk aus unternommen werden und
den Strom bis zu seiner Mündung ins Eismeer verfolgen.
Die Goldgräber an jenem Flusse haben eine Summe beigesteuert,
um das Unternehmen zu fördern, und die Dampfschifffahrts-
gefellfchaft des Jeniffei stellt ein Boot zur Verfügung. Leiter
des Unternehmens ist der Bergingenieur Lepatin; ihm zur
Seite stehen ein Naturforscher, ein Ethnograph und.ein Topo-
graph. . „ ,
Eine andere Expedition ist beauftragt, emen fahrbaren
Weg aufzusuchen, welcher die Kreise von Olekminsk und
Nertschiusk mit einander in nähere Verbindung bringen
würde. An der Spitze steht Fürst Krapotkin. _
Die Mineralquellen inTransba'ikalien sollen von
Lomonossow untersucht werden.
Die Urwälder in Böhmen.
Geheimerath Göppert hat in der naturwissenschaftlichen
Abtheilung der schleichen Gesellschaft für vaterländische Cultur
interessante Nachweise über die Urwälder in Böhmen gegeben.
Schon 1858 wies er auch in Schlesien einen Urwald nach, der
sich in der Herrschaft Seitenberg, Grafschaft Glatz, befindet.
Dein von Herrn Göppert uns freundlich übermittelten Vortrag
entlehnen wir im Auszug das Folgende. —
Die Urwälder befinden sich im Böhmerwalde, welcher
sich in fast 30 Meilen Länge von den Grenzen des Voigtlandes
bis nach Oberösterreich hinzieht und die natürliche Grenze
zwischen Böhmen und Bayern bildet, und zwar vorzugsweise
im Ursprungsgebiet der Moldau auf den Herrschaftsgütern des
Fürsten Adolph von Schwarzenberg, Herzog von
Krnmmau, auf den Herrschaften Krummaü, Winterberg,
Stubenbach, sowie auch auf der gräflich Thun'fchen Herrschaft
Groß-Zdikan. Nach Hochstetter (welcher fchou 1855 über die
Erdtheilen. 319
Urwälder einen größern Aufsatz veröffentlichte) wird das Ge-
sammtareal dieser Urwälder etwa auf 33,000 Joch (1 Joch —
2V4 preuß. Morgen) geschätzt, während der gesammte Wald-
bestand jener eben genannten vier Herrschaften mit dem re-
generirten oder kultivirten Walde zusammen ungefähr 100,000
Joch beträgt. In völlig primitivem Zustande ist vor-
zugsweise ein auf dem sich bis zu 4298 Fuß erhebenden Ku-
bany befindlicher Urwald von 7200 Morgen preuß. erhalten,
von welchem auch ein höchst wesentlicher Theil nach einer Ver-
ordnung des Fürsten möglichst conservirt werden soll.
Der Charakter europäischer Urwälder kann beider
geringen Mannichfaltigkeit unserer Baumvegetation im Vergleich
zu denen der Tropen nur ein einförmiger sein; es steigert sich
diese Einförmigkeit noch auf größerer Höhe und beschränkt sich zn-
letzt auf Nadelhölzer, weil eben nur dort sich bei dem Zustande
unserer socialen Verhältnisse dergleichen zu erhalten vermochten.
So besteht denn auch in der That die etwa 700 Morgen große,
im Glazergebirge in 3500 Fuß Höhe gelegene Urwaldstrecke nur
aus Rothtannen (Pinns Abies £.), im Böhmerwalde die untere
Region auf unserem Hanptbeobachtuugspuukte, dem Kubauy,
von 2000 bis 3500 Fuß aus Weiß- irnd Rothtannen mit bei-
gemischten Buchen und einzelnen Bergahorn, die obere Region
von 3400 bis 4000 Fuß nur aus Rothtannen oder Fichten
(Pinns Abies L.~).
Als Hauptcharakter tritt uns in der Buchen- und Weiß-
tannen-Region die erst in der bedeutenden Höhe von durch-
schnittlich 60 bis 100 Fuß vorhandene Kronenbelaubnng
entgegen. Daher die Helligkeit und auch die Möglichkeit der
Entwickelung des"jungen Ausschlages, welche freilich erst bei
Bildung irgend einer Lücke erhebliche Fortschritte macht, dann
aber rasch, selbst nach hundertjähriger Unterdrückung, das un-
freiwillig Versäumte nachholt, wie das Studium der Quer-
schnitte solcher Stämme zeigt. Die Regeneration oder Ver-
jüngung dieser Wälder erfolgt also fortwährend, und mau hat
daher'nicht uöthig, wie vou Einigen angenommen wird,
an einen in großen, etwa 4 bis 500jährigen
Zeiträumen eintretenden sogenannten säkularen
Wechsel der gesammten Baumvegetation zu denken.
Die größten Dimensionen erreicht die W e i ß t a n n e.
Stäinnie von 120 bis 150 Fuß Höhe bei 4 bis 6 Fuß Um-
fang sind gewöhnlich, von 200 Fuß Höhe, im Durchmesser von
6 bis 8 Fuß nicht selten, mehre maß ich zu 8 Fuß, daher denn
auch pro Joch 142 bis 200 Kl. im Urwalde häufig vorhanden
erscheint. Die stärkste bis jetzt beobachtete, noch in
ihren Ruinen von Hochstetter gesehene Weißtanne maß 30 Fuß
Umfang und 200 Fuß Länge. Auf 30 Klaftern 30zölligen
Brennholzes schätzte man die- Holzmenge des jetzt leider nicht
mehr vorhandenen Riesen. Buchen, Rothbuchen (Fagus sylva-
.tica), obschon vou geringerer Stärke, doch in einzelnen Exem-
plaren'von 14 Fuß Umfang, Wetteifer:: im Höhenwachsthum
und erreichen nicht selten die bedeutende Höhe von 100 bis
130 Fuß bei 80 bis 90 Fuß Kronenbelaubung. Fichten, auch
in dieser Region häusig, erreichen zwar nicht die Höhe und
Stärke der Weißtanne, aber doch eine so imposante Größe in
Tausenden von Stämmen, wie sie nur als Seltenheiten in
unseren Wäldern angetroffen werden. Ihre Entwickelnngs-
und Wachsthum'sweise auf abgebrochenen stehenden
und liegen de u Stämmen und dazu noch die Ver-
wachsung der Wurzeln neuer und alter Stöcke unter-
einander liefern die charakteristischen Merkmale des
deutschen Urwaldes, welche nach vielfach eingezogenen Er-
kundigungen von Reifenden der Tropen keine dortige Baumart
zeigt. Entwickelung auf abgebrochen stehenden Stöcken _ oder
Stämmen bedingt zuletzt bei allmäliger Zersetzung und Schwinden
des Mutterstammes das zuerst von Ratzeburg (1831) beschriebene
stelzenartige oder pandanenartige Wachsthum, wo
die Bäume wie vou Säulen getragen erscheinen, und Entwicke-
lnng auf liegenden Stämmen die reihenweise Stellung der
Bäume im Urwalde, die hier auf die ausgezeichnetste Weise her-
vortritt. Oft stehen 5 bis 6 an 150 Fuß hohe und 3 bis 4 Fuß
dicke Fichten in geraden, oft sich kreuzenden Linien und tausend
und abermals tausend jüngeren Anflugs verschiedener Größe
wuchern auf den überall wild durcheinander liegenden, in allen
Stadien der Zersetzung befindlichen Zeugeu vergangener Jahr-
hunderte. Nur die kräftigeren erhalten sich und bleiben zuletzt
in fast gleicheu Entfernungen und in geraden Linien zurück,
welche der Richtung des Stammes entsprechen, auf dem sie einst
entsprossen. Nach den genauen, von Forstmeister John, dem
verdienten Pfleger des Kubany, angestellten, mir mitgetheilteu
Messungen befinden sich in etwa 2 bis 3200 Fuß Seehöhe hier-
aus einem preußischen Morgen au 160 Klaftern Holzmasse, wo-
von etwa % auf lebenden und die übrigen % auf tobten
320 Aus allen
stehenden und lagernden Stämmen, hier Ronen genannt, kommen.
Non 3400 Fuß ab mindert sich das gewaltige Höhenwachsthum,
vermehrt sich aber die Festigkeit, und in dieser Region von 350Ö
bis 4000Fuß finden sich Stämme von 6 bis 70vjährigem
Alter bei nur 2 bis 3 Fuß Dicke, deren Holz unter Anderem
zu Resonanzböden verwendet wird, welches besonders in:
Stubenbacher Revier in unübertrefflicher Güte gefunden und
dnrch die hier befindliche Fabrik des Herrn Bienert, als des
Gründers dieser Industrie, in allen Gegenden der Erde ver-
breitet wird.
Von anderweitigen Bäumen finden sich hier noch Ulmen,
Bergahorn, doch im Ganzen von keinem bemerkenswerthen
Umfange, so wie die in allen nordischen Wäldern als Baum
und Strauch einheimische Eberesche; dann als Unterholz fast nur
Salix caprea, Lonicera, Sambucus racemosa 3C.; V0N kraut-
artigen Gewächsen in besonderen, auf feuchten, von fließendem
Wasser berieselten, nicht eigentlich sumpfigen Lagen, auf welcheu
auch die Bäume vorzugsweise zur massenhaftesten Entwicklung
gelangen, die gewöhnlichen Pflanzen unserer höhereu Vorgebirge.
Im Ganzen aber ist die PHanerogamen-Flora des ganzen
Böhmerwaldes, der trotz der Höhe von 4 bis 4600 Fuß seiner
Berggipfel durchaus keinen alpinen Charakter wie etwa das
Riesengebirge besitzt, arm zu nennen, aber dennoch eben wegen
ihrer Dürftigkeit mit Hinsicht auf Verbreitung der Gewächse
von größtem Interesse. Auf dem höchsten Punkt, dem Arber,
in 4600 Fuß Seehöhe, meint man die Flora eines Wiesen- oder
Waldrandes der Ebene vor sich zu sehen, wenn nicht zwischen
den die Rasenflächen begrenzenden Felsengruppen Juncus trifidus
und Agrostis rupestris hervorsproßten und mit den Gprophoren
und Andreaeen auf dem Gestein die hohe Lage verriethen.
Wenn wir nach den Ursachen der Erhaltung dieser
wunderbaren Wälder forschen, fo haben wir wohl als ein
Hanptmoment ihre geographisch schwer zugängliche Lage, die
erst sehr spät und nur durch Anlegung von kostbaren Kanälen
ihre allgemeinere technische Benutzung gestattete, und die be-
schränkte Zahl von Holz konsumireiiden Fabriken zu nennen.
Denn nur Glashütten sind vorhanden, Eisenwerke fehlen wegen
Mangel an Eisenerzen. Zu ihrer außerordentlichen EntWickelung
trägt die durch Beobachtung nachgewiesene, überaus feuchte At-
mofphäre wesentlich bei, welche dnrch die mit Krummholzkiefern
bewachsenen das Moldauthal und dessen Seitenthäler bis hoch
herauf erfüllenden Moore *) veranlaßt wird, wie denn endlich
auch die Entfernung jeder Einwirkung des Menschen nicht hoch
genug anzuschlagen ist. Man überließ bie Lichtung der Natur,
vielleicht die Hauptursache der so merkmürdig hohen
Kronenbelaubung; alle Abfälle der Vegetation, so-
wohl der bäum- als krautartigen, kamen ihr hier wieder zu
gute, daher auch die im Allgemeinen sehr gesunde Beschaffen-
heit dieser Wälder und ihre so massenhafte Holzprodnk-
tion, wie sie in vielen unserer meist vielfach regenerirten, durch
Entfernung der Abfälle und Untervegetation in ihrem natür-
lichen Wechselverhältnisse von Nahrung und Eonfumtion gestörten,
also wie man wohl in Wahrheit sagen kann, durch Raubbau
geschwächten Wäldern so leicht niemals wieder zum Vorschein
kommen kann und auch dort sich vermindern wird, wenn mit
der Zeit die Verhältnisse zur Benutzung der sämmtlichen Er-
zeugnisse des Waldes drängen sollten. Ich verwahre mich hier
im Voraus gegen alle Einwürfe und Vorwürfe, die man nur
wegen dieser Ansicht machen dürfte, lasse alle Nothwendigkeits-
.und Nützlichkeitsrücksichten bei Verwaltungen gelten, mir liegt
nur daran, auf eines der großartigsten naturhistorischen, bis jetzt
nichtsdestoweniger außer Böhmen _ nur wenig berücksichtigten
w a h r en Phänomene die allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken.
Denn die Wälder intereffiren uns nicht mehr
allein wegen ihrer Holzproduktion, sondern auch
wegen ihrer hohen klimatischen Bedeutung, wegen
ihrer Wichtigkeit für die Regelung der Gewässer
zur Verhütung der Gefahren von Ueberfchwem-
mungen, womit so viele Länder eben in Folge der Vernach-
lässigung ihrer Pflege auf das Empfindlichste heimgesucht werden.
*) Diese Bedeutung dieser viele tausend Morgen großen und oft
20 bis 30 Fuß mächtigen Moore ist sür die Erhaltung des Wasserreich-
thums der Moldau, somit für das ganze Land gewiß nicht hoch genug
anzuschlagen, worin mir Jeder beistimmen wird, der auf Gebirgen Gelegen-
heit hatte, den Einfluß von Mooren und Sumpf- oder Knieholz-
liefern auf Bildung und Unterhaltung von Quellen zu be-
obachteu- Sphaegna scheinen die Entstehung jener Moore vorzugsweise
vermittelt zu haben, die an vielen Orten eben durch den Einfluß jener
winzigen, im Haushalt der Natur aber so bedeutungsvollen Moose
noch in weiterer Bildung begriffen sind.
Erdtheilen.
Nur auf solchem primitiven Boden kann die bis jetzt freilich
kaum noch gegründete Forstchemie, die alleinige Basis
einer rationellen Forstbewirthschaftnng, wer wollte
dies leugnen, e n t f ch e i d e n d e E r f a h r u n g e n über N a h r u u g
und Produktiv» sammeln und so vielen kostspieligen, physio-
logischen Einsichten widersprechenden, Versuchen entgegentreten,
welche oft so schwere Opfer ohne Erfolg und Nutzen kosten.
Dem bei allen solchen Untersuchungen ebenso betheiligten Bo-
taniker bietet sich dort ein unerschöpfliches Material für morpho-
logische und physiologische Studieu dar, und der Oekouom
kann sich wie so leicht nirgends überzeugen, was eiu Boden,
deu man nicht seiner natürlichen Hilfsmittel beraubt, zu leisten
vermag. Dem Paläontologen zeigt die trotz viel tausend-
jähriger ungestörter Vegetation in so geringer Menge vorhandene
Dammerde," daß die Steinkohlenlager nicht direkt aus Ur-
Wäldern uud ihrem Abfalle einst entstanden sein können.
Fossile Menschenknochen anch in Mittelitalien anfge-
fnnden. Ein Arzt bei der französischen Armee in Rom,
Dr. Bleicher, hat den „Nouvelles Annales des Voyages"
(August 1866) eine geognostifche Abhandlung über den Möns
sacer eingeschickt, der nur zwei italienische Meilen von der Stadt
entfernt liegt. Ans den Kiesgruben des heiligen Berges sind
schon seit langer Zeit viele fossile Knochen zu Tage gefördert
worden. Hr. Bleicher beschreibt die einzelnen Fundstätten und
die Knochen, welche zumeist so wohl erhalten sind, daß man
ganze Köpfe mit ihren Hörnern oder Geweihen hat zusammen-
setzen können. Die Farbe ist bald dunkelbraun, bald hcllgran,
die Härte beträchtlich stark, der Bruch glatt und die Versteine-
rung manchmal so vollständig, daß auch die Markhöhle der
größeren Knochen ausgefüllt ist. Am häufigsten sind Knochen
von Rindvieb, das weit größer gewesen ist als die stärksten
Exemplare des gegenwärtig lebenden grauen Ochsen der römi-
schen Eampagna. Deutlich zu erkennen und zu unterscheiden
sind Los primigenius und Bos bubalus; vielleicht kommt auch
Los priseus hinzu, doch sind darüber noch nähere Untersnchnn-
gen anzustellen. Sehr häusig sind anch die Knochen vom Hirsch;
Geweihe und Zähne deuten aus mehre Arten desselben hin; vor-
trefflich erhalten ist ein Geweih von Dama romana, das sich
jetzt im Mnsenm der Sapienza befindet. Schaf und Ziege hat
Bleicher im Herbst 1865 aufgefunden; das Wildschwein ist,
gleich dem Hippopotamns und dem Rhiuoceros, nicht häufig im
heiligen Berge. Von dem kolossalen Elephas meridionalis sind
sehr viele untere Kinnladen mit den Zähnen vorhanden, nnd
Knochen. vom fossilen Pferde sehr häufig. Von Carnivoren
kommt nur Ursus spelaeus vor, von Nagethieren nnr der
Biber.
An den bisher gefundenen Knochen sind nirgends Spuren
von schneidenden Werkzeugen gefunden worden; manche sind in
der Mitte oder auch sonst zerbrochen, doch rechtfertigt nichts
die Annahme, daß die Brüche zum Zwecke der Herausnahme
des Markes bewerkstelligt worden seien. Aber es sind plumpe
Steinmesser uud Pfeilspitzen in jenen Kiesablagerungen
gefunden worden von der allerrohesten Form und sehr verschie-
den von den weit vollkommener gearbeiteten, welche man, Pro-
fessor Ponzi zufolge, in deu oberen Schichten des Sabinerlaudes
uud im Saeeothal ausgegraben hat.
Im Jahre 1359 fand Abbate Ruseoni zu Montieelli bei
Tivoli drei Menschenzähne in der obern Lage des Traver-
tins, welcher den guaternären tibnrtinischen See füllt. Sie be-
finden sich in seiner Sammlung. Das Vorkommen bearbeiteter
Steine in den unteren Lagen der alten Schwemmgebilde gibt
uns deu ersten Nachweis über die Existenz der Menschen' in
Mittelitalien. Er war schon vorhanden, als der Travertin sich
ablagerte, also vor aller geschichtlichen Zeit. Dazu kommen
dann die steinernen Pfeilspitzen uud Menschenknochen unter
einer thonigen und kieseligen Alluvion von 2l/2 Metres Dicke,
welche Bleicher im März 1865 in Gegenwart des französischen
Geologen de Verueuil constatirt hat und zwar am Ufer des
Almone, 4 Kilometer von Rom am Rande der Via Appia
nuova. Dort wurden gefunden: ein vollkommen erhaltener
.MenseHenschädel mit der untern Kinnlade, zwei zerbrochene
Schulterblätter, eiu Schulterbeiu, Rippen und Rückenwirbel.
Die sorgfältige Beobachtung der Fundstätte ergab, daß die
Schicht, in welcher diese stark versteinerten Knochen lagen, in
einer alten Zelt gebildet wurden, als der Bach, welcher jetzt
selbst im Winter nur ein dünner Wasserfaden ist, stark genug
war, mächtige Anschwemmungen an beiden Ufern zu bilden.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Ein Besuch beim Könige von Dahome.
ii.
Einzug in Abomeh. — Schilderung des Königs Ghezo und seiner Minister. — Empfang der Gesandtschaft, — Ueberreiclmng der
Geschenke; Fetischbilder der Weißen — Ein kriegerisches Fest; das männliche und das weidliche Heer; Elephantenjägeriiinen. —
Die Blutopfer und was damit zusammenhängt, — Fetischdienst und Tempel der dösen Geister. — Die Sklaverei und Herab-
Würdigung der Frauen. — Einkünfte und Königskaufleute. — Das Grabmal der Herrschers und das große Herkommen. —
Schilderungen von Augenzeugen über die Menschenopfer.
Der Einzug in die Hauptstadt Abomeh fand unter
großem Gepränge statt. Man geleitete die Fremden unter
eine Baumgruppe, wo Sessel bereit standen, und sie mußten
vor allen Dingen auf die Gesundheit des Königs trinken.
Bald nachher erschienen nach und nach mehre Generale,
jeder mit einem bewaffneten Gefolge von einigen Hundert
Mauu. Sobald sie vor deu Europäern ausmarschirt waren,
träger, welche bisher platt im Staube gelegen hatten, aber
so, daß sie eine knieende Stellung einnahmen.
Der König war ein Mann von mehr als 69 Jahren,
groß, stark beleibt; sein Gesicht hatte einen für einen Neger
ziemlich intelligenten Ausdruck und dasselbe gilt auch von
seiner Stirn; aus dem Auge sprühete Katzeulist. Die
Kleidung bestand aus einem Stück Seide, das er über die
Eingang zum Palaste des Königs von
machten sie Halt und führten groteske Tänze auf. Nach
etwa eiuer Stunde wurden die Weißen in ihren Hang-
matten weiter getragen, nach dem Palastplatze hin, und
das zahlreich versammelte Volk schrie gewaltig. Als sie
ausstiegen, wurden Kanonenschüsse abgefeuert, und alle
Neger warfen sich in den Staub, denn König Ghezo er-
schien, umgeben von seinen Frauen und einer Amazonen-
garde. Er saß auf schient Thron unter einem gewaltig
großen Seidenschirme. Die Fremden traten, den Hut in
der Hand, zu ihm hinan; er stand auf, kam ihnen einige
Schritte entgegen, schüttelte Allen die Hand und deutete
an, daß sie auf den für sie bereit gehaltenen Sesseln Platz
nehmen möchten. Nun erhoben sich auch alle Würden-
Globus X. Nr. 11.
Dahome. (Nach Repin und Boulangö.)
Schultern geworfen und um deu Leib geschlungen hatte;
auf dein Kopfe trug er einen Filzhut und um den Nacken
ein goldenes Halsband, an welchem eine Amuletkapsel hing.
Zur Rechten des Königs kauerten etwa 600 Kriegerinnen;
jede hatte ihre Flinte zwischen den Schenkeln. Hinter
diesen standen die braungekleideten Elephantenjägerinnen;
anf der linken Seite befanden sich ein paar Hundert Frauen
aus dem Harem, alle in Seide gekleidet uud mit Gold und
Silber geschmückte Hinter deni Throne standen drei Fa-
voritinnen und die Generalin der weiblichen Garde. Sie
trug sehr schöne glänzende Waffen, war schwer mit allerlei
Kriegsanmleten behängt, hatte eine durchaus martialische
Haltung, und an ihrem Gürtel hingen mehre Roßschweife.
41
322 Ein Besuch beim!
Vor dem Throne lagen der älteste Sohn des Königs und
die Staatsmiuister auf den Knieen; jener, welcher jetzt
regiert, war damals etwa 40 Jahre alt, von etwas düsterm
Weseu, weniger intelligent als sein Vater und gehörte zur
altkouservativeu Partei.
Der Mingan ist zugleich Justizminister und Voll-
streifer der vom Köuige gesprochenen Urtheile. Er trägt
stets ein großes, nach unten hin sehr breites Schwert. Der
Kambodeh, Oberstkammerherr, Hofmarschall und Eerc-
monienmeister, gebietet Schweigen, indem er eine platte
Glocke in Bewegung setzt; auch führt er die Fremden ein
und hat als Zeichen seiner Wurde einen Stab mit silbernem
Schlüssel. Der Tolouu überwacht die Amazonen und
das Serail, und genießt das volle Vertrauen des Königs, der
nur an ihn unmittelbar das Wort richtet, wenn er Befehle
ertheilt. Er ist auch Mundschenk und kostet aus jedem
Glase, bevor der König dasselbe an die.Lippen bringt;
dann hält er ihm ein seidenes Tuch vor, denn in Dahome
darf Niemand sehen, daß Seiue Majestät trinkt. Ferner
trägt der Tolonn ein silbernes Speibecken und einen Fliegen-
Wedel.
Kapitän Ballon erklärte nun vermittelst des Dol-
metschers, weshalb er von seinem Monarchen nach Dahome
geschickt worden sei. Der Ruf dieses Laudes wäre über
die ganze Welt verbreitet, und der französische Kaiser
wünsche mit dem König in Freundschaft zu stehen und ihm
Geschenke zu macheu. Nachdem dieser eine sehr verbind-
liche Antwort gegeben, wurden Gesundheiten getrunken
und Kanonen abgefeuert. Die Volksmenge rief in einer
eigentümlichen Weife Beifall, indem sie mit den Fingern
auf die Lippen schlug und solchergestalt den Ton dämpfte.
Dann hatte Vallou eiue gemüthliche Unterredung mit
Ghezo, der sich nach vielerlei Dingen erkundigte, welche
einen Barbaren zu interefsiren pflegen. Erst gegen Abend
wurden die Europäer entlassen und konnten sich ausruhen.
Man hatte ihnen ihre Wohnung beim Mehu ange-
wiesen, dem Minister des Innern. Dieser war ein hoch-
bejahrter, sehr verschmitzter Diplomat, der noch an dem-
selben Abend feine Aufwartung machte, um die Fremden
auszufragen; indeß erfuhr er nur wenig. Am andern
Tage schickte der König eine Menge Speisen, die aber mit
ranzigem Palmöl zubereitet wareu und deshalb an die
Neger verschenkt wurden; die Kalebassen waren indeß sehr
reinlich.
Repin benützte den nächsten Tag, um sich die Stadt
näher zu betrachte«. Er war sehr erstaunt, als er auf
dem großen Marktplatz in einer Bude eiu paar maurische
Kanflente sah; sie trugen arabische Turbane und Burnus
von weißer Wolle und beteten als gute Mohammedaner den
Rosenkranz ab. Sie waren aus Tripolis oder Aegypten
gekommen und hatten die weite Reise nicht zum ersten Mal
gemacht.
Am Abend wurden die für den König bestimmten
Geschenke ausgepackt. Sie bestaudeu in Seidenzeugen,
Damasten, allerlei feinen Möbeln, Spiegeln, Krystall-
waaren, Parfümerien, eingemachten Leckerbissen, litho-
graphirten und illnminirten Schlachtenbildern aus dem
Krimkriege, Porträts der napoleonischen Familie, Fahnen
u. dergl. Dingen mehr. „Außerdem brachten wir, auf be-
sondern Wunsch des Königs, der vor Begierde brannte,
die Fetischbilder der Weißen zu sehen, 8 Statuen
christlicher Heiligeu mit; sie waren von halber
Mannsgröße, aus Papiermasse, bemalt und vergoldet und
fanden beim Könige großen Beifall."
^ In einer Privataudienz bemerkte der schwarze Potentat
die Ordenszeichen, welche Kapitän Ballon aus der Brust
rtifjc von Dahome.
trug und fragte, was diese Grigri's, d. h. Amnlete, be-
denteu sollten. Das wurde ihm deutlich gemacht und er
sagte: „Auch ich gebe meinen tüchtigsten Kriegsleuten Aus-
Zeichnungen." Einige der Anwesende« mußten die mehr
oder weniger mit rohen Ciselirungen und Ausschnitten ver-
sehenen Silberplatten, welche an silbernen Ketten um deu
Hals hingen, abnehmen und vorzeigen. Kapitän Ballon
zeichnete sofort eiueu Orden mit dem Elephanten von Da-
Home in der Mitte; dieser gefiel demKönige und er bemerkte,
daß er nach dem Muster einen besondern Orden verfertigen
lassen und damit auch die Europäer decorireu wolle. Wie
schade, daß er sein Versprechen nicht gehalten hat! Alles,
was man ihm von den Wunderwerken unseres Erdtheils
erzählte, befriedigte ihn; nur an die Eisenbahnen und die
Beweguug von Fuhrwerken durch Dampf wollte er durch-
aus uicht glaubeu. Gewiß hielt er es für schnöde Groß-
Prahlerei, als man ihm sagte, daß vermittelst Dampfwagen
auf Schienenwegen 19,900 Krieger binnen drei Stunden
von Abomeh nach Whydah geschafft werden könnten. Als
man ihm erzählte, daß jeder europäische Mouarch nur eiue
einzige Frau habe, gerieth er in große Heiterkeit, welche
von allen Anwesenden getheilt wurde.
Ghezo rühmte den Mnth und die Tapferkeit seines
weiblichen Heeres uud erzählte, daß dasselbe vor
einiger Zeit im Kriege gegen die Nagos eine Ortschaft
erstürmt habe, nachdem die männlichen Soldaten zurück-
gewichen seien. Der General sei bei dieser Gelegenheit
geblieben. Als Ballon äußerte, daß der Köuig gewiß deu
Verlust desselben bedauere, antwortete Chezo: „Jawohl,
ich bedauere ihn, weil ich ihm nun seiner Feigheit wegen
den Kopf nicht abschlagen lassen konnte."
Ein Theil des Heeres besteht aus Elephauteujägerinnen,
und während einer Audienz brachte eiu Bote drei Schwänze
von Elephanten, welche am Tage vorher geschossen worden
waren. Nun wurde die Gesandtschaft mit Champagner-
wein bewirthet und erhielt am andern Tage vom Krön-
Prinzen einen Besuch, der bald nachher erwiedert wurde.
Köuig Ghezo veranstaltete ein großes kriegerisches
Fest, um deu Fremden zu zeigen, wie mächtig er sei. Er
hatte viele Kabosirs uach seiner Hauptstadt entboten, und
am 22. Oktober zogen sie an der Spitze der ihrem Befehl
untergebenen Kriegerfchaaren ein. Nach Verlauf einiger*
Stunden wurden die Europäer in feierlichem Zug abgeholt
uud in ihren Hangmatten durch eiue unübersehbare
Menschenmenge getragen.
An der Mauer des Palastes war ein großes Gerüst
aufgefchlageu uud durch eiue Menge kolossaler Schirme
gegen die Sonnenstrahlen geschützt. Dort thronte der
Herrscher; neben ihm befand sich eine Anzahl seiner Frauen
und eine Abtheiluug der weiblichen Garde; in einem Halb-
kreise lagen der Kronprinz uud die Großwürdenträger auf
deu Knieen. Die dem König verehrten Geschenke hatte
man auf eiuer langen Tafel zur Schau ausgestellt, und deu
Fremden wurde aus der Estrade eiu Platz zur Linken des
Königs angewiesen. Dann wurden etwa 30 Kanonen ab-
gefeuert.
Die Zahl der versammelten Kriegsleute aller Art be-
lief sich ans etwa 6000 Köpfe; alle waren mit gewöhnlichen
Flinten oder Trabucosgewehren bewaffnet und keineswegs
gleichmäßig gekleidet. Unter den 30 Musikanten waren
einige, welche auf Elephantenzähnen bliesen; andere schln-
gen auf Rehfelle, die man über einen hohlen Klotz gespannt
hatte, andere schlugeu mit Eisenstäben auf Kuhglocken oder
bliesen aus Bambusflöten. Wir wollen nicht alle Einzeln-
Em Besuch beim !
Helten dieses barbarischen Festes schildern, sondern nur
Einzelnes hervorheben.
Nachdem die ganze Armee am Throne des Königs vor-
übergezogen war, theilte sie sich in verschiedene Rotten und
führte ein Scheingefecht auf. Das Feuer wurde sehr leb-
Haft; die verschiedenen Parteien stürmten gegen einander
ein und heulten dabei ganz infernalisch. Viele schwangen
ein großes Messer; sie zeigten, wie man im ernsten Kampfe
dem Feinde den Kopf abhauet und denselben triumphirend
heimbringt. Dann wurde ein Massengefecht ausgeführt,
der Gegner hitzig verfolgt, und die Sieger stellten sich zu-
letzt in Reihe und Glied vor den: König hin, um einen
Triumphgesang anzustimmen.
Als dieser beendigt war, herrschte ein paar Minuten
lang lautlose Stille. Dann rückten die Artillerie-Ama-
zonen vor und gaben Feuer, zum Zeichen, daß nun die
Infanterie-Amazonen erscheinen sollten. Sie waren,
einige Tausend an der Zahl, besser bewaffnet und gleich-
mäßiger gekleidet, als die männlichen Krieger und bildeten
verschiedene Corps. Das stärkste trug einen blauen Kittel
mit rother Gürtelschärpe und weiße, blaugestreifte Hofen,
die bis auf das Kuie hinabfielen. Auf der Weißen Mütze
war als Abzeichen die Figur eines Kaiman angebracht, und
am Halse hingen allerlei Grigri's (Amnlete). Das zweite
Corps bestand aus den E l ep h aute n j ä g e r in ne n, mochte
etwa 400 Köpfe zählen, bestand aus Elitetruppen und trug
au einem rings um den Kopf gelegten eisernen Reifen zwei
Antilopenhörner. Die dritte Abtheilnug war nur 200
Amazonen stark, trug halb blau und halb rothe Kittel und
schien eiue besondere Abtheiluug der Artillerie zu bildeu.
Die Hiuterhut eudlich bestand aus einem Bataillone der
hübschesten Mädchen, die nur Pfeil und Bogen führten.
Sie waren mit hübschen blanen Röcken bekleidet und hatten
an der weißen Kopfbedeckung einen blanen Kaiman. Dieses
Corps enthält die Rekrnten für die Amazonenarmee.
Alle vier Abtheilnngen defilirten gemeinschaftlich in
recht guter Ordnung und führten dann Kriegsübungen in
ähnlicher Weise auf, wie die männlichen Soldaten, aber
mit viel größerer Lebendigkeit und Furie. Die Elephauteu-
jägerinnen stellten ungemein anschaulich die Methode dar,
uach welcher sie aus ihren Erpeditionen zu Werke gehen,
nnd die mit Bogen bewaffneten Amazonen führten Tänze
mit so viel Amnnth und Gemessenheit ans, daß die Euro-
päer ganz entzückt waren.
Nun gebot der Kambodeh Schweigen nnd rührte die
Glocke; der König wollte Lebensmittel und Erfrischungen
verlheilen, und das ganze Volk brach darüber in Jubel
aus. Nachdem die Speisen mit Gier verschlungen waren,
schaffte man ans dem Palaste vier Orhoft Branntwein her-
bei, deren Inhalt auch bald verschwand. Den Franzosen
setzte man amerikanisches Bisenit, Zucker, Liqueur und
Rum vor. Der Mehu hielt eine Anrede an die Krieger,
in welcher er ihnen kund gab, daß große Krieger aus fernem
Lande herbeigekommen seien, um den berühmten König zu
begrüßen, ihm Geschenke zu bringen und seine Freundschaft
zu erbitten. —
„Das Fest galt indeß noch lange nicht für vollständig;
bisher war ja kein Blut geflossen. Welche traurige Ge-
danken drängten sich uns auf! Da ist ein Volk, das von
Natnr nicht grausam zu sein scheint; es mißhandelt weder
Frauen, noch Kinder oder Thiers, aber ein öffentliches
Freudenfest kann nicht ohne Menschenopfer gedacht werden.
In jedem Jahre fallen Hunderte von Köpfen, wenn die so-
genannten Gebräuche (Eustoms) auf dem kleinen Belvedere
gefeiert werden, welches nur wenige Schritte von nns ent-
fernt lag."
mge von Dahome. 323
„König Ghezo bat den Kapitän Ballon nm Vergebung,
daß er in diesem Angenblicke nnr etwa ein Dntzend Kriegs-
gefangene zum Abschlachten bereit habe, — viel zu wenig,
um so angesehene Gäste zn ehren. Ballon forderte sofort
dringend, daß man die Unglücklichen verschonen möge;
es würde für ihn und nns keine Ehre, sondern eine Be-
schimpfung sein, wenn Blut zu unseren Füßen vergossen
würde, und wir könnten bei einem solchen Schauspiel durch-
aus nicht zugegen sein. Es bedurfte von Seiten Ballons
entschiedener Festigkeit, deu König umzustimmen und dies-
mal die „Gebräuche" außer Acht zu lassen."
„Vor Sr. Majestät stand ein großes blankes Kupfer-
gesäß. Dasselbe darf bei keiner Feierlichkeit fehlen und
wird auch der Armee nachgetragen, denn in ihm fängt man
das Blut und die abgehauenen Köpfe der Schlachtopfcr
auf." „Auch heute stellte man dasselbe vor dem Thron
hin, denn Blut mußte fließen, diesmal aber nicht von
Menschen, sondern von einer Hyäne. Als das geknebelte
Thier an Ort und Stelle war, nahmen die Würdenträger
um dasselbe im Kreise Platz und Pslogeu Berathung, wahr-
scheinlich in ähnlicher Art, wie bei einem Menschenopfer.
Die Hyäne wurde zum Tode verurtheilt und der Mingham,
Justizminister, hieb ihr den Hals mit einem Schlage seines
gewaltigem Schwertes ab. Wir vier Europäer dachten
unwillkürlich daran, daß wir uns inmitten von 30,000
Barbaren befanden, welche durch Kriegsspiele, Lärm,
Pulver nnd Branntwein in die höchste Aufregung versetzt
waren, und daß ihnen sicherlich das Vergießen unseres
Blutes mehr Vergnügen machen würde, als jenes der
Hyäne."
„Nach diesem Blntopfer wurden die zwölf Abgesandten
der von Ghezo besiegten, schon weiter oben erwähnten
Nagos vorgeführt; sie waren nach Abomeh gekommen,
um Frieden zu erbitten. Der Kronprinz und die hohen
Würdenträger stellten sich im Halbkreise vor dem König
auf, die Gesandten warfen sich platt aus die Erde nieder
und harrten so der Entscheidung. Nach langem Hin- und
Herverhandeln, bei welchem der Mehu den Fürsprecher der
Nagos zn machen schien, murmelten die Räthe wiederholt
das Wort uhn, welches in Dahome ein Zeichen der Zu-
stimmnng und des Einverständnisses ist. Der Kronprinz
stand auf, füllte ein Glas mit Wasser, trank und gab es
seinem Nachbarn, der ein Gleiches that; so machte das
Glas die Runde und es gelangte zuletzt au die Nagos.
Ihr Wunsch war erfüllt, der Friede war ihnen bewilligt.
Sie warfen sich wieder zu Bodeu, überschütteten das Haupt
mit Erde, vernahmen wohlwollende und mahnende Worte
von Seiten des Königs und entfernten sich. Als das ge-
fchehen war, winkte der König einer fchon bejahrten Favorite,
welche nebst einigen anderen Frauen neben den Europäern
niederkniete und begann einen sehr eintönigen Gesang.
Der Inhalt war: Ihr großen Krieger seid aus fernen
Gegenden hergekommen, habt den Gefahren des Meeres
Trotz geboten nnd euch vor deu Sümpfen der Lama nicht
gefürchtet. Ghezo hat Frende an Männern, die so tapfer
sind, wie ihr; wir mögen ench leiden, weil ihr Ghezo's
Frennde seid nnd wünschen, daß ihr in eurem Laude Macht
und Ehre haben mögt."
„Damit war für nns das Fest vorüber, und Ghezo
geleitete uns bis zu unseren Hangmatten. Er hatte die
schon erwähnten Heiligenstatncn aufstellen lassen nnd fragte
uns nun nach dem Namen jeder einzelnen. Als wir ihm
Auskunft gegeben, sprach er die Besorgniß aus, daß er sie
wieder vergessen könne. Dagegen wußte der alte Mehu
guten Rath. Er ließ acht Neger vortreten, stellte je einen
derselben vor jeden Heiligen und that ihm kund, daß er
41*
324
Ein Besuch beim Könige von Dahome,
künftig den Namen des ihm zugewiesenen Fetisches führen
solle; er möge ihn ja gut merken, sonst koste es den Kopf.
Ani andern Morgen traf es sich, daß der arme Teufel,
welcher den Namen des heiligen Laurentius führen follte,
denselben vergessen hatte; wir halfen aber seinem schwachen
Gedächtnisse nach, und so behielt er deu Kopf auf dem
Rumpfe.
Die Franzosen waren nach^ Abomeh gekommen, uni
Erlaubuiß zur Gründung einer Faktorei in dieser Stadt
Gegengeschenke gab man ihnen Baumwollenzeuge, die im
Laude verfertigt werden, Säbel und Dolche. Auch ver-
trauete Ghezo ihnen zwei Knaben im Alter von 12 bis 14
Iahren an, die in Marseille erzogen werden sollten. Am
25. Oktober verließen die Europäer Abomeh nnd waren
hoch erfreut, als sie einige Tage später sich wieder an Bord
ihres Dampfers'befanden.
'///y S'slOUy/ , /<
(P/ ://; r////A ■ ■-.'// Ms.
König Ghezo von Dahome. (Nach Repin.)
auszuwirken. Von Seiten Englands hatte man früher
schon nach demselben Ziele getrachtet, aber Kapitän Forb es
scheiterte 1850 mit seinen Versuchen. Indessen drangen
doch englische Missionäre bis Abomeh vor und verhandelten
dort englische Baumwollenwaaren gegen Oel, Elfenbein
und Goldstaub; sie hatten durch reiche Spenden den Mehu
für sich gewonnen, mußten aber nach einiger Zeit wieder
Der Schlangenkultus ist in Dahome nur auf die
Küstenlandschaft beschränkt; im Innern hat der Fetisch-
dienst eine andere Form. Der Neger will den Zorn der
schädlichen und übelwollenden Naturkräfte und Mächte
durch Opfergaben abwenden und die wohlwollenden sich
geneigt machen. Die Tempelhütten, runde sowohl als
■ v o-v........ .....p*v„ ...........ö~ ^ ,vavu viereckige, liegen gewöhnlich unter dicht belaubten Baum-
abreisen. Auch die Franzosen wurden mit ihrer Forderung gruppen und dienen manchmal auch dem Priester zurWoh-
abgewiesen, doch war der Abschied freundlich, und als nnng. Die Leute bringen Palmöl, Bananen, Geflügel,
Ein Besuch beim .
Schafe it. dgl. m. als Opfer dorthin, und so kommt es,
daß die Priester Wohl genährt sind. In und an jeder
Tempelhütte befinden sich allemal viele Fetifchbilder in
Menschen- oder Thiergestalt; manchmal besteht auch der
Negergötze nur aus einem Stocke mit drei Zacken, der mit
allerlei Zeug und Band behäugt ist, oder in einem Backen-
zahn vom Elephauteu, einem Hippopotamuszahn, einem
Horn der gehörnten Schlange n. dgl. m. Jeder beliebige
niqe von Dahome. 325
in katholischen Kirchen aufgehängt. — In die Tempel der
bösen Geister darf keiu Uneingeweihter eindringen, ihn
würde Todesstrafe treffen.
Verheiratung, Geburten und Begräbnisse geben keinen
Anlaß zu Feierlichkeiten. Der Neger kauft feine Frau und
nimmt fo viele Weiber, als er bezahleu oder ernähren kann;
er übt in seiner Familie eine durchaus willkürliche Gewalt
und kann nach Belieben jedes Mitglied in die Sklaverei
Em Krieger des Königs von Dahome. lNach Repin.)
Gegenstand kann durch Einweihung des Priesters, welcher
magische Worte hermurmelt, in einen Fetisch umgewandelt
werden. Im Tempel zu Tafu sah Repin eine große Menge
ex voto-Sachen aufgehängt, z. B. Stücke vou Beinen
und Armen, Hände und Füße, Alles plump aus Holz ge-
schnitzt. Die Gläubigen wollten dadurch der wohlwollenden
Macht, welcher sie Heilung von Krankheiten zuschrieben,
ihren Dank abstatten. Aehnliche Sachen findet man auch
in Europa vielfach und zwar aus derselben Veranlassung
verkaufen; doch behandelt er insgemein alle seine Ange-
hörigen mit Wohlwollen. Freilich bürdet er alle
Arbeit den Frauen auf. Während der Herr und
Gebieter trinkt, raucht oder schläft, muß die
Frau Palmöl pressen und kochen, Holz und
Wasser holen und Speisen bereiten; diese letz-
teren muß sie ihm allemal knieend darreichen;
niemals darf sie gemeinschaftlich mit ihm essen.
Der Mann kümmert sich nur um Jagd und Fischfang. Die
mm
3'2ß Ein Besuch beim Könige von Dahome.
Sklaven Werden gut gehalten und gelten gleichsam für kauflente. Auch das Elfenbein bildet eine ergiebige Ein-
Mitglieder der Familie; die Unkultur ist ja bei allen nahmeqnelle. Eisen und Kupfer werden in nur geringer
Negern dieselbe. Diebstahl, der sehr häufig vorkommt, Menge gewonnen; die Verfertigung von Säbeln, Messern
wird mit Prügeln bestraft. Todte begräbt man in der und Lanzen ist ein Monopol des Kölligs. Silber soll im
Hütte, in welcher sie gestorben sind. Konggebirge vorhanden sein.
Im Allgemeinen sind die Neger von Dahome zwar nicht ___
von großer Gestalt, aber sehr kräftig gebaut; sie klettern
wie Assen an den hohen Oelpalmen hinauf, trinken Palm- In Abomeh befindet sich das Grabmal der Herr-
wein sehr mäßig, sind aber um so mehr auf Branntwein scher in einem großen Höhlengewölbe. Man errichtet
erpicht. Ihre Gemüthsart ist heiter, man kann mit ihnen einem verstorbenen Könige inmitten desselben ein mit Eisen-
bequem verkehren, sie haben jedoch ciucn unwiderstehlichen stanzen umgebenes Gerüst und stellt auf dasselbe den Sarg.
Hang zum Stehlen. Alles im Lande, Leib, Leben und Dieser besteht aus Thon, in welchen das Blut von 100
Habe sämmtlicher Bewohner gehört eigentlich dem Könige. hingeschlachtetenKriegsgesangenen geknetet worden ist. Die
Der Thron vererbt sich aus deu ältesten Sohn; der wich- letzteren sollen dem Verstorbenen in der andern Welt als
In einer Frauenhütte des Königs von
tigste Würdenträger ist der Mehu, Premierminister, und
jede Provinz hat einen Vicekönig, den Avoghan. Dieser
stellt die nöthige Anzahl von Soldaten, welche von Kabo-
sirs befehligt und von denselben nach der Hauptstadt
geführt werden. Der König ernennt sie und gibt ihnen
als Zeichen der Amtswürde silberne Armringe, einen
Sonnenschirm und einen Stuhl.
Früher bestanden die wichtigsten Einkünfte, welche der
König bezog, in den Abgaben vom Sklavenhandel; diese
Quelle ist jetzt versiecht, indeß bringen ihm die Zölle und
die Gelder, welche der Kaufmann für die Erlanbniß, Handel
zu treiben, zahlen muß, immerhin eine hübsche Summe ein.
®azu kommt noch der Ertrag von den Ländereien, welche
er durch seine zahlreichen Sklaven bearbeiten läßt; den
Verkauf der Ernte besorgeil die sogenannten Königs-
ahome. (Nach Nepin und Bonlangö.)
Ehrenwache dienen. In dem Sarge ruht das Haupt auf
den Schädeln besiegter Könige nild Häuptlinge, und um
das niedrige Gerüst legt man eine Menge von anderen
Schädeln.
Nach diesen Vorkehrungen werden die Thüren des Ge-
wölbes geöffnet und hinein treten acht Abaias, d.h. Hof-
tänzerinueu nebst 50 Kriegern. Beide sind für einige Tage
mit Lebensmitteln versehen und haben den Auftrag, ihrem
Köuig in das Schattenreich zn folgen, mit anderen Worten:
sie werden lebendig begraben. Es ist kennzeichnend für den
Wahnglauben des Volkes, daß sich allezeit Freiwillige
genug finden, welche nach der Ehre eines solchen Begräb-
nisses geizen. Drei Tage bleibt die Gruft geöffnet; dann
bedeckt der Premierminister den Sarg nlit einem schwarzen
Tuche und theilt nlit den Würdenträgern des Hofes und
Ein Besuch beim Könige von Dcihome.
327
den Tänzerinnen allen Schmuck und die Kleider, welche der
Thronfolger als Geschenke für den Schatten des Verstorbenen
niedergelegt hat.
Achtzehn Monate lang steht der Kronprinz noch als
Regent im Namen des verstorbenen Königs an der Spitze
dann erklärt er öffentlich, daß der König gestorben fei und
er selber nun die Regierung angetreten habe. Die ganze
Volksmasse wirft sich sofort zu Bodeu und bestreuet den
Kopf mit Staub, aber diese Bezeigungen des Schmerzes
dauern nicht lange. Der König legt Schädel und Beil bei
Grabgewölbe des Königs von Dahorne. (Nach G. Valdez.)
des Staates und hat zwei Minister zur Seite. Nach Ab-
lauf dieser Frist wird im Palast eiue große Versammlung
abgehalten und dann ein Zng nach dem Leichengewölbe
veranstaltet. Man öffnet den Sarg und nimmt den Schädel
des Verstorbenen heraus; der Regent nimmt denselben in
seine linke Hand, in der rechten hat er ein kleines Veil und
Seite, ziebt den Säbel aus der Scheide und verkündet,
daß er Herr und Gebieter sei, und sofort erhebt sich all-
gemeiner Jubel. Alles singt und tanzt zn einer fürchter-
lichen Musik.
Es ist hergebracht, daß bei solchen Gelegenheiten alle
Vornehmen des Landes und auch die Europäer, welche
/
330 Ein Besuch beim J
Faktoreien (Sarames) in Whydah besitzen, mit Ge-
schenken an den Hof kommen Die Ceremonien werden
als „der große Brauch, das große Herkommen", be-
zeichnet, um sie von anderen Jahresfesten zu unterscheiden.
Eine unzählige Menge von Menschen wird dabei abge-
schlachtet und sie alle sollen dem verstorbenen Könige ins
Jenseits die Kunde bringen, daß sein Nachfolger die Re-
gierung angetreten habe. Man fängt das Blut der Hin-
gemordeten auf und knetet mit demselben den Thon zu
einem seltsam gestalteten Gefäße; in dieses legt man Schä-
del und Knochen des Königs, und dann wird dieser thönerne
Sarg verschlosseu. Am festbestimmten Tage erscheint der
Herrscher vor dieser Urne und bringt ihr seine Verehrung
dar, indem er in die zu diesen: Zweck in dem Thon ange-
brachten Löcher Branntwein gießt; auch wirft er Kauri-
mufcheln hinein. Denn der Verstorbene muß ja doch in
jener Welt Geld zum Ausgeben haben, um nicht in der
Lage zu sein, zum Schimpf für seinen Nachfolger Schulden
zn machen!
Ein Augenzeuge, der Portugiese Travassoz Valdez
(von welchem 1861 in London ein Werk in englischer
Sprache „Six years of a travellers life in Western Africa"
erschien), berichtet, daß alle die angedeuteten Gebräuche
nach dem Tode des Königs Ghezo, der gegen Ende des
Jahres 1858 starb, genau beobachtet wurden. Wir haben
auch eine Schilderung vom katholischen Missionär, Pater
Borghero (in i)ert „Annales de la propagation de la foi";
Mai 1862); dieser schreibt:
„Nach Ghezo's Ableben traten unter der Aristokratie
von Dahome zwei Parteien hervor; die eine wollte mit
aller Strenge an den hergebrachten, blutigen Bräuchen fest-
halten, während die andere sich für eine mildere Praxis
erklärte. Jene Altconservativen behielten die Oberhand,
das Herkommen triumphirte, und als König Bahadung
(Badu, auch Bahadu) den Antritt seiner Herrschaft ver-
kündete, floß fo viel Blut in Strömen wie je zuvor. Das
Menschenmorden beschränkt sich aber nicht allein aus jene
Feste, sondern der Fanatismus oder die Verblendung fordert
an jedem Tage Opfer."
Ein protestantischer Missionär (im „Journal des Mis-
sions ^vangeliques" 1861) erzählt Folgendes:
„Am 11. Juli 1860 erhielt ich die Einladung, von
Whydah nach Abomeh zu kommen. Unterwegs begegnete
mir ein Mann, der in einer Hangmatte lag und durch
einen gewaltigen Schirm vor den Sonnenstrahlen geschützt
war. Er trug die Kleidung der Matrosen und wurde von
einem zahlreichen Gefolge begleitet. Seine Bestimmung
war, in Whydah in die See geworfen zu werdeu, uud zwei
Hafenwärter sollten mit ihm ihren Tod in den Wellen sin-
den. Weshalb? Um dem verstorbenen Könige gewärtig zu
sein, falls es diesem einfalle, ein Seebad zu nehmen!"
„In Canna trafen wir den neuen König, welcher uns
aufforderte, am 16. Juli in feiner Hauptstadt vor ihm zu
erscheinen. Dort hieß er uns Platz nehmen uud wies dann
nach einem Menschen, der mit gebundenen Händen und
geknebeltem Munde da stand. Dieser war ein Bote, wel-
chen er ins Jenseits befördern wollte, um seinem Vater
Nachrichten zu bringen. Er wurde bald nachher auf dem
Grabe des Verstorbenen hingeschlachtet."
„Bald darauf führte man in unfrer Gegenwart dem
Könige vier andere Männer und dazu einen Hirsch, einen
Affen und einen Vogel vor. Alle wurden enthauptet, mit
alleiniger Ausnahme des letztern; sie hatten Auftrag, dem
König im Schattenreiche zu melden, daß fein Sohn An-
stalten getroffen habe, große Feste zum Andenken an den
Vater zu veranstalten. Insbesondere sollte der eine Mann
'önige von Dahome.
das allen Geistern verkünden, welche die Märkte im Lande
besuchen, der zweite sollte es allen Thieren sagen, die im
Wasser leben, der dritte den Geistern, welche auf deu
großen Straßen reisen, und der vierte war beauftragt,
fämmtlichen Bewohnern am Firmamente Mittheilungen zu
machen. Der Hirsch hatte es den Thieren des Waldes,
der Affe den Thieren seiner Art es aus den Bäumen zu
fagen. Den Vogel ließ man fliegen, fein Auftrag lautete
an alle Bewohner der Luft."
„Nun erhob sich Bahadn aus seinem Thron, zog den
Säbel und verkündete: „Nun, da ich Herrscher dieses Lan-
des bin, will ich alle Feinde des verstorbenen Königs unter
meine Füße treten und an der Stadt Abbeoknta die
Niederlage rächen, welche dort mein Vater erlitten hat."
Bekanntlich hat auch er gegen Abbeoknta nichts ausrichten
können; wir haben früher erzählt, wie fchlimm es ihm dabei
ergangen ist.
„Am 17. Juli ließ er die Kesselpauken rühren und dem
Volke verkünden, daß nun bald das große Herkommen
stattfinden werde. Die in Abomeh verweilenden Europäer
hätten sich dem gräßlichen Schauspiele gern entzogen, der
König ließ sie aber nicht fort. Dasselbe begann am
22. Juli 1860. Bald nach Tagesanbruch wurden etwa
100 Männer und eben so viele Frauen geschlachtet, alle im
Innern des Palastes. Dann trat der König heraus und
die Krieger und Amazonen feuerten ihre Musketen ab.
90 Offiziere und 120 Prinzen und Prinzessinnen begrüß-
ten den Herrscher, und jeder bot demselben zwei bis vier
Sklaven, welche zu Ehren des Verstorbenen geopfert werden
sollten. Auch einige portugiesische Residenten boten ihm
20 menschliche Schlachtopfer dar; dazu dann noch Ochsen,
Schafe, Ziegeu, Geflügel, Kauris, Silber und Rum. Die
übrigen Europäer hüteten sich natürlich, ein Gleiches zu
thuu."
„Als der Köuig am 1. August persönlich bei den
Trauerfestlichkeiten zugegen war, begrub man 60 Men-
schen, 50 Schafe, eben so viel Ziegen und 40 Hähne; auch
warf man eine Menge Kauris in das Gewölbe. Während
der König um seinen Palast herumging, wurde unanfhör-
lich geschossen, und als er seinen Rundgang vollendet, wur-
den abermals 50 Sklaven geopfert. Jndeß war der Herr-
scher gnädig gewesen, denn er hatte 10 Anderen Gnade
angedeihen lassen. Am 2. August ließ er Kauris und
Baumwollenzeug auswerfen und sah mit Vergnügen zu,
wie das Volk sich darum riß und balgte."
„Volle drei Wochen lang dauerte die Festlichkeit, und
wir konnten keine Erlaubniß zur Abreise erhalten. Mir
wurde endlich am 1. September gestattet, nach Whydah zu
gehen, aber erst nachdem ich versprochen hatte, am 12.Okto-
ber wieder in Abomeh einzutreffen. Ich hielt mein Wort,
kam zur verabredete» Zeit und wurde sogleich zum Könige
beschieden. Vor dem Palastthor zählten wir 90 Menschen-
köpfe, die erst an demselben Morgen abgeschnitten worden
waren; das Blut floß noch in Menge herab. Badahung
zeigte uns dann die Geschenke, welche er seinem versterbe-
nen Vater zusenden wollte: zwei Wagen, einige Räder,
drei Schüsseln, zwei Theekannen, eine Zuckerdose und einen
Topf mit Butter. Das Alles war von Silber. Ein
Prachtkissen lag ans einer Art von Rollwagen, der von
sechs Amazonen gezogen werden sollte. Dazu kamen dann
noch drei seidene Hangmatten mit Vorhängen und manche
andere Gegenstände."
„Drei Tage nachher wurden wir wieder in den Palast
entboten, um anzusehen, daß abermals 60 frisch abge-
schnittene Köpfe zu beiden Seiten des Thores aufgehängt
E. Kattner: Das Pos'
waren, und wieder drei Tage später betrug die Zahl der
Opfer 36.
Der König hatte auf dem größten Marktplatz vier große
Gerüste ausschlagen lassen, von welchen herab er Muscheln
unter das Volk Wersen ließ. Auf dieseu Gerüsten wurden
69 Menschen abgeschlachtet. In Folge aller dieser Abscheu-
lichkeiteu wurde ich krank und war damit sehr zufrieden,
denn nun konnte ich ungehindert die Stadt verlaffen, in
welcher das Morden noch fortwährte."
Wir wollen nicht näher auf die blutigeu Gräuel ein-
Das posener Jan
Von Edwa
9. Bereits vollzogene Germanifirnng der
Polen.
Der wichtigste Beweis für deu deutschen Charakter der
Provinz ist eigentlich die Thatsache, daß die Polen selbst
bereits ganz wesentlich germanisirt sind. Ich will sie damit
nicht etwa für Deutsche, wenn auch mit polnischer Sprache
erklären; aber sie haben durch deu deutschen Einfluß feit
70 bis 90 Jahren doch eine so bedeutende Umwandlung
erfahren, daß sie gegeu ihre Vorfahren vor kaum 100
Jahren viel mehr abstechen, als gegen ihre zeitgenössischen
deutschen Nebenwohner, und daß ich mich zu dem ander-
weitig geäußerten Ausspruch berechtigt halte, die poluische
Nationalität bestehe außer der Sehnsucht uach Wiederher-
stellung unmöglicher, verrotteter Zustände nur noch ans
der Muttersprache, der Nationaltracht und einigen nicht
sehr erheblichen Sitten und Gebräuchen. (— Aber Charakter
und Blut? —) Diese Umwandlung erstreckt sich auf alle
Stände.
Der Edelmann ist aus einem fahrenden Abenteurer
ein mehr oder minder betriebsamer Landwirth geworden.
Dazu hat ihn die Aushebung der Leibeigenschaft, die Eigen-
thumsverleihung an die Bauern, die uicht geringe Besteue-
rung („Steuern sind für den Menschen sehr nützlich!") und
die Beschränkung der junkerlichen Gelüste durch die Gesetze
gemacht. Er wohnt nicht mehr in einer Strohhütte, son-
dern in einem stattlichen Landhaus, oft in einem Schloß,
lieber freilich in einer vierspännigen Kutsche, in einem
Badeort oder in Paris. Er geht nicht mehr bewaffnet ein-
her, denn blutige Handtierungen werden strenge bestraft;
er führt nicht einmal den Kantschn in der Hand; er-
nährt sich viel besser; er ist viel sauberer geworden; die
Tische werden nach Tisch abgewaschen, nicht mehr mit dem
Pferdeschwanz abgewischt;^) er trägt die feinsten Ober-
Hemden, deren Stelle vor 100 Jahren Wohl unbefchreib-
liche Dinge einnahmen, wenn sie nicht ganz unbesetzt blieb;
anstatt des mongolisch kahlgeschornen Kopfes mit dem
,,Schnp" auf dem Scheitel prangt das volle Haupthaar
eines civilisirten Europäers; auch andere Stücke der alten
Nationaltracht, z. B. rothe Stiefel, werden nicht mehr
*) Siehe „Vertraute Briefe" voin Jahre 1806.
r Land jetzt und früher. 331
gehen, welche Bahadnng in: Juli 1862 verübte und deren
Zeuge der holländische Kaufmann Enfchart wider seinen
Willen sein mußte. Er stattete darüber einen eidlich bestä-
tigten Bericht an den englischen Schiffseommandenr Perry
ab, und wir haben seiner Zeit Auszüge aus demselben mit-
getheilt. Wie es damals in Abomeh zuging und aus
welche Weise sich das schwarze Volk belustigte, das wird
durch die Abbildung erläutert. Die Zeichnung ist nach
Eufcharts und Forbes'Beschreibung der „großen Cnstoms"
entworfen worden.
jrtzt und früher.
Kaltner.
getragen. Daß er neben der Muttersprache sast immer
auch Deutsch spricht, darin liegt keine so bedeutende Ver-
äuderuug, als man gewöhnlich annimmt, denn in Groß-
polen, von welchem Posen den bei weitem größten Theil
ausmacht, sprach der Edelmann seit 600 Jahren schon
immer größtentheils diese Sprache wegen des vielen inneren
und auswärtigen Verkehrs mit Deutschen nebenbei.
Nun der Priester — einst ein roher Gesell, der sich
mit den armen Banern um den Garbenzehnten schlug,
dessen Schulkeuntnisse sich kaum auf etwas Lesen, Schreiben
und Mönchslatein erstreckten, dessen Wohnung sich von der-
jenigen des Leibeigeuen kaum uuterschied. Was ist er jetzt
geworden? Die Ehelosigkeit lastet zwar noch immerauf
ihm und hat viel Böses im Gefolge. Sonst steht er ziem-
lich ebenbürtig neben dem deutschen Priester. Durch Er-
lernung der deutscheu Sprache ist ihm das Mittel geboten,
die höchste Geistesentwicklung zu erreicheu und die Rück-
stände finstrer Jahrhunderte von sich abzuwerfen, wenn er
will; er hat eiu klassisches Latein erlernt; der Geist der
Alten hat aus seiner Quelle zu ihm gesprochen; sein Ver-
stand ist durch Mathematik geweckt und geschärst. Freilich
macht die Drillung im Seminar diese Vorschule größten-
theils wieder unwirksam; es bleibt ihm aber doch immer
ein Schatz von formaler Bildung, von der seine alten Vor-
gänger keine Ahnung besaßen. Seine Einkünfte sind durch
die Fürsorge der preußischen Regierung wohlgeordnet,
gehen regelmäßig ein und sind sehr erheblich; er wohnt
meistens in einem recht stattlichen Hause und ist im Staude,
sich für große andere Entbehrungen mit einem vollen Wein-
keller zu trösten.
Und der Bauer! — Mit ihm ist freilich die größte
Veränderung vorgegangen; er ist aus einem Sklaven ein
freier Mensch geworden; er besitzt gleiches Recht mit feinem
einstigen Herrn und Bedränger uud ist darin vollkommen
gesichert; er ist ebenso gut Grundeigenthümer wie jener;
er verdient sich mit seiner Hände Arbeit sein gutes Brod
und ist z. Th. wohlhabend; er geht des Sonntags mit dem
Gebetbuche zur Kirche; kurz er unterscheidet^sich von einem
deutschen katholischen Bauern durch wenig" mehr als die
Sprache.
Noch geringer ist der Unterschied desjenigen Zweiges
der einstigen Leibeigenen, welchem es nicht geglückt ist,
42*
332 Einblicke in den
Eigenthum zu erlangen, der ländlichen Arbeiterklasse,
von ihren Standesgenossen deutscher Zuuge; er besteht
durchschnittlich in etwas geringerer Arbeitslust und Betrieb-
samkeit, aber größerer Anstelligkeit, Genügsamkeit und Liebe
zum Schnaps.
Ein vormals sehr zahlreicher Stand ist im preußischen
Polen zwar leider noch nicht ganz verschwunden, aber doch
nur aus wenige Anstalten beschränkt, es ist derjenige der
Mönche und Nonnen.
Dagegen haben sich auch unter den Polen einige an-
dern neu gebildet, die ebeu ihrem Wesen nach ganz deutsch
sind, nämlich die allerdings nicht sehr zahlreichen Stände
der Gewerbtreibenden, der Beamten und der Schullehrer.
Wenn die Polen diese mit ihnen vorgegangene Umwand-
lnng, welche sie nicht ableugnen können, mit etwas ruhigem
Blute beurtheilen, so mögen sie sich selbst fragen, ob ihnen
dadurch denn wirklich ein so großes Unglück und Unrecht
widerfahren sei? Und wenn sie die Frage verneinen müssen,
so mögen sie daraus schließen, daß auch die fernereu unab-
wendbaren Umwandlungen, welche die vordringende
Kultur mit ihnen vornehmen wird, für sie kein so schreck-
liches Unheil sein werde. Mögen sie die Deutscheu, welche
nur die keineswegs böswilligen Diener und Träger der-
selben sind, dann nur ein klein wenig minder hassen, viel-
mehr lieber bereitwillig deren Sprache sich aneignen, denn
manischen Orient.
nur durch deren Vermittlung und durch den Geist, welcher
ihnen durch sie und ihr Schriftthum zuströmt, können sie
die materiellen Nachtheile, welche für sie und ihre Familien
persönlich aus der Umwandlung entspringen, vermeiden. Ich
meine hauptsächlich den Verlust des Grundbesitzes. Wenn
sie ihre Kinder lieben, so mögen sie dieselben nicht als
Stockpolen aufwachsen lassen und sie zum Fortkonuueu int
Leben mit Haß und Neid gegen die Deutschen ausrüsten,
sondern mögen sie ihnen vielmehr eine deutsche Erziehung
geben lasseu. Es liegt auf der Hand, daß sie alsdann den
„Kampf um das Daseiu", den jeder Mensch durchfechten
muß, ganz anders bestehen, daß die Gutsbesitzerssöhne
ganz anders befähigt sein werden, die Güter der Familie
zn erhalten. Mögen sie sich ein Muster an den amerika-
nischen Spaniern nehmen. Auch sie gehören einer Nasse
an, welche sich im Zusammenstoß mit den nördlichen Ger-
manen als zu schwach erweist. Seitdem sie das durch
schmerzliche Erfahrungen erkannt haben, schicken manche
ihre Kinder zurErziehung in die Vereinigten Staaten; diese
kehren dann als ganz andere Leute zurück. Von der Ratio-
nalität ist damit freilich Einiges verloren, aber die Güter
sind gerettet. Den Polen bleibt die Wahl, was von beiden
sie retten wollen; oder vielmehr sie haben keine Wahl: ent-
weder sie opfern die ersteren freiwillig und behalten dann
die letzteren — oder sie verlieren beides.
Einblicke in den o
Mesopotamiet
Die Leute nun, verdammt in dem flüchtig beschriebenen
Backofen, Bagdad, sieben Monate des Jahres sich
schmoren zu lasseu und die anderweitig damit verbundenen,
ebenfalls berührten mehr oder minder problematischen An-
nehmlichkeiten zu genießen, sind auf dem platten Lande
durchweg Araber, seien sie nun taglöhnernde Fellahs,
freie schweifende Beduinen oder tributpflichtige acker-
bauende Halbnomaden. Sie gehören, wie fast alle Be-
wohner der Ebenen zwischen den Randgebirgen Irans und
dem Antilibauou, zu deu echten Ismaeliten, während
auf der eigentlichen Halbinsel, besonders im Süden und
Osten, die abyssinische Nasse stark vorwaltet. Es sind dies
Mischlinge aus Hindlls und Negern, denen da und dort
etwas semitisches Blut zugesetzt sein mag. Der Quarau-
tainedirektor vou Bagdad, Herr Padovaui, der Gelegenheit
hatte die Stadt Duett an der Küste des Persischen Golss
zu besuchen, versicherte mir, daß er dort auch nicht etttett
Ismaeliten zu Gesicht bekommen habe; alle seien noch
negerartiger als die eigentlichen Habesch.
Die Einwohner Bagdads selbst, mit denen wir
uns für dett Augenblick vorzugsweise zu beschäftigen wün-
schen, sind nicht fo reiner Abkunft wie die Leute des Landes,
sondern bilden vielmehr ein buntes Durcheinander
von Stämmen nttd Nationalitäten, doch auch mit
bet weitem überwiegenden arabischen Element. Dies
indeß ist keineswegs rein, sondern in mannigfachen
Nuancen dergestalt durch die billigen schwarzen Skla-
smanischen Drient.
. und Bagdad.
Vinnen mit abyssinischem Typus amalgamirt, daß es
schwer hält, unter den Einheimischen einen unverfälschten
Descendenten der wackern Dirne Hagar ansznmitteln.
Ihnen darf man ungefähr zwei Dritttheile der ge-
fammten Bevölkerung zurechnen. Sie beschäftigen sich
vorzugsweise mit Tagelohn und schweren Handarbeitett und
namentlich finden sie ihren Erwerb als Last- nttd Wasser-
träger, Gärtner, Maulthiertreiber, Fleischer, Gerber, Fär-
ber, Seiler, Töpfer, Maurer, Zimmerleute und Grob-
schmiede. Diejenigen unter ihnen, welche mehr Kunstsinn
besitzen, widmen sich der Seidenweberei, den Pofamentir-
arbeiten und der Verfertigung einheimischer Kleidungs-
stosse; andere, welche Anstrengung und Nachdenken scheuen,
treten als Barbiere, Roßkämme, Bereiter und Garköche
aus. Ihre Weiber siud ebeusalls nicht müßig; sie spinnen
uud webett und bereiten und verkaufen die Milchspeisen:
den kühlenden Togjurt, deu süßen Kaimack ; ihre Haupt-
sächlichste Verdienstquelle aber ist die Bäckerei und der
Brothandel.
Arabisches Brot gleicht ebensowenig dem nnsrigen
wie der dazu nöthige Ofen und die dabei innegehaltene
Procednr. Es besteht nicht aus Laibeu, sondern aus
flachen, im Durchschnitt etwa einen Viertelzoll starken
Weizen- oder Gerstenfladen von einem Fuß Durchmesser,
die natürlich sehr schnell backen. Der Teig wird nur wenig
gesäuert. Der Ofen besteht aus einem kleinen Gewölbe,
das man mit Kuhmist tüchtig ausheizt, .damt die Feuerung
Einblicke in den i
entfernt und nnn den Teig nicht nur auf der untern Platte
einschießt, sondern auch an die Wände klebt. Größere, den
unseren ähnlich eingerichtete Backöfen gibt es, doch nicht
zur Darstellung des Brotes, vielmehr zum gelegentlichen
Dienste des Publikums für gewisse der Backoperation be-
nöthigende Gerichte. Nach fränkischer Methode arbeiten
einige Individuen, doch Christen. Die Müller sind eben-
falls Araber. Die ärmeren Leute bedienen sich für ihren
Bedarf der Handmühlen, welche mit den altrömischen
eine ungemeine Aehnlichkeit haben; auch die größeren durch
ein Maulthier in Bewegung gesetzten Steine, der untere
ruhende trichter-, der obere Läufer kegelförmig bearbeitet,
erinnern mich an eine Mühle, die ich aus demselben Tuff-
stein in Pompeji gesehen. Das Thier wirkt, einfach im
Kreise gehend, an einem an dem Läufer befestigten Well-
bäum. Dies ist die uralte auch iu den Märchen der
Tausend und Einen Nacht erwähnte Mahl Methode.
Versuche, den Wind oder die Strömung des Flusses als
treibende Kraft zu benutzen, follen, versicherte man mir,
an der Unbeständigkeit und Lauheit des erstern und der
großen Trägheit des letztern im Sommer sich als unzuläug-
lich erwiesen haben; ich aber bin der Ansicht, daß noch
Niemand in dieser Beziehung Kenntnisse und Verstand
gehörig gebraucht hat. Eine Dampfmühle dürfte gute Ge-
fchäfte machen, namentlich wenn es gelingen sollte, die
Naphta zur Heizung anzuwenden. Man hat sich darüber
den Kops zerbrochen, doch sollte ich meinen, daß eine mit
zahlreichen Röhrchen durchsetzte über dem Oel angebrachte
Elsenplatte, wodurch gleichsam ebensoviel ihre Flammen
vereinigenden Lampen entständen, in Verbindung mit
anderen Vorrichtungen dem Zweck entsprechen würde. —
Das Schiffer- und Fuhrmannsgewerbe, welches
mindestens in demselben Maße wie die Karawanen zu der
Bewegung',des Platzes in merkantiler Hinsicht beiträgt, ist
gleichfalls in den Händen der Araber, zu denen sich einige
noch brauchbarere Chaldäer gesellen.
Die dominirende Rasse, wenn auch nicht an Zahl, sind
die Türken. Aus ihnen rekrutiren sich die Beamten und
die Offiziere der Truppen, doch die wenigsten stammen ans
der Stadt, sondern sind von Anatolien gekommen oder
geschickt worden. Die eingebornen Osmanli, wie überall
unverschämt, indolent und träge, verschmähen jegliche Arbeit,
und wenn sie nicht ein Aemtchen ausfindig machen können,
thnn sie einen Kramladen aus und handeln mit Material-
waaren als sogenannte Bakel; auch Früchte verkaufen sie.
Die ganz armen Taugenichtse lassen sich unter die Baschi-
bosuks, offiziell Awuiieh, populär Heiter genannt, ein-
reihen und plündern als solche im Dienst derSteuerpächter
und der Effendis das Land aus. Auch den Reisenden und
Karawanen bieten sich diese Helden als Beschützer an, sind
aber dermaßen im Davonlaufen geübt, daß es weit räth-
licher ist sich, schon um das ansteckende Beispiel zu ver-
meiden, ihrer nicht zu bedienen. Die Aegel genannten,
aus dem Innern der Halbinsel stammenden arabischen irre-
gulären Söldner dagegen sind tapfere aber nur in geringer
Anzahl ausschließlich in Mesopotamien verwendete Leute.
Der Türke hält auch gern ein Kaffeehaus oder ein Bad;
besitzt er Vermögen, so vermiethet er Gebäude, hat er Ein-
fluß obendrein, so setzt er sich mit der Regierung in Ver-
bindung und wird Finanz Pächter. Das ist ein lucra-
tives Gewerbe, welches so gauz zu seiner grausamen,
habgierigen Natur paßt, doch auch eine Thätigkeit erfordert,
die weit weniger ihm selbst als der ihn: verwandten
Mischrasse zusagt. Die Zahl der Türken beträgt einige
Tausende, die in dem Müdanviertel wohnen und theilweis
ihre eigene, sehr corrumpirte Sprache bewahren. Sie ist
manischen Orient. 333
auch sehr vielen Einwohnern andern Stammes geläufig.
Die Perser sind meist Fremdlinge in Bagdad, obschon
damit keineswegs gesagt sein soll, es gebe dort wenige
Ansässige; sie sind im Gegentheil sehr zahlreich, dennoch
streben die meisten von ihnen darnach, sich etwas Vermögen
zu erwerben, um damit in ihre Heimat zurückzukehren.
Der Perser betrachtet Irak iu Grunde genommen als zn
seinem Lande gehörig und tröstet sich mit der Hoffnung, es
gelegentlich den andersgläubigen Türken wieder zu eut-
reißen. Es ist die heilige Erde, aus welcher sich die
theuersteu Erinnerungen seiner Religion zugetragen, in
welcher überdies die Gebeine seiner vornehmsten Märtyrer
und Jmams ruhn. Jährlich begebeu sich zu allen Jahres-
zeiten, vornehmlich aber im Frühjahr und Herbst, große
Pilgerkarawanen, Männer, Weiber und Kinder, nach
Mesched Aali (Nedsches) und Mesched Hussein
(Kerbela), welche alle ihren Weg über Bagdad nehmen
und auch hier einige Tage zuzubringen pflegen, um die
Heiligthümer iu der Nähe der Stadt zu besuchen. Hierzu
kommt der ebenfalls nicht unbedeutende Handel, so daß
immer in der Stadt ein reger Ab- und Zufluß der roth-
bärtigen mit der hohen eigentümlichen Lammfellmütze
bedeckten Adfchemiten namentlich am Meidan und in der
Tfcharfchi vorherrscht. Die Eingewanderten wohnen gern
an der andern Seite des Flusses, um jede unreine Berüh-
rnng zu vermeiden. Die Wohlhabenderen treiben Wechsel-
geschäste und trachten ihre eigenen unbewanderten Lands-
leute über den Löffel zu barbireu; einige sind auch Kauf-
leute, doch mit minderem Erfolge, die meisten aber üben
irgend ein nicht zu sehr anstrengendes Handwerk ans. Man
findet sie als Schuster, die annähernd nach europäischer
Manier arbeiten, als Drechsler, Klempner und Siegel-
stech er. Die Geschicklichkeit in der letztgenannten Kunst
mißbrauchen viele von ihnen, indem sie falsch Geld anser-
tigen und unter die Lente bringen. Höchst merkwürdig
erscheint es, daß sich die Regierung und, das versteht sich
von selbst, die Polizei nicht im Geringsten um diese gefähr-
liche Industrie kümmert. Wer sich betrügen läßt, hat den
Schaden, und es fällt keinem Menschen ein, deswegen Be-
schwerde zu führen; nein — die einzige Aussicht, die er
gesetzlich hat, nicht zu kurz zu kommen, ist, daß er seiner-
seits Andere zu hintergehen sucht. Es wimmelt von sal-
schen Münzen, sie werden sogar massenhaft importirt,
Jedermann ist im Besitz von solchen und trotzdem geschieht
nicht nur nichts znr Beseitigung des Uebels, sondern die
würdigen Organe der Regierung selbst reichen ihm hilf-
reiche Hand, indem sie absichtlich falsches Geld aufkaufen
oder gar anfertigen und dasselbe unter die Zahlungen an
die Beamten, Truppen und Lieferanten einzuschmuggeln
wissen.
Weniger verbrecherisch, aber für die Betreffenden noch
ärgerlicher sind die Fälschungen der Antiken. Be-
kanntlich ist Irak eine Fundgrube von persischen, römi-
schen und griechischen Gemmen, von babylo-
nischen und assyrischen Cylindern und Raritäten,
von Medaillen aller Art, vorzüglich aus der Zeit der
Arsaciden, Sassaniden und Saracenen. Nun, alle diese
für deu Liebhaber fo interessanten und oft sehr theueren
Gegenstände werden von gewissen Persern und einigen
Juden mit mehr oder minderer Genauigkeit nachgeahmt,
so daß es schwer hält, wenn man nicht bedeutende Fach-
kenntniß und ein geiibtes Auge besitzt, nicht betrogen zu
werden. Wer daher für feine Sammlung von dort Her-
echte Stücke zu beziehen wünscht, thut wohl daran, sich
an bewährte Kenner und au keine Zwischenhändler oder
Dilettanten zu wenden. Herren, welche sich jedem Auf-
334 Einblicke in den i
trag mit Vergnügen unterziehen uud das vollständigste
Vertrauen verdienen, sind der Quarantäneinspektor Pado-
vani nnd der Quarantänearzt Dr. Duthieul, die beide
recht schöne vollständige Sammlungen mit vielen Werth-
vollen Duplikaten besitzen und sich stets als untrügliche
Fachmänner erwiesen haben. Eine sichere Verbindung mit
Bagdad läßt sich indeß nur mit Hülfe eines Corresponden-
ten in Konstantinopel oder Beirut erzielen, und zwar ist
die amitotische Landpost der syrischen vorzuziehen.
Nach dieser vielleicht irgend einem Leser dienlichen Ab-
schweisung kann ich von den Persern nur nochmals behaup-
teu, daß sie verschmitzte und gewissenlose Lügner
und Betrüger im Handel und Wandel sind, sonst aber
bei weitem mehr Anstelligkeit, Fleiß und Bildungsfähigkeit
verrathen als die Türken; auch zeichnen sie sich, fanatisch
wie sie sein mögen, vor den letzteren durch mehr Höflichkeit
und Takt Vortheilhaft aus. Ihrer Verwilderung ungeachtet
darf man, wenn sie einmal die ihnen unzukömmlichen
Fesseln des Islam abgestreift, annehmen, daß ihnen eine
gesittetere Zukunft vorbehalten ist, während das mene tekel
an der brutalen Stirne jedes Türken deutlich geschrieben
steht. Die Perser reden nicht alle ihre eigene Sprache,
sondern die aus Täbris stammenden bedienen sich des turko-
manischen Idioms. Im Allgemeinen ist es mir aufgefallen,
daß der eigentliche Türkmen weit mehr Familienähnlich-
keit mit dem Perser als mit seinem Stammverwandten,
demOsmanli, verräth. Ganzandersund sehr charak-
teristisch zeigt sich der Typus der Kurden mit ihren raub-
vogelartigen Nasen und rollenden schwarzen Augen. Nur
wenige von ihnen halten sich in Bagdad auf, weil das
Klima der Ebene ihnen nicht zusagt; darunter befinden
sich einige Häuptlinge unterworfener Stämme, die von der
Pforte nunmehr eine variirende Pension beziehen. Alte
Räuberchefs, die sich nach manchem Abenteuer endlich zur
Ruhe zu begeben wünschen, stellen ihre Bedingungen und
werden alsdann, nach einigen Unterhandlungen, fo gut wie
jeder emeritirte Beamte und besser mit einem Gnadengehalt
bedacht und dafür in einer größern Stadt internirt. Die
ärmeren Kurden aus Luristan verrichten schwere Arbeiten
und ernähren sich hauptsächlich vom Stampfen des Reis
oder anderer dieser Operation benöthigenden Feldfrüchte,
da es zu dem Zweck keine Mühlen gibt. Sie sind als kleine
gelegentliche Diebe verrufen.
Die Araber und Perser sind der Religion nach fast
durchweg Schii'a, d. h. Ketzer, sie selbst dagegen nennen
sich natürlich echte Müsilman. Ju Bagdad ist für ihre
Sekte der ziemlich verächtliche Name Raffesi gebräuchlich,
der von der Stadt Ravendis in Persien, die in der Ge-
schichte des Islams bekanntermaßen eine Rolle spielt, her-
rühren mag. Ich will hier im Allgemeinen nur daran
erinnern, daß sich die Schii'a von den Sunniten ins-
besondere darin unterscheiden, daß sie die Rechtmäßigkeit
der drei ersten Chalifen Abubekr, Osman und Omar
bestreiten, dagegen den später ermordeten Chalifen Ali
und seine Söhne nicht nur als die wahren Nachfolger des
Propheten, sondern auch als überaus heilige Märtyrer
betrachten. Die meisten von ihnen stellen Ali über Mo-
hammed selbst; einige machen sogar aus ihm einen incar-
nirten Gott, oder einen Buddha, der in immer neuen Kör-
pern auf der Erde bis zum jüngsten Gericht unerkannt
fortlebt; endlich betet ihn eine besonders fanatische Sekte
unter dem Bilde der Sonne als höchstes Wesen an,
wodurch also der Islam zu dem uralten Kultus jener Ge-
genden zurückgekehrt ist. Der Schii'a murmelt bei jedem
Anlaß, bei dem Beginn jedes Geschäftes und jeder Ver-
richtung mehre Male den Namen Ali's. Er ist ein arger
nanifchen Orient.
Fanatiker, tritt aber nicht, wie der Türke, intolerant und
angreifend aus, sondern sucht sich vielmehr, ohne Anderen
nahe treten zu wollen, von ihrer Berührung abzuschließen.
Ein abscheuliches Dogma der Raffest ist, daß sie Jeden, der
nicht ihres Glaubens, für so unrein, wie dem Juden und
Türken das Schwein ist, erkären. Nedsched heißt die Be-
zeichnung für eiue der Religion nach unlautere Sache. Sie
zerstören z. B. das Gefäß, aus dem ein Fremder gegessen
oder getrunken und werfen jede Speise weg, die er zufällig
berührt hat. Es ist daher eine mit viel Scheerereien und
Widerwärtigkeiten verknüpfte Sache, in Persien oder an-
deren von den Schii'a bewohnten Ländern zu reisen; man
muß seinen ganzen Bedarf bis in die größten Einzelnheiten
mit sich führen und geräth, ohne es zu wollen, mit den
Bewohnern in unangenehme Konflikte. Solch ein unsinni-
ger Glaubensschwärmer nimmt selbst eine Bezahlung nur
in einem mit Wasser gefüllten Geschirr entgegen. In
Irak gefallen sich übrigens nur die Stadtbewohner und
einige Bauern in dergleichen Uebertreibnngen; der Be-
duine weiß von den Satzungen nichts und befolgt,
indem er Mohammed höchstens als einen Propheten an-
erkennt, die unvordenklichen Gebräuche der Wüste. —
Die Türken und mit ihnen einige Araber sind Sun-
niten, d. h. Leute, welche die Sunny und die anderen
äußerst eompendiöfen Vorschriften, Satzungen und Gesetze,
welche seit der Hedschra von einer Reihe von hervorragen-
den Jmams und anderer im Geruch der Gelehrsamkeit und
Heiligkeit gestandener Persönlichkeiten oder Versammlungen
verfaßt wurden, als mehr oder minder maßgebend aner-
kennen. Auch sie zerfallen in Sekten; der selige Jmam
Schaafi zählt die meisten Anhänger, weil er, wie ich höre,
gestattet, daß der Mann seine Weiber korrektionell im
Zaum halten darf. Beide, die Schii'a und Sunniten, näh-
ren gegeneinander einen Haß uud eine Verachtung, die
kaum von ihrer gemeinsamen Animosität gegen die Christen
übertroffen wird. Einer beeifert sich dem Andern die
schändlichsten und lächerlichsten Gebräuche und Aberglauben
nachzusagen, obschon sie sich hierin gerade am allerwenigsten
unterscheiden. In früheren Zeiten waren blutige Konflikte
zwischen ihnen nicht selten, und es ist sogar vor wenig Jahr-
zehnten vorgekommen, daß die durch den Fluß getrennten
beiden ungleichen Hälften der Stadt oft Monate lang
gegeneinander in Waffen standen. In dem östlichen Theile
würde es auch heutzutage nicht an Reibungen fehlen, wenn
nicht das Viertel, wo sich meist Raffest aufhalten, von dem
Meidan, wo die Suuuiten wohnen, durch die Quartiere
der Christen und Juden getrennt wäre.
Diese unter den beiden mohammedanischen Haupt-
sekten bestehende Feindschaft gereicht den Christen zum
Schutz und Vortheil. Metzeleien, wie sie entweder auf An-
stiften oder mit der Zustimmung der türkischen Regierungs-
Mitglieder in Aleppo, Dschedda, Damaskus und Marasch
stattgefunden, werden sich voraussichtlich in mehr oder
minderer Ausdehnung da uud dort im Lauf der Zeit wieder
ereignen, ja, es ist zu vermuthen, daß unter der Herrschaft
des Derwisch-Sultans Abdülasis sich so etwas selbst in
Konstantinopel zuträgt, Bagdad dagegen darf sich in dieser
Hinsicht einigermaßen in Sicherheit wiegen. Während der
Blntscenen in Syrien versuchte der damalige Satrap von
Irak, Serkiatib Mustafa Nuri Pascha, ein alter zur heu-
tigen Derwischpartei gehöriger Janitschar, durch einige zu
dem Zweck in den Kaffeehäusern und den Bazars vertheilte
schlechte Subjekte den Pöbel aufzureizen; eine Rotte machte
sogar einen Anfang mit dem Plündern einiger Kaufläden,
allein der wilde Aufruf fand den gehofften Anklang nicht,
A, Leist: Streifzüge durch die
Weil die Schii'a sich nicht bemüssigt fanden, den Plänen der
ihnen aus Herzensgrund verhaßten ottomanischen Regie-
rung Rechnung zu tragen. Gegen die Türken würden sie
eher einen Streich wagen, doch auf dem Lande sind sie
dazu nicht einig, in der Stadt nicht kriegerisch genug. Die
Bagdadli sind eine weiche, schwachherzige Rasse,
die sich leicht unterjochen und im Zaum halten läßt, eiue
Thatsache, die den Engländern nicht entgangen ist, weshalb
sie ihre indochinesische Politik auch in den Euphratläudern
gar zu gern in Anwendung bringen möchten.
An extravaganten religiösen Erscheinungen fehlt es
nicht. Vor Allem ist der Heiligenkultus iu Arabien so
vollständig wie in Spanien ausgebildet und neben ihm ist
die eigentliche Religion zur Nebensache herabgesunken.
Jeder Bagdader ruft irgend einen alten Scheich oder
Jmam, der in der Stadt oder Umgegend fein Grab hat,
als seinen Fürsprecher bei Allah und dem Propheten an
und verfehlt uicht, dem Sijaret wenigsteus wöchentlich ein-
mal einen Gebetsbesuch abzustatten. Der Hauptheilige der
Stadt und des Landes ist der Scheich Abdülkadehr, der
auch iu Syrien große Geltung hat. Oberflächliche Beob-
achter haben daraufhin das Gerücht ausgestreut, daß der
aus Algerien wohlbekannte Emir gleichen Namens unter
seinen Glaubensgenossen diese Vergötterung genieße, was
auf einem argen Jrrthum beruht. Der heilige Abdülkadehr
ist zur Chalifeuzeit gestorbeu und liegt in Bagdad begraben.
Neben ihm erfreut sich auch der Scheich Omer des Au-
theils der Gläubigen; beiden sind eigene Tempel gewidmet.
Heulende Derwische, welche sich durch eiu dumpfes
mit cadenzirten Beweguugeu verbundenes aus der Brust
ausgestoßenes Geschrei in eine überirdische Ertase zu ver-
setzen trachten, haben eiuige Tekki (Art Kloster), wo sie
gemeinsam mehr einem bösen Geist als dem Princip des
Guteu zu huldigen scheinen. Die ehrenwerthe gewöhnlich
durch den aus Hanfblättern und Kalkwasser bereiteten nar-
kotischen Haschisch schwer berauschte Kongregation stößt
vorzüglich ein eintöniges, etwa „wart! wau!" klingendes
wüthendes Gebell ans. Die gesitteteren, welche mit den
Benediktinern verglichen werden können, tragen eine an
den Rändern eingekrempelte Filzmütze von der Gestalt
Herzegowina nach Montenegro. 335
eines abgestumpfteu Kegels, einen grünen Kaftan und
rothe Pantoffeln; die wilderen hingegen sehen ein Verdienst
darin, mit laugen zottigen Haaren und Barten barfuß
herumzulaufen; auch besteht ihr Gewaud, eine Harka ge-
nannte Tunika, ans möglichst zahlreichen, bunt durchein-
auder gewürfelten alten Lappen. In der Hand tragen sie
eine hölzerne Schale und empfangen darin die Almosen
der Frommen; andere haben Säcke und Körbe, worin sie
auch, was man ihnen nicht freiwillig schenkt, oft heimlich
mitgehen heißen. Es ist dies ein unverschämtes Stadt und
Land durchschweifendes Gesindel, das keinen Vergleich mit
den verdorbensten christlichen Mönchen aushält. Die
größte Verehrung genießen die ganz nackten, halb- oder
vollkommen verrückten mit Ungeziefer zc. bedeckten mensch-
lichen Ausartungen. Würdigt sich solch ein Scheusal herab,
einen Pascha zu besuchen, so erhebt sich der letztere, küßt
seinem nusaubern Gast demüthig die Hand und ladet ihn
ein, neben ihm auf der mit Seidensammt überzogenen
Ottomane Platz zu nehmen. Den Tag über treibt sich der
heilige Wicht ohne eine Spur von Bekleidung, allerhaud
obseöue Geberden improvisirend, auch vor deu Frauen ans
den Märkten, wo es ani lebhaftesten zugeht, umher und
lebt wie dieHuude von den Abfällen, die man ihm zuwirft.
Während der Nacht haust er iu irgend einem verlassenen
Kellergewölbe oder in Gräbern. Narren, auch solche, die
nicht gerade als Heilige gelten wollen, gibt es in diesen
Gegenden in nicht geringer Zahl, sie sind aber im Allge-
meinen ungefährlich.
Eine sehr verrufene Fakirsekte sind die Mumsen-
deren, d. h. Lichtauslöscher. Sie haben ihren Namen
von dem Gebrauche, einen beleuchteten Raum, iu welchem
sie sich versammeln, plötzlich zu verdunkeln. Man sagt,
daß sie dann allerlei abscheuliche Orgien veranstalten; das
Volk behauptet sogar, sie seien gelegentlich Menschenfresser;
doch mag das wohl eine türkische Verleumdung sein. Ge-
wiß wäre es interessant, den Heimlichkeiten und Mysterien
der verschiedenen Sekten des Islam nachzuspüren und
namentlich zu ermitteln, wie viel davon vom Feuer- und
Sonnenkultus vorhanden ist. Allerdings wären derartige
Nachforschungen für einen Europäer nicht ohne Gefahr.
Streifzüge durch die Herzegowina nach Montenegro.
Von A. Leist.
Ein Streifzug durch Bosuieu, die Herzegowina und
Wohl durch die meisten Gegenden des sogenannten illyrischen
Dreiecks gehört in die Kategorie derjenigen Reisen, welche
bei dem Mangel au europäischer Bequemlichkeit gewöhn-
lich in der Erinnerung viel schöner, als in der Wirklichkeit
erscheinen. In einer Region, wo keine Wagen und keine
Fahrstraßen vorhanden sind und der Waarentransport zu
Lande nur durch Tragpferde mit Samars (Packsätteln)
vermittelt wird, ist der Reisende lediglich auf kostspielige
Miethspferde, oder auf seine eigenen Füße angewiesen;
dazu kommt der rauhe Charakter der Bewohuer, und der
Wanderer bedarf eines festen Entschlusses und einer auch
Entbehrungen nicht verschmähenden Ansdaner.
Die Slaven ans der Haemushalbinsel haben nie eine
hoheStnse derKnltnr eingenommen, und von einem beden-
tenden Einflüsse, welchen sie auf die geistige Entwicklung der
Menschheit ausgeübt hätten, weiß die Geschichte Nichts.
Die Bewohner von Macedonien und Thraeien wurden
von den Griechen für rohe Barbaren gehalten, und den
Glanz der Städte, besouders an den Küsten, hatten diese
Barbaren nur der Bildung und dem Reichthum griechischer
Kolonisten zu verdanken. Selbst auf die kurze Blüthe des
fpäteru serbischen Kaiserreichs war der bildende Einfluß
des griechischen Kaiserthums nicht zu verkennen, wie dies
die Denkmäler byzantinischer Baukunst in den Städten
des ehemaligen Serbenreichs heute noch bekunden, während
nur geringe Monumente der altslavischen Literatur und
Knnst vorhanden sind.
336 A. Leist: Streifzüge durch die
Reich aber an historischen Erinnerungen sind diese auch
in ihrer Verwahrlosung uoch schönen und interessanten
Länder mit ihren gegenwärtig meist verfallenen Städten,
zu deren Hebung einst der Verkehr mit den mächtigen Re-
publiken Venedig und Ragusa viel beigetragen hat. Als
im Jahre 1689 die siegreichen Oesterreicher unter Picco-
lomini durch Serbien bis Usknp (Seopia) vordrangen,
zählte diese Stadt noch 40,900 Einwohner und wurde vou
den Böhmen der kaiserlichen Armee in Hinsicht ihrer Lage,
Größe, ihrer vielen Kirchen, Klöster und anderer Pracht-
gebände mit der Hauptstadt Prag verglichen, und die schö-
nen Gärten und Pflanzstätten in der Umgegend dieser schon
damals im Sinken begriffenen Stadt entzückten noch die
nordischen Sieger. Jetzt zählt Usknp nur noch 10,000
Einwohner, meist macedonische Walachen. Die 400 reichen
jüdischen Familien, welche General Piecolomini dort an-
traf, sind längst dein unerträglichen türkischen Drucke ge-
wichen. In gleicher Weise sind Prischtina, Perserin,
Mostar und viele andere Städte in Verfall gerathen.
Und doch ist es die Wehmnth, welche über diesen verwil-
derten Naturgarten ausgegossen ist, welche hier den Wan-
derer mit einem eigeuthiimlicheu Reize fesselt, denn er ist
ja von der Hoffnung belebt, daß so viel verlorner Segen
nach Beseitignng des osmanischen Druckes wiederkehren
werde. Ein Beitrag zur Kenntniß dieser Länder wird Wohl
gerade jetzt hier am Orte sein.
Wir hatten die bosnischeStadtFojnitzasuichtFoniza,
wie manche Karten und Bücher sagen) mit ihrem alten
Franziskanerkloster verlassen nnd wanderten im Anschlüsse
einer kleinen meist berittenen Karawane der „Kerwawa
Kraina", wie derSüdslave sagt, der blutigen Grenze
der Herzegowina zu. Vor uns lag jene große Gebirgs-
kette, welche im Nordosten hinter dem schneeigen Vitorgo
einen Schlußrücken hat, unter verschiedenen Benennnn-
gen Bosnien in südöstlicher Richtung durchschneidet und
mit dem Bitovnia- und Jwangebirge die Grenze der
Herzegowina bildet. Die genannten Theile jenes großen
Gebirgszuges bestimmen mit der Gruppe des Lipeta-
gebirges den Lauf der Narcnta, die hier ein großes,
an wildromantischen Schönheiten reiches Thal in nord-
westlicher Richtung mühsam durchspült, bis dieselbe, am
Radussagebirge abprallend, wieder einen südwestlichen
Lauf nimmt, nachdem sie einen eigentümlichen Bogen
gebildet hat.
Da uns der Weg bergauf in die alte Gebirgsstraße
führte, welche den uupassirbaren zerklüfteten Gebirgsrücken
umgeht und auf weitem Umwege die große Stadt Serajewo
mit Mostar verbindet, fo konnten wir den keuchenden Trag-
Pferden ohne Anstrengung zu Fuße folgeu. Unweit des
schlechtgebauten, aber malerisch im Thale liegenden Städt-
chens Narenta passirten wir die hier nicht scharf bezeich-
nete Grenze der Herzegowina oder Erfek; mit diesem
Namen bezeichnen die Bosniaken und Türken gewöhnlich
den südwestlichen Theil von Bosnien.
Im 9. Jahrhundert, als Serbien, Kroatien nnd Dal-
matien von Fürsten, welche man als Schnpane (Xnpane)
bezeichnete, regiert wnrden, bildete (ebenso wie Raszien)
anch die heutige Herzegowina unter dem Namen Tribn-
nia oder Terbunia ein eigenes Fürstenthnm. Später
wurde diese Provinz ein Bestandtheil des großen Serben-
reichs nnd von der orientalischen Kirche daher mehr als
Bosnien beeinflußt. Im Jahre 1390 führte diese Provinz
den Namen Chnlmia nnd gehörte dem Könige von Bos-
nien , Twartko I. Nach dessen Tode wurden Bosnien und
Ehnlmien niit dem ungarischen Reiche vereinigt. Als
aber der König von Ungarn, Sigismund, in der Schlacht
Herzegowina nach Montenegro.
bei Nicopolis in Bulgarien, 1396, von den Türken geschla-
gen wnrde nnd sich als Flüchtling nur mit Mühe nach
Ungarn durchschlug, benützten die Bosnier diese Gelegen-
heit; sie versagten die Anerkennung und proklamirten den
Wojwoden Ostoja als ihren König, während Sigismund
wegen seiner Härte in der Festung Siklos in Ungarn
gefangen gehalten wurde. Mit Ostoja herrschte in Bos-
nien und Chulmien zugleich der Wojwode Hervoja. Doch
im Jahre 1409 unterwarf Sigismund den größten Theil
dieser Länder wieder den Magyaren und nahm in der
Schlacht bei Doboi selbst den König Twartko II. gefangen.
Als 1433 die Venetianer einen siegreichen Krieg mit Sigis-
mund führten und ganz Dalmatien eroberten, hatte auch
die Provinz Chnlmia viel von den Drangsalen des Kriegs
zu leiden. Doch schon 1440 ist Chnlmia wieder eine selbst-
ständige Provinz, denn Stephan, der Beherrscher derselben,
nannte sich Herzog der Provinz Chnlmia, und da dieser
Titel von den Slawen und Magyaren Herzeg ausge-
sprochen wird, so bezeichnete man dieses Herzogthum
kurzweg mit der slawischen Benennung Herzegowina,
ebenso, wie man heut zu Tage die serbische Wojwodschast
in Ungarn „Wojwodowina" nennt. Auf Stephan,
welcher in der Geschichte „der Herzeg" genannt wird,
folgte 1444 sein Sohn Wladislans in der Regierung der
Herzegowina. Jetzt kamen die Osmanen, eroberten 1463
das Königreich Bosnien und tödteteu den letzten König
Stephan Thomasevitsch nach dessen Niederlage bei Klinisch.
Die siegreichen Schaaren Mohammeds II. sielen in der
Herzegowina ein und zerstörten in demselben Jahre die
feste Burg Popowo. Der Herzog überlieferte 1475 die
auf einem Felsen gelegene Burg Wisoko deu mächtigen
Venetianern, damit der wichtige Platz nicht in die Hände
der Türken falle, welche Trebinje und fast die ganze Herze-
gowiua erobert hatten. Im Frieden zu Karlowitz wurde
1699 die Herzegowina den Türken förmlich zugesprochen,
mit Ausnahme jenes kleinen Gebietes, welches die Vene-
tianer 1682 besetzt hatten und das auch jetzt zum König-
reich Dalmatien gehört.
Nur langsam bewegten wir uns am rechten Ufer der
obern Narenta vorwärts; die Straße war schlecht, obgleich
sie weit und breit die eiuzige ist, welche durch diese hohe
Gebirgskette führt und oft von türkischen Soldaten und
Saumthieren passirt wird. Dieser Paß spielte im letzten
Kriege mit Montenegro eine große Rolle, denn der Divi-
sionsgeueral und Chef der türkischen Truppen in Bosnien,
Hussein Pascha, hat seine in Serajewo concentrirten Trup-
Pen auf dieser Straße nach der montenegrinischen Grenze
befördert. Uns entschädigten für die Beschwerden der Reise
die malerischen Gebirgsansichten und die gesunde, duftende
Gebirgsluft, welche für mich und meinen ungarischen Reise-
geführten um so wohlthuender war, als wir eben aus der
ungesunden slavonischen Savegegend kamen und dort wie-
derholt Fieberanfälle auszustehen hatten. Die nackten,
meist von einer dürftigen Vegetation bekleideten Berg-
abhänge, welche sonst viele Gegeuden der Herzegowina
insbesondere an der kalksteinreichen dalmatischen Grenze
charakterisiren, sind hier nicht zu sehen, und wir freuten
uns über die alten Eichen, deren nicht wenige gewiß schon
zu den Zeiten des auch hier sehr gefeierten Kraljewitsch
Marko grünten, und über die majestätischen Buchen.
Große, mit Früchten beladene wilde Birn- und Apfel-
bäume, welche zur Blüthezeit in unvergleichlicher Pracht
prangen, anch Kastanienbäume sind häufig.
Das an der Narenta liegende Dorf Jablaniza hat
seinen Namen von den in dieser Gegend häufig vorkom-
menden Ahorn bäumen erhalten, welche serbisch Ja blau
A. Leist: Slreifzüge durch die
genannt werden. In: Han dieses Dorfes fand ich mich
veranlaßt', meine angegriffenen, brennenden Füße mit
Rakija (Branntwein) einzureiben, was bei den neugierig
mich umgebenden Herzegowatzen allgemeines Erstaunen
erregte, indem dieselben durchaus nicht begreifen konnten,
warum ich nicht die innerliche Verwendung dieses Pro-
duktes dem äußerlichen Gebrauche vorgezogen habe! Doch
beruhigte Einer dieselben mit der Versicherung, daß wir
Aerzte seien, die nur gekommen wären, um die heilkräftigen
Pflanzen der glücklichen Herzegowina zum Wohle der lei-
denden Meuschheit zu sammeln.
Die Herzegowatzen stellten an uns mehre Fragen,
welche fast sämmtlich einen niedrigen Bildungsgrad an-
deuteten, und es schien sie zu betrüben, als sie vernahmen,
daß sie keine Bekenner der morgenländischen Kirche vor sich
hätten, zumal wir eiu Idiom ihrer Sprache sprachen. Als
wir ihnen aber sagten, daß es im Magyarenlande sehr viele
griechische Christen gebe, waren sie zufrieden, meinten aber
doch, daß ihr Glaube — Vera — der beste sei, wogegen
wir natürlich gar nichts einzuwenden hatten.
Ein Ziegenbraten, hier Pertschewina genannt, war
unsere Abendmahlzeit und mundete vortrefflich, besonders
auch unseren bosnischen Reisegefährten, welche den ganzen
Tag über sich mit Kukuruzbrot (Proja) und Zwiebeln be-
gnügt hatten. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß
in diesen Gegenden selbst der Wohlhabende sich keiner
großen Abwechslung in den Speisen erfreut, denn wenn
auch kein Mangel an Vieh, Geflügel, Wild n. s. w. ist, so
versteht man doch nicht die Braten und Fleisch-
gerichte auf verschiedene Arten zu bereiten und
bei dem Mangel der meisten Gemüsearten verzichtet man
ans Abwechslung.
Unbekümmert um die Boschuyakeu, welche sich ans den
nngedielten Fußboden hingeworfen hatten, bereitete uns
der Handfchia (Hanwirth) mit gutmüthiger Vorsorglichkeit
ein Nachtlager, auf dem wir zwar Schlaf fanden, aber
auch froh waren, als der Morgen graute, und wir in der
milden hochsommerlichen Morgenluft unsere Reise fort-
setzen konnten. Aber die Sohlen meiner Zisch m e n (Stiefel
nach ungarischer Art) waren schadhaft und für die steinigen
herzegowinifchen Wege unbrauchbar geworden. Was war
zu machen? Einem Schuhmacher ist es uoch nie eingefallen,
sich in diesen Dörfern unnützlich zu machen, da hier die
Männer Opanken tragen, die Frauenzimmer aber bar-
fuß einhergehen oder wenn dies nicht der Fall ist, ihre
Fußbekleidung auf dem Jahrmärkte holen. Der Wirth
half mir mit den landesüblichen Opanken aus, welche
sanunt dem Zubehör gauz neu waren, und in denen ich bis
Mostar mit der größten Bequemlichkeit gehen konnte. Sonst
sieht man in der Herzegowina allerdings auch wohl Schuhe
und Strümpfe und die türkischen Papnschen. —
Als wir Jablaniza verließen, zogen unsere Bosch-
nyaken ihre Pistolen aus dem Pojas (Gürtel) und seuer-
teu dieselben wiederholt ab. Es waren dies sogenannte
Frendenschüsse, welche man in diesen Ländern oft zu hören
bekommt. Der Morgen war entzückend schön. Auf deu
schöngeformten Bergen lag ein zauberischer violetter Duft
und die Gebirgslnft erquickte uns. Wir erinnern nns die
Aussage eines Touristen, welcher die Sutorina besucht
hat, gelesen zu haben, daß man kaum ein Verlangen tragen
würde, die Herzegowina zu besuchen, wenn die übrigen
Theile dem Thale der Sutorina glicheu, welches in seiner
Verödung einen grellen Contrast mit der Bocca im Süden
und mit Ragusa tut Norden bilde. Glücklicherweise trifft
diese Voraussetzung bei der schönen östlichen Herzegowina
nicht zu, und jener Reisende gesteht selbst, daß auf der tür-
Globus X. Nr. 11.
Herzegowina nach Montenegro. 337
kifchen Seite Alles grüne und blühe, was aber wieder nicht
überall der Wirklichkeit entspricht. Während die lang-
gestreckten dalmatischen Gebirgsrücken meist ungefällig
einförmige Linien bilden und dabei kahl, baumlos und öde
sind, haben die Ausläufer derDinarifchen Alpen in
der Türkei meist schöne Eontonren und gewähren auch
da, wo sie in wilder Zerrissenheit Zacken, Spitzen, Kuppen
und Massen auf Massen häufen, ein malerisches Panorama.
Jedenfalls sind die Bergabhänge grün von Wäldern, Ge-
büschen und Wiesen, und sie werden daher mit Recht in
den Volksliedern: „zelene plan ine" (grüne Berge)
genannt.
Diese Waldungen sind auch von sehr vielen Vögeln
belebt, und es war mir interessant, auf den Triften noch
jetzt, zu Anfang Septembers, Wiedehopfe in ungemeiner
Menge anzutreffen. Der Wiedehopf wird von den Herze-
gowatzen und Wohl von allen Serben onomatopöifch mit
dem Namen Kokotitfch bezeichnet, während der Kukuk
auch dort, wie unter vielen anderen Völkern, seinen eigenen
Namen „Kukao" ausruft. Diesen Vogel sah ich dort
noch häufig, und der Gesang der Sylvien ertönte reizend
und nachtigallähnlich aus den Gebüschen, aber unsere tür-
kischen Gefährten kannten nur sehr weuige Vögel und deren
Namen. Den Bienenfresser, der hier sehr häufig ist, wuß-
ten sie uicht zu benennen und antworteten nur immer
„tiza" (Vogel). Das befremdete mich auch gar nicht, denn
ich wußte aus Erfahrung, daß selbst ein italienischer Kano-
nikns mir nicht einmal den Namen Käfer italienisch zu
geben vermochte, denn er fagte nur: „Sono piccoli animali"
und als ich meinte, ob diese kleinen Thiere etwa scarabei
heißen? sagte er: „e possibile! vedrö in Buffone" (es ist
möglich, ich werde im Büffon nachsehen). Doch haben diese
Südslaven einige recht hübsche Namen für einzelne Vögel;
so z.B. heißt der Rothschwanz Tschervenperka, der Stieglitz
Gerdelatz, die Schwalbe Lastawiza, die Bachstelze, welche
in den warmen Thälern der Herzegowina auch überwintert,
wird Gowedarka genannt. Die Nachtigall, welche hier sehr
häufig vorkommt und schon Mitte März die grünen Ge-
büsche belebt, heißt Slavuj, an alle anderen slavischen
Namen dieses herrlichen Schlägers erinnernd.
Wir sahen auf uufrer Reise im Narentathale auch viele
Obstbaumpflanzungen, an denen aber keine Kultur und
Pflege sichtbar ist. Sehr häufig findet man hier eine Art
Mispd, die Oskorusa genannt wird und deren Früchte
einen angenehmen säuerlichen Geschmack haben, ferner sehr
große Kornelkirschbänme. Dieser Baum (Cornus mascula)
ist ein Lieblingsbaum der Serben und wird Dernje ge-
nannt. Im Ab erglaub en der türkischen Slaven spielt
das Holz der Kornelkirsche eine bekannte Rolle; es wird
zu Weissagungen benützt. Als Kraljewitsch Marko gegen
den starken Räuber Masfa ziehen wollte, hat derselbe zu-
erst dieses Holzes sich bedient: „Bringt mir trocknes
Korneliusholz", läßt ihn die Sage sprechen, „welches schon
neun Jahre aufgeschichtet ist, und ich will sehen, welchen
Rath ich mir erhole." Man bringt ihm das Holz, Marko
drückt es heftig in der Rechten, zweimal berstet dann das
Holz und dreimal, doch kein Wasser träufelt aus demselben,
denn die Zeit des Kampfes ist noch nicht gekommen. Nach
Verlauf eines Monates wiederholt Marko den Versnch, und
es springen zwei Tropfen Wasser heraus. „Jetzt bin ich
tüchtig!" ruft der Königssohn und schickt sich an, den ge-
fährlichen Weg gegeu den Räuber zu gehen. —
Auch die Quitte ist hier eiue beliebte Frucht. Die
Obstbäume werden nur durch Kerne fortgepflanzt, von einer
Veredlung oder auch nur Befchueidung ist keine Rede.
Alles wird der lieben Natur überlassen, welche auch reich-
43
338 Das Klima
lich das Ihrige thut, obgleich viele Obstarten in dieser
Unkultur bedeutend verwildern und ausarten. So gibt es
außer einer großen Aprikose (von den Türken Kaisia ge-
nannt), welche süße, einer Mandel ähnliche Kerne hat,
eine ganz verwilderte, oder noch in ihrer Ursprünglichkeit
sich befindende Aprikosenart, die kaum so groß ist, wie eine
starke Kirsche. Auch würde mau in diesen: paradiesischen
Klima vergeblich nach den schönen Pfirsichen von 13 bis
14 Loth Schwere suchen, wie solche das viel kultivirtere
südliche Ungarn (die B-ttschka) aufzuweisen hat. Ohne in
pomologische Weiterungen hier einzugehen, bemerken wir
nur noch, daß der sogenannte Sertschika-Apsel der
köstlichste in der Türkei ist. —
Wir hatten, bald reitend, bald zu Fuße, und viel von der
heiß scheinenden Sonne leidend, aber doch immer von der
schönen Gegend dieses Längethals erheitert, Urde erreicht;
dieser von der Narenta etwas rechts abliegende Flecken
schien ziemlich bevölkert zu sein. Von Urde abwärts war
schon ein regeres Leben aus der Straße bemerkbar, welches
die Nähe der Hauptstadt des Saudschiaks Herseg, Mostar,
andeutete. Je mehr wir uns dieser ansehnlichen, in reizen-
der Gegend gelegenen Stadt näherten, desto mehr vergrößerte
sich unsere nunmehr schon aus verschiedenen Elementen
bestehende Karawane. Theils singend, theils den Tschibuk
rauchend, zog dieselbe endlich in die alte Stadt ^eiu und
löste sich nach allen Richtungen ans, während ich und mein
Freund in einem Mehan (einer Locanda) ein den Um-
ständen gemäß gntes Unterkonunen fanden.
Der Namen Mostar ist echt slavisch und zusammen-
gesetzt aus den Wörtern: most, Brücke, und stari, alt,
weshalb auch diese Stadt von den hier lebenden wenigen
Deutschen Alt brück geuannt wird. Mostar wird von der
Narenta durchflosseu, über welche eiue kühugewölbte aus
einem einzigen Bogen bestehende Marmorbrücke führt.
Der Bogen hat im Durmesser nur 50 Fuß. Mostar wird
gewöhnlich als eiue „starke Festnng" angegeben, ist aber
nur von einer crenelirten Mauer umschlossen und als
Festung ohue alle Bedeutung, obgleich es in den monte-
Australiens.
negrinischen Kriegen einen wichtigen Eoneentrationsplatz
der Türken bildet. Ueberhanpt hat die Herzegowina viel
weniger feste Plätze als Bosnien, welches mit Festuugeu,
Eitadellen, Burgen, Palanken, Schanzen und Thürmeu
(Knla) überdeckt ist und mit seiner tapfern, stets in Waffen
einhergehenden Bevölkerung im Kriege ein wichtiges Waffen-
lager der Türken bildet. Mostar zählt 2900 Häuser,
darunter viele sehr schlecht gebaute, uud 12,000 Einwohner,
welche sich zum größten Theile zur griechischen Kirche be-
kennen. Unter den Einwohnern befinden sich auch Italiener,
Deutsche und einige spanische Juden.
Die Haudelswege von Mostar sind alt und es ist die
Nähe des Meeres und der italienische Einfluß, der zur
Blüthezeit der Republiken Venedig und Ragusa noch größer
war, aus die Betriebsamkeit dieser Stadt unverkennbar.
Berühmt sind die Wassenfabriken, insbesondere die
Damascenerklingen. Mostar ist der Sitz eines Kaimakans.
Wir sahen reguläres türkisches Militär und Baschi-Bozuks,
mit welch letzteren wir in serbischer Sprache uns unter-
halten konnten.
In einem Lande, wo weibliche Erziehuug sowohl unter
Christen als Moslemin beinahe ganz unbekannt ist, muß
als eiue Merkwürdigkeit angeführt werden, daß sich zu
Mostar eiue ziemlich blühende Mädchenschule befindet.
Zwischen Mostar und Metkowitsch ist auch eiue Tele-
graphenlinie errichtet worden , was für die Türkei immer-
hin bemerkenswert)' erscheint.
Von Mostar aus verließen wir das schöne und frucht-
bare Narentathal und zogen in südwestlicher Richtung nach
der Stadt Glub inj e, welche in einem schauerlichen Felsen-
kessel liegt und von keiner Bedeutung ist. Glnbinje liegt
beinahe in der Mitte zwischen Mostar und Trebiuje, hat
aber mit beiden Städten wenig Verkehr. Sechs Meilen
östlich von Glnbinje hinter den Gebirgen liegt Gazko au
der Wasserscheide zwischen der Donau und dem Adriatischen
Meere. Dort war während des letzten Aufstandes der
Rajah oftmals das Hauptquartier des Anführers Luka
Wukalowitsch.
Das Klima ,
Eiu europäischer Arzt, welcher länger als 12 Jahre in
verschiedenen Theilcn Australiens über das Klima und dessen
Einwirkungen auf den Menschen eingehende Beobachtungen
angestellt hat, eutwirft iu der Zeitschrift „Australasiau" die
uachsteheude Schilderung. Dieselbe paßt aber nur auf die
drei Eolonien Neusüdwales, Victoria und Südaustralieu,
nicht ans Queensland und deu nördlichen Theil des Eon-
tinentes.
— — Alte Ansiedler, welche seit langen Jahren in
derUmgegend von Städten und Flecken wohnen, behaupten
allen Ernstes, daß das Klima in den kultivirten Bezirke»
Australiens sich verschlechtert habe und nicht mehr so gesund
sei wie zu der Zeit, da sie ius Laud kamen. Es liegt etwas
Wahres in dieser Behauptung; denn dort, wo man die
Bäume niedergehauen und folglich den Orygeugehalt der
Luft vermindert hat, sind die atmosphärischen Verhältnisse
minder günstig geworden. Aber in den mit Pflanzenwuchs
und insbesondere mit Bäumen und Gesträuch bewachsenen
Gegenden, im sogenannten Busch, sind die klimatischen
i « (1 r a l i t n s.
Verhältnisse noch so günstig wie früher und der Oxygen-
gehalt ist in Fülle vorhanden. Möge doch Jeder, wo es
auch sei, so viel als irgend möglich, die Bäume schonen
und recht viele junge anpflanzen, nicht blos des Schattens
halber, sondern des Oxygens wegen; denn dieses ist das
große Lebensprineip', ist recht eigentlich ein Lebenselixir.
Besonders charakteristisch ist die Trockenheit des
australischen Klimas, die Dürre und die merkwür-
dige Reinheit des Sonnenlichtes; dagegen mangeln
Feuchtigkeit und schädliche Gase, durch welche Krankheiten
erzeugt werden; die Zersetzung thierischer und vegetabilischer
Stoffe ist äußerst gering. Man braucht nur die Wirkung
der atmosphärischen Einflüsse auf die Metalle zu beobachteu,
um sich von der Trockenheit der Luft zu überzeugen. Man
kann sie wochenlang Tag und Nacht im Freien liegen lassen
uud es setzt sich doch kein Rost an, salls nicht etwa Regen
gefallen ist.
Eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit dieses Klimas
zeigt sich auch darin, daß die Wäsche ungemein rasch bleicht
Das Klima
und sehr weiß wird. Alle animalischen und überhaupt
organischen Substanzen verflüchtigen sich schnell, und Kno-
chen werden in kurzer Zeit so weiß wie Schnee. Ich habe
beobachtet, daß im Sommer Pferde- und Ochsengerippe
binnen 1l) bis 14 Tagen so vortrefflich gebleicht waren, daß
man sie sofort in einem Museum hätte aufstellen können.
Diese bleichende Eigenschaft des australischen Lichtes wird
aber unangenehm, denn sie wirkt auf das Kopf- und Bart-
haar auch junger Leute. Das Haar wird uicht nur
grau, sondern völlig weiß, und zwar so häufig, daß
die Sache im Lande selbst gar nichts Auffallendes hat. Im
Busch trifft man sehr oft junge, in Australien geborneLeute
zwischen 25 bis 39 Jahren, deren Haar weiß geworden ist
wie das der Patriarchen. Im Allgemeinen müssen Personen
beiderlei Geschlechts, gleichviel ob sie in Australien geboren
oder dort natnralisirt sind, darauf gefaßt sein, daß sie spä-
testens zwischen 38 und 59 Iahren grau oder auch völlig
weiß aus dem Kopf und am Barte werden, besonders wenn
sie viel im Freien uud den Sonnenstrahlen ausgesetzt sind.
Aber die körperlichen und geistigen Eigenschaften der
Australier werden durch diese Einwirkung der Luft uud des
Lichtes nicht im Mindesten nachtheilig berührt. Doch Fol-
gendes ist wohl in Obacht zu nehmen: Ein Mensch, der in
Australien eine durchaus sitzende Lebensweise befolgt und
sich nicht viel Bewegung macht, wird selten zu höheren
Iahren kommen, es sei denn, daß er eine ausnahmsweise
gute Leibescoustitutiou habe und sich im Essen und Trinken
außerordentlich mäßig halte. Wer dagegen sein Brot im
Schweiße des Angesichts erwirbt, stets in Bewegung ist, den
größten Theil seiner Zeit im Freien verbringt, der wird
dadurch seinen Körper kräftigen, besonders wenn er einfach
lebt. SolcheLeute erreichen ein hohes Alter. Für das anstra-
lifche Klima, in welchem die Gährung und chemische Zer-
setznng der Nahrungsstoffe fo rasch vor sich geht, ist reine
und gesunde Nahrung eben so dringend erforderlich wie
freie Luft und Bewegung. Speisen, die nicht in jeder Be-
ziehung nntadelhast sind, haben meist gefährliche Folgen.
Zwischen guter uud schlechter Gesundheit haben wir hier
keine vermittelnden Zwischenstufen, und chronische Krank-
heiten kommen nur als Ausnahmefälle vor. Ein Kranker
wird rasch gesund oder stirbt, und dieses Gesetz regiert die
gesaminte Physiologie in Australien, sowohl des Thier - wie
des Pflanzenlebens. Hier athmet Alles Energie uud Thä-
tigkeit, vom Thiere der höchsten Ordnung an bis zn den
winzigsten Organismen.
Dieses in so vieler Beziehung paradoxe Australien ist
mit einem wahren Strome von Licht und reiner Lust über-
flutet; ein Mensch, der hier mäßig und angemessen lebt,
wird nur selten von einer Krankheit heimgesucht werden uud
ein hohes Alter erreichen. Australien ist gesund; auch viele
schwarze Eiugeborue, Pferde, Hunde, Vögel k. leben sehr
lange. Das Klima begünstigt hier die Entwicklung der
physischen Kräfte, und an Leibesnahrung ist kein Mangel.
Im Winter geht die Temperatur nur höchst selten unter
den Gefrierpunkt hinab und im Sommer steigt sie nicht
über 39 bis 36° E. (— was freilich schon eine recht uuan-
genehme Hitze ist, besonders wenn die glühenden Luftströme
bei Nordwest aus den inneren Wüsteneien kommen —).
Menschen und Thiere ertragen auch angestrengte Arbeit mit
weniger Mühsal als in den meisten anderen Ländern. Die
große Trockenheit des Bodens, die völlige Abwesenheit
schädlicher Ausdünstungen, die geringe Menge nachtheiliger
Ausdünstungen der stehenden Gewässer, die rasche Zer-
setznng der thierischen uud Pflanzenstoffe und die ansge-
dehnten Wälder, — alle diese Umstände wirken so günstig,
wie kaum in irgend einem andern Lande. Daher finden
Australiens. 339
wir bei den Menschen eine so große Elasticität des Körpers
bei strotzender Gesundheit und großer Kraft. Die Hitze ist
allerdings oft sehr beträchtlich, aber sie erzeugt nicht allzu
starken Schweiß und der Mensch empfindet nur fetten jene
Schlaffheit und Abspannung, welcher man an heißen Som-
mertagen in Europa sich nicht erwehren kann. In Australien
kann man, mitten im Sommer auch bei der größten Hitze,
29 bis 39Miles machen, ohne große Ermüdung zu verspüren.
Ich bin eine ganze Woche lang in einem einzigen Zuge ge-
wandert, habe täglich 39 bis 49 Miles zurückgelegt und
fühlte mich am andern Morgen nach einem erquickenden
Schlafe vollkommen frisch. Wenn wir kein Unterkommen
unter Dach und Fach haben konnten, nahm Jeder sein
Beil, hieb vom ersten besten Gnmbanm ein 8 Fuß langes,
3 Fuß breites Stück Rinde ab, legte dieselbe als Matratze
ans die Erde, kehrte die Füße dem Feuer zn, hüllte sich in
seine Decke, bereitete sich aus seinem Ranzen ein Kopfkissen
und schlief so prächtig, als läge er auf einem Pfühl von
Eiderdnnen. So übernachtet man in: Busche ganz behag-
lich; ich weiß das aus Erfahrung.
Sämmtliche Goldgräber bei Beudigo (in der Eolouie
Victoria) deren Zahl im Jahr 1855 sich ans mehr als
29,999 Köpfe belief, hatten nur leichte Leinwand- oder
Kattunzelte. Diese boten hinlänglichen Schutz, auch gegeu
Regen und leichte Nachtsröste. Zum Uebersluß spannte
man dann wohl noch einen sogenannten Pavillon über
das Zelt.
Im Busch und in den Küstengegenden komnien Aus-
zehrungen, Lungenkrankheiten und asthmatische Leiden so
gut wie gar nicht vor. Als einheimische Krankheiten treten
Dysenterie und Augen leiden auf. Die erstere entsteht
gewöhnlich durch den Genuß von schlechtem Trinkwasser,
wenn dasselbe während der heißen Sommertage im Ueber-
maße getrunken wird, oder auch durch Unmäßigkeit im Essen.
Das Wasser ist vielfach mit mineralischen oder vegetabili-
schen Alkalien geschwängert, mit Kalk und anderen erdigen
Niederschlägen, und besonders neue Ankömmlinge erfahren
sehr nachtheilige Folgen, wenn sie im Genüsse solchen Wassers
unvorsichtig sind. Dysenterie entsteht auch iu Folge über-
mäßigen Genusses geistiger Getränke, nud deshalb ist sie
leider die am häusigsten vorkommende Krankheit. Doch ist
sie ohne Schwierigkeit zu heilen und nur dann gefährlich,
wenn sie chronisch geworden.
Ophthalmie entsteht in Folge der heißen Winde,
welche periodisch aus allen Himmelsgegenden, am meisten
aber aus Nordwest wehen. Sie halten indeß niemals lange
an und man kann die Augen durch sehr einfache Vorkeh-
rnngen schützen. Auch das, was wir als blight in the eye
bezeichnen, ist im Sommer häufig. Diese Plage entsteht
durch den Stich einer kleinen Fliege, welche manchmal sogar
die Hornhaut angreift und zerstört. Man empfindet einen
Stich wie von einer seinen Nadel und weiß dann, daß das
Insekt sein Gift eingelegt hat. Sofort schwillt das Auge
stark an. Man darf diese kleine Fliege, wenn sie eben sticht,
nicht tobten, weil daraus die gefährlichsten Folgen sich ent-
wickeln. Diese Fliegenstiche müssen sehr sorgfältig behan-
delt werden; wer sich dabei der Luft oder Sonne aussetzt,
dem schwillt auch bald das andere Auge an uud dann auch
das ganze Gesicht bis zu einer enormen Dicke. Als Ge-
genmittel wendet man gewöhnlich Eiweiß an, das auf ein
Stück geölter Leinwand gestrichen wird, oder falls man das
Beides nicht zur Hand hat, eine rohe Kartoffelschale, auch
wohl Tabacksblätter.
Die Fruchtbarkeit der australischen Eolonisten steht als
eine allbekannte Thatsache da. Ich selber habe in Neusüd-
Wales bei Schäfern und Goldgräbern Mütter von 59 und
43*
340 Aus Samuel White Bakers N>
auch vou etwas über 13 Jahren gesunden. Alles in Allem
genommen: Australien ist sehr gesund. Europäer, deren
Gesundheit in Indien gelitten hat, stellen dieselbe in Anstra-
lien bald wieder her. — So weit der englische Arzt, der
im Allgemeinen Recht hat, was die Gesundheit des austra-
lischen Klimas anbelangt. Doch ist, anderen Gewährs-
männern zufolge, dasselbe oftmals wegen der allzu großen
Trockenheit, der langanhaltenden Dürre und der starken
Hitze halber nicht gerade angenehm.
Da wir gerade vom Klima sprechen, so wollen wir
einige Notizen aus den: nördlichen Indien beifügen,
welche von der „Homeward Mail" mitgetheilt wurden:
Im P end schab herrschte während des Sommers 1865
eine Hitze, wie man sie sogar dort nie zuvor erlebt hatte,
namentlich nicht int obern Theile. In einem Briefe aus
Multan vom 8. Juli heißt es: Saud und Sonne, Sonne
e in die Region der NilqueNeu.
und Sand, — das sind die Elemente, in denen wir leben.
Alle Energie ist von uns gewichen, wir sind wie niederge-
schmettert und jede geistige Thätigkeit ist verschwunden.
Die Regengüsse, deren wir uns sonst in dieser Jahreszeit
täglich zu erfreuen haben, sind ausgeblieben. Sonnenstiche
und Apoplexie an der Tagesordnung; von den ersteren
sind allein im 35. Regiment 15 Fälle vorgekommen. Und
wie viele Europäer liegen in Folge dieser unerträglichen,
ganz abscheulichen Hitze halb oder völlig krank darnieder!
Kapitän Fisher, welcher einem Sonnenstich erlag, wurde
gestern Abeuds begraben; die Leute des genannten Regi-
mcnts, welche ihn zn Grabe geleiteten, waren alle schwach
und wankten hin und her; einer stürzte nieder, und manche
andere schienen ihrem eigenen Grabe entgegen zn gehen.
Multan ist überhaupt für Europäer ein schrecklicher Auf-
enthaltsort, und felbst die Eingebornen leiden viel. Auch iu
Lahore und Mian Mir kamen Sonnenstiche in Menge vor.
Aus Samuel White Bakers Reife in die Region der Nilquellen.
ii.
Zustände in Gondokoro. — Meuterei und Verlegenheiten. — Zwei getreue Schwarze. — Barbarei der Türken. — Aufbruch nach
Ellyria. — Verständigung mit Ibrahim. — Der Fluß Kaniete, die Wasserscheide nnd der Berg Lafit. — Tarrangolle und das
Land Latnka. — Schilderung des Latukavolkes.
Wir haben erzählt, daß Speke und Grant am 26. Fe-
brnar 1863 von Gondokoro nach Ehartum nilabwärts
segelten. Baker glaubte nun, seine Reise gen Süden
fortsetzen zu können, er stieß aber auf eine Menge von
Hindernissen, die geradezu unbesiegbar erschienen. Und
doch gelang es dem mnthigen, festen Manne, allerdings
unter Lebensgefahr, alle Schwierigkeiten aus dem Wege
zu räumen. Die Vorgänge in Gondokoro sind so kenn-
zeichnend für das wilde Leben und Treiben in jenen Ge-
genden Jnnerafrika's und stellen den Reisenden, der auch
solche Zustände beherrschen konnte, in ein so vortheilhaftes
Licht, daß wir sie näher schildern müssen.
Sehr viel litten Esel und Kameele durch einen Vogel
von der Größe einer Drossel und braungrünlichem Gefie-
der, der feine sehr scharfen Krallen in die Haut der Thiere
schlug und mit seinem rothen Schnabel Löcher ins Fleisch
hackte. Die Thiere litten dadurch entsetzlich, magerten ab
und verloren die Lust zum Fressen; nur die Pferde bliebeu
verschont, weil sie mit ihrem langen Schweife den Feind
abzuwehren vermochten. Baker hatte 54 Centner Gepäck
verschiedener Art, zumeist Glasperlen, Knpser und Schieß-
bedarf, und mußte Träger haben. Zu diesem Zwecke
wandte er sich an Mohammed, den Obmann (Wakil) der
Leute des Maltesen Andrea Debono, welche, mit Elfenbein
beladen, Speke und Grant nach Gondokoro begleitet
hatten. Sie wollten demnächst nach Debono's Station
Faloro, welche 12 Tagereisen von Gondokoro entfernt
liegt, zurückgehen; von Faloro gedachte dann Baker unver-
weilt nach Unyoro zu König Kamrasi weiter zu ziehen. Mo-
hammed versprach Alles und verpflichtete sich sogar, den
Reisenden überall hin zu begleiten, vorausgesetzt, daß der-
selbe ihm ein ansehnliches Geschenk gebe und obendrein
die Zähne aller Elephanten, welche er, Baker, schießen
werde. Das gewährte man ihm, aber trotzdem zettelte
der doppelzüngige Araber ein Eomplot an; der Europäer
sollte um jeden Preis verhindert werden, weiter ins Innere
zu dringen. Man wollte nicht, daß er den Elfenbein-
Händlern dort oben in die Karten fehe; er hätte ja die Ab-
scheulichkeiten der Sklavenjagden und der Raubzüge in
Aegypten und Europa bekannt machen können, und deshalb
war das gesammte Volk der in Gondokoro verweilenden
Nilhändler entschlossen, sein weiteres Vordringen zu ver-
eiteln.
Zunächst wurden die Leute, welche er iu Ehartum ge-
miethet, gegen ihn aufgehetzt; es sei für sie eine Schande,
einem Christenhunde zu dienen; er werde ihnen nicht er-
lanben, den Schwarzen Vieh wegzuuehmen, uud sie würden
hungern müssen; er würde sie in unbekannte Gegenden zu
feindlichen Völkern führen und sie zuletzt im Stiche lassen.
Diese Einflüsterungen wurden geglaubt uud vou nun an
benahmen sich die Leute nachlässig und widerborstig; von
Allen blieben nur zwei ordentlich und getreu, und diese
waren nicht Araber, sondern Schwarze, welche jetzt und
auch späterhin wichtige Dienste thaten. Der eine war ein
zwölfjähriger Knabe, Namens Saat, aus dem Lande Fertit
gebürtig, wo ihn Baggara-Araber geraubt und durch Kor-
dosau uach Dongola am Nil geschleppt und als Sklaven ver-
kauft hatte». Er eutfloh und kam endlich in die Hände der
österreichischen Missionäre, die ihn nach einer ihrer Stationen
im Sande der Schillucks brachten. Aber dort erlagen
binnen sechs Monaten nicht weniger als 13 Mis-
sionäre dem Klima, und Saat wurde nach Ehartum in
die Mission gebracht. Dort unterhielt man eine ganze Schaar
Negerknaben aus verschiedenen Stämmen; sie belohnten
Aus Samuel White Bakers R
die freundliche Milde der Missionäre dadurch, daß sie ihnen
Alles stahlen, was nur fortzubringen war. Am Ende
schickte man sie alle fort, nachdem man sich überzeugt hatte
„von ihrer absoluten Nichtsnutzigkeit, von ihrem moralischen
Stumpfsinn und der handgreiflichen Unmöglichkeit, sie zu
bessern und irgend etwas mit ihnen anzufangen".
In diesen Bemerkungen Bakers und der Missionäre
liegt ein Fingerzeig für jene „Pädagogen", welche, der
Eigenartigkeiten und specifischen Anlagen der verschiedenen
Rassen unkundig, sich dreist vermessen, „jeden Menschen
durch Unterricht und Erziehung aus die Höhe der Bildung
und Civilisation des Europäers git erheben".
Saat war eine Ausnahme, „ein Goldkorn unter
Schmutzklumpen"; er war aber auch uicht vom Weißen
Nil, sondern, wie schon bemerkt, aus Fertit. Mohammed
kam zu Baker und setzte die gemeinschaftliche Abreise auf
den nächsten Montag an; es zeigte sich aber, daß er alle
Vorkehrungen getroffen hatte, um schon am Sonnabend
allein aufzubrechen. Bakers Leute hatten während der
Nacht beschlossen, allesammt zu desertiren, Waffen und
Schießbedarf mitzunehmen und im Nothfalle den Europäer
zu erschießeu. Saat und der zweite getreue Schwarze,
Richarn, hatten Alles gehört.
Baker begriff vollkommen den Ernst der Lage. Er
legte fünf mit Rehposten geladene Doppelflinten, einen Re-
volver und einen fcharfen Säbel neben sich, hielt eine sechste
Doppelflinte in der Hand, und die beiden, gleichfalls mit
einer solcheu bewaffneten Schwarzen standeu hinter ihm.
Dann ließ er die Trommel rühren, feine Lente auffordern,
in eine Reihe zu treten und zwar so, daß das Flintenschloß
eines jeden mit einem Futteral von wasserdichtem Mac In-
tosh umgeben sei. Frau Baker stand hinter ihrem Mann,
um diesem zu sagen, ob etwa der eine oder andere denVer-
such wage, diesen Ueberzug zu entfernen und dadurch zeige,
daß er Böses beabsichtige. Baker war fest entschlossen,
jeden Ungehorsamen auf der Stelle niederzuschießen. Nur
15 Mann erschienen; sie weigerten sich, die Waffen nieder-
znlegen, als aber Baker auf sie anschlug, wichen etliche
etwas zurück, audere setzten sich nieder und lieferten nun
die Waffen aus. Dabei verlangten sie einen schriftlichen
Abschied, welchen der Wakil sofort in arabischer Sprache
ausfertigte; Baker aber schrieb auf jedes Blatt mit la-
teinifchen Lettern noch das Wort Meuterer hinzu.
Die Entwaffneten begaben sich nun zu den Leuten der
Händler; der Rest von Bakers Dienern bestand aus Dougo-
lawis, welche sich gar uicht hatten blicken lassen. Der
Wakil war ihr Landsmann, und ihn machte er für die Ein-
liesernng sämmtlicher Flinten verantwortlich; wer die
Herausgabe verweigere, solle auf der Stelle uiedergeschosseu
werdeu. Unter diesen Umständen verkündigte ein vom
Eirkassier Knrschid Aga abgefertigter Bote, daß Mohammed
allein abgereist sei; dieser ließ dem Europäer sagen, daß
er feine Spione im Lande dnlden wolle und eintretenden
Falls auf ihn feuern werde.
So war der Reiseude aus sich, seine Frau und zwei
Negerburschen augewiesen! Kurschid war geneigt, ihm zehn
seiner Elephantenjäger zu leihen, dazu wollten aber diese
letzteren sich nicht verstehen, weil der Europäer ein Spion
sei. Was nun beginnen? Umkehren wollte er durchaus
nicht. „Ich hatte Vorräthe aller Art in Meuge und Ge-
treide, das für ein ganzes Jahr ausreichte, dazu allerlei
Sämereien, welche ich aus Vorbedacht für den Fall mit-
genommen hatte, daß man mich in Gefangenschaft behalten
werde. Ich war entschlossen, in Gondokoro eine Seriba,
d. h. einen Lagerplatz herzurichten und dort zu bleibeu, bis
ich im nächsten Jahre von Ehartum ans eine neue Seudung
se in die Region der Nilquellen. 341
von Lebensmitteln und Dienern bekommen würde. Meine
Erpedition, auf deren Einrichtung ich die äußerste Sorgfalt
verwandt hatte, war rninirt; meine Lente waren ans-
gerissen, nachdem sie einen Mordanschlag gegen mich an-
gezettelt hatten. In jenen wilden Gegenden gibt es kein
anderes Gesetz als die rohe Gewalt, das Menschenleben
wird für nichts geachtet, Mord ist ein Zeitvertreib und wer
will einen Mörder zur Verantwortung ziehen? Für meine
Person hatte ich keine Angst, aber mit Schaudern dachte ich
daran, wie es meiner Frau ergehen werde, falls ich mein
Leben lassen mußte."
Es war eiue trübe Zeit. Da erschieu eiues Nachmit-
tags der Wakil mit der Meldung, daß 17 Leute sich bereit
siuden ließen, Baker zu begleiten, aber nicht nach Süden,
sondern nach Osten hin, weil sie in jener Richtung Feinde
zu fiudeu vorgaben. Sie müßten aber darauf bestehen,
daß Baker alle feine Transportiere und sämmtliches Ge-
Päck in Gondokoro zurücklasse! Auch hier war wieder eiu
Complot geschmiedet worden und Saat auch diesmal ctnf
der Hut gewesen. Sie wollteu nach Osten hin bis zu der
sieben Tagereisen entfernten Station des Handelsmannes
Tschennda im Latnkalande gehen, dort mit Waffen und
Schießbedarf zu deu Sklavenjägern flüchten und Baker
sollte, falls er ihnen die Waffen wegnehmen wollte, er-
mordet werden.
„Ich lag Nachts im Zelte und vernahm ein lautes
Winseln und Schreien, das mich aus dem Schlafe weckte.
Abe-r ich hörte auch im Zelte selbst ein tiefes, stöhnendes
Athemholen, nnd gleichzeitig zupfte meine Fran mich am
Hemdärmel, zum Zeicheu, daß wir wachsam sein nnd ans-
passen müßten. Ich nahm sofort meinen Revolver unter
dem Kopfkissen hervor nnb legte auf einen dunkeln Gegen-
stand an, der nicht ins Zelt gehörte. Auf meine Frage,
wer da sei, erfolgte keine Antwort, und ich wollte eben ab-
drücken, als eine Stimme das Wort Fadila aussprach.
So hieß eine unserer schwarzen Dienerinnen, welche in
unser Zelt gekrochen war. Ich zündete sofort eine Kerze
an und fand, daß ihr das Blut in Strömen vom Rücken
herablief; sie war durch Hiebe mit dem Kurbatsch, d. h.
einer Peitsche aus Hippopotamnshaut, entsetzlich zugerichtet
worden. Das Schreien draußen dauerte sort; ich ging
hinaus und sah, wie meine Dongowalis zwei Weiber
unbarmherzig auspeitschten; jede Fran wurde von zwei
Männern, deren einer aus den Beinen, der andere auf den
Armen saß, am Boden gehalten, während zwei andere
Männer ununterbrochen peitschten. Die armen Geschöpfe
schwammen buchstäblich in Blut; Fadila war geflohen.
Ich riß einem der Bösewichter den Kurbatsch ans der Hand
und gab den Barbaren derbe Denkzettel. Sie begriffen
nicht, weshalb ich mich einmischte, da es sich ja nur darum
handle, Sklavinnen zu strafen, die eine Weile ausgeblieben
feien, ohne Urlaub erbeten zu haben." Jede Erpedition
hat einige Weiber bei sich, welche Getreide reiben, Brod
backen und die Speisen für die Leute zubereiten; Baker
hatte einige derselben in Chartnm gemiethet.
In der Mitte des März kam eine Partie Kurschids
mit Elfenbein ans Latnka an und hatte eine Anzahl Latuka-
lente als Träger bei sich, kräftig gewachsene, hübsche
Männer, welche seltsame, ans Glasperlen verfertigte Helme
trugen. Ihr Obmann hieß Adda; er verabscheuet« die
Türken, mußte aber bei ihnen sein, weil sein großer Hänpt-
liug Commoro es ihm besohlen habe. Baker schenkte ihm
kupferne Armringe, Glasperlen und ein rothes Baum-
Wollentuch, über das er in ein förmliches Entzücken gerieth.
Er legte es in ein Dreieck zusammen und knüpfte es um
die Lenden, aber fo, daß der breite Zipfel nach hinten hing.-
342 Aus Samuel White Bakers Nei
Baker wandte sich an Kurschids Leute, aber mich diese
wollten sich auf nichts einlassen, und falls er ihrer Route
folge, ihn mit Gewalt zurücktreiben. Das benutzten
Bakers Dongolawis, um zu beweisen, daß sie in die größte
Gefahr gerietheu, falls sie mit ihm gingen. Als er aber
wiederholt in den Wakil drang, erklärten sie sich bereit zu
folgen unter der Bedingung, daß anch Vellaal mitgehe.
Von diesem Erzmenterer, der schon viel Unheil angestiftet
hatte, wollte Baker nichts wissen, weil er wußte, daß er die
erste beste Gelegenheit abermals zum Meutern benützen
würde. Indessen mußte er sich ihn doch gefallen lassen.
Der Wakil des Tscheuuda war eiu gewisser Mohammed
Her; dieser stand fortwährend in geheimer Verbindung
mit Bakers Leuten und wollte demnächst nach Latnka gehen,
zwei Tage bevor Kurschids Leute dorthin aufbrachen. Beide
waren feindliche Rivale, deren jeder das Elfenbein in La-
tuka zu monopolisiren gedachte; aber beide waren auch
gleich feindselig gegen den Europäer. Dieser wollte indeß
ans ihrer gegenseitigen Eifersucht Vortheil ziehen.
Sein Plan war folgender. Alles nicht unbedingt
nöthige Gepäck sollte unter Kurschids Obhut nach Chartnm
geschafft werden. Baker wollte zuwarten, bis Kurschids
Leute abzogen und ihnen dann folgen; er meinte, sie
würden nicht gewaltthätig verfahren, da ihr Herr ihm
freundlich gesinnt war. Bedenklich war folgender Umstand.
Zwischen Gondokoro und Latnka lebt in den Gebirgen von
Ellyria ein mächtiger Stamm, jener der Legge; der
Häuptling derselbeu hatte vor einiger Zeit 129 Leute °von
einer Partie der Handelsleute niedergemacht. Er war
ein Verbündeter von Kurschids Leuten und diese erklärten,
sie wollten den Häuptling gegen Baker aufhetzen und durch
ihn fein gauzes Gefolge massacriren lassen. Durch das
Gebirge von Ellyria führt ein Engpaß, der sehr leicht zu
verlegen ist.
Aber Baker verlor deu Mnth nicht; er rechnete daraus,
daß alle Araber käuflich sind. Kurschids Leute zogen ab,
nachdem sie ihm noch Drohungen gesagt hatten. Er aber
ließ sofort seine Thiere beladen und folgte ihnen. „Wir
hatten weder Führer noch Dolmetscher; kein einziger Ein-
geborner wollte sich mit uns einlassen; sie waren ein-
geschüchtert worden. Die Leute sagten: Wohin sollen wir
gehen? Niemand kennt den Weg. Der Mond war auf-
gegangen und der 9 Miles entfernte Berg Belignan (Belle-
nia) war deutlich sichtbar. Ich wußte, daß der Weg östlich
von demselben liegt. Ich ritt voran, meine Frau ritt
neben mir; hinter uns flatterte, der Karavane voran, die
britische Flagge. So brachen wir ins Innere von Central-
asrika auf, am 26. März 1863."
Baker erhielt in einem Dorfe am Fuße des Belignan-
berges einen Führer bis nach dem etwa 30 Miles entfernten
Ellyria. Ihm lag Alles daran, dort eher als seine Feinde,
die Türken, einzutreffen. Unterwegs schlössen sich ihm
zwei Männer aus Latuka an, welche von den Türken miß-
handelt wordeu und deshalb weggelaufen waren; sie er-
boten sich auch ihrerseits als Führer zu dienen. Nun
wurde in Eilmärschen das Thal von Tollogo erreicht,
wo die Einwohner nie zuvor Pferde und Kameele gesehen
hatten. Bakers abyssinischer Affe Wallady konnte diese
Schwarzen nicht leiden; „er war viel eivilisirter, als diese
nackten Wilden, vor welchen er großen Abschen hatte und
die er so sehr verachtete, daß er bei deu Negromanen der
Ereter-Hall auf keinen Beifall hätte rechnen dürfen. Affe
Wallady hatte keinen Begriff davon, daß solch eiu splitter-
nackter Wilder ein „Mensch und ein Bruder sei". Die
? in die Region der Nilquellen.
Leute von Tollogo und Ellyria sind in Wesen und Sprache
den Bari ähnlich und sehr roh und brutal; indessen kam
Baker unangefochten durch ihr Land und überschritt auch
deu ungemein schwierigen Bergpaß von Ellyria, in welchem
zuletzt eiue mit gewaltigen Felsenmassen überstreuete Schlucht
deu schwerbeladenen Thieren die größten Hindernisse in den
Weg legte.
Der Reisende ritt mit seiner Frau voraus ins Thal,
das einen lieblichen Anblick bot. Auf allen Hügeln am
Abhänge des Gebirges, das sich weit nach Süden hin zieht,
lagen verschanzte Dörfer. Für Baker war es im hohen
Grade peinlich, daß trotz aller seiner Bemühungen dennoch
die Türken den Vorsprnng gewannen. Sie waren 146
Mann stark, hatten an 390 Träger aus dem Latnkalande
und gingen an dem Europäer, dem sie wilde Blicke zu-
warfen, ohne Gruß vorüber. Ibrahim, ihr Hauptmann,
schloß den Zug, in welchem die rothe Flagge mit dem Halb-
mond wehete.
Alles schien verloren, aber Frau Baker brachte eine
Umwandlung in die Dinge. Ibrahim war ein Mischling
von einem türkischen Vater und einer arabischen Mutter,
hatte leiblich die hübschen Formen, aber moralisch nur die
schlechten Eigeufchafteu beider Stämme. Sie rief ihn an,
und er stieg von seinem Esel und setzte sich. Es ist von
Interesse zu sehen, wie Baker diesen Mann zu nehmen
wußte; nur dadurch, daß er dieseu erbitterten Feind für sich
gewann, wurde es ihm möglich, den Zweck seiner Wanderung
zu erreichen.
„Höre, Ibrahim. Weshalb sollen wir Feinde sein in
diesem feindlichen Lande? Wir glaubeu an denselben
Gott; weshalb sollen wir Streit haben in diesem Lande
der Heiden, die an keinen Gott glauben? Du willst Elseu-
beiu einhandeln, ich bin lediglich ein Reisender; weshalb
sollten wir zusammenprallen? Wenn mir Jemand alles
Elfenbein anböte, ich würde nicht einen einzigen Zahn
nehmen und Dir sicherlich kein Hinderniß in den Weg
legen. Mein Plan ist, bis an den großen See, die Quelle
des Nils, zu gelangen, nud ich will dorthin kommen, Wenns
Gott gefällt; keine Macht soll mich davon zurückhalten.
Legst Du mir Hindernisse in den Weg, so lasse ich Dich in
Chartnm einsperren; gehst Du mir hilfreich zur Hand,
dann werde ich Dich glänzend belohnen. Werde ich in
diesen Ländern hier getödtet, so fällt der Verdacht anfDich,
und Du weißt, was die Folge sein wird. Schon anf den
bloßen Verdacht hin läßt die Regierung Dich hängen.
Andererseits werde ich in den Ländern, welche ich entdecke,
allen Einfluß aufbieten, Dir dort alles Elfenbein zu ver-
schaffeu, weil Du Dieuer Kurschids bist, der gegen Speke,
Grant und mich sreuudlich war. Behandelst Du mich seind-
selig, so wird auch Dein Gebieter Knrschid für Deine Hand-
lnngen verantwortlich gemacht werden. Jetzt hast Du die
Wahl, Du bist ein Mann; ich frage: Freund oder Feind ?"
In gleichem Sinne redete auch Frau Baker. Gleichzeitig
wurden dem Türken einige Goldstücke und eine neue doppel-
läufige Flinte als Abschlagszahlung für größere Geschenke
in der Zukunft in Aussicht gestellt.
Ibrahim entgegnete, er selber sei nicht feindlich gesinnt,
aber alle Handelsleute ohue Ausnahme seien gegen den
Europäer, den sie für einen verkappten Consul hielten, der
an die Behörden in Chartum Alles, was er sehe, berichten
werde. „Ich glaube Dir, aber meine Leute werden Dir
nicht glauben, weil hier zu Lande Jeder lügt. Ich
rathe Dir,^ Dich mit meinen Leuten gar nicht einzulassen.
Geh dorthin, unter jenen großen Baum, ich werde bald
kommen und mit Dir reden; jetzt dürfen meine Leute nicht
wissen, daß ich mit Dir gesprochen habe."
Alls Samuel White Bakers R<
Ibrahim war gewonnen, und Baker lagerte sich unter
dem bezeichneten Baume. Nun kamen auch die Eingebornen
herbeigeströmt, Alle durchaus unbekleidet. Der Häuptling
Legge erhielt ein langes, rothbaumwollenes Hemd von
Ibrahim zum Geschenk und forderte auch von Baker Tribut
ein. „Ich habe viele abscheuliche Galgenphysiognomien
gesehen, aber jener dieses Legge kam keine gleich. Wilde
Brutalität, Geiz und roheste Sinnlichkeit waren diesem
Gesicht aufgeprägt, und ich zeichnete das Porträt dieses
nichtsnutzigen Schurken, der selbst in Centralafrika seines-
gleichen uicht hat!" Er erklärte, daß sein „Bauchmagen"
sehr groß sei und daß er noch mehr Geschenke haben müsse;
er goß eine Flasche Weingeist, welcher er den Hals abschlug,
von oben herab in die Kehle, wollte aber weder Vieh noch
Hühner verkaufen, sondern nur Houig und fraß Bakers
Leuten den gekochten Reis ans der Schüssel weg. Zum
Werthmesser dient in Ellyria die Mo lote, eine eiserne
Hacke, die im Lande selbst verfertigt wird. Legge verschickt
Molotes bis ins Land der Bern und Gallas uach Osten
hin und handelt dafür Elfenbein ein. In Ellyria selber
sind die Elephanten selten, doch kommen viele Zähne dort-
hin, welche Legge an die Türken gegen Rindvieh verhandelt;
er ist aber thener und verlangt für einen Zahn 20 Kühe;
man gibt sie ihm, weil der Verschiffungsplatz Gondokoro
in der Nähe ist und der Transport dorthin keine großen
Kosten verursacht.
Baker war nun in einer Gegend, welche vor ihm kein
Europäer betreten hatte; es sah in derselben wunderlich
genug aus, und seine Erlebnisse waren seltsamer Art. Am
39. März verließ er das Thal von Ellyria, indem er hinter
der Karawane der türkischen Handelsleute herzog. Ibrahim
war fortan sein Verbündeter und ihm von um so größerm
Nutzen, da bald nachher die Meuterei ausbrach.
Zwischen Ellyria und Latuka bildet der Kauieti die
Greuze. Er war au der Stelle, wo der Reiseude ihn über-
schritt, 40 bis 50 Bards breit; die Gewässer dieser Gegeud
haben ihren Abzug nach Osten hin zum So bat, und der
Gebirgszug, welcher von Ellyria aus gen Süden läuft,
bildet die Wasserscheide zwischen den Geflicßen, welche emer-
seits zum Weißen Nil, andererseits zum Sobat strömen;
dieser letztere vereinigt sich mit dem erstem unter 9° 22'
nördl. Br.
Ans der rechten Seite des Kanieta liegt das Dorf W ak-
kala, welches etwa 700 Häuser zählt. Es ist sehr stark
befestigt, deun ein Pfahlwerk von Eisenholz umschließt das
Ganze; dazu kommt noch eine Hecke von nndnrchdring-
lichem, etwa 20 Fuß hohem Dorueugebüsch, und der Ein-
gang führt durch eiu im Zickzack angelegtes enges Thor.
Ringsum ist Wald uud die ganze Gegend reich an Ele-
phanten, Büffeln, Giraffen, Rhinoceronten und Antilopen.
Von Wakkala aus kouute Baker den im Osten sich bis
zn 3000 Fuß erhebenden Berg Lasit deutlich sehen. Bald
nachher rastete er inLat o m e, einer der größten Ortschaften
im Latnkalande; sie ist in ähnlicher Weise wie Wakkala
befestigt. Dort lagen Tfchenuda's Handelsleute, deren
Wakil, ein gewisser Mohammed Her, sofort in Streit mit
Ibrahim gerieth. Hier brach die Meuterei aus, und der
schon erwähnte Bellaal erklärte offen, daß die Leute nicht
weiter gehen würden. „Wir folgen Dir nicht mehr; wir
wollen Deine Kameele nicht mehr beladen; laß die Niggers
für Dich arbeiten." Dabei nahm er eine drohende Stellung
an und hatte sein Gewehr in der Hand. „Die Meuterei
war also ausgebrochen. Ich sah ihn scharf an und donnerte
ihm zu: Leg Deine Flinte nieder und belade die Kameele!
! in die Region der Nilqncllen. 343
Als er sich dessen weigerte, gab ich ihm blitzschnell einen
mächtigen Fanstschlag ailf feine Kinnbacken, und sofort lag
er ohnmächtig am Boden, während seine Flinte weit weg
flog. Dann sprang ich mitten zwischen die Leute, packte
mehre kräftig bei der Kehle, schleppte sie zu den Kameelm
hin, und nnn waren Alle, mitAnsnahme von dreien, gehör-
sam. In jenen wilden Gegenden hängt der Erfolg gewöhn-
lich davon ab, daß man im rechten Augenblicke mit der
äußersten Entschiedenheit auftritt."
DerLafit bildet den höchsten Gipfel der östlichen Kette
des Lawkathales. Die Richtung des letztern war von Südost
zu Nordwest; es war 40 Miles lang und etwa 18 Miles
breit. Die Südseite des Thales ist von einer hohen Gebirgs-
kette eingeschlossen, welche 6000 bis 7000 Fuß über der
allgemeinen Bodenerhebung liegt; am Ende derselben erhob
sich ein schöner, einzeln stehender Berg von etwa 5000 Fuß
Höhe.
Unweit der Ortschaft Kattaga warf ein Träger der
Türken feine Last ab und entfloh; Baker fetzte ihm zu
Pferde nach, holte ihn ein, schützte ihn gegen die Türken,
welche ihn erschießen oder ihm mindestens 500 Kurbatsch-
hiebe geben wollten; er brachte ihn zu Ibrahim und rieth,
daß man ihn nicht bestrafe. So geschah es, und seit diesem
Vorfalle betrachteten die Türken den Europäer als einen
Verbündeten uud die Schwarzen als ihren Freund, weil er
einen der Ihrigen vom Tode gerettet hatte.
Bei Kattaga war Bellaal mit einigen anderen Trägern
entlausen uud hatte sich der Partie des Mohammed Her
angeschlossen; sie hatten Gewehre und Munition mitgenom-
mm. Baker erklärte vor seinen übrigenLeuteu, welche steif
und fest an den bösen Blick glaubten, daß jene von den
Geiern gefressen werden sollten. Das ging auch
bald nachher in Erfüllung.
DerZng gelangte nun nachTarrangolle, der Haupt-
ortschaft im Lande Latuka. Dort hatte Ibrahim seine Sta-
tion, jene des Mohammed Her war 19 Miles entfernt in
Latome, das 101 Miles von Gondokoro entfernt ist. Die
Latnkas waren höchlich erstaunt über die Kameele und
die weiße Frau; dergleichen hatten sie nie zuvor gesehen.
Sie sind die hübschesten Wilden, welche Baker in Afrika
gefunden hat und beinahe 6 Fuß englisch hoch, schlank und
kräftig gewachsen, mit starker Muskelentwicklung und schö-
uem Ebenmaße der Glieder. Ihre Kopfbildung sowohl wie
ihr Gesichtsausdruck ist verschieden von denen aller übrigen
Stämme, welche der Reisende am Weißen Nil beobachtete.
Vorderkopf hoch, Augen groß, Backenknochen hoch, Mund
nicht sehr groß und wohlgeschnitten, Lippen sehr voll. Ihre
Physiognomie spricht an, und auch durch ihre höflichen Ma-
liieren bilden sie einen scharfen Gegensatz zu deu anderen
Stämmen. Ueberhanpt deutet ihre gauze Erscheinung auf
einen Ursprung von den Gallas hin, die wahrscheinlich
früher einmal im Latnkalande aufgetreten sind.
Ein Hauptzufluß des Sobat (wenn er nicht etwa selber
der Hauptstrom ist) strömte nur 4 Tagereisen (50 Miles)
östlich von Latuka; er wird von den Eingebornen alsTsch ol
bezeichnet, und an seinem östlichen Ufer wohnen Gallas. Es
ist bemerkenswerth, daß diese stets Manlthiere ritten; die
Stämme ain Weißen Nil haben weder Pferd oder Kameel,
noch irgend ein anderes Lastthier; es ist also auffallend,
daß am Ostufer des Tfchol Manlthiere vorhanden sind.
Jndeß haben Abyssinieu lind die Gallaregionen eine Zucht
sehr schöner Manlthiere uud deshalb muß man annehmen,
daß der Stamm der Akkara am Tschol ein Gallavolk ist.
Dasselbe hat oftmals Züge ins Latnkaland unternommen,
und so erklärt sich die Physiognomie der Bewohner.
Unter deu schwärzen Völkern vom 12. Grade nördlicher
344 Aus Samuel White Bakers R
Breite bis nach Ellyria aufwärts hat Baker keinen speeifi-
schen Unterschied bemerken können. Nun überraschten ihn
die heiteren, offenen und hübschen Latukas. Tarrang olle
hat ungefähr 390 Häuser, und nicht nur die ganze Stadt
war mit Pfahlwerk befestigt, sondern jedes einzelne Haus
mit einem befestigten Hofraum umgeben. Das Vieh wird
in verschiedenen Theilen der Stadt in großen Gehöften
untergebracht, sehr sorgfältig abgewartet und Nachts durch
Rauch vor Stechfliegen geschützt. Auf vielen hohen Ge-
rüsten sind Schildwachen ausgestellt, um nötigenfalls das
Lärmzeichen zu geben. Der Viehreichthum ist groß; manche
Stadt im Latnkalande besitzt mehr als 10,000 Häupter
Hornvieh.
Die Häuser haben entweder die Gestalt von Glocken oder
von Lichtdämpfern und eine Höhe von etwa 25 Fuß; der
Eingang ist nicht viel über 2 Fuß hoch, und man muß auf
alleu Vieren hineinkriechen. Das Innere ist reinlich aber
dunkel, denn von Fensteröffnungen hat der schwarze Mensch
feinen Begriff. Es steht als interessante Thatfache fest, daß
alle Stämme Centralafrika's, und außerdem uoch die Araber
in Oberägypten für den Hüttenbau nur die kreisrunde
Gestalt und keine andere kennen. Die Form des Daches ist
mehr oder weniger verschieden, aber der Gedanke, die Woh-
nuug mit Fensteröffnungen zu versehen, blieb, wie eben
bemerkt, diesen Menschen völlig fremd.
Tarrangolle hat mehre niedrige verpallisadirte Ein-
gänge, welche Nachts durch dornige Mimosenzweige ge-
schlössen oder versperrt werden. Die Hauptstraße ist breit,
alle übrigen aber sind derart angelegt, daß zwischen hohem
Pfahlwerk immer nur eine einzige Kuh und zwar im Gänse-
marsch hindurchgehen kann. Diese Gassen können im Fall
eiues Angriffes leicht vertheidigt werden und die großen
Heerden könnte man dann nur vermittelst der breiten Haupt-
straße wegtreiben. Deswegen siud die großen Viehkraals
in verschiedenen Theilen der Stadt und zwar derart ange-
legt worden, daß sie mit jener großen Gasse in Verbindung
stehen. Zu jedem Kraal führt eiu enger Eingang, gerade
so breit, daß eine einzige Kuh hindurch kann. In demselben
hängt eine Art von Glocke, welche man aus der Schale einer
Palmnuß verfertigt, und jedes Thier muß beim Eingange
dieseGlocke mit den Hörnern oder mit dem Rücken bewegen.
So weiß am Abend der Wächter genau, wie viele Stück
Vieh von der Weide zurückgekommen sind.
Es fiel dem Reisenden auf, daß er, seitdem er Latome
verlassen, bei jeder Ortschaft ganze Haufen von Men-
scheukuocheu fand. Manche lagen in zumeist zerbrochenen
irdenen Töpfen, andere waren nach allen Richtungen hin
zerstreut, während ein größerer Haufe in der Mitte den Be-
weis lieferte, daß ursprünglich ein gewisser Plan beobachtet
worden war. Das Alles hängt mit einem eigenthüm-
lichen Brauche zusammen, welchen die Latukas streng beob-
achten. Die Leiche eines im Kampfe erschlagenen Mannes
bleibt auf der Wahlstatt als Beute für Geier und Hyänen
liegen; wer dagegen eines natürlichen Todes stirbt, wird
ein paar Schritte von seiner Wohnung in einem flachen
Grabe beigescharrt, und man veranstaltet zu seiner Ehre ein
paar Wochen hindurch Leicheutäuze. Nachher wird die Leiche
ausgegraben, und man reinigt die Knochen, legt diese in
einen großen Topf und bringt sie nach jener Beinstätte, die
aber keiueu geweihten Charakter hat, denn Baker fand die-
selbe in der widerwärtigsten Weise verunreinigt.
Die Latukas kennen keinerlei Art von Kleidung, da-
gegen wenden alle diese wilden Stämme eine fast unglaub-
liche Sorgfalt auf ihren Kopfputz, der bei den verschie-
denen Stammen eigentümlich und bleibend ist. Es sind
acht bis zehn Jahr erforderlich, um deu Kopfputz
e in die Region der Nilquellen.
eines Mannes vollkommen herzustellen! Dann
freilich lobt das Werk den Meister. DerLatuka trägt einen
Helm, welchen er aus seinen eigenen Haaren verfertigt. Er
durchwebt die dicke krause Wolle seines Kopfes mit einem
feinen Banmbaste, bis sie ein Netzwerk oder vielmehr einen
dicken Filz bildet. Alles Haar, das durch dieses Gewebe
hiudurchwächst, wird demselben Verfahren unterworfen, und
so bildet sich im Laufe derJahre eine dicke haarfilzige Masse,
welcher man die Gestalt eines Helmes gibt. Am Rande
wird sie, in einer Breite von etwa 2 Zoll, zusammengenäht
und vorne über der Stirn eine Platte polirten Kupsers
angebracht; dazu kommt noch ein anderes Stück blanken
Kupfers von etwa 1 Fuß Länge, welches der Länge nach
einer durchgeschnittenen Bischofsmütze gleicht und den Helm-
kämm bildet. Der Haarfilz wird dann mit rothen und
blauen Porzellankugelu besetzt, etwa von der Größe kleiner
Perlen, und so sieht der ganze Helm aus, als bestehe er
nur aus Porzellan und Kupfer. Zu weitem Schmucke
dienen einige Straußfederu und ein Randbesatz vonKauri-
mnscheln.
Als Waffen hat man nicht Bogen und Pfeil, sondern
Lanzen, eine Kenle mit eisernem Kopfe, ein langes Schwert
und einen dicken eisernen Ring über den Handknöcheln, der
mit mehren, 4 Zoll langen, V2 Zoll breiten Messern ver-
sehen ist. Mit diesem Messerringe kämpft der Krieger, wenn
er etwa seine übrigen Waffen eingebüßt hat, und fucht
damit deu Feind niederzureißen. Der Schild, 4 Fuß 6 Zoll
laug und etwa 1 Elle breit, wird aus Büffel - oder Giraffen-
haut verfertigt; die letztere wird vorgezogen, weil sie leicht
und doch ungemein zäh ist.
Die Weiber sind ohne Schmuck, Creatureu von zumeist
5 Fnß 7 Zoll Höhe, mit gewaltiger Gliederentwicklung
und großer Körperkraft. S i e tr a g e n l a n g e S ch w ä n z e,
welche genau deu Roßfchweifeu gleichen, aus fei-
nein Bastzwirn verfertigt und mit rothem Oker und Fett
eingerieben werden. (Daher wohl die Sage von ge-
schwänzten Menschen.) Um den Gürtel ist ein Stück ge-
gerbten Leders befestigt, und in der Unterlippe steckt ein
Stück Krystall von der Länge und Dicke eiues Bleistiftes.
Dies ist die Hauptzierde. Es verursachte große Freude, als
Baker die Glasröhre eines beschädigten Thermometers in
mehre Stücke zerbrach und btefe an einige Latukadamen
verschenkte.
Baker sagt, er wisse nicht, aus welcher Ursache alle
Stämme am Weißen Nil die vierVorderzähne des
Unterkiefers ausreißen, besonders da das Rindfleisch
dort überall hart und zäh sei. Keine Schönheit gilt für
vollendet, wenn nicht Wangen oder Schläfen mit Schnitt-
narben versehen sind. Die Araber bringen auf jeder Backe
drei Schnitte an und reiben dieselben mit Salz und Asida
ein, um hohes Fleisch hervorzubringen. Die Sklavenjäger
bezeichnen sofort jede Gefangene mit solchen Narben, ein-
mal um sie zu markiren, sodann um die Schönheit 31t
erhöhen. Jeder Stamm hat feine besonderen Narben-
abzeichen ; bei den Latukas sind dieselben flach und ragen
nicht, wie bei den Arabern, über die Haut empor.
Es versteht sich von selbst, daß Polygamie die Regel
ist, und der Reichthum eines Mannes besteht, vom Riud-
vieh abgesehen, in der Anzahl seiner Frauen. Baker macht
bei dieser Gelegenheit eine sehr richtige Bemerkung, die wir
unsrerseits stark betonen, weil sie von entschiedener Beden-
tung für das Urtheil über die psychischen Verhältnisse des
schwarzen Menschen ist und der krankhaften Pfendosenti-
Mentalität, welche allen Menschenrassen europäische Herzens-
Neigungen und Gemüthsbegabungen zuschreiben will, den
Boden unter den Füßen fortzieht.
Sind die Großrussen („Moskowiter")
slawischer oder finnischer Abstammung?
345
„Das, was wir als Liebe bezeichnen, ist ein
Gefühl, welches man in diesen Ländern nicht
kennt und versteht; es eristirt gar nicht. In dieser
Beziehung ist Alles handgreiflich, praktisch, ohne eine Spur
von romantischer Zuthat. Die Frau wird insoweit geschätzt,
als sie sich als brauchbares und nützliches Hausthier erweist.
Sie zerreibt das Getreide, holt Wasser und Brennholz, ver-
fertigt den Fußboden der Hütte, kocht die Speisen und
gebiert Kinder; sie ist ein werthvolles Hansmöbel. Ein
hübsches Frauenzimmer, das im Stand ist, ein großes
Wassergefäß zu schleppen, wird mit 10 Kühen bezahlt. In
Europa sind viele Töchter eiue kostspielige Sache für den
Vater, im Latnkalande dagegen bringen sie Profit, denn
10 Töchter sind so viel Werth wie 100 Stück Rindvieh;
ein Mädchen produzirt Kühe und die Knaben melken. Für
Kleidungsstücke braucht der Vater gar nichts auszugeben,
denn Bnrsche und Mädchen gehen nackt, und kleine Kinder
sind beim Weiden der Kühe nützlich zu verweudeu. Je
mehr Weiber, um so mehr Reichthum für den Mann. Die-
ser äußerst praktische Zustaud der Dinge wird den Missio-
nären die größten Hindernisse in den Weg legen. „Der
schwarze Wilde legt Werth auf Weiber und Kühe, aber in
erster Linie aus die letzteren. Bei einem feindlichen Ueber-
falle wird er selten seiner Weiber wegen fechten, aber für
die Kühe wird er tapfer kämpfen."
„Die Latukas sind nicht so schlecht, wie die übrigen
Stämme, machten mir aber doch viel zu schassen. Ein
Häuptling, Namens Adda, kam zu mir und forderte mich
aus, mit ihm ein Dorf zu überfallen, wo wir Molotes,
eiserne Hacken, und Vieh ranben wollten; ich sollte das
Vieh, er wollte die Molotes behalten. Aus meiue Frage,
ob das Dorf in Feindes Land läge, antwortete er nein,
aber es liege eben bequem in der Nähe; wenn ich nicht
wolle, werde er sich au die türkischen Handelsleute weudeu.
Als ich ihm sein Begehren abschlug, hielt er mich für einen
Schwächling; er hatte gar keinen Begriff davon,
daß man aus Gewissenhaftigkeit oder Liebe zur
Gerechtigkeit einen Raubzug ablehuen könne.
Er machte mir kühl und trocken den Vorschlag, eins sei-
ner eigenen Dörfer, dessen Bewohner ihm mißfielen,
auszuplündern! Der Stumpfsinn dieser W i l d e tt
ist so arg, daß ich ihnen gar nicht begreiflich
machen konnte, was es heiße gut, ehrlich oder
rechtschaffen zu seiu. Sie kennen nur einen Begriff:
Gewalt, die starke Haud, welche dem Schwächern Alles
entreißt. Mich ekelte das Alles entsetzlich an und im
Unmuthe schrieb ich meine Gefühle in mein Tagebuch
nieder.
„Latuka, 10. April 1863: Ich wollte, daß die mit
den Schwarzen Sympathisirenden (black sympathisers) in
England so recht in das innere Herz von Afrika sehen
könnten, wie ich es thne. Dann würde sich viel von ihrer
Sympathie verlieren. Hier, bei diesen afrikanischen Wilden
steht die menschliche Natnr in einer Linie mit jener des
Viehs, ist aber bei weitem nicht zu vergleichen mit
dem nobeln Charakter eines Huudes. Hier ist
auch keine Spur zu finden vom Begriffe der
Dankbarkeit, des Mitgefühls und Mitleideus,
vou Liebe oder Pflicht. Keine Religion, wohl
aber Habgier, Undankbarkeit, Selbstsucht und
Grausamkeit. Alle sind Diebe, Faullenzer,
voll von Neid und jedeu Augenblick bereit, den
schwächern Nebenmenschen auszuplündern und
zum Sklaven zu machen."
Wir wollen noch eine Episode erzählen, die ungemein
bezeichueud für die innerafrikanischen Zustände ist. Der
weiter oben erwähnte Türke Mohammed Her unternahm
mit seinen 110 bewaffneten Leuten und einigen hundert
Eingebornen einen Raubzug gegen ein Gebirgsdorf, um
Sklaven und Vieh zu stehlen. Er hatte das Dorf nieder-
gebrannt, war dann aber in einen Engpaß gezogen, um
eine große Viehheerde wegzutreiben. Weiber und Kinder
hatten die Latukas im Stiche gelassen, jetzt fochten sie tapfer
aus geschützter Stellungen, und nach und nach wurden fast
alle Türken stimmt den mit ihnen verbündeten Eingeborneu
in den Abgrund gedrängt. Dort lagen sie zu Hunderten,
alle zerschmettert und todt. Die desertirteu Meuterer
Bakers befanden sich unter ihnen. Als er von diesen Vor-
gängen Kunde erhielt und einige der von den Meuterern
mitgenommenen Flinten ihm wiedergebracht wurden, rief er
seine übrigen Leute zusammen und fragte: — Wo sind die
Leute? — Alle todt; man kann ihre Leichen nicht mehr
finden. — Also sind sie von den Geiern aufge-
fressen worden! Ich sagte Euch das im Voraus. Gottes
Hand ist schwer! —
Nicht blos Bakers Leute, soudern auch jene Ibrahims
glaubten an einen geheimnißvollen Zusammenhang zwischen
jener Prophezeiung und der Erfüllung. Von da an bewie-
sen sie ihm den größten Respekt. Mohammed Her und
Bellaal blieben verschont, weil sie nicht persönlich am Raub-
zuge Theil genommen hatten.
Die Latukas waren nun in allgemeiner Aufregung,
kein Türke war mehr sicher, und auch Baker gerieth in eine
bedenkliche Lage. Er fand es geratheu, die Stadt zu ver-
lassen und sein Lager im Freien auszuschlagen. Es gelang
ihm dauu, sich der allgemeinen Verwirrung zu entziehen
und seine Reise gen Süden hin, nach Obbo, anzutreten.
Sind die Großrussen („Moskowiter")
Vor einiger Zeit fand in der anthropologischen Ge-
sellschast zu Paris eine Erörterung über die blond-
haarigen Juden statt. Die Hebräer von rein semitischer
Abstammung haben schwarzes Haar, und das alte Palästina
hat keine blonden Bewohner gehabt. Woher kommt nun
jenes blonde Haar?
Ein gelehrter Pole, Duschiuski, welcher seit Jahreu
in Frankreich einen Lehrstuhl der Geschichte inne hat, ging
auf den Gegenstand näher ein. Er betonte die übrigens
Globus X. Nr. 11.
slawischer oder finnischer Abstammung?
allgemein bekannte Thatsache, daß im Mittelalter mehre
Völker in Osteuropa theils deu Mohammedanismus, theils
den jüdischen Glauben angenommen haben; diese seien
aber alle von turanischer Abstammuug gewesen, kein
einziges gehöre den arisch-europäischen Nationen an.
Duschiuski nimmt überhaupt, in ethnologischer Hinsicht,
das Dniestergebiet als Ostgrenze Europa's an; was dar-
über hinaus liegt, gilt ihm für asiatisch-tnranisch.
Als die vier turanischen Völker, welche „außerhalb der
44
346 Sind die Großrussen („Moskowiter")
Grenze des eigentlichen Europa's" die jüdische Religion
annahmen und welche, wie bemerkt, turanischer Herkunst
waren, nennt er: Die Chasaren; die Bulgaren vom
Don und vom Kaspischen Meere (die sogenannten Chwa-
lisser); die Burlas in den heutigen Gouvernements
Woronesh und Tnla, und dann die etwas weiter nördlich
wohnenden Moskowiten. Unter den letzteren, den „so-
genannten Großrussen, findet man auch heute noch eine
Menge jndaisirender Menschen, und diese sind Abkömmlinge
der ebengenannten vier Völker. Die Muroma, im öst-
lichen Theile des Gouvernements Wladimir, duldeten wohl
Christen unter sich, bekannten sich aber bis 1223 zum
Islam, dem sie nur durch Zwang entsagten. Eigentliche
Slawen seien nie Juden geworden. (Bulletins der Loeiete
d'Anthropologie, VI. 519.) —
Daß ein beträchtlicher Theil der 40 Millionen Menschen,
welche man als Großrussen bezeichnet, Zuthaten nicht-
slawischen, zumeist sinnischen Blutes in sich hat, unterliegt
keinem Zweifel. Das ist auch schon vor beinahe anderthalb-
hundert Jahren von nnserm Landsmann Stritt er nach-
gewiesen worden, und auch Schlözer gab darüber An-
deutungen. In unseren Tagen, wo die Frage nach der
Abstammung und der Nationalität in den Vordergrund
getreten ist, und die anthropologischen und ethnologischen
Forschungen eine so große Bedeutung gewonnen haben,
forscht man gründlicher nach, als früher geschah und ge-
schehen konnte. Die Origines gentium sehen schon heute
ganz anders aus, und wir sind noch in den Anfängen der
Untersuchung. Bei dieser sollte man übrigens, der reinen
Wahrheit zu Liebe, sich immer streng auf Wissenschaft-
lichem Boden bewegen und alle politische Vorliebe oder
Leidenschaft ausschließen.
Seitdem Nußland sich als den Kern der slawischen
Länder hinstellt und die Moskowiter, Großrussen, als die
Hauptnation unter den Slawen, seitdem ferner ein Pan-
slawismus mit zugleich literarischen und politischen Be-
strebungen und scharf gezeichneten Absichten hervorgetreten
ist, — seitdem hat man namentlich von polnischer Seite
den Versuch gemacht, diese Moskowiter wo möglich ans der
slawischen Familie hinauszuweisen oder sie zum Mindesten
als nur halbslawische Bastarde hinzustellen. Das ist
namentlich von August Viquesuel geschehen, demselben,
welcher ein sehr umfangreiches und werthvolles Werk über
die europäische Türkei veröffentlicht hat.
Von ihm erschien 1865 zu Lyon ein Coup d'oeil sur
quelques points de l'histoire generale des peuples slaves,
et de leurs voisins les Turcs et les Finnois, 91 Seiten.
In diesem Buche handelt er die ethnographische Geschichte
Westeuropas ab, erörtert die alten Stammsitze und die
Wanderungen der Völker jener Region und geht insbeson-
dere auf die Stellung der Moskowiter über.
Der russische Geschichtschreiber Karamsin hatte be-
merkt, daß die finnischen Völker, welche an der obern Wolga
wohnten, sich in Slawen umgewandelt haben, indem sie
deren Sprache, Religion und Gebräuche angenommen.
Viqnesnel betont, daß diese Angabe unbedingt richtig
sei, denn die Nachkommen jener sinnischen Stämme hätten
die Sitten, Ideen und überhaupt das ganze Wesen bewahrt,
welches ein Ausfluß ihres uralischen Ursprungs sei.
Viquesnel nimmt verschiedene Epochen an. Der erste
Zeitraum sei arisch-normannisch gewesen; im neunten
Jahrhundert kamen die skandinavischen Waräger als Roß
oder Ruß über das Baltische Meer. Der zweite Zeitraum
(oder „das zweite Rußland") ist arisch-slawisch, vom
Ende des zehnten Jahrhunderts an. Die Völkerschaften
in den von Rurik und dessen Nachkommen gegründeten
umscher oder finnischer Abstammung?
Staaten, welchen diese Waräger den Namen ihres Stammes,
des russischen, beilegten, bestanden zumeist aus lechischen
Slawen, die aus der Weichselgegend bis zum Duiester,
dem Dnjepr und dem Jlmensee vorgedrungen waren. Es
sind diejenigen, welche man später mit dem allgemeinen
Namen Ruthenen belegt hat (Weißrussen, Rußuiakeu
und Kleinrussen). Den Rest der Bevölkerung bildeten
einige lithauische und mehre sinnische sturauische) Stämme,
namentlich die Wes, Mera und Muroma im obern
Becken der Wolga, wo zu Herodots Zeiten die Thyssageteu
und Melanchlänen wohnten. Die skandinavischen Waräger-
Russen bildeten nur einen sehr geringen Theil der Be-
völkerung unter diesen unterworfenen oder tributpflichtigen
Stämmen und waren schon im 14. Jahrhundert sowohl au
der Wolga wie am Dnjepr völlig in der übrigen Volks-
masie ausgegangen. Die Slawen in diesem „zweiten Ruß-
laud" nahmen das Christenthum gegen Ende des zehnten
Jahrhunderts an, die Finnen zwei Jahrhunderte später.
Das „dritte Rußland" war seit der zweiten Hälfte des
12. Jahrhunderts turanisch - finnisch. Das Reich
Ruriks war seit dem 11. Jahrhundert in eine Menge von
Theilfürstenthümern zersplittert. Im 12. Jahrhundert
herrschte ein solcher Fürst, Jnri Wladimirowitsch Dolgorncki,
über die 3 oben genannten sinnischen Stämme im Gebiete
der obern Wolga. Diese redeten noch ihre alte Volkssprache
und waren theils Heiden, theils bekannten sie sich zum
Islam, oder zum Judeuthum. Juri ließ Kutscho, den
Chan der Mera, enthaupten, vermählte dessen Tochter mit
seinem Sohne Andreas von Bogolnb, der Fürst von Sns-
dal war, und banete dort, wo später die Stadt Moskau sich
erhob, ein Lusthaus. Dieser Name und jener des Flusses
Moskwa ist abgeleitet von Masski oder Maski, einer
allgemeinen Benennung, mit welcher die turanischen (d. h.
türkischen und sinnischen) Stämme am Don, an der Wolga
und in den nördlicher gelegenen Gegenden in verschiedenen
Epocheu bezeichnet worden sind. Nach einer Angabe
Borytschevsky's saßen in jenen Gegenden seit dem 7. Jahr-
hundert die Masski (spätere Formen: Mosko, Moskae,
Moskiane, Mossyki, Mnfchka, Mokfcha, Maxel, Motfcha:c.).
Die Wurzel des Wortes bedeutet: Aufenthaltsort der
goldenen Horde. Die Großchane der Maski oder Mos-
kowiter wechselten oftmals ihre Wohnstätte; daher die
große Anzahl der Oertlichkeiten und Flüsse, welche jene
Benennung unter verschiedenen Formen führen. Der
Name Moskowiter ist national und muß nicht blos aus
die gegeuwärtigeu Bewohner des alten Herzogthums Mos-
kau angewandt werden, sondern auch auf jeue der alten
Tsarate Kasan, Astrachan k.
Der obengenannte Andreas war Gründer des Groß-
sürstenthums Snsdal-Wladimir, das nachher Mos-
kowien hieß. Erst gegen das Ende des 14. Jahrhunderts
nahmen seine Nachfolger den Titel der Fürsten von
ganz Rußland an. Andreas unterdrückte, ganz im
Sinn und Geiste seines turanifchen Volkes, das unterwürfig
gehalten sein will, die Apanagenfürsten und trat als
Selbstherrfcher auf. „Dieses System ist den Slawen und
anderen arischen Völkern antipathisch, wurde aber auch
später die Regel und Richtschnur der moskowitischeu Re-
gierung." Damals, um 1174, hatte die Mehrzahl der
Bevölkerung weder Christenthum noch slawische Sprache
angenommen; das geschah erst nach dem großen Siege
über die mohammedanischen Mordwa und Muroma, 1223.
Aber gleich im folgenden Jahre erschienen die Mongole-
Tataren zum ersten Mal an der Wolga. Bis dahin
waren die Bewohner Susdaliens sinnisch; von da an aber,
als Christen und slawisch redende Leute, werden sie zu den
Sind die Großrussen („Moskowiter")
slawischen Völkern gerechnet. Die heutigen Mosko-
witer jener Gegenden sind aber in der That und
Wahrheit Nachkommen der finnischen Mera,
Wes und Muroma, vermischt mit einem äußerst
geringen Zusatz echter Slawen. Noch heute findet
man bei ihnen die Ueberreste einer nichtslawischen
Sprache der Emmanski oder des Oseuo-Susdali-
s chett, das einst die Volkssprache der Maski gewesen ist. —
Im IB. Jahrhundert waren die Slawen des zweiten Ruß-
lauds vollständig geschieden von den Finnen des dritten Ruß-
lands, sowohl durch politische Interessen, wie durch ihren
nationalen Habitus. Unter den Mongolen trugen beide
Theile dasselbe Joch. Dieses wurde durch Johann III.
Wafsiljewitsch abgeschüttelt, seit 1480 kein Tribut mehr
an die Tataren bezahlt, Nowgorod 1478 und Pskow 1510
erobert, das alte Biarmien, in welchem die Nowgoroder
als Handelsleute angesiedelt waren, unterworfen; die
Theilsürstenthümer Twer und Rjäs-!n fielen heim, Smo-
lensk wurde 1515 mit Moskowieu vereinigt, und seit 1523
zählte das dritte Rußland etwa zwei Millionen Slawen.
Das vierte Rußland, seit dem Ende des 16. Jahr-
Hunderts, ist t u r a u i s ch, ist s i u n i s ch - t a t ar i s ch. Das-
selbe eroberte die Tsarate Kasan und Astrachan, 1552 bis
1557, und im 17. und 18. Jahrhundert das Tsarat Nogaü
So vereinigte es alle europäischen Moskowiten (Maski)
unter einem Scepter. Das Gebiet jener 3 eben genannten
Tsarate war nie von Völkern slawischen Stammes bewohnt.
Die skythischen Tschuden vermischten sich mit Völkern, die
zu verschiedenen Zeiten aus Asien herüber kamen, z. B.
Hunnen, Awaren, Türken im 6. und 7. Jahrhundert,
Bulgaren von der Kama und Wolga, Chasareu, Magyaren,
Petschenegen, Kumaueu und Polowtzer. In diesem Ge-
misch ist das arische Element nur sehr schwach, und
zwar durch die Trümmer von Sarmaten und Gothen ver-
treten. Dazu kommt etwas semitisches Element, von
welchem ein Theil aus Assyrien mit anderen Völkern bis
an Don und Wolga kam, schon im 7. und dann besonders
im 12. Jahrhundert. Mit Trümmern von allen den ge-
nannten Völkern mischten sich im 13. Jahrhundert Türk-
Tataren, und aus dieser Mischung sind die Bevölkerungen
der Tsarate Kasan, Astrachan und Noga'i, sodann die Si-
birier und die Bewohner der Krim hervorgegangen. In
den asiatischen Chanaten Chokand, Chiwa und Buchara finden
wir (abgesehen von den alten bodenständigen Tadschiks, die
Jranier sind) auch ein turauisches Gemisch, aber doch mehr
Semitisches und Arisches als an Don und Wolga.
„Das vierte Rußland ist eigentlich eine Wiederher-
stellnng des Reiches Kiptschack; die moskowitischen Herrscher
sind Nachfolger der Dschingischaniden, durch die Ver-
breitung des Christenthums und der slawischen Sprache
wurde die Einheit geschaffen. Aber das moskowitische
Slawisch (welches die turauischen Völkerstämme der Mas-
kas annahmen) war ein fremdes Idiom, das man aus den
Heiligen Büchern erlernte; es hat viel mehr Aehnlichkeit
mit der alten liturgischen Sprache, als irgend eine andere
slawische Sprache, mit alleiniger Ausnahme der bulgarischen;
es unterscheidet sich durch seinen ganzen Geist und auch
durch seine Schriftzüge vom Klein- und vomWeißrnssischen;
es wird von 40 Millionen Moskowitern ohne dialektische
Verschiedenheit gesprochen, während die neun
anderen slawischen Sprachen, welche von echt slawischen
Völkern geredet werden, allesammt mundartliche Verschie-
denheit ausweisen. Etwa 12 bis 15 Millionen unter den
Moskowitern, welche Slawisch reden, haben doch ihre alt-
nationale Sprache bewahrt und bilden dadurch gewisser-
maßen ein Verbindungsglied zwischen den europäischen und
slawischer oder sinnischer Abstämmling? 347
asiatischen Brüdern. Die 40 Millionen Moskowiter er,
kennen die Herrschaft der russisch-orthodoxen Kirche an-
aber es haben sich uuter ihnen mehr als 200 Sekten ge-
bildet, allesammt mit orientalischen Ideen, welche von jenen
der abendländischen Sekten abweichen. Dagegen gibt es
unter den Kleinrussen und unter den Großrussen gar keine
Sekten. Der Unterschied zwischen den slawischen Russen
und den Moskowitern ist auch in dieser Beziehung sehr auf-
fallend. Ferner: Die slawischen Russen sind seßhaft
und dem Ackerbau zugewandt, wie die übrigen arischen
Völker in Europa und haben dasselbe occidentalische Civili-
sationsbedürfniß. Die Moskowiter dagegen haben zwar
feste Wohnungen, aber daneben den nomadischen Hang
ihrer turauischen Vorfahren bewahrt. Das Gefühl und
der Drang nach Freiheit ist ihnen eben so fremd, wie der
Geist gesetzlichen Widerstandes; sie wollen die Autokratie
haben. —
Das „fünfte Rußlaud" ist das russische Reich der
Gegenwart. Diesem sind einverleibt theils ganz, theils
nur theilweise die russischen Slawen des polnischen Ruß-
lands, die Polen, die Lithauer, die Rumänen in Bessarabien,
die Finnländer und noch manche andere Völker.
Viquesuel faßt, nachdem er eine geschichtliche Ent-
Wickelung gegeben, um das oben Gesagte zu begründen,
die Ergebnisse in folgender Weife zusammen:
1. Im 12. Jahrhundert, zur Zeit der Gründung des
Fürstenthums Susdal, welches später den Namen Mos-
kau erhielt, bildeten finnische Völker von der obern
Wolga die Bevölkeruug dieses Laudes und sprachen noch
ihre alte finnische Sprache.
2. Susdalien galt damals noch nicht für einen
Bestandtheil Rußlands; die Bewohner desselben hießen seit
der Gründung des Fürstenthums erst Susdalier, nachher
Moskowiter.
3. Die moskowitischen Fürsten haben gegen Ende des
14. Jahrhunderts zu anderen Titeln auch den eines Fürsten
aller Russen gefügt; aber bei rnfsifchen und ausländischen
Schriftstellern werden die Benennungen Russen und Ruß-
land, für Moskowiter und Moskau, erst im 18. Jahr-
huudert allgemein angewandt.
4. Das Gebiet der Moskowiter, so weit es den
Fürsten ans Ruriks Haus unterworfen war, reichte nur bis
zur Oka; östlich von diesem Zuflüsse der Wolga begann das
Gebiet unabhängiger türkischer und finnischer Stämme.
Diese wurden im 13. Jahrhundert von den Mongole-
Tataren unterjocht, und nachdem diese vertrieben waren,
sielen sie im 16. und 17. Jahrhundert unter die Herrschaft
der moskowitischen Tsaren.
5. Seit jener Zeit bildet die Volksmenge in den Ge-
genden östlich von der Oka die Mehrheit der Moskowiter,
„die Großrussen".
6. Was die Minorität der Moskowiter im alten Sus-
dalien anbelangt, so versteht es sich von selbst, daß die
finnischen Stämme an der obern Wolga nicht etwa in
das Uralgebirge zurückgedrängt und durch Slawen ersetzt
worden sind. In Susdalien wurde in Folge der Ein-
führung des Christenthums eine slawische Sprache im
13. Jahrhundert herrschend und sie verdrängte nach und
uach die alten Idiome. Das slawische Element im Lande
wurde durch die von Hans aus skandinavischen Ruriko-
witschen vertreten, welche durch Heiraten slawisirt worden
waren; sodann durch die slawischen Priester und Andere,
welche aus Kiew gekommen waren, insbesondere auch
Handelsleute. Denn in diesen Zeiten erst begann in diesen
finnischen Regionen der Städtebau, und etwas späterhin
wurden mehr als 12,000 Leute aus Nowgorod und Pskow
348
Fr. Brinkmann: Stcidt Steyer.
in den susdalischen Städten angesiedelt. Die Nowgoroder
hatten auch, wie schon oben angedeutet worden, Handels-
Niederlassungen an der Dwina und Wiätka in Biarnien. —
So argumentirt Viquesnel. Unsere Meinung geht
dahin, daß allerdiugs einsehr beträchtlicher Theil der Groß-
ntIsert ans slawisirten Finnen und tnranischen Leuten über-
Haupt bestehe, daß aber die slawischen Zuthateu nicht so
gering sind, wie die polnischen Gelehrten behaupteu, um
deu Großrussen alles Anrecht auf den slawischen Namen
hinweg zu demoustriren. A.
Stadt
Studie von Di'.
Was deu Volkscharakter und das Volksleben
von Steyer betrifft, so will ich, um diese stets heikle
Frage in möglichster Objectivität zu beantworten, zunächst
einige Theile von einem Schriftstücke folgen lassen, das
aus dem 16. Jahrhundert auf uns gekommen ist.
Es lebte nämlich zur Zeit des Kaifers Friedrich III.
und Maximilian I. in Steyer ein gewisser 1)--. Joseph
Grünbeck, „Mathematikus und Historikus". Er
stellte in derselben Weise, wie man damals die Schicksale
der Menschen aus dem Staude der Sterne zur Geburts-
stuude zu bestimmen suchte, auch der Stadt Steyer das
Horoskop, indem er, was damals allgemeiner Glaube ge-
Wesen zu sein scheint, als Stunde der Gründung, gleichsam
als Geburtsstuude, die Mittagsstunde des 24. Aug. 980 an-
nahm. Das Resultat dieser astrologischeuNativitäts-
stelluug ist natürlicher Weise ein historisches Zengniß für
die Zeit, in der sie vorgenommen wurde, und Einiges davon
wird wohl noch immer wahr sein, ebenso wie ja die Cha-
rakteristik des Bayern, die uns der um dieselbe Zeit lebende
Aventinus (1466 bis 1534) gegebeu hat, in jedem Zuge
ein getreues Bild der Gegenwart ist.
Die interessantesten Sätze daraus sind folgende: „Der
Len ist ein kaiserlich und königlich Zeichen, umbefanget mit
feinem Angesicht die Stadt Steyer. Der Herrscher aber
dieser Stadt ist die Sonne. Der Mars herrschet mit.
Darnmb gibt der gemeine Einfluß allhier eine hitzigere
und trunkenere Region als denen anderen Landten.
Der Lusst aber wird von Untergang der Sonne und von
Mitternacht mit Kälde und Feuchtigkeit genugsam tem-
perirt, frisch, gesund und gemeiniglich von aller pesti-
lenzischer Vergiftung frei. Darnmb die Einwohner nach
ihrer Menschheit, Natur und Complexion dem Leib nach
stark seynt, gnet proportionirt, wohl gefärbt, mittelmäßig
in der Statur, gemischter Sitten, nicht snbtill, auch
nicht grob oder üppig, hochmüetig, trefflich sindig, und
etwas stolz, nach Gelegenheit der freyen Gewohnheiten
große und hohe Sachen in ihrem Gemüeth betrachtend.
Von des Saturni Zuegauges wegen wird ihr Freidt
(Freude) gemischt mit Traurigkeit, Barmherzigkeit, Gottes-
sorcht und Gerechtigkeit; anderer Wegen feynt sie fröhlich,
Geföllfchaften, Wirthschaften und allen Wollust liebend.
Wie so Saturnns in der eigenen Krast gestanden ist und
Marti (dem Mars) iu der Ausstehung widerwärtig, wird
das gemeine Volk auf eine hartneggige, wider-
s Pen st ige, eigenwillige Eigenschaft geneigt sein.
In anderen Weg gibt der Einfluß dervn Inwohnern
keine besondere Neigung, hoch, dieff und fnb-
tille Künste zu erlernen oder weit nmb selbige in die
Landt zu raiseu, sondern eine Begierdt zu allerlei würk-
lichen Handtierungen.
t e y c r.
ich Brinkmann.
Von wegen der Sonne in ihrer eigenen Glori sollen
die Bürger allda, wo sie Gesetz und Ordnung der Natur
halten, gemeiuiglich eiu gutes Alter bekommen. Indem
aber Merkurins, eiu Bedeuter der menschlichen Vernunft,
dem Mond, so ein Bedeuter der Sinnlichkeit zu sein Pflegt,
iu dem Angesicht des Himmels ganz widerwärtig ist, dieß
bedeutet, daß die menschliche Natur allhier durch
die Sinnlichkeit unterdrückt wird, denn die In-
wohner legen sich zu fest auf Essen und Trinken, dadurch
das Leben gekürzet wird. Dann so Venns in der Macht
Mercurii, uud Mars in Ermannung Veneris in der Figur
gefunden werden, geschieht es, daß die Kinder nicht wenig
auf die fleischlichen Begürden und auf die Unlauter-
keit geneigt feyn. Doch so ihm die Sonne in erster Ein-
sließnng und stärkesteu Eiutruckung der Eigenschaften den
Jupiter, aller bösen Planeten Bezwinger, zngesöllet hat,
wird die Erbarkeit zu allen Zeiten hier herrschen, und die
Stadt behalten, zieren und ordnen.
Das frauliche Geschlecht ist nicht der mindeste
Theil in einer Stadt, und wiewohl Mars und Satnrnns
in der Wohnung Veneris denen Frauen eine angeborene
Üppigkeit, eine hosfertige Untreu, leichtfertige, über-
müetige uud eine kürzliche, unlautere Art ist, so ist doch
der frombe, güettig und barmherzige Jupiter sie von diesen
Neigungen zur Frombkeit, Erbarkeit, Andacht, Gottes-
forcht und andern tugendhaften Eigenschaften zu ziehen
geneigt. Denn Venns in dem Haus Merkurii raitzet sie zu
guetteu Sitteu uud Gebärden, gibt ihnen eine innere
Wollüstigkeit zu alleu menschlichen Zierlichkeiten."
In welchem Maße diese Charakterzüge auch für die
Gegenwart gelten, wollen wir hier nicht näher unter-
suchen. Jedenfalls kann man überzeugt fein, daß die-
jenigen, welche sich noch immer finden, in der Regel zugleich
zum oberösterreichischen Charakter als solchem gehören.
Steyer ist unter den oberösterreichischenStädten
nicht weniger ausgezeichnet durch die originelle,
scharf ausgeprägte ob er österreichische Physio-
gnomie, die es sich bewahrt hat, als durch die Schönheit
seiner Lage. Wer mit dem möglichst geringen Zeit-
aufwände kennen lernen will, was Ob er öfter-
reich ist, der reise nur direkt nach Steyer und halte
sich dort eiue Woche auf.
Und das ist nicht nur die kürzeste, sondern auch die
genußreichste Art eines solchen Studiums von Land und
Leuten. Nur ist dazu die Erfüllung einer Bedingung nn-
umgänglich nothwendig. Man muß zuvor den üblen Ein-
druck überwunden haben, den ein ganz hervorstechender
Charakterzug des steyrer Volkes, der einzige unliebens-
würdige, den ich habe entdecken können, im Anfange auf
Fr. Brinkmcu
jeden Fremden machen muß. Es ist dies das beständige,
fast unausstehliche Angaffen der Leute aus der
Straße, ärger als man es in dem kleinsten Gebirgs-
dörfchen Bayerns findet. Um sich hierdurch nicht der-
stimmen zu lassen, muß der Fremde sich einer andern
Eigentümlichkeit von Land und Leuten erinnern, wovon
diese nur eine Folge ist. Er muß sich vergegenwärtigen,
daß er sich in einem Lande befindet, das in allen Beziehnn-
gen einen außerordentlich gleichförmigen Charakter
hat. Ein Haus ist gebaut wie das andere, eine Kirche genau
in demselben Style und mit demselben Prunke wie die andere
und der Grundriß der einzelnen Marktflecken und Städte
mit den langen, viereckigen Plätzen nnd engen Straßen
ist durch das ganze Land derselbe. Noch viel auffallender
ist aber die Gleichheit der Menschen in Gesichtsbildung
und Wuchs, dem noch sehr bestimmt ausgeprägten uatio-
nalen oberösterreichischen Typus, iu der Tracht, in der
Mundart, in Sitte und Religion.
Eine notwendige Folge dieses gleichförmigen Eharak-
ters ist nun aber, daß der Fremde, der iu Allem, in Ge-
sichtsbilduug, Benehmen, Sprache und Kleiduug von der
Landesart abweicht, großes Aussehen erregt, selbst beim
bescheidensten Austreten, um so mehr, als die Erscheinung
eines Nichtösterreichers in einem Orte wie Steyer, der von
der großen Heerstraße der Donan etwas entfernt liegt,
nicht gerade sehr häufig ist. Im Ansauge, ehe man sich
Rechenschaft von der inner» Notwendigkeit der Sache
abgelegt hat, kann den Fremden ein wahrer Ingrimm
überfallen, wenn er so ans allen Wegen und Stegen, inner-
halb nnd außerhalb der Stadt, er mag gehen wohin er
will, die ihm begegnenden Personeil, Gebildete so gut wie
Ungebildete, Bürger wie Baueru, Erwachsene wie Kinder
staunend stehen bleiben, flüsternd die Köpfe zusammen-
stecken oder mit den Ellbogen sich anstoßen sieht und durch
ihre Blicke Spießrutheu lausen muß. Indessen findet man
sich bald hinein, wenn man erst den Charakter der Leute
bei anderen Gelegenheiten kennen gelernt hat.
Es ist in derThat ein äußerst gutmüthiges Volk,
das oberösterreichische überhaupt und das steyrische ins-
besondere, dein man schon jene kindische Unart verzeihen
kann. Die Menschenfreundlichkeit ist gerade der-
jenige Zug, welcher dem aus Norddeutschland hieher kom-
menden Fremden am meisten und am ehesten auffallen wird.
Denke Dir z. B., lieber Leser, Du kommst, wie wir,
nach einem tüchtigen Marsche von dem reizenden, drei
Meilen oberhalb Steyer an der Enns gelegenen Artztberg
gegen Mittag, aber etwas spät, in dem Dir von allen
Seiten empfohlenen und in der That höchst empfehlens-
Werthen Gasthofe zum Schiffe an. Es ist gerade ein
Sonnabend, ein Markttag, und unten zn ebener Erde in
dem gewöhnlichen Gastzimmer, wie oben in dem für die
besseren Stände bestimmten Saale geht es sehr lebhast zu,
daß Du auf der Stelle uicht recht weißt, wo Du eiu Platz-
cheu für Deine müden Beine und Deinen hungrigen Magen
finden kannst.
Nach einiger Ueberschan entdeckst Du, daß an dem
oberen Ende der einen langen Tafel einiger Raum frei
geworden ist und Du beeilst Dich, ihn einzunehmen. Du
bist aus diese Weise der Nachbar eines kleinen, freund-
lichen Herrn mit lebhaft blickenden Augen und jener eigen-
thümlich frischen Gesichtsfarbe geworden, die den eifrigen
Verehrer des kalten Wassers verräth. Es scheint ein alter,
wahrscheinlich pensionirter Offizier zu fein. Er trägt, wie
es Sitte ist bei den österreichischen Offizieren, den ein-
fachen Sommeranzug aus grauem Leinen, an dem nur
t: Stadt Steyer. 349
oben am Kragen drei Sternchen seinen Rang bezeichnen.
Kaum hast Du Platz geuommen, fo wirst Du schon freund-
lich angeredet, und uach eiuer Viertelstunde schwatzt ihr
schon so vertraulich zusammen, als ob ihr einander seit
Jahren kenntet. Der Eine hat sehr bald in dem Andern
einen enthusiastischen Naturfreund gewittert und mit ihm
geistig jeueu geheimnißvollen Freimaurer-Händedruck aus-
getauscht, durch welchen der Mensch den Menschen erkennt.
Der kleine graue Herr ist bald iu das richtige Fahr-
Wasser gebracht und erzählt Dir nun, wie er uach seiner
Versetzung in den Ruhestand anfangs in Linz gelebt, dauu
aber Steyer keuueu gelernt und ihm seit Jahren den Vor-
zng vor jenem gegeben habe, theils der größeren Reize der
Gegend, theils des angenehmem Lebens wegen. Von Be-
geisterung leuchten feine Augen, wenn er Dir jetzt die eiu-
zelueu schönen Pnnkte in der Nähe von Steyer, den Tabor-
berg, die Ennsleithen, den Tamberg beschreibt uud dauu
seinen weitern Lieblingsausflug nach Grünburg, etwa fünf
Stnnden von der Stadt an der Steyer gelegen, mit einem
reizenden Blicke auf das gegenüber liegende Steinbach, ein
Weg, deu er trotz seiner siebenzig Jahre in Einem Tage
hin- und zurückmacht.
Nur dann und wann leidet diese Unterhaltung eine
Unterbrechung, wenn er seinen Liebling, einen Rattenfänger
schauderhaften Aussehens, der zur Seite aus dem Fuß-
bodeu von unterschiedlichen Tellern sein Mittagsmahl eiu-
nimmt, mit Speisen versorgt, oder nachsieht, ob er auch
einen gesunden Appetit hat. Wenn er endlich aussteht und
Abschied nimmt, hörst Du zu Deiner Verwunderung, daß
der kleiue Mann in grauem Leinen von dem Wirthe als
Ercellenz begrüßt wird, uud bei näherer Erkundigung
erfährst Du, daß es d e r F e l d m a r s ch a l l - L i e n t e na n t
v o n S. war.
Wenn der Zufall es aber auders will, kannst Du iu-
desseu auch eine Begegnung haben, die Dir eine Ueber-
raschung entgegengesetzter Art bereitet. Du bist vielleicht
wie jener Herr aus Wien, der mir die Geschichte eines
Abends erzählte, zu Wageu angekommen und mit Dir
ist gleichzeitig in demselben Gasthofe eine hübsche junge
Dame ans Wien in Begleitung ihres Vaters abgestiegen.
Bei Tische hat Dich der witzige Zufall wieder an ihre Seite
gebracht und Du hast nicht verfehlt, den liebenswürdigen
Gesellschafter zu machen. Nun denke Dir, Du besuchst am
Abende eiu Gasthaus, wo eiue Cith erspiel er in aus
Wieusingen und spielen wird, und wenn diese austritt,
erkennst Du iu ihr die Schöue, die Du am Mittage zur
Nachbarin gehabt hast.
Begegnungen, wie diese letztere, gehören nuu freilich
zn den Seltenheiten. Wenn sie aber vorkommen, nimmt
man sie mit gutmüthigem Lächeln hin und freut sich, daß
überhaupt so etwas noch möglich ist. Süddeutschland und
besonders Oesterreich hat unter Anderem den großen Vor-
zug vor Norddeutschland, daß sich die reine Menschen-
natur, der Meusch als solcher, aus der Uniform und
sonstigen Charaktermaske, welche die übernommene Rolle
im Schauspiele des Lebens uns aufnöthigt, mit Leichtigkeit
herausschält und unaufhaltsam hervorbricht aus allen künst-
lichen Umhüllungen von Rang und Stand. Die Uni-
form, das Kostüm des Standes reicht dem Süd-
deutschen höchstens bis auf die Haut; dem Nord-
deutschen ist es aber tief ins Fleisch, in Herz und Hirn, in
Mark uud Beiu hineingewachsen. Die anders gearteten
unter diesen fühlen sich daher beim ersten Betreten süd-
deutschen Bodens seltsam angeheimelt: es ist ihnen, als
hätten sie jetzt erst ihr eigentliches Vaterland gesunden. —
350
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen C r d t h e i l e n.
Der australische Forschnngsreisende McJntyre gestorben.
Wir erhalten diese betrübende Nachricht durch die melbourner
deutsche Zeitung „Germania" vom 26. Juli. Sie entlehnt der
„Port Denison Times" (einem in der Provinz Queensland
erscheinenden Blatte) Folgendes:
„Aus Marathon haben wir unterm 15. Juni ein Schreiben
erhalten, dessen Inhalt zufolge Hr. McJntyre, der Führer
der Expedition zur Aufsuchung L eich Hardts, am 4. Juni zu
Gilliot Creek, nahe der Station seines Bruders, verschieden ist.
Er starb am Fieber, von welchem er wahrscheinlich in Burke
Town angesteckt worden ist."
Duncan McJntyre war ein unternehmender Mann. Die
letzten Nachrichten von ihm waren von Gilliot Creek und datirten
vom 30. März Er schrieb an unsern Landsmann Dr. Müller
über den Fortgang seiner Expedition seit dem Tage, da er den
vr. Murray und drei andere Mitglieder der Expedition ent-
lassen hatte, Folgeudes:
„Der ganze'Dezembermonat wurde damit hingebracht, um
hinlänglich Wasser im Cooper's Creek zu finden, und die Vor-
rat he, Waffen, Munition, Instrumente und andere Gegenstände
wieder aufzusuchen, welche dnrch die Schuld der erwähnten Ent-
lassenen hier- und dorthin fortgeworfen oder mit den weg-
gelaufenen Pferden verloren gegangen waren. Am Neujahrs-
tage waren wir anf einem schönen Platze am Coopers Creek
gelagert, da aber der Zustand der Kameele noch einen Monat
Ruhe erforderte und die Eingebornen uns sehr beschwerlich
fielen, so zog ich den Creek weiter aufwärts, wo hinlänglich
Futter und Wasser war, und errichtete eine Stockade, womit wir
am 14. Januar fertig wurden, so daß nns die Eingebornen
nicht mehr belästigen konnten. Wir hatten hier Ueberflnß an
schönen Fischen. Am 9. Februar brach ich aus; sämmttiche
Mitglieder der Expedition, bestehend ans mir, zwei Europäern,
dem Belndschen aus Indien und zwei Eingebornen, befanden
sich im besten Gesundheitszustande, unsere 12 Kameele und
5 Pferde sind gleichfalls im besten Stande und mit ungefähr
2 Tons Vorräthen bepackt. Am 18. Februar pafsirten wir den
Docker-River und am 1. März den Müller-River, und
betraten sonach den Wendekreis. Am 9. März gingen wir über
die Coast-Ranges und gelangten am folgenden Tage an die
Quelle des Gilliot-River, dessen Laufe wir abwärts folgten.
Am 13. März lagerten wir am Ostufer des Flusses, beinahe
Fort Bowen gegenüber. Ich nahm einen von meinen Ein-
gebornen, Namens Welbo, mit, um zu scheu, ob in der
Nähe eine Station sei. Einige Meilen in östlicher Richtung
kamen wir znm Flinders River, und bald darauf trafen
wir einen Stockmann, welcher nns nach Herrn Gibfons Station
nahe bei Mo mit Little führte. Der Besitzer benachrichtigte
mich, daß keine weiteren Spuren von Leichhardt aufgefunden
worden seien und Eingeborne sich selten in dieser Gegend sehen
ließen. Nach einigen Stunden Aufenthalt ritten wir nach der
ungefähr 12 Mcileit entfernten Station des Herrn Morrifell,
ein paar Meilen von den mit L. L. bezeichneten Bäumen ge-
legen. Herr Morrifell erzählte mir, daß jene Stelle, welche für
ein altes Lager Leichhardts gehalten wird, die einzige Spur
vou demselben am Flusse sei, vou welcher er wisse oder gehört
habe. Ich kehrte am 20. März nach nnserm Lager zurück und
habe seitdem mit dem Eingebornen Welbo nach anderen gemark-
ten Bäumen oder Anzeichen von Leichhardt aus und nieder der
Ufer des Flinders River und quer durch die Gegend bis zum
Cloucurry-River gesucht, habe jedoch nichts dergleichen gefun-
den und bin ebensowenig mit Eingebornen zusammengetroffen.
Die Kameele, obgleich sonst in gutem Zustande, leiden etwas
an wunden Füßen und gebrauchen deshalb einige Wochen Ruhe,
bevor ich nach den westlichen Distrikten ausbrechen kann. Wäh-
rend dieser Zeit werde ich meine Nachforschungen fortsetzen und
hauptsächlich Eingeborne dieses Distriktes aufzufinden fnchen, um
von ihnen Auskunft zu erlangen, und wo möglich Einige be-
wegen, sich der Expedition anzuschließen.
Australische Notizen. Am 2. Juli 1866 feierte man in
der Colonie Victoria den Jahrestag der Trennung von Neu-
südwales; sie fcmd vor 1b Jahren statt.
In Südaustralien ist im Sixth Creek und im Torrens-
flusse G o ld gefunden worden; auch waren noch weitere Berichte
über die Entdeckung neuer goldhaltender Gegenden eingegangen,
und die Gruben, 'welche bereits früher in' Angriff genommen
sind, gabeu guten Ertrag.
In der Colonie Victoria wurde in McCullochs Schacht
bei Jericho ein 87 Unzen schwerer Goldklumpen gefunden und
am Twist Creek in Aackandandah ein sehr reiches Quarzriff ent-
deckt. Eine dcr dortigen Banken bot für einen Centner der
losgebrochenen Steine'200 Pfd. Sterl., das Gebot wurde aber
nicht angenommen.
Die Dampferverbindnng zwischen Australien
und Centralamerika ist nun eineThatsache geworden. Am
14. Juli ging der Dampfer „Ruahine" von Sydney in Neu-
südwales uach Panama in See. Das nächste Schiss sollte
am 1. September abgefertigt werden. Da von Panama nach
Aspinwall über die Landenge eine Eisenbahn führt und Suez
mit Alexandria gleichfalls durch eine solche verbunden ist, so
sehen wir nun im Jahre 1866 die Communication vermittelst
des Dampfers um deu ganzen Erdball hergestellt.
Ju Queensland hat die dortige Regierung sich zu Gun-
sten einer Postverbinduug mit Europa über Batavia, dnrch die
Torresstraße, ausgesprochen.
Em Steinzeitalter in Südafrika. Am F i s ch - R i v e r, in
der östlichen Provinz der Capcolonie, hat ein Hr. Bowker Speer-
oder Pfeilspitzen von Stein gefunden; einige derselben sind dem
Mnseum der Capstadt einverleibt und einige durch deu bekann-
ten Reisenden Baines nach London gebracht worden. Man
fand sie, sagt derselbe, neben Bruchstücken von Töpfen 13 Fuß
unter der Erdoberfläche und sie sind die ersten Steinwasen,
welche in Südafrika gefunden wurden. Die jetzigen Eingebornen
haben von dergleichen nie Kunde gehabt, sie wissen auch nicht,
daß sie ihren Vorfahren jemals bekannt gewefeu wären. Die
Kaffern, Zulus, die verschiedenen Betfchuanastämme, die Dama-
ras und die Owampo, diese alle haben zum Werfen oder zum
Stoßen eiserne Hassagayen oder Speere, und namentlich die
Owampo verstehen sich'ans das Schmelzen des Eisens sehr gut.
Die Hottentoten und Buschmänner haben außer der Hassagaye
auch Pfeile. Die Spitzeu derselben sind manchmal von Eisen,
zumeist aber aus Kuocheu und sie werden vergiftet. Von Stein-
Waffen lebt unter ihnen keine Ueberlieferung, auch steht in den
ältesten holländischen Berichten von dergleichen nichts. „Ich will
nicht voreilig eine Ansicht aufstellen, aber ich meine (und darin
pflichtet mir Edwin Layard, Curator des Museums in Capstadt,
bei), daß diese Waffen das Dasein von Volksstämmen anzeigen,
welche längst verschwunden waren, als die Europäer mit diesem
Theil Afrika's bekannt wurden."
Ein fossiler Menschenschiidel in Kalifornien. In wahrhaft
überraschender Weise häufen sich die wichtigsten paläontologischen
Funde, durch welche das hohe Uralterthum derMeüfcheu
auf der Erde bestätigt wird. Als man vor etwa 10 Jahren am
untern Mississippi, 'im Staate Louisiana, eiu Menschengerippe
unter der fünften Lage der dort im Laufe der Jahrtausende
über einander geschichteten Reihenfolgen von Cupressus disticha
entdeckte, nahm man mit großer Wahrscheinlichkeit an, daß
dieses Skelett, dessen Schädelbau jenem der Heu-
tigen Indianer des Mississippitha les glich, minde-
stens 45,000 Jahre dort gelegen habe. Kein Geolog zweifelt
mehr daran, daß vor mehr als 100,000 Jahren Menschen ans
Erden wohnten; die Knochenfunde in den Höhlen und im Di-
luviurn reden allzudeutlich.
Jetzt eben kam ein neuer Fund hinzu. Die Regierung
von Californien läßt ihr Land geologisch untersuche». Nim hat
man, einem Berichte aus San Francisco (in der „Allgemeinen
Zeitung vom 13. Sept. 1866) zufolge, in einer Äefe von
150 Fuß bei Abteufung eines Schachts einen menschlichen
Schädel gefunden. Leider finden wir die Fundstätte nicht
speciell angegeben. „Das denselben bedeckende Gestein
bestand aus fünf Schichten Lava und vulkanischen
Aus allen
Tuffs, sodann aus vier Schichteu aufgeschwemmten
Bodens. Prof. Whitucy (ein ausgezeichneter Geolog) schließt
hieraus, daß der Träger jenes Schädels, dessen Formation
denen der hier noch lebenden Indianer gleicht, zu
einer Zeit eristirt haben muß, ehe der Berg Shasta und die
anderen Berge jener Gegend ihre Hänpter in die Wolken erho-
ben, und daß also dem Menschen ein mit dem Jsosanrns
gleiches Alter zuzuschreiben sei." Wo bleibt da der „Anfang
der Erschaffung der Welt" nach der jüdischen Chronologie?
Kohlen und Petroleum in der brasilianischen Provinz
San Panlo. Richard Burton ist seit etwa einem Jahre
britischer Consul zu Sautos in der genannntenProvinz; nach-
dem er so manches Jahr in dem bösen afrikanischen Klima ge-
lebt hat, kann er sich dort in der milden Luft wieder erquicken.
Aber still sitzt er nicht. Der Entdecker des Tanganyikasees,
der Mann, welcher zuerst von allen Europäern Härrär in Ost-
asrika betreten und als verkappter Mohammedaner die Kaaba
in Mekka besucht hat, gönnt sich keine Rnhe; er hat einmal, ich
möchte sagen, die Entdeckungskrankheit. Jetzt erforscht er Theile
Brasiliens. Er halte Proben von den Steinkohlen gesehen,
welche in den Provinzen Rio grande und St. Catharina gesun-
den worden sind, und als er nun den Parahyba und den Ri-
beiro do Jguape näher untersuchte, kam er zu der Ueberzengnng,
daß die geognostifche Formation, in welcher jene Kohlenfelder
auftreten, 'sich nach Norden hin bis in die Provinz San Paulo
fortsetzt. Der Schluß hat sich als richtig bewährt.
Burtou hielt am 8. Juli 1866 in Rio de Janeiro einen
öffentlichen Vortrag über seine Untersuchungen; auch der Kaiser
war zugegen. Auf dem Ritte von Santös nach Rio kam er
in Begleitung einiger landeskundiger Brasilianer auch nach der
kleinen Stadt Bom Jesus de Tremembe, und dort am süd-
lichen Ufer des Parahyba zeigte man ihm sogenannte Pisfarra,
harten, thonigen Schiefer, in welchem er sogleich dasjenige Ge-
stein erkannte, unter welchem Kohlenfelder und dann anch
Petroleum liegen. Dieses Schieferlager zieht sich am Flusse
meilenweit hin. Burton suchte nun nach dem rothen Saudstein,
welcher die Kohlenlager in Rio grande kennzeichnet; er sand
denselben schon am nächsten Tage und zwar in Verbindung mit
Hematit; das war entscheidend Eine Meile weiter südlich fand
er Eisenstein und unweit davon einen zum Brennen ganz vor-
trefflichen Kalkstein. Die Oertlichkeiten aller dieser Funde liegen
nahe beisammen und halbwegs zwischen San Paulo und Ba'rra
do Pirahv, in einem Punkte,' welchen die Pedro seguudo-Eisen-
bahn in ihrer Fortsetzung nach Westen durchschneiden muß, und
eben so die Santos-^und San Paulo -Bahu nach Osten hin.
Eisenbahn über die Anden. Die „Deutsche Zeitung" am
La Plata sagt: „Eine Eisenbahn über die Anden, vom Rio de
la Plata ausgehend und am Stillen Weltmeer mündend, gehört
nächstens nicht mehr ins Bereich der Träume und Luftschlösser.
So'gut die Europäer baldigst von Lissabon bis Konstantinopel,
also vom Atlantischen bis zum Marmora beziehungsweise Schwar-
zen Meer in einer Tour werden fahren können, werden wir
diesseits des Atlantischen Oceans bald (?) von Buenos Ayres
nach Valparaiso fahren können. Bereits sind 240 Meilen der
Central-Argentinischen Linie vom Hasen von Rosario bis Cor-
dova stark im Ban begriffen, und bei fortschreitender Einwan-
derung und Ansässigmachnng wird sich ohne Zweifel diese Eisen-
bahnlinie bald weiter erstrecken. Hr. Weelwright, Direktor der
Central-Argentinischen Eisenbahn, äußert sich darüber in einem
Briefe folgenderweise: Ich hoffe Mittel zu finden, die Vermessung
der Cordilleren von dem sogenannten Südpaß in Chile bis nörd-
lich von Copiapo auszuführen, um zu untersuchen, ob sich nicht
noch ein günstigerer Paß ausfinden läßt, als der bereits ver-
mesfene Paß von San Francisco. Es sind sieben günstige
Uebergangspunkte zu vermessen, bevor eutschieden werden
kann, welches der beste fein könnte."
r. Schulen in Indien. Man zählt in Indien 30 Millio-
neu schulpflichtige Kinder, von diesen werden etwa 100,000 von
Missionären, 127,000 in Staatsschillen unterrichtet, alle übrigen
wachsen in fast absoluter Unwissenheit auf. Die englische Mis-
sionsgesellschast erhält 781 Schulen mit 12 europäischen und
846 eingebornen Lehrern; sie zählt etwa 1500 Schüler in ihren
Schulen. Die wesleyanifche Missionsgcsellschast hat 53 Schulen,
100 Lehrer und 8500 Schüler; die freie schottische Kirche unter-
richtet in ihren Schulen 9500 Schüler; die baplistische Mission
2000; die baseler 2600 u. s. w. Ein Journal in Caleutta,
Erdtheilen. 351
„Friend os Jndia", weist durch Zahleu positiv nach, daß die
Erziehung in den Staatsschulen viel theurer sei als in denen
der Missionen.
Ein Bernsteinfnnd bei Namslan in Schlesien, der alte
Bernsteinhandel und die Bronzeperiode.
Wir verdanken der Freundlichkeit des Herrn Geheimen Medi-
cinalrath GöpPert in Breslau die folgenden Mittheilungen.
Sie sind einem Vortrag entlehnt, welchen der berühmte Gelehrte
in einer Sitzung der Schleichen Gesellschaft für vaterländische
Kultur gehalten hat.
Bernstein wird in Schlesien seit Jahrhunderten häufig,
aber meistens nur vereinzelt, gefunden. An 120 Fuudone habe
ich notirt, 5 gehören dem Areal von Breslau selbst au, mehr
als ein Drittheil den auf dem rechten Oderufer gelegenen Kreisen
von Namslau, Oels und Trebnitz. Pfuudfchwere Stücke
siud nicht selten; das größte, ein sechspsündiges Stück mit
einem tiefen, einen Wurzelabdruck zeigenden Einschnitt, kam vor
12 Jahren in der Oder bei Rosenthal, unfern Breslau, vor,
ein anderes von 21 Loch in der Stadtziegelei bei Schweidnitz,
von V2 Pfund Gewicht 2 Fuß lies in lehmigem Boden bei
Sprottau u. m. a.
Vor einiger Zeit enthielten die Tageblätter eine Notiz über
Vorkommen von Bernstein bei Namslau. Da es von großem
Interesse ist, die Lagerungsverhältnisse desselben genau zu kenneu,
ob sie der Geschiebe- oder der tieferen blaueu Letten- oder Braun-
kohleuformatiou angehören, so bat ich Herrn Kreisphysikns
Dr. Larisch in Namslan um nähere Auskunft und erstaunte
nicht wenig, darüber Folgendes zu vernehmen:
„Die Fundstätte liege etwa 300 Schritte westlich von Henners-
dors, zwei Meilen nordöstlich von Namslau, Hennersdorf selbst
auf einer mäßigen Erhebung, die von Schadegnr bis Wellen-
dors in der Richtung von Norden nach Süden ein Plateau
bilde, welches östlich vielfach von Waldungen mit einzelnen
kleinen Höhenzügen begrenzt werde. Der Oberboden fei durch-
weg sandig, der Unterboden lehmig mit vielen Rollsteinen. An
einer kleinen Lehne, die sich nach Westen zu einer Wasserfurche
herabsenke, habe ein Arbeiter, Namens Kühnel ans Polkowitz,
beim Steiuesnchen zunächst „Hei dengraber" von 4 bis 8 Fnß
Durchmesser entdeckt, 5 bis 15 F. von einander entfernt, 1 F.
tief in sandigem Boden. Tie Asche, Knochen und einzelne
bronzeue Gerätschaften enthaltenden Urnen hätten unter
einer 5 Fuß hohen Rollsteinschicht gelegen, eine in den
kleineren Gräbern, zwei in den größeren. Von den kleinen seien
10, von den größeren 3 vorhanden. In einem solchen größern
Grabe zwischen den beiden, 3 F. von einander entfernten Urnen,
von mauerartig gesetzten Steinen gedeckt — also hingelegt —
habe man Bernstein in der ungefähren Menge von mindestens
8 Metzen gefunden. Bernstein sei übrigens schon oft, znweilen
in Stücken' von hohem Werth, in der Umgegend von Namslau,
wie bei Nimmersdorf, Rankem ic. vorgekommen, aber stets im
Sande, nnter welchem übrigens, namentlich an genannten Orten,
anch bläulicher Letten uud Mergel lagere."
Herr Winterfeld, in weiten Kreisen als Bernsteinwaaren-
Fabrikant bekannt, hatte von daher nicht weniger als 120 Psnnd
gekauft. Der größte Theil bestand ans kleineren Stücken, mir
ein paar 8- bis lülothige befanden sich darunter und alle waren,
wohl in Folge der oberflächlichen Lage, mit einer oft tief bis
ins Innere gehenden Verwitternngskrnste bedeckt, oder zeigten
den Charakter des Erdbernsteins, der sich eben durch diese Kruste
von dem mit glatter Oberfläche versehenen frischen Seebernstein
unterscheidet. An den umfangreicheren bemerkte man die Ein-
drücke vou Wurzeln, Steinen; die zahlreichen plattenförmigen
stammen ans dem Innern der Bäume, die meisten von ihrer
Rinde, insbesondere die koncentrisch schaligen, welche den zu
verschiedenen Zeiten erfolgten Ausfluß des Harzes bezeugen.
Spnren von Bearbeitung ließen sich au keinem ein-
zigen Stücke wahrnehmen.
Eine Quantität Rollsteine, Gneis, Syenit, Granit mit
prächtigem, rothem Feldspalh, also nordische Geschiebe, sah
ich anch noch unter dem Bernstein als Zeugen der oberflächlichen
Lage. Die ganze Quantität des vorhanden gewesenen Bernsteins
vermag man mit Genauigkeit nicht mehr zu ermitteln. Notorisch
war schon viel verschleppt worden, ehe Herr Winterfeld feine
Ankäufe machte, und bei dem Heransnehmen selbst war man
anch überhaupt nnr mit geringer Sorgfalt zu Werke gegangen,
da Dr. Larifch, der auf mein Ersnchen sich abermals an Ort und
Stelle begab, beim Oesfuen der inzwischen zugeschütteten Grab-
statte noch lJ/2 Mäßel Bernstein zu sammeln Gelegenheit hatte.
352 Aus allen
Diese jedenfalls höchst bedeutende Quantität und die
ganze Beschaffenheit der Fundstätte spricht nun, wie sich von
selbst versteht, nicht für eine u r f P r ü n g l i ch e oder natürlich e,
sondern nur für eine künstliche oder absichtlich veranlaßte
Ablagerung, bereit Ursprung zu erforschen uicht mehr in das
Gebiet der'Paläontologie, sondern in das der Urgeschichte ge-
hört, der wir es hiermit zur weiteren Beachtung übergeben.
Sie möge ermitteln, ob man damit eine Huldigung des Ver-
storbenen bezweckte, wiewohl man hierzu, so viel ich wenigstens
weiß, nur Kunstprodukte ans Bernstein, nicht Nohbernstein ver-
wendete, oder feststellen, ob wir nicht vielleicht das iu Vergessen-
heit gerathene Lager eines Händlers der Vorzeit vor uns sehen.
Jedenfalls spricht dieser ungewöhnliche, vielleicht bisher
noch nirgends gemachte Fund für die ungemeine Aus-
dehn n n g des damaligen Verkehrs mit diesem in-
teressanten Fossil, und vielleicht auch für die Wahr schein-
lichkeit eines Landweges oder Karawanenzuges,
der sich einst von der Donau aus durch das Waag-
thal oder Oberungarn (nach Mannerts, Kruse's d. Ä.
Angaben) durch diese Gegenden bis zur Weichsel und
Ostsee bewegte. Daß die Römer sehr viel Bernstein auf dem
Landwege bezogen, geht unter Anderem auch ans P linins her-
vor, der sich überhaupt auch über den Ursprung des Bernsteins
ebeu so verständig wie über viele andere naturhistorische Gegen-
stände ausspricht. Plinins erzählt von einem vou Nero nach
der Bernsteinküste geschickten römischen Ritter, der eine sehr be-
deutende Menge Bernstein mitgebracht habe. Die Reife sei von
der Donau und Pannonien ausgegangen, wo schon lange Handel
und Zwischenhandel mit Bernstein getrieben worden sei. Ob
das angeblich häufige Vorkommen von Münzen von Nero in
Preußen mit jenen Reisen in Verbindung stehe, wie Einige
meinen, lasse ich, wie billig, dahin gestellt sein. Uebrigens
schenkte das ganze Alterthum dein Beruftem von seiner ersten
Einführung durch die Phönizier fortdauernd das regste Interesse.
Thales vou Milet kennt ihn und mehre seiner merkwürdigen
Eigenschaften, desgleichen Plato, Herodot, Aristoteles, Theophrast,
Dioscorides, Diodor von Sicilien, Tacitus, Virgil, Ovid;
Martial feierte ihn durch Epigramme ic.
Somit schiene dem B ern steinh an d el ein fast
zweitansendjähriges Alter vor Christi Geburt ge-
sichert. Könnte man nun nicht hieraus, da unsere sämmt-
liehen schlesischcn bis jetzt bekannten „Heidengräber" Vorzugs-
weise nur Bronzewaaren enthalten, und unser Bernsteinfund
doch jedenfalls mit ihnen in innigster Beziehung steht, nicht
auch einen Schluß auf die Zeit der freilich überhaupt schwer
zit begrenzenden Bronze-Periode ziehen, welche dann in
jenen Zeitraum fallen und nicht so alt sein dürfte, als man ge-
wohnlich annimmt? Das überall erwachte Interesse für Unter-
snchnngen dieser Art wird auch wohl hier einst zu sicheren Resultaten
führen', welche wir auch von unseren historischen Vereinen er-
warten dürfen, die sich bereits eifrig mit dem schleichen Hciden-
thnm beschäftigen. Schließlich noch ein Paar hierher gehörende
Notizen:
In nnserm Alterthumsmuseum sah ich ein mit Urnen in
einem heidnischen Grabe gefundenes und mit ähnlichem blau-
grauen graphitartigen Ueberzug versehenes, ziemlich getreues
Contersei unserer Landschildkröte, vielleicht die älteste
v l a st i s ch e Darstellung eines d e u t s ch e u n a t n r h i st o r i -
schen Gegenstandes.
In einemUrnenbrnchstück, welchesHerrTheodorOelsner,
der bekannte Herausgeber der „Schlesischeu Proviuzial-Blätter",
schou vor Jahren fand, erkennt man deutlich den Abdruck einer
kleinen Blattsieder des Johannisfarn (Aspidium fiiix mas), der
ganz unbestreitbar als das älteste Bild einer Pflanze Deutschlands
anzusehen ist. Da er mit der Form der Gegenwart ganz über-
einstimmt, geht daraus hervor, daß wenigstens diese Pflanze in
einer so langen Zeit keine Veränderungen erlitten hat, woran
man wohl in unserer Zeit erinnern darf, in welcher so Vielen,
bestimmt von dem Glänze der Transmutationslehre, der Be-
griff der Art und ihrer Daner bereits ganz verloren ge-
gangen ist.
' Ich finde in einer im Jahre 1748 erschienenen merkwürdigen
Abhandlung „über den Bern st ein Handel in Preußen
vor der Kreuzherru Ankunft" einen Brief des berühmten
italienischen Botanikers Panl Boeeone, vom Jahre 1667
eitirt, in welchem er ein uraltes, in der Gegend des Berges
Melone in der Mark Ancona entdecktes Stein-Grab be-
schreibt. In demselben habe man in der Gegend des Halses
und der Brust des verweseten Leichnams angereihete Korallen
Erdtheilen.
von Bernstein gesunden, so groß als ein Ei, und in solcher
Menge, daß man damit wohl hätte einen ganzen Scheffel an-
füllen können. In der Übersetzung (P. Boeeoni's Curiöfe An-
merkungenjc., Frankfurt und Leipzig, 1697, die Einsicht der
Original - Abhandlung gelang mir noch nicht) ist nur vou einem
halben Scheffel die Rede, sowie auch nur von einem ans Ziegeln
gemauerten kastenähnlichen Grabe, nicht von einem Steingrabe.
Brochs und Piktenhäuser auf Orkney. Dort kommen
neben den gewöhnlichen Barrows oder Grabhügeln noch manche
Tnmuli vor, die sehr alt sind und ohne Unterschied vou den
Landbewohnern als Piktenhäuser bezeichnet werden. Petrie
welcher jüngst dieselben näher untersucht hat, theilt sie in Brochs
und in Piktenhäuser ein. Die ersteren sind runde Thürme
von 50 bis 70 Fuß Durchmesser und 16 bis 17 Fuß hoch. Die
kreisförmige Mauer, welche um dieselbe herumläuft, bildet zwei
coneentrische Wälle, zwischen denen sich eine Gallerie oder Passage
befindet, ähnlich wie bei den Brochs auf Zelland, die aber besser
erhalten sind als jene auf Orkney. Der fast noch ganz erhaltene
Broch von Moufa auf Zetland ist nahe an 40 Fuß hoch. In
dem Broch auf der Insel Burray fand Petrie allerlei Sachen
von Stein, Bronee und Eisen; die letzteren, meint er, seien wohl
durch Zufall dorthin gekommen. Ueber das Alter dieses Broch
fällt er kein Urtheil. Beim Broch von Okstro, im Kirchspiel
Birsay, fand er steinerne Kists auf dem Broch; sie gehören
dem Broueealter au und sind jünger als der Broch, der ihnen
zur Unterlage dient. Auf Orkney sind mindestens 40 Brochs
bekannt; auch im nördlichen Schottland kommen dergleichen vor.
Das Piktenhaus hat allemal eine konische Gestalt nnd gleicht
einem großen napfförmigen Barrow; das Mauerwerk ist sehr
solid und der Eingang eine lange, niedrige, enge Passage; die
Mauern convcrgiren nach oben hin. Ge'räthe hat man' in den
Piktenhäusern nicht gefunden, dagegen in Menge Knochen von
Hansthieren. Petrie meint, sie seien Gräber oder Eairas mit
Kammern oder Barrows, nnd alle drei Arten von Denkmälern
seien von einem nnd demselben Volk erbauet worden.
Die italienische Auswanderung unterscheidet sich sehrwesent-
lieh von der deutschen und englischen. Die germanischen Völker
gründen vorzugsweise Ackerbaueolonien; uud es siud vorzugsweise
Landleute, welche über See gehen, um Land zu erwerben und
urbar zu machen. Die Italiener dagegen haben nirgends Ackerbau-
colonien gegründet, der Bauer wandert nicht ans, sondern der
Mensch ans den Städten, welcher dann anch in fremden Län-
dern vorzugsweise wieder iu den Städten sich niederläßt. Schon
von alten Zeiten her beschränkt die italienische Auswanderung
sich vorzugsweise auf die Gestadeländer des Mittelmeers. Das
genuesische Gebiet uud Piemout liefern das stärkste Contingent.
In jebev irgend beträchtlichen Stadt der Levante und Nord-
afrika's sind schon seit den Tagen des Mittelalters italienische
Gemeinden vorhanden, und das Italienische ist dort überall als
Handelssprache verbreitet. Die amtliche Zeitung des König-
reiches Italien gibt als annähernd richtig folgende Zahlen über
die Auswanderung. In Tunesien seien 6000 Italiener, in Ale-
randria 12,000, Kairo 3000; über jene in Konstantinopel, am
Schwarzen Meer nnd in der Türkei überhaupt lassen sich gar
keine Zahlen aufstellen; in Algerien etwa 8000, in der Schweiz
13,828, Frankreich 76,539, hier zumeist in der Provence, Lyon
nnd Paris, viele auch im Landheer nnd auf der Kriegsflotte;
4489 iu England, in Deutschland nur wenige. Dagegen in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika 40,000, wovon allein in
San Francisco 7000, in Brasilien 18,000, in Buenos Ayres
gleichfalls etwa 18,000 und 10,000 in den übrigen argentini-
sehnt Provinzen, in Peru und Bolivia 8000. Dazu kommen
dann noch einige tausend in den übrigen Staaten Amerika's.
Die Bevölkerung der Stadt Rom. Nach einem Berichte
der obersten geistlichen Behörde hat die „ewige Stadt" in der
Mitte des Jahres 1866 eine Einwohnerzahl von 210,701 Seelen.
Unter diesen befanden sich 30 Cardinäle, 36 Bischöfe, 1476
Priester und Kleriker, 834 Seminaristen nnd Kollegialen, 2833
Mönche, 2169 Nonnen (!!), 262 geistliche Convietoren' 1622
Mädchen, die in Klöstern ihre Erziehung erhielten, 5266 päpst-
liehe Soldaten, 429 nichtkatholische Christen und 4567 Juden.
Also waren 6348 Geistliche und Nonnen vorhanden, die allein
eine ganze Stadt bevölkern konnten.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
Vier Monate zu Sarayacu am Acayali.
Das Gebiet des Amazonenstroms und der Handelsverkehr. — Dampfer und Forschungsreisen. — Der Ucayali und die Mission
Sarayacu. — Marcoy's viermonatlicher Aufenthalt in derselben. — Geographie der Pampa del Sacramento. — Die Mutterstation
Ocopa und der Pater Plaza. — Verdienste der Missionäre um die Landeskunde. — Die verschiedenen Jndianersiämme. — Schil-
derung vou Sarayacu. — Verwaltung, Feldbau, Handel. — Leben und Treiben der braunen Christen. — Stromfahrt nach Santa
Catalina nnd nach Nauta.
Seit einigenJahren kommt endlichLeben in dieRegion bewährt. Vor etwa 13 Jahren begann die „Compagnie
des obern Amazonas. Das weit ausgedehnte Gebiet, des Amazonas" ihre Fahrten ans dem Riesenstrome, welche
welches einen großen Theil Südamerikas einnimmt, hat sie im Fortgange der Zeit mehr und mehr ausgedehnt hat.
bis in die neueste Zeit gleichsam todt dagelegen. Vereinzelte Die belebenden Einflüsse derselben reichen bis tief nach
Ein Boot auf dem U
Barken schwammen auf den Strömen, um die Erzeugnisse
des Waldes zu den wenigen, weit von einander entfernt
liegenden Hafenplätze am Amazonas zu bringen und dann
mit europäischen Waaren beladen wieder heimzufahren.
Aber dieser Perkehr war von nur geringem Belang.
Auch dort hat nun der Dampf seine anregende Kraft
Globus X. Nr. 12.
tili. (Nach Marcoy.)
Peru und Bollvia hinein. Es liegt dem Kaiserreiche
Brasilien, wie jenen beiden Republiken, viel daran, die
Verbindung mit dem Hauptflusse nach Kräften zu erleichtern
und die Nebengewässer cutch an solchen Stellen schiffbar
zu" machen, welche bislang Hindernisse darboten. Wir
haben in diesen Blättern vielfach ans die verschiedenen Er-
45
354
Vier Monate zu Sarayacu am Ucayali.
sorschnngsexpeditionen hingewiesen, unter denen jene Cou-
tinho's an Ergebnissen sehr fruchtbar gewesen ist. Wäh-
rend Brasilien den Tocantins und den Araguay, deu
Xingu und denMadeira befahren ließ, drang Chandless
bis zu den seither unbekannten Quellen des Purus vor,
und peruanische Dampfer haben ermittelt, daß der Pachi-
tea und der Pozuzil dem Schifffahrtsverkehr durchaus
zugänglich sind. So kann ein Fahrzeug von Pcirä an der
Mündung des Amazonas bis au den Fnß der peruanischen
Cordillere fahren, und jene Gegend, welche sich bisher auf
den Berkehr mit der großen Südsee allein angewiesen sah, hat
nun einen Zugang zu dem viel wichtigern Atlantischen Ocean
gewonnen; sie hat eine raschere und durchaus sichere Ver-
binduug mit Europa erhalten. Durch die Expedition des
Naturforschers Agassiz wird ebeu jetzt die Aufmerksamkeit
ganz allgemein und in weit höherm Grad als bisher auf diefes
gewaltige Stromgebiet und dessen unerschöpfliche Fülle von
Naturerzeugnissen hingelenkt; schon finden sich europäische
Unternehmer mit großen Kapitalien ein, um diese reichen
schildert, wie der Reisende den Ucayali durch das Gebiet
der Chontaqniros und anderer Indianerstämme bis nach
Sarayacu hinabfuhr. Diese Mission, welche in unseren
Tagen so oft genannt wird, liegt an einem kleinen Neben-
flnffe des großen Wassers. Leute mit brauner Haut, Neu-
bekehrte, kamen dein weißeu Manne, der so unerwartet in
dieser Wildniß erschien, entgegen, und bald waren Geflügel,
Eier und Zuckerbranntwein zur Stelle. Diese Indianer
vom Stamme der Cumpaza sind Angehörige der Mission
und haben dort etwas Spanisch und auch Qnichua erlernt.
So war ein Mittel gegeben, sich mit ihnen zu verständigen.
Der würdige Vorsteher der Mission, Pater Plaza,
über den wir weiter unten mehr zu sageu haben, bereitete
den Ankömmlingen einen gastlichen, sehr freundlichen Em-
pfang. Er sah ja ohnehin sehr selten civilisirte Menschen
in dieser Einöde. Sie erhielten Zellen, die freilich sehr
einfach waren und deren Gerätschaften keineswegs an
Luxus erinnerten. Aber nach so langer und beschwerlicher
Reise auf dem Wasser war solch ein Gemach mit Stühlen,
Matamata- Schildkröle vom Ucayali.
Quellen auszubeuten. Em mächtiger Anstoß ist gegeben
worden und sür das Amazonasgebiet ein neuer Tag au-
gebrochen.
Aber der bei Weitem größte Theil ist noch Waldöde,
in welcher vereinzelte Jndianerhorden umherschwärmen.
Unsere Leser erinnern sich aus deu lehrreichen Schilderungen
Paul Marcoy's, die wir von Zeit zu Zeit mitgetheilt,
wie spärlich die Volksmenge, wenn von einer Menge über-
Haupt die Rede sein könnte, auf der ganzen Strecke ist,
welche derHanptznfluß des obernAmazonas, der Ucayali,
durchströmt. Auf Huuderteu von Meilen weit nicht eiue
einzige Stadt, nicht ein einziges Dorf, in welchem weiße
Meufcheu wohnen, nur hin und wieder und allemal in
weiter Entfernung von einander einige Jndianerhütten!
Aber nun ist auch dieser Ucayali, ein wichtiger Weg, der
mit seineu Nebengewässern ins Innere von Peru führt,
schon vou Dampfern befahren worden, uud Sarayacu,
bisher eine Oase in der Barbarei, wird voraussichtlich eiu
Handelsplatz von Bedeutung werden.
Wir haben (Globus VIII, in mehren Nummern) ge-
Tischen und Ruhebank schon ein Paradies, um so mehr, da
der Naturforscher Gelegenheit fand, eiue gauze Menagerie
zu halten und ungestört seinen wissenschaftlichen Arbeiten
obzuliegen.
Und nun das leckere Mahl, das aus gefotteuen Schild-
kröten, gebratene» Hühnern, Reis und in Asche gekochter
Mandioca bestand! Ja, es gab sogar Löffel in Sarayacu,
wenn auch nur von Zinn oder Holz, uud nicht minder etliche
Gabelu; an Tischtücher war freilich nicht zu denken. Trotz-
dem herrschte allgemeine Heiterkeit, und die Missionskapelle
machte Musik, so gut sie cs eBcu verstand. Die braunen
Künstler bliesen eine Art vou Flageolet und paukten herz-
hast auf eine kleine Trommel los. Auch Tänzer traten
anf; sie trugen weiße Kittel und Beinkleider und auf dem
Kopf eine aus Papageienfedern verfertigte Mütze, auf
welcher sich die hohen Arasfederu gar stattlich ausnahmen.
Die Beine waren bis zum Knie mit allerlei Klapperwerk
umschnürt, das sie aus Kernen verschiedener Früchte zn-
sammengesetzt hatten; dasselbe machte ein Geräusch wie der
Schwanz einer Klapperschlange.
Vier Monate zu Sarayacu am Ucayali.
Nach dem Essen schlenderte Marcoy in dem Missions-
do?f umher. Die Hütten liegen, jede von Gebüsch umgeben,
zerstreut umher. Die braunen Christen waren freundlich
gegen die Fremden und wollten ihnen Zuckerbranntwein zu
trinken geben. Dieser wurde zurückgewiesen, aber dasür
ließen es sich die Ruderer, welche das Boot aus dem Ober-
lande bis uach Sarayacu gebracht hatten, desto besser
schmecken. In den Hütten sah man Barbacoas (Blas-
röhre), die eine Hauptjagdwaffe der Indianer bilden.
Hangmatten, irdene Gefäße und Krüge; das war Alles,
was die Leute au Hansgeräth besaßen.
Am nächsten Tage kamen einige Franciskanermönche
aus dem weitentlegenen peruanischen Kloster Ocopa an.
Sie hatten sich oben auf dem Poznzu eingeschifft und waren
der Sierra de San Carlos, einer Verzweigung des
Cenlrallandes, welche eine Wasserscheide bildet, 8 Flüsse
zum Ucayali und 23 zum Huallaga sendet, allmälig nie-
driger wird und in der Gegend der Lagune Pitirca, etwa
unter dem vierten Breitengrade, ins Flachland übergeht.
Eine etwa einen Grad breite Landzunge zwischen den
Duellen des Huallaga uud des Pachitea verbindet nach
Süden hin die Pampa bei Saeramento mit den östlichen
Abhängen der Andes. Aber sie ist viel mehr ein
gebirgiges Land, als eine Ebene.
Was wir von dem Innern dieser südamerikanischen
Region wissen, verdanken wir zu nicht geringem Theile den
Geistlichen aus den Missionen, welche seit 1712 vom
Pater Francisco de San Jose gegründet wurden, demselben,
Die Zelle des Naturforschers in Sarayacu. (Nach Marcoy.)
auf diesem Fluß hinabgefahren bis tu deu Pachitea und
weiter bis zu dessen Mündung in den Ucayali. Beide
waren Italiener.
Die Mission Sarayacu liegt in der sogenannten Pampa
del Saeramento, von welcher Marcoy eine Schilderung
gibt, die von den bisherigen vielfach abweicht. Sie bildet ein
unregelmäßiges Parallelogramm zwischen den Flüssen Ma-
ranon, Pachitea, Ucayali uud Huallaga, und wir wissen erst
Näheres über sie, seitdem sie am 21. Juni 1726 von zwei
Panatagnasindianern entdeckt wurde, welche von den Mis-
sionen am Poznzu kamen. Sie sahen von deu Höhen des
Mapro herab eine weit ausgedehnte Landschaft, deren Wälder
wie ein Meer wogten. Sie hielten diese Region für eine flache
Ebene (Pampa llana), aber in der That ist sie das keines-
Wegs. Sie wird durchzogen von Norden nach Süden von
welchem auch die Haupt- und Mnttcrstation Ocopa ihr
Dasein verdankt.
:sn
der Provinz Lima waren schon
seit 1631 viele Missionen entstanden; 1679 hatten drei
Patres einige Dörfer am nördlichen Huallaga gegründet,
1686 fuhr der Pater Biedma den Pachitea hinab und den
Ucayale hinauf und besuchte die Stämme der Kaschibos,
Schetibos, Conibos, Sipibos und Panos. Von 1670 bis
1756 waren unablässig Missionäre thätig, ohne, wie sich
voraussehen ließ, ein irgend der Rede Werth es Resultat zu
erreichen. Viele der frommen Männer wurden erschlagen,
und die Indianer, deren Naturell kein Zwang duldet,^
liefen wieder in die Wälder. Es ist immer dieselbe Er-
fahrung, welche sich bei allen Wilden wiederfiudte. Wir
können in die Gefchichte dieser Missionen nicht näher ein-
gehen; auch wiederholt sie sich mehr oder weniger in der-
45*
356
Vier Monate zu Sarayacu am Ucayali.
selben Weise bei den einzelnen Stationen; nur über Sara-
yacn wollen wir Einzelnes bemerken.
Auch dorthin kamen Mönche ans Ocopa, zuerst 1790.
Die Pauos hatten an jener Stelle ein kleines Dorf. Pater
Sobreviela schickte mehre Geistliche dorthin und auch uach
einigen anderen Stationen am Ucayali, wo Alles in den
Jahren 1791 bis 1795 ganz leidlich ging. Dann aber
überwarfen sich die Indianer, welche verschiedenen Volks-
stammen angehörten, untereinander, und die Unruhen
wurden so bedenklich, daß die Missionäre nach Ocopa zu-
rückkehreu wollten.
Da erschien in Sarayacu ein junger Franciskauer-
mönch aus Niobamba, Jose Manuel Plaza, und er
allein blieb am Platze, die übrigen gingen. Drei volle
Jahre war er der einzige
weiße Mann dort; dann
schrieb er nach Ocopa, daß
bei ihin Alles in bester
Ordnung sei. Endlich kam
noch ein Mönch, Pater
Louis Colomer, um zu
iuspicireu. Er fand die
Indianer unbedingt füg-
fam. Auf die Frage, wie
Plaza zu einem so günsti-
gen Resultate gelangt sei,
entgegnete dieser: ,,Das
ist mein Geheimuiß."
Fünfzig Jahre später hat
er dasselbe dem Reisen-
den Marcoy willig offen-
bart: —
„Als ich nach Sara-
yacu kam, war die Po-
lygamie in Gebrauch;
manche Männer hatten
bis zu fünf Frauen. Das
wollte ich nicht leiden und
da ich meine Leute kannte,
so wandte ich eine Peitsche
aus Lamantinhaut, Hand-
schellen und andere der-
gleichen zweckmäßige Mit-
tel an. Für jede Ueber-
tretung 25 Hiebe, im
wiederholten Falle 50,
und nach Ablauf eines
Jahres waren meine
Indianer so zahm wie
Schöpse. Ich wußte sehr
wohl, daß ich bei einem
solchen Versahren mein
Leben aufs Spiel setzte und traf meine Vorkehrungen.
In meiner Zelle lag stets ein Haufen gepulverter Holz-
kohle, eiu Sack, wie ihn die Indianer tragen, Bogen,
Pfeile und Blasrohr. Die Wildeu, das wußte ich, wagen
bei Tage keiueu Angriff; sobald ich Nachts Geräusch
vernahm, sprang ich sofort vom Lager auf, schwärzte mir
das Gesicht, warf deu Sack über, nahm die Waffen und
lief hinaus. So konnten sie mich von den Ihrigen nicht
unterscheiden. Im Nothfalle-wäre ich bis zu den Missionen
am Huallaga geflüchtet; mit dem Blasrohr hätte ich Wild
erlegt und mit Pfeil und Bogen mich gegen Feinde ver-
theidigt."
Auf Colomers Bericht schickte man sechs Mönche als
Verstärkung nach Sarayacu und an andere Stationen.
Ein indianischer Christ in Sarayacu. (Nach Marcoy.)
Sie blieben dort bis 1821. Inzwischen war Plaza, dessen
Ruf sich verbreitet hatte, nach Lima zum spanischen Vice-
könig Abascal berufen und sehr gut aufgenommen worden.
Nach der Unabhängigkeitserklärung von Peru und während
der darauf folgenden Kriege verfielen aber die Missionen
am Ucayali; die meisten Indianer liefen wieder in die
Wälder und nur einige wenige wandten sich nach Sarayacu.
Plaza, nun ohne alle Geldmittel, aber dennoch entschlossen,
sein Werk nicht untergehen zu lassen, wurde Handelsmann.
Er pflanzte Zuckerrohr, gewann daraus Rum und Syrnp,
salzte Fische ein, ließ in den Wäldern Sassaparille und
Kakao sammeln und verkaufte feine Waaren an der bra-
silianischen Grenze.
So war er sieben volle Jahre unablässig thätig. Dann
aber packte ihn das Fie-
ber und er beschloß, seine
Gesundheit im Hochlande
wieder herzustellen. Er-
fuhr den Ucayali hinab,
dann den Maranon auf-
wärts, war 49 Tage laug
aus dem Wasser und erst
nach einer Landreise von
zwei Wochen in Quito,
wo er von Simon Bolivar
250 und von seinem
Bruder, dem Eanonicns
Plata, 300 Piaster be-
kam. Damit ging er nach
Sarayacu zurück, wo die
Indianer ihn mit Jubel
begrüßten.
Im Uebrigen blieb er
ans seine eigenen spär-
lichen Mittel verwiesen.
Da traf es sich, daß
1834 die englischen Rei-
senden Smith u. Lowe
in Begleitung der beiden
Peruaner Beltrau und
Ascarate uach Sara-
yacu kamen und dort
einige Zeit verweilten.
Die genannten Peruaner
erregten nach ihrer Heim-
kehr in Lima das Jnter-
esse für den ansdanern-
den Missionär, es wur-
den Collecten gesammelt,
und man schickte ihm
einige Mönche als Hilfs-
arbeiter.
Als Marcoy in Sarayacu war, bestaud das Dorf aus
166 Hütteu vou Palmstämmen; sie waren mit Palm-
blättern bedeckt, aber nicht, wie die Wohnungen der wilden
Indianer, an den Seiten offen, sondern mit Wänden ver-
sehen. In jeder einzelnen lebt ein Matrimonio, d. h.
eine Familie, und in der Regel besteht solch ein Haushalt
aus uicht mehr als drei Personen. Schon oben ist bemerkt,
daß jede Hütte durch Bäume und Gesträuche von den übri-
gen geschieden ist. Den Hang nach Absonderung
und Vereinzelung findet man auch bei den wilden
Stämmen, welchen die verschiedenen Indianer in der Mis-
sion angehören. Sie haben eine tiefgewnrzelte Abneigung
gegen Alles, was an Civilifation streift.
Von jenen 166 Hütten sind J15 von Abkömmlingen
Vier Monate zu Sarayacu am Ucayali,
357
der Panos bewohnt; 35vouOmagnas und Co cam as,
16 von Leuten aus den Stämmen der Cnmbaza, Bal-
sapnertena und Tebero. Trotz der verschiedenen Ab-
stammung leben sie ans friedlichem Fuße mit einander, ver-
heiraten sich aber nur mit Angehörigen desselben Stammes.
Im Hasen, der eine ziemlich kreisrunde Bucht bildet,
liegeu etwa eiu Dutzend Pirogueu an Ketten und unter
Schloß. Diese Vorsichtsmaßregel ist geboten, denn ohne
sie würden nicht selten die Indianer der Mission ohne Er-
lanbniß sich entfernen und lange Zeit fortbleiben, um ein
träges, umherschweifendes Leben zu führen.
Dieser Hafen ist von einem prachtvoll-üppigen tropi-
fchen Pflanzenwuchs eingesäumt, aber auch eiu Lieblings-
aufenthalt der Kaimans. Diese gefräßigen Ungeheuer
liegeu dort unter den her-
abhängenden Baumzwei-
geu, oder am Ufer im
Grase, oder auf dem
Wasser, scheinbar ganz
apathisch, aber sie horchen
auf das mindeste Geräusch
und sind jeden Augenblick
bereit, ihre Beute zu
packen. Alljährlich ver-
liert die Mission ein paar
Leute, die unvorsichtig
genug waren, sich vor
ihnen nicht in Acht zn
nehmen.
Das K l o st e r g e -
bände bildet ein läng-
liches Viereck mit großem
Refektorium, Zelleu und
was fönst noch dazu ge-
hört. Die daneben lie-
gende Kirche ist der Unbe-
fleckten Jungfrau geweiht,
aber in sehr traurigem
Zustande. Die Heiligem
bilder waren zumeist zer-
Krochen n. auch in so trau-
rigem Zustande, daß Mar-
coy sich ihrer erbarmte
und ihnen wieder Köpfe,
Beine oder Arme machte;
die Fensteröffnungen hat-
ten keine Glasscheiben,
und deshalb fanden En-
len, Fledermäuse zc. freies
Spiel. Sie klammerten
sich au die Lampen und
thaten sich au den: Laman-
tinöl, womit dieselben gefüllt werden, oftmals eine Güte.
Auch die Ausschmückung ist sehr dürftig, von Sammt,
Gold und Silber natürlich keine Rede, wohl aber von
buntem Kattun und allerlei Flitter, der auch recht gut zu
den Spinngeweben paßt und zu dem Staube, der Alles
bedeckt. Selbst der Beichtstuhl ist in sehr gebrechlichem
Zustande; er wackelt. Das Ganze macht einen nieder-
schlagenden Eindruck.
Marcoy gewöhnte sich erst allmälig an die seltsam ge-
kleideten Kirchendiener und die braunen Christen überhaupt,
die sich ihr Gesicht mit rother, schwarzer und blauer Farbe
bestrichen hatten. Das ist eine heidnische Sitte, gegen
welche die Missionäre nichts ausrichten können. Wenn sie
alle, Männer und Weiber, in der Kirche beisammen waren,
Ein Kirchendiener in Sarayacu. (Nach Marcoy.)
sah es etwa aus, als ob „eine Legion Teufel" sich eiuge-
fundcu habe.
Mit der bürgerlichen Verwaltung dieser Ge-
meinde verhält es sich in folgender Weife. Jeder Stamm
bildet eine besondere Gruppe und diese ist in Familien
getheilt; die Varayas oder Vorsteher, „Ueberwacher",
16 an der Zahl, müssen Alles beobachten, was in jeder
Haushaltung vorgeht und davon den 8 Alealden, die alle-
mal 6 Monate im Amte sind, Nachricht geben. Diese
berichten an die vier Gouverneure, und diese ihrerseits an
jedem Abend dein Missionär.
Wer heiraten will, muß drei Monate vor der Hoch-
zeit einen Fleck Landes mit Bananen, Mandioea, Erd-
nüssen n. dergl. bepflanzen, damit er mit seiner Familie
etwas zu leben habe.
Auch muß er einige
Baumwollenstauden pslan-
zeu, damit seine Frau
spinnen und weben könne;
rothen Pfeffer znm Wür-
zen der Speisen, Zucker-
rohr, um Tasia und Sy-
rup zu bereiten, und
Roeon und Genipa, da-
mit er sich sein Gesicht
recht hübsch roth uud tief-
Blau bemalen könne.
Der Zehnte ist eine
bequeme Art, Steuern zu
erheben. Damit ist der
Mayordomo, der Ober-
Hans- n. Hofmeister, be-
auftragt; der Ertrag reicht
aber für die Bedürfnisse
nicht aus und man mnß,
so zu sagen, den Staats-
schätz durch andere Mittel
in gehörigen Stand setze«.
Zu diese«: Zwecke hat
die Mission 4 Matayas,
welche allwöchentlich wech-
seln. Sie müssen die Tafel
des Priors mit Fleisch,
Geflügel und Fischen ver-
sorgen. An jedem Mor-
gen ziehen sie schon vor
Sonnenaufgang aus, be-
Waffnet mit Blasrohr, Bo-
gen und Pfeilen, mit An-
geln und Harpunen und
kehren meist am Abend
mit ihrer Bellte zurück.
Der Feldbau ist unendlich urwüchsig. Der Indianer
der Mission verfährt dabei genau so, wie sein wilder Bru-
der. Er schlägt Bäume und Gestrüpp nieder, läßt Blätter
und Zweige trocknen lind verbrennt sie dann zu Asche.
Sein ganzes Werkzeug besteht in eine«: Schulterblatte
vom Lamantin, das er an einem Stabe befestigt hat. Da-
mit räumt er die Asche auseinander, hackt Löcher, wirft
Samen oder Knollen hinein, und damit ist alle seine Arbeit
gethan. Das Jäten und Ernten ist ausschließlich Sache
der Frauen.
Die Missionäre haben hier, so recht in der Aequatorial-
gegend und zwar im Flachlande, Versuche mit den: Anbau
nützlicher Gewächse aus der gemäßigten Zone
gemacht, und Folgendes sind die Ergebnisse: Pflaumen und
:i;":
Vier Monate zu Sarayacu am Ucayali.
Kirschen aus Chile, Birnen und Pfirsiche aus Peru schlugen
bei Sarayacu durchaus fehl. Man gab sich Mühe mit der
Weinrebe und sie trug anfangs eine zuckerreiche Traube,
nachher aber nur Ansätze kleiner, kümmerlicher Beeren.
Weizen ging nur iu deu Halm und setzte keine Nehren an;
die Kartoffel lieferte im ersten Jahre einige Knollen, im
zweiten nur erneu Klumpen faserigen Wurzelwerks. Ge-
müsepflauzen wie Kohl, Blumenkohl, Lattich :c. wachsen
kümmerlich uud bekommen keine Samenkörner; Knoblauch
und Zwiebeln kommen auch nur armselig fort, und die in
Peru seit 390 Jahreu naturalisirte spanische Bohne (Pha-
seolus Indica) liefert zwar genug Früchte, ist aber iu eigeu-
thümlicher Weise ausgeartet. Dagegen gedeihen Reis,
Mais, Taback, Baumwolle, Maniok, Kaffee, Kakao,
Zuckerrohr, Bananen, Erd-
mandeln uud süße Kar-
toffelu ganz vorzüglich,
fobald der Anbau nur
einigermaßen sorgfältig
stattfindet.
Die auffallende Er-
scheinung , daß man in
uud bei deiu Dorfe gar
feine Fruchtbäume der tro-
pischen Gegenden findet
(wenigstens keine solchen
von irgend bedeutendem
Umfange) erklärt sich aus
der Thatfache, daß die
christlichen Indianer sich
von manchen barbarischen
Gebräucheu nicht losma-
cheu können. Dahin ge-
hört auch die Sitte, daß
sie insgeheim alle Frucht-
bäume umhauen, welche
einer ihrer Angehörigen
gepflanzt hat. Sobald er
gestorben ist, beginnt das
Werk der Vernichtung.
So ist es gekommen, daß
manche von den früheren
Missionären eingeführte
uud akklimatisirte Bäume,
z.B. Mango, Jackabanm,
Goyava, Tamarinde,Brot-
srucht :c. theils völlig ver-
schwundeu, theils sehr sel-
teu geworden sind. Die
Patres haben sich die
größte Mühe gegeben,
einen so nachtheiligen
Wahn zu beseitigen, aber die urwüchsige Barbarei der Wil-
deu ist mächtiger als die geistliche Ermahnung.
Während Frnchtbäume fehlen, wuchert die Auauas in
der allerüppigsten Fülle; sie wird nur mittelgroß, aber Ge-
ruch wie Geschmack sind vortrefflich; das letztere gilt auch
von den Apfelsinen. Der Ackerbau, so geringe Mühe er
auch deu Indianern der Mission verursacht, widerstrebt
trotzdem diesen Indianern der Mission. Sie haben einen
mächtigen Hang in sich, zu jagen und zu sischeu, uud
möchten von früh bis spät in den Wäldern und auf den
Flüssen umherschweifen. Aber es ist doch nothwendig, daß
sie sich einigermaßen nin den Maniok, ans welchem sie ihr
tägliches Getränk (den Mazato) bereiten, nnb um das
Zuckerrohr bekümmern, welches ihnen deu Tafia, Zucker-
Ein Kirchendiener in Sarayacu. (Nach Marcos)
brauutweiu, liefert. Die Missionäre halten aus guten
Gründen streng darauf, daß jeder Indianer eine Pflanzung
hat und in leidlichem Stande erhält; ans gleichen Gründen
sind diePirognen im Hafen, wie wir schon oben sagten, an
Ketten gelegt.
Aber dann nnd wann muß doch Urlaub crtheilt wer-
den, z.B. in der Zeit, da die Schildkröten Eier legen,
und wenn es daranf ankommt, Lamantins zu harpuuireu
und Zngfifche zu fangen. Dann darf der Indianer, je
nach den Umständen, eine Woche bis einen Monat lang
fortgehen, uud die Frauen bleiben daheim. Nun besteigt
eine Gesellschaft solcher Männer die Pirogue und es geht
lustig hinaus aus deu Ucayali. Dort rudern sie stromauf
oder stromab uud gehen Abends ans Ufer, gewöhnlich da,
wo sie eine Hütte befreuu-
deter Wilden finden. Das
Glück ist groß; denn nun
sind sie frei, und das
Erste was sie thun, besteht
darin, Beinkleider uud
Kittel abzuwerfen uud den
Tari überzuhängen, den
einheimischen Sack, wel-
chen sie stets bei sich füh-
reu. Nun sind sie geklei-
det nnd im Gesicht mit
Farben beschmiert wie ihr
wilder Wirth; mit diesem
schweifen sie am Ufer uud
iu deu Wäldern umher
uud schwelgen in dieser
Freiheit. Aber ach, die
schöne Zeit nimmt auch
cht Ende, sie müssen wie-
der nach der Mission zu-
rück uud Beiukleider au-
legen. Ein paar Tage
vor der Heimkehr suchen
sie rasch so viel Fisch und
Wildpret als möglich her-
beizuschaffeu, damit sie
nicht mit leeren Händen
kommen, uud dann spie-
len sie wieder den halb-
civilisirten Menschen, aber
innerlich mit dem größten
Bedanern.
Die Frau hat iuzwi-
scheu für die Kinder ge-
sorgt, gesponnen, gewebt
und das Feld in Ord-
nnng gehalten, anch
für die Rückkehr des Mannes cht gutes Getränk bereit
gestellt. Sobald er wieder kommt, geht sie ihm entgegen,
nimmt ihm das Ruder ab uud schleppt so viel vom Wild-
pret und von den Fischen, als sie tragen kann. In der
Hütte erquickt sich der Mann, indem er reichlich trinkt;
dann geht er von Hütte zu Hütte und erzählt, was er
erlebt hat.
Es ist eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß in Sa-
rayaen die Männer eine Tendenz zur Verwilderung haben,
während dagegen die Frauen besser geworden sind; selbst
die Gesichtszüge haben etwas Weicheres gewonnen, uud die
düstere, melancholische Unbeweglichkeit der Physiognomie
hat einem mildern Ausdruck uud einer gewissen Beweglich-
keit Platz gemacht.
i
t
i
Vier Monate zu Sarayacu am Ucayali.
359
Ein ueugebornes Kind wird in der Sakristei getauft,
und dann erhält der Vater ein Messer, einige Angelhaken
und ein paar Ellen Baumwollenzeug. Die Todten werden
in der Kirche begraben.
Im Allgemeinen ist der Rückschlag zu barbari-
scheu Sitten und Bräuchen bei deu Christen der Mis-
sion viel häufiger und stärker, als die Mönche anzunehmen
scheinen. Alle diese Indianer halten an wunderlichen,
geheimnißvollen Praktiken fest, bei denen Marcoy sie mehr
als einmal überrascht hat. Jeder einzelne Stamm hat
seine besonderen Bräuche und Amulette; er hängt an den
Überlieferungen, die er von seinen Vätern ererbt hat.
Die Wittwe eines Verstorbenen muß ihre Hütte einem
neuvermählten Paar einräumen und ihrerseits mit anderen
Wittwen zusammenwoh-
nen. Sie alle werden auf
Kosten der Gemeinde ge-
nährt und gekleidet und
haben dagegen einige
Handarbeiten zu leisten.
Die Patres haben,
um deu an sie gestellten
Anforderungen zu genü-
geu, große Pflanzungen
von Bauauen, Maniok,
Mais, Bataten u. Zucker-
rohr, dazu auch einen
Park von Schildkröten,
deren immer Hunderte im
Vorrath sind; man fängt
sie am Ucayali. Dazu
kommen dann noch Vor-
räthe von gesalzenen Fi-
scheu, geräuchertem La-
mantinfleisch und derglei-
chen vom Tapir, vom
Affen und vom Peccari.
Daß die Matayas täglich
Wildpret und Fische her-
beiznschaffcn haben, wurde
fchon oben gesagt.
Sehr stark ist der Ver-
brauch des Tafia, des
jnngenZuckerbranntweins,
den alle Indianer tagtäg-
lieh genießen; man erhält
sie dadurch bei guter
Laune. Die Mission lie-
fert viel davon, aber jeder
braune Mann hat überdies
seine eigene Pflanzung, und
das Destilliren nimmt das
ganze Jahr hindurch kein Ende, und eben so wenig das
Tanzen und Musikmachen, denn wer Tafia bereitet hat,
ladet Nachbarn und Freunde zum Kosten ein. Auch bei
den kirchlichen Festen wird tapfer getrunken, nicht minder
wird musicirt, hier aber mit Pfeifen, Tamburin, Cymbeln
und einer großen Trommel, Instrumente, welche Pater
Plaza einmal aus Lima mitgebracht hat. Bei Prozessionen
werden auch Böller abgefeuert, und ein Feuerwerk darf
nicht fehlen. Besonders am Weihnachtsfeste geht es hoch
her, eben so am Feste der Empfängniß, au welchem aber
Morgens kein Tafia verabreicht wird; beim Zug um die
Kirche müssen Alle gesammelt und nüchtern sein. Die
Tänzer springen vor dem Bilde der Jungfrau so hock als
möglich. Unsere Abbildung zeigt, wie es bei dieser Pro-
Ein Chorknabe in Sarayacu. (Nach Marcoy )
zession aussieht. Eigentümlich ist auch der nächtliche Um-
gang, welchen an jedem Montag der Animero hält, um
den Lebenden einzuschärfen, daß sie für die Seelen im Fege-
fener beteu. Ein dazu ernannter brauner Christ muß zwi-
scheu 1 und 2 Uhr Morgens mit einer Glocke schellen und
dabei rufen: „Für die Seelen im Purgatorinm!"
Man begreift, daß ein civilisirter Europäer das Leben
in einer solchen Mission sehr einförmig findet, sobald ein-
mal der Reiz der Neuheit verschwunden ist. Dann und
wann erscheinen indeß christliche Eholos (Mestizen), um
mit den Missionären Handel zu treiben. Sie bringen
Toeuyo, d. h. ein ordinäres Baumwollenzeug, das in
mehren Provinzen Peni's verfertigt wird, und Lona, ein
sehr dichtgewebtes, dickes Packtuch von sehr weißer Baum-
wolle. Dafür erhalten sie
gesalzene Fische, Carotten-
taback und Sassaparille
und werden auch, so lange
sie sich in der Mission be-
finden, frei beköstigt. Zu-
weilen kommt auch ein
Pater aus irgend einer an-
dern Mission auf Besuch.
Marcoy hatte wäh-
reud seines Aufenthalts
iu Sarayacu etwa 1600
Pflanzen gesammelt. Nun
empfand er den Drang,
die einsame Mission zu
verlassen und eröffnete
diese Entschlüsse dem Pa-
ter Plaza. Dieser aber
hatte an den Europäer
noch mehre Anliegen,
welche dem wackern, gast-
freien Manne nicht abge-
schlagen werden durften.
Dahin gehörte die Aus-
besseruug und Wiederher-
stellung der Heiligeubil-
der, welche sich in einem
sehr kläglichen Zustande
befanden. Marcoy und
der Pater fchifften von
Sarayacu nach Eosiaba-
tay, um von dort Gyps
zu holen. Unterwegs ge-
langten sie an eine san-
dige Insel, anf welcher
ein Kreuz errichtet war.
An diesem hing eine an
den Armen und Beinen
festgebundene Jndianerleiche, welcher die Raubvögel deu
Leib aufgehackt und die Eingeweide herausgefressen hatten.
Unweit von dieser Stelle standen einige Hütten der
Sch etibos, in welchen der Pater mit Jubel empfangen
wurde. Die Indianer küßten ihm die Hand und brachten
sogleich einen Trunk, eine geräucherte Ochsenkenle und
Bananen; sie waren mit dem Geistlichen in Sarayacu wohl
bekannt, denn sie schafften alljährlich einigemal Sassa-
parille, Schildkröten und Lamautiuöl dorthin. Während
des Gesprächs wurde Nachfrage nach dem gekreuzigten
Manne gehalten. Die Schetibos lachten und erzählten
dann, der Gekreuzigte fei ein Kaschibo, den sie auf einem
Streifzuge gefangen und für seine Vergehen gezüchtigt
hätten. Als ihnen Vorstellungen gegen ihr grausames
MHUMWKMWWDWWWMWMWWWWWWWWK!
Vicr Monate zu Sarayacn am Ucayali.
Versahren gemacht wurden, gestanden sie ganz unumwunden,
es sei bei den Schetibos ein altes Herkommen, jeden Ka-
schibo, der ihnen in den Weg komme, zu tödten, weil dieser
Stamm Menschen fresse. Jener gekreuzigte Kaschibo wurde
uichtuugskrieg gegen sie. Einerseits machen die Combos,
Sipibos und Schetibos vom Ucayali Jagd auf sie, anderer-
seits werden sie von deu indianischen Christen der alten
Missionen vom Mayro und vom Poznzu mit Flinten-
Koch und Köchin in Sl
aber gefangen, nicht als er seines Gleichen, sondern Schild-
kröteneier verzehrte. Aber sterben mußte er darum doch;
so wollte es ja das Herkommen!
Diese Kaschibos sind ein Bruchtheil des alten, längst
in kleine Trümmer zersplitterteu Pauo- Volkes, desseu
Sprache sie uoch reden. Sie haben vor etwa einem Jahr-
hundert die beiden Ufer des Pachitea verlassen und sich in
ijacn. (Nach Marccch.)
schüsseu begrüßt, wann und wo sie sich sehen lassen. So
kommt es, daß sie gezwungen sind, im Dickicht der Wälder
ein armseliges Leben zu führen. Nur bei Nacht wagen sie
sich an die Flüsse, nm zu fischen oder Schildkröten zu fangen.
Alle gehen nackt; um sich vor den Stichen der Moskitos
einigermaßen zu schützen, graben sie sich Nachts bis an die
Schultern unter deu Sand.
Vereidigung der Varayas (Gemeindevorsteher) in Sarayacu. (Nach Marcoy.)
die Schluchten des Jnquira und Carapacho gezogen, welche Die übrigen Stämme, welche die Lebensweise der Ka-
beide von der linken Seite her in den Pachitea münden, schibos kennen, machen, wie schon gesagt, förmlich Jagd auf
Die übrigen Stämme der Pampa del Sacramento führen sie, besonders wenn jene bei Nacht am Ufer des Pachitea
seit langer Zeit und bis auf den heutigen Tag einen Ver- Schildkröteneier sammeln. Sie schleichen sich heran und
Globus X. Nr. 12.
362 Bier Monate zu S
senden dann einen Hagel von Pfeilen ab; die Kaschibos
suchen heulend in den Wald zu entfliehen, aber das gelingt
nicht allen. Gefangene Männer werden erst gemartert,
dann getödtet, Frauen und Kinder in die Sklaverei ge-
schleppt. —
„Ich hatte vier Monate meine Zelle bewohnt, ruhig
und ungestört meinen Studien und Forschungen hingegeben.
Diese kahlen Wände waren mir lieb geworden, als ich sie
nun verlassen sollte. Gestern noch kamen sie mir wie ein
Kerker vor, jetzt, da ich ihnen für immer den Rücken kehren
wollte, ging mir das Scheiden nahe. Ich mußte mir Alles
in Sarayacu uoch einmal ansehen; ich besuchte die Hütten
und nahm von manchem Indianer Abschied; ich ging in die
rayacu am Ucayali.
gegangen; er wiederholte mir oft, daß Tafia besser schmecke
als Wasser!"
„Um 2 Uhr Mittags bestieg ich das Boot. Die guten
Patres hatten dasselbe vollgepfropft mit Hühnern und
Schildkröten, geräuchertem Fleisch und gesalzenem Fisch,
Bananen und Schnitten Zuckerrohrs. Dazu kamen weit-
ausgebauchte Töpfe mit schwarzem Syrup und mit Tafia,
sodann auch Gefäße mit gemahlenem Kaffee. Das Alles
gefiel mir wohl; weniger dankbar war ich für sechs große
Affen, die gewiß vortrefflich geräuchert waren und für
den Liebhaber ohne Zweifel eine sehr leckere Speise sein
mochten. Mir aber kamen sie vor, wie sechs abge-
schlachtete und geräucherte Negerkinder und ich verspürte
Ein Tänzer in Sarayacu.
Ein Soldat in Sarayacu.
(Nach Marcoy.)
Schmiede und sah, wie Schildkrötenspieße verfertigt wur-
den; ich ging in die Missionsküche und in die Kirche, an
die Zuckermühle und zum Schildkrötenpark. Am andern
Morgen eilte ich au den Hafen, wo ich meinen Piloten
Jnlio fand; er war eben damit beschäftigt, das Pama-
cari (Schatteitdach) des Bootes herzurichten, und freuete
sich auf die Reise, welche wir macheu wollten. Natürlich,
das Vagabundiren auf dem Wasser sagte ihm zu. Er war
früher längere Zeit iu Lima gewesen und hatte dort eine
Art Anstrich von Halbcivilisation bekommen, aber das
Umherschweifen im Wald und das Rudern der Pirogue
ging ihm doch weit über deu Aufenthalt in der Stadt der
Paläste. Von der Civilisation war ihm eigentlich nur
die Liebe zu einem kräftigen Trunk in Herz und Nieren
keine Anwandlung sie zu essen. Sie wurden dem Wasser
übergeben, sobald ich die Mission eine Stunde weit
hinter mir hatte. Meine Bootsleute schrieen Zeter des-
halb und fanden meinen Leichtsinn unverantwortlich, sie
mußten sich indeß fügen und auf geräucherte Affen ver-
zichten."
„Die Wasserfahrt ging eine Strecke lang unter weit
überhängenden Bäumen hin, bis wir in den Ucayali kamen.
Der große Fluß beschrieb eine gewaltige Krümmuug, die
sich am Horizonte verlor; zu unserer Linken war das Ufer-
dicht bewaldet, auf der rechten Seite lag das Gebiet der
Sensts mit den Gipfeln der Sierra de Cuutamaua.
Dann, am Ende der großen Krümmung, fuhren wir am
Eingange des Kanals von Tipicha vorüber bis zu
Die Barbar
jenem des Kanals von Uapaya, in welchen wir hinein-
steuerten, weil er den Weg beträchtlich abkürzt. Die tro-
pische Vegetation an seinen Ufern ist von wunderbarer
Ueppigkeit und über alle Beschreibung mannichfaltig. Zwei
(Stunden lang fuhren wir in diesem Wasser, in welchem es
von elektrischen Gymnoten wimmelte, und wenn einer dieser
Aale, die wie kolossale Blutigel aussehen, von einem Ruder
berührt wurde, zitterte dieses. Darauf gelangten wir in
Die Barbarei
Es hat sich im September des Jahres 1866 ereignen
können, daß auf der Insel Sicilien Schaaren von Banditen
verschiedener Art sich vereinigten und die Hauptstadt Pa-
lermo in Besitz nahmen, ohne von den 200,000 Bewoh-
nern derselben, ohne von der Nationalgarde und den regel-
mäßigen Truppen irgend welchen Widerstand zu finden!
Sie behaupteten sich einige Zeit und man mußte mehr als
39,000 Manu italienischer Soldaten gegen sie aufbieten.
Am Eude wurden sie zerstreut und der König von Italien
blieb Sieger über die Tanseude von Briganten, aber die
„Schmach von Palermo" bleibt eine interessante geschicht-
liche Thatsache.
Was ist das für ein Rühmen und Preisen des Fort-
schritts im neunzehnten Jahrhundert iiub wie hoch wird die
„christlich-europäische Civilisation" gelobt! Es ist nicht weit
her damit, und wenn man die Dinge beim rechten Namen
nennen will nnd den Hochmnthsdiinkel auf unsere Vortreff-
lichkeit, die sich so gern wohlgefällig bespiegelt, bei Seite
läßt, dann sieht man leicht, daß die Barbarei im christ-
liehen Europa gar nicht etwa selten ist; nur tritt sie nicht
überall so nackt und frech auf, wie jüngst in Sicilien, son-
dern hat mehr Firniß und Tünche.
Welch ein Gegensatz, wenn wir das Sicilien der helle-
nischen Zeit mit dem Sicilien der Gegenwart vergleichen!
Welche Blüte in den Tagen, da Syraens, Akragas, Panor-
mos und so viele andere Städte glänzten und die Insel
eine Korn - und Oelkammer war, und nun der Verfall der
Gegenwart! Auch iu der Zeit, als die Araber auf der
Insel herrschten, war diese noch in gedeihlichen Zuständen,
aber durch Spanier, Mönche und Bourboueu ist sie zu
einer Wüstenei und zum Paradiese der Räuber geworden.
Diese sind Freunde der Mönche, und Angaben von sehr
verschiedenen Seiten stimmen darin überein, daß die Mönche
von Monreals bei Palermo Haupturheber der Banditen-
revolte gewesen seien.
Fast die Hälste des Grund nnd Bodens der Insel be-
findet sich in todter Hand, im Besitze der Geistlichkeit.
Diese hat das Volk verwildern lassen, nnd das Schulwesen
befindet sich iu einer Verwahrlosung, von welcher wir in
Nordeuropa uns keine Vorstellung machen können. Die
Regierung des neuen Königreichs Italien hat eine furcht-
bar schwierige Aufgabe gegenüber den eingewurzelten
Mißbräuchen und dem landesüblichen Unfug, mit dem sie
durchaus aufräumen muß. Aber die Hydra hat viele
tausend Köpfe uud die Arbeit wird schwierig sein.
Werfen wir einen Blick aus Palermo und dessen Ver-
Hältnisse. Die Stadt hat eiue wunderbar herrliche Lage
und ist dafür weltbekannt.
in Sicilien. 363
einen See, an welchem einige Hütten der Schetibos standen.
Dann fuhren wir in den Fluß Santa Catalina nach
der gleichnamigen Mission, die 18 Legnas von Ucayali
liegt. Sie ist völlig im Verfall: — eiue Kirche in Ruinen
und Hütten ohne Bewohner, das ist Alles."
Marcoy fuhr dann in den Ucayali zurück und steuerte
denselben hinab nach Nauta, das am Amazonas liegt und
wo die Dampfer anlegen.
in Sicilien.
In der wissenschaftlichen Geographie stellt man den
Satz ans, daß eine Reeiproeität von Natur-
charakter und Volkscharakter in ihrem Wesen
sowohl als in ihren einzelnen Erscheinungen
vorhanden sei. Dieser Satz ist namentlich von Karl
Ritter oftmals stark betont worden, er trifft aber vielfach
gar nicht und häufig nur sehr bedingt zu; wäre er
absolut richtig, so müßten Sicilien nnd Neapel, beides
Paradiese, von ganz vortrefflichen Menschen bewohnt sein;
bekanntlich ist das Gegentheil der Fall. Wir können an
zwanzig und fünfzig anderen Ländern gleichfalls nachwei-
fen, daß der Satz gar nicht zutrifft. Ritter übersah,
daß das authropologisch-ethuologische Element,
daß der Rassen charakter die Hauptsache ist rutd der
Naturcharakter eines Landes nur eine untergeordnete Be-
deutuug iu Anspruch nehmen kann. Wir können das an
Sicilien erläutern.
Die Jusel war blüheud, als sie vou Siculeru und
Hellenen bewohnt war nnd der Einfluß der letzteren vor-
waltete. Aber im Verlaufe der Geschichte ist sie eiu Tum-
melplatz für Völker von sehr verschiedener Art und An-
läge geworden, für Siculcr und Phöniciev, Karthager und
Griechen, Römer und Gothen, Araber und Normannen,
Spanier und Italiener. Aus den Vermischungen derselben
ist ein Typus entstanden, der nicht günstig ausfiel; das
Blut dieser Kreuzungen ist kein glückliches geworden, und
selbst die Italiener des Festlandes heben hervor, daß im
Allgemeinen die Gesichtszüge der Sicilianer, insbesondere
aber auch jene der Palermitaner, viel „Plumpes, Uugra-
ciöses und geradezu Barbarisches" haben. Gewiß hat die
Verdummung, welche von Seiten der Mönche seit Jahr-
Hunderten systematisch betrieben worden ist, Manches zu
dieser Barbarei beigetragen, aber die Hauptursache der
Barbarei und Wildheit liegt doch im ethnischen Cha-
rakter, im Mischlingsblnte.
Der gewöhnliche Tourist sieht eigentlich vou Palermo
nicht viel. Er bewegt sich auf den beiden Hauptstraßen
und den Außenalleen. Er fährt nach Morreale, der Ziza
und San Martino durch die Toledostraße, die jetzt wohl
auch Eorso Vittorio Emmanuele genannt wird, oder durch
die Maqnedastraße nach dem englischen Garten und sieht
dort überall, was er auch in anderen großen Städten Euro-
pa's siudet. Aber dort ist nicht das eigentliche Palermo,
denn die Söhne des Landes, also der Kleinbürger, Hand-
werker, den heruntergekommenen Edelmann, Mönch, Dieb
und Bettler, — diese muß man in den engen Nebengassen
suchen, welche allerdings winkelig und über alle Vorstellung
unreinlich sind, wo die Fensterscheiben durch Lumpen ersetzt
364 Die Barbarl
werden, und manche Häuser den Einsturz drohen. Der
Mensch steht in Palermo nicht in Harmonie mit dein
heitern blauen Himmel und der Pracht des sicilianischen
Pflauzenwuchses.
Wer in Palermo muh erschlendert, findet es auffallend,
daß so wenige Personen weiblichen Geschlechts ans den
Straßen zu sehen sind; man erblickt fast nur Männer, die
obendrein keinen augenehmen Anblick gewähren, denn sie
sind zumeist ganz schwarz gekleidet. Der Palermitaner ist
eifersüchtig wie ein Muselmann, er sieht es ungern, daß
seine Frau das Haus verläßt, — vielleicht eine Erbschaft der
Araber. Auch liegt ja das mohammedanische Nordafrika
nur eine Tagreise entfernt.
Der Bürger von Palermo dagegen ist gern außerhalb
des Hauses. E. Rcclus, der 1865 ©teilten besuchte, schil-
dert ihn eingehend. Er gibt nicht gern Geld ans, sondern
hält den Pfennig fest, als wäre er ein Karthager oder Ära-
ber; felbst Kaffeehäuser und Theater haben für ihn nichts
besonders Anziehendes. Der Rentier miethet sich einSopha
in einem Zimmer an der Toledostraße, betrachtet von dort
ans das ans - und abziehende Menschengewoge, und unter-
hält sich über Stadtneuigkeiten. Er liest nur ausnahms-
weise Zeitungen oder ein Buch; Billard, Damen- und
Schachspiel sind selten; er trinkt nicht einmal ein Glas
Liqncur. Der Zeitvertreib darf nichts kosten außer der
Sophamiethe. Häufig befinden sich diese Zimmer int Erd-
geschoß der Nonnenklöster; die Schwestern wohnen iit den
oberen Stockwerken und vcrmiethcn das untere.
Reelns lernte einen norditalienischen Arzt kennen, der
im Austrage der Regierung eine Statistik des moralischen
Zustandes der Bevölkerung von Palermo entwarf. „Seine
Untersuchungen und Forschungen hatten ihm so gräßliches
Elend, einen solchen Abgrund von Scheußlichkeiten und
Verbrechen entschleiert, daß er darüber in förmliche Ver-
zweifluug geratheu war. Jeden Tag hätte er ans einer
solchen Hölle nach seiner Gebirgsheimat, dem Thale von
Aosta, entfliehen mögen, nnr die Pflicht hielt ihn noch zurück.
Seilte amtlichen Nachweisungen reden deutlich. Im An-
fange des Jahres 1865 lebten in Palermo zwischen vier
nttd fünftausend Angehörige des Geheimbundes der
Maffia. Alle Mitglieder desselben sind soli-
darisch verpflichtet, von Betrug oder Diebstahl
aller Art zn leben. Der größte Theil der Kanslente
und Gewerbtreibenden war gezwungen, den Hanptleuten
dieser surchtbarenBande hohe Abgaben zu zahlen, widrigen-
falls sie sich bedroht und den größten Unannehmlichkeiten
ausgesetzt sahen. Die Stadt befand sich unter dem Bann
nnd in der Gewalt der Maffia, welche eingreifendere
Gewalt übte als die italienische Regierung. Die Einge-
weihten nitd Angehörigen haben ihre Verbindungszeichen,
sie erkennen einander attch am Geberdenspiel, am Blick, an
Berührungen, an geheimnißvollen Wörtern, welche nur sie
allein verstehen. Dolchstiche liefern den Beweis, daß die
Bande auch ihre Richter uitd Henker hat.
Man begreift leicht, welche Wirkung eine solche atts
Tausenden von Verbrechern bestehende Bande auf den ge-
fammten Verkehr ausübt; sie wirkt lähmend und einschüch-
ternd auch auf Gewerbe und Handel. Dazu kommt noch
die Trägheit der Palermitaner, und so erklärt sich, daß eine
fo volkreiche Stadt sehr arm ist."
Als Reelus 1865 seine wissenschaftliche Wanderung
durch Sieilien unternahm, wurde das Land noch durch eine
weit gefährlichere Plage heimgesucht. „Die Umgegend von
Palermo uud deu Provinzen Trapani nitd Girgettti waren
eine Beute des Brigandaecio. Das Banditenthnin
stand in vollent Flor. Iit Folge der politischen Verättde-
in Sieilien.
rungen war die ohnehin schlaffe Verwaltung uoch schlaffer
geworden. Die sicilianischen Räuber, Gauner uud Diebe
sind wie Beduinen, nur daß sie Jacken und nicht den Bur-
nus tragen; sie durchzogen weit und breit das Land und
beraubten die Reiseitdett, welche in die Gewalt dieses Ge-
sindels fielen. An verschiedenen Punkten hatten sich anfangs
kleine Banden gebildet; diefe erhielten starken Zuwachs
durch Tansettde von jungen Leuten, welche der Militäreon-
seription entflohen. Regelmäßige Rekrutenaushebungen
waren früher in Sieilien nicht vorgekommen. Als die ita-
lienifche Regierung dergleichen anordnete, flohen die jungen
Männer massenweis, und ein beträchtlicher Theil schloß sich
den Briganten an. Von da an hörte alle Sicherheit iit den
westlichen Provinzen auf, selbst die größeren Städte sahen
sieh bedroht, uud mehrmals wagten die Banden sich
bis in die Vorstädte von Palermo. Die Briganten
fanden stets eine Zuflucht in abgelegenen Dörfern; ein
Theil der Bauern gehört zu deu Baudeu, ein anderer ist
eingeschüchtert uud muß sich fügen. So kommt es, daß die
Räuber, welche ohnehin jeden Weg und Steg kennen, vor
ben Angriffen der Soldaten sicher sind. Höchstens kommt
es zu Scharmützeln, zu Kämpfen aus dem Hinterhalt nttd
zu einer Menge einzelner Mordthaten. Dabei und dadurch
ist bann ein Zustaud der Barbarei ius Leben gerufen
worden, dem nur eiu Ende zu machen ist, wenn man eine
ganze Armee gegen die Banden ins Feld schickt."
Aus diesen Mittheiluugeu des französischen Reisenden
erklären sich die Vorgänge, welche im September 1866 das
Staunen vou gauz Europa in so peinlicher Weise in An-
spruch nahmen. Ein Berichterstatter aus Jtalieu schreibt:
„Es möchte fast einzig in der Geschichte der civilisirten
Staaten dastehen, daß ein paar tausend Strolche, Räuber
uub Deserteure eine Stadt von 200,000 Einwohnern, Sitz
zahlreicher Behörden, dazu ant Meere gelegen uud also iit
reger Verbindung mit der übrigen Welt, überfallen nttd
sich fast ohne Gegenwehr zu deren Herren machen." Be-
zeichnend ist folgender Bericht des Präfekten von Palermo,
Torelli, an den Provinzialrath, vom 3. September 1866:
„Sieilien weist so viele ausgezeichnete Männer in allen
Zweigen auf, daß es in dieser Hinsicht keinen andern Theil
Italiens zu beneiden braucht. Dies sntd Kräfte, welche
der tödtlichen Einwirkung der Regierung entgingen und
sich trotz aller Hindernisse entwickelten. Aber die seit Jahr-
Hunderten geknechteten Massen sind dem traurigen Ein-
fluß erlegen, und so haben wir eine Bevölkernng,
welcher es für ein Verbrechen gilt, die Behör-
den bei der Ermittelung der Verbrecher zu
unterstützen. Wir fiuden die Meinung eingewurzelt,
daß derjenige für ehrlos gilt, welcher sich dazu herbeiläßt.
Es wird nicht blos als fein Uebel, sondern als eine Pflicht
angesehen, denen zur Flucht behilflich zu sein, welche von
der Justiz aufgesucht werden. Wir sehen, daß sehr wenige
ben Muth haben, als Ankläger aufzutreten, und daß oft
auch diejenigen sich zurückhalten, welche bei den Anklagen
am meisten interessirt finb. Und darin liegt die entsetzliche
Hemmung, durch welche zum großen Theile die Kraft der
Behörden gelähmt wird."
DerPräfekt Torelli erzählt bann dafür einige „schmerz-
liche Beweise, von betten einige ans Unglaubliche streifen".
Einem Gutsbesitzer wurden 16 Stück Ochsen gestohlen;
er klagte nicht und die Polizei erfuhr von dem Diebstahle
durch Hörensagen. Einige Tage später fand man die
Ochsen. Der Gutsbesitzer wurde vorgeladen, stellte aber in
Abrede, daß die Ochsen gestohlen worden seien; sie wären
fortgelaufen uud die Behörde habe sich nicht in die Sache
zu mischen! Offenbar wagte er nicht zu sagen, daß man
Die Barbarei
ihn beraubt habe; er fürchtete die Rache der Briganten.
— Uebrigens sind jene in Sieilien nicht so raffinirt und
grausam, wie manche Banden in Calabrien und in den
Abrnzzen; der siciliauische Brigant ist feig und so unter-
thänig, daß er gegen reiche und vornehme Reisende, welche
in seine Hände fallen, manchmal sich servil benimmt. Ein
italienischer Ingenieur wurde von den Schnapphähnen auf-
gehoben; der Hauptmann rief seiner Bande zu:
„Grüßt Seine Excellenz; er ist eiu vornehmer Mann!"
Dicht neben dem Ingenieur wurde gleichzeitig eiu
armer Fuhrmann so entsetzlich geprügelt, daß er im Blute
schwamm.
Es fragt sich sehr, ob der Brigandaecio nur eiu vor-
Übergeheudes Uebel in Palermo und überhaupt in Sieilien
sei, und ob in einer so großen Stadt die Maffia überhaupt
verschwinden werde. Unglückliche Rassenmischnng, heilloses
Pfaffenregiment und bonrbonischer Absolutismus haben
gemeinschaftlich gewirkt, um die Massen in einen Znstand
der Barbarei zurückzuwerfen, die geradezu abscheulich ist.
Welch ein Abstand heute gegenüber der Blüte Siciliens zur
Zeit der Helleneu und selbst der Araber, also der Heiden
und der Mohammedaner!
Wir wollen unfern Gewährsmann, welcher sich zur
katholischen Kirche bekennt, nach Messina begleiten und
erzählen, was er dort gesehen hat. Nachdem er bemerkt,
daß Palermo ungefähr 200 Kirchen und Kapellen zähle,
ohne daß mau darum eine Verbesserung der Jmmoralität
und Verwilderung der Massen bemerken könne, schildert er
eine Feier, welche zn Ehren des Apostels Paulus abge-
halten wurde. Ganz Messina war auf den Beinen; Tau-
feude von Menschen hielten einen Umzug und machten vor
allen Oratorien, Kirchen und Klöstern Halt. Der Umgang
war von kirchlicher Art, aber in der Menge zeigte sich nicht
die geringste Spur von jener Andacht und von jenein Ernst,
welchen die Katholiken der nördlichen Länder bei Kirchen-
festen zu bewahren wissen. Was sich in Messina begab,
bildete dazu einen höchst unerbaulichen Gegensatz. Die
Menge lärmte, als ob sie trunken sei. Den Zug eröffneten
einige junge Leute in Mönchskleidern; sie trugen ans den
Schultern ein großes vergoldetes Holzbild, das mit einem
Lappen rothen Tuches umwickelt war. Dabei sangen sie
mit lauterKehle Lieder, die wohl religiösen Inhalts waren.
Man verstand aber von den Worten nichts, weil die Buden-
inhaber ihre Zuckerwaaren und erfrischenden Liqnenre oder
Limonaden noch viel lauter ausschrieen und die Gassenbuben
unter Hellem Jubel den Leuten Schwärmer zwischen die Beine
warfen. Vor jedem Kloster wurde Lärm und Getöse wo
möglich noch infernalischer. Ganze Rudel von Knaben
hingen sich an die Glockenseile und zogen mit aller Macht,
die Bettelmönche setzten ihre Schellen in Bewegung und
forderten Almosen, die Trommeln wurden gerührt und
Raketen flogen in die Luft. Es war geradezu peinlich in
diesem Durcheinander von Staub, Lärm und Schwefel zu
athmen. Endlich hielt der Zug vor dem großen Eingangs-
thore der Kathedrale und es hatte einen Augenblick den
Anschein, als ob die tobende Menge sich etwas anständiger
benehmen wolle; aber dem war nicht so, die dichte Masse
theilte sich plötzlich, weil ein Bettelmönch zur Erde gefallen
und das von ihm gesammelte Geld umher zerstreut war.
Die Träger der Apostelstatue legten diese sofort an den
Boden und bemühten sich, um die Wette mit den Straßen-
i in Sieilien. 365
jungen und unter allgemeinem Lachen aller Uebrigen, auch
ihren Autheil an der Beute zu sichern.
Diese Panlnsfeier ist aber nicht das Hauptfest in Mes-
sina; das Fest der Barra, welches in den August fällt,
gilt für noch viel „großartiger". Dann wird .nicht blos
ein Bild durch die Stadt getragen und die Festlichkeiten
sind nicht aus einen Tag beschränkt, sondern das Singen,
Schreien und Lärmen nimmt drei volle Tage in Anspruch.
Da sieht man Riesengestalten aus Pappe mit rother Kehle
und gewaltigen Zähnen, und sie sind allemal sicher, von der
Masse bejubelt zu werden. Hinter ihnen zieht ein Kameel
umher, gefolgt von Reitern, die wie Saracenen gekleidet
sind; als „Ungläubige" werden sie von der „christlichen"
Menge verwünscht und ausgezischt. Daun zieht eine reich
verzierte Galeere auf; sie soll daran erinnern, daß einst
während einer Hnngersnoth einige mit Getreide beladene
Schiffe unverhofft in den Hafen einliefen, aber sofort ver-
schwanden, als das Korn ausgeladen war. Aber was will
das Alles sagen gegen den großen Triumphwagen der
Barra, der fast 49 Fuß hoch und von einer dichtgedrängten
Menschenmenge umgeben ist! Er stellt bicAssumptio Vir-
gils dar, von der Erde bis zum höchsten Himmelsranme.
Auf dem innern Gerüst stehen 12 messinesische Jünglinge,
als Apostel, um ein Paradebett, auf welchem eine Puppe
liegt; diese stellt die Jungfrau dar. lieber derselben prangt
zwischen hölzernen Wolken eine gelbe Kugel, die Sonne;
sie ist mit langen Stacheln bespickt, welche die Strahlen
vorstellen, und an denselben halten sich kleine Kinder fest.
Noch höher kommt der Himmel selbst, eine hohle Halbkugel
mit gemalten Sternen und lebendigen Cherubim, und ganz
oben auf der Spitze der Pyramide befindet sich die Seele
der heiligen Jung fr an. Diese Seele wird dargestellt
durch ein kleines, mit Blnmen und Bändern aufgeputztes
Mädchen, das zur Rechten Gottes sitzt.
Der ungeheuere Wagen bewegt sich hin und her schau-
kelnd inmitten des zahlreichen Geleites von Priestern, Mön-
chen, Beamten und Soldaten; jeder ist in Gala gekleidet,
die Kanonen erdröhnen, die Glocken aller Kirchen werden
geläutet und die Menschen jubeln. Allerdings sind die Mes-
sinesen der Mutter Gottes großen Dank schuldig; sie hat
ihnen einmal eine Locke vom eigenen Haar geschickt und sie
eines ganz besondern Schutzes versichert. Die Volksmasse
hat das von den Mönchen gehört und findet keinen Grund,
an der Wahrheit zu zweifeln.
Wenn aber nur ein wenig Arbeitslust in diese Messinesen
gebracht worden wäre, ein bischen (Zivilisation und Ehr-
gefühl ! Aber die Bettelei steht bei einein großen Theil die-
ser höchst gläubigen Leute in größerm Ansehen als ehrlicher
Erwerb und rechtschaffene Thätigkeit. Die Stadt wimmelt
geradezu von faullenzendem, bettelndem Gesindel, und der
Schulunterricht, die Erziehung überhaupt, ist in einem ab-
scheulichen, geradezu trostlosen Zustande. Auch die besseren
Klassen sind ohne regen Trieb, und fast der ganze Handels-
verkehr ist in den Händen von Ausländern: Deutschen,
Engländern, Franzosen und Norditalienern. Messina ist
voll des ekelhaftesten Schmutzes. Wenn Reinlichkeit für
einen Maßstab der (Zivilisation gelten kann, und das glau-
ben wir allerdings, dann steht die Mehrzahl der Sicilianer
und insbesondere der Messinesen ans einer Stufe, wo die
Eivilifation gar nicht mehr vorhanden ist, wohl aber die
dicke Barbarei.
366
Aus Samuel White Bakers Reise in die Region der Nilquellen.
Aus Samuel White Bakers Neise in die Region der Nilquellen.
in.
Zur Kennzeichnung der schwarzen Völker im Sudan. — Betrachtungen über die Rassenverhältnisse. — Negerfreiheit und Neger-
faulheit. — Der schwarze Geograph Jbrahimawa. — Die Makkarika-Kannibalen. — Aufenthalt in Obbo. — Das Pfeifenmnster
als Kennzeichen des Stammes. — Sprachliches. — Der Häuptling Katschiba als Herrscher, Zauberer, Regenmacher und Familien-
vater. — Bakers Ausflug zum Asua und nach Farajoke. — Rückreise nach Tarrangolle in Latnka. — Die ersten Nachrichten über
Magungo und den See. — Mangel an Salz in Latnka. — Rückkehr nach Obbo. — Entdeckung des Sees.
Samuel Baker verließ am 2. Mai 1.863 Latnka, ging
über den Fluß Kanieti, überschritt die Madiberge,
welche sich bis zu etwa 5900 Fuß erhoben und fand alle,
etwa 2000 Fuß hohen Ausläufer mit schwer zugänglichen
Dörfern bebauet. Er ging zunächst nach Obbo.
Bevor er seine Weiterreise antritt, entwirft er ein
Charakterbild der afrikanischen Völker, mit wel-
chen er bis dahin in Berührung gekommen war. Es ist
jedenfalls von Interesse, gerade jetzt, wo der „allmächtige
Neger" von den PseudoPhilanthropen und den Gegnern
der anthropologischen Wissenschaft in einer ganz ungerecht-
fertigten Weife idealisirt wird, die auf eigener Beobachtung
fußenden Bemerkungen eines vorurtheilsfreien Reisenden
kennen zu lernen. Er buhlt uicht um den Beifall jenes
Publikums, das für die Missionen in Afrika Geld gibt
und sich an den Berichten der Missionäre erbauet. —
„Der schwarze Mensch, so sagt Baker, ist eine selt-
same Anomalie. Die guten und schlechten Eigenschaften
der menschlichen Natur brechen bei ihm ohne jegliches
Arrangement hervor, gleich den Blumen und Dornen seines
wilden Landes. Er ist eine Creatur, die uach angenblick-
lichen Wallungen handelt und aus welche das Nachdenken,
die Reflexion, nur selten Einfluß übt. Der schwarze Mensch
setzt uns in Erstaunen durch seinen völligen Stumpfsinn
und bringt uns in eine gewisse Ueberraschung durch ganz
unverhoffte Handlungen, welche von seiner Theilnahme
zeugen. Meine ans langer und mehrjähriger Erfahrung
fußende Beobachtung der afrikanischen Wilden hat mich
überzeugt, daß es abfurd fei, deu Neger in toto zu ver-
dammen, aber es ist auch nicht minder ungerechtfertigt, seine
intellektuelle Fähigkeit jener des weißen Menschen gleich-
zustellen. Es ist unglücklicherweise (— in England uud
iu anderen Ländern bei unkundigen Phantasten —) Mode
einer Partei, den Neger als ein snperiores Wesen hin-
zustellen, während eine andere Partei (— die gleichfalls
irrt —) ihm die gewöhnliche Menschenvernunft aberkennen
möchte. Schon eine so große Abweichung der Ansichten
über deu innern Werth des Negers deutet darauf hin, daß
wir es hier mit einem ganz besondern Wesen zu thun haben,
mit einer eigenartigen Varietät."
„So lange man bei der Ansicht bleibt, daß der Neger
und der weiße Mann vermöge derselben Gesetze zu regieren
uud auf ein und dieselbe Weife zu leiten seien, so lange
wird auch der Neger ein Pfahl in: Fleische jedes Gemein-
Wesens bleiben, das so unglücklich ist, ihn in seiner Mitte
zu haben. Wenn einmal Pferd uud Esel iu demselbeu Ge-
spann gleichen Schritt halten können, dann werden auch der
schwarze und der weiße Mann unter einem und demselben
Regiments gleichmäßig anziehen. Der große Jrrthum,
welcher darin liegt, daß man gleich machen will, was doch
ungleich ist, hat dahin geführt, daß man andererseits den
Charakter des Negers allzutief stellte."
„Wie stellt sich der Afrikaner in seiner wilden Heimat
dar? Gewiß sehr schlimm, aber doch nicht so schlimm wie,
meiner Ansicht zufolge, der weiße Mann unter ähnlichen
Verhältnissen erscheinen würde. Er handelt gemäß den
schlechten Eigenschaften, welche in der menschlichen Natur
liegen, aber wir finden bei ihm keiue raffiuirten Laster,
wie dergleichen in eivilisirten Ländern vorkommen. Der
Stärkere beraubt deu Schwächern, ein Stamm führt Krieg
mit dem andern; — ist das in Europa etwa uicht der Fall?
Die Neger machen einander zu Sklaven; — wie lange ist
es her, daß England und Nordamerika keine sklaven-
haltenden Länder sind? Er ist widerspänstig und undank-
bar, — aber kommt in Europa keine Undankbarkeit vor?
Er ist verschmitzt uud ein Lügner von Haus aus, — ist
aber in Europa Alles Wahrhaftigkeit uud Aufrichtigkeit?"
„In frühester Jugend ist das Negerkiud dem weißen an
intellektueller Raschheit voraus, aber seinem Geiste fehlt
die Erpansion; es verspricht Früchte, aber nichts reift, uud
der Neger ist als Mauu au Körper groß geworden, wäh-
rend er an geistiger Entwicklung nicht fortschritt."
„Ein junger Hnnd von einem Vierteljahre ist einem
dreimonatlichen Kind intellektuell überlegeu, aber bei dein
letztern entwickelt sich der Verstand, während der Hund ein
bestimmtes Maß nicht überschreitet. Das Küchlein sucht
uach Futter, sobald es aus dem Ei gekrochen ist, während
der junge Adler hilflos in seinem Neste liegt, aber das
junge Huhn bald überholt. Die Erde bietet eine wunder-
bare Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit in Bezug auf
Meufcheu, Thiere uud Pflauzeu dar. Das Vorhandensein
von hundert Varietäten des Hundes hindert nicht, daß sie
alle einem und demselben Geschlechte angehören; aber
Windhunde, Bullenbeißer, Spitz, Pudel, Hühnerhunde ?c.
siud in ihren besonderen Begabungen, Anlagen uud Iu-
stinkteu nicht minder verschieden, wie die Varietäten des
Menschengeschlechts. Die wilden Trauben im Walde sind
auch Beeren uud die gemeine Hundsrose ist auch eiue Rose,
aber die Muskatellertraube und die Centifolie sind doch
ganz anders."
„Gemäß dem großen Systeme der Schöpfung sind die
Rassen nach geheimnißvollen Gesetzen getheilt und in
Unterabtheilungen gesondert; jede einzelne hat ihre beson-
deren Eigenschaften, und die Varietäten des Menschen-
geschlechts haben besondere Merkmale und Eigenschaften,
vermöge deren sie speeisifchen Oertlichkeiten angepaßt sind. -
Der natürliche Charakter solcher Rassen ändert sich nicht,
wenn sie die Lokalität wechseln, sondern der Instinkt einer
jeden Rasse entwickelt sich, wohin mau sie auch versetzen
möge. Der Engländer ist ein Engländer in Australien,
Indien uud Amerika uud eben so wird der Afrikaner
überall mit seinen natürlichen Instinkten Neger bleiben.
Diese natürlichen Instinkte bestehen aber in einem Hange
zur Trägheit und zur Verwilderung, und der Neger wird
Aus Samuel White Bakers R
gauz zuverlässig iu Faulheit und Wildheit zurücksinken
überall, wo er nicht unter spezieller Leitung steht und zum
Fleiße gezwungen wird."
„Daß das wahr und richtig ist, ergibt sich auch aus der
geschichtlichen Erfahrung. Ueberall, wo man ihn des
Zwanges enthob, sand ein Rückschritt statt. Er wird wild
wie ein Pferd ohne Zaum und Geschirr, aber wenn man
dem Neger eilten Zaum einlegt und anschirrt, ist er ein
höchst nützliches Geschöpf. Diese Wahrheit will, nuglück-
licherweise, der öffentlichen Meinung in England nicht ein-
leuchteu; hier maßt sich die vox populi das Recht an, über
Dinge und Menschen, von denen sie durchaus nichts ver-
steht, ein Urtheil zu fällen. Die Engländer wollen nun
einmal ihr eigeues Maß und Gewicht als für Alle gültig
hinstellen und die große Masse, welche den Neger persöu-
lich gar nicht kennt, hat ein für allemal dekretirt, daß er
ein schlecht behandelter Bruder sei, eiu sehr würdiges Mit-
glied der menschlichen Familie, welches lediglich durch
Unwissenheit und Vorurtheil der weißeu Meuscheu, mit
welchen ihm gleiche Stellung gebühre, in eine untergeord-
uete Lage gedrängt worden sei!"
„Der Neger wird vielfach mißverstanden. Das schreck-
liche System der Sklaverei kann man streng verdammen,
aber die Ergebnisse und Folgen der Emaneipation haben
deu Beweis geliefert, daß der Neger deu Segen der Frei-
heit nicht zu würdigen versteht und daß er nicht das ge-
ringste Gefühl von Dankbarkeit gegen Diejenigen hegt,
welche seine Ketten brachen. Sein höchst beschränkter Geist
kann das Gefühl reiner Philanthropie nicht begreifen; die
Antisklavereibewegnng faßt er als einen Beweis dafür auf,
daß er eiue höchst wichtige Persou sei. Demgemäß führt
er sich auch auf; er ist ein viel zu großer Mauu, als
daß er arbeiten möchte. In diesem Punkte tritt sein
Grundcharakter gauz deteriuiuirt zu Tage; er will von
keinerlei Zwang etwas wissen; sobald er frei ist, verlangt
er sofortige Gleichheit mit Dem, welchem er bislang dienst-
bar gewesen; er usurpirt mit ganz abgeschmackten Prätcn-
sionen eine Würde, zu welcher ihm Alles fehlt und er wird
unfehlbar den Weißeu widerwärtig. So kommt es, daß
zwischen deu beiden Rasseu Abneigung und Haß entsteht."
„Die Sonne ist der große Schiedsrichter zwischen dem
weißen und dem schwarzen Menschen. Es gibt Erzeugnisse,
welche eivilisirteu Ländern nothwendig sind, die aber nur
in tropischen Klimaten, wo der Weiße im freien Felde
nicht zu arbeiten vermag, erzeugt werden können. In
solche Gegenden hat man den Neger als Sklaven gebracht.
In seiner afrikanischen Heimat war er ein Wilder und
Sklav seiuer Mitwilden; er wurde, als man ihn kaufte,
eiu Opfer seines eigenen Systems, der Sklaverei, welche in
Afrika einheimisch ist und welche der Neger nicht etwa vom
weißen Mauue gelernt hat. Als Sklav mußte er arbeiten,
und die Länder, wo er arbeitete, gediehen. Plötzlich wurde
er befreit und von demselben Augenblick an wollte er auch
nicht mehr arbeiten. Nun hörte er auch sofort auf, eiu
nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu [ein,
er wurde vielmehr eine unnütze Last, ein Uintriebler und
Ränkeschmied, erfüllt vou Haß gegeu denselben weißen
Mann, welcher ihn freigemacht hatte."
„DerNeger wurde geholt, um zu arbeiten; jetzt will er
nicht mehr arbeiten und wozu ist er nun nütze? Entweder
muß man ihn zur Arbeit zwingen, indem man strenge
Gesetze gegeu das Vagabundiren erläßt, oder die schönen
Länder, welche prosperirten, so lange der Neger arbeiten
mußte, geheu bei Negerfreiheit und Negerfaulheit zu
Grunde. Unter einer speeiellen Aufsicht und Führung
kann der Neger, sobald man ihn einem gewissen Zwang
: in die Region der Nilquellen, 367
unterwirft, wie schon gesagt, ein nützliches Geschöpf sein;
behandelt man ihn im Gegentheile, als wäre er ein Eng-
länder, so wird er alle Laster und keinen einzigen Vorzug
der Civilisatiou zeigeu uud was er vou Haus aus an guten
Eigenschaften hat, wird bei feiuem Verfnch, ein „weißer
Mann" zn werden, in die Brüche gehen." —
Das sind die Ueberzengnngen Bakers über deu Neger
uud dessen Stellung in der Welt. Ansichten und Urtheil
eiues Mannes von praktischer Erfahrung und Beobach-
tuug sind mindestens eben so viel Werth als die sentimen-
teilen Phantasien von Geistlichen, eilten und jungen Damen
und Theoretikern, welche den schwarzen Menschen nur als
Rarität iu Europa gesehen haben.
Baker sagt, es sei ihm immer merkwürdig gewesen zu
beobachten, welch eine Wandlung in einem Sklaven vor-
gehe, der vou den türkischen Sklavenfängern in ihrer Art
eivilisirt worden sei. Unter ihren Leuten befanden sich
manche Neger, die einst selber geraubt worden waren, und
denen uuu das Leben und Treiben der Sklavenfänger
völlig zusagte. Sie hatten sich bald an die Razzias ge-
wöhnt, Vieh - und Menschenraub war ihre Lust, uud das
erste, wonach solch ein Sklav trachtete, war, sich selber einen
Sklaven zu verschaffen. Die gewandtesten Menschenjäger,
die kecksten, gewalttätigsten Schurken waren allemal
Neger, die meist selber dasselbe Schicksal erlitten, welches
sie nun Anderen bereiteten. Solch ein Bnrsch würdigt sich
nicht so ties herab, auf dem Marsche sein Gewehr zu tra-
geu, dafür hatte er seinen Sklavenknaben, welcher dem
Herrn und Gebieter, der iu affenartiger Weise sich benahm
und äußerst wichtig machte, die Flinte hinter her trug. Eine
Sklavin mußte ihm Korb, Kochtopf, Lebensmittel und eine
mit Wasser gefüllte Kalebasse nachschleppen; endlich trug
eiu Mauu, welcher in dem Lande, wo man sich eben befand,
gemiethet worden war, einige Kleider dieses stolzen Herrn
und die Ochsenhaut, auf welcher er schlief. Der Geraubte
wurde Räuber, der vormalige Sklav ein Gebieter; aber
zwischen ihm und dem Araber war doch der Unterschied,
daß der Schwarze eiue ganz ungeheuere und absurde Vor-
stellung von seiner eigenen Würde hatte.
Unter den Leuten Ibrahims befand sich auch ein Ein-
geborner aus Bornn, der Ibrahimawa hieß. Er war
als zwölfjähriger Knabe geraubt worden, nach Aegypten
und Konstantinopel gekommen, in London und Paris und
während des Krimkrieges auch in Kertsch gewesen. Reisen
war seine Lust, er hatte eiue gewisse Liebhaberei für
Geographie und Pflanzenkunde uud bildete unter den
Leuten seiner Partie eine bemerkenswerte Ausnahme.
In Aegypten war er seinem Herrn entlaufen, stolzirte
eine Zeitlang gut gekleidet in Chartum auf den Straßen
umher und verthat sein bischen Geld und nahm dann als
„Handelsmann" auf dem Weißen Nil bei Chnrfchid Aga
Dienste. Er war ein Prachtexemplar eines Negers; bei
ihm war von den natürlichen Instinkten nichts verloren
gegangen. Seine Genossen überragte er ganz entschieden;
zwar wußte er blutwenig, hatte aber eine so übertriebene
Vorstellung vou seinen Kenntnissen, daß seine Gefährten
sich über ihn lustig machten; sie und die Araber haßten
ihn auch, weil sein Hochmnthsdünkel alle Grenzen über-
schritt.
Dieser Jbrahi.mawa erzählte gern von seinen Aben-
tenern und Erlebnissen, schnitt aber ganz ungeheuer auf.
Aber seine natürliche Anlage zur Geographie War bemerkens-
Werth; er kam oft zu mir und zeichnete mit einem Stecken
Karten über die von ihm besuchten Länder in den Sand,
knüpfte aber allemal Erzählungen in seinem Styl daran.
Mich interessirte am Meisten, was er von den Gegenden
368
Aus Samuel White Bakers Reise in die Region der Nilc,uellen.
an der Westseite des Weißen Nils erzählte. Er war
einige Jahre mit einer Partie dort umhergestreift und bis
zu den Makkarika gekommen, einem Kannibalenvolke,
das etwa 200 Miles westlich von Gondokoro wohnt. Er
sowohl wie andere Leute von Ibrahims Partie waren oft-
mals Zeugen kannibalischer Handlungen gewesen. Die
Makkarikas, so erzählten sie, wären sonst ganz nmgäng-
liche Menschen, hätten aber eine ganz besondere Liebhaberei
für Hunde- und Menschenfleisch. Sie schlössen sich den
Zügen der Haudelsleute au und fraßen allemal die wäh-
rend der Razzias Erschlagenen ans. Auch wurdeu sie da-
durch lästig, daß sie allemal darauf drangen, die Frauen
und Kinder, welche von den Handelsleuten als Sklaven
mitgenommen wurden, todtschlagen und fressen zn wollen.
Es ist bei ihnen Brauch, daß sie ein Kind am Fußknöchel
packen und den Kopf gegen den Boden schlagen; dann
schneiden sie den Bauch auf, ziehen Magen und Eingeweide
heraus, binden die Beine über den Nacken fest, werfen die
Leiche über die Schulter uud tragen sie so nach dem Lager-
platze; dort wird sie zertheilt und gekocht.
Einer meiner eigenen Diener war in Gondokoro Augen-
zeuge einer kannibalischen Handlung gewesen. Die Handels?
lente waren mit Elfenbein aus deu westlichen Gegeudeu
her angelangt; die Träger der Elephantenzähne waren
Makkarikas, und unter der Bente fehlten natürlicherweise
Sklavinnen nicht. Eiue derselben versuchte zu entlaufen;
ihr Eigentümer holte sie ein, traf sie mit einer Kugel und
streckte sie zn Boden. Sofort stürzten eine Anzahl Makka-
rika's über sie her, zogen ihr, als sie noch lebendig war,
das Fett aus dem Leibe uud gerietheu dabei iu Zank und
Streit. Inzwischen wurde sie von Anderen mit Lanzen-
suchen getödtet und mit den Lanzenspitzen, die als Meffer
benützt wurdeu, der Länge nach auseinander geschnitten.
Die vielen Sklavinnen und deren Kinder, welche bei diesem
Auftritte zugegen waren, liefen weg und kletterten in die
Bäume. Die Makkarika's rannten ihnen nach, rissen
Kinder von den Aesten herab, schlugen mehre tobt und
veranstalteten dann ein gemeinsames Festessen. Mein
Diener Mohammed, der diese Scheußlichkeiten mit ansah,
erklärte mir, daß er mehre Tage lang gar keine Speise
habe genießen können, so entsetzlich habe ihn das Ganze
angeekelt.
Wir sagten weiter oben, daß Baker in den ersten Mai-
tagen des Jahres 1863 Latnka verlassen habe und nach
Obbo gegangen sei. Unterwegs kam er mehrmals durch
ungemein liebliche Landschaften und über eine Hochebene,
welche die Wasserscheide zwischen Osten und Westen bildet.
Obbo, ein großes Dorf, liegt 40 Miles südwestlich
von Tarrangolle, dem Hauptquartier des Reisenden in
Latnka. Die Eiugebornen sind von den Latnka's in Ans-
sehen und Sprache ganz verschieden. Ganz unbekleidet
gehen sie nur iu den Krieg uud dann bemalen sie sich mit
rothen und gelben Streifen; für gewöhnlich tragen sie eine
Antilopen- oder Ziegenhaut über deu Schultern. Ihr Ge-
ficht ist gut gestaltet und die Nase fein geschnitten; der
Kopfpntz sieht hübsch aus; das wollige Haar ist wie
ein Biberschwanz geflochten.
Das ganze Land südöstlich von Obbo ist gebirgig und
die höchsten Gipfel erheben sich 4000 bis 5000 Fuß über
das allgemeine Niveau des Laudes; uach Südeu hin ge-
wahrt man nur eiuzelue Hügel, aber das Geläude steigt
sehr wahrnehmbar; der Abzug der Gewässer geht uach
Westen und Nordwesten, und der Abfall des Geländes nach
dieser Richtung hin ist sehr deutlich zu erkennen. Die Vege-
tatton in Obbo uud auf der gauzeu Westseite des Gebirges
ist verschieden von jener auf der Ostseite, der Bodeu sehr
fruchtbar, uud das Guineagras wächst ungemein üppig.
Man bauet neun Varietäten der Mmswurzel, uud manche
derselben wachsen auch wild in den Wäldern, in denen
man auch die Arachis (Erdeichel) uud manche andere ge-
meßbare Früchte wild findet; auch cht feiner Flachs kommt
wild vor, doch benützt das Volk mehr die Fasern einer
Aloeart. Der Taback erreicht eine ungemeine Höhe.
Die reifen Blätter werden in einem Mörser zu einer Art
Brei zerstoßen, in eine kegelförmige Holzform gethan und
dann gepreßt. Man läßt deu Brei hart werden uud er
sieht dann aus wie ein Zuckerhut; die Leute in Ellyria
dagegen geben ihm die Form unserer runden Käse und
versetzen ihu mit — Kuhdünger! Ich habe nie Taback
geraucht — ehe ich uach Obbo kam; aber ich fing dort das
Rauchen an, weil ich am Fieber gelitten hatte und das
Land sehr feucht war.
Jeder Stamm hat eiu besonderes Pfeifen-
muster. Die Pfeifen der Bari sind an der Mündung
breit wie eine Trompete, jene der Latnka's länglicher, die
der Obbo's kleiner uud am hübschesten. Aber die Köpfe
sind schlecht gebrannt, und wenn sie feucht werden, zer-
brechen sie sehr leicht; die Töpferscheibe kennt man nicht.
Alle Stämme am Weißen Nil haben keine anderen Töpfer-
fabrikate als Wassergefäße und Tabackspfeifen; alle au-
deren Gerätschaften werden aus Holz oder aus Kürbis-
schaleu verfertigt.
Bakers Lagerplatz iu Obbo lag in 4° 2' nördl. Br.,
32° 31' östl. L.; die mittlere Erhebung betrug 3674 Fuß,
die Temperatur etwa 76" F. Die Höhe vou Latuka über
dem Meeresspiegel ist 2236 Fuß; bei Obbo war er 1438
Fuß über dem allgemeinen Niveau des Laudes, das im
Osten der Gebirgskette liegt. In Obbo fällt 10 Monate
im Jahre, von Februar bis November, Regen. Der Boden
ist fruchtbar und die Vegetation rasch und ungemein üppig;
das Gras wird 10 Fuß hoch, Kriech- und Kletterpflanzen
sind überall, vielfach ist das Waldgestrüpp nndnrchdring-
lich für den Menschen; dort hausen Elephant, Rhinoeeros
und Büffel, denn nur diese schweren Thiere können sich
Bahn brechen. Antilopen halten sich in den Grasdschnn-
geln nicht auf, weil sie dort nicht auf der Hut seiu können
gegen Löwen und Leoparden.
Der Reisende wurde iu Obbo vou dem etwa 60 Jahre
alten Häuptling Katschiba sehr freundlich empfangen.
Der lustige Alte, der einem Rüpel in der Pantomime
glich, ließ seine Lente trommeln und tanzen. Die Frauen
tragen eine sehr dürftige Bedeckung, die aus Lederstreifen
besteht, um den Gürtel, die unverheirateten Mädchen gehen
völlig unbekleidet, höchstens haben sie drei bis vier Schnüre
kleiner weißer Kügelchen; alte Frauen binden Baumzweige
um den Leib.
Auffallend sind in diesem Lande die hübschen Gesichter
mit feingebogenen Nasen, die nicht selten vorkommen.
Viele Obbolente erinnerten in ihrem. Aussehen an manche
Somalistämme, aber wir wissen nichts über ihren Ur-
sprung, denn sie wissen nichts von ihrer Geschichte und
haben nicht einmal Überlieferungen. Die Sprache ist
jene der Madi. Die drei Sprachen: Bari, Latuka
und Madi sind verschieden; das Land Madi liegt südlich
von Obbo. Hier eine Probe.
Obbo Latuka Bari
Wasser: Fi Kari Finim
Feuer: Mite Nyeme Kimang
Sonne: Tsean Narlong Karlong
Milch: Tsarck Nalle Le
Huhn: Gueno Nakome Tschokore.
Aus Samuel White Bakers R>
Die Obbos bildeten cutch darin einen Gegensatz zu den
Latnka's, daß sie nicht um Geschenke betteln. Der König
wird streng respektirt, schon weil er Regenmacher uud
Herenmeister ist. Wenn ein Mann sein Mißfallen aus
sich zieht, so verwünscht er ihm seine Ziegen und Hühner,
und davor fürchtet sich Jeder. Regelmäßige Abgaben
kennt man nicht; der Häuptling fordert dann und waun,
was er wünscht. Wenn zu wenig oder zu viel Regen fällt,
thut er seinen Unterthanen kund uud zu wissen, wiesehr
er beklage, daß er sie mit ungünstigem Wetter heimsuchen
müsse, das sei aber ihre eigene Schuld. Sie gebeu ihm
dann Ziegen und Hühner und hoffen auf bessere Tage.
Wer eine Reise antritt, holt sich zuvor den Segen vom
alten Katschiba, der allerlei Hokuspokus macht und
damit gegen Gesahr von wilden Thieren schützt. Er heilt
Krankheiten durch Zauber; das glaubeu wenigstens die
schwarzen Lente, und allem Anscheine nach glaubt er selber
auch an die Wirksamkeit seiner Schnurrpfeifereien. Mancher
Mann schenkt ihm seine hübscheste Tochter; dadurch ist die
Zahl seiner Frauen eine sehr beträchtliche geworden und
die Zahl seiner lebendigen Kinder betrug, als Baker bei
ihm war, uicht mehr und nicht weniger als 116 Stück;
seine Unterthanen sahen in diesem allerdings nicht geringen
häuslichen Segen eine Wirkung seiner Zaubergewalt. Trotz
desselben behaudelte er eiue seiner Frauen sehr hart, weil
sie kinderlos blieb; sie beklagte sich darüber bitterlich bei
dem Reisenden. In jedem Dorfe war einer seiner Söhne
Häuptling, und die ganze Regierung, wenn dieser Aus-
druck erlaubt wäre, eine Familienangelegenheit; auch alle
diese Söhne glaubten an die übernatürliche Begabung des
Alten.
„Diese Wilden, welchen der Glaube an eine Gottheit
völlig mangelt, in denen auch keiue Spur von Superstition
ist, glaubten doch ganz entschieden, daß die Angelegenheiten
des Lebens und die Controle der Elemente abhängig seien
von diesem alten Häuptling. Deswegen waren sie ihm
unterwürfig, aber ohne eine Spnr von Anhänglichkeit oder
Religion, lediglich aus materiellem Instinkte, unter dessen
Einflüsse der Wilde immer steht. Dieses unbesiegbare Ge-
fühl ist es eben, das eiue Bekehrung so äußerst schwierig
macht; der Wilde glaubt au Nichts, wenn er nicht von
dem Gegenstande seines Glaubens einen besondern Vor-
theil ziehen kann. Wilde sind nur durch zweierlei Gewalten
zu lenken: starke Macht und Humbng, uud das find auch
die Kräfte, deren sich die Gewalthaber bedienen. Wo die
erste nicht völlig ausreicht, muß der zweite nachhelfen, und
das war bei Katschiba der Fall."
Jn Obbo würden gedruckte Kattune, rothwollene Kittel,
Decken und dergleichen wohl Abnehmer finden. Das Land
liegt etwa 3609 Fuß über dem Meer, die Nächte sind kalt
und die Tage während der Regenzeit gleichfalls; die
Menfchen müssen also einige Kleidnng haben und dazn
benützen sie Thierfelle. Bei allen Stämmen, vom 19"
nördl.Br. an, also von den Schillncks bis zu diesen Obbo's,
4" nördl. Br., fehlt die Bekleidung. Obbo ist die Beklei-
dnngsgrenze, wenn ich so sagen darf, denn weiter nach
Süden hin, nach Sansibar zu, haben alle Wilden mehr
oder weniger Bekleidung.
Von Obbo aus machte Baker einen Ausflug nach dem
Flusse Afn a oder, wie man hier sagte, Aschna; seine Frau
ließ er unter Katschiba's Obhut zurück. Am 7. Mai brach
er auf und ritt parallel mit der Basis der Madiberge, vou
welcher er etwa eine deutsche Meile entfernt war, durch
eiue sehr anmuthige Gegend, die völlig einem wohlgehalte-
nen Parke glich, obwohl oft das Gras sehr hoch war. Er
kam, 18Miles von Obbo entfernt, an den Fluß Atabbi,
Globus X. Nr. 12.
! in die Region der Nilquellcn. 369
der von den Madibergen kommt, das ganze Jahr hindurch
Wasfer hat und in den Asua mündet. In dieser Gegend
leben Elephanten in sehr großer Menge; Baker sah ein-
mal eine Heerde, die mindestens 290 Stück zählte.
Dann gelangte erinsLandFarajoke. DerHäuptling
kam ihm entgegen, schenkte ihm eine Ziege und hielt in
der Hand ein Huhn an beiden Beinen. Als er beim Pserde
stand, berührte er dessen Vorderfüße mit dem Huhu uud
zog dann mit diesem einen Kreis auf der Erde; nachher
bestrich er in gleicher Weise mit dem Huhne die Beine des
Reisenden, schwenkte ihm dasselbe um den Kopf und machte
es dann mit dem Pferd ebeufo. Nachher wurde das Thier
geschlachtet uud dem Obmauue von Bakers Leuten über-
reicht. Das Dorf war sehr schmutzig, mit einem hohen
Bambuszaun umgeben uud staud auf einem etwa 80 Fuß
hohen Hügel.
Farajoke bildet einen Distrikt der großen Landschaft
Snli, zn welcher dann noch Sch aggi uudMad i gehören.
Jedes Dorf steht unter einem besondern Häuptling. Fara-
j o ke liegt nur drei starke Tagereisen entfernt von F aloro,
3" 32' nördl. Br., der Station des maltesischen Elfenbein-
Händlers Debono, wohin Baker gern gegangen wäre, um
dort feiu Hauptquartier einzurichten. Er hatte aber unter-
Wegs sein Pferd verloren und kehrte deshalb mit seinen
Begleitern und Eseln nach Obbo zurück; die 30 Miles
betragende Strecke legte er in einem Tage zurück, uud Alles
war iu bester Ordnung.
Am 21. Mai ging er wieder nach Latnka, wo er den
größten Theil seiner Vorräthe zurückgelasfeu hatte. Unter-
Wegs machte er Jagd auf Giraffeu. Auch iu Latuka waren
die Vorräthe unangetastet geblieben und die von ihm ans-
gestreneten Sämereien lustig aufgegangen. Aber bald kam
großes Mißgeschick. Zwei Pferde fielen, binnen wenigen
Tagen folgten fünf Esel und gleich darauf starben auch
zwei Kameele. Die Latnka's hielten von diesen Thieren
ein leckeres Mahl und stritten sich mit den Geiern herum.
Auch Frau Baker erkrankte schwer am Fieber, unter den
Türken brachen die Blattern aus nnd mehre starben daran.
Diese Krankheit ist für die Völker Eentralafrika's, welche
manchmal von derselben deeimirt werden, eine arge Geißel.
In diesen trüben Tagen erhielt er eine Kunde, die ihn
angenehm überraschte. Unter den Leuten, welche ihn von
Obbo nach Latuka begleitet hatten, war anch ein Mann
Namens Wani, der weit nach Süden hin gereist war und
sich erboten hatte, den Türken Ibrahim in ein Land zu
führen, in welchem sehr viele Elephanten seien und das
noch kein Handelsmann betreten habe. Deshalb war er
als Führer und Dolmetscher angenommen worden. Baker
fragte ihn aus uud erfuhr, daß die Kaurimufcheln, welche
Wani befaß, aus der Ortschaft Maguugo gekommen
seien. Diesen Namen hatte er auch soust schon von Ein-
gebornen gehört, über die Lage desselben aber gar nichts
erfahren können. Ihm lag viel daran, zu erkunden, auf
welchemWege die Kaurimufcheln vonSüden her gekommen
seien, aber Waui's Aussagen waren sehr unbestimmt.
Doch zog Baker aus denselben Schlüsse, die sich hinterher
als zutreffend erwiesen. Er erfuhr, daß Maguugo an
einem See liege, der so breit und groß sei, daß Niemand
seine Ausdehnung kenne; in Maguugo kämen Schiffe aus
unbekannten Gegenden an und brächten Kauris und Glas-
perlen, gegen welche sie Elfenbein eintauschten. Auf diesen
Fahrzeugen habe man weiße Menschen gesehen. Alle
Kauris, die in Latuka und den umliegenden Ländern in
Gebrauch seieu, kämen von dort.
Baker schrieb am 26. Mai 1863 auf diese Angaben
hin in sein Tagebuch: Maguugo wird im 2° nördl. Breite
47
370 Aus Samuel White Bakers R
liegen; der See kann kein anderer sein als der Nyanza,
der also weiter nach Norden hin ginge, als Speke annimmt.
Die angeblich weißen Männner sind arabische Handelsleute,
welche Kanris aus Sansibar bringen. Ich will die erste
Gelegenheit benutzen, um nach Magnngo aufzubrechen.
Das Laud wird wohl Kainrasi's Brnder gehören, denn
Wani sagte, der König habe einen Bruder, der am West-
lichen User des Nils über ein großes Land herrsche; beide
seien aber mit einander immer im Kriege. —
Gern wäre der Reisende aus geradem Wege nach Ma-
gungo am See aufgebrochen, aber er hatte noch eine nnend-
liche Reihe von Widerwärtigkeiten zu bestehen und weit
über ein Jahr hinausreichende Zögerungen zu erfahren,
bevor er ans Ziel gelangte.
Jetzt war er nun wieder in Latuka und hatte vollauf
Gelegenheit, Einblicke in das Leben und Treiben der
Menschen zu gewinnen. In allen diesen Gegenden gilt
Rindvieh als das Zahlnngs- und Tauschmittel.
„Die Eingebornen verfertigen jetzt Seribas (Kraals),
Einzäunungen, um darin das Vieh zu bergen, welches sie
ihren Nachbarn geraubt haben. Sie verdienen gar keine
Theilnahme, sind ärger als die Geier und selbst die, welche
zu demselbeu Stamme gehören, liegen mit einander in
Streit. Die Gewalt der Häuptlinge bedeutet wenig; oft
thun sich die Männer von vier oder fünf Dörfern zusammen
und unternehmen Plüuderungszüge. Es ist demnach leicht
erklärlich, daß die Handelsleute, welche ja in der That und
Wahrheit selbst Räuber sind, aus diesen VerhältnissenVor-
theil ziehen und sich bald mit dem einen, bald mit dem
andern Theile verbinden, allemal aber beide ausplündern.
Diese Türken schießen sogar Frauen nieder, was kein
schwarzer Mann thut, obwohl sie im Krieg als Spione
dienen. Weshalb aber schont man die Weiber? In Län-
dern, wo Polygamie herrscht, ist die Antwort leicht gege-
ben: ein Mädchen ist 5 bis 10 Kühe Werth, und solch ein
Kapital schont man.
In Latnka kann man fast kein Salz haben, die Ein-
gebornen genießen es selten. Es wird aus Ziegenexcre-
menten hergestellt, die man zn Asche verbrennt und mit
Wasser begießt, das durch Kochen abgedampft wird; auch
gewinnt man es aus der Asche eiues dickstieligen Grases.
Der Häuptling von Latuka verschlang gierig Händevoll
Salz, welche Baker ihm gab.
Unfug und Brutalitäten wollten zn Tarrangolle in
Latuka kein Ende nehmen. Eines Morgens hört Baker, daß
im Lager der Türken ein Schuß fällt, und er geht dorthin.
Wir haben früher erzählt, daß die Handelsleute, als sie das
Dorf Kayala ausrauben wollten, eine Niederlage erlitten.
Nun war von dort ein Mann nach Tarrangolle gekommen,
um wegen einer vermißten Kuh Nachfrage zu halten.
Die beiden Häuptlinge Moy und Kommoro brachten ihn
ins türkische Lager, um darzuthun, daß er keine bösen Ab-
sichten habe. Aber die Türken erklärten ihn für einen
Spion, schössen ihn tobt, schleppten ihn an den Beinen aus
dem Lager und sahen zu, wie die Geier ihn auffraßen!
Latuka war durch diese zugleich feigen und brutalen Türken
zu einer doppelten Hölle geworden intd der Viehraub ging
mehr als je im Schwange. Die Widerwärtigkeiten des
Aufenthaltes iu jener Gegend wurden dann und wann
durch die Erzählungen des schwarzen Geographen Jbrahi-
mawa gemildert. Eines Tages gab er folgende Geschichte
zum Besten: — In einem Lande, unweit von Bornu, ist
der König so dick und fett, daß er nicht gehen
kann, wenn die Doctoren ihm nicht in jedem
Jahre den Bauch aufschneiden und das Fett
'e in die Region der Nilqucllcn,
herausnehmen. — Noch ein Histörchen: — In dem
Lande So und So trinkt kein Mensch Wasser; der ärmste
Mann hat Merissa (Bier) so viel er nur mag. Nach
?) Uhr Mittags ist Niemand im ganzen Lande nüchtern,
und die Kühe, Ziegen und Hühner sind anch alle
betrunken; denn sie trinken das Bier, welches die Men-
schen, welche ja ohnehin vollauf haben, in den Töpfen zu-
rücklassen. — Jbrahimawa war mit einem türkischen Kriegs-
schiff in Gravesend gewesen. Ganz ernsthaft erzählte er,
daß der dortige englische Pascha ihn zu einem Ball ein-
geladen habe, und einige englische Damen hätten ihm
Liebeserklärungen gemacht!
Am 23. Juni verließ Baker Latuka, um wieder nach
Obbo zu gehen, aber auf einem andern Wege. Er fand
Alles verändert, denn die Türken hatten eine abscheuliche
Verwüstung angerichtet, das Land ausgefressen, und die
Eingebornen wollten oder konnten keine Lebensmittel lie-
fern. Baker und dessen kranke Frau hatten nichts zu essen
als Tulla bnn, ein kleines, bitteres Korn, das auch die
Schwarzen statt des Getreides genießen; Wild war des
hohen Grases wegen nicht zu schießen. „Wie herzlich froh
würde ich sein, wenn ich dieses abscheuliche Land verlassen
könnte. So weit meine Erfahrung reicht, habe ich nirgends
fo arge Halunken gesehen wie in diesem Afrika, und jene
im Suda« sind die allerschlimmsten. Es ist unmöglich,
solch einen Menschen als Diener zn verwenden; alle sind
träg, gleichgültig,. unehrlich und schmutzig über alle Be-
schreibnng; sie haben einen förmlichen Abscheu gegen Alles,
was Ordnung ist und dadurch steigert sich noch ihre Abnei-
gung gegen einen Europäer. Ich bin dieser Erpedition satt
und müde, aber ich werde doch mit äußerster Hartnäckigkeit
weiter vordringen; Gott allein kennt das Ende."
Das schrieb Baker in sein Tagebuch, als er stimmt
seiner Frau todtkrank an einem Gallenfieber darnieder lag.
Katschiba kam, fand Beide Hülflos und brachte seinen Zauber
an; namentlich spie er Wasser aus seinem Munde aus einen
Baumzweig, welchen er dann über den Köpfen der Kranken
hin - und herschwenkte; nun werde Alles schon besser werden.
Ratten und weiße Ameisen waren in der Hütte eine arge
Plage, und als man die ersteren durch Arsenik tödtete,
entstand ein übler Gernch, der nicht zu ertragen war.
Dann und wann fand sich auch eine Schlange als Gast in
der Hütte ein. Unter den Eingebornen wütheten die Blat-
tern; das Klima war unangenehm feucht und im höchsten
Grad ungesund. Auch das Vieh litt doppelt, als unzählige
Fliegen erschienen, darunter die Tsetse, deren Stich giftig
ist. Binnen ein paar Wochen verloren die Esel alle Haare
an Beinen und Ohren und starben einer nach dem andern,
obwohl sie unter Dach und Fach gestellt und mit rauchen-
dem Feuer umgebeu waren. Am 16. Juli fiel auch das
letzte Pferd; für den Schweif desselben erhielt Baker
eine Kuh.
Trotz Regen, Blattern und Mangel an Lebensmitteln
hielten die Obbolente doch einen Kriegstanz, schlugen die
große Trommel und verabredeten mit den Türken einen
Raubzug in das Land Madi. „Fliegen bei Tage, Ratten
und unzählige Wanzen bei Nacht, alle Tage Regen, nn-
durchdringliches, feuchtes, dampfendes Gras machen mir
dieses Obbo zu einem unerträglichen Gefängniß. Es kostet
große Mühe, meinen Diener, welcher die Kuh zu besorgen
hat, von der landesüblichen Gewohnheit abzuhalten, daß
er das Milchgefäß mit Wasser und nicht mit Kuhurin rei-
uigt; er thut auch gar zu gern etwas Kuhurin in die Milch,
— Alles aus Aberglauben, weil man meint, daß im an-
dern Falle die Kuh ihre Milch ganz verlieren werde. Die
Obbolente spülen sich den Mund nur mit Kuhuriu aus,
Eine gefährliche Wander
wahrscheinlich weil kein Salz im Lande ist; dagegen sind
die Latnkas sehr reinlich.
Am 13. Aug. hatte Baker eine Besprechung mit einer
Sklavin, welche vor etwa zwei Jahren von Kamrasi, König
von Unyoro, als Spion unter die Türken geschickt und zur
Sklavin gemacht worden war. Sic hatte von dem Lnta
Nzige See gehört, nannte ihn aber Kara wutan Nzige,
und bestätigte, daß Araber in großen Booten nach Magungo
kämen; das Wasser sei sehr groß und schlage Wellen; auch
von einem Wasserfalle wußte sie zu erzählen. Am 23. Aug.
fiel Bakers letztes Kameel in Folge des feuchten Klimas,
und er mußte nun seine Weiterreise zu Fuß und aus Ochsen
machen.
Wir wollen ihn hier verlassen. Es lag uns daran, seine
Schilderung vou solchen Gegenden mitzutheilen, die noch
von keinem Europäer betreten oder beschrieben worden
waren. Er zog von Obbo nach Schna, durch Rionga's
Land nach den von Speke beschriebenenKarnma-Katarakten
und dann nach Unyoro, wo er seltsame Begegnisse mit dem
vermeintlichen Könige Kamrasi hatte, der aber, wie sich
später ergab, des Herrschers Bruder war. Keine Wider-
wärtigkeit konnte ihn aushalten; er drang zwischen dem
2. und 1. Grad nördl. Br. nach Südwesten und Westen
vor und erreichte bei Vacovia den See, den „Mwntan
g in den tyroler Alpen. 371
Nzige", am 14. März 1864. ,,Da lag er vor mir, gleich
einem Meer von Quecksilber, ein endloser Seehorizont
nach Westeu und Südwesten und schimmerte glänzend in
der Mittagssonne. Im Westen, 59 bis 60 Miles ent-
sernt, erhoben sich blane Berge bis zu 7099 Fuß über den
Wasserspiegel. Ich kann den Triumph nicht beschreiben,
welchen ich iu diesem Augenblick empfand; nun hatte ich
den Lohn für so viele Mühen und für meine zähe Aus-
dauer. — — Ich nannte den See Albert Nyanza; der
Victoria und der Albert sind die beiden Quellen des
Nils."
„Quellen" nun gerade nicht, eben so wenig wie der
Bodensee als eine „Quelle" des Rheins bezeichnet werden
kann. Baker fuhr dann von Vacovia, das etwas nördlich
vom 1° nördl. Br. liegt, an der Ostküste des Sees nach
Norden hin bis Magungo, wo der „Victoria Nil", der
Abfluß aus dem Nyanza-See, in den Mwntan-Nzige-
Albert fällt; er verläßt diesen etwas gegen Norden an
einer Stelle, die Baker nicht gesehen hat, und zieht als Nil
weiter über Gondokoro, Chartum, durch Nubien und
Aegypten.
Alle Ehre dem kühnen und verständigen Reisenden
Samuel Baker. Auch er kann von sich sagen: Tantae
molis erat!
Eine gefährliche Wander
Herr Anton von Ruthner, Vorsitzender des öfter-
reichischen Alpenvereins, hat „Skizzen aus derZiller-
th al er G eb i rg s g r up p e"'veröffentlicht, welche eine Fülle
von Angaben enthalten und den Gegenstand nicht skizzen-
Haft, fondern weit umfassend, fast erschöpfend, behandeln.
Wer künftig das Zillerthal und dessen Alpen besucht, wird
nicht umhin können, diese Abhandlung, welche zugleich als
zuverlässiger Wegweiser dient, zu benützen.
Im Hauptkamme erheben sich die höchsten Spitzen des
Zillerthaler Stockes, und der hohe Möseleferner hat
11,022 Fuß, und im Thuruerkamp, 10,822 Fuß,
einen selbstständigen Nebenbuhler. Herr von Ruthner hat
dieselben eingehend geschildert; auf der Wanderung erlebte
er ein Abenteuer, dergleichen den Alpenreisenden manchmal
begegnet. Er kam von den Gletschern herab. Die Sonne
hatte den Firn etwas erweicht und derselbe gewährte einen
sichern Tritt. Um mir, fo erzählt der Wanderer, das be-
denkliche Hinabsteigen über die schneefreien Eisabhänge zu
ersparen, hatten die Führer beschlossen, auf der Höhe bis
zudem, auf der östlichen Thalseite und am Buge gegen
Osten und gegen den obern Fnrtschhagelserner befindlichen
Boden vom Fnrtschhagel fortzugehen.
Um dahin zu gelangen, mußte der Schleg leisen-
ferner überschritten werden und zwar bis an seinen Nord-
ostrand. Wir hatten noch über eine Seitenmoräne von
solcher Höhe zu klettern, daß sie ein selbstständiger Stein-
kämm zu sein schien und waren nun hoch oben ans der
felsigen Erhebung angelangt, die sich aus dem tiefen
Gletscher aufbaut. Eine Wasserader und ein grüner Fleck
luden zum Verweilen ein, und wir blieben eine Stunde
dort. Als wir jetzt nach dem Möseleferner blickten, sahen
wir ihn ganz rein vom Nebel.
lg in den tyroler Alpen.
Nach Angabe der Führer hatten wir mit dem Eise nichts
mehr zu schaffen und sollten über denFurtschhagelbach,
welcher nördlich von der felsigen Erhebung in die Tiefe
fällt, setzen und dann in das Thal hinabsteigen.
Wir gingen an den Abhängen der Felsenerhebung zwi-
scheu dem Nordrande des Ferners von Schlegeleisen und
dem Ende des Fnrtschhagelferners rasch abwärts. Ich war
voraus und erblickte rechts in der Nähe die Gletscherzunge
des Ferners, welche fast senkrecht in eine Schlucht hinab-
sinkt. Durch diese braust der genannte Bach, nachdem er
ans dem Eise herausgetreten, hinab. Auf ihrem jenseitigen
Steilrande begann sogleich der grüne Boden; über ihm,
jedoch zurückstehend, erhoben sich die Felsenberge.
Ich bin der erste in der Schlucht. Der Punkt ist eigen-
thümlich. Der bleifarbige Gletscherbach schießt sprudelnd
und schäumend aus dem niedrigen Gletscherthore, am untern
Ende der ungemeiu steilen Eiswand der Gletscherzunge,
heraus und poltert zwischen großen und kleinen Felsstücken
fort, um sich, kaum 50 Schritte von seinem Ursprünge, in
eine stark geneigte Felsenklamm zu stürzen. Der Felsrücken,
über den wir gekommen, fällt zum diesseitigen Bachufer
scharf ab; auf dem entgegengesetzten rechten Ufer thürmen
sich mächtige Steinblöcke regellos übereinander und bilden
eine vom Bache bis an den obersten Rand der Schlucht
reichende großartige Gant, d. h. eine Anhäufung größerer
Felstrümmer.
Alle meine Bemühungen, eine nicht gefährliche Stelle
zur Ueberfchreitung des Baches aus den Felsstücken zu sin-
den, blieben fruchtlos. Inzwischen sind die Führer ange-
kommen, und auch sie theilen die Ansicht, daß der Uebergang
an keinem Punkte gewagt werden könne. Sie schleppen
auf meinen Rath, um einen Steg zu bilden, Steine von
372 Die Zustände
solcher Größe herbei, daß man glauben sollte, es habe eines
Krahnes oder der dreifachen Zahl Männer bedurft, um sie
von der Stelle zu bringen. Alle Mühe ist vergeblich; der
wüthende Bach reißt die schweren Blöcke mit sich fort, als
wären sie hineingeworfenes Holz; ein Steg ist nicht herzu-
stellen. Tiefer unten gestattet natürlich die Felsenklamm
ein Ueberschreiten des Baches nicht; eben so läßt die felsige
Erhebung, auf welcher wir steheu, ihres zu steilen Abfalles
wegeu ein Hinabsteigen über sie auf den Schlegleisenserner
nicht zu. Und doch müssen wir hinüber nach Furtschhagel,
wenn wir nicht auf die Höhe dieses letztern Ferners zurück-
kehren wollen.
Allein wie das bewerkstelligen? Der Führer Gauler
stellte an mich die Frage, ob ich mich getraue, an der Wand
der Gletscherzunge hinüber zu gehen, wenn er Fußstapfen
in sie hauen würde. Ich meinte anfangs, er mache einen
Scherz; als ich jedoch sah, daß es sein Ernst sei, erklärte
ich mich bereit, den genialen Weg zu betreten, aber unter
der Bedinguug, daß Führer Geiuer zuerst hin- und zurück-
gehe, um zu erproben, ob die Stufen halten, dann solle er
mich au das Seil uehmen und immer nur um einen Tritt
zurückbleibend mit mir hinüberschreiten.
Gauler hieb nun den ersten Tritt von einem Felsstück
aus in das Eis und so fort, immer in den zwei letzten fer-
tigcn Eisstufen steheud, — einige 20; die ersten 4 oder 5 so,
daß die uächste immer etwas höher war als die vorige. Die
folgenden in gerader Linie kaum eine Klafter über dem Bache
und die letzten wieder mit der Senknng auf die Steingant.
in Abyssinien.
Einen originellem Pfad bin ich noch nie gewandelt.
Links unter mir der donnernde Bach, rechts über und neben
mir die steil aussteigeude Eiswand! Es ging ganz vortress-
lich, so lange ich über dem Bache schwebte, verlies aber doch
an minder schauerlicher Stelle nicht ohne ein kleines Miß-
oder Ungeschick. Ich hatte bereits den ersten Schritt abwärts
gegen die Gant gemacht, da liegt im Zwischenraum zur
tiefern nächsten Stufe ein mittelmäßig großer Stein. Die
Stufen sind hier so weit auseinander gehauen, daß ich
glaubte, Gauler habe dabei deu Stein als eine Stnse mit
in Rechnung genommen. Ich trete darauf; sogleich fährt
er nach abwärts und ich gleite hinter ihm nach. Doch
Geiner hatte mich fest in der Hand; ich komme sogleich
wieder in die Stufen, lege die untersten etwas vorsichtiger
zurück und stehe nun auf dem Gefchröffe. Ohne die Hülfe
des Führers würde ich allerdings doch nicht mehr in den
Hauptschwall des Baches geratheu sein; in diesem wäre
Jeder, selbst der stärkste von uns, rettungslos verloren
gewesen; aber ich würde, weil dem Gletscherthore auch seit-
wärts eine beträchtliche Wasserader entfließt, unwillkürlich
ein Bad genommen haben, das mir bei einem Grad Rean-
mur leicht mehr als eine bloße Erfrischung hätte bringen
können.
Unmittelbar bis an die Schlucht dehnt sich der Boden
der frühern Alpe Furtschhagel aus. Sie ist wegen zu ge-
ringen Ertrags vor nicht langer Zeit verlassen worden.
Früher stand dort eine Hütte, 7304 Fuß; das Ende des
Ferners mag etwa 7500 Fuß hoch liegen.
Die Zustände i
Der äthiopische Kaiser Theodor macht in einem fort von
sich reden; wir werden den „interessanten Halbbarbaren"
gar nicht los, aber die Nachrichten ans seinem Lande lauten
widersprechend, sind anch sehr unvollkommen und manche
tragen das Gepräge der Unrichtigkeit offen an der Stirn.
So berichtet z. B. ein Eorrespondent der„Allgemeinen
Zeitung" aus Konstantinopel vom 4. September, nach Mit-
theilungeu des bekannten französischen Abenteurers, Grafen
Bisson, ganz fabelhafte Sachen, die von völliger geogra-
phischer Unknnde zeugen. In jenem TheilAsrika's würden
möglicherweise neue Staatengruppen sich bilden; Theodor
soll 200,000 Krieger (!) aufgeboten haben und sie in der
„Ebene" von Dembea sammeln. Diese Armee werde dem-
nächst nach der „nn ermeßlich ausgedehnten" Provinz
Tigre, die theilweise gebirgig sei, ausbrechen; diese grenze
an das Rothe Meer, und dort sei bisher die Insurrektion
siegreich gewesen.
Ein Blick auf jede beliebige Karte von Ostafrika zeigt,
daß Tigre keineswegs unermeßlich ausgedehnt ist. DerBe-
richt sagt, daß Gubassie, ein Vollblutneger, angeblich ein
Nachkomme Salomo's und der Königin von Saba, den
äthiopischen Thron beanspruche; er habe einen großenTheil
der Bevölkerung gegön den „legitimen" Theodor erhoben.
Nun ist aber dieser nichts weniger als legitim, sondern
bekanntlich durch Rebellion zur Macht gelangt.
Gubassie, so heißt es weiter, sei gegenwärtig Meister
von Tigre und den angrenzenden Territorien. „Die von
Theodor willkürlich abgesetzten Vasallenfürsten von Negns-
n A b y s s i n i e n.
sten, Ubien, Balgede, Area und Saha Salasse schlössen sich
mit ihrem Anhang den Rebellen an." — In diesem Satze
verwechselt der Bericht längst verstorbene Personen mit
Ländern! Ubieh war König von Tigre und wurde vor
12 Jahren von Theodor entthront; Negnssi war nach ihm
Prätendent von Tigre und wurde von den Franzosen unter-
stützt, welche ihm einige Küstenpunkte abkauften, und wurde
gleichfalls besiegt. Sahela Salessi war vor etwa 30 Jahren
König von Schoa, und an ihn schickten die Engländer ihre
bekannte Gesandtschaft unter Major Harris; aber auch
dieserKönig ist längst zu seinen Vätern versammelt worden.
Der Bericht sagt weiter: Hyaro Mekina, aus der Rasse
Ehoa, erster Feldherr Gubossie^s, hat über 100,000 Kämpfer
unter seinem Oberbesehl; und er spricht ferner von kämpf-
bereiten Centauren von Amartha, wo auf einem gigan-
tischen Kriegsschauplatze 300,000 blutgierige Barbaren
zusammenstoßen würden!
Nun gibt es aber keine „Nasse Ehoa", sondern eine
abyssinische Provinz Schoa; und kein Amartha, sondern
eine Provinz Amhara, und was die 300,000 Centauren
betrifft, so ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß ganz
Abyssinien keine solche Anzahl von Kriegern auf den Bei-
nen hat.
Der Bericht aus Konstantinopel nennt den Kaiser Theo-
dor einen „liebenswürdigen" Monarchen, der freilich
beim geringsten Anlasse cholerischen Wuthausbrüchen sich
überlasse, und den nur die „schöne jugendliche Kaiserin"
zuweileu zügele. Es ist an den: letzten kein wahres Wort,
Die Zustände in Abyssinien.
373
und die schöne jugendliche Monarchin ist eine Figur der
Einbildungskraft. Der ganze Bericht hat keinen Boden
und zeugt auch in seinen weiteren Ausführungen, z. B. der
Behauptung, daß Theodor „die unverzügliche Znrückbcrn-
fnng aller britischen Verstärkungen von der Insel Aden
gefordert und erlangt habe", völlige Unkunde des Sachver-
Haltes. Theodor habe die Auslösung der im Sudan gebil-
deten Armeekorps von den Aegypten: gefordert und man
(wer denn? — doch nicht derVieekönig von Aegypten!—)
habe ihm darin willfahrt.--
Was die europäischen Gefaugenen in Abyssinien betrifft,
über dereu Schicksal wir mehrfach gesprochen haben, so hat
bekanntlich der Agent Rassam die Freilassung desConsnls
Cameron, der Missionäre Stern, Flad^c. ausgewirkt. Der
amtliche Bericht über diese Vorgänge umsaßt die Zeit vom
26. Januar bis 22. März 1866. Der Kaiser, so heißt es,
habe einen durchdringenden Blick; seine Mienen zeugen
von Entschlossenheit und einem starken Geiste. Herr Rassam
ging mit dem Kaiser und dessen Heer von Damont nach
Korata; dann wurde am 29. Januar der Befehl zur Frei-
lassung ertheilt, aber nicht vor dem 24. Febrnar ausgeführt.
Am 12. März langten die Freigelassenen in Korata an, alle
gesund, mit Ausnahme Camerons, der sich indeß auch bald
erholte. Ihre Zahl betrug 18 Köpfe, und Rassam bekam
Erlanbniß, sie nach Aegypten oder nach Aden zu führen.
Theodor behandelte den Agenten mit großer Aufmerksam-
keit und wollte nicht einmal gestatten, daß Hofleute von
demselben Geschenke annähmen. Die Diener des Kaisers
mnßten Herrn Rassam königliche Ehre erweisen, weil er Ver-
treter der britischen Königin sei; sie mußten vor ihn? knien
und deu Boden mit der Stirn berühren. Als er in Korata
ankam, wurde er von etwa 69 Priestern empfangen, die in
vollem Ornate da standen und Psalmen sangen.
Die Freigelassenen wurden uoch einmal verhört, gestan-
den ein, daß sie unrecht gethan und baten, daß der Kaiser
Theodor als Christ ihnen, den Christen, vergeben möge.
Der Kaiser hatte an Rassam geschrieben: „Wenn ich ihnen
Unrecht gethan habe, so laß es mich wissen und ich will es
wieder gut machen; findest Du aber, daß sie im Unrechte
sind, dann will ich ihnen verzeihen."
Rassam, dem daran lag, den Kaiser bei guter Laune
zu erhalten, hütete sich wohl, dein mächtigen Manne Anstoß
zu geben. Dieser ließ dann das Schreiben verlesen, wel-
ches die Königin von England an ihn gerichtet hat; ein
Gleiches geschah mit der Antwort, welche er nach London
geschrieben. In dieser sagt er: „In meiner Niedrigkeit bin
ich nicht würdig, Ew. Majestät anzureden, aber erlauchte
Fürsten und der tiefe Ocean können Alles vertragen. Ich,
ein unwissender Aethiopier, hoffe, daß Ew. Majestät mir
meine Fehler nachsehen und meine Vergehen verzeihen
werde." Der Schluß lautet: „Rathe mir, aber tadle mich
nicht, o Königin, deren Majestät Gott verherrlicht hat und
der er Weisheit im Ueberflnß gegeben."
Aber Barbaren sind wandelbar. Rassams Plan war,
nach dein abyssinischen Osterfest, das auf den 8. April fiel,
mit den Freigelassenen abzureisen. Da ist es dem Kaiser
plötzlich eingefallen, sie alle, diesmal Herrn Rassam mit
eingeschlossen, wieder ins Gefängniß zu sperren. Er war
so grimmig, daß er sie ohne Ausnahme hinrichten lassen
wollte. Späterhin hat er sie doch wieder freigegeben. Ueber
diese Vorgänge fehlen noch zusammenhängende Nachrichten.
Aber einen interessanten Einblick in das Leben und
Treibendes Gewaltherrschers erhalten wir durch die Schrift
von F. H. Apel: „Drei Monate in Abyssinien und Ge-
sangenschast unter König Theodornsll." Zürich 1866 (bei
Carl Meyer).
Herr Apel ist in Rom, bewundert die alten Denkmäler
und lernt dort einige Missionäre kennen, von denen der eine
in aller Eile nach Chartnm am Weißen Nil will. Sofort
nahm er sich vor, mit dorthin zu gehen und dann weiter
nach Abyssinien zn reisen, um zu sehen, wie es dort den
Gefangenen ergehe. In Alexandria aber verließ er den
christlichen Missionär und ging mit einem türkischen Bim-
bascha und 409 Cireassiern nach dem Sudan. Von Chartnm
zog er am Blauen Nil hinauf und gelangte weiter nach
Matamma und Wochue, das einen Stapelplatz für das
westliche Abyssinien bildet. Wie war dort im christlichen
Lande der Empfang?
„Sobald das Haupt des Dorfes, Ras Jakub, von
meiner Ankunft hörte, begab er sich in meine Hütte und
fing gleich an, mich auszufragen. Nun sollten meine Leiden
schon beginnen, denn bevor ich auf feine erste Frage, wes-
halb ich nach Abyssinien gekommen sei, antworten konnte,
ließ er mich gleich von vier Soldaten ergreifen, meine
Taschen ausleeren, nieinen Koffer durchsuchen, Pistolen und
Büchsen wegnehmen und mich in seine eigene Hütte führen.
Dies geschah am 5. Januar 1865. Umsonst fragte ich nach
dein Grnnd eines solchen Verfahrens. Mein Dolmetscher
zuckte die Achseln, sagte mir, es sei vom Schicksal so be-
stimmt, rieth mir, schlafen zn gehen und ging mir mit löb-
lichem Beispiele voran. Ich entschloß mich aber, die ganze
Nacht dnrchznwachen, doch fielen mir bald die Augen zu.
Am Morgen wurde ich geweckt und vom Ras benachrichtigt,
daß ich mich sofort nach Gondar begeben folle. Mein Pferd
wurde vermittelst eines Seiles von etwa 3 Ellen Länge
an das eiues Ungeheuern Abyssiniers besestigt, dessen scharfe
Lanze sehr bald in anatomische Berührung mit meinen
Rippen geratheu wäre, sobald ich den geringsten Versuch
zum Entrinnen gemacht hätte. Auf diesem Ritt vonWochne
nach Gondar habe ich mit eigenen Augen das gesehen, was
von Bruce so standhaft behauptet und von der ungläubigen
Civilisatiou bestritten wurde, — nämlich das Heraus-,
schneiden des Fleisches von noch lebenden Thie-
ren, und das Genießen desselben, während das
Thier noch im Todeskampfe liegt. Es wurden ihm, von den
Christen, die Füße gebunden, es fiel auf die Seite und als-
bald schnitt man ihm Stücke Fleisches aus dem Rumpfe,
welche, noch zuckend von der Mnskelbewegung, gierig von
den Menschen verschlungen wurden. Das Thier verblutete
und blieb dann eine Beute der Schakale. Mir wurde ein
blutiges, zuckendes Stück Fleisch zugeworfen und ich habe,
so widerwärtig mir das Ganze auch war, doch den größten
Theil desselben verzehrt, so arg hatte mich der Hunger
mitgenommen, denn seit zwei Tagen hatte ich nichts ge-
nossen. DieselbeKost wurde mir während der ganzen Reise
angeboten."
Das war Herrn Apels Empfang in Abyssinien, dem
christlichen Lande. Er kam nachGondar, wo ihn ein Mann
empfing, der ihn italienisch anredete:
„Bist du wieder einer von diesen vermaledeiten Ketzern,
welche unsere Religion, die wir von den Heiligen Frnmen-
tins und Aedilins selbst empfangen haben, umstürzen
Wollen?"
Dieser Manu war der Oberpriester der abyssinischen
Kirche, der Abnna. Herr Apel antwortete begütigend.
Weitere Frage:
„Hast Du keine Bibel mitgebracht, das Volk irre zu
führen und unsere heilige Kirche zn untergraben?" Aut-
wort: er, der Fremde, beschäftige sich nicht mit der Seele,
sondern mit dem Leibe, er sei ein Arzt.
„Ihr seid aber alle Räuber und Lügner, ihr Engländer!
Ihr kommt zu uns als Werkleute verkleidet, gebt vor, euch
374 Die Zustände
mit der Arbeit zu beschäftige«, unterrichtet aber das ganze
Volk und führt es zum Verderben." Dann brach er in
einen Strom von Schimpfreden über Herrn Stern und die
anderen Missionäre aus.
Am andern Tage wurde Apel zum Gimp oder Schloß
des Königs geführt, das er in ziemlichem Verfalle fand.
Er gelangte durch staubige, schmutzige Zimmer in den Au-
dienzsaal des Königs, der leidlich sauber aussah. Theodor
saß auf einem mit Seide überzogenen Bette, das mit Gold-
und Silberbrokat umhängt war. „Es herrschte eine Anmnth
und Würde in seinen Bewegungen, die ich wirklich als
königlich bezeichnen kann; die breite, hohe Stirn zeugt von
keinen geringen geistigen Befähigungen. Doch leicht konnte
man sehen, welche Verheerungen fortwährende Orgien und
der unmäßige Trunk verübt hatten, u,nd der wilde Blick,
welcher aus den rollenden Augen mir entgegen leuchtete,
zeigte nur zu deutlich, daß Seine Majestät gerade unter
dem Einflüsse des berauschenden Getränkes stand."
Den Patriarchen schildert Herr Apel in folgender
Weise: „Salama, der jetzige Abnna der abyssinischen Kirche,
ist ein trauriges Bild des lasterhaften, ignoranten Znstandes
der ganzen ägyptischen Kirche. Stolz, unwissend, grausam,
intriguant, sucht er auf jede Weise sich Gewalt atnb Reich-
thum zu erwerben. Er treibt sogar Sklavenhandel und
nimmt nicht einmal Anstand, sich die Kirchengefäße anzn-
eignen, sie nach Aegypten zu senden und dort zu verkaufen.
Er ist der geschworue Feiud aller Europäer."
Die nachfolgende Erzählung ist bezeichnend für die
Zustände, in welchen sich in Abyssinien das Christenthum
befindet.
Die ägyptische Regierung sah mit Besorgniß, daß
Theodors Macht sich befestigte und ausbreitete. Sie schickte
also das kirchliche Oberhaupt der ägyptischen Christen, den
Patriarchen Daud, nach Abyssinien; er sollte wegen der
Sicherheit der Grenzen und wegen der Schonung der
Mohammedaner unterhandeln. Theodor wollte aber nicht
begreifen, wie ein christlicher Patriarch als Gesandter eines
ungläubigen Türken austreten könne und hielt ihn für
einen verkappten Muselmann; ohnehin trieb er öffentlich
Sklavenhandel. Einmal zog Theodor ein Pistol hervor,
zielte ans den erschreckten Patriarchen und rief: „Heiliger
Vater, ertheile mir den Segen!"
Daud warf sich auf die Kniee und gab den Segen.
Aber einige Tage später, als er sich mit dem Kaiser wieder
überwerfen hatte, excommuuicirte er denselben. Da ließ
Theodor den Abnna Salama kommen; dieser abyfsinische
Patriarch sollte den Bann des ägyptischen Patriarchen, der
eigentlich sein geistlicher Vorgesetzter ist, aufheben. Der
König hatte, nicht weit von seinem eigenen Zelte, jedem
der beiden Patriarchen einen von Dornen eingezäunten
Platz angewiesen, von wo aus dann jeder über den andern
den Bann aussprach.
„Ich bin Dein Oberhaupt!" sagte der Aegypter, „mir
sollst Du gehorcheu."
„In Alerandria allerdings; aber hier in Abyssinien
bin ich alleiniges Kirchenhaupt."
„Widerspenstiger Priester, ich excommunieire Dich,
sammt Deinem Könige."
„Und ich Dich auch," antwortete kaltblütig Salama,
„mir allein steht das Recht zu, den Bann auszusprechen."
Der Streit währte mehre Tage fort, bis Theodor den
Daud unverrichteter Sache nach Kairo zurückschickte. Aus
Rache ließ dieser alle Güter der Abyssiuier in Jerusalem
confisciren, und das abyssinische Kloster verkaufte er dem
russischen Bischöfe für 60/VjO Thaler, welche er in seine
Tasche steckte. —
in Abyssinien.
Als Theodor in Tigre den Insurgenten Negussi, 1861,
aufs Haupt geschlageu und gefangen genommen hatte, ließ
er ihn und seinen Bruder vorführen und beiden die linke
Hand und den rechten Fuß abhaueu, und um die Schmerzen
desto qualvoller zu machen, verbot er, ihren brennenden
Durst zu löschen. Tesama starb noch an demselben Tage.
Negussi lebte bis zum dritten Tage und man machte seinen
Leiden durch einen Lanzenstich ein Ende. Die Kirchen ström-
ten vom Blnt der Hingerichteten, und als eine Deputation
der Geistlichen in Arum vor Theodor erschien, äußerte dieser
christliche Barbar: „Ich habe einen Buud mit Gott abge-
schlössen; er hat versprochen, mich auf Erdeu nicht zu schla-
gen; ich dagegen habe gelobt, nicht in den Himmel zu stei-
geu und ihn zu bekämpfen."
Es ist Alles patriarchalische Barbarei. Ein Soldat hat
zwei Kaufleute beraubt und ermordet; man führt ihn vor
den König, der ihn fragt, weshalb er sie ermordet und nicht
einfach beraubt habe. Der Mörder äußerte, wenn er sie
nicht getödtet hätte, würden sie ihr Gut vertheidigt haben.
Theodor ließ ihm die beiden Hände abhauen und auf einem
Teller vorsetzen! „Du hattest also Hunger? Gut; nun hast
Du zu essen."
Da die Irrungen zwischen dem abyssinischen Gewalt-
Haber und den Europäern vorzugsweise dadurch entstan-
den sind, daß katholische wie protestantische Missionäre,
die sehr unwillkommen und verdächtig erscheinen, sich
im Land einfanden, so ist das Urtheil eines Mannes wie
Apel bemerkenswert; er stand mit Missionären in befreun-
deten Verhältnissen.
„Von Palästina kann ich bestimmt behaupten, daß kein
einziger Moslem je aus Ueberzeuguug zur protestantischen
Religion übergetreten ist, oder ohne irgend einen niate-
riellen Bortheil dadurch zu gewinnen. Von den Hebräern,
welche von der Mission zu Jerusalem bekehrt worden sind,
gibt es zwei, welche ich als durchaus rechtliche Männer
bezeichnen könnte, und zwei, welche weder kalt noch lau
sind; die übrigen taugen ganz einfach nichts.--Mit
dem bloßen Predigen und Disputiren wird selten ein Jude,
ein Orientale nie bekehrt werden. Die Missionäre nach
dem alten Systeme richten nichts aus; im Gegentheil, sie
säen nur Streit und Erbitterung."
Was nun die Missionäre in Abyssinien betrifft, so
nahm Theodor diejenigen, welche ihm Bischof Gobat aus
Jerusalem geschickt hatte, mit in den Krieg, damit sie ihm
Waffen nachsehen und ausbessern sollten. Er ließ einmal
Herrn Rosenthal kommen und befahl ihm, einen Kriegs-
wagen zu macheu. Theodor hatte in den alten jüdischen
Büchern gelesen, daß König David zu Wageu in den Krieg
gezogen sei, und das wollte er nun auch thun. Nach
Rosenthals Angaben wurde dann ein Wagen gebaut, so
gut oder übel es ebeu geheu wollte; man strich ihn hellgrün
an und trng ihn zum Könige, denn man hatte vergessen,
einen fahrbaren Weg zu machen! Als nun die Missionäre
baten, uicht blos Wagen bauen und Waffen repariren,
sondern auch den Abyssiniern predigen zu dürfen, ver-
weigerte er das: „In meinem Reiche soll es nur eine
Religion geben, die des Königs."
„Bei Allem, was er thut, ist es aus Effekt abgesehen;
er tritt theatralisch auf, oder wie die Abyssinier sich aus-
drücken fakerer, gloriosus."
Ein Gardehauptmann erzählte Herrn Apel Folgendes:
„Ich wurde an einem Sonntage früh um 6 Uhr zum Könige
gerufen. Er sagte zu mir: Bascha Georg, suche den Abnna
aus und schimpfe ihn einen Hund, nenne ihn einen Esel."
— Der Hauptmann gab dem König zu bedenken, daß er
eben ein bloßer Bascha sei; wenn ein Ras, d.h. General,
W. Hausmann: Das den
diese heiligen WorteSr.Majestät beim Patriarchen aus-
richte, so werde das doppelt wirksam sein. So geschah es
auch; der Patriarch nahm den Esel nnd den Hund mit
einer stillen Verbeugung entgegen.
„Was unsere europäische Civilisatiou betrifft, so hat
Theodor vou deren materiellen Vortheilen eine hohe Mei-
nnng; von der moralischen Tüchtigkeit des Westens ist
er noch nicht so recht überzeugt. Fünf Sechstel der Euro-
päer, welche Neugier oder Handelsgeist nach Abyssinien
führte, haben sich keineswegs so betragen, daß sie dem
Namen eines Franken Ehre machen."
Als im Jahre 1863 viele Empörungen gleichzeitig aus-
brachen, redete Theodor öffentlich in folgender Weise: —
,,©ott erhob mich aus dem Staub, um die unrechtmäßigen
Fürsten zu züchtigen und zu vertreiben. Er hat dieseWun-
der ohne mein Zuthun bewirkt. Ich habe einen Beruf;
worin besteht derselbe? Anfangs glaubte ich, das Volk
könne ich durch Frieden, Handel und sanfte Behandlung
erheben. Aber trotz aller Güte ist es schlimmer, als ob es
unter dem grausamsten Drucke stände. Nun weiß ich meine
Bestimmung, ich soll diesem Lande der Zorn Gottes sein\"
— Er ließ ein Siegel mit der Inschrift: „Theodor, Geißel
der Rebellen" stechen.
Apel erzählt ausführlich, wie es ihm selber in Gondar
erging. Der König fragte ihn, wie er, ein „Engländer",
ohne Erlaubniß ins Reich gekommen fei? Auf die Antwort,
daß er von Wochne aus um eine folche habe bitten wollen,
aber sofort nach Gondar abgeführt worden sei, rief der
König: „Und hier wirst Du bleiben, so lange Dein Kopf
auf den Schultern steht. Was Du verschuldet hast, weiß
ich noch nicht, aber bis auf Weiteres ist das Gefängniß der
beste Platz für Dich. Deine Landsleute und Deinen Consul
habe ich ohnehin schon eingesperrt. Ihr seid Alle in einem
Complotte; ich kenne das. Was hat ein englischer Arzt
hier zu schaffen; das Land ansspioniren willst Du. Fort
mit ihm !"
Der Abuna kam zu Apel ins Gefängniß, um mit ihm
über kirchliche Dinge zu sprechen und ihn überhaupt auszu-
he Element in der Walachei. 375
horchen. Es war, da überhaupt Barbaren viel Gewicht
auf Dogmen und unverständliche Dinge legen, viel die
Rede von solchen und von der heiligen Miriam. DieBibel
der Abendländer sei unecht, dagegen besäße man in Abyssi-
nien alte heilige Schriften?e. Nach längerer Haft ließ
Theodor Herrn Apel frei, gab ihm aber den Rath, das
Land fo schnell als möglich zu verlassen. Am 18. März
1863 zog er mit einer Karawane von Gondar ab und war
nach drei Wochen wieder in Matamma.
Ueber die Vorgänge, welche sich auf die Einkerkerung
Sterns, Camerons k. beziehen, gibt Herr Apel sehr aus-
sührliche Nachrichten. Wir schließen mit Folgendem, das
echt abyssinisch ist.
Theodor gab den Missionären Befehl, einen Mörser
zu gießen. Als sie Einwendungen machten, erklärte er, sie
sollten gehorchen oder würden eingesperrt. Zum Glück
befanden sich unter den Inden ein Pole, der früher in der
Armee gedient hatte und bis nach Gondar verschlagen wor-
den war. Diesem gelang es, einen Mörser herzurichten,
ein Gestell zu machen und einige Kugeln zu gießen. Das
Ganze wurde im Triumph zum Könige gebracht. Man lud
eine Kugel ein, die ein paar hundert Schritte weit flog.
Theodor war befriedigt.
Der Missionär Rosenthal hatte von Chartum her
einen 6 Fuß langen Teppich erhalten. Auf demselben war
der Löwentödter Jules Gerard abgebildet, wie er eben ein
Thier erlegt. Damit wollte Rosenthal dem König ein Ge-
schenk machen, bat um eine Audienz und legte seine Gabe
hin. Theodor gerieth in Wnth und rief:
„Seht diesen frechen Buben an! Er ist so unverschämt,
mir zu sagen, daß ich von den Türken fortgejagt und er-
schössen werde!" Gerard war nämlich mit türkischem Fes
abgebildet und sah also aus wie ein Mohammedaner. Der
Löwe aber ist das Symbol des abyssinischen Volkes. Ver-
geblich suchte Rosenthal die wahre Bedeutung des Bildes
zu erklären; er wurde sogleich ins Gefängniß geführt, sehr
hart behandelt und erst nach Verlauf von etwa drei Wochen
wieder freigelassen.
Dss deutsche
Wir können in Bezug auf das Glück, welches den
deutschen Einwanderer in den unteren Donauländern,
namentlich in der Moldau und Walachei.erwartet, uns
nach sehr eingehenden Beobachtungen und Ersahrungen
nicht so günstig aussprechen, wie in neuerer Zeit Mehre
es gelhan, die den S t r o m der deutsche n Aus-
wander u n g ausschließlich nach den Donauländern
lenken wollten. Es wurde namentlich hervorgehoben, daß
es ein verdienstliches Werk sei, deutsche Kraft und deutsches
Kapital nicht ausschließlich den Anglo-Amerikanern zu-
zutragen. Vorzüglich wurde betont, daß auch in der Wa-
lachei und Moldau, in Serbien und Bulgarien noch
unbebauter Boden genug sei. Flüsse durchströmten die
reichen Ebenen, und an der Südgrenze der erstgenannten
Länder ziehe sich in langem Laufe der mächtige deutsche
Strom, die Donau, hin. —
Dieses Alles hat seine volle Richtigkeit. Ja, große,
ungeheuere Flächen sind dort noch unbebaut. Nicht wie
in der Walachei.
in Deutschland drängt sich Dorf an Dorf, nicht wie dort
hat auch das kleinste Stückchen Erde einen hohen Werth.
An der Nordgrenze der Walachei zieht sich die majestätische
Gebirgskette der Karpathen in ununterbrochener Reihe
viele Meilen lang hin; in den höheren Lagen mit uner-
meßlichen Tannenwäldern bedeckt, während das Mittel-
gebirge riesige Bnchenhochwaldnngen trägt. Die Gebirge
verschließen in ihrem Schooße offenbar eine Menge nütz-
licher Metalle, deren Lagerstätten aber noch sehr unvoll-
ständig untersucht wurden. Es fehlt nicht an Kalk nnd
Marmorgestein. Der Salzreichthum des Landes ist
geradezu unerschöpflich. Erdöl wird in bedeutender Menge
gewonnen. Ueber 25 Flüsse und Flüßchen durchströmen
das Land von Nord nach Süd; alle münden schließlich in
die Donau. Freilich müssen wir bemerken, daß bis jetzt
keiner dieser Flüsse dem Lande durch Schiffbarkeit u. dergl.
Nutzen schafft, sondern daß sie durch die oft maßlosen Ueber-
schwemmungen großen Schaden thun.
376 W, Hausmann: Das den
Auf den weiten, fruchtbaren Tiefebenen wächst Herr-
liches Gras, welches stattliche Viehheerden ernährt. Na-
mentlich im südlichen Theile des Landes sind zahlreiche
kleine Seen und ausgedehnte Rohrbrüche. Das Schilf
wird von einigen Grundbesitzern zu hohem Preise verkauft,
da viele Ortfchafteu dasselbe zum Dachdecken benutzen.
Diese Teiche und Seen sind oft mit Wildenten und sonstigen
Wasservögeln förmlich bedeckt, während stattliche Trappen-
heerden durch die weiten Steppen schweifen. Das Klima
ist im Allgemeinen gut. Jntermittirende Fieber treten, wie
in allen nassen Tiesländern, nicht selten aus, indeß nirgends
so bösartig wie in den heißeren Erdstrichen.
Diese Vortheile alle wurden von Denen hervorgehoben,
welche sich mit der Hoffnung schmeichelten, die Ans-
Wanderung nach diesen Gegenden lenken zu können. Doch
hatten sie zu wenig auf die eiugeborue Bevölkerung, auf
die Regierung und die allgemeine politische Lage des Landes
Rücksicht genommen und vorausgesetzt, daß die Rumänen
und ihre Regierung die Deutschen mit offenen Armen ein-
pfangen würden, ja sich Wohl gar bald von deutschem Ein-
siusse leiten lassen möchten. Diese Voraussetzungen sind
aber unbegründet. — Allerdings muß der deutsche Aus-
Wanderer, der Geld und Arbeitskraft, deutschen Fleiß und
deutsche Sitte in ein fremdes, wenig knltivirtes Land trägt,
oder tragen soll, erwarten und verlangen, daß sein dem Laude
nützliches Streben von der Regierung und Bevölkerung
freundlich und unterstützend anerkannt werde. (In den
La Plata-Gegeudeu ist das z. B. entschieden der Fall.)
Aber wie steht es in dieser Beziehung in der Walachei
und Moldau, in Serbien und Bulgarien? Schon die
schwankenden politischen Verhältnisse dieser Länder müssen
gerechtes Bedenken erregen, sich vertrauensvoll in denselben
niederzulassen. Doch betrachten wir zunächst das Ver-
halten der Regierung den Deutscheu gegenüber; welche
Aussichten ergeben sich da? Hat diese Regierung schon
gezeigt, daß ihr die Eolonisation des Landes, die
Hebung der Volkswohlsahrt aufrichtig am Herzen liege?
Ist es ihr je in deu Sinn gekommen, namentlich deutsche
Einwanderer iu ihr uoch so wenig kultivirtes Territorium
zu rufen? Durchaus nicht. Die Regierung Rumäniens
hat zu viel mit inneren Parteikämpsen zu thuu. Ein groß-
artiges Bestechuugs- und Eorruptioussystem versplittert
die Summen, welche aus reellere Zwecke verwendet werden
sollten. Dabei soll Alles „rumänisirt" werden, und man
findet das intelligente deutsche Element sehr unbequem.
Der Haupteifer der Regieruug scheint aus die Bildung und
EntWickelung einer großen Militärmacht gerichtet zu
sein. Wie sich freilich ein großes Heer mit einer schwachen
Landbevölkerung verträgt — das mag die rumänische Re-
gierung am besten wissen. —
In Bezug auf die Bevölkerung können wir, ans zahl-
reiche Beobachtungen gestützt, behaupten, daß sie deutscher
Einwanderung ebenfalls sehr ungünstig gestimmt ist.
Das Volk des flachen Landes und der wenigen kleinen
Städte ist ausschließlich romanisch. Alle gehören der
griechisch-orientalischen Kirche an. Dabei sind sie sehr ge-
neigt, alle anderen Glaubensangehörigen für„Unchristen"
zu halten, und nur sich allem für die Auserwählten. Sehr
naiv ist z. B. der Ausdruck, wenn ein Protestant oder Ka-
tholik aus welchem Grunde immer zur „orthodoxen" Kirche
übertritt, sie von ihn: sagen: am face cristin — wir
haben ihn zum Christen gemacht.
Im Allgemeinen stehen die Walachen auf der niedrig-
sten Bildungsstufe, interefsireu sich für nichts, was nicht
ihre Sinnlichkeit berührt, und haben sehr wenig Lust, etwas
zu lernen. — Aber, so wird man einwenden, leben denn
he Element in der Sßcifcichei.
nicht in Bukarest über 10,000 Deutsche und meist in glück-
lichen Verhältnissen? Ja, das ist richtig. Doch nur in
Bukarest. Auch die Rumänen brauchen Stiefeln und
Schuhe, darum müssen deutsche Schuster da sein. Nicht
alle können ihre Kleider aus Paris sich bringen lassen,
darum müssen deutsche Schneider da sein — wenn sie auch
französische Namen führen. Uhrmacher, Möbeltischler,
Wagenfabrikanten, Galanterie - und Modewaarenhand-
hingen, Apotheken und Gasthöfe, das Alles ist deutsch. Für
alle diese Fächer finden die Rumänen noch keine Vertreter
aus ihrem Volke. Vor wenig Jahrzehnten noch wurden
selbst die gemeinsten Handwerke lediglich von Ausländern
betrieben.
Doch das oben Gesagte ist noch kein Beweis dafür, daß
der Dentsche sich hier überhaupt Wohl und Heimisch
fühlen müsse. Bukarest bildet nur eine Ausnahme und
nicht die Regel, nach der man das Land benrtheilen kann.
Der Handel ist dort der große Motor, welcher Alles in
Beweguug setzt und erhält. Dieser zog die vielen fremden
Eonfnlate hierher und machte die Errichtung anständiger
und zahlreicher Gasthöfe uöthig, während man sonst im
Lande meist nur sehr klägliche schmutzige Herbergen findet.
Trifft man auf irgend einer Station ein leidlich ein-
gerichtetes Wirthshans, so ist der Eigenthümer bestimmt ein
Deutscher. Die nahe Verbindung Bukarests mit den
Donauhäfen erleichterte den Verkehr und brachte viele Fremde
her. —
In anderen Landestheilen ist dagegen keine einzige
Kunststraße; die Kommuuikationswege sind überhaupt
sehr schlecht. Mit Leichtigkeit könnte man Eisenbahnen
anlegen; Eichen zu Schwelleu :c. wachsen selbst im Tief-
lande und könnten das Material liefern. Eoncession auf
Eoucession wird ertheilt, über Lauf und Verbindung dieser
oder jeuer Bahnstrecke werden heftige Debatten geführt,
aber bis heute noch ist nicht eine Meile wirklich ausgebaut.
Wenn die extravagante Rumänisationsidee, welche jetzt in
so vielen Köpfen spukt, einmal zum wilden Ausbruch
kommt, dann könnte es leicht geschehen, daß alle Deutschen
zur Auswanderung gezwungen würden. Geschichtliche
Beispiele solcher Katastropheu ließeu sich anführen. Wie
wenig Umstände die Rumänen vorkommenden Falls mit
den Deutschen machen, kann man aus Folgendem ent-
nehmen. Wir begegneten z. B. Zügen von 40 bis 60
Mann Deutschen, die man auswies, weil sie angeblich
Steuern verweigert habeu sollten, oder weil sich Mängel
in ihrem Passe fänden, — nicht Einer hatte auch nur
das geringste positive Verbrechen begangen. Sie wurden
mit Halseiseu paarweise aneinander geschlossen
über die 36 Stunden weit entfernte Grenze
transportirt. Mehre dieser „Schüblinge" gehörten
durchaus nicht den niederen Klassen an. Die Meisten
trafen aus der österreichischen Grenze in einem erbärmlichen
Zustande ein. Essen konnten sie, was sie in der Tasche
trugen, deuu die Regieruug gab ihnen nichts. Nachts
wurden sie in den Gebirgswirthshäuseru in einen engen
Raum getrieben, wo sie im Stocksinstern auf der kalten
Erde liegend sichs bequem machen konnten! — Man sieht
die rumänische Halbbarbarei in solchen Vorgängen recht
handgreiflich. — Manche wollen nicht daran verzweifeln,
daß eine heilsame Aendernng der Regierungsprinzipien
möglich sei, namentlich wenn irgend ein dem deutschen
Stamme selbst angehöriger Fürst hier dauernd regiert. —
Aber lasse sich doch Niemand einfallen, deutsche Aus-
Wanderer auf den Boden Rumäniens verlocken zu wollen!
Eine gedeihliche und gesicherte Zukunft könnten sie ohnedies
nur haben, wenn sie, wie einst die deutschen Ansiedler in
Kjökken möddin
Siebenbürgen, sich sogleich zu festen Gemeinwesen
konstitniren könnten und wie dort ihre eigenen Richter,
Schulen und Pfarrämter hätten. Daß aber die Regierung
Rumäniens nicht der klugen Politik der alten Könige von
Ungarn folgen werde, davon sind wir überzeugt.
Das über die Walachei Gesagte gilt in voller Aus-
dehnung auch für die Moldau, für Serbien und Bulgarien,
die sämmtlich unter denselben Uebelständen leiden. Es
müßten noch wunderbare Veränderungen vorgehen, bis
deutsche Einwanderer dort eine zweite gemüthliche, traute
in Südamerika. 377
Heimat finden könnten. Lange noch werden Tansende und
Tansende, trotz der Gefahren und Beschwerlichkeiten der
weiten Seereise und der viel größeren Reisekosten über die
blauen Wogen des Atlantischen Oeeans segeln und dort sich
eine neue Heimat gründen. Und welchen politischen Un-
ruhen und Wechselsällen werden alle Länder an der untern
Donau während der nächsten Jahrzehnte ausgesetzt sein?
Kronstadt in Siebenbürgen.
Wilhelm Hausmann.
Kjökken möddinj
Schon früher haben wir daraus hingewiesen, daß
Muschelhügel, die aus sogenannten Küchenabfällen
bestehen, bei Paranahyba in Brasilien und an der Küste
von Ecuador aufgefunden worden sind. Neuerdings erhal-
ten wir Kunde über das Vorkommen derselben in anderen
Gegenden. Richard Burton, jetzt Consul zu Sautos
in der brasilianischen Provinz San Paulo, untersuchte im
Dezember 1865 die Bay des genannten Hafens. Die
Küste jener Region ist auf einer Strecke von etwa
50 Legnas, von der Angra dos Rios bis zum Rio
Conanen von Goayana- Indianern bewohnt gewesen, die
jetzt verschwunden sind. Sie hatten weder Pflanzungen
noch Dörfer und wohnten in Höhlen oder Erdlöchern; in
diesen unterhielten sie bei Tag und Nacht ein Feuer und
schliefen aus Fellen wilder Thiere. Sie verschwanden aus
der Santosbay um das Jahr 1532, bald nach Ankunft
der Portugiesen. Man weiß, daß sie den wilden Thieren
auf den Wanderungen in den sogenannten Wintermonaten,
Mai bis September, vom innern Hochlande nach der Küste
hin folgten und daß sie an dieser sich vorzugsweise von
Austern und anderen Muschelthieren ernährten. Sie haben
im Mangrovegebüsch, wo Krabben und verschiedene Arten
von Crustaeeen sehr häufig sind, Lagerplätze gehabt. An
diesen liegen die leeren Schalen zu hohen Hügeln
aufgehäuft, und in diesen begruben sie ihre
Todten. Manche sind Doppelhügel und dann allemal
durch einen kleinen Strom süßen Wassers von einander
getrennt. Solcher Kjökken möddings hat Burton in der
Santosbay ungefähr 20 gefunden; doch liegen noch manche
andere der Küste eutlaug bei Jguapa, Conanen und weiter
nach Süden hin. Manche haben eine beträchtliche Größe.
Ans der Jlha de Caseeiro, nordwestlich von Santos liegen
drei Hügel; einer derselben ist ungefähr 200 (?) Fuß hoch
und hat 2800 Fuß im Durchmesser. DieSchaleu bilden ein
Conglomorat, oft in Blöcken von mindestens 20 Centner
Schwere. Seit drei Jahrhunderten brennt man Kalk aus
diesen Schalen, und der Vorrath wird noch lange Zeit an-
dauern.
Der zweite Fund ist am Essequibo, in Britisch
Guyana, gemacht worden; dort hat der Missionär Brett
einen „Tumulus"/ geöffnet (Journal der londoner anthro-
pologischen Gesellschaft. Oktober 1866. S. 95). Der
Hügel liegt am steilen Abhang des Waramuri- Sandriffs,
unweit vom Ufer des Moruca, da wo eine ausgedehnte
Sunipfgegend beginnt, in welcher die Waraus uud andere
Jndianerhorden wohnen; sie erstreckt sich nach Nordwesten
hin bis zum Delta des Orinoco. Der Hügel hat jetzt
etwa 20 Fuß Höhe, ist hübsch abgerundet und hat an seiner
Globus X. Nr. 12.
5 in Südamerika.
Basis etwa 100 Fuß im Durchmesser. Das „Riff", auf
welchem er sich erhebt, besteht gleich anderen, die weiter
landeinwärts liegen, aus weißem Saude, der mit Torf oder
zersetzten Pflanzenstoffen gemischt ist, aber keine organischen
Ueberreste enthält. Riff und Tumulus waren zu der Zeit,
da die Mission gegründet wurde, also 1845, mit Wald-
bäumen bewachsen. Im November 1865 begann Hrn. Bretts
Katechist, Campbell, mit den Ausgrabungsarbeiten, indem
er von Osten nach Westen einen Einschnitt von 20 Fuß
Breite machte; nach der Tiefe zu war er daun schmaler.
„So weit nachgegraben wurde, bestand der Hügel Vorzugs-
weise aus schwarz- und weißgestreiften Strandmond-
schnecken, ähnlich denen, welche man noch auf der Ober-
fläche findet, von Krabben, Venusmuscheln, Trompeten-
mnscheln in ganz ungeheuerer Menge. Dazwischen lagen
Ueberreste von Fischen und Landthieren. Das Ganze
machte den Eindruck, als hätten wir die Abfälle unzähliger
Mahlzeiten längstverschwundener Menschen vor uns, von
Menschen ans sehr alten Zeiten, in denen die Waramuri-
Bergkette, die jetzt durch eine 10 bis 12 Miles breite
Strecke angeschwemmten Bodens vom Meer entfernt ist,
noch ein Vorgebirge, vielleicht gar eine Insel war. -Man
sieht die im leichten Erdboden eingebetteten Muscheln an
beiden Seiten des Einschnittes in dünnen Lagen so dicht
auf einander, daß man unwillkürlich an die Häute einer
Zwiebel erinnert wird. Streifen oder verschiedene Farben
deuten die sneeessiven Ablagerungen an. Wir konnten nur
7 bis 8 Fuß ties graben; die Indianer verweigerten näm-
lich die Arbeit, sie wollten die menschlichen Ueberreste,
welche wir schon in 4 bis 5 Fuß Tiese gefunden hatten,
nicht noch mehr stören und beunruhigen. Diese Menschen-
knochen lagen an fünf oder sechs Stellen, aber nicht etwa
in senkrechter oder horizontaler Lage, sondern die Ueber-
bleibsel jedes einzelnen Menschen waren zerbrochen und
durcheinander geworfen in einer Weise, die sich gar nicht
beschreiben läßt. So liegt z.B. das Bruchstück eines Elbo-
genknochens zwischen den Rückenwirbeln, und manche ganz
verschiedene Theile sind in der seltsamsten Verwirrung wie
an - uud durcheinander geschweißt. Ich habe ein Kästchen
voll dieser menschlichen Ueberreste gesammelt, anch einige
Proben von Knochen großer Fische, sodann zwei Klumpen
von harter rother Farbe, mehre Steinäxte oder vielmehr
Tomahawks, welche einst Stiele von hartem Holze gehabt
haben müssen; einen zerbrochenen Stein mit einer scharfen
Schneide, der wahrscheinlich als Meffer gebraucht worden
ist; sodann noch einen seltsamen Stab, der versteinert und
viel schwerer als die Knochen ist; leider ist derselbe beim
Ausgraben in vier Theile zerbrochen. Er setzt alle, die
48
378 Die Sprache der grr
ihn sehen, in Erstaunen; vielleicht ist er ein fossil gewor-
better Schwanz eines gigantischen Nochen; doch überlasse
ich die Entscheidung Anderen. Wir haben keinerlei Schmuck
oder Metalle gefunden, wohl aber klebte Bruchstücke von
Granit und anderen Steinen, womit Kinder zu spielen Pflegen.
Seitdem die obengenannten Gegenstände ausgegraben
worden sind, hat Herr Campbell ein kleines Loch einige
Fuß tiefer ausgegraben. Er förderte dieselben Muscheln,
Fischknochen k. zu Tage, aber auch einen zerbrochenen Schä-
bei und andere Menschenknochen. Auch fand er noch fünf
Klumpen rother Farbe. Er wollte uoch tiefer graben,
aber dagegen erhoben die Indianer Einsprache. Aus dem
Umstände, daß diese menschlichen Ueberreste so ties unter
allen anderen, dazu gauz unregelmäßig und iu so verschie-
dener Tiefe liegen, scheint sich zu ergeben, daß sie in ver-
schiedenen Zeiten und während der Muschelhügel entstand,
allmälig dahin gekommen sind.
Aber aus welche Weise geschah das? Mau kann darüber
zweierlei Muthmaßuugeu ausstellen. 1) Es ist möglich,
daß sie dorthin gekommen seien, nachdem der Hügel schon
lange, liebe Jahre vorhanden gewesen ist. Man hat sie
dorthin gebracht entweder unmittelbar nach dem Tode,
oder auch nachdem das Geripp lange Zeit über der Erde
gewesen war, also gemäß einem Brauche, der uoch heute
Itländischm Eskimo.
bei manchen Indianern obwaltet. Dafür scheinen die
Klttmpett rother Farbe zu sprechen; die Indianer bemalten
nämlich die Skelette ihrer Angehörigen nicht selten roth.
Aber was soll man über die unregelmäßige Lage in so
ganz verschiedenen Tiefen denken und daß sie zerbrochen
zerstreut sind? Schädel und Kinnbacken von Kindern sind
gewaltsam zerschmettert worden, offenbar auf einer Seite;
alle audereu Schädel kommen nur in Bruchstücken vor, von
welchen ich die größten gesammelt habe. Ein Mannsschädel
ist etwa einen Viertelzoll dick und auch gleich den übrigen
zersplittert. Manche Knochen sind allerdings während des
Ansgrabens zerbrochen worden, aber das erkennt man
sofort an der Hellern Farbe, während dagegen die alten
Brüche dunkel sind. — 2) Die ichthyophagen Menschen,
von denen jener Hügel herrührt, haben vielleicht kanniba-
lische Mahlzeiten gehalten und die Knochen gleich anderen
Abfällen weggeworfen. Eine Ueberliesernng der Indianer
sagt, daß die tnenschettfrefsenden Stämme allemal die
Knochen zerschlugen, um das Mark heraus zu holen, und
sie meinen, daß jene alten Knochen zu diesem Zwecke
zerbrochen worden seien. Von dem Muschelhügel und
dessett Geschichte wußteu sie Nichts. Meiner Meinung nach
wird inan bei näheren Forschungen noch manche ähnliche
Hügel finden."
Dir Sprache der gr
st. Die Sprache derselben kann nicht anders als arm
und dürftig sein, da diesem Volke alle künstlichen und ver-
Wickelteren Verhältnisse fehlen. Für abftraete Begriffe
ntangelt es ihnen an Worten; haben sie doch nicht ein-
mal eine Religion. Sie kennen nur wenige Adjectiva,
aber gleich den übrigen amerikanischen Sprachen, die alle-
satnmt polysynthetisch sind, sehr viele Suffixa und Asfixa;
sie können daher Vielerlei auf kurzem Wege ausdrücken,
aber in einer Weise, daß das einzelne Wort uns sehr über-
laden erscheint. Die Sprache ist daher, wie ihr genauer
Kenner Paul Egede, der eine Grammatik und ein Wörter-
buch der grönländischen Sprache verfaßt hat, fehrrich-
tig bemerkt „ungemein schwer" zu erlernen. Für concrete
Gegenstände, mit denen die Grönländer umgehen, und welche
ihnen in ihrem eigenen Lande ausstoßen, haben sie dagegen
einen großen Reichthum an Worten. Wir werden dies
aus den folgenden Beispielen ersehen, die zugleich einen
Blick in das Grönländische überhaupt gestatten. — Das
Zeitwort Iunnvok bedeutet: er lebt, ist ein Mensch. Da-
von ist abgeleitet: Jnrngigpok, er ist ein hübscher Mensch;
Jnnurdlnkpok, er ist ein übelgestalteter Mensch; Jttnnkn-
lukpok, er ist ein unglücklicher Mensch; Innnksiorpok, er
ist ein guter Mensch; Jnnnkpilukpok, er ist ein schlechter
Mensch; Jnnuksisimarok, es ist ein Mensch wie ein Grön-
länder; Jnnungonpok, er sängt an ein Grönländer zu
werden. Für „Eis" haben sie eine Menge Ausdrücke.
Jllo ist Eis au den Fenstern, Sermaek Eis, das auf deu
Bergen liegt oder an Booten und Schlitten festgefroren ist,
Sikko flaches Eis auf dem Wasser, Kaungak das Eis, wel-
ches durch Ebbe tuti) Flut von der Küste au sich über das
Wasser legt, Jlluliak ein schwimmender Eisberg, Sermer-
soak das fette Eis, das auf dem ganzen Hochlande liegt,
Kannik heißt Schnee, so lange er sich noch in der Lust
nländischen Eskimo.
befindet und Apttt der Schnee, der auf der Erde liegt. —
Höchst eigentümlich ist es im Grönländischen, daß die
Endungen der persönlichen Fürwörter Suffixa werden,
welche die besitzanzeigenden Fürwörter ersetzen und die
Personformen des Zeitwortes bilden. Betrachten wir jetzt
die Conjngation der Gegenwart des Zeitwortes „fein":
Uanga, ich bin; iblit, du bist; una, er ist; uagut, wir sind;
ilipse, ihr seid; okko, sie sind; naguk, wir beide sind; iliptik,
ihr beide seid; okko, sie beide sind.
Bei der schon oben erwähnten Eigenthümlichkeit vieler
amerikanischen Sprachen, die Wörter zu verkürzen und dann
zusammenzuschmelzen, wird es oft fchwer, die einzelnett
Wörterklassen aus einem Satz herauszufinden. So heißt
z. B. im Grönländischen das zusammengesetzte Wort
Anlisariartorasuarpok, er hat sich beeilt auszugehen, um
zu fischen. Das ist zusammengeschmolzen ans: aulisarpok,
er fischt, peartorpok, er geht aus zu thun, und Pinnesnar-
pok, er beeilt sich. Von dem ersten Zeitwort ist aulisar
beibehalten, vom zweiten eartor (e ist des Wohlklangs
wegen in i verwandelt) und vom dritten esnarpok (pok als
Verbalendnng), wo das e wieder, des Wohllautes wegen,
in a übergegangen ist.
Es hat diese Sprache auch schon ihre Literatur. Die
diesjährige Augustnummer von Trübner's „American and
Oriental Literary Record" enthält außer besonderen
Rubriken über peruanische, mericanische und yncatanische
attch eine über Eskimo-Literatur, d. h. über in Grön-
land in der Eskimo - Sprache geschriebene und gedruckte
Bücher. Da es Missionsunternehmungen sind, so sind
es zumeist biblische Uebersetzuttgett, aber es befindet sich
auch ein gemeinnütziges Journal darunter mit Holz-
schnitten, von Eskimos gezeichnet und ausgeführt.
Aus allen Erdtheilm.
379
Aus allen
Preise der Negersklaven in Jnnerafrika. Da die Stämme
in Afrika sehr häusig Krieg führen, so werden auch Gefangene
gemacht, und diese sind, nach Landesbrauch, Sklaven der Sieger.
Viele werden niedergemacht, weil man sie nicht zu verwenden
weiß und die Ausfuhr der „schwarzen Waare" aus Afrika nach
Amerika so gut wie völlig aufgehört hat. Als Eduard Vogel
den Sultan von Bornu gegen die Musgo begleitete, wurden
den männlichen Gefangenen die Fußsehnen abgeschnitten; man
ließ sie auf freiem Felde verhungern und elend verderben. Das
geschah, seitdem die Engländer in Tripolis und Tunis (wohin
früher die Gefangenen verkauft wurden, um als Hausdiener
verwandt uud zum Mohammedanismus bekehrt zu werden) dem
Negerhandel ein Ende gemacht hatten. Seitdem dieser auch über
See verhindert ist, werden weit mehr Gefangene als früher
getödtet. Aber die Fehden unter den Barbarei^ dauern ununter-
brechen fort, obwohl der Menschenfang nicht mehr lohnt. Jetzt
nun, so meldet die „Revue de Paris", gilt im Innern ein
Sklav, der ein Alter zwischen 25 und 35 Jahren hat, etwa
24 Francs. Man rechnet in Afrika nach Kaurimufcheln (Cypraea
moneta), deren etwa 2400 auf einen Kronthaler gehen. Ein Neger-
Mädchen von 9 bis '15 Jahren ist nur 36 Francs Werth, von
12 bis 15 Jahren ist der Preis um 5 Francs höher. „Man
kann unter gegenwärtigen Umständen schon für einen Lappen
rothen Tuches eine Sklavin bekommen." Man sieht, daß
die Neger einander nicht hoch im Preise schätzen. Die londoner
Philanthropen könnten jetzt billig einkaufen und viele Schwarze
frei machen. Freilich läge dann die Schwierigkeit in Beant-
wortung der Frage: Was soll man mit solchen Freigekauften
anfangen? Läßt man sie in Afrika, so werden sie bei der ersten
besten Gelegenheit wieder zu Sklaven gemacht; in Europa kann
man sie nicht verwenden, und Amerika hat schon mehr freie
Neger, als ihm erwünscht sind.
Die Verwirrung in China dauert fort. Im Augustmonat
war in der Neichshanptstadt Peking der Raub kleiner Kinder,
Mädchen und junger Frauen an der Tagesordnung und auf
eine schreckenerregende Höhe gestiegen. Die Brigauten bedienen
sich eines betäubenden Pulvers, um ihre Opfer einzuschläfern
und dann fortzuschleppen. Nachher verlangen sie ein Lösegeld;
wer nicht ausgelöst wird, verfällt dem Tode.— Die Nien fei-
Rebellen sind aus der Provinz Hu pe nach Ho nan und
Tschan tong gezogen, während im Westen die mohammedanischen
Rebellen, von deren Treiben wir neulich im „Globus" eine
Schilderung entwarfen, Herren der Provinz Kan fn sind und
dort die Hauptstadt eingeäschert haben. Auch in Yün nan und
Kuei tscheu ist die Ruhe noch nicht wieder hergestellt, und die
Stämme im Gebirge, welche bekanntlich nicht zum chinesischen
Volksschlage gehören, sind in die Ebenen hinabgestiegen und pliin-
dern das Land aus. Und während auch in der Mandschurei
die Unruhen fortdauern, geht der Seeraub an den Küsten nach
wie vor im Schwange. „Das Himmlische Reich ist zu einer
Hölle geworden."
Die Mekka-Pilgerfahrt 1866. Wir finden über dieselbe
in einer Correspondenz der „Allgemeinen Zeitung" folgende
Notizen:
Mehre Berichte aus Dfcheddah und Jambo von den nach
Mekka und Medina geschickten türkischen Aerzten, welche gegen-
wärtig der internationalen Sanitätsconserenz vorliegen, enthalten
zahlreiche interessante Details über die mohammedanische Pilger-
fahrt. Ein Europäer, bekanntlich von den Mosleminen als das
unreinlichste Geschöpf betrachtet, würde es nicht für möglich
halten, das? es so viel Schmutz nnd Elend auf der Erde gibt.
Die Schilderung der Zustände, von den türkischen Aerzten gewiß
möglichst gelinde gehalten, läßt es als ein Wunder erscheinen,
daß nicht jedes Jahr Pest oder Flecksieber ausbrechen. Die
empfohlenen nnd zum Theil schon in Angriff genommenen Maß-
regeln sind nicht ausreichend, und hoffentlich wird die Eonferenz
ihre Pflicht thnn, Europa, wenn anch nicht vor der Cholera,
jedenfalls aber vor der Einschleppung pestartiger Seuchen zu
behüten. Die wichtigste Maßregel, nur solche Individuen, welche
mit Geldmitteln reichlich versehen sind, zuzulassen, dürfte schwer
E r d t h c i l e n.
auszuführen sein nnd leicht umgangen werden können. — Die
Aerzte haben zum Theil auch Widerstand abseilen der Pilger zu
erfahre» gehabt, besonders von Seiten der indischen und java-
nischen Pilger. Eines Tages, als ein Theil der indischen Kara-
wane nach Ablauf der Quarantänezeit die Erlaubniß erhielt, in
Mekka einzuziehen, griffen die javanischen Pilger zu ihren Waffen,
um vor Ablauf der bestimmten Zeit sich gewaltsam den Einzug
in Mekka zu erzwingen. Eilig herbeigezogenes Militär ent-
wasfnete die Rebellen, welche alsdann ihre Quarantäne unter
strenger Bewachung beendigten. Während des Monats Seser
(Mai/Juni) starben in Mekka selbst 73 Menschen an Fieber,
Dysenterie, Typhus uud Blattern. Letztere richten besonders
starke Verheerungen an, da die Impfung, deren ganz evidenter
Nutzen in hiesigen Gegenden besonders ins Auge springt, noch
nicht allgemein geworden ist. Von den vier Karawanen, welche
von Medina nach Mekka zurückkehrten, starben unterwegs auf
2200 Pilger 130 (6 Procent). Seit dem 10. Mai sind in
Dscheddah' selbst nur 12 Cholerafälle vorgekommen, von denen
7 tödtlich endeten. Den türkischen Berichten zufolge ist der
indische, resp. javanische Pilgerzug der bei weitem unreinlichste
und gefährlichste.
Dolmen auch auf Tongatabu in der Siidsee. In der
Anthropologischen Gesellschaft zu London berichtete ein Herr
Mackenzie, daß sein Oheim, Herr Hervey auf Tongatabu (20°
40'©., 165° 40' W.) ein merkwürdiges, aus Korallenfels auf-
geführtes Bauwerk besucht habe. Dasselbe liegt au der Südost-
küste der Insel und kann in gewisser Beziehung als eiu Crom-
lech bezeichuet werden nnd steht einsam und ganz abgelegen; in
der ganzen Gegend sind weiter keine anderen Monumente vor-
handen als die etwa 9 Miles entfernt liegenden sogen, cyklopi-
schen Gräber der Tnitongas, welche wir schon in Cooks Reisen
abgebildet finden; sie sind aber seit jener Zeit mit dichtem Wald-
gebüsch umwachsen und schwer zugänglich. Hervey, welcher seine
Entdeckung zufällig machte, war nicht mit Werkzeugen zum
Messen versehen, doch werden die nachfolgenden Angaben an-
nähernd genau seilt: der obere Querstein ist 24 Fuß lang und
mehr als 4 Fuß dick; die aufrecht gestellten Steine sind 16 Fuß
hoch, 8 Fuß bis 9 Fuß 6 Zoll breit von der Vorder- bis zur
Hinterseite. Das Material besteht aus Korallenfels oder Riff-
koralleu aus der Nähe und ist verschieden von jenem der anderen
Bauten ans der Insel; diese letzteren sind aus Steinen aufgc-
führt, welche man von der ziemlich weit von Tongatabu nach
Nordosten hin liegenden Insel Wallis geholt hat. Das Bauwerk
ist uicht nach den Himmelsgegenden orientirt. Jede geschichtliche
Überlieferung fehlt, doch ist eiu sehr hohes Alterthum uuver-
kennbar. Die heutigen Insulaner sagen, dort habe einst ein
großer Geist seine Last abgeworfen, und nun könnten alle Men-
schen auf Tongatabu dieselbe nicht emporheben. — Prichard hat
in seiner Abhandlung über „Vili und dessen Bewohner" aus das
von Hervey besuchte Denkmal hingewiesen; es werde von deu
Eingebornen Haamosa Maui, d.h.Maui's Last, Bürde, genannt
nnd man meine, der Geist habe diese Steine von Bulotn her?
gebracht.
Die amerikanische Völkerwanderung. Unter diesem Titel
hat Hr. Friedrich von Hellwald zu Wien eine „Studie" er-
scheinen lassen, welche in sehr verständiger Weise gegen die An-
nähme auftritt, derzufolge die westliche Erdhalbe ihre Urbewohner
von Asien oder aus irgend einem andern Erdtheile erhalten
haben soll. Er spricht sich entschieden für das Antochth onen-
thnm der Amerikaner aus, und wir sind überzeugt, daß er
darin Recht habe. Um jüdische Mythen, welche Jahrhunderte
lang einen so großen Einfluß geübt haben, kümmert er sich na-
türlich gar nicht. Seitdem wir wissen, daß mindestens schon
zur Diluvialzeit Menschen auf Erden gewohnt haben, hat die
Wissenschaft mit Adam nichts mehr zu schaffen. Wenn die
Natur in Asien :c. Menschen entstehen ließ, was hätte sie hin-
dern sollen und hindern können, in Amerika ein Gleiches zu
thun? Und sie hat es auch gethan. Wir kennen Menschen-
spuren in Amerika, die mindestens 50,000 Jahre hinaufreichen;
es erscheint demnach gradezu absurd, die Urbewohner jenes Eon-
48*
380 Aus allen
tinentes ans der Fremde herzuholen; die alten Theorien ver-
duften in ihr eigentliches Element, den grauen Nebel einer ver-
irrten Phantasie. Die Nothbrücke der Behringsstraße, über
welche man die Menschen nach Amerika von jenseits des Polar-
kreises her kommen und sie dann bis zum Feuerlande sich aus-
breiten ließ, ist völlig eingebrochen. Herr von Hellwald hätte
mit viel schärferer und mehr eingehender Kritik den alten Wahn
bekämpfen können, in der Hauptsache aber ist feine Grundansicht
gewiß zutreffend. Sehr richtig bemerkt er:
„Der Begriff der Wanderung amerikanischer Völker wird
meistens mit jenem einer Einwanderung nach Amerika
verwechselt. Eben weil der amerikanische Kontinent untrügliche
Denkmäler aufweist, die auf eiue Wanderung der einheimischen
Horden in demselben hindeuten, wurde drei Jahrhunderte laug
die Idee einer Einwanderung kräftigst unterstützt, indem diese
Denkmäler eiue falsche Auslegung erfuhren. Andererseits blieb
deu ersten europäischen Ankömmlingen das Vorfinden einer über-
raschend hohen Kultur iu dem vermeintlich von Wilden bewohnten
Erdtheile derart unerklärlich, und die damaligen Kenntnisse von
den Civilisationsverhältnifsen der hinterasiatischen Völker waren
noch derart beschränkt, daß zu Hypothese» gegriffen wurde, welche
die spätere Forschung keineswegs zn bestätigen vermochte."
Ganz richtig. Was aber Hr. von Hellwald über die Wan-
derungen der amerikanischen Nrvölker aufstellt, ist zum Theil in
hohem Grade bedenklich. Wir werden gelegentlich an einem
andern Orte näher auf den Gegenstand eingehen, weil uns hier
der Raum fehlt. Hr. von Hellwald vermeidet seinerseits die
Hypothesen nicht (z. B. S. 24 u. 25), man soll aber bei solchen
Gegenständen das „vermnthlich, wahrscheinlich, können, mögen,
dürften" und dergleichen sorgfältig vermeiden. Damit richtet
man nichts aus, und aus Europa braucht man keine keltischen
Analogien heranzuziehen. Die Kritik muß in solchen Dingen
klamm, kuapp und stramm sich halten.
„Es dürften die Völker des amerikanischen Kupferalters,
iu deu Seegegenden blühend, deu Thäleru des Ohio und Mis-
sissippi südwärts gefolgt sein, dann aber auch die heutigen Land-
schaften Louisiana' und Texas, wahrscheinlich am Saume
jener sanften Abdachung, welche in letzterem Gebiete vom Rio
Grande bis zum Rio Brazos hinzieht, gegen die Ufer des Rio
Grande ihre Schritte gelenkt haben. Zahlreiche Andeutungen
lassen übrigens als gewiß erscheinen, es sei dies nicht der ein-
zige Weg gewesen, auf dem nördliche Völker nach dem Süden
gelangten. Vermuthlich trennte sich ein Theil derselben im
Mississippithale los, um gegeu Südosten nach Florida, dem
Sitze einer hohen Kultur (— das ist unrichtig, Florida war
nie Sitz einer solchen —und von hier ans nach Euba und
Nueatau zu ziehen (— das müßte über See geschehen sein! —),
während ein Zweig die Insel Euba ihrer Lauge nach von West
gen Ost durchstreifte und durch den großen Bogen der Caraiben
(—sie!—) den südamerikanischen Gestaden des Orinoco zu-
eilte!" :e.
Das find pnre Hypothesen, die besser bei Seite geblieben
wären, damit nicht neue willkürliche Annahmen zu den veralteten
kommen. Auch hätten wir eine sorgfältigere Druckrevision in
Bezug auf manche Namen gewünscht, und 'wie unter dem Werke
über die „Geschichte'/ von Peru, Marmoutels Jncas
(©. 49) einen Platz haben finden können, das ist uns nicht
recht klar. — Die Annahme (S. 17), daß „die Prachtbauten
von Chicheu Itza und Palenqne nicht den geringsten Vergleich
mit den einfachsten Denkmälern griechischer und römischer Ge-
sittuug aushalten und daß die amerikanischen Zeichnungen und
Bildwerke weit entfernt sind, irgend eine künstlerische Auffassung
zu zeigeu", wird Niemand theilen, der jenen Denkmälern ein
eingehendes Studium zugewaudt hat. Eigenartig sind sie aller-
dings. Abgesehen von diesen unseren Ausstellungen ist es immer-
hin des Lobes Werth, daß Hr. von Hellwald der Antochthonie
das Wort geredet hat. Vielleicht ist das kleine Werk nur eine
vorläufige Skizze, welcher eine größere, streng kritische Arbeit folgt.
Die „Garimpeiros" in den brasilianischen Urwäldern.
In den nördlichen Provinzen des südamerikanischen Kaiser-
reiches, wo Civilisation, Handel nnd Industrie sich fast nur auf
die Küsteugegenden beschränken, widmet sich die Bevölkerung
größtentheils nur der sogenannten „Extraktiv-Industrie". Diese
Leute, die in die unzugänglichsten Tiefen des Urwaldes dringen,
um in den Flußbetten Gold zn waschen und Diamanten' zu
suchen, um die Seringa (Kantschnck), den Uararä und die Car-
nanba zu gewinnen, nnd Medizinalpflanzen zn pflücken, welche
an die „Regatoes" verkauft werden, die in ihren Cano's die
Nebenflüsse des Amazonas bereisen —, diese Leute, sagen wir,
Erdtheilen.
im gewöhnlichen Leben „Garimpeiros" genannt, sind ein
ganz besonderer Schlag. Mit der größten 'Feinheit des In-
stinktes, mit einer unglaublichen Ausdauer und Abhärtung gegen
Hunger, Mühen und Strapazen aller Art vereinigen sie an-
dererseits wieder eine entschiedene Abneigung gegen feste An-
siedlnngen, gegen den Ackerbau und gegen alle Gewohnheiten
nnd Bequemlichkeiten des civilisirteu Lebens. Sie werden noch
Jahrhunderte hindurch ihre herumstreifende Lebensweise fort-
setzen zum Nutzen und Frommen der Aufkäufer, der Regatoes
(meistenthcils Portugiesen), die ihnen die Frucht ihres Schweißes
zu den niedrigsten Preisen abhandeln.
Die „Garimpeiros" sind fast durchgängig Indianer. Sie
sind halb gezähmt uud werden als Staatsbürger betrachtet,
leben aber doch noch in enger Verbrüderung mit den ganz wil-
den Stämmen des Urwaldes. Vom Page (dem Arzte oder Zan-
berer) der wilden Stämme, den sie inmitten seiner „Taba"
(Stammes) aussuchen, lernen sie die heilkräftigen Pflanzen kennen;
der Morankiyära (d. h. der Paria der Jndianerstämme) dient
ihnen auf Befehl des Page in den Tiefen des Urwaldes als
Pfadfinder.
Die Garimpeiros ziehen in großen Truppen (maltas
genannt) in den Wald; Frau und Kind ziehen mit hin und
wie Bias können sie sagen: Omnia mea mecum porto, denn sie
lassen nichts zurück, nicht einmal eine Fenerstelle, da sie fast nie
nach demselben Orte zurückkehren, sondern ihre Lagerplätze am
Ende der safra (Saison) dort anfschlagen, wo es ihnen gerade
beliebt. Während der safra schlafen Hunderte von Garimpeiros-
Familien unter freiem Himmel, in ausgetrockneten Flußbetten,
in hohlen Bäumen :c. Der höchste Lurus, den sie kennen, ist
eine Hütte (rancho) aus Palmenblättern nnd eine felbstver-
fertigte rede (Hängematte), welche von dem Bast passender Bäume
verfertigt wird. Ihre. Nahrung besteht aus einer Hand voll
Maniokmehl, aus frischen oder getrockneten Fischen, wenn hie
nnd da nicht eine wohlschmeckende Pacea, ein kleines Eatteto
(wildes Schwein) oder eine saftige Maenca oder Jaentinge
(2 Arten Waldhühner) erlegt werden.
Die herrlichen Früchte des Waldes, die aromatische Mango,
der Campueä (guarauisches Wort, welches bedeutet: „Frucht,
die mir lacht"), die Kokosnnß, die Brodfrucht, die Maniok-
Wurzel, derJacatupe, die Arachis hypogäa, die Aicha, der Topi-
nambnr, die Thalia, welche den aguiiguepo-obi, eiu äußerst
schmackhaftes Mehl, gibt, — alle diese zahllosen wilden Pro-
dufte des üppig reichen Bodens bieten den Garimpeiros über-
reichliche Nahrung.
Iu deu Wäldern ziehen sie deu Kautschnck ans, den Uarana
nnd das Mark der Caeuaüba-Palme; sie bereiten die Piassava
aus dem Baste einer andern Palme, sie gewinnen die Sassapa-
rille, die Poaya (Jpeeacuanha) ans dem cipo-ayaca der In-
dianer. Die capa-rosa, die antisyphilitischen Apocyneen, die
Strychnos, die verschiedenen Arten Curare (des bekannten Giftes)
und andere zahlreiche Medizinalpflanzen, von denen manche,
wie die Sassaparille uud die Jpeeacuanha, sehr wichtige ErPort-
artikel sind, denn von 1835 — 37 führte das Städtchen Villa
Maua allein 150,000 Kilogramme dieser Pflanzen ans, und
mehr als 15,000 Personen beschäftigten sich mit dieser Industrie.
Für diese Produkte, die sie in 4 bis 5 Monaten sammeln,
tauschen sie von den Regatoes die nöthigen Kleider, Brannt-
wein, Pulver, Blei und überhaupt alle ihre weiteren geringen
Bedürfnisse ein. Nachdem das geschehen, suchen sie sich einen
Wohnplatz ans, erbauen ihre leichten ranchos ans Palmstänimen
und Palmblättern, wobei ihnen ein trockenes Ochsenfell als Thür
dient, richten ihre Kähne her und widmen sich ausschließlich der
Jagd und der Fischerei. Sie pflanzen nicht nnd ziehen es vor,
während der Regenzeit auf der Bärenhaut zu liegen. Jhre Be-
dürfnifse siud so genug, sie haben fo wenig Begriffe von den
Bequemlichkeiten des Le'beus, daß man in ihren ranchos nicht
einmal eine Bettstelle, einen Schemel findet. Holzblöcke,
Bastmatten, Netze uud Flinten, das sind die ganzen Ge-
räthschaften in einer Garimpeirowohnnng. Hie und da eine
Viola (Guitarre mit klimpernden Metallseiten) aus einer Kürbis-
scheide gemacht, auf der sie ihre einförmigen Weisen ableiern,
bietet ihnen Unterhaltung; der Kakao, der Kaffee und das Mate
wachsen im Walde, —'sie haben also keine Bedürfnisse und ge-
wöhnen sich deshalb auch au kerne sitzende, feste Lebensweise.
Von Schule, Religion uud Moral ist unter ihnen keine Rede;
die Kinder wachsen wild ans, folgen von Jugend auf ihren thie-
rischen Instinkten und bleiben der Civilisation gänzlich fremd.
Oft fließt Blut iu den Tiefen des Urwaldes; oft werden
förmliche Schlachten zwischen dem „Garimpeiros" und wilden
Jndianerstämmen, oder zwischen ihnen nnd den Onilombos
(d. h. Walddörfern) entlaufener Neger geliefert, von denen Nie-
Aus allen Erdtheilen.
381
4
manb etwas hört, deren Geränsch nicht in die civilisirte Außen-
weit dringt.
Es wird noch lauge währen, bevor die „Garimpeiros" aus
Brasiliens Wäldern verschwinden; so lange es noch nnzngäng-
liche Urwälder giebt, werden diese Abkömmlinge der Eingebornen
an ihren Gewohnheiten festhalten und bei' ihrer Lebensweise
beharren. Endlich jedoch, wenn die Lokomotive einst durch
die Thäler des Amazonas, des Toeantins, des Uraguaya, des
Madeira, Pnrus und Rio Negro saust (— Kühne Gedanken und
Phantasien!!—), wenn Dampfschiffe die Finthen der Neben-
flüsse dieser mächtigen Ströme durchschneiden und Millionen
fleißiger Menschen jene endlosen Länderstrecken bewohnen und
bearbeiten (— aber woher diese Arbeiter in den tropischen Ge-
genden nehmen? —), dann werden auch die Garimpeiros, diese
halbwilden Abenteurer des brasilianischen Urwaldes, verschwinden
und nur noch in der Sage im Volksmunde fortleben. Sie
werden der Civilisatiou weichen, wie die wilde Nomantik des
Urwaldes vor der lichtenden Art der Einwanderer schwinden
wird. (— Aber von weißen Einwanderern, die allein „Civili-
sation bringen würden, kann doch keine Rede sein? —)
Dann wird Vieles anders werden; doch wird das brasilia-
nische Leben auch so manche seiner charakteristischen Seiten ver-
loren haben, die heute noch zum Studium anreizen.
Porto Alegre, im Juni 1866.
C. v. Kose ritz.
Agassiz über die Thierwelt Südamerikas.
Der berühmte Naturforscher hat, wie unsere Leser wissen,
in Rio Janeiro eine Reihe von Vorträgen über die Fauna
Südamerika's und insbesondere des Amazonenstroms gehalten.
Daneben warf er nicht selten Streiflichter auf die Pflanzenwelt
und hob insbesondere hervor, wie viel das Land gewinnen
würde, weuu es den Anbau vou Gewürznelken, Muskatnüssen,
Zimmt, Kampfer und Pfeffer in die Hand nähme; alle diese
Erzeugnisse würden vortrefflich gedeihen.
Ausführlich sprach er über die Aeqnivalente in der Thier-
weit. Ein sorgfältiges Eingehen auf dieselben müsse nothwendig
der Darwinschen Hypothese fortschreitender EntWickelung aus
Urtypen einen vernichtenden Schlag versetzen und deren Ver-
theidigern, wenn sie vornrtheilsfrei die Dinge erwägen wollten,
sie zu' einer Doktrin hinüberziehen, welche gegenwärtig von ihnen
bekämpft werde. In der Thierwelt, so äußerte er,' kann man
die Aequivalente am deutlichsten und leichteste?: beobachten.
In der Klasse der Säugethiere, zu welchen auch der Mensch
gehört, finden wir z. B. den Orang utau im malayifchen Arckn-
pelagus und den Tschimpanse im westlichen Afrika. Beide
gleichen in vieler Beziehung dem Menschen so nahe, daß man
sie als anthropomorphe Affen bezeichnet hat. Außerdem ist eine
höchst merkwürdige Ähnlichkeit vorhanden zwischen ihren beson-
deren Merkmalen und denen, welche den eingeborenen Menschen-
raffen der refpeetiven Gegenden eigentümlich sind. Der Orang
utau hat die gelbe Haut der Malayen auf deu Suudainseln';
Tschimpanse und Gorilla sind schwarz wie die Neger Westafrika's.
Der Tschimpanse ist das zoologische Aequivalent des Orang
ntan, wie der Neger jenes des Malayen,
Die langschwänzigen Affen Afrika's find Aequivalente der
Sapaju's am Amazonas und die Cynoeephali solche der Sagui's.
Die Ulstitis der neuen Welt fehlen in der alten, welche dagegen
ihre Lemurier hat. Man muß hervorheben, daß wir in der
alten Welt Affen finden, welche sich der menschlichen Form sehr
annähern; bei denen in Amerika ist das nicht der Fall. Auch
darin findet Agassiz einen Fnndamentaleinwurf gegen Darwins
Hypothese; er meint, daß eine Arbeit über die Äffen in der
gründlichen Weise, welche Bischofs über die EntWickelung der
Kaninchen und des Hundes gegeben habe, die Sache völlig ins
Klare bringen würde.
Brasilien hat als Fleischfresser die Unze, den Puma, einige
wilde Katzenarten, den Wolf und einen Dachs; der afrikanische
Lowe und Tiger fehlen, nicht minder die Marder, Iltisse und
Wiesel der gemäßigteren Klimate. Zwischen den fleischfressenden
Thieren Brasiliens und den eben genannten stellt sich eine Art
von Parallelismus, ein Aeqnivalent heraus, aber beide haben
verschiedene Merkmale, so daß jede Region ein besonderes Ge-
präge trägt und ihren eigenen Typus hat.
Noch größer ist der Uuterschied bei den Nagethieren; diese
haben in Brasilien eine vergleichweis kolossale Größe; so das
Kapiwari im Vergleich zu den Nagern Eurova's und Nord-
amerika's; das Paca ist noch größer, und selbst die kleineren
Arten in den tropischen Gegeuden sind größer als ihre Analoga
in anderen Regionen. Giraffe, Gazelle und Kameel fehlen in
Amerika, das dagegen sein Llama, Vicuua und Guauaco hat;
der Lamantin (Pei'xe bo'i, d. h. Ochsenfisch) ist kein Fisch,
sondern ein Säugethier; vou jenem hat er nur die äußere Ge-
stalt, den länglichen, runden Leib; seine Glieder gemahnen nur
schwach au Flossen und sind eigentlich nur Pfoten, mit einer
dicken Haut überzogen, und die er wie ein Ruder gebraucht.
Im süßeu Wasser des Orinoeo ist ein ähnliches Thier häufig,
noch ein anderes an der Küste von Florida in der Tampabay,
noch eins in den Aestuarien des Rothen Meeres (— auch im
Niger und Venne —). Diese Gruppe umfaßt also äquivalente
Arten, deren Regionen nngehener weit von einander entfernt
liegen. Sie find' nicht bloß durch Meere, sondern auch durch
Eontinente von einander geschieden. Hier kann von einer Ver-
bindung keine Rede sein, und die eine Lamantinart kann unmög-
lich von der andern abstammen.
Die Vögel haben die größte Leichtigkeit, mit einander zu
verkehreu, und doch finden wir bei ihnen eine Lokalisirnng der
Arten, die eben so scharf ausgeprägt ist wie bei Thieren, welche
sich nur schwer bewegen. Der Strauß, eiu Vogel, der nicht
fliegen kann, gehört Afrika an; aber in Südamerika leben zwei
Arten desselben, die anderwärts nicht vorkommen; Neuholland
hat seinen Kasuar. Es entspricht den natürlichen (Konsequenzen
der Transmutationstheorie nicht, daß wir in so weit von einander
entfernten Arten eine große Uebereinstimmnng antreffen.
Die Hühnervögel der alten Welt werden in Brasilien ver-
treten durch die Mittum facns und Agamis. Die Gallinaceen
Südamerika's habeu einen Typus, der anderwärts nicht vor-
kommt, und doch haben sie ihre Aequivalente in anderen Re-
gionen; so der Mutum in dem Lophophorns Indiens, und der
Eigana ist der Repräsentant des Pfaues. Aber die Arten in
der neuen Welt haben gedrungenere nnd weniger zierliche Formen.
Die kleine Landschildkröte von Para, welche man dort als
Jaboti bezeichnet, gleicht vollkommen derjenigen, welche in den
Südstaaten Nordamerikas als ,,Golpher" vorkommt. Am Vor-
gebirge der Guten Hoffnung tritt eine verschiedene Art auf, die
genau genommen nicht als ein Aequivalent der Jaboti betrachtet
werden kann, wohl aber als ein Substitut. Mau mnß nämlich
einen Unterschied machen zwischen dem organisirten Aequivalent
nnd dem Substitut; dieses letztere scheiut an die Stelle einer
nicht vorhandenen Art in einer Region zu treten, wo diese Art,
falls sie vorhanden wäre, in der örtlichen Fauna das dargestellt
haben würde, was in der Fauna einer anderen Region durch
eine analoge Species repräsentirt wird.
Was die Saurier anbelangt, so hat Brasilien, gleich an-
deren Regioueu, seineu großen Lagarti; es hat Alligatoren, wie
andere Gegenden Kaimans nnd Krokodile ausweisen. Brasiliens
Boa's sind die Pythons Afrika's, und in seinen schlanken und
langen Schlangen hat es Ersatz für die Dendrophis der alten
Welt.
Selbst im Wasser, welches doch den darin lebenden Thieren
eine leichte Verbiuduug möglich macht, treten sehr viele Lokal-
sannen anf. Jede Küste hat ihre besonderen Bewohner, ihre
Schalthiere, ihre Seesterne, Seeigel, Medusen und Polypen.
Auch finden wir in jedem Flußbecken viele Arten, die ander-
wärts nicht vorkommen. Im Becken des Amazonas ist die
Totalität der Fische verschieden von jener der anderen großen
Ströme Brasiliens und der übrigen Welt, nnd selbst der Haupt-
ström, der Amazonas, hat Dutzende von ichthyologischen Um-
grenzungen. Die Fische in der Bay von Marajo sind verschieden
von denen weiter unten im Strom, nnd auf der Grenze zwischen
Süß- und Salzwasser ist eine dritte Gruppe, die mit jenen
beiden nichts gemein hat; bei Villa bella ist wieder eine andere,
ebenso bei Obidos, bei Manes, in den Kanälen, welche den
Madeira mit dem Tapajoz verbinden, und im Rio negro; die
Fische in diesem letztern sind wieder andere als jene im Javary,
Jntahy oder im Jya.
Agassiz erwähnte dann, wie wichtig das Stndinm der Em-
bryologie, der Entwicklung des Eies und des Fötus sei. In
unseren Tagen habe dasselbe beträchtliche Fortschritte gemacht;
man habe dadurch eine Menge von Thatsachen kennen gelernt
nnd wisse nun, daß zwischen deu verschiedeneu Formeu, welche
eiu Embryo nach und nach annimmt, und jenen gewisser aus-
gewachsener Thiere früherer Epochen vorhistorischer Zeiten Ana-
logien vorhanden seien, welche man früher gar nicht geahnt
habe. Diese Entdeckung mache es möglich, daß man sich eine
ziemlich vollständige Vorstellung davon machen könne, wie manche
der nun nicht mehr vorhandenen Thiere einst bei Lebzeiten
beschaffen geweseu seien. Wir können uns nun von der Fauna,
welche vor Tausenden von Jahrhunderten unterging, ein fast eben
so deutliches Bild entwerfen wie von der Fauna uuserer Gegen-
wart. Man hat ermittelt, daß diese vorhistorischen Faunen all-
gemeine Aehnlichkeiten mit einander hatten und daß dieselben
A
382 Aus allen
genau denen entsprechen, welche in unseren Tagen bei den jetzigen
verschiedenen Formen vorkommen.
Gewisse Thiere haben, so lange sie klein sind, eine größere
Aehnlichkeit mit Thieren einer vergangeneu Epoche, als mit den
erwachseneu Individuen ihrer eigenen Art. — Brasilien besitzt
eine beträchtliche Anzahl von Thieren, welche mit einst vorhau-
denen Arten verwandt sind; so ist der Tapir (Anta) eins von
jenen Dickhäutern, dereu fossile Speeies eiust Cuvier moustruirt
hat. Das Paläotherium und das Lophiodon des Montmartre
waren Tapire, aber Tapire, wie sie in jener uralten Zeit auf-
traten, nicht wie sie jetzt sind. Die Formen mancher anderen
Thiere kenneu wir freilich uicht so genau. Aus einer grüudlich
eingehenden Monographie über die Tatus und die Tamanduas
(Ameisenfresser) würde wahrscheinlich successiv sich darthuu lassen,
was die Formen des Megatherium, des Megalonir, des Glyp-
todon, des Makrotherinm und mancher anderen Thiere früherer
geologischen Epocheu gewesen sind.
Das amerikanische Festland war ohne Zweifel schon fertig,
es sah seine letzten geologischen Umwälzungen lange, bevor Europa
die Gestalt erhielt, welche es nun hat. Was wir stolz als alte
Welt bezeichnen, ist, geologisch genommen, die neue Welt.
Agassiz und die erratischen Blöcke in der brasilianischen
Provinz Cearä. Der berühmte Gelehrte hat sich in dieser
Provinz während des Hochsommers 1866 zwei Wochen lang
aufgehalteu. Es war seine Absicht, die Serra de Batnride
zu besuchen, um die geologische Beschaffenheit derselben zu erfor-
scheu und sich zu überzeugen, ob Spuren ehemaliger Gletscher
vorhanden seien._ Aber er wurde durch starke Regengüsse an
einer weitern Reise verhindert. Es entschädigte ihn jedoch, daß
er schon iu der Nähe der Hauptstadt Eeara, iu deu Serras
vou Mungaba uud Arautaha, eiue Meuge erratischer
Blöcke antraf, welche nur durch Eismassen'dort abgelagert
sein können. Diese tropischen Gegenden waren also einst auch
mit Eis bedeckt. Die Beschaffenheit des vou Agassiz untersuchten
Geländes beweist unbestreitbar, daß dort einst Gletscher gewesen
siud, uuo der große Geolog erklärte diese kurze Reise in Cearä
für eine der wichtigsten, welche er je unternommen habe; er habe
hier seine geologischen Ansichten vollkommen bestätigt gefunden.
Ein deutscher Kaufmann auf dem Madeira-Strome.
Im Juni 1866 kameu zu Manaos (Barra do Rio Regro),
der Hauptstadt der brasilianischen Provinz Alto Amazonas, einige
große Kanots an. Mit denselben war der deutsche Kaufmann
Kroueuboldl auf dem Madeira vou Bolivia herabgekommen.
Er brachte vou dort eiu reiches Sortiment Waaren aus Bo-
livia und hatte eine Mannschaft vou mehr als 100 Köpfen bei
sich. Nachdem er guten Absatz gefunden, kehrte er aus dem-
selben Wege nach Bolivia zurück,' uud dieser Waareutransport
ist der erste, welcher auf dem Madeira uach Manoas stattgefuu-
deu hat.
Die argentinische Provinz Buenos Ayres hatte, nach der
jüngsten Zählung (1866), in 6l Distrikten 311,134 Bewohner.
Unter denselben waren 2339 Deutsche, 18,332 Spanier, 14,332
Franzosen, 12,449 Engländer uud 13,763 Italiener. Die Zahl
der Deutscheu ist offenbar zu gering angegeben.
Die folgenden Ziffern über den Viehstand der Provinz be-
weisen, daß 'dieselbe verhältnißmäßig allen übrigen Ländern der
Erde voraus ist. Die Zählung ergab:
Riudvieh 6,216,328 Häupter; Pferde 1,436,827; Maul-
thiere 25,187; hochveredelte Schafe vou sächsischer Zucht 627,602;
Mestizaschase 28,821,364; Eriollaschase, d. h. das gemeine Laud-
schaf 2,633,031; Schweine 111,849. Nicht weniger als 18 große
deutsche Haudelshäuser iu Buenos Ayres sind mit Verschiffung
der Wolle beschäftigt.
In der Provinz Cordova sind im Juli 1866 zwei Frau-
zoseu" die Gebrüder Mourell, angelangt und habeu dort eiue
beträchtliche Strecke Laudes erworben, auf welcher sie die Zucht
der Augora-Ziegeu iu großartigem Maßstabe betreiben
wollen. Ein Schiff mit 600 solcher Ziegen war von Frankreich
unterwegs. Einer der Herren Mourell hat sich längere Zeit iu
Klciuasieu aufgehalteu, um au Ort und Stelle die Abwartung
dieser Ziegen genau keuueu zu lernen; er brachte auch Stecklinge
und Samen solcher Pflanzen mit, welche vou den Ziegen iu
ihrer Heimat gern gefressen werden.,
Einen großartigen Aufschwung gewinnt die Schafzucht
auch iu der Proviuz Eutre Rios. Dort ist sie zu uicht
geringem Theil iu die Hände englischer Laudwirthe
Erdtheilen.
übergegangen, dereuZahl sich mit jedemJahre ver-
größert. Alle ihre „Estancias" sind iu blühendem Zustande
und rentiren vortrefflich, namentlich jene iu der Gegend vou
Gualeguay. Ein Herr Hugh M'Dougall besitzt drei Estancias
und hat mehr als 30,000 Mestizaschase bester Qualität; daneben
mehr als 5000 Stück Rindvieh und Pferde. Die schottische
Familie Mac Millau besitzt mehr als ueuu Quadratleguas au
Grund und Boden; sie hat mehr als 10,000 Stück Rindvieh
und Pferde uud „nur" 18,000 Stück Schafe; eiu Herr Black
besitzt sechs Quadratleguas, mehr als 70,000 Mestizaschase erster
Klasse, über 10,000 Kühe uud etliche 1000 Pferde. Man rechnet
den Viehstand dort nur nach Hunderten uud Tausenden. Einige
dieser Estancias werfen 20 bis 30,000 Pfd. Sterl. jährlichen
Nettoertrages ab; kein Wunder, daß alljährlich Hunderte vou
bemittelten Engländern in die La Plata-Gegenden einströmen.
Einer der reichsten Heerdenbesitzer sing vor 14 Jahren, als er
arm ins Laud kam, eineu Handel mit Nutriafellen an.
Die Provinz Entre Rios hat nun auch eine Eisenbahn,
die freilich nur anderthalb deutsche Meilen lang ist. Sie ver-
bindet die Stadt Gualeguay mit Port Ruiz und erspart eine
Flußschifffahrt von sechs'deutscheu Meilen. Die argentinische
Centraleisenbahn zwischen Santa Fe und Cordova soll,
nachdem sie bis zu dieser letztem Stadt vollendet sein wird,
weiter ins Oberland bis uach J uj u y geführt werden. Man hat
sich in den La Plata-Gegenden mit einer wahren Leidenschaft
dem Eisenbahnwesen zugewandt.
Nicht minder nimmt die Schafzucht in Uruguay zu uud
mau schreibt aus Montevideo, daß mau in dieser Beziehung die
Provinz Buenos Ayres bald eingeholt habeu werde. Arbeits-
löhne stehen iu diesem Laude, das gleichfalls eiu äußerst gesundes
Klima hat, ungemein hoch.
Merkwürdig genug, daß ans Deutschland so viese Taufende
immer noch nach Nordamerika auswandern, wo sie weder ein
so gutes Klima noch so gure Aussicht finden, sich rasch und gut
fortzubringen, als in den La Plata-Gegenden und in Südbra-
silien, und wo sie überdies die höchsten 'Stenern zahlen müssen,
welche überhaupt in irgend einem Land der Welt zu entrich-
ten sind.
Verbreitung des Sorgho oder Zuckergrases. In Süd-
europa, uud besonders in den Vereinigten Siaaten von Nord-
amerika erobert sich diese höchst nützliche Pflanze immer mehr
Boden. In China und in einzelnen Theilen Afrika's ist sie
läugst gebaut uud genützt worden, theils zur Bereitung von
Zucker, theils weil ihr Korn eiu gutes Getreide ist. Deshalb
ist sie auch iu Indien beliebt. In einem großen Theil Afrika's
ist die Durrah (Sorghum vulgare) oder indifcheHirfe das
Hauptgetreide; das Zuckergras oder Schalo ist eine Art
vou Durrah. Sie hat größere Körner als die gemeine Art;
das Mehl derselben giebt zwar kein gutes Brot, schmeckt aber
gut, ist sehr nahrhaft und wird iu vielfacher Weise zu Speisen
bereitet. Als Getreidepflanze ist sie in Südeuropa und Nord-
amerika von keiner Bedeutung, während sie als ein Zucker
lieserudes Gewächs schon jetzt eiue Rolle spielt. So weit uach
Norden hin Mais und Wein gedeihen, so weit reift auch das
Sorgho, welches warmen Sommer verlangt. In Amerika ge-
deiht es recht gut, selbst noch im Staate Maine.
Nach Europa kam das Zuckergras aus Schanghai iu China,
von wo der französische Cousul, Gras Montigny, eiu Päckchen
Samen an die pariser geographische Gesellschaft sandte. Nur
ein einziges Korn ging auf, uud vou diesem wurden reife Körner
gewonnen; für 800 derselben zahlte das pariser Handelshaus
Vilmoriu, Audrieur und Compagnie 800 Francs; ein anderer
Theil kam in die Hände des Grafen Beauregard. Aus dieser
Quelle stammt alles Sorgho, das jetzt in Europa und Amerika
wächst. Nach diesem letzten kamen die ersten Samenkörner 1857;
im Jahr 1859 sandte ein Herr Wray Samen auch aus Afrika,
und so unterscheidet mau iu deu Vereinigten Staaten mm zwei
Arten: die chinesische, welche man nach wie vor als Sorgho
bezeichnet, und die afrikanische oder Jmphi. Im Jahre 1860
waren fchon mehr als 100,000 Acres mit Zuckergras bepflanzt,
uud sie ergaben mehr als 16 Millionen Gallonen Syrup. Ohio
hatte 1862 mehr als 6 und Iowa nahe an 4 Mill. Gallonen
Syrup gewonnen. Es ist keine Frage, daß das Sorgho im
mittlem und südlichen Deutschland sehr gut gedeihen wird.
In Amerika säet man das Korn in 4'Fuß vou einander
entfernten Reihen und läßt die einzelnen Pflanzen 12—18 Zoll
aus einander stehen; was dazwischen ist, wird entfernt. Manche
Landwirthe machen auch kleine Erdhügel, 3 Fuß weit vou
einander, und auf jedem Hügel lassen sie, je nach der Güte
des Bodens, 8—12 Pflanzen'stehen. Sorgho darf überhaupt
Aus allen
nicht zu dicht stehen, und Nebeuschößliuge müssen entfernt wer-
den. Sorgfältiges Ausjäten des Unkrautes ist durchaus nvthig.
Die junge Pflanze wächst im Anfang sehr langsam, nachher
aber wird sie rasch groß; die Wurzeln verbreiten sich weit und
gehen tief; beim Entfernen des Unkrautes muß man sehr vor-
sichtig zu Werke gehe», um sie uicht zu verletzen. Die Stengel
werden süß, ehe die Blume erscheint, und nehmen an Süßigkeit
zu, bis die Samenbildung vor sich geht; von da au aber wird
der Znckerstoss theilweise von dem reifenden Samen abforbirt
und geht theilweise wohl auch in die Wurzel zurück, denn die
Pflanze ist perenuireud. In Amerika aber behandelt man sie
völlig als Jahrespflanze. Winterfrost tobtet die Wurzel. Man
muß die Stengel abschneiden, bevor der Samen reif geworden
ist, dann hat er den meisten Zuckergehalt. Die Blätter geben
ein nahrhaftes Viehfutter. Wer die 'Stengel nicht gleich in die
Presse bringen kann oder will, trocknet sie und stapelt sie auf,
muß aber wohl darauf achte», daß sie sich nicht erhitzen; das
letztere geschieht leicht, wenn die Stengel dem Frost ausgesetzt
sind. Jedenfalls hat das Sorgho eine bedeutende Zukunft.
Schifffahrtsbewegung von Großbritannien. Sie stellte
sich für die 12 bedeutendsten Häfen 1865 in folgender Weise.
Es liefen ein 30,444 Schiffe von 9,756,502 Tonnen Trächtig-
feit; es liefen aus 26,618 Schiffe mit 8,298,852 Tonnen. Das
Verhältniß zwischen London und Liverpool stellt sich in folgender
Weise heraus. In London liefen ein 11,910 mit 3,646,142
Tonnen; liefen ans: 8093 mit 2,627,809Tonnen. Liverpool:
eingelaufen 4827 mit 2,644,821, ausgelaufeu 4425 mit 2,631,827
Tonnen.
Die sämmtlichen Schiffe, welche aus den 12 Häfen aus-
liefen, exportirteu 1865 auWaareu aus Großbritannien und
Irland für 144,363,160 Pfd. Sterl. deklarirteu Werthes; davon
kamen auf Liverpool allein die Hälfte, nämlich 73,066,773, auf
London 37,009,718 Pfd. Sterl.
Eine Verherrlichung der Engländer.
Ein Herr L. O. Pike hat in der Anthropologischen Gesell-
schaft zu Loudou einen Vortrag über die psychischeu Cha-
r akt er eigeuthümlich keilen des englischen Volkes
gehalten, der in seiner Art merkwürdig ist. Er stellte vier
Völker vergleichend neben einander: die alten Briten, die alten
Griechen, ' die heutigen Deutschen und die Engländer. Der
Charakter der letzteren gleiche jenem der — alten Griechen, sei
aber von dem der Deulscheu durchaus verschiedeu. Die Eng-
lander verdienten ihren hohen Weltruf, weil sie die Leibesübungen
so sehr liebeu, und dieses Merkmal hätten sie von ihren vor-
römischen, uicht aber von den deutschen Vorvätern geerbt. Das
am schärfsten hervortretende Gemüthsmerkmal der Deutschen sei
das Wunder; sie sprächen alle Augenblick von wuuderbar
und wundersam, und diese Liebhaberei am Wunder lasse sich
au den Eigenthümlichkeilen ihrer Sprache, Literatur, Kunst und
Wissenschaft nachweisen. (Pike gab übrigens ganz naiv zu, daß
er von alledem nur eiue sehr oberflächliche, slight, Kunde besitze.)
Die Engländer hätten keinen so großen Hang zum Wuuder und
Wuuderbareu, sie wären im Gegentheil ausgezeichnet durch B e-
scheideuheit, durch zarte Selbstachtung und durch den
Sinn für individuelle Verantwortlichkeit. Sie hätten außerdem
eine „viel größere constrnctive Fähigkeit, weil mehr Anlage, die
Ähnlichkeiten herauszufinden" als die Deutschen, aber sie
besäßen weniger „Kraft der Redintegratiou und des Heraus-
arbeitens der Einzelheiten" als diese. Pike theilte mit, daß
sein Vortrag ein Bruchstück aus einem größern Werke sei, das
er unter dem Titel: „Die Engländer und ihr Ursprung" ver-
öffentlichen werde. —
Es gibt in England eine Anzahl stupider Köpfe, für welche
der deutsche Geist viel Anstößiges hat. Da sie ihn nicht
begreifen, so suchen sie ihn zu verkleinern und nnsrer Natiou
recht viel Unliebsames nachzusagen. Zn diesem Schlage gehört
Herr Pike. Er fand aber in der Anthropologischen Gesellschaft
sofort eine derbe Abfertigung, und ein sehr tüchtiger Gelehrter,
Dr. Ch arn o ck, erklärte den Vortrag, welcher eine ungerechtfertigte
Vergötterung der Engländer enthalte, während er eine Schmäh-
schuft für die Ausländer sei, für durchaus unwissenschaftlich und
seicht. Pike sage, daß in England die Fraueu und Männer durch-
fchnittlich äußerst modest und die letzteren auch durchaus ehrenhaft
seien. Wenn aber die Engländer wirklich so bescheiden wären, so
begreife er nicht, wie sie es in der Welt so weit hätten bringen
können. Er, Charnock, habe Reisen durch ganz Europa gemacht
und sich überzeugt, daß dieVölker auf dem Festlande mindestens
Erdtheilen. 383
so ehrenhaft und bescheiden seien als die Engländer. Pike habe
viel Rühmens von dem geistigen und sittlichen Charakter der
englischen Staatsmänner gemacht, hoffentlich aber nicht
die in nnserm Jahrhundert lobpreisen wollen. „Denn wenn ich
gefragt werde, wie ich den Charakter unserer Staatsmänner, ich
meine jener der letztverflossenen sünszig Jahre, bezeichnen will,
dann fasse ich denselben zusammen unter den Bezeichnungen:
Maechiavellismus, Mephistophelismus, Jesuiterei
und Tollhaus." Herr Pike sage, alle großen Erfindungen
seien von Engländern gemacht worden, und Deutschland und
Holland ständen auch in dieser Beziehung weit zurück. Es sei
aber weltbekannt, daß die Engländer in diesem Fache keineswegs
hervorragen, wohl aber zeigen sie große Fertigkeit, die Erfindun-
gen der Ausländer praktisch nutzbar zu machen. Die wichtigsten
Erfindungen stammen aus Deutschland, Italien und Holland: —
Buchdruckerkunst, Schießpulver, Uhren, Luftpumpe, Barometer,
Thermometer, voltaische Batterie, Galvanismus:c. seien nicht von
Engländern erfunden worden. Im Drama seien diese allerdings
groß, aber Deutschland habe auch in dieser Hinsicht eine hohe
Bedeutung anzusprechen. Pike erkläre die Engländer für die
besten Reiter der Welt; es scheine, daß er 'z. B. von den
Arabern und Südamerikanern nie etwas gehört habe. Und wie
stehe es mit der englischen Malerei nnd Musik und Bildhauer-
kirnst und Erzgießerei gegenüber der deutschen? Wenn der eng-
lische Stolz etwas so Vorzügliches sei, so müsse man auch dein
Stolze der Magyaren, Spanier, und Türken ein gleiches Lob
nachrühmen, und wenn gesagt wird, daß die englischen Kinder
immer frisch auf deu Beinen seien, so gelte ein Gleiches auch
von den Zigeunerkindern. Pike hebe hervor, daß alles Vorzüg-
liche au deu Engländern keltischen Ursprungs sei; aber unter
80,000 Wörtern 'der englischen Sprache sind nicht mehr als
etwa 40 rein keltisch. —'
Diese Dinge weiß in Deutschland jeder Gebildete; in Eng-
land war es aber erforderlich, einem „Gelehrten" seine crasse
Unwissenheit nachzuweisen. Unser Landsmann Berthold See-
mann gab Herrn Pike auch eiue derbe Lection. Dieser habe
als Beweis, daß die Engländer unmöglich von den Deutscheu
abstammen könnten, auch als Grund angegeben, daß die letzteren
den Gebrauch der Faust, das Boxeu, vergesseu hätten. „Sic
schlagen aber eine ganz respeetable Faust, und wenn Herr Pike
das, was er in der Anthropologischen Gesellschaft gesagt, in
Deutschland zum Besten gegeben hätte, so würde er sich von der
deutschen Faustfertigkeit praclisch haben überzeugen können."
lind nicht einmal Wagenräder sollten die alten Deutschen gekannt
haben. Was das Wort Wuuder und sich wundern im
Deutschen bedeute, das begreife Herr Pike gar nicht und er rede
über Sachen, die er weder begreife noch verstehe. Dasselbe gelte
von dem, was er über die angebliche Unfähigkeit zu colonoNren
sage. Allerdings besitze Deutschland keine eigenen überseeischen
Kolonien, daß aber die Deutschen int Kolonisten hervorragen,
davon liefern alle Erdtheile handgreifliche Zeugnisse in Menge.
Ein dritter Redner, Dunbar Head, wies nach, daß Pike
keinen Begriff davou habe, was die alteu Griechen gewesen seien,
und daß er die Menschen ans ganz verschiedenen Zeiten als
einerlei behandle. Dieser gelehrte'Thebaner Head erörterte dann
ganz ernsthaft, „daß diejenigen deutschen Stämme,
welche England besetzten, vorzugsweise ausHeidel-
berg uud der umliegenden Gegend kamen".
So steht wörtlich zu lesen im „Journal of the Anthropological
Society", Juli 1866, p. CXVII. Wir haben das Alles angeführt,
um zu zeigen, wie manche Leute, die in gelehrten Vereinen
das Wort nehmen, in England so unwissend "sind wie Schüler;
auch in der londoner geographischen Gesellschaft werden manch-
mal haarsträubende Dinge zum Besten gegeben.
Die Ruthenen in Ostgalizien.
Bekanntlich hat sich von jeher ein scharfer Gegensatz zwischen
den katholischen Polen, welche Westslaven sind, und den zn
den Ostslaven gehörenden Rutheueu, (Russiuen, Rußniaken),
welche sich zur griechischen Kirche bekennen, herausgestellt. Die
erstereu waren Jahrhunderte lang in Galizien das herrschende
Volk, und das Regiment, welches sie ausübten, ist kein sanftes
gewesen. Schon während des Slavenkongrefses zu Prag, 1848,
wurden ihnen die bittersten Thatsachen vorgehalten, und seitdem
ist die Abneigung nur noch gewachsen.
Die Rutheueu hielten zur österreichischen Regierung, weil
sie von derselben Schutz gegen die polnischen Uebergriffe uud
Berücksichtigung ihrer Sprache, überhaupt ihrer nationalen In-
terefsen erwarteten. Jetzt erklären sie, daß sie sich getäuscht
hätte«, daß man sie den Polen überantwortet habe, und 'sie sind,
384
Aus allen Erdtheilen.
gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, sehr unzufrieden geworden.
Sie schieben die „ruthenische Frage" in den Vordergrund,
und dieselbe hat von vorn herein einen ziemlich bedenklichen
Charakter angenommen. Die Ruthenen haben eine Zeitung,
„Slowo", in welcher die Leiter der Bewegung im August 1866
sich sehr offen aussprachen. Die Argumentation lauft' ans Fol-
gendes hinaus: —
Die Polen hatten gar nicht unrecht, als sie erklärten, es
gebe gar keine Rutheneu. Was man bisher so be-
zeichnet habe, das seieu Russen vom reinstem Wasser,
die mit ihren Brüdern in Moskau und Kiew ein
und dieselbe Sprache, Nationalität, Literatur und
Religion besäßen. Man habe 1848 die sogenannte ruthe-
nische Nationalität nur erfunden, um eiuen möglichen Argwohn
der österreichischen Regierung zu beschwichtige»;'jetzt könne man
offen hervortreten, die Maske abwerfen uud rundweg erklären,
daß die Rnthenen voll uud ganz Russen seien. Auch sei
die Zeit gekommen, daß man sich von der, ohnehin einst durch
polnische Jesuiten uud* Edelleute gewaltsam aufgezwungenen
Union mit der katholischen Kirche lossage uud sich der
russischen anschließe. Die rnthenische Volkssprache, deren Ent-
Wicklung dnrch polnischen Druck uud Zwang einst gehindert
worden sei, solle der viel mehr entwickelten russischen Sprache
Platz machen.
Gleichzeitig wurde in vielen Blättern Rußlands die Ein-
verleibnng Ost'galiziens in das Czarenreich vielseitig erörtert;
die Moskowiter haben nnn auch ihren „verlassenen Bruderstamm".
Es ist klar, daß die Ruthenen mit ihren Neigungen uud Be-
strebungen nach Rußland hin gravitiren, seitdem die galizischen
Polen bei der Regierung in Wien Oberwasser gewouueu habeu.
Die einflußreichen Männer unter den Ruthenen habe» erklärt,
daß sie nur in einem centralisirten Oesterreich die Bedingungen
ihrer Fortentwicklung und Schntz gegen polnischen Druck'finden
könnten, nicht in einem föderativen Oesterreich, in welchem sie
aufgeopfert würden. In jenem würden die Ruthenen übrigens
auch als Russeu, die sie nnn einmal seien, einem constitntio-
nellen Oesterreich Treue bewahren. „Wir sind Moskowiter,
unsere Sprache ist eine russische Mundart, die moskowitische
Kirche ist die Kirche unserer Väter; in diese wollen wir zurück-
kehren, um uns vom Joche der Lateiner und der Jesuiten zu
befreien; wir wolleu uns ans Grund unserer geschichtlichen Ueber-
lieferungen als Russen entwickeln. Unser Land heißt Roth-
rnßland, und zu demselben gehört auch ein Theil der Kar-
pathen, welcher jetzt noch ungarisch ist."
Es wird eifrig daran gearbeitet, die 4 Millionen Ruthenen
des österreichischen Kaiserstaates zu russificireu. Moskauer
Blätter erklären, nach dem jetzt herrschenden und sich zur Gel-
tnng bringenden Principe der Nationalität müßten jene 4 Mil-
lionen Rutheueu früher oder später au das Czarenreich fallen,
„welches dann eine Compensatio» für die Vergrößerung Preußens
gewinne".
Sobald die große orientalische Krisis definitiv zum Aus-
bruche kommt, werden die Rnthenen-Russen gleichfalls zu beach-
ten sein.
Die Bevölkerung des Königreichs Polen ergab nach
einer im Februar 186o veranstalteten Zählung 5,543,172 Seelen,
von denen 206,962 znr nicht „stabilen" Bevölkerung gehörten;
von dieser letztern kommen 40,656 auf die Inden,' deren Ge-
samintzahl sich auf 759,768 Köpfe belief.
Das Eisenbahnnetz in Italien hatte im Herbst 1866 eine
Ausdehnung von 5234 Kilometer. Eine ununterbrochene Linie,
1080 Kilometer, durchzieht die ganze Halbinsel von Udine
bis Neapel. Sie geht über Treviso, Padua, Ferrara, Florenz,
Arezzo, Foligno und Rom. Eine andere, gegenwärtig schon
12, Oliv Kilometer lange Hauptlinie zieht vonSnsa bisLecce;
sie berührt Turin, 'Alessandria, Piaeenza, Modena, Rimini,
Ancona, Bari und Brindisi.
Der Hafen von Brindisi war in den Tagen des römischen
Alterthums einer der belebtesten in Süditalien; das alte B rnn-
dnsium hatte einen großen Namen. Im Fortgange der Zeit
verschlammte dieser Hafen, der doch für die Schifffahrt so bequem
liegt. Jetzt lesen wir, daß die französische Gesellschaft „Cheron
Vernier" denselben in der Art verbessern will, daß er anch
Schiffe von beträchtlichem Tiefgang aufnehmen kann; man
hoffte, daß dann die Dampfer der Ueberlandpost in Brindisi
anlegen werden. Der Zeitgewinn würde zwischen Alerandria
und London, auf dieser Linie, gegenüber der Marseiller, etwa
34 Stunden betragen und sich nach Vollendung des Tunnels
durch den Moni Cenis noch um einige Stunden kürzer stellen.
Die Fahrt zwischen Alerandria nnd Marseille nimmt für die
raschesten Dampfer 150 Stunden in Anspruch, nach^ Brindisi
98 Stunden. Wir wollen aber bemerken, daß wir einst auf der
Mole in Triest standen und einen Lloyddampfer, die „Egitto",
ankommen sahen, welche von Alexandria bis Triest nur 112
Stunden gebraucht hatte. Das war im September 1853.
Areal und Bevölkerung von Preußen nach dem Frieden
von 1866.
Länder und Landest heile.
A. Alte Provinzen.
Provinz Preußen..........
„ Posen...........
„ Brandenburg........
„ Pommern.........
„ Schlesien..........
„ Sachsen..........
„ Westphalen.........
„ Rheinland.........
Hohenzollernsche Lande........
Jadegebiet............
Militär außerhalb des Staates.....
B. Neue Land esth eile.
Lauenburg .............
Schleswig-Holstein.........
Hannover.............
Kurhessen.............
Nassau..............
Frankfurt a. M...........
Bayerischer Antheil:")
Bezirksamt Gersfeld........
Landgericht Orb..........
Enklave Kaulsdors.........
Hessen-darmstädt. Antheil:
Hessen-Homburg mit Meisenheim . . .
Kreis Biedenkopf.........
„ Vöhl...........
Antheil Kreis Gießen........
Ortsbezirk Rödelheim........
Niederurff, hessische Hälfte......
Hiervon ab die an Hessen-Darmstadt ab-
getretenen Gebietstheile von Kurhesseu,
Nassan nnd Frankfurt a. M.**) mit . .
Total
Areal in
deutschen
Q.-Meilen.
1178,03
536,21
734,u
576,72
741,74
460, G3
367,ge
487,u
21,iö
0.26
5103,97
19,00
320,40
698,72
174,io
85,60
4 \ 11,25
0,26 1
5
11
2,60
1
0,07
0,
19,76
',18 .
Bewohner
(Zählung
vom 3. Dec.
1864.
3,014,595
1,523,729
2,616,583
1,437,375
3,510,706
2,043,975
1,666,581
3,346,195
64,958
1,573
28,869
19,255,139
49,704
960.996
1,923,492
745,063
468,311
91,180
23.361 1
9,109 > 32,970
500 )
27,374
33,325
5810 1
53001
2700 '
470
74,779
23,601,634
10,036
23,591,598
*) Bon hier ab sind die Arealangaben theils osficiell, theils mit Hülfe
guter Specialsarten ermittelt. Die Bewohnerzahlen bedürfen wohl noch
einzelner Berichtigungen, namentlich für den an Hessen-Darmstadt abgetre-
tenen Theil von Kurhesseu (runde Angaben nach der Zählung von 1861).
Immerhin ist die Aufstellung aber erwünscht nnd vielleicht relativ die ge--
naneste Zusammenstellung für die annektirten Länder. Eigentlich osficielle
Gesainmtangaben en detail sind uns wenigstens bislang noch nicht zu Gesicht
gekommen-
#*) Antheil Kurhessen: QM. Einw. \
Distrikt Katzenberg..........0,36 2000 1
Amt Nauheim ...........0,35 2600 1^
Enklave Treis ...........0,2s 1100 I«
Ortsbezirk Massenheim........0,00 335 I ^
Domanialwaldbezirk zwischen Altenstadt und [ ~
Bönstadt . . . .... . . . . • . 0,O4 _ 1 -
Antheil Mittel-Gründau .......0,0a —
Rumpenheim............0,i2 560
Antheil Nassau:
Amt Reichelsheim.......... 0,26 1433
Ortöbezirk Harheim (nicht Hartheim, wie es im
officiellen Friedensvertrag mit Hessen steht) 0,os 770
Antheil Frankfurt a. M.:
Dortelweil und Niedererlenbach (Zählung von
*864).........".....6,s« 1238
1,83 10,036
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: Hermann I. Meyer in Hildburghausen.
Druck und Verlag des Bibliographischen Instituts (M. Meyer) in Hildburghausen.
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